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German Pages [399] Year 2010
Natascha Hoefer Chatterton oder der Mythos des ruinierten Poeten
Natascha Hoefer
Chatterton oder der Mythos des ruinierten Poeten Werk und Wirkung des englischen Dichters
2010 böhlau verlag köln weimar wien
Gedruckt mit Unterstützung des Sonderforschungsbereichs 434 „Erinnerungskulturen“ der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Ludwig Sievers Stiftung, Hannover.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Henry Wallis, Chatterton, 1855–56.
© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Impress d.d., Ivančna Gorica Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Slovenia ISBN 978-3-412-20384-9
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................5 Einleitung zu Chatterton, Mythos des ruinierten Poeten .................................................... 13 1 Drei ruinierte Poeten .......................................................................................... 13 2 Thomas Chatterton und Charles Dickens....................................................... 15 3 Vom romantischen verfluchten zum (un)romantischen ruinierten Poeten ................................................................................................................... 18 I. Der Zeitgeist des Ruins oder Poet versus Kaufmann ...................................................... 27 1 The South Sea Bubble oder Der Ruin in der erzählenden Kunst ............... 28 2 Charles Dickens und David Copperfield oder Der Ruin in der Literatur.. 30 3 Der Ruin im sich verwirtschaftlichenden 19. Jahrhundert ........................... 34 4 Der Ruin im sich romantisierenden 19. Jahrhundert .................................... 40 5 Drei Kaufmannsbilder ....................................................................................... 46 II. Chatterton zum ruinierten Poeten (1768/69) ............................................................. 53 1 Chattertons Leben .............................................................................................. 55 2 Chattertons ruinierter Poet der Gegenwart oder Satiriker versus Tervono.................................................................................................... 71 3 Chattertons mittelalterlicher, bald ruinierter Poet oder Rowley – und Canynge ................................................................................................................ 82 4 Kuriositäten und Reliquien in Chattertons Welt ............................................ 98 5 Chattertons Manuskripte oder letzte Dinge oder Geldwert-Scheine oder Ruinbruchstücke Canynges und Rowleys ............................................ 104 6 Das Dilemma des ruinierten Poeten, reflektiert, poetisiert und produktiv gemacht vom Satiriker und Altertumsfälscher Thomas Chatterton ......... 111 7 Zwanzig und mehr Jahre später oder Chatterton und die englische Romantik ............................................................................................................ 114 III. Vignys ruinierter Poet Chatterton (1834/35) ......................................................... 123 1 Alfred de Vigny und Thomas Chatterton oder Im Namen Chattertons.. 123
6 2 Die Idee des ruinierten Poeten und die Intention der Erweichung der Herzen ................................................................................................................ 130 3 Drama des Unaussprechlichen ‒ des Ruins .................................................. 140 4 Drama des Wartens, des Intérieurs und seiner Staffagefiguren ................. 147 5 Drama der fatalen Dinge oder Geschichte eines Briefes und einer Bibel .................................................................................................. 172 6 Akt II des Dramas der fatalen Dinge, des Ruins des Poeten ..................... 190 7 Akt III oder Akt der Phiole und der Spiraltreppe ....................................... 205 8 Zwanzig Jahre später oder Chatterton in den materialistischen Jahren des Second Empire ........................................................................................... 223 IV. Zwei ruinierte Poeten – und zwei Strategien der Anrührung durch die Bruchstücke des Ruins ................................................................................................................ 235 1 Vignys Bekenntnis einer „Reinigung“ Chattertons ..................................... 235 2 Chatterton und Vignys Chatterton: Konfrontation ihrer Biographien .... 238 3 Zwei (un)romantische ruinierte Poeten: Konfrontation ihrer Charaktere ................................................................................................ 241 4 Zwei Strategien der Anrührung durch die armen, teuren Dinge, die Bruchstücke des Ruins ..................................................................................... 254 V. Zwanzig Jahre später oder Chatterton von Wallis (1855/56) .................................. 271 1 Zwanzig Jahre später oder vom augenblicklichen Sensationserfolg eines (un)moralischen Chatterton .................................................................. 271 2 Das Nachleben des unmoralischen Chatterton ............................................ 274 3 Drei Entstehungshintergründe von Wallis’ Chatterton .............................. 279 4 Das Legendäre von Wallis’ Chatterton .......................................................... 295 5 Wallis’ Chatterton: Bild des Paradoxen, Spannungsgeladenen .................. 318 6 Bild der aufgeladenen Dinge oder Bruchstücke des Ruins......................... 327 7 Bruchstück und Andenken der alten Ruingeschichte, aufgeladen mit der Seele Chattertons – und mit einer doppelten Moral............................. 340 8 Das unmoralisch Aufgeladene von Wallis’ Chatterton ............................... 345 9 Chatterton – vom aufrührerischen Inbegriff einer Sozialkritik zur morbid-reizvollen Verkörperung einer „luxury of death“ .......................... 357 10 Dernière journée de travail, le 14 novembre oder Nachwort .................. 363
7 Verzeichnis der Literatur und Abbildungen ................................................................... 371 1 Verzeichnis der verwendeten Literatur.......................................................... 371 2 Verzeichnis der Abbildungen .......................................................................... 378 Anhang ......................................................................................................................... 381 1 Thomas Chatterton: The Art of Puffing by a Bookseller’s Journeyman (22. Juli 1770)..................................................................................................... 381 2 Thomas Chatterton: ‘Intrest thou universal God of Men’ (27. Oktober 1769) ........................................................................................... 382
Danksagung Nicht zu Unrecht forderte Alfred de Vigny im Namen Chattertons ein Stipendium für brotlose junge Schriftsteller ein, um ihnen das Arbeiten zu ermöglichen. Dieses Buch wäre nicht ohne ein solches Stipendium geschrieben worden. So gebührt mein erster und maßgeblicher Dank der Stiftung für Romantikforschung, die auch den Druck mitermöglichte, und hier vor allem Dr. Dr. Dagmar von Wietersheim: Herzlichen Dank für Ihr Vertrauen und Ihre Investitionen in mich ‒ sowie für Ihre erste produktive Kritik am gründlich gelesenen Chatterton-Manuskript! Herzlichen Dank auch an Constanze Keutler für manches motivierende Wort und die überhaupt vorbildliche Betreuung, die mir zuteil wurde! Dieses Buch wäre aber auch nicht gedruckt worden ohne den Sonderforschungsbereich Erinnerungskulturen der Universität Gießen. Diese „gewesene“ Institution gab mir zum Abschied den Großteil der Mittel, deren ich zur Publikation dieses auch in Papiergewicht gewichtigen Buches benötigte ‒ dafür möchte ich Prof. Dr. Jürgen Reulecke als Sprecher des SFB zutiefst danken! Der SFB, und speziell das Teilprojekt Andenken und Eingedenken, an das ich mit meiner Forschung assoziiert war, gab mir zudem die geistige Nahrung, die in der Niederschrift des Chatterton-Manuskripts Früchte trug. Dabei hat mich kein anderer so sehr unterstützt, motiviert und in ersten Diskussionen über das Buchprojekt inspiriert wie Prof. Dr. Günter Oesterle. Ihm möchte ich nicht bloß als Projektleiter danken, sondern als langjährigem Mentor und Freund; deshalb ist ihm dieses Buch gewidmet. Um es drucken zu lassen, war jedoch die Unterstützung noch einer dritten Institution unabdingbar: Zum zweiten Mal in meinem Leben und in meiner Arbeit fand ich sie in der Ludwig Sievers Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Erforschung der freien Berufe. Dafür gebührt der Sievers Stiftung mein aufrichtiger Dank, und ich hoffe, dieses Buch möge ihr gefallen! Das Ende dieser langen Danksagung will ich so kurz und innig wie möglich machen. Ich danke allen mir nahe stehenden Menschen, die mir in der Phase der Arbeit Rückhalt gaben: Miriam Müller, Michael Wagner, Hellgard Richter, Daniela Jennewein und Wigbert Traxler, den Unverwüstlichen unter meinen Freunden; Ute Klostermann, Martina Bawa und Karin Bremer, den unermüdlichen Korrekturleserinnen; Josiane, Ingolf, Clelia und Inas Hoefer, die mit familiärer Duldsamkeit meine arbeitswütigen Launen ertrugen, sowie meinem Bruder Jérôme, dem Meisterformatierer. Und natürlich muß ich Garou, meinem Hund, danken, mit dem ich mir meine Ideen erwanderte und mir, wie Charles Dickens und George Meredith, den Schreibstreß von der Seele lief… Wetzlar, im November 2009
Natascha N. Hoefer
Für Günter
Einleitung zu Chatterton, Mythos des ruinierten Poeten
1 Drei ruinierte Poeten Wer war Thomas Chatterton? – Er war der „marvellous Boy“1. Er war the wonderful child of Bristol”, das „[u]nter den Unsterblichen […] zur Kameradschaft der François Villon, Cyrano de Bergerac, Christian Günther [gehört], zu denen also, die ein wirklich fabelhaftes Leben führten, Dichter und Dichtung in einer Person.“2 Chatterton, das war jener Teenager, der Mitte des 18. Jahrhunderts eine ganze mittelalterliche Welt erfand – und in Form von „alten Manuskripten“ für wahr verkaufte. Doch anstatt damit reich und berühmt zu werden, wurde der arme Junge als Fälscher entlarvt, als Dichter verkannt und nahm sich 1770, mit siebzehn Jahren, lieber mit Arsen das Leben als langsamer am Hunger zu sterben. – So erzählt die Legende, die sich um Chatterton rankt. Diese Legende machte ihn berühmt, wie er es immer sein wollte, aber nicht als historische Dichterpersönlichkeit, sondern als Mythos. Dieser Mythos, der sich aus der ersten Legende entwickelte, erhielt Mitte des 19. Jahrhunderts aber eine neue und bleibende Griffigkeit: Chatterton war zum Mythos des ruinierten Poeten geworden. Dieser Chatterton, der Mythos des ruinierten Poeten, erhielt eine poetisch verbrämte und dezent aktualisierte Lebensgeschichte, damit aber eine postume Mission: Dieser Poet, den seine „unpoetisch“ gewordene Welt ruinierte, sollte dieser poeten- und menschengfeindlichen Welt einen anklagenden Spiegel vorhalten. Denn diese Welt, die der französische Romantiker Alfred de Vigny im Namen Chattertons anklagte, war zu wirtschaftlich geworden, zu kalt, berechnend, zweckrational, um noch menschlich oder gar poetisch zu sein. So ist das Chatterton-Bild, das Vigny dem Kaufmann als dem exemplarischen Wirtschaftsmenschen gegenüberstellt, dieses: Ein Poet der sich als zu viel sieht auf der Welt, denn sie ist unpoetisch geworden, verwirtschaftlicht bis in die maschinisierten Herzen ihrer Menschen hinein. Der Poet flieht aus dieser feindlichen Sphäre in die bessere Welt seiner Dichtung; doch das nährt nur seinen Geist, nicht seinen Körper. Und ehe er sich, getrieben von Hunger, Kälte und Krankheit, zuletzt doch für lebenslang an die merkantile3 Welt verkaufen und das heißt sein Poetsein verleugnen würde, 1 2 3
––––––––––––––––––– Wordsworth: Selected Poems and Prefaces, S. 166. Penzoldt: Der arme Chatterton, S. 229. Wenn in diesem Buch das Adjektiv „merkantil“ verwendet wird, ist der Begriff aus dem Englischen entlehnt und wird im Sinne von „kaufmännisch“ verwendet. Vom absolutistischen Merkantilismus ist hier also nicht die Rede.
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verkauft er sich nur für einen Augenblick. Nur einen Augenblick lang handelt der Poet nicht als er selbst, sondern kaufmännisch, kalt und berechnend: um sich aus der Welt freizukaufen. Der Handel vollzieht sich im Trank einer Überdosis von Opium und im Hinterlassen eines entseelten Körpers. Denn der ist nicht mehr unnütz und wertlos. Das tote Ding kann der chirurgischen Schule verkauft werden, des Poeten Mietschulden postum zu decken. – Vigny machte Chatterton europaweit berühmt. Sein Drama wurde in viele Sprachen übersetzt, in zahlreichen Hauptstädten aufgeführt. In Paris löste der schöne Opfertod des armen Poeten aber eine Selbstmordwelle à la Chatterton aus; so sehr identifizierte sich eine ganze Generation junger romantischer Gemüter mit dem ruinierten Poeten. Das war 1835. Einundzwanzig Jahre später, 1856, erregte Chatterton erneut die Massen, diesmal in England. Nun hatte der Mythos des ruinierten Poeten ein Gesicht bekommen. In Wahrheit gehörte es George Meredith; schließlich war Chatterton vor sechsundachtzig Jahren gestorben, ohne jemals portraitiert worden zu sein. Doch Meredith schien nicht nur als armer Poet prädestiniert dazu als Chatterton zu posieren. Mit seinen reichen, wilden, roten Locken war er von einer markanten, etwas dämonischen Schönheit. Henry Wallis verwandelte sie in die Schönheit des Poeten, dessen Ruin sich soeben vervollkommnet, im Moment seines Sterbens. So ist das Chatterton-Bild, das heute von allen am hartnäckigsten das Gedächtnis der Welt durchspukt, dieses, das auch die Front des vorliegenden Buches ziert: Ein Poet, der schon verblassend daliegt, auf einem kargen Bett, in einer Dachbodenkammer. Und sein lebloser Körper ist hier nicht das einzige Restund Evidenzstück eines ruinierten Lebens: Jedes der gezählten Objekte des armseligen Intérieurs spricht den Lebensverfall seines Bewohners noch einmal aus. Hier ist der Ruin des Poeten, das Scheitern des vergeistigten und fühlenden Menschen an einer unpoetischen Welt des Materiellen, Dinglichen, trotzdem aus den Dingen erzählt; freilich aus den materiell wertlosen, die nur emotional teuer sind: die letzten Dinge, die Andenken eines Sterbenden. Doch sein rotes Haar sieht unter den toten Objekten merkwürdig lebendig aus; und auch seine dämonische und leise erotische, androgyne Schönheit machte diesen verblassenden Jüngling unvergeßlich… Was aber Wallis und Vigny gar nicht wußten, als sie Chatterton zum Inbegriff des poetischen Menschen erhöhten, der am Unpoetischen seiner verwirtschaftlichten Gesellschaft zu Grunde geht, war dieses. (Und warum sie so unwissend waren, wird später erläutert werden.) Chatterton selbst hatte sich lange vor ihnen mit denselben Fragestellungen wie sie befaßt. Auch er hatte, und sogar in zweifacher Ausführung, Bilder eines ruinierten Poeten entworfen. Das eine davon war das Bild des mittelalterlichen Dichter-Mönchs Thomas Rowley, dem es erst dank seines besten Freundes und Mäzens, dem Kaufmann Canynge, gut ging – ehe es mit beiden bergab ging. Ihre alte Welt war am Ende zu wirtschaftlich geworden, um den Kaufmann und den Dichter weiterhin Hand in Hand walten zu lassen. Bis heute hat noch niemand aus der pseudomittelalter-
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lichen Rätselsprache von Chattertons Rowley-Manuskripten herausgelesen, daß diese fabriziert wurden, um eine „alte“, in Wahrheit höchst aktuelle Ruingeschichte zu erzählen. – Da Chatterton jedoch nicht nur der Mann hinter dem Alter Ego des Manuskriptschreibers Rowley war, sondern auch ein brillanter Satiriker, hatte er noch ein zweites, zeitgenössisches Bild eines ruinierten Poeten entworfen. Diese satirische Skizze war genauer gesagt ein Selbstportrait – doch mit dem Mythos Chatterton hat Chattertons Selbstportrait des ruinierten Poeten zugleich sehr viel und sehr wenig zu tun. Obwohl es haargenau dasselbe Thema wie Vignys und Wallis’ Chattertons hat – kurz gesagt: Poet versus Kaufmann –, ist es selbst zu „merkantil kontaminiert“, um romantisch zu sein. So wäre der folgende ruinierte Poet Vigny und Wallis zu „nieder“ und unpoetisch gewesen, keinesfalls zur edlen, romantischen Mythenfigur geeignet: Ein Poet, der sich in einem Dilemma befindet: er ist merkantil geworden! Und eben das darf ein „wahrer Poet“ niemals sein. Doch weil es geschehen ist, leidet der Dichter am Konflikt seiner poetischen und merkantilen Seele – und daraus entspringt seine Inspiration. Seine Inspiration zu genialen Satiren. Satiren, die sich gerade gegen die Käufer „dichterischer Ware“ richten und sich folglich nicht verkaufen lassen; Satiren, die den Ruin des Poeten befördern – da sie ihn nur brotloser, folglich hungriger, folglich merkantiler, folglich in sich zerrissener und folglich inspirierter zum Schreiben neuer Satiren machen. –
2 Thomas Chatterton und Charles Dickens Was Vigny und Wallis am historischen Chatterton mißhagt hätte, jene Mischung aus einem poetischen und doch auch sich selbst vermarktenden Charakter, war in Wahrheit höchst modern. Es begründet die große Ähnlichkeit zwischen Thomas Chatterton – und Charles Dickens. (Farbabb. 1) Chatterton und Dickens – es ist verblüffend, wieviel diese beiden verbindet. Da sind zunächst die kleinen Oberflächlichkeiten, die dennoch bereits bezeichnend sind: wie die Liebe zu einer modischen und auffallenden Kleidung.4 Schon diese Liebe zeichnete Chatterton und Dickens als etwas selbstgefällige Individualisten aus, und als große Selbstinszenierer. Doch diese bedurften der stützenden Geborgenheit und Anerkennung, vor allem durch den Kreis der Fami-
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––––––––––––––––––– Chatterton schrieb seiner Schwester am 30. Mai 1770 aus London, gut drei Monate vor seinem Tod und in Wahrheit zur Genüge unbetucht: „I employ my money now in fitting myself fashionably, and getting into good company“ (The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 433). Zu Dickens’ „taste for fancy-waistcoats“, bzw. „‘dandyism’ in his attire“ siehe James: Charles Dickens, S. 28, und Ackroyd: Dickens, S. 95-96.
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lie. Die Familie war für Chatterton wie Dickens zeitlebens bedeutsam;5 wiewohl es angetastete Familienstrukturen waren, denen beide entstammten: und daher bedrohte Strukturen, bedroht zunächst im ganz materiellen Sinne. Doch geht mit der materiellen Bedürftigkeit eine Sorge und Angst einher, die bereits mehr ist als ein materielles Dilemma. Die Angst vor der vollkommenen Verarmung, dem definitiven Ruin ist auch eine psychische Zerrüttung, was Chatterton und Dickens, sensibel und geistig frühreif, beide in jungen Jahren gewahrten. Chatterton war Halbwaise, der Vater Bristoler Lehrer gewesen und noch vor der Geburt seines Sohnes, des zweiten Kindes, gestorben; so mußte die Mutter als Leiterin einer Nähschule, die sie zu Hause eingerichtet hatte, den Unterhalt der Familie fristen. John Dickens, den Vater des Autors, führte sein Unbedarftheit in finanziellen Dingen in das Londoner Schuldnergefängnis Marshelsea. Die vielköpfige Familie zog gleich mit darin ein; nur der zwölfjährige Charles lebte außerhalb der Gefängnismauern, zum Schlafen und zum Arbeiten in einer Schuhmittelfabrik. Doch für Chatterton wie für Dickens wird das Leiden an der erlittenen oder drohenden Misere zum Antrieb ins Phantasieren, und Schreiben.6 Mit sechs Jahren schon träumt Dickens davon, ein Dichter, und freilich ein berühmter, also wohlhabender Dichter zu werden;7 „very young“, vielleicht acht Jahre sei das Kind Chatterton gewesen, so eine vieltradierte Anekdote, als es von einem befreundeten Töpfer nichts anderes auf seinen Trinkbecher gemalt haben wollte als einen „angel, with wings, and a trumpet, to trumpet my name over the world.“8 Und da sie aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen für die grundsätzlichen sozialen Mißstände ihrer Zeiten sensibilisiert waren, thematisieren Chatterton und Dickens diese, als sie wirklich Autoren geworden waren, in ihren Schriften selbst. Doch damit schlägt die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen ihnen in 5
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––––––––––––––––––– So schrieb Chattertons Biograph Gregory: „[…] but the most amiable feature of his character, was his generosity and attachment to his mother and relations. Every favourite project for his advancement in life was accompanied with promises and encouragement to them; while in London, he continued to send them presents, at a time when he was known, himself, to be in want” (siehe Gregory: The Life of Thomas Chatterton, in: The Works of Thomas Chatterton, S. i-clx; hier S. lxxviii). Die Idealisierung der Familie sieht Ackroyd als einen der Grundzüge in Dickens’ Charakter und Werk; auch James sieht Dickens als „forever associated with domestic warmth and happiness“ (James: Charles Dickens, S. 96). Leuschner bezeichnet Chatterton als „[d]as eindrucksvollste Beispiel für die Flucht aus einer tristen Realität in ein idealisiertes Mittelalter“ (Leuschner: Die Tagträume des Thomas Chatterton, S. 1), wobei Chattertons Dichten als rein eskapistischer Akt noch zu hinterfragen ist. Dennoch hätte die folgende Beschreibung des Kindes Dickens auch auf Chatterton gepaßt: „it is the image of the solitary child, lost in his book, preoccupied with his own fancies, creating his own world. Creating his own world so vividly that it supplanted the one around him.“ (Ackroyd: Dickens, S. 34.) Siehe ebd., S. 21. Gregory: The Life of Thomas Chatterton, S. vii. Die Angabe „very young“ stammt von Chattertons Schwester; Höpfner u. a. datierten die Anekdote auf Chattertons achtes Lebensjahr (siehe Höpfner: Ein Wunderkind aus England, S. 5).
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ihr Gegenteil um. Denn die Angst vor der sozialen Misere, vor dem Ruin, durchdrang das ganze mittige 19. Jahrhundert, so daß Dickens mit seinen Romanen den Geist seiner Epoche traf. Seine Leser fanden sich in diesen Werken wieder, die alle um das doppelköpfige Faszinosum des sozialen Aufstiegs und des sozialen Abstieges kreisten. Dickens schrieb Ruingeschichten, in denen am Ende doch immer ein „guter Gewinner“ wiederaufsteigt; nach solchen verheerenden und doch zuletzt tröstlichen Geschichten verlangten seine Zeitgenossen. So wurde Dickens mit seinen Ruingeschichten wirklich so berühmt und wohlhabend, wie er es sich als Kind gewünscht hatte. Das Schreiben ermöglichte ihm den sozialen Aufstieg. Dickens’ Lebensgeschichte liest sich selbst wie einer seiner Romane – so wie sich andersherum sein Leben aus seinen Romanen herausliest, vor allem aus dem autobiographischsten, David Copperfield. Dickens war so erfolgreich als Schriftsteller, daß er nach seinem Tod vollends zur Kultfigur erhoben und in Westminster Abbey beigesetzt wurde, unter den Großen Englands.9 Doch schon zu seinen Lebzeiten galt er als etwas Besonderes: Er war, als Schriftsteller, der beispielhafte soziale Aufsteiger. Er war der inkarnierte „‘self-made’ man“10, und das kam beinahe einem modernen Mythos gleich: einem Mythos des Erfolgspoeten, oder genauer: des Erfolgs-Ruinpoeten. Auf diese Weise wäre auch Chatterton gern berühmt und reich geworden. Und freilich, schon seine Zeit, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, war verwirtschaftlicht und sozial unsicher genug, um ein neues Bedürfnis nach einer „guten alten Zeit“ aus sich hervorzubringen. Man begann, sich für die „poetischen Kuriositäten“ dieser „besseren“ Vergangenheit zu interessieren, die in Form von Ossians Gesängen oder Percys Reliquien plötzlich feilgeboten wurden (dazu später mehr). Echt war nichts davon – die poetischen Rest- und Beweisstücke der guten alten Zeit waren Fälschungen. Unter diesen Altertumsfälschern seiner Zeit mischte Chatterton nun mit – und schmuggelte seinen „mittelalterlichen Manuskripten“ eine sozialkritische, satirische Botschaft ein. Das war nun höchst originell – doch zu raffiniert und verrätselt für die Klientel, die Chatterton damit erreichte. Folglich wurde er nicht für seinen scharfen Geist und seine überbordende Imaginationskraft berühmt, sondern verrufen als Fälscher. 9
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––––––––––––––––––– Dickens hatte ein schlichtes Begräbnis in seinem Wohnort Rochester gewollt: „but in the days following his death it became clear that the nation wanted him to be buried in Westminster Abbey.“ (James: Charles Dickens, S. 119.) Im folgenden zog ein Pilgerstrom an das Londoner Grab, der sich über Monate hinstreckte; Menschen aller Bevölkerungsschichten verhielten sich in ihrer Trauer, als ob „a personal bereavement had befallen everyone“ (ebd.). Diese Form eines modernen Andenkenkultes war dann aber doch wieder das, was Dickens selber erhofft hatte: „Their remembrance, and the legacy of his work, were the only memorials Dickens ever wanted.“ (Ebd.) Ackroyd: Dickens, S. 117; durchweg greift Ackroyd auf diese Bezeichnung des „self-made man“ zurück, sowohl in Bezug auf Dickens selbst wie auch auf die Männer, die Dickens als Freunde mit verwandten Erfahrungen und Gesinnungen bevorzugte.
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Anders gesagt, ging Chattertons größter Verkaufstrick seiner Werke fehl: der Verkauf der gefragten mittelalterlich-poetischen „Ware“. Dabei hatte sich Chatterton nicht umsonst mit einer Gabe der dichterischen Selbstvermarktung gebrüstet.11 Sein Schaffen beweist, daß er nicht nur Dichten, sondern auch seine Sachen an den Mann bringen konnte. Nur ging irgend etwas zuletzt dabei fehl; oder vielleicht war einfach noch nicht die Zeit für den vorbildlichen Dichter und Selbstvermarktungskünstler gekommen. Dickens seinerseits hat die Gabe der Selbstvermarktung besessen, und gewinnbringender als Chatterton angewandt12; wenn er zum exemplarischen Aufsteiger-Dichter wurde, so weil er schreiben und seine Sachen verkaufen konnte. „He was perhaps the first professional author to act as a professional, and to put what would have been notable skills as a Victorian businessman to good use“, resümiert Ackroyd zum Doppelerfolg des kaufmännisch und schriftstellerisch begabten Dickens. So aber kam es, daß Chatterton verfrüht oder auf die falsche Weise seine merkantile Begabung anwendete, keinen Erfolg damit hatte, sondern verkannt an sich oder seiner Welt zugrunde ging, weil diese noch nicht bereit zu seiner Würdigung war. – Und doch wurde Chatterton eben deshalb postum zur Berühmtheit, und dieselbe Epoche, die Dickens als den self-made-man-Ruindichter feierte, erhob Chatterton zu einer entgegengesetzten Kultfigur: zum Inbegriff des ruinierten Poeten.
3 Vom romantischen verfluchten zum (un)romantischen ruinierten Poeten Dieses Buch ist Chattertons Werk und seinem Wirken gewidmet. Sein Werk ist spannend, weil es „zu früh“ die Themen behandelte, die das 19. Jahrhundert dann brennend interessierte; eben darauf ist aber seine explosive Wirkung zu rückzuführen, jene Wirkung des Mythos des ruinierten Poeten. Der ruinierte Poet, jene zur Gesellschaftskritik erfundene Figur, die Chatterton als erster entwarf, lange bevor er selber zu dieser Figur stilisiert wurde, war aber deshalb reizvoll, weil sie zwei Faszinosa miteinander verband. Sie war erstens Vignys Fortsetzung, bzw. Chattertons Vorwegnahme des romantischen Mythos des poetischen Genies. Doch der war nun zweitens „kontaminiert“ durch den Ruin: jene allgegenwärtige Angst- und Faszinationsgröße des Zeitalters der Industrialisierung. Alfred de Vigny gilt in Frankreich fälschlicherweise als Erfinder des romantischen Mythos des „verfluchten Poeten“: „Le Poète maudit, préjugé romantique, cela va de soi, est une invention de Vigny, et c’est dans Chatterton que le mot, re-
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––––––––––––––––––– Siehe The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 435. (Ackroyd: Dickens, S. 161.)
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pris par Baudelaire, Verlaine, a toute sa force.“13 Weil Vigny Chatterton schrieb, sei er noch vor Baudelaire und Verlaine der erste Erfinder des verfluchten Poeten gewesen: dieses Poeten, der durch seine Begabung nicht belohnt und ausgezeichnet ist, sondern belastet und gequält. So sieht es Radiguet und mit ihm andere; und sie sehen es falsch. Denn Vigny hat nicht den verfluchten, sondern den ruinierten Poeten erfunden; ein Mythos, der dann von Wallis und genug anderen fortgewoben wurde.14 Den verfluchten Poeten erfand aber auch nicht zuerst Baudelaire oder Verlaine, sondern Byron. Byron imaginierte ein erstes (Selbst-)Bild des romantischen Genies, das an seinem Lebensfluch des Dichterseins melancholisch leidet – und mit seinem Lebensübel andere ansteckt. Dabei erfand Byron diesen verfluchten und seinen Fluch übertragenden Dichter nicht nur; er inkarnierte ihn leibhaftig: Byron erdichtete nicht nur Lara, Manfred, usw., er lebte die Rolle des verfluchten Poeten Byron als die Rolle seines Lebens aus.15 Aus diesem Grund sieht Richard Holmes in diesem „dazzling Lord Byron“16 den sprühendsten Funken zur Entzündung eines romantischen Mythos17 – der sich dann allerdings von der konkreten Figur Byrons, sowie weiterer Dichter, die ihn mitprägten, abstrahierte. – Und ist nicht auch Chatterton dazu geeignet gewesen, jene „intoxicating idea of the poet as ‘Romantic genius’“18 zu verkörpern? Freilich, er war 1770 zu früh gestorben, um schon zur Generation der englischen Romantik zu gehören. Doch sein Los wurde von den Vertretern dieser Generation durchaus für romantisch erklärt. Für Wordsworth, Coleridge, Southey, Keats war Chatterton ein zu früh geborener Romantiker, folglich ein romantisches Genie. Die Attribute, die man von diesem erwartete, paßten alle auf ihn. Chatterton war, in den Augen der Romantiker, „young, solitary, brooding, beautiful and damned“19 gewesen – er verkörperte zweifelsohne „the rebellious artist-hero, isolated and suffering in his genius“20. Die letzte Charakterisierung des „rebellischen Künstler-Helden“ stammt von Michael Wilson. Er untersuchte das romantische Geniebild in der bilden13 14
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––––––––––––––––––– Radiguet: Règle du jeu, in: Œuvres complètes, Paris 1993, S. 443. John Goodridge stellte eine „Checkliste“ sämtlicher zu Chatterton produzierter Werke zusammen, unterteilt nach „Poetry“, „Fiction“, „Dramatic and Musical Works“ und „Visual Representations“. Die Liste zählt 247 Titel – 247 Fortwebungen des Mythos Chatterton, von 1770 bis 1999. Siehe Goodrigde: Rowley’s Ghost. Siehe zu Byrons (Selbst-)Bild eines verfluchten Poeten, der „vampirhaft“ sein Lebensleid verbreitet, Praz: Liebe, Tod und Teufel, S. 75-95, sowie Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, besonders S. 7-8. Ebd., S. 7. Siehe ebd: „Byron’s portraits give us an unforgettable insight into this explosive notion, which still shapes (or distorts) our concept of inspiration and the creative artist. From now on the Romantic poet was young, solitary, brooding, beautiful and damned.“ Ebd. Ebd. Wilson: Rebels and Martyrs, S. 7.
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den Kunst.21 Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung war, daß der Mythos des romantischen Genius die Epoche der Romantik sprengte, noch bis Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus in Werken diverser, längst nicht mehr romantischer Künstler wiederzufinden sei. Holmes bestätigt diesen Befund, wenn auch er schreibt, die faszinierende Idee, die man sich einst vom „Romantic genius” gemacht hatte, forme (oder verforme) noch immer unser Denkkonzept der Inspiration und des kreativen Künstlers.22 Diese Unverwüstlichkeit sieht Wilson wiederum in der Funktion des romantischen Genius verankert: Dieses Kultbild diente „wirklichen“, lebenden, romantischen und eben auch nach-romantischen Künstlern und Dichtern als „Maske“23. Kreativberufler des 19. Jahrhunderts (und noch danach) schlüpften in die Maske des romantischen Rebellen-Genies – und nicht nur, indem sie dem alten Kultbild fiktive neue Gesichter gaben, in Bildern oder Büchern. Sie selbst füllten die alte Rolle aus; ähnlich Byron, der den verfluchten Poeten erfunden und lebenslang inkarniert hatte. Und die Frage ist nur: warum? Warum spielten Generationen von Künstlern und Poeten wieder und wieder die romantischen „outsiders, bohemians, dandies, visionaries and martyrs“24? Die Begründung gibt ein Stichwort, das Wilson mehr beiläufig erwähnt: die „populäre Imagination“. „The idea of the mask, of disguise or assumed identity, runs like a leitmotiv through the art of the nineteenth century: this was the period in which the myth of the artist as inspired rebel, battling against a hostile, philistine society, took hold of the popular imagination.“25 Der „inspirierte Rebell, kämpfend gegen eine feindliche, philiströse Gesellschaft“: diese Idee nahm nicht nur Besitz von denen, die sich selber zu Dichtern und Künstlern berufen fühlten. Sie nahm auch Besitz von der „populären Imagination“. Und dieser verdankt sich die Langlebigkeit des romantischen Genie-Mythos. Der war in der „populären Imagination“ so fest eingenistet, daß sie wieder und wieder nach den alten, aber vor allem nach zeitgenössischen Poeten- und Künstlergenies verlangte. Doch woher kam dieses Bedürfnis einer populären Imagination nach romantischen Künstlertypen? Woher kam das erste Bedürfnis, das vielleicht hervorgebracht, vielleicht schon bedient wurde vom Selbstinszenierer Byron? Schließlich ist es schwer zu beantworten, was wohl zuerst da war: ein Verlangen nach dem romantischen Genius, dem konkrete Dichter und Künstler entgegenkamen – oder diese historischen Initiatoren, Gestalten wie Byron, Shelley, Keats und auch Chatterton, die einen Hunger nach dem romantischen Genius erst erzeugten? – Vermutlich ist diese Frage im Rückblick nicht mehr zu beantworten. 21 22 23 24 25
––––––––––––––––––– Die Untersuchung beruhte auf der Ausstellung, Rebels and Martyrs, 2006 in der Londoner Tate Gallery. Siehe Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 7. Siehe Wilson: Rebels ans Martyrs, S. 7. Ebd. Ebd.
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Doch war das Aufkommen des romantischen Genies, sowie des Bedürfnisses nach ihm, Teil der Bewegung der Romantik und des Bedürfnisses nach dem Romantischen überhaupt. Die Urgründe der romantischen Bewegung versucht Wilson aber wie folgt zu erfassen: The redefinition of the artist was a part and a consequence of the emergence of Romanticism in the arts, and the causes of this are complex and many. But two factors stand out as paramount: the reaction of philosophers and writers to what they saw as the excessive rationalism and false optimism of Enlightenment thinkers, and the events of the French Revolution and the European wars that followed in its wake.26
Die Romantik sei eine rebellische Abkehr von der Aufklärung und ihrem falschen Vernunfts- und Fortschrittsglauben gewesen; denn die französische Revolution und ihre Folgen, die in weiteren kriegerischen und revolutionären Unruhen bestanden, habe den Glauben an die kühl-konstruktive Ratio und den daraus resultierenden Fortschritt ad absurdum geführt. So weit Wilson; doch er selbst räumt ein, daß die Urgründe des Romantischen, und so auch des romantischen Genius, „complex and many“ seien. Und bietet dieser nicht selbst, bietet nicht erst recht der davon abweichende, (un)romantisch gewordene Mythos des ruinierten Poeten noch eine weitere Antwort auf die Frage nach dem Urgrund des Bedürfnisses nach dem Romantischen an? Um aber zuerst bei dem herkömmlich-romantischen rebellischen Poeten zu verbleiben: Gewiß mag der gegen ein erdrückendes Übermaß an Ratio und Engstirnigkeit aufbegehren – doch diese Ratio ist nicht mehr die der Aufklärer, die doch schon seit einiger Zeit passé sind. Nun ist eine neue Ratio allgegenwärtig am Walten. Und die mag als Fortentwicklung aus der aufklärerischen Ratio hervorgegangen sein, welche immer schon moralischen, politischen, künstlerischen und wirtschaftlichen Fortschritt im selben Atemzuge berechnete. Hauptsächlich übriggeblieben ist davon im 19. Jahrhundert aber eine Ratio, die vor allem einem Zweck verpflichtet ist: die Zweckrationalität einer einseitig auf materiellen Gewinn abzielenden Gesellschaft. Daß schon der romantische Mythos des rebellischen Genius sich von den Vertretern der zweckrationalen, verwirtschaftlichten Gesellschaft abheben will, verrät er zwar gerade nicht im Klartext. Doch das, was er ausblendet, ist auf seine Weise beredt. Die Portraitkunst der englischen Romantik, die sich Dichtern und Künstlern widmete, veranschaulicht es auf ihre Weise. Begonnen damit, daß die Genieportraits mehr denn je Individual-Portraits sind. Deshalb rücken sie in die Nähe von „teuren Andenken“ („treasured souvenirs“), denn: These paintings have a strong biographical element, a sense of shared intimacy and conversational directness. They have the tender feel of treasured souvenirs. At the same time, they powerfully suggest the intense solitary inner life of the sitters, an extraordinary haunting quality of self-reflection and self-awareness. [...] For the 26
––––––––––––––––––– Wilson: Rebels and Martyrs, S. 10.
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painters, the problem of rendering the inward quality of Romantic genius, the workings of the imagination as an interior force (no longer represented by external Muses), had become the new touchstone of Romantic authenticity.27
Das Ziel des Portraitisten ist es, die Seelen-Landschaft des Portraitierten in ihren flüchtigen Stimmungen und Inspirationen einzufangen – weil es dieses Innen-Leben ist, das den Genius ausmacht, das er ist. Daher das Biographische, Intime, das Authentische, Suggestive der neuen Portraitkunst. Suggestiv muß diese Kunst aber sein: weil es ihr darum geht, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Wie macht man aber das Unsichtbare des beseelten Genies sichtbar? Ein Weg ist es, sich bei der Darstellung auf das Auge zu konzentrieren, den Blick des Poeten. Es gilt, das Flüchtige einer inspirierten Mimik oder Mimik der Inspiration im Bild dingfest zu machen – insbesondere also den Ausdruck des Auges, aus dem die innere Lebendigkeit am deutlichsten „spricht“: in letzter Konsequenz daraus, daß der Blick des Genies introvertiert ist, der Außenwelt abgewandt (Farbabb. 2/3). Gerade das Bild des Poeten, der in seinem träumerischen Brüten der Außenwelt entrückt ist, zeigt ihn in seinem „wahrsten“, intimsten „Kreativsein“. Gerade dieses Bild verrät aber auch seine Unnahbarkeit und Isoliertheit in sich selbst. Es ist ein „intense solitary inner life“, das den romantischen Genius auszeichnet. Doch diese Einsamkeit impliziert mehr als daß der Poet sich freiwillig in sich selbst zurückzog. Wurde er nicht erst von außen dazu gezwungen? In der Tat will das portraitierte Genie stets mitsuggerieren, daß es in seiner Einzigartigkeit wenn überhaupt, dann nur annäherungsweise von einem gleichgesinnten Gegenüber zu begreifen ist. Dieser „Verständige“ kann der Portraitmaler gewesen sein oder dann der einfühlsame Betrachter des vollendeten Bilds sein. Doch der Maler und der feinfühlige Betrachter sind dann selber Ausnahmefälle. Dem isolierten, weltabgewandten Genie gegenüber steht nämlich – außerhalb des Rahmens unsichtbar und trotzdem immer mitgedacht – die besagte Welt, von der der Poet sich abwenden muß. Denn es ist die Welt der „anderen“ – der gesichtslosen Überzahl derer, die den Genius nicht verstehen, die ihm feindlich gesonnen sind. Doch diese „Unverständigen“, wer sind sie also? „[T]he myth of the artist as inspired rebel, battling against a hostile, philistine society”28 – so erklärte Wilson den romantischen Genius als einen, der „gegen eine feindliche, philiströse Gesellschaft“ anrebelliert. Man kann diese Gesellschaft der „Philister“ auch die der „Bourgeois“ nennen; man kann die Sache aber auch zuspitzen und den unromantischsten, konträrsten Namen für den Kontrahenten des Poeten auswählen: den Namen des Kaufmanns. Vor allem er ist im Bild des einsamen romantische Genius ausblendet – um es nicht zu „verschmutzen“.
27 28
––––––––––––––––––– Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 18. Wilson: Rebels and Martyrs, S. 7.
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Ob Radiguet, ob Holmes, ob Wilson: alle drei qualifizieren den romantischrebellischen Genius als einen Mythos, aber alle drei qualifizieren diesen Mythos auch ab als ein „Vorurteil“, eine „Deformation“. „Le ‘Poète maudit’, préjugé romantique, […] est une invention de Vigny“29, so Radiguet; „Byron’s portraits give us an unforgettable insight into this explosive notion, which still shapes (or distorts) our concept of inspiration and the creative artist”30, so Holmes. Wilson gibt aber konkret an, worin das „Vorurteilhafte“ oder die „Deformation“ des Mythos des romantischen Genius besteht: Such a view of the artist is of course a distortion. It is a part of the story. As far as the realities of artistic life in the nineteenth century are concerned, it omits much of consequence. It is very little concerned with the business of art, the practicalities of making, promoting and selling pictures, which developed in new ways during that period. It prefers to focus on the heroic conflict with society and with academies, juries and governments, and on rejection, poverty and even failure, rather than on the success that rewarded the efforts of artists whose work conformed to what was required.31
Der Mythos des romantischen Genius deformiert die reale Existenz des Dichter- oder Künstlerlebens. Denn eines blendet er rigoros aus: „the business of art, the practicalities of making, promoting and selling pictures” – oder anders gesagt: den Kaufmann im Künstler oder Poeten. Das ist deshalb so ungerecht, weil der Dichter, Künstler, Musiker derselben Zeit, die sich so überschwenglich für den romantischen Genius begeistert, den Kaufmann in sich kultivieren muß. Längst ist der schöpferisch Tätige nicht mehr abhängig, aber dafür sicher gefördert von einem adeligen Mäzen. Längst ist der Kreativberufler freier, doch auch zurückgeworfener auf sich und gefährdeter: er arbeitet für „den Markt“. Er muß Arbeiten produzieren, die Abnehmer finden. Er muß verkaufen, um davon zu leben. Die Konsequenz ist eine Spaltung, die durch alle kreativen Berufe geht: die Spaltung zwischen der Produktion populärer, verkäuflicher Ware auf der einen Seite, auf der anderen die Schöpfung inspirierter, zutiefst origineller, der breiten Masse unverständlicher und schwer verkäuflicher Werke.32 Der „wahre“ Genius ist freilich der, der die hohen Werke hervorbringt. Das Problem ist nur: das genügt nicht. Auch er muß noch dazu um diese andere, neue, „niedere“ Kunst der Selbstvermarktung wissen; auch er muß sich zumindest insoweit verkaufen, daß es zum Überleben ausreicht. – Die erste Regel dieser so notwendigen wie „unpoetischen“ Kunst der Selbstvermarktung ist aber: das Wissen um besagte Kunst auszublenden. Der 29 30 31 32
––––––––––––––––––– Radiguet: Règle du jeu, S. 443. (Hervorhebung von mir, N.H.) Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 7. (Hervorhebung von mir, N.H.) Ebd., S. 7. Siehe zu dieser Entwicklung im Bereich der bildenden Kunst Neidhardt: Deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, besonders S. 6-16; in dem der Musik Dürr: Zwischen Romantik und Biedermeier; in dem der Literatur die entsprechenden Kapitel in Smith Allen: Popular French Romanticism.
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zur Selbstvermarktung gezwungene Poet oder Künstler muß sich so inszenieren, als hätte er mit profanen Dingen wie der „handwerklichen“ Arbeit oder gar dem Werkeverkauf nichts zu tun – will er sich verkaufen. Denn eine populäre Imagination verlangt nach „wahren“ Poeten: und die dürfen alles sein, aber nicht merkantil. Des Rätsels Lösung ist schließlich: Der romantische Mythos des rebellischen, vergeistigten, fühlenden, inspirierten Genius ist als exaktes Gegenbild zu den Philistern oder Bourgeois konzipiert, eigentlich und vor allem aber zum Kaufmann. Der romantische Mythos des rebellischen Poeten ist Ausdruck einer stillen Rebellion, einer wortlosen Aversion gegen den neuen Typus des verwirtschaftlichten Menschen, den der Kaufmann exemplarisch verkörpert. Doch das ist es eben – der Kaufmann wurde nur implizit kritisiert durch die Erfindung des romantischen Genius. Der Kaufmann und alles, was er verkörperte, mußte aus diesem „Fluchtbild“ des idolisierten Poeten ausgeblendet werden – weil man sich ihm selbst melancholisch-brütend zuwenden wollte, um sich demonstrativ von der prosaischen Wirtschaftswelt abzuwenden. Aus diesem Grund durfte der Kaufmann nicht explizit im Kontext des Poeten erinnert und angeprangert werden: sonst hätte er den Mythos des merkantil unkontaminierten Genies befleckt und aus seiner poetischen Höhe zurückgezogen in den Bereich der niederen, materiellen Gesellschaft. Die Ausblendung des Merkantilen um den Poeten, vor allem aber die Ausblendung des Merkantilen im Leben des Poeten: das ist die Grundbedingung für dessen Mythisierung; das ist die nur implizite und verschwiegene Kritik, die sich über den Mythos des „rein“ gebliebenen Geistes- und Gemütsmenschen vollzieht. Bis einer das Schweigen bricht. Einer bricht 1834/35 die romantische Grundregel der Ausblendung des Merkantilen um und im Poeten: und das ist Alfred de Vigny. In diesem Moment wird der romantische Mythos des rebellischen, verfluchten Genies aber gewollt merkantil kontaminiert – der neue Mythos des ruinierten Poeten wird (un)romantisch, um offenkundig sozialkritisch zu wirken. Was Vigny genau tat, um den romantischen Poetenmythos sozialkritisch zu aktualisieren – das ist Inhalt des dritten Teils dieses Buches. Der zweite gehört aber Chatterton selbst. Denn lange bevor Vigny im Namen Chattertons den romantischen Genie-Mythos aktualisierte, und noch bevor dieser romantische Genius selbst existierte, hatte Chatterton seinerseits zwei (un)romantische, sozialkritische, ruinierte Poeten erfunden. (Hätte Vigny von ihnen gewußt, er hätte sie freilich arg merkantil und unromantisch gefunden…) Wenn der letzte Teil des Buchs wieder zeitlich nach vorne springt, zu Wallis’ Vision des sterbenden Chatterton, hat das aber zwei Gründe. Erstens wurde Chatterton durch sein „gefälschtes authentisches Portrait“ am berühmtesten, unvergeßlichsten. Zweitens ist Chatterton seit Vigny eine Figur, in der sich die historische Verwirtschaftlichung der Industriegesellschaft gleichsam im Negativ abspiegelt. Diese Verwirtschaftlichung, die schon in Chattertons 18. Jahrhundert begann, nahm
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aber bis heute kein Ende. Sie ist uns vertraut; und so ist es durchaus interessant, ihre historisch markanten Etappen durch den kritischen Kehrspiegel Chatterton hindurch zu verfolgen. Als dieser kritische Kehrspiegel, ist der ruinierte Poet nach wie vor aktuell. Doch noch ohne diesen Kehrspiegel zu verwenden, soll im anschließenden ersten Teil des Buchs diese verwirtschaftlichte Welt des 19. Jahrhunderts näher vorgestellt werden, die ein Bedürfnis nach Chatterton hervorbrachte: Denn sie ist durchweht gewesen von einem Zeitgeist des Ruins.
I. Der Zeitgeist des Ruins oder Poet versus Kaufmann
Das 19. Jahrhundert hat sich unzählige kleinere und größere Mythen geschaffen. Zwei gegenläufige davon, die aus bestimmten Gründen aus der Menge herausstechen, sind Chatterton und Dickens. Dickens – das ist der kultisch verehrte, mit dem Tod definitiv zum Mythos erhobene Erfolgs-Berufsschriftsteller, oder genauer Erfolgs-Ruindichter. Chatterton – das ist der Mythos des ruinierten Poeten. Beide stechen aus der Menge der sonstigen Mythen heraus, weil sie (un)romantisch sind. Als Mythen-Figuren, die kultisch verehrt werden, sind sie romantisch. Im Gegensatz zum regulär-romantischen Mythos des rebellischen, verfluchten Poeten, von dem beide abweichen, sind Chatterton und Dickens jedoch zugleich unromantisch geworden, nämlich „merkantil kontaminiert“. Es ist der Ruin, diese moderne, prosaische, zunächst rein materielle Verlusterfahrung, denen Chatterton und Dickens ihr Merkantiles und trotzdem auch Romantisch-Mythenhaftes verdanken; aber ist denn der Ruin auch wirklich so rein prosaisch? Das 19. Jahrhundert selbst schien sich darin uneins zu sein. Einerseits war der Ruin eine alltägliche, auch insofern prosaische materielle Bedrohung dieser Lebenswelt des „unregulierten Kapitalismus“, die eine „ständig sich rührende Angst um die Erhaltung des Lebens“33 aus sich hervorbrachte. Es war eine ständig sich rührende Angst vor Ruin und Verarmung – sicherlich kein Genußmoment des Lebens, und „Romantisches“ war der Alltagsbelastung wohl kaum abzugewinnen? Nur kann man das ganze auch umformulieren und feststellen: Weil der Ruin die alltäglich mögliche Lebensrealität einer „unreguliert“ verwirtschaftlichten Zeit war, weil er andauernd irgendwo irgendwem passierte und folglich geradezu zu erwarten war, deshalb wuchs er sich aus zu mehr – zu einem ständig befürchteten Ruin – zu einer Ruinstimmung. Getragen von dieser Stimmung wurde der Ruin aber zu einem Angstphänomen und Faszinosum des 19. Jahrhunderts. Er wurde sogar zu einem der wirkmächtigsten Faszinosa der Zeit überhaupt – und hatte sich also längst in die Kunst und Literatur, damit aber in die populäre Imagination der Epoche eingeschlichen. Als Vigny 1834/35 seinen ruinierten Dramen-Chatterton erfand und damit bewußt vom romantischen Mythos des verfluchten Poeten abwich, legte er sich gleichsam in ein doppelt gemachtes Bett. Nicht nur der romantische Genius war der populären Imagination längst ein Begriff und Bedürfnis; auch der Ruin war in Literatur und Kunst schon zu Hause, und die Bilder des „Lebens-Schiffbruchs“ durchgeisterten die Phantasien von Vignys Zeitgenossen. So daß die populäre Imagination in doppelter Hinsicht darauf vorbereitet war, Vignys 33
––––––––––––––––––– Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 100.
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I. Der Zeitgeist des Ruins
Kunstgriff zu folgen – und seinen Chatterton als ein chimärisches Doppelwesen zu „verstehen“, bestehend aus zwei zu einer Person verbundenen Faszinationsfiguren. Vignys Chatterton ist eine Kreuzung des reizvollen romantischen Genius mit dem anders reizvollen Opfer des Ruins. Aus dieser Kreuzung bezieht Vignys Chatterton sein Innovatives, (Un)romantisches, ja revolutionär Aufrührerisches. Um aber zu verstehen, was am Ruin an sich so reizvoll war, soll ein Blick in Kunst und Literatur geworfen werden. Denn die „erzählende“ Kunst und Literatur des mittigen 19. Jahrhunderts machten, wie bereits angedeutet, den Ruin zu „ihrem Ding“ – was heißt, daß sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes romantisierten. Auf der anderen Seite reflektierten Kunst und Literatur das von ihnen mitgeschaffene Faszinosum kritisch und vermitteln so einen ersten Eindruck dessen, was das 19. Jahrhundert mit dem Stichwort „Ruin“ verband – was daran derart fesselte.
1 The South Sea Bubble oder Der Ruin in der erzählenden Kunst Julia Thomas zufolge ist die „narrative Malkunst“ die dominante Kunstform des mittigen englischen 19. Jahrhunderts gewesen34 – obwohl sie gleichzeitig kritisch verrissen wurde: „In the Victorian period the narrative picture had a distinct identity that went against the grain of contemporary ideas about what a painting should be. It flourished in a period that had already denounced it.“35 „Narrativ“ nennt Thomas diese Kunst, die trotz ihres kritischen Verrisses hartnäckig populär war, weil sie zweierlei mit dem Roman ihrer Zeit teilt. Das erste sind die gemeinsamen Erzählstrategien im Bereich des nonverbal Ansprechenden: Einen Fundus von stumm-beredten „symbols and details“ teilten Mal- und Romankunst, sowie ein Interesse an der menschlichen „physiognomy“ als einem wiederum wortlosen „index of character“.36 Das zweite, was die erzählende Malkunst und der „malerisch“ beredte Roman miteinander teilten, war aber ihr Themenfeld. So stößt man beim Durchblättern von Thomas’ Studie Victorian Narrative Painting auf zahlreiche Kunstwerke, die vom Ruin „erzählen“. Nur eines soll zur Illustration dafür dienen, wie ausgeprägt das Interesse des bildkünstlerischen 19. Jahrhunderts am „unromantischen“, prosaischen Finanziellen war – an den gleichwohl dramatischen, ja zuweilen tragischen Prozessen des 34
35 36
––––––––––––––––––– Obwohl Thomas die „narrative Malkunst“ als urenglisches Phänomen erachtet, kann man sie auch als Zeitphänomen sehen und dann entdecken, daß auch in anderen Ländern Produzenten einer erzählenden Malerei zu finden waren: in Frankreich beispielsweise Jules Noël (siehe Rodrigue und Cariou: Jules Noël). Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 9. Siehe ebd., S. 15.
I. Der Zeitgeist des Ruins
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geldlichen, darüber auch sozialen Auf- oder eben Abstiegs – das Interesse am Spiel mit den Aktien. Edward Matthew Wards „narratives Historienbild“ The South Sea Bubble, A Scene in ‘Change Alley’ in 1720 (Abb. 1) ist eine geschickte Maskerade. Diese brodelnde, ereiferte Menge der durch das Spiel mit den Aktien Geblendeten von 1720 wäre für die Zeitgenossen von 1847, Entstehungsjahr des Bildes, nicht sonderlich interessant gewesen – hätte das Portrait der alten nicht der neuen Geldgesellschaft den Spiegel vorgehalten. Es war eine seltsame Epoche. [...] In keiner anderen Zeit erinnerte sich der aus einem bißchen Schlamm gemachte Mensch besser seiner Herkunft. Die Orgie regierte, das Gold war Gott. Von den tollen Ausschweifungen der besessenen Spekulation mit Laws kleinen Papieren lesend, glaubt man tatsächlich, den finanziellen Schwänken unserer Zeit beizuwohnen. [...] Es war die Kunst [der Aktienspekulation] als Kind, aber als Wunderkind. 37
Mit diesen Worten charakterisiert Paul Féval in Le Bossu (1857) das Frankreich des beginnenden 18. Jahrhunderts, und er macht die Dekadenzzeit von einst interessant, indem er sie zur Geburtsstunde einer dem Leser seiner Zeit vertrauten Obsession erklärt: das Spiel mit den Aktien. Entsprechend verfährt auch Ward in seinem Bild der South Sea Bubble. Die gemalte Szene zeigt den prägnanten Augenblick unmittelbar vor Ausbruch einer Krise, die dem jahrmarktähnlichen Spekulationstreiben noch nicht unmittelbar abzulesen ist, doch mußte man wissen: All diese Menschen wird im nächsten Augenblick ein legendär gewordener Ruin ereilen, „the imminent collapse of the value of the stocks in the South Sea Company, which had taken of the nation’s debts in 1720.“38 Der Ruin, der bereits in der Luft liegt, ist Thema des Werkes. Doch es geht hier nicht nur um einen historischen Ruin. Die ängstliche Ahnung vor seinem Kommen mußte dem Betrachter der historischen Szene vertraut vorkommen, denn: Such wild speculative excitement was familiar in the growing commercial empire of mid-nineteenth-century Britain and came to a climax in the crash of railway investments that occurred in 1847 when this picture was painted and exhibited.39
Die „historische“ Ruinstimmung des Bildes mußte dem Betrachter von 1847 lebendig nachfühlbar sein, hatte er selbst doch eben das Zerplatzen einer zeitgenössischen Seifenblase miterlebt: der „railway investments“. Auch ist auf die Eisenbahn noch einmal zurückzukommen; doch vorerst ist ein Einblick in die Literatur zu nehmen. Denn streng genommen hatte diese sich zuerst, noch vor 37
38 39
––––––––––––––––––– Der Originaltext in Féval: Le Bossu, S. 100, lautet: „Ce fut une étrange époque. [...] En aucun autre temps, l’homme, fait d’un peu de boue, ne se souvint mieux de son origine, L’orgie régna, l’or fut Dieu. En lisant les folles débauches de la spéculation acharnée aux petits papiers de Law, on croit en vérité assister aux goguettes financières de notre âge. […] Ce fut l’art enfant, mais un enfant sublime.“ Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 20. Ebd.
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I. Der Zeitgeist des Ruins
der erzählenden Malkunst, des Ruin-Sujets angenommen40 – und auf ihre Weise den prosaischen Ruin roman-tisiert (ein Wort, das noch zu erklären sein wird).
2 Charles Dickens und David Copperfield oder Der Ruin in der Literatur Kaum eines der „großen“ literarischen Werke des 19. Jahrhunderts, in dem es nicht um sozialen Auf- oder Abstieg ginge; und ein Inbegriff des sozialen Abstiegs ist der Ruin. So ist er kaum ein „schönes“ Thema zu nennen – er ist zutiefst peinvoll. Wie wenn im Vaterhaus von Brigitta, der Protagonistin von Berthold Auerbachs Erzählung (1880), infolge des Ruins die Versteigerung aller dinglicher Güter stattfindet; und Brigitta ist dabei und muß es miterleben: Die fremden Menschen sind da, unsere Sachen gehören ihnen, sie schleppen sie mit fort und lachen dabei. Wie die Bilder mit dem Andenken an meine verstorbenen Geschwister abgehängt wurden und der Ausrufer sagte, die Bilder seien nichts werth, aber die Rahmen, da habe ich laut aufschreien müssen.41
In George Eliots The Mill on the Floss (1860) muß Maggie Tulliver miterleiden, wie noch die intimsten Dinge, die nur der Familie etwas wert sind, infolge des Ruines versteigert werden. Doch noch mehr als am Verlust ihrer teuren Dinge leidet Maggie am Gewahren dieser anderen Degradierung, die mit der materiellen einhergeht. Quälend ist die Selbsterniedrigung der Mutter gegenüber den wohlhabenden Verwandten, die darum angefleht werden, die teuren Möbelstücke, das alte Teeporzellan, das von Generationen auf die Familie gekommene Erbgut doch bitte aufzukaufen – auf daß es zumindest im weiteren Umkreis der Familie verbleibe! Und tut auch der eine oder andere der Mutter den Gefallen, ihre Dinge für einen Spottpreis zu erwerben, geschieht es nie ohne ein Ausspielen der neuen Überlegenheit. Es ist die Überlegenheit der Nichtruinierten, Nichtdegradierten, die den Gescheiterten zu fühlen gegeben wird – beschämend, genüßlich, gewürzt von latentem Sadismus. Der Ruin kann als Waffe, als Folterwerkzeug benutzt werden, als Instrument zur Machtausübung oder zum Machtentzug. So demonstriert es Alexandre Dumas’ Graf von Monte-Christo (1845/46). Weil der Herr mit dem erkauften Grafen40
41
––––––––––––––––––– Treuherz räumt ein, daß die bildende Kunst des Viktorianismus soweit in die Kategorien des Luxus, des häuslich-dekorativen Intérieurs, der moralischen und ästhetisch-konservativen Konventionen eingebunden war, daß sozialkritische Sujets bis in die siebziger Jahre hinein gemildert oder geschönt dargestellt wurden. Die verhältnismäßig sozialkritischsten Bildwerke waren aber auch nicht von Sujets der Lebenswelt inspiriert, sondern durch zeitgenössische Romane, u.a. Dickens’. (Siehe Treuherz’ Einleitung in: Hard Times, S. 9-13, sowie den Beitrag Keatings im selben Buch: Words and pictures.) Auerbauch: Brigitta, S. 71.
I. Der Zeitgeist des Ruins
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titel als junger Mann von drei „Freunden“ ruiniert wurde (in Sachen Geld, in Sachen Liebe, in seiner sozialen Position und Aussicht auf die Zukunft): aus diesem Grund taucht Jahre später der selbst-gemachte Graf von Monte-Christo auf, um die Verräter, die ihrerseits sozial aufgestiegen sind, wiederum zu ruinieren, und so verheerend wie möglich. – Hier ist es also selbstverschuldet, wenn Monte-Christos alte Ruinierer ihrerseits dem Ruin erliegen; doch ist das Furchtbare am Ruin nicht, daß er jeden ereilen kann? Daran erinnert William Makepeace Thackeray in Vanity Fair (1847/48). Eindringlich beschreibt Thackeray den alten Mr. Sedley. Einst war der Mann ein wohlhabender und respekteinflößender Kaufmann – ehe er zu einem „broken old gentleman“42 wurde. Und dessen Portrait sieht so aus: He tried to be a wine-merchant, a coal-merchant, a commission lottery agent, &c., &c. He sent round prospectuses to his friends whenever he took a new trade, and ordered a new brass plate for the door, and talked pompously about making his fortune still. But fortune never came back to the feeble and stricken old man. One by one his friends dropped off, and were weary of buying dear coals and bad wine from him; and there was only his wife in all the world who fancied, when he tottered off to the City of a morning, that he was still doing any business there. At evening he crawled slowly back; and he used to go of nights to a little club at a tavern, where he disposed of the finances of the nation. It was wonderful to hear him talk about millions, and agios, and discounts, and what Rothschild was doing, and Baring Brothers. He talked of such vast sums that the gentlemen of the club (the apothecary, the undertaker, the great carpenter and builder, the parish clerk, […]) respected the old gentleman. “I was better off once, sir,” he did not fail to tell everybody who “used the room.” “My son, sir, is at this minute chief magistrate of Ramgunge in the Presidency of Bengal, and touching his four thousand rupees per mensem. My daughter might be a Colonel’s lady if she liked. I might draw upon my son, the first magistrate, sir, for two thousand pounds to-morrow, and Alexander would cash my bill, down sir, down on the counter, sir. But the Sedleys were always a proud family.”43
Angesichts dieses Portraits eines gebrochenen, alten, geschwächten Mannes; angesichts seiner vergeblichen Versuche, an die Vergangenheit anzuknüpfen, sich mühselig wiederaufzuraffen, seinen verlorenen Status festzuhalten oder ihn vielmehr auf peinliche Weise, aufdringlich und angeberisch „stolz“, zu behaupten – angesichts dieses Exempels eines Ruinierten weiß man als Leser nicht: soll man mehr lachen oder mehr weinen? Doch noch der letzte Rest eines zerknirschten Lachens vergeht, wenn man weiterliest: You and I, my dear reader, may drop into this condition one day: for have not many of our friends attained it? Our luck may fail: our powers forsake us: our place on the boards be taken by better and younger mimes – the chance of life roll away and leave us shattered and stranded. Then men will walk across the road when they meet 42 43
––––––––––––––––––– Thackeray: Vanity Fair, Bd. 2, S. 27. Ebd.
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I. Der Zeitgeist des Ruins you – or, worse still, hold you out a couple of fingers and patronise you in a pitying way – then you will know, as soon as your back is turned, that your friend begins with a “Poor devil, what imprudences he has committed, what chances that chap has thrown away!”44
Das Leben, „mein lieber Leser“, scheint hier ein Glücksspiel zu sein, das Glück selbst eine Welle, die den Menschen, jeden Menschen, im einen Moment willkürlich trägt, im nächsten willkürlich fallen läßt, auf kargem Sandboden gestrandet. Der Ruin als Schiffbruch: das ist ein Bild, das hartnäckig die Ruingeschichten des 19. Jahrhunderts durchzieht. In der Titelillustration von Dickens’ Dealings with the firm of Dombey and Son (1847/48) ist er gleich als zentrales Faszinations-Thema angekündigt (Abb. 2). Kein Wunder; und doch ein Wunder – denn was zeichnet den Ruin also anderes aus als sein Unschönes, Prosaisches, Peinvolles? Tatsächlich ist als sein erstes Charakteristikum der Schmerz zu nennen. Jenes Verlustgefühl, das am spürbarsten wird beim Verkauf der materiellen Objekte, die einem nun, nach dem Ruin, die Erinnerungsreste des vergangenen Lebens in seinen intaktesten Momenten bedeuten. Da ist außerdem die Erniedrigung der vom Ruin Betroffenen. Eine Erniedrigung, die über die finanzielle Degradierung hinausgeht, die eine zu fühlen gegebene Erniedrigung durch „mitleidige“ Freunde oder Verwandte ist oder schlimmer: eine Selbstdegradierung derer, die zu Bittgängern und halblächerlichen Figuren verkommen. Da ist der Ruin, der deshalb als Waffe, Foltermittel oder Instrument der Rache benutzt werden kann – da ist derselbe Ruin, der prinzipiell jeden, ganz unverschuldet ereilen kann, jederzeit, aus Willkür des „Schicksals“. – Soweit ein erster Abriß von dem, was der Ruin dem 19. Jahrhundert bedeutete, geschildert aus der Perspektive der Literatur. Doch da diese ein so feinfühliger Seismograph der Beweggrößen ihrer Zeit ist, sei noch ein letzter Blick in eine besondere Ruingeschichte geworfen. Es ist eine, aber nicht irgendeine Geschichte des gefeiertesten Erfolgs-Ruindichter seiner Zeit, Charles Dickens. Dickens habe seine Ruingeschichten geschrieben, weil er damit eine eigene alte Ruinstimmung abarbeiten wollte, das Trauma einer kindlichen Erfahrung des familiären Ruins.45 David Copperfield gilt als sein autobiographischster Roman46 – so muß sein Leitmotiv der Ruin sein. Tatsächlich bestimmt er über alle Handlungsstränge und Binnenbiographien des Werkes und hat daher verschiedene Gesichter. Die drei wichtigsten davon sind diese: Da ist erstens die Familie Micawber, Angehörige der neuen Sozialschicht einer „faded gentility“47. Das „gute Hause“ dieses Ehepaars, das sich jetzt nur 44 45 46 47
––––––––––––––––––– Ebd., S. 27-28. So die zentrale These in Ackroyds Biographie Dickens. Ackroyd bezeichnet ihn als „semi-autobiographical novel“. Siehe Ackroyd: Dickens, S. 305. Der Figur Micawbers liege eine ins Komische überspitzte Reminiszenz an John Dickens, Charles’ Vater, zugrunde, der „faded gentility“ des Micawber-Wohnhauses das Andenken
I. Der Zeitgeist des Ruins
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noch mit Nachwuchs bereichert, ist windgebeutelt aufgrund einer Lebensführung, die einer Achterbahnfahrt gleicht: hinauf und hinab auf die Höhen und in die Tiefen des Finanz- wie des Seelenlebens. Ständig vom Ruin bedroht, ständig vom Ruin betroffen, ständig dem Ruin um ein Haar entronnen durch Ausleihe eines erneuten Kredits, ist Micawber samt Familie im einen Moment im miserabelsten Versteck Londons, im nächsten wegen Zahlungsunfähigkeit im Gefängnis, im nächsten in der „Emigration“ nach Canterbury – ständig bereit, sein Ende zu unterzeichnen, sofort gewillt, hat nur das Klopfen der Gläubiger aufgehört, in bester Laune Punsch und Leben zu genießen. Um ehrlich zu sein, ist diese Berg- und Talexistenz für den Leser nichts als beruhigend. Die Micawbers sind Dickens’ Paradebeispiel einer neuen Berufssparte der Ruiniers; sie sind das Unkraut der industrialisierten Gesellschaft, das nie vergeht: diesen Stehaufmännchen, so will es einem vorkommen, kann kein ernstliches Unheil passieren. (Und doch, kann man je sicher sein – ?) Im Gegensatz zur Familie Pegotty. Einfache Fischerleute sind sie, die in bescheidensten Verhältnissen leben und insofern nicht viel zu verlieren haben. Doch einmal, nur einmal schlägt der Ruin zu und trifft die Armeleuteidylle an ihrem wunden, da reichsten Punkt. Reich war diese Familie am Gefühl der Wärme, des Zusammenhalts, auch der Anständigkeit – bis die junge Emily vom „Gentleman“ Steerforth entführt und ruiniert wird, und mit ihr ihre Familie. Und dieser Ruin, der ein seelischer und moralischer ist und nicht unmittelbar auf materiellen Tatsachen beruht – wiewohl Emily freilich wünschte, durch Steerforth zur reichen „Lady“ zu werden –, dieser Ruin wird zwar bekämpft, ist aber in letzter Konsequenz irreparabel. Und doch mag es möglich sein, dem kommenden Ruin zu entfliehen – nicht aber dem vergangenen. In der Erinnerung bleibt der Ruin lebenslang eingeprägt – und wird manchmal zum Anlaß, zu schreiben. David Copperfield selbst begegnet dem Ruin mehrmals im Leben. Doch ist es der erste, der ihn am tiefsten zeichnete. Das Kind David war ein kleiner Gentleman von Geburt und Veranlagung her, doch wurde es früh ruiniert in seinen Aussichten. Sein Vater verstarb noch vor seiner Geburt, seine Mutter erlag der mentalen Zurichtung durch ihren zweiten Gatten. Der verwahrloste David wird, kaum zwölfjährig, in eine Londoner Fabrik geschickt, zur Kinderarbeit. Das Schlimmste für ihn ist nicht die soziale und materielle Degradierung an sich; das Schlimmste, was David dazu führt, in einem verzweifelten Ausbruchsversuch sein junges Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ist das Bewußtsein der Degradierung – und die Angst vor einem inneren, seelischen Verfall. Doch noch ehe der Junge handelnd seinem Ruin entflieht, ist eine zweite Flucht längst unternommen: David erfindet und erzählt Geschichten, um sich von den grotesk-unverständlichen Eindrücken seiner miserablen Lebenssphäre imaginativ zu befreien. Von diesem ––––––––––––––––––– einer eigenen Wohnung der Kindheit (siehe Ackroyd: Dickens, besonders S. 41, sowie James: Charles Dickens, S. 17).
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Augenblick an ist er der Dichter, der im späteren Leben seine, von Dickens imaginierte, Autobiographie David Copperfield schreibt. So ist mit Dickens also auf den Punkt zu bringen, daß es nicht einen Ruin gibt, sondern drei Spielarten des Ruins, die freilich untrennbar verwoben sind. Da ist erstens der Ruin als materielles, finanzielles Problem – da ist zweitens der seelische Ruin, der den materiellen begleitet. Da ist drittens noch eine zweite Form der mentalen Zerrüttung, die merkwürdig ist, weil sie nicht unbedingt materielle Ursachen haben muß. Es ist die mentale Zerrüttung, die einsetzt, noch bevor es zu einem materiellen Ruin und dessen Begleiterscheinung des „begründeten“ mentalen Ruines gekommen ist. Anders gesagt, ist es die Angst vor dem materiellen, und bald mehr noch vor diesem mentalen Ruin, der den geldlichen begleiten würde. Diese Angst vor dem materiellen und mentalen Ruin nenne ich die Ruinstimmung. Und doch ist gerade dieser gefährlich lähmenden Angst zuweilen etwas Positives abzugewinnen. Denn diese Angst kann, wie gesagt, lähmend sein; sie kann aber auch umgekehrt der notwendige Anreiz werden zur Suche nach einem Ausweg. David Copperfield, der kleine Fabrikarbeiter, war in materieller Hinsicht ruiniert, hatte seinen sozialen Rang als kleiner „Gentleman“ verloren – doch das nur äußerlich. Innerlich war er noch „er selbst“. Freilich lauerte die Angst davor, auch seelisch zu verkommen. Und diese Angst vor der inneren Degradierung treibt David zu einem Rückzug in sich selbst und seine Geistesvermögen, Erinnerung und Phantasie; aber es ist keine Verinnerlichung, die zur lethargischen Selbstauskapselung aus der Umwelt führt. Von Beginn an führt Davids Imagination ihn zum Erzählen: zum kreativen Ausagieren seiner Erfahrungen. So daß es nur konsequent ist, daß Davids zweiter Fluchtversuch, sein handelndes Verlassen der Lebensmisere, in den sozialen Aufstieg als Schriftsteller einmündet: David wird zum Erzähler eines Ruinromanes. Und darin durchschaut er seine Welt als eine, die die Gefahr, und das Faszinosum des Ruins, aus sich selbst hervorbringt. Womit David Copperfield, alias Charles Dickens, recht hat: Es ist nicht aus nichts, daß sich die Obsession des 19. Jahrhunderts, seiner Literatur, seiner Kunst, seiner populären Imagination, durch den Ruin entwickelte.
3 Der Ruin im sich verwirtschaftlichenden 19. Jahrhundert Ackroyd nennt Dickens’ Jahrhundert eine „bewegte Zeit“ („moving age“48); und bewegt war das 19. Jahrhundert, zunächst im Sinne des allgegenwärtigen Fortschritts. Doch der wurde zähneknirschend gekostet. Angst machte vor al48
––––––––––––––––––– Ackroyd: Dickens, S. xv.
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lem diese rasende Beschleunigung, die jedoch zugleich faszinierte, die man in allen Dingen um sich herum fühlte und die ihren Inbegriff fand in der Eisenbahn. Diese war wirklich eine der modernen Erfindungen des Jahrhunderts gewesen; doch avancierte sie, zugespitzt von den Federn diverser Illustratoren und Autoren, zum Aushängeschild der unaufhaltsam voranrasenden neuen Zeit – in der selbst die vertrauten Gesichter der guten alten Landschaft, vom Standort der vorstürzenden Waggons aus betrachtet, zu entfremdeten Fratzen mutieren: Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgend eine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden.49
So resümiert Eichendorff das neue Gefühl der Zeit der Eisenbahn, und man merkt: Die Eisenbahn war, als ambivalentes Symbol des Fortschrittsrausches und der kollektiven Ängste einer sich überrannt fühlenden Epoche, zu einem modernen Mythos geworden. Und mit dem Ruin ist es nun ähnlich. Als Inbegriff des rasanten Niedergangs stellt er das Komplementärstück zur vorrasenden Eisenbahn dar. Wäre der Ruin dann seinerseits ein moderner Mythos? Er grenzt daran – ohne gänzlich darin aufzugehen. Das ist das besondere an ihm. Er wurde nie so plakativ wie die Eisenbahn als Aushängeschild einer Epochen-Stimmung verwendet. Er wurde nie gänzlich in ein reines Symbol verwandelt – weil er dazu als Bedrohung des Alltags zu real blieb. Doch genau deshalb ging es einem nur näher, von ihm zu lesen, ihn gemalt zu sehen – oder mit Chatterton einem exemplarischen Opfer dieses Ruins zu begegnen, vor dem man sich selbst dauernd fürchtete. Denn diese Angst kam nicht aus nichts. Das 19. Jahrhundert war auch deshalb bewegt, weil seit der Französischen Revolution 1789 jegliche alten Ordnungen aufgehoben waren. Die „große“ Revolution hatte eine ganze Serie weiterer Umwälzungen nach sich gezogen – Napoleons Aufstieg und die Napoleonischen Kriege, gefolgt von der Restauration, gefolgt von den daraus ausbrechenden sozialen Revolutionen zur Mitte des Jahrhunderts hin und in Gesamteuropa.50 Damit ging auf der sozialen Ebene aber eine dauernde Unsicherheit einher. Es war nicht einfach so, daß die Bürger den Adel als Machthaber abgelöst hatten. Aus der Industrialisierung ging ein eigener, neuer Geldadel hervor – auf der Kehrseite aber auch eine neue Armut. Dem sozialen Aufsteiger stand der soziale Absteiger gegenüber; und der hatte zwei mögliche Gesichter. 49 50
––––––––––––––––––– Eichendorff: Tröst-Einsamkeit, S. 381. Siehe zu den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution, sowie Schild: Die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert. Mit Blick speziell auf Deutschland siehe Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland; zu Frankreich siehe Chevalier: Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du 19ème siècle; zu England siehe Wohl: The Eternal Slum, sowie Fraser: The Evolution of the British Welfare State.
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„[M]an gewinnt erst letzten Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es die Epoche war, in der beides entstand: die großen Vermögen und das Proletariat.“51 Es ist die Zeit, in der die Rothschilds zu einer Weltmacht wurden, die Zeit auch, in der die Maschine […] die Tausende entrechtete und versklavte. Friedrich Willhelm IV. aber plante (1843) den ‚Schwanenorden’ zum ‚ritterlichen’ Kampf gegen Armut, Elend und Not.52
So skizziert Ernst Heilborn in Zwischen zwei Revolutionen, ein Buch zum ruinösen Geist der Schinkelzeit, die neue Kluft, die sich auftut zwischen dem sozialen Aushängeaufsteigertum der Rothschilds und dem Pauperismus, dem „anderen“ Resultat der Industrialisierung. In der Tat wurde der Pauperismus von den Zeitgenossen selbst so heftig wie kritisch diskutiert: in Deutschland etwa von Bruno Hildebrand in seiner 1848 publizierten Schrift Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft; von jungdeutschen Literaten wie Karl Gutzkow; Bettina von Arnim schrieb dagegen ihr Appellbuch an den König (Dies Buch gehört dem König, 1843). Doch der verarmende und immer mehr verarmende Angehörige der Unterschicht, des sich ausbildenden Proletariats, ist nur ein Gesicht des sozialen Absteigers. Denn die zweite Form des sozialen Abstieges ist, neben dem Pauperismus, der Ruin. Und ihn führt Heilborn als das noch frappierendere Exempel der Verarmung in der „Schinkelzeit“ an: Bereits 1826 tritt die Finanzkatastrophe ein, und Lea Mendelssohn schreibt: „Hier allein sind achtzehn Häuser gefallen, worunter die festgegründetsten... Bekannte von uns sitzen im Gefängnis, andere haben sich das Leben genommen; die Zerstörung, Mutlosigkeit, der gegenwärtige Ruin und die trübe Aussicht für die Zukunft sind nicht bange genug zu schildern.“53
Was zeichnet den Ruin aus? Was hebt ihn ab vom Pauperismus? Da ist zuerst der Unterschied in der zeitlichen Dramaturgie. Der Pauperismus ist eine allmähliche, kontinuierliche Verarmung. Dem Ruin liegt ein punktuelles Ereignis zugrunde: eine „Finanzkatastrophe“. Dieses Ereignis erfolgt schockhaft. Es befällt wie aus heiterem Himmel: denn sah die wirtschaftliche Situation womöglich nicht rosig aus, ist es trotzdem erschütternd, sogar „die festgegründetsten“ „Häuser gefallen“ zu sehen. Die Verarmung durch den Ruin erfolgt derartig Schlag auf Schlag, daß eine menschliche Fähigkeit dabei überfordert wird: die Fähigkeit, sich zu gewöhnen. Obwohl die allmähliche Verarmung des Pauperismus einen unsäglichen Erleidensdruck bedeutet, ist der Prozeß der Verarmung den Betroffenen wenig bewußt. Die Allmählichkeit der Verarmung bringt eine Unmerklichkeit der Verar51 52 53
––––––––––––––––––– Heilborn: Zwischen zwei Revolutionen, S. 21. Ebd., S. 27-28. Ebd., S. 23.
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mung mit sich, die das Bedrohlichste, Charakteristischste am Pauperismus ist. Die Allmählichkeit der Verarmung läßt Zeit zum Sich-Arrangieren noch mit den miserabelsten Umständen. Wenn Raabes Hungerpastor Johannes Unwirrsch (1864) an die Armeleutestube seiner Kindheit zurückdenkt und daran, wie seine verwitwete Mutter und er sich mehr von den wehmütigen Träumen über der Andenken-Glaskugel des Vaters ernährten als von substantiellerer Kost; wenn auch Kellers grüner Heinrich (1854/55) sich an den Märtyrerinnen-Haushalt seiner verwitweten, so gut wie mittellosen Mutter erinnert; wenn er beschreibt, wie sie aus quasi nichts die materiellen Ressourcen des gemeinsamen Überlebens schöpfte, so resultierte diese „Kunst des Auskommens mit nichts“54 aus der besagten Fähigkeit des Menschen, sich zu gewöhnen und bestmöglich zu arrangieren. Welches Leiden das Ausstehen einer solchen „so gut wie restlos reduzierten Existenz“55 gerade aufgrund der Gewöhnung bedeutet, kann man nur erahnen. Doch wie auch dem, es ist eine Leidensform, die der der anderen Form der Verarmung, des Ruins, just entgegensteht – obwohl auch diese in ihren Dimensionen schier unsagbar ist. Das Erleiden des Ruins ist der reine Schmerz des Verlustes. Von einem Augenblick vom „Alles“ zum „Nichts“ reduziert, ist das schmerzliche Verlusterlebnis das Erlebnis des Ruins. Nichts ist dem Ruinierten bewußter, weil nichts in ihm schmerzlicher ist als das Empfinden dessen, daß er nun ruiniert, also verarmt, also degradiert ist bis zur Vernichtung. Die Erleidensformen des Pauperismus und des Ruins sind aber auch deshalb unterschiedlich, weil sie einmal die Leidenden verbinden – das andere Mal sie isolieren. Da der Pauperismus einer ganzen Bevölkerungsschicht widerfährt, findet diese möglicherweise in ihren Strukturen fester zusammen zum Kollektiv der Erleidenden – ob es sich dabei um das Binnenkollektiv einer Familie, eines Stadtviertels oder auch um das organisierte Kollektiv einer Gewerkschaft handelt. Der Ruin hingegen betrifft, selbst wenn er ein Geschäftshaus und insofern eine Mehrzahl von Menschen ereilt, trotzdem das Individuum. Er sorgt für eine Vereinzelung des Betroffenen, auch wenn der vom Unglücksschlag nicht allein berührt ist. Da der Verlustschmerz stets subjektiv ist, wirft er den Einzelnen auf sich selbst zurück; ebenso wie die drohende Frage nach der Verantwortlichkeit, der Schuld am Geschehenen. Ein schlechtes Gewissen, vielleicht auch nur der ständige Selbstvorwurf der eigenen Ohnmacht, die Katastrophe nicht verhindert zu haben: All dieses spielt in den Verlustschmerz des Ruines hinein. All dieses führt zu einem Isolationsgefühl und seelischen Ringen – das eine zweite, seelische Form des Ruins ist. Doch in seinem seelischen Ruin verharren darf der Ruinierte gerade nicht. Er muß für den Forterhalt seiner Existenz sorgen, für eine Rückkehr in seine verlorene Lebensposition. Noch erschwert wird ihm das dadurch, daß er auf die 54 55
––––––––––––––––––– Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 101. Ebd.
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notwendige Verrichtung „niedererer“, unstandesgemäßer Tätigkeiten vermutlich nicht vorbereitet ist. Denn gewiß, um Schiffbruch zu erleiden, muß man ein Schiff besessen haben. Und das ist schließlich der letzte Unterschied zwischen Ruin und Pauperismus: die dramatische Höhe des Falles, und damit das Ausmaß des Verlusts, der Verarmung. * „Unter den herausragenden Schriftstellern des deutschen 19. Jahrhunderts“, so schreibt W. G. Sebald, ist Keller [...] vielleicht der einzige gewesen, der von politischen Idealen und politischer Dogmatik etwas verstand, und dem, aus diesem Verständnis heraus, aufging, daß Eigen- und Gemeinnützigkeit immer weiter auseinandertraten, daß die eben erst sich formierende Klasse der Lohnarbeiter von den neu erstrittenen bürgerlichen Freiheiten und Rechten de facto ausgeschlossen war, daß aus dem Namen der Republik, wie es in Martin Salander heißt, ein Stein werden konnte, den man für Brot gab, und daß auch in den mittleren Schichten ein schlechter Tausch erzwungen wurde, indem man sich mit der politischen Müdigkeit zugleich die in dieser Phase des unregulierten Kapitalismus ständig sich rührende Angst um die Erhaltung des Lebens einhandelte.56
Nicht das tatsächliche Zuschlagen des Ruins, das nur punktuell Einzelnen und nicht dauernd allen widerfuhr, war die größte Belastung gerade der „mittleren Schichten“, sondern die „ständig sich rührende Angst um die Erhaltung des Lebens“. „[U]nsolide[] Verhältnisse“57 herrschten „in dieser Phase des unregulierten Kapitalismus“, den das 19. Jahrhundert darstellt; und in diesen unsicheren Verhältnissen ist jeder, auch wenn die Angst vor der Verarmung eine allgemeine ist, auf sich allein gestellt. Isolation kann schnell in Egoismus übergehen. So thematisiert Keller in seinen Werken nicht nur den finanziellen Ruin und die daraus hervorgehende seelische Ruinierung. Darüber hinaus ist ihm an der Darlegung noch einer zweiten mentalen Degradierung gelegen. Und die ist nicht Resultat eines materiellen Ruins, sondern Resultat aus der bloßen Angst vor diesem: Kellers Kritik am Wirtschaftswesen des ‚laissez-faire’ [...] ist gerichtet auf die mit der rapiden Zunahme des umlaufenden Geldes stets größer werdende Gefahr einer allumfassenden Korrumpierung. [...] Die halb allegorischen Figuren der Weidelich, Wohlwend und Schadenmüller stehen für eine ganze Klasse, die jetzt, schwankend zwischen geschwind zusammengescharrtem Reichtum und plötzlichem Ruin, abzusinken droht in eine bis dahin vollkommen unbekannte Form der Kriminalität.58
Der Ruin ist kein rein materielles Desaster. Er schlägt sich auch auf die Psyche nieder, und das auf unterschiedliche Weisen. Doch wenn das der Fall ist, liegt das kurzum am Unterschied zwischen Ruin und Bankrott. 56 57 58
––––––––––––––––––– Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 99-100. Ebd., S. 105. Ebd., S. 102.
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Der „Bankrott“ ist ursprünglich dem italienischen „banca rotta“, dem „zerbrochene[n] (Wechsel)tisch“, entlehnt. So bedeutet das Wort die „Zahlungsunfähigkeit“, den „finanzielle[n] Zusammenbruch“59. Es bezeichnet die rein finanzielle Seite des Ruins. Doch in diesem anderen Begriff steckt nebst der finanziellen auch noch, ja vor allem die andere Seite, die der Seele. „Ruin“ leitet sich aus dem Französischen „ruine“ ab, „Einsturz (eines Gebäudes), Verwüstung, Untergang“ (entlehnt dem lateinischen „ruina“ etwa desselben Sinnes). So trägt auch „Ruin“ die Bedeutung des „Verlust[s] der wirtschaftlichen Existenz“ in sich; aber daneben besagt „Ruin“ „Zusammenbruch, Untergang, Verderb“.60 „Ruiniert“ in diesem mehr als nur wirtschaftlichen Sinne ist das junge Mädchen aus armen Verhältnissen, das, um sich den Herzenswunsch zu erfüllen, eine „Lady“ zu werden, mit einem fadenscheinigen Ehrenmann von zu Hause entflieht. Ruiniert ist die Unglückliche fortan in ihrem Charakter, ihrer Moral, ihrer Ehrbarkeit: so aber in der Grundessenz ihres seelischen Wesens. Lieber sterben als ruiniert sein: das ist das Motto so mancher unglücklicher literarischer Heldin, etwa das von Mörikes Lucie Gelmeroth (1856). Im übrigen bringen auch die männlichen Ruinierten zahlreicher Romangeschichten sich niemals nur aufgrund ihrer Zahlungsunfähigkeit um. Der Ruin ist stets eine Frage der Ehre – der Angst vor dem unwiederbringlichen Verlust des Charakters, des Gesichts, der Identität, nicht nur vor den Augen „der Welt“, sondern vor allem vor sich selbst. Und das ist nicht nur in der Literatur so. Erinnert seien noch einmal die Worte Lea Mendelssohns, die Heilborn zitierte: Hier allein sind achtzehn Häuser gefallen, worunter die festgegründetsten... Bekannte von uns sitzen im Gefängnis, andere haben sich das Leben genommen; die Zerstörung, Mutlosigkeit, der gegenwärtige Ruin und die trübe Aussicht für die Zukunft sind nicht bange genug zu schildern.61
* Obwohl Lea Mendelssohn nicht persönlich von den materiellen Ruinen um sie betroffen war, verspürte sie die allgemeine „Mutlosigkeit“ und Bangigkeit, welche die Katastrophen nach sich zogen. Sie verspürte eine merkwürdige geistige Zerrüttung: Es war nicht die mentale Ruinierung, die aus dem Erleiden eines Bankrottes hervorging, und es war auch nicht einfach die unmittelbare Angst davor, selbst im nächsten Moment ruiniert zu werden. Es war genauer eine Angst vor dieser Angst vor dem Ruin. Man registriert die mentale Verheerung, die der Schock des Ruins einem angetan hat; und dieser bewußt erlittene Zustand der Zerrüttetheit ohne Zuversicht trägt zu seiner eigenen Aussichtslosigkeit noch bei. – Die Folge davon kann eine gefährliche Lähmung sein. Sie ist das „grundlos Vernichtende“ dieser Ruinstimmung, die nun allgegenwärtig in der Luft liegt – 59 60 61
––––––––––––––––––– Siehe Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 91. Ebd., S. 1147. Siehe Heilborn: Zwischen zwei Revolutionen, S. 23.
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und die gerade diejenigen befällt, die nicht selbst vom Bankrott betroffen sind, sondern nur aus mittlerer Distanz daran teilnahmen. Die Ruinstimmung kann aber auch jene Kriminalität und Korruption hervorbringen, von der etwa Keller erzählt. Das Lebensmotto der von der Ruinstimmung Korrumpierten würde dann lauten: Sozial aufsteigen mit allen Mitteln! Den anderen nehmen, was man nehmen kann, um nur selbst zu überleben! Sowohl die Gelähmtheit durch die Ruinstimmung wie die daraus entwachsene Korruption waren in der traurigen, prosaischen Realität zutiefst „häßlich“. Doch das vital Dramatische daran, das jeden berührte, der selbst an der allgegenwärtigen Ruinstimmung des 19. Jahrhunderts litt, machte den „unschönen“, prosaischen Ruin und seine Folgen dennoch zu einem Faszinosum: nämlich zu einem der „großen“ Themen von Kunst und Literatur. Indem diese den Ruin erzählten und sein dramatisches Potential entfalteten, gewannen sie ihm doch etwas „Romanhaft-Romantisches“ ab. Sie selbst enthoben den Ruin ein Stück weit der Lebenswirklichkeit und romantisierten ihn – was ihm folgenden zu erklären ist.
4 Der Ruin im sich romantisierenden 19. Jahrhundert
Men in business are usually thought to prefer the real; on trial the idea will be often found fallacious: a passionate preference for the wild, wonderful, thrilling – the strange, startling, and harrowing – agitates divers souls that show a calm and sober surface.62
Mit diesen Worten charakterisiert Charlotte Brontë in Wahrheit nicht nur die Geschäftsleute ihrer Zeit, sondern dieses 19. Jahrhundert selbst. Nach oben hin mochte eine Präferenz des Realen, Nüchternen, eben Kaufmännischen vorherrschen; doch darunter schlummerte im Gegenteil eine „leidenschaftliche Vorliebe für das Wilde, Wunderbare, Aufregende – das Seltsame, Erschreckende, und Aufreibende“. Anders gesagt, war das verwirtschaftlichte und zweckrationale 19. Jahrhundert in seinem tiefsten Herzen bedürftig nach dem Romantischen – und zwar als Mittel zu seiner Romantisierung. Doch „romantisch“, „Romantisierung“: was heißt das überhaupt? „Romantisch“ ist, was „romantisiert“: so die These, bzw. die Definition, die festzulegen sinnvoll ist, weil „romantisch“ oder „Romantik“ an sich vieles heißen könnte; allein schon deshalb, weil die bewegte Etymologie der Begriffe, die Summe ihrer älteren Bedeutungen unter der Oberfläche ihrer neueren noch mitschwingt. So besagte „romantisch“ Ende des 17. Jahrhunderts „den Roman
62
––––––––––––––––––– Brontë: The Professor, S. 4.
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betreffend, nach Art der Romane“63. Mitte des 18. Jahrhunderts fand sich dafür aber das neue Wort „romanhaft“: denn die Aussage von „romantisch“ hatte sich verschoben zu „poetisch, phantastisch, abenteuerlich, wunderbar“. Ende desselben Jahrhunderts war die Semantik schon wieder verwandelt und hatte sich dreigeteilt. „Romantisch“ konnte nun eine Person als „gefühlsbetont, von Stimmungen abhängig, schwärmerisch“ charakterisieren; es konnte einen Natureindruck als „stimmungsvoll, malerisch, düster, geheimnisvoll“ bezeichnen; oder es war als Gegenpol zu „klassisch“ gesetzt und meinte dann ein Kunstideal, das nicht der Antike, sondern dem Mittelalter entlehnt war. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgte die nächste Entwicklung, und jetzt hieß „romantisch“: „die Literatur, das Denken, die künstlerischen Anschauungen der Romantik betreffend, zu dieser Richtung gehörend“. Doch „Romantik“ ging wiederum nicht im Epochenbegriff auf, hatte ebenfalls auch noch eine ältere und eine neuere Bedeutung. Die erste, die bis Ende des 18. Jahrhunderts galt, war freilich die des „Romantische[n], Phantastische[n] als Eigenart des Romans“. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Wort dann „vor allem Bezeichnung der nach der frz. Revolution sich in den Ländern Europas in unterschiedlicher Weise herausbildenden [...] künstlerisch-philosophischen Bewegung“, die aber stets „durch Hinwendung [...] zum Gefühlsmäßigen, Irrationalen geprägt[]“ war. Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Bewegung, die in Deutschland und England mit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, allerdings am Auslaufen; in Frankreich um 1848 auch, wiewohl sie hier erst um 1820 einsetzte. In dieser Spät- oder Nachphase der romantischen Epoche erhält „Romantik“ aber „daneben“ noch einen verallgemeinerten Sinn: „Romantik“ steht nun auch für eine „romantische Wesensart, Verträumtheit“ oder eine „reizvolle, das Gefühl ansprechende Stimmung, Abenteuerlichkeit“. Anders gesagt, gilt ab jetzt ganz klar die Definition: „romantisch“ ist, was „romantisiert“. Denn „romantisch“ ist also das, was auf eine solche Weise „reizvoll“ ist, daß es in eine „das Gefühl ansprechende Stimmung“ versetzt. Diese Stimmung ist aber an sich schon „abenteuerlich“ genug: denn sie ist außer-gewöhnlich. Gehoben von seiner romantischen Stimmung, schwebt der Mensch über den Dingen seiner nüchternen Alltagswelt – und über dem nüchternen Zustand seines Alltagsselbsts. Von seiner romantischen Stimmung getragen, erlebt der Mensch sich in einem Ausnahmezustand der inneren „Romantisierung“. In diesem Moment ist er verwandelt – von dem gewöhnlichen Alltagsmenschen, der auch er sonst sein mag, in den „Romantiker“, der sich für den Augenblick außer-gewöhnlich – nämlich poetisch gestimmt fühlt. *
63
––––––––––––––––––– Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1137; so wie auch die nachfolgenden Zitate.
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Das 19. Jahrhundert war durchzogen von einem Zeitgeist des Ruins. Aber das war es nicht nur, weil der wirtschaftliche Ruin zumindest als Bedrohung dauernd auf der Tagesordnung steht. „Ruiniert“ konnte das 19. Jahrhundert nostalgischen Menschen auch deshalb vorkommen, weil es einseitig wirtschaftlich fortschrittlich war: Es war industrialisiert und zweckrationalisiert – auf Kosten der gegenläufigen Qualitäten, die ihm verloren gingen. Nach dem Verlorenen wird aber stets verstärkt verlangt. Die „gute alte Zeit“ ist eine Erfindung des bewegten 19. Jahrhunderts. In dem Moment, in dem alles ins Wanken gerät, sehnt man sich nach den Epochen zurück, in denen das Leben noch geordnet und stabil war – und in dem warme Gefühle die Menschen zusammenhielten, anstatt sie durch den Egoismus des unregulierten Kapitalismus zu entzweien. Freilich, diese Sicht auf die „gute alte Zeit“ ist verklärt – so romantisch-schön, so beseelt von innigen und reinen Gefühlen ist die historische Vergangenheit nie gewesen. Denn diejenigen, die angebliche die „gute alte Zeit“ wiederheraufbeschwören wollen, erfinden unter dem label des Alten, Verlorenen in Wahrheit neue gesellschaftliche Wunschbilder: die intakte, emotional zusammenhaltende Familie – das intimgeborgene Intérieur des Wohnhauses – die anheimelnde Weihnachtszeit. All dieses findet man, exemplarisch gebündelt, in den Romanen und Weihnachtsgeschichten64 von Charles Dickens wieder; denn der reagierte beispielhaft auf das Bedürfnis nach Ruhe, Stabilität und emotionaler Geborgenheit des bewegten 19. Jahrhunderts. Und doch sind Dickens’ Romane nun auch wieder nicht zu langweilig ruhig: Im Gegenteil geht es darin höchst turbulent zu. Denn Dickens bediente zwei Bedürfnisse seiner Zeitgenossen: diese verlangte es auch nach dem Romantisch-Abenteuerlichen, Erlebnisreichen, Außergewöhnlichen und außergewöhnlich Bewegenden, das sie im prosaischen Alltag vermißten. Dickens’ Zeitgenossen verlangte es nach tiefen, beseelten Gefühlen und dramatischer innerer Bewegtheit – es verlangte sie nach Romantisierung. Die Ro-
64
––––––––––––––––––– Ackroyd schreibt zu Dickens’ Neuerfindung des „alten“ Weihnachtsfests: „What Dickens did was to transform the holiday by suffusing it with his own particular mixture of aspirations, memories and fears. He invested it with fantasy and with a curious blend of religious mysticism and popular superstition so that, in certain respects, the Christmas of Dickens resembles the more ancient festival which had been celebrated in rural areas and in the north of England. In addition he made it cosy, he made it comfortable, and he achieved this by exaggerating the darkness beyond the small circle of light. The central idea […] is one of ferocious privacy, of shelter and segregation […]. Once again his own obsessions take on the very shape and pressure of the age.” (Siehe Ackroyd: Dickens, S. 231.) Interessanterweise hatte sich schon Chatterton verstärkt für das „verlorene” Weihnachten einer „guten alten Zeit“ interessiert, denn: „In the days of our ancestors, Christmas was a period sacred to mirth and hospitality. Though not wholly neglected now, it cannot boast of the honours it once had; the veneration for religious seasons fled with popery, and old English hospitality is long since deceased.” (Siehe Chatterton: Antiquity of Christmas Games, in: Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 83.)
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manlektüre und der Kunstgenuß, das Theater65 und die zahlreichen Kultfiguren, nach denen das 19. Jahrhundert sich über die Epoche der Romantik hinaus in einem „growing hunger“ verzehrte66: Alles wollte innerlich in Bewegung versetzen – alles wollte den verwirtschaftlichten, emotional verknöcherten Alltagsmenschen in den fühlenden Romantiker zurückverwandeln. Und das Merkwürdige ist, daß diese kompensatorische Funktion der romantisierenden Künste und Kunstfiguren einerseits zu einer Flucht aus der verwirtschaftlichten Alltagswelt führte, und diese resignierte Fluchthaltung war dem Fortgang der Dinge förderlich. Andererseits konnte sich die kompensatorische Romantisierung aber zuweilen mit der Absicht verbünden, aktiv jene Mißstände zu kritisieren, denen man dann nicht mehr nur passiv entfliehen wollte. Diese merkwürdige Verbindung von Kritik und Kompensation veranschaulicht jene erzählende Malkunst der Zeit, die sich sozialkritischer Themen annahm. * Julian Treuherz räumt in seiner Untersuchung des sozialen Realismus in der Kunst des viktorianischen England ein, daß diese Kunst nicht viel bewegt habe: sie „did not promote social reform.“67 Auf der anderen Seite verteidigt Treuherz die „uneffektive“ sozialkritische Kunst damit – daß sie in anderer Hinsicht doch bewegt hat. In dieser anderen Hinsicht zu bewegen war die eigentliche Intention dieser Kunst, die umstritten ist, weil sie ihre an sich unschönen Sujets bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein verklärt darstellte. Doch eben diese Verklärung oder Romantisierung war das Mittel der Bewegung, auf die es ankam und die eine innere Bewegung war: eine intime, durchaus peinvolle und dennoch angenehme Aufregung des Betrachters. Freilich, dieses ambivalente Lustmoment stellt Treuherz nicht so offen als die Hauptintention der sozialkritischen Kunst heraus wie ich es tue, ihn übertrumpfend. Er formuliert vorsichtiger: These pictures were not intended to be acts of reform; they operated most effectively on the level of increasing public awareness of problems which had been hidden far too long. They were ‘important’ pictures, big pictures, intended to make an impression.68
Doch das ist es eben. Wenn bislang „versteckte“ soziale Probleme in Kunst und Literatur, darüber aber in „the public consciousness“ Einzug halten,69 erfolgt dieser Einzug nicht im Zuge einer rationalen Aufklärung, sondern über die Erzeugung einer „impression“. Diese „Beeindruckung“ ist aber seelischer Art: Sie
65 66 67 68 69
––––––––––––––––––– Siehe zum romantischen und romantisierenden Theater Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 16. Siehe ebd., S. 15. Treuherz: Hard Times, S. 13. Ebd. Siehe ebd.
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spricht die emotionalen und imaginativen Vermögen ihres Rezipienten an, der dadurch innerlichst angerührt und bewegt ist. So ist die Tatsache, daß die Kunst des mittigen 19. Jahrhunderts soziale Mißstände thematisierte – und dabei verklärte, romantisierte –, sowie daß diese Kunst breiten Anklang fand, aus zwei Gründen zu erklären. Der eine steckt im Begriff der „hungry forties“, so die Bezeichnung der Zeit, in der die Kunst begann, Armut, Pauperismus, Ruin als ihre Themen zu entdecken: Historians now believe that the ‘hungry forties’ were not particularly hungry in relation to other decades, nevertheless, they were a time when the full extent of social deprivation and inequality was realised and discussed by pamphleteers, journalists, politicians and novelists. The problems were summed up in the contemporary catchphrase, the ‘condition of England’.70
Die „hungrigen Vierziger“ waren so etwas wie ein Kulminationspunkt. Die sozialen Mißstände, die Ergebnis einer nicht unproblematisch vorstürzenden Industrialisierung waren, waren zu unverkennbar geworden, um sie länger zu verschweigen. Vordem hatte man eben das aber versucht, und Susan Casteras weist auf den Grund für das hartnäckige Schweigen hin: Pauperismus und Ruin waren nicht nur an anderen zu beobachtende Phänomene, sondern Angst-Phänomene, die jeden betrafen. Es herrschte eine „latent fear of pauperism, and [...] anxiety about one’s social station.“71 Das Verschweigen war ein Verdrängenwollen dessen, vor dem man sich fürchtete – so intensiv fürchtete, daß man es über kurz oder lang nur dringlicher aussprechen mußte. Als es aber in den hungrigen Vierzigern endlich soweit war und „Pamphletisten, Journalisten, Politiker“, aber auch „Romanschriftsteller“ und bildende Künstler Ruin und Pauperismus thematisierten, lösten gerade die letzteren gemischte Gefühle aus: Angst und doch aus Lust. Diese ängstliche Lust an den neuen Ruinbildern und -geschichten verdankte sich aber jener romantischen Verklärung, die gerade der Kunst der Zeit ureigen war. Richard Muther charakterisiert diese nämlich als an art based on luxury, optimism and aristocracy... the ascendant view that a picture ought in the first place to be an attractive article of furniture for the sitting room... everything must be kept within the bounds of what is charming, temperate and prosperous, without in any degree suggesting the struggle for existence.72
Muther, Autor des ausgehenden 19. Jahrhunderts (die zitierten Zeilen entstammen dem Jahr 1896), begreift das Kunstwerk seiner Zeit von seinem „Rahmen“ aus: dem repräsentativen und heimeligen Intérieur. Diesem Wohnraum rechnet er das Gemälde als ein „attraktives Einrichtungsstück“ zu; und noch ohne eines der Dekorationsbilder gesehen zu haben, kann es nicht verwundern, von einer 70 71 72
––––––––––––––––––– Ebd., S. 14. Siehe Casteras: The gulf of destitution on whose brink they hang, S. 131. Muther: A History of Modern Painting, Bd. 3, 1896, S. 114; zit. n. Treuherz: Hard Times, S. 9.
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Kritik George Eliots zu hören: Die sozialkritische Schriftstellerin bemängelte den „sänftigenden Einfluß“, mit dem die besagte Kunst die Lebenshärten anderer „pittoresk“ machte.73 Im eigenen Zuhause möchte man nicht mit unschönen Tatsachen behelligt werden; so muß alles, und auch alle Kunst, „charming, temperate and prosperous“ sein, „without in any degree suggesting the struggle for existence“. Gerade das „Ringen um die Existenz“ darf nicht erinnert werden – und ist andererseits das große Angstthema der Zeit gewesen. Es ist ein Thema, das insgeheim jeden angeht, jeden berührt. Doch gerade deshalb muß es im bergenden Rückzugsraum des Zuhauses ausgeblendet werden. – Nur daß man sich auf der anderen Seite fragen muß: Warum dann überhaupt Bilder des Auszublendenden anfertigen – und kaufen, für das Intérieur? Denn angefertigt, angesehen und auch gekauft wurden diese Bilder, die das Leiden der anderen – das man für sich selbst stets latent mitbefürhtete! – „pittoresk“ machten. In der Tat verwandelten diese Bilder Angst- in ein Genußmoment. „Pittoresk“ gemacht, d.h. in ein romanhaft-romantisches, melodramatisch anrührendes Thema verwandelt, war sogar oder gerade das wirtschaftliche Katastrophenerlebnis des Ruins zu genießen: Denn die Konfrontation mit dem gemalten oder gelesenen Ruin erfüllte mit einem Überschwall peinvoll intensiven „Gefühles“. Und auf diese peinvolle Seelenbewegung kam es nun an. Das geht aus den Reaktionen der Kritiker, wie auch des breiten Publikums auf jene sozialkritischen Bilder des 19. Jahrhunderts hervor, die ihre Themen so aufreizend verklärten. Zahlreiche Kunstkritiker der Zeit waren „bewegt“, „moved by such paintings: they looked for pathos and sentiment.“74 Und nicht nur in Bezug auf die Kritiker schreibt Treuherz: „One of the reasons for the tremendous popularity of these pictures among the Victorians was their ‘Sentiment’, a word often used by contemporary writers.“75 Woraufhin Treuherz die Bedeutung, die das Wort „sentiment“ im 19. Jahrhundert innehatte, noch einmal ausdrücklich definiert als „a moving quality resulting from [the] artist’s sympathetic insight into what is described or depicted.“76 – Zweifelsohne: gerade diese verklärend-sozialkritische Kunst war ein gewolltes Instrument zur inneren Bewegung, zur Romantisierung nicht nur ihrer Themen, sondern vor allem ihrer Rezipienten.
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––––––––––––––––––– Siehe Treuherz: Hard Times, S. 10. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd.
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5 Drei Kaufmannsbilder Diese Kunst des viktorianischen England, die sich sozialkritische Themen einverleibte, um ihnen den Stachel des Kritischsten zu nehmen; diese Kunst, die den Schock der Konfrontation mit einem realistisch gezeigten Ruin durch dessen Verklärung in etwas anderes verwandelte, in eine pein- und lustvolle Seelenbewegung – kann man diese Kunst als Gegenbewegung zur Verwirtschaftlichung und ihren sozialen Nöten überhaupt ernst nehmen? Man kann, in gewisser Hinsicht. Denn wenn diese Kunst, wie auch die populäre Ruinliteratur der Zeit, in erster Linie auf eine innere Bewegung des Menschen abzielt und nicht auf eine äußeren Bewegung der gesellschaftlichen Verhältnisse, findet darüber doch eine Sensibilisierung für das Da-Sein „unschöner“ Bereiche der Lebenswelt statt. Und kann diese Sensibilisierung nicht, selbst wenn sie auf Verklärung beruht, trotzdem ein erster Schritt sein, über die Gemüter der Individuen zuletzt auch ihre Epoche zu verändern? Und dann kann dieser Appell an die Gemüter um so notwendiger sein: weil nicht nur das Jahrhundert, sondern der Mensch selbst verwirtschaftlicht ist – in seinem eigenen Inneren. Das ist nämlich die zweite Form von seelischer Verarmung, die ihm nebst der Zerrüttung durch die Ruinstimmung auch noch droht: die Gefahr, innerlich zu „verkommen“ zum Kaufmann. Aus der Mitte zwischen dem Zeitgeist des Ruins und dem Bedürfnis nach Romantik und Romantisierung steigen im 19. Jahrhundert zwei komplementäre Kultfiguren auf: das „negativ“ bewegende Feindbild des Kaufmanns – in Konfrontation mit dem elektrisierenden Sympathiebild seines Opfers, dem ruinierten Poeten. Die „einschlagende“ Sympathie für Chatterton, von der noch die Rede sein wird, läßt sich immer auch aus der Angst und Abscheu vor dem erklären, was man im Gewinner der verwirtschaftlichten Gesellschaft, im Kaufmann, verkörpert sah. Denn der wurde nicht nur in Vignys ChattertonDrama, sowie schon zuvor in Chattertons eigenem satirischem Selbstbild eines ruinierten Poeten, zum Feindbild des poetisch-fühlenden Menschen überhöht. Dieses Feindbild des Kaufmanns – das als solches allerdings unerhört bewegend, also attraktiv war – spukte in allen möglichen Varianten durch die Romane des 19. Jahrhunderts. So sollen drei Kaufmannsbilder, die besonders exemplarisch und interessant sind, im folgenden vorgestellt werden. Da ist zuerst Stendhals Kaufmann mit dem verknöcherten Herzen. Denn warum singt der Romanautor in seinem psychologischen Essay De l’Amour ein Loblied auf die Liebe? – Weil er in ihr ein Mittel der Romantisierung sieht. Wer kulthaft, begeistert, kurzum romantisch seine hohe Dame anbetet, verwandelt sich in eine Art romantischen Werther des wirklichen Lebens .77 Der ist aber am 77
––––––––––––––––––– Werther galt in Frankreich als beispielhaft romantische Figur, und Stendhal interpretierte ihn nochmals besonders romantisierend; siehe Stendhal: De l’Amour, S. 211-221.
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weitesten davon entfernt, an einer Seuche seiner Zeit zu erkranken: der „Verknöcherung des Herzens“. Diese Krankheit, sowie ihre Opfer, beschreibt Stendhal aber so: Das arbeitsame, aktive, durch und durch schätzenswerte, durch und durch materielle Arbeitsleben eines Staatsrats, eines Textilfabrikanten, wird mit Millionen belohnt und nicht mit zarten Gefühlen. Nach und nach verknöchert sich das Herz dieser Herren; das Materielle und Nützliche sind alles für sie, und ihre Seele verschließt sich dem Gefühl gegenüber, das das größte Verlangen nach Freizeit hat und das am unfähigsten macht zu jeglicher vernünftigen und andauernden Beschäftigung.78
Der Mensch, der beispielhaft von der Verknöcherung der Herzen betroffen ist, ist männlich, denn das männliche sieht Stendhal als das arbeitende Geschlecht, und zwar arbeitend in einer bestimmten Branche. Da ist zuerst vom gesellschaftsrepräsentativen „Staatsrat“ die Rede – dann aber, natürlich, vom „Textilfabrikanten“, dem Kaufmann. Beider Aktivitäten mögen mit geldlichen „Millionen“ honoriert werden, nicht aber mit „zarten Gefühlen“. Das Gegenteil ist der Fall, und die totale Konzentration des Lebens auf das „Materielle und Nützliche“ führt dazu, daß sich die Seele dem Gefühl verschließe. Vor allem aber dem einen Gefühl, welches „das größte Verlangen nach Freizeit“ habe – und zu jeder „vernünftigen“, „andauernden“, in ihrer Arbeitszeit geregelten Beschäftigung entfähige. Damit kommt Stendhal in seinem Vorwort von De l’Amour auf die Liebe. Und dieses von der Herzensverknöcherung bedrohte Gefühl kündigt sich umgekehrt als ein Mittel an, der Zeitkrankheit des verwirtschaftlichten Menschen entgegenzuwirken: Die Liebe vermag den nüchternen Alltagsmenschen in einen romantischen Werther zu verwandeln, mit einem Herzen, das alles andere als verknöchert ist. * Stendhal schrieb De l’Amour 1822. 1847/48 ist die Verwirtschaftlichung des Abendlands trotzdem um mehr als fünfundzwanzig Jahre fortgeschritten, ohne daß die Liebe es hätte verhindern können. Aber vielleicht ist im Einzelfall doch noch nicht alle Hoffnung verloren? Betrachten wir also Mr. Morfin. Mr. Morfin ist nicht der exemplarische Kaufmann, dem Dickens’ Dealings with the firm of Dombey and Son seinen Titel verdankt. Mr. Morfin ist nicht dieser exemplarisch kaufmännische Firmenchef Dombey; denn mit dem wird es ein trauriges Ende nehmen in definitiver innerer Vereisung. Aber Mr. Morfin ist auch nicht „Son“, denn dieses Kind ging schon früh im Roman am kalten Kauf78
––––––––––––––––––– Übersetzt nach ebd., S. XIII. Im Original lautet der Text: „La vie laborieuse, active, toute estimable, toute positive, d’un conseiller d’État, d’un manufacturier de tissus est récompensé par des millions, et non par des sensations tendres. Peu à peu le cœur de ces messieurs s’ossifie; le positif et l’utile sont tout pour eux, et leur âme se ferme à celui de tous les sentiments qui a le plus grand besoin de loisir, et qui rend le plus incapable de toute occupation raisonnable et suivie.“
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mannsherzen seines Vaters zugrunde. Mr. Morfin ist indessen selber einmal auf dem gefährlichen Wege gewesen, zu einem Dombey zu verkommen. Doch dann wurde der graumelierte Gentleman durch ein aufwühlendes Ereignis, sowie durch die Liebe zu einer gleichfalls nicht mehr ganz jungen Dame aufgerüttelt; und die Liebe konvertierte den beinah schon gefallenen Sünder wieder in einen fühlenden Menschen. Das Prekäre an Mr. Morfin ist aber, daß man sogar seiner alten „Sünde“ ein gewisses Verständnis nicht verweigern kann. Es war ein so verdächtig vertrautes Fehlverhalten. Freilich, es war nicht schön, daß Mr. Morfin wirklich lange Zeit wie unter Morphium stand und sein Leben lethargisch verschlief – es war nicht schön, daß er innerlich ausblenden konnte, daß ein Arbeitskollege der Firma Dombey & Son sich seelisch nicht mehr von seinem Ruin erholte, sondern immer weiter verkümmerte. Mr. Morfin selbst klagt sich im Rückblick hart für seine einstige Fühllosigkeit an – erklärt sie aber zu einer allgemeinen Zeitkrankheit des verwirtschaftlichten Menschen, denn: “[…] we go on in our clock-our routine, from day to day, and can’t make out, or follow, these changes [die mentalen Veränderungen des ruinierten Kollegen]. They – they’re a metaphysical sort of thing. We – we haven’t leisure for it. We – we haven’t courage. They’re not taught at schools or colleges, and we don’t know how to set about it. In short, we are so d––––d business-like,” said the gentleman, walking to the window, and back, and sitting down again, in a state of extreme dissatisfaction and vexation.79
Es war die „clock-our routine“, die von der Stechuhr geregelte Lebensroutine, die Morfin zu „business-like“ machte, um Anteilnahme oder gar Hilfe für den ruinierten Kollegen aufzubringen. Diese fatale Geregeltheit durch die „Gewohnheit“, den Rhythmus der Arbeit, beschreibt er aber noch einmal detaillierter: “It’s this same habit […] that hardens us, from day to day, according to the temper of our clay, like images, and leaves us as susceptible as images to new impressions and convictions. You shall judge of its influence on me, John. For more years than I need name, I had my small, and exactly-defined share, in the management of Dombey’s house, and saw your brother [...] extending and extending his influence, until the business and its owner were his football; and saw you toiling at your obscure desk every day; and was quite content to be as little troubled as I might be, out of my own strip of duty, and to let everything about me go on, day by day, unquestioned, like a great machine – that was its habit and mine – and to take it all for granted, and consider it all right. My Wednesday nights came regularly round, our quartette parties came regularly off, my violoncello was in good tune, and there was nothing wrong in my world – or, if anything, not much – or little or much, was no affair of mine.”80
79 80
––––––––––––––––––– Dickens: Dealings with the firm of Dombey and Son, S. 338. Ebd., S. 529-530.
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Die Gewohnheit: das ist die größte Gefahr der Verwirtschaftlichung. Und Gewohnheit, das heißt bei Mr. Morfin: die Maschinisierung des Kaufmanns, aber eigentlich jedes geregelt arbeitenden Menschen. Denn diese Geregeltheit durch den Rhythmus der Arbeit betrifft nicht nur das Arbeitsleben. Das ganze Leben, das intime auch, richtet sich aus nach der Regelung durch die Arbeit. Nicht, daß das Herz des geregelten Kaufmanns gänzlich verknöchert gewesen wäre; im Gegenteil war Mr. Morfin gesellig, er spielte Quartett und sogar Cello (und welcher Leser, welche Leserin könnte angesichts eines Cellos an der grundsätzlich tiefen, nur überregulierten Emotionalität dieses Mannes zweifeln? – ). Doch Mr. Morfins Problem war, daß sogar die Wahrnehmungen seiner geselligen, musikalischen, durchaus emotionalen Vermögen nur zu bestimmten Zeiten stattfanden, nämlich innerhalb der arbeitsmäßig-routiniert abgesteckten Phasen der Freizeit. So daß die freizeitlichen Beschäftigungen dem Ausgleich dienten – der Rekreation – der Leistungssteigerung wiederum für die Arbeit. Und dieser maschinisierte Lebensrhythmus funktionierte zuletzt gar so gut, so wie von selbst ablaufend: daß Mr. Morfin gar kein Ereignis, keine unerwartete Aufregung, kurzum keine Poesie und Romantik in seinem Leben haben wollte. Bis auf seine zu Miniaturmaßen zurückgestutzte Romantik für den Hausgebrauch, verkörpert im Cello. Den Menschen des 19. Jahrhunderts, der die Verwirtschaftlichung seiner Zeit und seiner selbst als Verarmung befürchtete, verlangte es nach dem „verlorenen“ Romantischen; es verlangte ihn nach dem, was ihn und seine prosaische Existenz „rück“-romantisieren sollte, in eine poetische Stimmung versetzen und zumindest zeitweilig der Alltäglichkeit entheben. – Dieses Portrait des industrialisierten und daher nach Romantik lechzenden Individuums wird von Dickens nun bestätigt und überboten. Sein Mr. Morfin war anfangs derart „arbeitsroutiniert“ bis in Mark und Seele, daß er nicht einmal mehr in der Lage war, rebellisch-nostalgisch das „verlorene“ Romantische zu ersehnen. Mr. Morfin war in seinem Inneren nicht herzensverknöchert – er war herztot. Oder zumindest scheintot; denn dann war er ja doch noch zu retten, durch die romantisierende Liebe. Daß er am Ende doch noch innerlich wiederzubeleben war, das rettete Mr. Morfin und machte ihn dem Leser anrührend sympathisch. Anders bewegen soll jedoch der Kaufmann von Soll und Haben. * Anton war den ganzen Tag an seinem Schreibpult in einer nervösen Aufregung, wie er sie bis dahin noch nie gekannt hatte. Er war beklommen und erwartungsvoll, und doch empfand er diese Stimmung mit Behagen, als ein großes Ereignis. Er fühlte die Gefahr des Geschäftes und seines Prinzipals, aber er war nicht mehr niedergeschlagen und muthlos. [...] Bei seinem Prinzipal sah er dieselbe Stimmung, auch dieser schritt mit glänzenden Augen und schnellem Fuße durch die Comtoire. Nie hatte ihn Anton so verehrt als heut, er sah ihm aus wie verklärt. Mit einer wilden Freude sagte sich Anton: „Das ist Poesie, die Poesie des Geschäftes, solche springende Thatkraft empfinden nur wir, wenn wir gegen den Strom arbeiten. Wenn
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die Leute sprechen, daß unsere Zeit leer an Begeisterung sei und unser Beruf am allerleersten, so verstehen sie nicht, was schön und groß ist. Dem Mann steht in diesem Augenblick Alles auf dem Spiel, woran seine Seele hängt, sein Geschäft, der Erfolg eines langen Lebens von rastloser Thätigkeit, seine Freude, sein Stolz, seine Ehre; und er steht kaltblütig an seinem Pult, schreibt Briefe über geraspeltes Farbeholz und gibt sein Urtheil über Kleesamen ab, ja, ich glaube, er lacht innerlich.“81
Gustav Freytag mischt 1855 die Karten neu und verwandelt das Feind- in das Kultbild: Er verklärt ausgerechnet den vom Ruin bedrohten Kaufmann zum (un)romantischen Helden! Denn nicht umsonst sieht der „Prinzipal“ des jungen Kaufmannes Anton Wohlfahrt „wie verklärt“ aus. Er ist verklärt dargestellt, in seinen Eigenschaften. Dieser Mann ist einer, der „diese Stimmung“, das Lauern auf den Ruin, der sich über dem eigenen Kopf zusammenbraut, „mit Behagen“ auskostet; er wird von der doch niederschmetternden Gefahr im Gegenteil über sich hinaus gehoben, und „mit glänzenden Augen“ zeigt er sich inspiriert – von einer „Poesie des Geschäftes“. Zu dieser merkwürdigen Poesie gehört aber gerade die „kalte Berechnung“, zu der niemand anders als der Kaufmann derart befähigt ist. „[K]altblütig“ steht der Prinzipal „an seinem Pult, schreibt Briefe über geraspeltes Farbeholz und gibt sein Urtheil über Kleesamen ab“, und doch: „ja, ich glaube, er lacht innerlich“, ganz im Gefühl seiner „springende[n] Thatkraft“! Freytags Kaufmann wird zu einer heroischen, über den Dingen stehenden Figur aufgrund seiner Gefährdung durch den Ruin, aufgrund der Kaltblütigkeit seines nicht verknöcherten, sondern bis in die letzte Faser hinein kontrollierten, daher gegen das Schlimmste gestählten Herzens. Dieser Kaufmann bricht nicht unter der Angst vor dem Ruin im Vorfelde schon zusammen; kalt und bedachtsam rational bäumt er sich gegen die Gefahr auf, und das macht ihn zum Inbegriff eines neuen Helden mit beinah übermenschlichen Zügen. Dieser „Prinzipal“, der die lähmende Ruinstimmung überwindet, ist Antons Idol, und das heißt auch: Anton läßt sich von der heroisch-kaltblütigen Stimmung seines Vorbildes anstecken. Anton läßt sich selbst romantisieren durch den merkwürdig (un)romantischen, kalten Geschäfts-Enthusiasmus. Aus diesem Grund kann er aber seine Profession gegenüber einem Vorwurf verteidigen, der 1855 anscheinend zu einem gängigen Vorurteil verfestigt ist: „Wenn die Leute sprechen, daß unsere Zeit leer an Begeisterung sei und unser Beruf am allerleersten, so verstehen sie nicht, was schön und groß ist.“ Die Größe und Schönheit seines Kaufmannsberufes hatte Anton aber schon einmal erlebt; nur hatte ihn da kein vorbildlicher Überwinder des Ruins und seiner Stimmung begeistert. Im Gegenteil war es damals zutiefst bewegend, das üblichere Drama des „siegreichen“ Ruins mitanzusehen: Wenn Sie die Gewitterschwüle empfunden hätten, welche auf dem Geschäft lag, bevor es fiel, die furchtbare Verzweiflung des Mannes, den Schmerz der Familie, die 81
––––––––––––––––––– Ebd., S. 367-377.
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Hochherzigkeit seiner Frau, welche ihr eigenes Vermögen bis zum letzten Thaler in die Masse warf, um die Ehre ihres Mannes zu retten, Sie würden nicht sagen, daß unser Geschäft arm an Leidenschaften und großen Gefühlen ist.82
Anton liebt seine Profession – weil sie so wenig „arm an Leidenschaften und großen Gefühlen ist“. Sie gewährt ihm einen Logenplatz mit Ausblick auf das gefühlsgeladene, insofern romantische Schauspiel, das der junge Kaufmann im Ruin sieht. Das ist freilich eine andere Wahrnehmungsweise als die der Lea Mendelssohn. Hier allein sind achtzehn Häuser gefallen, worunter die festgegründetsten... Bekannte von uns sitzen im Gefängnis, andere haben sich das Leben genommen; die Zerstörung, Mutlosigkeit, der gegenwärtige Ruin und die trübe Aussicht für die Zukunft sind nicht bange genug zu schildern.83
So schrieb Mendelssohn, die 1826 zwar nicht selbst finanziell ruiniert war und doch mental mitgenommen von den Verheerungen um sie herum. Mendelssohn selbst war desolat zumute, „bange“ und „mutlos“ – sie war keinesfalls romantisch aufgewühlt durch den „Genuß“, den Ruin mitangesehen zu haben. Sie war zu unmittelbar von der allgegenwärtigen Ruinstimmung betroffen, um den Ruin als ein dramatisch-romantisches Schauspiel betrachten und sich von ihm romantisieren lassen zu können. Ihr fehlte dazu eine innere Distanz, die Freytags Anton erworben hat. Dabei soll diese Romanfigur kein Unmensch sein, im Gegenteil. Im Grunde spiegelt sie auch nur einen Wandel wider, den die allgemeine Wahrnehmung des Ruins im Laufe des 19. Jahrhunderts genommen hatte. Dadurch, daß der Ruin in Kunst und Literatur eingegangen und dabei verklärt worden war, war er ein Teil dieser „anderen“ Welt geworden, der „besseren“ Welt der Fiktion und des Romantischen. Nach dieser anderen Welt verlangte der verwirtschaftlichte Mensch aber gerade deshalb, weil er alltäglich durch die wirkliche Ruinstimmung und soziale Unsicherheit um ihn herum belastet war, darüber aber innerlich ernüchtert und abgestumpft. Es war also paradox – doch als romanhaft-romantisches Geschehen, das aus Literatur und Kunst bekannt war und doch zugleich eine Realbedrohung des Lebens blieb, bewegte und romantisierte der Ruin die Gemüter wie kaum ein anderes Phänomen seiner Zeit. – Dieses Bewegende des Ruins, das auch dem ruinierten Poeten anhaftet, wollten aber Vigny und Wallis, so wie vor ihnen schon Chatterton selbst instrumentalisieren. Sie wollten der romantisierenden Bewegung eine kritische Stoßrichtung geben. Ihre Strategien waren nicht dieselben; jeder der drei war ein „Kind seiner Zeit“. Chatterton, Vigny, Wallis – jeder von ihnen reagierte auf den jeweiligen Stand der Verwirtschaftlichung seiner Welt, sowie daran gebunden auf ein je eigenes Bedürfnis nach einem sich verändernden „Romanti82 83
––––––––––––––––––– Freytag: Soll und Haben, S. 275. Heilborn: Zwischen zwei Revolutionen, S. 23.
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schen“. Dieses soll im folgenden nachgezeichnet werden, beginnend mit der Betrachtung von Chattertons eigenen, dem ruinierten Poeten gewidmeten Werken.
II. Chatterton zum ruinierten Poeten (1768/69)
The person of Chatterton, like his genius, was premature; he had a manliness and dignity beyond his years, and there was a something about him uncommonly prepossessing. His most remarkable feature was his eyes, which, though grey, were uncommonly piercing; when he was warmed in argument, or otherwise, they sparkled with fire, and one eye, it is said, was still more remarkable than the other.84
Kein Gesichtsbild Chattertons ist überliefert. Nicht zu seinen Lebzeiten wurde er derart umrucht und umrühmt, daß jemand sein Portrait hätte zeichnen oder gar in Kupfer stechen lassen. 1752-1770 gab es in Bristol noch keinen Buchhändler wie Joseph Cottle. Erst 1796 ließ dieser die Portraits von vier unbekannten jungen Poeten anfertigen, für die Erstausgaben ihrer Werke, die er herausbrachte: überzeugt davon, diese Neulinge würden eine große Zukunft haben.85 Die Neulinge waren William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, Robert Southey und Charles Lamb. Cottle hatte recht, diesen Repräsentanten der neuen Generation der Romantiker ihre Chance zu geben; für Chatterton, die Kultfigur der vier protegierten Jungdichter, kam der Förderer zu spät. Doch die Faszinationsmacht, die Chatterton ausübte, auf die jungen Romantiker wie auch auf Cottle (der 1803 mit Southey zusammen die erste Gesamtausgabe der Werke Chattertons herausgeben würde) – diese Faszinationsmacht wird noch nachfühlbar anhand der oben zitierten Beschreibung Chattertons durch Gregory. Dabei glaubte Gregory, der erste eigentliche Biograph des „Fälscher-Dichters“,86 nicht einmal an Chatterton als den wahren Verfasser der Rowley-Gedichte und war überhaupt alles andere als ein verkappter Romantisie-
84 85 86
––––––––––––––––––– Gregory: The Life of Chatterton, S. lxxi-lxxii. Siehe Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 24-25. Ein erster biographischer Abriß Chattertons war 1777 in Tyrwitts Erstausgabe der RowleyGedichte erschienen – doch „nur“ in einer sich über mehrere Seiten erstreckenden Fußnote (siehe Poems, supposed to habe been written at Bristol, by Thomas Rowley, and others, in the fifteenth century, S. vii-x). 1780 ist Chattertons Leben bereits so interessant, daß Croft, Herausgeber einer wirklich geschehenen Liebes- und Mordgeschichte, überliefert in den Briefen des unglücklichen Paares Hackman-Reay, einen selbstgeschriebenen Brief einschmuggelt: zu Chatterton. Dieser Brief aus Love and Madness erzählt und verklärt Chattertons Leben bereits für ein empfindsames und sensationslüsternes Publikum. So ist Gregory Chattertons erster ausführlicher und „ernsthafter“ Biograph. Er schrieb für den vierten Band von Kippis’ Biographia Britannica (1789) den ausführlichen Lebenslauf, der 1803 in Southeys und Cottles Werkausgabe nochmals abgedruckt wurde.
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II. Chatterton zum ruinierten Poeten
rer. Trotzdem könnte man sich das von Gregory weitergegebene Bild87 des „ungewöhnlich voreinnehmenden“ Chatterton mit seinen stechenden, feurigen grauen Augen – von denen das eine gar noch „bemerkenswerter“ als das andere war – als eines jener Dichterportraits vorstellen, die das Inspirierte, oftmals Labile des „Genies“ enthüllen wollten und für die sich die Romantiker begeistern sollten.88 Doch was die Romantiker noch mehr an Chatterton faszinierte als die Vorstellung seiner brennenden Augen waren zum einen seine Rowley-Gedichte, um nicht zu sagen die Rowley-Welt, die er erfand; zum anderen, und mit diesem Erfinden einer Rowley-Welt unweigerlich verbunden, Chattertons Biographie. Um also verständlich zu machen, was an Chatterton mythentauglich war und was an ihm nicht mythentauglich war, ihn aber zum Erfinder eines ersten ruinierten Poeten machte, muß ich selbst diesen Lebenslauf wiedererzählen, der innerhalb der letzten mehr als zweihundert Jahre so oft wiedererzählt worden ist, daß es schwerer und schwerer wird, das wahrscheinlich Gewesene vom Verklärten, Verzerrten aus einer bestimmten Perspektive heraus Hervorgehobenen zu unterscheiden. Und auch ich werde eine bestimmte Perspektive einnehmen, die meine Version des Lebensbilds Chattertons mitprägen wird. Einerseits interessiert mich insbesondere das Wider- und Zusammenspiel von frühkapitalistischer und mittelalterlicher Prägung, von Kommerzdenken und Poesie in Chattertons Leben; denn beides war von Beginn an um Chatterton gegeben; und beides ist wiederzufinden in Chattertons Werk. Aus diesem Grund muß ich mich aber außerdem auf die Bedeutung der Dinge und ihrer Orte konzentrieren, die nun allerdings im Dienst der Poesie oder Romantisierung stehen – obwohl Chatterton an seiner Lebenswelt gerade das Materielle, im Sinne des Wirtschaftlichen, bemängelte. Und trotzdem: Ohne die verführerische Beweismacht der „authentischen“ Dinge und Orte wäre das „Funktionieren“ seiner Rowley-„Fälschungen“ nicht denkbar gewesen.
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––––––––––––––––––– Gregory bezieht sich im Inhaltlichen seiner Schilderung von Chattertons Äußerem auf Crofts Love and Madness, S. 130. Was weniger „romantischen“ Anklang fand als Chattertons stechende Augen, war die von Gregory gleichfalls betonte Frühreife. In der Tat erklärt Beth Lau mit David Fairer, „that in the decades after Chatterton’s death several different images of the poet prevailed. In Particular, the image of Chatterton as a manly, mature, satirical, and disruptive figure competed with a alternate sentimental image, which characterized Chatterton as a young, frail, blighted flower and victim of oppressive forces. According to fairer, the ‘lyric’ or sentimental image eventually triumphed in the Romantic period“ (siehe Lau: Class and Politics in Keats’s Admiration for Chatterton, S. 30, bzw. Fairer: Chatterton’s Poetic Afterlife, S. 248ff.). Gregory aber war einer derer, die das erste Bild, des männlichen Satirikers, vermittelten.
II. Chatterton zum ruinierten Poeten
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1 Chattertons Leben89 Bristol war eine Handelsstadt, neu bereichert durch den Sklavenhandel und bis ins Mark seiner Einwohner durchdrungen vom Wirtschaftsgeist. „‘The very parsons of Bristol’, complained one writer, ‘think of nothing but trade and how to turn the penny.’“90 In dieses Bristol wurde Chatterton hineingeboren, am 20. November 1752. Aber Bristol war mehr als nur Handelsstadt. Auf einem historischen Kupferstich, der Chattertons Bristol von der Wasserseite aus zeigt, wächst eine gotische Kirche fast chimärenhaft wie der Kopf aus dem Körper des florierenden Hafen- und Handelsbereiches (Abb. 3). Und diese Kirche, die das mittelalterliche Bristol verkörpert, das die Stadt eben auch war, ist St. Mary Redcliffe. In der Handelsstadt Bristol, aber im Schatten von St. Mary Redcliffe wuchs Chatterton auf. Denn seit Generationen erfüllte ein Chatterton hier das Amt des „sexton“, des Küsters und Totengräbers. Der Küster hatte die Schlüsselgewalt – ihm blieb keine Tür, keine Truhe versiegelt; und da das Amt mehr als einmal vom Vater auf den Sohn gekommen war, kannten die Chattertons sich im Laufe der Zeiten in St. Mary aus, fühlten sich vertraut, verantwortlich, um nicht zu sagen: wie zu Hause. Des kleinen Thomas „Garten“ war St. Mary Redcliffes Friedhof; im Kircheninneren aber war er zuerst durch die Grabfiguren fasziniert, dann durch die Pergamente... doch so weit ist es noch nicht. Wichtig ist vorerst, daß es Chattertons Onkel war, der ihm die Schätze St. Mary Redcliffes offenbarte; nicht der Vater. * Der Vater war nämlich tot, noch vor Thomas’ Geburt gestorben. Nicht nur vom Schatten der gotischen Kirche, auch vom Schatten der Existenznot war Chattertons Aufwachsen verdüstert. Doch ehe ich auf Chattertons Mutter komme, die sich dieser Situation stellen mußte mit kaum zwanzig Jahren, zwei kleinen Kindern und ihrer Schwiegermutter im Haus, muß ich noch einen Augenblick lang bei Chattertons Vater verweilen. Denn dieser ältere Thomas Chatterton ist die erste Schlüsselfigur in der Geschichte der Pergamente und außerdem selbst geprägt gewesen durch den Zeitgeist Bristols, jener Stadt des Handels und des Mittelalters. Der ältere Chatterton war nämlich durchaus interessiert an alten und kuriosen Dingen: an antiken Münzen, an Ruinen, an der Nekromantie; übrigens auch 89
90
––––––––––––––––––– Kaum eine Publikation zu Chatterton, in der der Lebenslauf fehlte. So liegen der folgenden Version des Chatterton-Lebens sämtliche Chatterton-Publikationen zugrunde, die im Literaturverzeichnis angeführt werden. Fußnoten zu Wiedergabenachweisen nach einzelnen Werken setze ich nur dann, handelt es sich um besonders relevante Lebensdetails oder um solche, die nicht durch die Mehrzahl der Biographien hindurch wiederholt, sondern singulär gesetzt sind. Kelly: The Marvellous Boy, S. 3.
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an Musik und Dichtung. Im Berufsleben war er Lehrer, außerdem Sub-Kantor in St. Mary Redcliffe und, seiner Liebe zum Alten zum Trotz, ein wirtschaftlich denkender Bürger von Bristol. Das bewies er, als er die Pergamente für sich entdeckte. Mittelalterliche Manuskripte waren es, einst verschlossen in fünf großen Truhen in der nördlichen Vorhalle von St. Mary Redcliffe. Eine davon, mit Eisen beschlagen, besonders mächtig und sogar mit sechs Schlössern versehen, stammte aus der Hinterlassenschaft eines 1474 verblichenen Kaufmanns und Bürgermeisters William Cannings, oder eigentlich Canynges (doch der junge Chatterton schrieb es später „Canynge“, ohne „s“). Nun waren die Schlösser sämtlicher Truhen seit langem aufgebrochen, die Pergamente lagen unbeachtet, so gut wie vergessen; andere Urkunden waren über die Jahrhunderte hinweg gestohlen worden. Chattertons Vater bediente sich seinerseits an den gefundenen Pergamenten – und benutzte sie als Schutzumschläge für seine Schulbibeln. Dennoch blieben Chattertons Mutter nach dem Tod ihres Gatten genügend alte Manuskripte, die sie ihrerseits sinnvoll verwerten konnte. Um ihrer Familie Leben zu fristen, verdingte sich Chattertons Mutter als Näherin und Leiterin einer zu Hause eingerichteten Handarbeitsschule. Die Pergamente wurden zum Grundmaterial ihrer Schnittmuster; und so war es, daß das Kind Chatterton auf sie stieß. * Die Schnittmuster-Pergamente waren indessen nicht die ersten alten Dinge, die die Aufmerksamkeit des kleinen Thomas auf sich zogen. Vor den Pergamenten war es ein altes Musikbuch gewesen, gefolgt von einer ebenso alten riesigen Bibel. Ehe Chatterton auf das Musikbuch, dann auf die Bibel stieß, hatte man befürchtet, er sei geistig zurückgeblieben. Denn er sprach kaum und überhaupt erst sehr spät, und in der Schule (der Schule in Pyle-Street, wo der Vater gelehrt hatte,) konnte oder wollte der Fünfjährige nichts lernen. Doch dann „verliebte“ er sich in die illuminierten Kapitalbuchstaben des urtümlichen Musikbuchs seines Vaters (das seine Mutter soeben zu „waste paper“ zerriß)91; und ausgehend davon, dann mit Hilfe der alten Bibel ließ Chatterton sich das Lesen lehren, daheim, von seiner Mutter. Und diese Eigenart, im intimen Zuhause seinem Geistesvermögen freien Lauf zu lassen, nicht oder zumindest nur insgeheim an öffentlichen Orten, sollte Chatterton beibehalten. Denn nun kam er, 1760 und mit acht Jahren, auf „Colston’s Charity-school“. * Colston’s Wohltätigkeits-Schule war, wenn nicht die beste, so die günstigste Ausbildungsmöglichkeit für die Kinder armer Leute und zudem ein konzentriertes Spiegelbild der Handels- und Mittelalterstadt Bristol. Einerseits beschränkte sich der Lehrstoff nämlich strikt auf das, was der künftige Kaufmann 91
––––––––––––––––––– Siehe Croft: Love and Madness, S. 110.
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beherrschen mußte: lesen, schreiben, rechnen. Doch nutzte der unbefriedigte Schüler Chatterton die Phasen der Rekreation und des Spieles, die in den rigide durchstrukturierten Tagesablauf eingeplant waren, zum Lesen. Und als Autodidakt schulte er sich, erst recht zu Hause, in Geschichte und Religion, dann bald auch in Heraldik, Architektur, Musik, Astronomie, Medizin... Auf der anderen Seite war Colstons’s jedoch nicht nur die Kaufmannsschule. Als konkretes Gebäude war die Institution ein einstiges Kloster; und in der Tat trugen die Schüler, zuzüglich zu einem altertümlichen Kostüm mit Talar, Bäffchen, Barett und orangefarbenen Kniestrümpfen, Tonsur. Kaum zufällig wurde während Chattertons Colston-Zeit Thomas Rowley geboren: das vielleicht nur einmal in seinem Leben, nur der Mutter und Schwester eingestandene alter ego des mittelalterlichen Dichter-Mönches.92 Sein erstes Rowley-Werk schrieb Chatterton 1764, mit elf Jahren, ebenso seine erste Satire. Aber er tat es im Verborgenen und verheimlichte seine dichterischen Ambitionen – die er im Kreis der Familie durchaus zugab. Ausdruck dafür war der Wunsch nach einer seinen Ruhm antizipierenden Becheraufschrift.93 Doch außerhalb seines innerfamiliären Kreises verbarg Chatterton sein Dichtertum so gut, daß noch Jahre nach seinem Tod der Lehrer Thomas Philips oder der ältere Mitschüler James Thistlethwaite von der Unfähigkeit Chattertons überzeugt waren, die Rowley-Gedichte verfaßt zu haben. Und gerade Philips meinte es wissen zu müssen, hatte er neu eingestellter Lehrer ein Novum auf Colston’s eingeführt: die – von Chatterton unbeachteten – Dichterwettbewerbe. * Doch freilich, Chattertons erste Satire Apostate Will entsprach der Erwartungshaltung an junge und unschuldige Dichterknaben wenig, war nämlich ein so frühreifes wie bitterböses Gedicht und dabei thematisch für alle noch kommenden Satiren Chattertons bezeichnend: Apostate Will handelt von einem Mann, der sich aus Gründen des Geldgewinns zum Methodisten bekehrt und als Prediger verkauft. (Eine Möglichkeit des Lebensunterhaltes, die Chatterton selbst später, vor seiner Abreise nach London, mehr oder minder scherzhaft in Betracht ziehen wird, sollte es mit dem Lebenserhalt aus dem Dichten nicht klap92
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––––––––––––––––––– Allerdings existieren zu Chattertons Eingeständnissen seines Rowley-Seins verschiedene Überlieferungsversionen (siehe Hare: Editor’s Introduction., in: The Rowley Poems by Thomas Chatterton, S. [v]-[xliv], hier S. [xvi]); Postma und andere spätere Biographen wollen sogar überliefern, daß Chatterton sich als Fünfzehnjähriger offen als Rowley eingestand, daß ihm jedoch nicht geglaubt wurde (siehe Postma: „Spott zahl ich heim mit Spott und Stolz mit Stolz“, S. 17). Im Ganzen war Chattertons (fast) durchgängiges Bemühtsein um die Verleugnung seines Rowley-Seins dennoch, nebst seinem Tod, die zweite große Irritation und der zweite Anreiz zum Wieder- und Wiederandenken des rätselhaften Dichterknaben. Daß Chatterton seine Ambitionen hatte, bezeugt die berühmte Anekdote bezüglich der gewünschten Aufschrift auf seinen Trinkbecher: „Paint me (said he) an angel, with wings, and a trumpet, to trumpet my name all over the world.“ (Gregory: The Life of Chatterton, S. vii.)
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pen.) – Doch noch ungewöhnlicher und frühreifer als das erste satirische war das erste mittelalterliche Werk des Elfjährigen; vor allem in Anbetracht der Tatsache, wie merkwürdig er es enthüllte, oder eigentlich verhüllte. Opfer der Täuschung waren der oben angesprochene Lehrer und Poesiefreund Philips sowie dessen Lieblingsschüler Thistlethwaite. Philips erhielt durch Chatterton ein altes Pergament, in schlechtem Zustand und mit einer kaum mehr lesbaren Handschrift versehen. Er, Chatterton, habe es in einer der alten Truhen von St. Mary Redcliffe gefunden. – Philips ist tagelang damit beschäftigt, die Handschrift zu entziffern, die anscheinend ein Gedicht ist. (Und natürlich mochte Chatterton bei seiner Finderfabel an die wirkliche Geschichte seines Vaters gedacht haben – doch die Pergamente, die sein Vater einst in den Truhen fand, waren keine mittelalterlichen Gedichte gewesen, sondern vornehmlich „Geschäfts-Notizen“94.) Philips’ Pergament ist (nichtsdestotrotz) ein Gedicht, eine Ekloge. Der Name allein ist schon vielversprechend, nämlich vielversprechend altertümlich: Eleanor and Juga. Doch viel mehr ist auf den ersten, begierigen Blick auch nicht zu entziffern. In seinem Eifer, in seiner Ratlosigkeit zieht Philips Thistlethwaite hinzu. Und zwei Dinge sind nun bemerkenswert am Ausgang der Geschichte: Erstens gelingt die Entzifferung des alten Manuskriptes auch mit vereinten Kräften nicht. Zu „mittelalterlich“ hat Chatterton die englische Sprache verrätselt, in ihrem Schriftbild und Vokabular verändert (mit Hilfe seiner Phantasie und einiger alter Wörterbücher, ehe er später einen eigenen „glossar“ zusammenstellte).95 Zu gut hat der Elfjährige zudem das echtmittelalterliche Pergament, auf das er schrieb, in seinem Erscheinungsbild noch mehr „gealtert“. Er hat es zerknäult, mit Ocker beschmiert, über eine Kerze gehalten und den schmutzigen Boden entlanggerieben96 – den schmutzigen Boden der Dachbodenkammer daheim, die Chatterton fortan als sein „refuge at home“97, sein Raum zum Dichten und Herstellen „alter“ Manuskripte dient.
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––––––––––––––––––– Postma: „Spott zahl ich heim mit Spott und Stolz mit Stolz“, S. 12. Chatterton schrieb erst im Englisch seiner Zeit und übersetzte seine Gedichte danach, mit Hilfe seines selbstgefertigten „English-Rowley and Rowley-English Dictionary“, in „mittelalterliches“ Englisch (siehe Hare: Editor’s Introduction, S. [xiii]). Postma resümiert Chattertons späteres routiniertes Vorgehen beim Rowley-Dichten so: „Den ‚historischen’ Wortschatz der Rowley-Zeit suchte sich Chatterton [...] anfangs noch aus dem Glossar zu Geoffrey Chaucers Werken zusammen, eine Sprach-Spurensuche, die ihm aber bald, auch angesichts der beträchtlichen Auftragslage, zu mühsam wurde. So notierte er sich denn lediglich die als ‚veraltet’ markierten Vokabeln aus Bailey’s Dictionary, die er in seinen Rowley-Texten dann, in ausgesucht altmodischer Orthographie, zu einer eigenen (um historisch präzise Zuordnung oder korrekte Syntax nicht weiter bemühten) Sprache aneinanderfügte, wobei er die altsächsischen Begriffe im Anmerkungs-Apparat seiner vermeintlichen Transkripte großzügig zurück ins Englische übersetzte und weitschweifend kommentierte.“ (Postma: „Spott zahl ich heim mit Spott und Stolz mit Stolz“, S. 14.) Siehe Hare: Editor’s Introduction, S. [xiii]-[xv]. Kelly: The Marvellous Boy, S. 8.
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Und Chatterton wird aus diesem ersten Versuchsballon eines als alt untergeschobenen Gedichtes gelernt haben. Künftige „mittelalterliche“ Schriften sollte er ein wenig lesbarer fabrizieren. Nicht sehr viel lesbarer freilich. Denn gehört nicht der Anreiz des Entziffernwollens des Rätselhaften – gehört nicht das Befremdend-Alte, Befremdend-Andere und dennoch ein wenig Zugängliche zur Verführungsmacht dieser Pergamente dazu? – Oder sollte man nicht geradeheraus sagen: zur Verführungsmacht dieser Kuriositäten? * Ein unabdingbarer Anreiz der Rowley-Gedichte war, daß sie nicht einfach „alte Gedichte“ waren, sondern auf altes Pergament geschriebene „alte Gedichte“. Diese alten Pergamente in den Händen, konnte man meinen, das vorgebliche Alter auch der Handschrift darauf mit Händen zu greifen. Zudem die Manuskripte angeblich einem mittelalterlichen Ort entstammten, der wiederum leibhaftig aufzusuchen war: St. Mary Redcliffe mit der „Schatztruhe“ „Canynges cofre“. Und damit komme ich auf das zweite Bemerkenswerte an der Geschichte von Chattertons erster Produktion eines Rowley-Gedichtes, und das ist doch: daß Philips und Thistlethwaite keinen Moment lang die Authentizität der „mittelalterlichen“ Ekloge Eleanor and Juga bezweifelten. Das kann nur drei Gründe haben: erstens das Material des echt-mittelalterlichen Pergaments, auf das Chatterton die von ihm gedichteten Zeilen schrieb; zweitens Chattertons Angabe des Herkunftsorts St. Mary Redcliffe, die den Fund durch ihn, den Neffen des Küsters, plausibel machte; drittens aber das persönliche Interesse Philipps und Thistlethwaites an Poesie, und zumal an alter Poesie. Philips und sein Schüler waren entflammt für das Manuskript, das der kleine Chatterton ihnen in die Hände legte und an dessen Authentizität sie nicht zuletzt deshalb glaubten: weil sie daran glauben wollten. Weil es doch wunderbar aufregend war, auf eine solche Kuriosität zu stoßen! Denn eine Kuriosität, das sahen der poesieliebende Lehrer und sein Lieblingsschüler in Eleanor and Juga. Eine Kuriosität, das heißt ein „altes Manuskript“, das vornehmlich Neugier erregte. Andacht und Ehrfurcht, die Empfindungen eines Menschen des 19. Jahrhunderts vor einem Reststück vergangener Vorzeiten, bewegten Philips und Thisthlethwaite noch nicht vorrangig. Der Lehrer scheute sich nicht davor, mit eigenem Bleistift seine Übersetzungsversuche auf das uralte Pergament zu kritzeln. Und diese Handhabung bestätigt: Das Pergament war ihm, wie seinen Zeitgenossen, noch kein quasi-sakrales Andenken vergangener Zeiten, das wenn überhaupt, dann nur mit Fingerspitzengefühl zu berühren wäre. Rowleys mittelalterliche Schriften hatten zu Chattertons Zeiten nebst dem Wert von Gedichten den entscheidenden Mehrwert von Kuriositäten. Nach Chattertons Tod werden die nun allerdings von den Manuskripten losgelösten, nämlich 1777 gedruckten Rowley-Gedichte von Herausgeber Tyrwhitt ausdrücklich als „literarische Kuriositäten“ hervorgehoben: „Whether the Poems be really ancient, or modern; the compositions of Rowley, or the forge-
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ries of Chatterton; they must always be considered as a most singular literary curiosity.“98 Und das ist nur folgerichtig, denn den Status von Kuriositäten hatten die ungedruckten Rowley-Manuskripte zu Chattertons Lebzeiten gehabt. Noch Croft, erster romantisierender Biograph Chattertons, nennt dessen pergamentene Rowley-Werke unumwunden so: „curiosities“99; und Chatterton selbst hatte eines seiner Altertümer, in einem nie abgeschickten, fünften Brief an Horace Walpole, als „so valuable a Curiosity“ 100 gepriesen. Kurios in der Tat, aus heutiger Perspektive: denn damit steckte Chatterton sein poetisches Werk gleichsam in eine Schublade mit Catcotts Zähnen, in einem Kästchen gesammelt mit der Aufschrift „My teeth to be put in my coffin when I die“; oder mit Catcotts Ring, getragen „in memory of Charles I, a monarch he mourned and revered“.101 – Allerdings würde dieses Nebeneinander des Disparaten genau dem „Un-Ordnungsprinzip“ des barocken Kuriositätenkabinetts entsprechen, das noch in Chattertons Zeit restweise hineinwaltet. Doch mehr als restweise nicht; denn bezüglich der Kuriosität ist im Zuge der Aufklärung ein Bedeutungswandel auszumachen, eine neue Trennung von einem neugierig, liebhaberisch, unwissenschaftlich behandelten Ding gegenüber einem vernünftig-wissenschaftlich gehandhabten.102 Im Barock konnte die Kuriosität noch „Ausgangspunkt historischer, naturgeschichtlicher, geographischer, ethnologischer und astrologischer Studien“ sein und war immer gedacht als Teil einer „begehbaren Enzyklopädie“ der Welt – nun wird sie marginalisiert und eingegrenzt, auf „Seltsamkeiten und Merkwürdigkeiten“.103 Wobei es jetzt auch nicht mehr das von Reisen Mitgebrachte, räumlich Fernliegende ist, das als Kuriosität gesammelt wird. Mehr und mehr werden zeitlich entrückte, alte Dinge als Kuriositäten oder „Raritäten“ entdeckt und von dilettantischen Liebhabern leidenschaftlich gehortet. Bis im 19. Jahrhundert gar der Gedanke eines „Rettenwollens“ alter und vergehender Dinge und Lebensdinge vor ihrer eigenen Vergänglichkeit zum Anstoß eines neuen Sammelns wird: des Sammelns der zuweilen kuriosesten Erinnerungsstücke, der Andenken. – Doch so weit ist es noch nicht, es ist erst der Weg dahin; und so kommt es, daß oben genannter George Catcott, Zinngießer, Eisenwaren-Händler und Besitzer einer Schachtel mit seinen fürs Grab aufbewahrten Zähnen, auch als einer der ersten nach Rowley-Kuriositäten gierte. Und umgekehrt war es dieser selbst kuriose Abnehmer Catcott, für den Chatterton eine Großzahl seiner pergamentenen Rowley-Poesien verfertigte. Aber da waren noch mehr kuriose Liebhaber dieser angeblich in St. Mary Redcliffe gefundenen Raritäten. Und der 98 99 100 101 102 103
––––––––––––––––––– The Rowley Poems by Thomas Chatterton, S. xiv. Croft: Love and Madness, S. 104. The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 399. Kelly: The Marvellous Boy, S. 9. Siehe zur Geschichte der Kuriosität Oesterle: Eingedenken und Erinnern des Überholten und Vergessenen. Ebd., S. 82-83.
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Ernst, mit dem vor allem der Arzt William Barrett sich mit Chattertons „Fundstücken“ befaßte, wirft ein Licht auf das neue, wissenschaftlich-historische Interesse an den „alten“ Dingen, die noch mit dem Begriff der liebhaberisch gesammelten Kuriosität kompatibel sind und doch auf dem Weg, sich zu wissenschaftlich relevanten, historischen Zeugnissen zu emanzipieren. Nur ist dieser Weg in diesem Falle fatal. Denn Barrett hortete also nicht nur von Neugier und Sammlerlust getrieben die merkwürdigen Rowley-Stücke. Da er an einer Geschichte Bristols schrieb, stützte er sich bereitwillig auf das Material, das Chatterton ihm zuspielte. Und als er längst tot und zum Objekt der Rowley-Debatte geworden war – da wurde Barretts 1789 publizierte Geschichte Bristols104 verlacht als eine auf gefälschtem Material basierende. Bis zuletzt hatte Barrett, so bemerkenswert hartnäckig wie die anderen Bristoler Besitzer von Rowley-Kuriositäten, an deren Authentizität festgehalten; doch dem Verlachtwerden hielt er nicht stand, und starb vor Gram. – Doch soweit ist es freilich noch nicht, und Catcott, Barrett, Burgum erwarten erst ihren Premierenauftritt in Chattertons Lebensgeschichte, zu dem es nun auch gleich kommt: während Chattertons „Lehrzeit“. * Am ersten Juli 1765, mit dreizehn Jahren, beendete Chatterton seine Schulzeit in Colston’s und ging beim Notar Lambert, dem er empfohlen worden war, in die Lehre. In Wahrheit lernte Chatterton nicht viel anderes als Akten in Schönschrift kopieren. Eine Arbeit, die ihn (trotz durchgängiger Anwesenheitspflicht) an manchen Tagen nicht mehr als zwei Stunden lang beanspruchte und folglich viel Zeit ließ fürs Dichten. Daß Chatterton eine geringfügige Entlohnung, vor allem aber Kost und Logis von Lambert erhielt, auch diese finanzielle Entlastung seiner Familie sollte für das Glück sprechen, eine solche Lehrstelle erhalten zu haben. Daß Chatterton höchst zufrieden sein mußte, wurde ihm auch wohl zu fühlen gegeben; doch zufrieden war er nicht. Nach eigener Angabe bestand Chatterton zu neunzehn Zwanzigsteln seiner Essenz aus Stolz.105 Und vieles an seiner Behandlung als Notarlehrling, was zu seiner Zeit so üblich war, konnte der rebellierende, sich seiner mentalen Überle104
105
––––––––––––––––––– Der das Fatale in sich tragende Titel lautete: The History and Antiquities of the City of Bristol; compiled from Original Records and authentic Manuscripts, In public Offices or private Hands. By William Barrett, Surgeon. An Barrett sollte Chatterton (zur Rechtfertigung des vorgeblich geplanten Selbstmords, von dem gleich die Rede sein wird) schreiben: „It is my PRIDE, my damn’d, native, unconquerable PRIDE that plunges me into distraction. You must know that 19-20th of my composition are pride: I must either live a slave, a servant, have no will of my own, no sentiments of my own which I may freely declare as such, or DIE! – Perplexing alternative!“ (The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 418-419.) Stolz als Chattertons essentielle Eigenschaft wird auch durch sämtliche von Croft gesammelte Augenzeugenberichte der einstigen Londoner Mitbewohner des Jungdichters erhärtet (siehe Croft: Love and Madness, besonders S. 116119).
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genheit bewußte Jungdichter nicht ertragen. Etwa das Essen in der Küche, in Gesellschaft des ungebildeten Personals. Das Schlafen mit einem Bettgefährten in einer Kammer, in der Chatterton folglich nicht ungestört nächtelang schreiben konnte. Das alltägliche „überraschende“ Kontrolliertwerden in der Kanzlei, da Lambert auch von seinem auftragslosen Lehrling kein müßiges Dichten duldete. Die handgreifliche Bestrafung durch den Notar in Reaktion auf eine allzu respektlose Satire, von Chatterton über seinen einstigen Schuldirektor geschrieben und in einer Bristoler Zeitung veröffentlicht. – Doch alles, was sich in Chatterton aufbäumte, führte eben zu seinen satirischen Ergüssen, und Gregory, jener Biograph, der Chatterton nicht einmal als den Dichter der RowleyWerke annahm, sondern als den genialen Satiriker würdigte, ging gar so weit zu psychologisieren: dieser Chatterton, der geniale Satiriker, habe „the stimulative of indignation“, den Stimulus der Empörung, als seine Inspiration gebraucht.106 So schrieb Chatterton während seiner ihn zunehmend zermürbenden, noch dazu auf sieben Lebensjahre angesetzten Lehrzeit bei Lambert zahlreiche Satiren für zahlreiche Zeitschriften, und er knüpfte die Kontakte und fand die Ermutigung durch Londoner Herausgeber, die ihm schließlich zum Anstoß wurden, Lambert und Bristol zu verlassen. – Doch soweit ist es noch nicht; denn was Chatterton in der Lambert-Zeit auch schrieb, waren die Rowley-Werke. * Die „alten“ Rowley-Werke wurden von jeher als Gegenstücke gewertet zu Chattertons auf die Mißstände seiner Lebensgegenwart abzielenden Satiren. Die Rowley-Welt aber sei für Chatterton – so wie das Mittelalter im allgemeinen für alle, die sich dafür zu begeistern begannen, – ein Fluchtort gewesen, diese innere Flucht aber „the earliest reaction against the prosaic temper of the time“107. Und freilich steht dieses unerträglich „prosaische Temperament der Zeit“ mit deren wohlbegonnener Verwirtschaftlichung und Rationalisierung in Einklang. Inwiefern die Rowley-Welt tatsächlich nur eine idealisierende Kontrastwelt zu Chattertons eigener Zeit sein sollte, sei vorerst dahingestellt. Wahr ist, daß Chatterton Rowley nicht wieder vergaß, nachdem er einmal in seinem Namen ein erstes poetisches Werk auf Pergament geschrieben und von Philips und Thistlethwaite (nicht) hatte entziffern lassen. Seitdem mag Chatterton als Rowley eine Parallelexistenz geführt haben zu seinem äußeren Leben auf der Schule, bei Lambert – beim Tagträumen und vielleicht auch beim Dichten. Wenn auch Taylor dem letzteren widerspricht. Nach eingehender Untersuchung der Manuskripte spricht der Herausgeber der Gesamtausgabe der Werke Chattertons sich gegen die seit Generationen gehegte Annahme aus: Chatterton habe gleichzeitig, nach außen hin als Satiriker Chatterton und im Verborgenen als Dichter Rowley, gelebt und gewirkt. Taylor zufolge wäre Chattertons Schreiben als Rowley 106 107
––––––––––––––––––– Siehe Gregory: The Life of Chatterton, S. xiii. Kelly: The Marvellous Boy, S. 17.
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eine so kurze wie ergiebige, fast exklusiv mittelalterliche Phase seines dichterischen Schaffens gewesen. Folglich wäre der Großteil der Rowley-Werke in einem Zeitraum entstanden, der sich etwa von Oktober 1768 bis Juni 1770 erstreckte; doch die konzentrierteste Periode bestand aus nur zwei Monaten, dem Oktober und November 1768. Im Dezember 1768 bis Mai 1770 flaute die Rowley-Produktion kontinuierlich ab, mitbedingt durch Chattertons Fortgang nach London im April; doch sollte London Chatterton nicht gänzlich von seinem Rowley abbringen, und dessen letztes Werk, die Excelente Balade of Charitie, entstand im Juni 1770.108 Chatterton, der Rowley-Dichter, war Taylor zufolge sechzehn bis siebzehn Jahre alt; innerhalb eines Zeitraums von etwa anderthalb Jahren schuf er seine ganze mittelalterliche Rowley-Welt; den Anlaß für das Schreiben als Rowley aber, und darin sind sich die Biographen einig, gab ein punktuelles, aktuelles Bristoler Ereignis von stadthistorischer Bedeutung. * Im Oktober 1768 wurde in Bristol eine neue Brücke mit einem aufwendigen und kostspieligen Festakt eingeweiht. In der Zeitung aber erschien ein kurioser Text: eine mittelalterliche Beschreibung des Einweihungsfestaktes der alten, einst neuen Brücke Bristols – die nun zugunsten der neuen Brücke von 1768 abgerissen worden war.109 Catcott war entfesselt. Henry Burgum, Catcotts Geschäftspartner niederer Herkunft, doch erst recht sich rühmend als feingeistiger Liebhaber alter Kuriositäten, gleichfalls; und so auch Barrett, Arzt und Verfasser einer Geschichte Bristols. Diese drei für Kuriositäten empfängliche Herren taten alles, um den Botenjungen ausfindig zu machen, der den mit „Dunhelmus Bristoliensis“ unterzeichneten Text bei der Zeitung eingereicht hatte. Der Botenjunge hieß Chatterton und gab, als er einmal glücklich gefunden war, erst eine unbefriedigende, dann eine befriedigende Herkunftsgeschichte des mittelalterlichen Dokumentes zum Besten. Nicht glauben wollte man dem Teenager, er habe die Kopie eines Originalmanuskripts im Auftrag eines anonym bleiben wollenden Gentleman eingereicht – für den er, Chatterton, auch schon Liebesgedichte verfaßt habe. Daher verriet Chatterton in einem zweiten Anlauf, er habe das Originalmanuskript (unter einer Fülle anderer, noch da liegender Pergamente) in einer der Truhen von St. Mary Redcliffe gefunden – in „Canynge’s cofre“. Und das glaubte man 108 109
––––––––––––––––––– Siehe Taylor: Introduction, in: The Complete Works of Thomas Chatterton, S. xxv-xlv, hier S. xxxvi-xi. Postma machte sich einen Spaß daraus, in Chattertonscher Manier einige Rowley-Dichtungen in künstlich-altdeutscher Sprache nachzudichten, da durch eine Übersetzung in neudeutsche Sprache der hauptsächliche Anreiz der „altenglischen“ Rowley-Schriften nicht zu übersetzen wäre. So findet sich auch die Nachdichtung des „mittelalterlichen“ Brückenfest-Textes in Postma: „Spott zahl ich heim mit Spott und Stolz mit Stolz“, S. 9-10.
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dem Neffen des Küsters unversehens; aus drei Gründen, die weiter oben bereits einmal angesprochen waren. Erstens glaubte man um so lieber an die Echtheit der alten Beschreibung eines vergangenen Festakts, als Chatterton, auf dringlichen Wunsch der Interessenten hin, das Original auf Pergament produzierte, sowie in der Folge noch weitere beschriebene Pergamentstücke. Und war die Beschreibung der alten Brückeneinweihung keine Lyrik, wußte Chatterton doch seine poetischen Rowley-Werke, die er ja am liebsten publik machen wollte, gleichsam als Begleitmaterial den gefragteren Dokumenten (von deren Art die Rede noch sein wird) beizufügen. Doch für die Gedichte wie für die anderen Schriften gilt eben: Hätte Chatterton nur von ihm „transkribierte“ (und „wissenschaftlich“ kommentierte) Texte vorgelegt – was er auch tat110 –, ohne diese Kopien durch die Preisgabe des einen oder anderen „Originals“ aufzuwerten: es wäre nicht so gern und dann so hartnäckig bis lange über Chattertons Tod hinaus an die Echtheit der mittelalterlichen Raritäten geglaubt worden. (James Macpherson, der Dichter-Fälscher bzw. „Übersetzer“ jener „alt-gälischer“ Ossian-Poesien, die in den frühen 1760er Jahren publiziert worden waren, war jedenfalls „damit ins Gerede gekommen [...], weil er die Originale nicht beibringen konnte“.111) Zweitens glaubten die Abnehmer der Rowley-Fragmente an deren Echtheit, weil sie an die Authentizität des Fundortes glaubten. So sollte im Jahr 1776 Samuel Johnson (der berühmte Aufklärer) aus Interesse am Phänomen der Rowley-Debatte, sowie am Begleitphänomen des „thriving trade in Chatterton manuscripts“112, nach Bristol reisen. Wie Dr. Johnson Catcott besuchte und was die beiden gemeinsam unternahmen, hat ein weiterer prominenter Schriftsteller der Zeit, James Boswell, in seiner Johnson-Biographie festgehalten. Catcott, der wie Barrett und Burgum seltsam unwillig war, die teuren Originale sogar (wenn nicht gerade) den anerkanntesten Experten in Sachen Altertümern vorzulegen; Catcott, der sich auch für zweihundert von Oliver Goldsmith (dem Verfasser des Vicar of Wakefield) gebotene Pfund nicht von seinem Rowley-„treasure“113 trennen wollte: dieser Catcott nahm seinen Gast mit auf einen Spaziergang, nach St. Mary Redcliffe. (Abb. 4). Dort wurde Johnson die Stiegen zur nördlichen Vorhalle hinaufgeführt und eingeführt in diesen Raum, in dem die halbentleerten Truhen standen, Schnipsel alten Pergaments lagen noch zerstreut auf dem Boden (Abb. 5). Vor einer der Truhen, der eisenbeschlagenen mit den 110
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––––––––––––––––––– Gerade in der Art der „wissenschaftlichen“ Bearbeitung und „Herausgabe“ einiger seiner Rowley-Texte hatte Chatterton sich Thomas Percy’s Reliques of Ancient Poetry zum Vorbild genommen, und das heißt deren „exotic and idiosyncratic language, swarming footnotes and references, authoritative historical underpinning, an interfering Enlightenment editorial sensibility, and an enticingly loose intertextuality.“ (Groom: Fragments, Reliques, & MSS, besonders S. 189.) So ein Hinweis in Postma: „Spott zahl ich heim mit Spott und Stolz mit Stolz“, S. 15, dem fernerhin nachgegangen werden wird. Kelly: The Marvellous Boy, S. 44. Ebd., S. 52.
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sechs Schlössern, blieb Catcott stehen, und: „‘There’, said Catcott with a bouncing, confident credulity, ‘there is the very chest itself.’ After this ocular demonstration, wrote Boswell, there was nothing more to be said.“114 Der dritte Grund dafür, daß Catcott, Burgum, Barrett und genug andere an die Authentizität der auf echtmittelalterliche Pergamente geschriebenen, angeblich aus einer echtmittelalterlichen Truhe gezogenen Rowley-Gedichte glaubten, war aber das Glaubenwollen. Und für diesen letzten Grund – der durch die suspekte Weigerung der Kuriositätenbesitzer, ihre teuren Stücke fachgerecht überprüfen zu lassen (Abb. 6), erhärtet wird – spricht sich Udo Leuschner aus. Leuschner sieht in Chattertons „Falsifikaten“ Projektionsflächen von zweierlei Sehnsüchten, einerseits der des armen Anbieters Chatterton – andererseits der der Abnehmer, Repräsentanten des „saturierten Bürgertums“: Es handelt sich um psychologische Vexierbilder, die je nachdem als Nostalgie oder Utopie verstanden werden können. Für das saturierte Bürgertum bietet die Scheinwelt des Mittelalters einen Ersatz für ideelle Werte, die in der Realität der kapitalistischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben und die auch in der rationalen Theologie der anglikanischen Staatskirche nur noch ein Schattendasein führen. Die tonangebende Klasse kompensiert so ihre psychischen Defekte und Defizite. Für Chatterton sind diese Falsifikate ein Mittel, seinen kümmerlichen sozialen Verhältnissen zu entrinnen. Sie entspringen dem verzweifelten Bemühen, sich zumindest geistig über diese Verhältnisse zu erheben, womöglich aber auch seinen dichterischen Genius materiell anerkannt zu sehen.115
Soweit Leuschner; und seine These soll verfeinert werden mit einer Betrachtung zur Funktion der profanen „Reliquie“, des „Reststücks“, des dinglichen Andenkens, für das sich das nur etwas spätere, empfindsame 18. und dann das materiell-romantisch ausgerichtete 19. Jahrhundert mehr und mehr begeistern sollten. Dieses „Erinnerungsstück“, das materiell mit Händen zu greifen ist, macht glauben, es sei das Reststück eines vergangenen Lebensmoments, dessen Erinnerung ebenso „authentisch“ wäre wie sein Speichermedium. Doch in Wahrheit ist das gerade nicht so. Die vom Reststück wachgerufene Erinnerung an einen „verlorenen“ Moment des Lebens ist nostalgisch verklärt: Dieser Moment erscheint im Rückblick schöner als er es jemals war, weil sein Andenken aufgebauscht ist, unterfüttert von den latenten romantischen Sehnsüchten, die der romantikbedürftige Mensch träumend, tagträumend oder wachend, im Genuß von Roman-Lektüre oder romantisierenden Kunstwerken in sich nährte. Die „authentischen“ Erinnerungsstücke sind Projektionsflächen einer im prosaischen Alltag vermißten, romantischen Existenz, die man angeblich in der Vergangenheit ausgekostet habe, in jenem „großartigen“ Lebensaugenblick, den das verklärende Andenken nun erinnern, bzw. als reine Erinnerung unterschieben
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––––––––––––––––––– Ebd., S. 46. Leuschner: Die Tagträume des Thomas Chatterton, S. 4.
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will. Auch sie ließen sich ein wenig als „psychologische Vexierbilder“ bezeichnen, „die je nachdem als Nostalgie oder Utopie verstanden werden können.“ Ob Andenken, ob vorher Chattertons Rowley-Relikte, ob später Souvenirs oder Objekte der „Volkskunst“, für die Walter Benjamin ähnliches attestierte116 – als Auffangbecken romantischer Sehnsüchte fungieren sie alle (wenn auch auf je eigene Weise): weil es Dinge sind. Alte Dinge, die die subtilen psychologischen Abläufe der Sehnsuchtsprojektion auslösen. Deshalb mußte Chatterton seine Rowley-Gedichte auf Pergamente schreiben, deren wahres Alter mit Händen zu greifen war. Deshalb mußte er die Manuskripte als Fundgut aus einer Truhe ausgeben, die gleichfalls mit Augen und Händen als mittelalterlich gewahrbar war – stand die doch im Innern von St. Mary Redcliffe, der gotischen Kirche, deren Mittelalterlichkeit am wenigsten zu bezweifeln war. Es brauchte der Authentizität des Ortes, der Dinge, des Schreibmaterials: um „den Rest“, und das heißt das Eigentliche, Inhaltliche, Poetische dieser Rowley-Dichtungen, selbst als „Authentisches“ glaubhaft zu machen. Doch war der Erfolg des Betrugs eben nicht nur Chattertons Schuld: denn offenbar bestand in Chattertons Zeiten ein Bedürfnis nach solchen alten Dingen, die wertgeschätzt wurden als authentische Reststücke der poetischeren Zeiten, nach denen eine neue Sehnsucht bestand. Kurzum, wenn Chatterton selbst zeitlebens die Authentizität der RowleyKuriositäten behauptete und sich nicht als deren Verfasser zugeben wollte, begründete Croft dieses merkwürdige Versteckspiel damit: After all, he was no modern; the boy was born an ancient: and he knew mankind well enough to see, that, in the present age, there was a greater facility of emergence from obscurity to fame, through the channel of curiosity, for a monk of the 15th century, than for a sexton’s son of the 18th.117
Man kann Chattertons nichtiges Lüften seiner Maske des Rowley mit dem Instinkt des Jungpoeten begründen, die Kuriosität, das Faszinationsobjekt seiner noch nicht „modernen“, d.h. noch nicht romantisch geprägten Zeit, die trotzdem bereits nach dem Alten, Poetischeren lechzte, als „Kanal“ zu seinem Aufstieg zu nutzen. Man kann diesen Instinkt aber auch in das intuitive Wissen um den verführerischen Anreiz übersetzen, den die Rowley-Gedichte nur als „echte Kuriositäten“ auslösen konnten; ein Anreiz, dem Chatterton aus eigener Neigung vielleicht selber erlag: „(Hat er [Chatterton], einmal hineingeraten in die immer umfassender gewordene Rowley-Welt, womöglich selber an deren Echtheit geglaubt? Manchmal hat es fast den Anschein.)“ 118 Wie dem auch sei – das Glaubendürfen an die Authentizität der Dichtungs-Reststücke, die wiederum die Echtheit einer poetischeren Vorzeit bewiesen, die vergangen und trotzdem 116
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––––––––––––––––––– Siehe Benjamin: Einiges zur Volkskunst, sowie zum Vergleich von Benjamins „Volkskunst“Stücken, die nur vorgeben, „authentische“ Andenken zu sein, mit diesen „echten“ Andenken Hoefer: Geraubte Augenblicke, S. 225-238. Croft: Love and Madness, S. 130. Postma: „Spott zahl ich heim mit Spott und Stolz mit Stolz“, S. 22.
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anheimelnd war, weil sie alles hatte, was man sehnsüchtig vermißte: Das war das bewegende Genußmoment, das Chattertons Kuriositäten gewährten, weil sie nicht nur literarische, sondern dingliche Kuriositäten waren. * Mit diesen dinglichen Kuriositäten versorgte Chatterton ab Oktober 1768 Burgum, Catcott und Barrett, und sie gaben ihm dafür – wenig Geld. Sogar für den mittelalterlichen Stammbaum (nebst Wappen) (Abb. 7), mit dem Burgum fortan beweisen konnte, letzte Knospe der ehrwürdigen normannischen Linie „de Bergham“ zu sein, erhielt Chatterton nur fünf Schillinge. Doch gaben die Bristoler Abnehmer der Kuriositäten – die Chatterton stets maßgeschneidert auf die je eigenen Sehnsüchte des Einzelnen anfertigte – dem Jungdichter mehr als Geld. Sie gaben ihm, nicht in Worten, aber durch ihr geködertes und vertrauensseliges Verhalten, die Ermutigung, an Walpole zu schreiben. Auf Horace Walpole, den adeligen, wohlhabenden „Fälscher“-Verfasser des pseudomittelalterlichen, aber eigentlich brandneuen Schauerromans The Castle of Otranto, hoffte Chatterton als auf einen künftigen, würdigeren Förderer Rowleys. Wie der Briefwechsel mit Walpole ablief, wie enthusiasmierend er begann und wie zermürbend er endete, das ist vielfach beschrieben worden. Verkürzt gesagt, ließ Walpole sich von einem auf seine Interessen hin maßgefertigten Rowley-Traktat über mittelalterliche Malerei betören – bis fachkundige Freunde aus Cambridge ihn auf die Gefälschtheit des Dokuments hinwiesen und Walpole, erbost über die eigene Verblendung, den Briefsender, der sich zudem als armer Bristoler Notarlehrling entpuppte, eine schroffe Abfuhr erteilte. – Erst nach Chattertons Tod sollte Walpole Rowleys Gedichte lesen und sich über ihre Schönheit ereifern („Fälschungen“ hin oder her). Doch da Walpole sich, zu seinem Horror, für Chattertons Verarmung und Selbstmord verantwortlich gemacht sah, konnte er sich eine blindwütige Beschuldigung seinerseits nicht verkneifen: „All of the house of forgery are relations... his ingenuity in counterfeiting styles, and I believe, hands, might easily lead him to those more facile imitations of prose, promissory notes.“119 Der Selbstmord sei ein Glück für Chatterton gewesen, so Walpole zynisch: Sonst hätte sich der Fälscher alter Gedichte aufgrund seiner äußeren wie inneren Ruinierung wohl zum kriminellen Fälscher ganz anderer, prosaischer Dinge degradiert – zum Fälscher von Schuldscheinen. Allerdings sollte gerade diese Aussage, mit der Walpole Chatterton zur degradierten Verbrechernatur stigmatisieren wollte, das Andenken des Jungdichters im gegenteiligen Sinn aufblühen lassen. Kelly zufolge sei die Mythisierung Chattertons ohne das Mitspiel der prominenten Feindfigur Walpole nicht denkbar gewesen. Die Rowley-Debatte allein, sowie damit Chattertons Bekanntheit wären wieder abgeflaut, hätte sich nicht als Grundstein des künftigen Mythos ein erstes Bild festgesetzt, das eigentlich ein Doppelbild ist: Der Mythos Chat119
––––––––––––––––––– Siehe Kelly: The Marvellous Boy, S. 54.
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terton wurzelt, so Kelly, in der „juxtaposition of scornful aristocrat“, d.h. Walpole, „and starving genius“, d.h. Chatterton.120 Und dieses erste, Walpole entgegengesetzte Chatterton-Bild sollten die Romantiker umgehend aufgreifen. – Doch so weit ist es freilich noch nicht, das Ende von Chattertons Leben indessen rasch auserzählt. * Mit Chattertons Testament steht allerdings noch nicht das letzte Ende in Aussicht, sondern Chattertons Versuch eines Neuanfangs. Um von Lambert und Bristol loszukommen, deponiert er beim Notar im Arbeitszimmer ein „versehentlich dort vergessenes Fundstück“: sein Testament. Diesem Testament zufolge will der Lehrling sich umbringen. (Wobei der Sage nach Chatterton nicht das erste Mal mit Selbstmord droht, auch mit der Pistole in der Tasche und schwarzen Gedanken im Gemüt durch das nächtliche Bristol spazierengegangen sei...). Der Grund (diesmal): Chatterton sieht sich ruiniert, in seiner traurigen Gestalt ein „wreck of promises and hopes“.121 Weil er keine materiellen Güter zu vermachen hat, hinterläßt der Schiffbrüchige folglich nichts als kuriose Dinge: Catcott soll all seine, Chattertons, Lebenskraft und sein jugendliches Feuer erhalten (da der Geber sich dessen bewußt ist, daß Catcott Besagtes am meisten braucht); Berrett vermacht Chatterton seine Grammatik und die Hälfte seiner Bescheidenheit. Die Stadt Bristol aber soll über allen Geist – und alle wirtschaftliche Uninteressiertheit des Verblichenen verfügen: „parcels of goods unknown on her quay since the days of Canning and Rowley!“122 Kein Wunder, daß das Motto des Gedenkrings, den der Verstorbene bei einem Bekannten für sich in Auftrag gibt (sollte dieser die Kosten selbst übernehmen), lautet: „Alas, poor Chatterton!“123 Nicht etwa, weil er im komisch-satirischen Testament leer ausgehen würde, sondern weil er keinen Selbstmord in seiner Kanzlei wünscht, setzt Lambert seinen Angestellten, so wie von diesem berechnet, umgehend vor die Türe. Und Chatterton bricht auf nach London, Ende April 1770. * Den Mai hindurch ist Chatterton von Hochstimmung beflügelt: Denn gewinnt er nur wenig, erhält er doch Ermutigung von allen Seiten, von Zeitungsherausgebern und Dichterkollegen. Unter dem Pseudonym „Decimus“ schreibt Chatterton radikal-oppositionelle Artikel, aus Überzeugung – oder unter dem Namen „Probus“ Artikel für die andere Seite, wenn von der mehr Geld zu holen ist. In seinen begeisterten Briefen nach Hause kritisiert er harsch das „merkantile“ Bristol, in dem seine Dichtungen nichts galten – und, selbst merkantil ge120 121 122 123
––––––––––––––––––– Ebd., S. xviii; siehe auch ebd., S. 56. The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 449. Ebd., S. 454. Ebd., S. 456.
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nug denkend, setzt er Bristol London gegenüber: London, wo seine Dichtungen „very profitable“124 sind. Angeblich. So denkt Chatterton selbst, und nicht zum erstenmal in seinem Leben, bei aller Kritik an Bristol trotzdem in Bristoler Merkantilmaßstäben; und er rühmt sich dessen explizit, wenn er, bezeichnend für die Hochstimmung der ersten Londoner Wochen, seiner Mutter schreibt, warum er nicht verarmen könne: The poverty of authors is a common observation, but not always a true one. No author can be poor who understands the arts of booksellers; without this necessary knowledge the greatest genius may starve, and with it the greatest dunce may live in splendour. This knowledge I have pretty well dipped into.125
* Chatterton verarmt trotzdem. Obwohl er diverse Zeitschriften mit Artikeln bombardiert; obwohl er politisch für beide Seite gleichzeitig schreibt; obwohl er findig Kontakte zu aller Welt knüpft und nicht zuletzt zum Londoner Bürgermeister Beckford, der ihm Unterstützung zusagt – und überraschend stirbt. Als Chatterton vom Tod seines versprochenen Förderers hört, geht es ihm bereits so schlecht, daß er ausgerufen haben soll: „that he was ruined“.126 Doch Chatterton, der stolze Verheimlicher, schickt bald wieder frohlockende Briefe von seinen Gewinnen und Erfolgen nach Hause, und zum manifesten Beweis seiner Wohlhabenheit Geschenke – Porzellan-Teetassen, Stickmuster, eine Pfeife und Tabak für die Großmutter, schließlich drei Fächer für die drei Frauen seines Bristoler Heims: und alles bezahlt von einer einmaligen tatsächlichen Einnahme, dem Honorar für den Text einer Burletta, eines Singspiels. Vielleicht um auch der entfernten Verwandten, mit der er bislang im selben Hause zusammenwohnt, den Fortlauf seiner Verarmung zu verheimlichen, zieht Chatterton Anfang Juni um, in die verrufene Holborner Gegend und in das ärmliche Dachbodenzimmer der Mrs. Angel. * In dieser Dachbodenkammer findet man ihn, am 25. August 1770. In den Tagen zuvor hatte er es wiederholt abgelehnt, von Mrs. Angel oder anderen zum Essen eingeladen zu werden – aus Angst, man würde ihn für bedürftig halten. In der Nacht vom 24. auf den 25. August habe er dann Arsen in Wasser zu sich genommen (später heißt es dann: Arsen und Opium), so der „Coroner’s Inquest“, und sei auf dem Armenfriedhof des „shoe-lane work-house“ begraben worden. Als Ursache des Selbstmords attestierte man felo de se, Wahnsinn. Den Akt der Selbstzerstörung hatte der Dichter auf sein Werk mit ausgedehnt, denn zu den Hinterlassenschaften Chattertons in seiner letzten Dachbodenkammer 124 125 126
––––––––––––––––––– Gregory: The Life of Chatterton, S. lviii. Ebd., S. lxv. Siehe ebd., S. lxi.
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heißt es: „Whatever unfinished pieces he might have, he cautiously destroyed them before his death; and his room, when broken open, was found covered with little scraps of paper.“127 Und dieses letzte Intérieur ist nun entscheidend für Chattertons Nachruhm gewesen. Genauso wie seine Rowley-Kuriositäten zur Bekräftigung ihrer Glaubwürdigkeit, und so zu ihrer „romantisch-bewegenden“ Wirkung, das Materielle des alten Pergaments und der Fundtruhe in St. Mary-Redcliffe brauchten, so brauchte auch der Mythos Chatterton die suggestive Macht des Ortes und seiner Dinge, die der Nachwelt den Ruin des Poeten bewiesen, ja anklagend vorhielten. Wenn es Kelly zufolge ohne die Kontrastfigur Walpole den ChattertonMythos niemals gegeben hätte, füge ich also hinzu: aber ohne dieses letzte Intérieur, das die auf den Tod hinauslaufende Ruingeschichte Chattertons impliziert, erst recht nicht. * Allerdings gibt es noch eine zweite, ernüchternde Erzählversion von Chattertons Lebensende im letzten Intérieur; und, noch größeres Problem für seine künftigen Verehrer, es gibt einen Chatterton, der in seinem Wesen und Wirken zur Romantisierung schwerlich taugte. Eine zweite, unromantische und neuere Version von Chattertons möglichem Lebensende wäre diese: Als er im Brief an seine Mutter mit dem Wissen um eine Kunst der dichterischen Selbstvermarktung prahlte, war das wohlbegründet. Chatterton verdiente in London genug, um sich über Wasser zu halten. Und seine Auswahl der strategisch klug kontaktierten Zeitschriften- und sonstigen Herausgeber weist gar darauf hin, daß Chatterton noch besser hätte leben können, hätte er sich ganz auf das Verfassen politischer Satiren konzentriert und sich nicht – in bewußtem Verzicht auf mehr Geldgewinn durch mehr Satiren – um die schwierigere Findung der rechten Person bemüht, seine RowleyWerke zu publizieren.128 Wenn Chatterton in den letzten Tagen vor seinem Tod nichts aß, lag es nicht daran, daß er nichts zu essen kaufen konnte; warum er dann nichts anderes zu sich nahm als Arsen, ist daher ein Rätsel und legt den wiederum unromantischen neueren Verdacht nahe, der „marvellous Boy“ habe an einer Geschlechtskrankheit gelitten und sich versuchsweise mit einem Gemisch aus Arsen und Opium „kuriert“.129 127 128
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––––––––––––––––––– Ebd., ixx. So die Zusammenfassung der zentralen Thesen von Suarez: What Thomas Knew. An denselben Thesen hielt Suarez auch in seinem später erweiterten Aufsatz fest: “This Necessary Knowledge“: Thomas Chatterton and the Ways of the London Book Trade. Diese These, die letztendlich auch nicht zu beweisen ist, ist mittlerweile in Fachkreisen derart akzeptiert, daß Ackroyd zu Chattertons Mythisierung ohne Referenz auf Autoritätspersonen notiert: „His supposed suicide has of course assisted this process, although there are those who believe that it was not self-murder at all. It was, perhaps, an accident that created the ‘legend’ of the poet to be seen lying on a narrow bed in Henry Wallis’s painting.“ (Ackroyd: Preface, S. 1.)
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Was aber schließlich die Schnipsel seiner Handschriften betrifft, die man in seinem letzten Intérieur auf dem Boden verstreut fand, so mag dieser Zerfetzung wohl etwas von einer gestischen Selbstzerstörung des Poeten in seinem Werk anhaften. Doch Ausdruck einer finalen Selbstzerfetzung waren die Papierchen nicht. Schon Croft, der zum Schreiben seines biographischen Briefes zu Chatterton 1780 die Mitbewohner des Dichters in seiner ersten Londoner Unterkunft befragt hatte, wußte aus diesen Augenzeugenberichten wiederzugeben, „that almost every morning the floor was covered with pieces of paper not so big as six-pences, into which he had torn what he had been writing before he came to bed.“130 Folglich fand sich auch an dem Morgen, an dem Chatterton das erste Quartier für das Dachbodenzimmer bei Mrs. Angel verließ, „the floor of his room covered with little pieces of paper, the remains of his poeting, as they term it.“131 Chatterton zerriß sein Werk regelmäßig. Und auch wenn Croft in diesem originellen Verhalten einen Zug des „wundervollen“, bald schon romantischgenialischen Chatterton sieht, lassen sich dennoch entmystifizierende, nämlich psychische Beweggründe dafür finden. Die nächtlichen Zerfetzungsorgien sind aus dem inneren Dilemma oder Martyrium des Satirikers Chatterton zu erklären.
2 Chattertons ruinierter Poet der Gegenwart oder Satiriker versus Tervono Michael Suarez, der Chattertons Selbstlob seiner Fähigkeiten der Selbstvermarktung ernst nimmt, beginnt seinen Essay What Thomas Knew mit dem Versprechen einer Desillusionierung: „In delineating what Chatterton knew about the book trade, this essay argues that the young author’s strategies and practices were far removed from the archetypal image of the hapless Romantic poet he was later imagined to be.“132 Dementsprechend vertreten Beth Lau und Bridget Keegan die These, daß der Kult um Chatterton sich zwar seinem Leben verdankt habe, aber unter Ausblendung gewisser Störfaktoren, „such as his ambition and desire to earn money from his writings“.133 Der romantische Mythos Chatterton ist schwerlich kompatibel mit Chattertons Interesse am Geldverdienen – oder mit der Textgattung, mit der er am meisten Geld machte, der „unro-
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––––––––––––––––––– Croft: Love and Madness, S. 145. Ebd. Suarez: What Thomas Knew, S. 83. Lau: Class and Politics in Keats’s Admiration for Chatterton, S. 35; Lau verweist auch auf die einhellige Argumentation Keegans in: Nostalgic Chatterton, besonders S. 212.
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mantischen“ Satire.134 Wenn nebst Chattertons Leben doch auch sein Werk die Mythenbildung anstieß, so waren es nicht die Satiren, sondern die „alten“ Rowley-Gedichte. Doch in Wahrheit steckt noch hinter dieser „Mythentauglichkeit“ der „mittelalterlichen“ Gedichte ein Mißverständnis des Rowley-Werkes, das sich gar nicht auf Gedichte beschränkt. In den Rowley-Schriften sind, freilich immer in „mittelalterlich maskierter“, insofern verklärter Form, die Themen des Satirikers Chatterton wiederzufinden, und das heißt: seine Auseinandersetzung mit dem Bristoler Merkantilgeist, den er abwehrte – und der ihn prägte. Um das Unromantische unumwunden zu sagen: Noch ehe Chatterton acht Jahre alt war, hatte er seiner Mutter und Schwester „eine Menge Schmuckzeug“ versprochen. Erhalten sollten sie es vom erwachsen, berühmt und reich gewordenen Thomas – nicht als Geschenk, sondern als „Belohnung für ihre Pflege“.135 Romantisch muten die Spaziergänge an, die der jugendliche Chatterton mit seinem Freund William Smith um St. Mary Redcliffe herum machte, denn dieser Intimfreund erinnert sich: „He used to fix his eyes in a kind of reverie on Redcliff church, and say, ‘this steeple was once burnt by lightning; This was the place where they used formerly to act plays.’“136 Doch als es um das Vorlesen eines alten Rowley-Manuskripts just am Aufführungsort der mittelalterlichen Schauspiele geht, kündigt der Träumer und Visionär Chatterton dem Freund an: „I have got the cleverest thing for you that ever was: it is worth half a crown to have a sight of it only, and to hear me read it to you.“137 Nicht nur die Pflege seiner Mutter, auch den Wert seiner, bzw. Rowleys Werke pflegte Chatterton unweigerlich in materielle Honorierungen zu übersetzen; und sogar auf das doch essentiell romantische Phänomen der Liebe dehnten sich Chattertons merkwürdig kühl berechnende Phantasien aus. Glaubt man Gregorys Wiedergabe einer Erzählung von Chattertons Schwester, so habe der pubertierende Thomas eine erste, vornehmlich briefliche Liebesbeziehung zu einer gewissen Miss Rumsey gesucht: um einer Verschlechterung oder „Verernstung“ seiner Stimmung entgegenzuwirken, die von zu viel konzentriertem Arbeiten in geisti134
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––––––––––––––––––– So bemerkt Fairer, der romantische Kult um Chatterton habe im Zuge des 19. Jahrhunderts die Tatsache überdeckt, daß Chatterton nicht nur Rowleys Werke dichtete, sondern auch satirische und politische Texte schrieb (siehe Fairer: Chattertons Poetic Afterlife, besonders S. 245 und 248). Siehe den Erinnerungsbrief Mrs. Newtons, der Schwester Chattertons, den diese auf Bitte Crofts hin schrieb und der publiziert ist in Croft: Love and Madness, S. 110-114, hier S. 111; wiederpubliziert wurde der Brief auch in Southeys erster Werkausgabe: The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 459-465. Siehe Smiths Brief oder „Testimony“ in: The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 483485, hier S. 484-485. Ebd., S. 484. Übrigens ist in dem Brief nicht gesagt, was Chatterton dann vorlas; und so könnte es durchaus eines der Schauspiele oder „Entyrludes“ gewesen sein, die (so Chattertons intime Mittelaltergeschichte) der Mönch Rowley im Auftrag seines Freunds und Mäzens Canynge schrieb, etwa anläßlich der Einweihung der Kirche St. Mary Redcliffe.
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ger und räumlicher Isolation herrührte.138 So daß man auch anders formulieren könnte: Chatterton versuchte, einer im Zuge von zu viel selbstdisziplinierter Arbeit drohenden Verknöcherung seines Herzens vorzubeugen – durch zweckrational eingesetztes Verlieben.139 Es ist also nicht falsch zu resümieren, daß Chatterton bis ins Mark seines Wesens und seiner Phantasien von demselben Bristoler Merkantilgeist durchdrungen war, den er erbarmungslos satirisch verriß. Daß er sich folglich, mehr oder minder bewußt, in seinen Satiren selber verriß – das ist allerdings eine innere Zerrissenheit, die als solche den Romantikern hätte interessant werden können. Nur resultierte sie eben ausgerechnet aus einem Zuviel an internalisierten Wirtschaftsprinzipien, so daß die Romantiker Chatterton doch nicht aufgrund seiner (un)romantischen inneren Zerrissenheit zu ihrem Idol erhoben. Dafür gewann Chatterton selbst seinem inneren Dilemma ein poetisches Moment ab – und stilisierte sich darüber, doch so, wie es die Dichter des romantischen und nachromantischen 19. Jahrhunderts tun sollten, zum verblüffend „modernen“ Märtyrer-Dichter. Und damit noch nicht genug: Das Mittel der Erhöhung seines wirtschaftlich kontaminierten Poetenselbst zu einer Märtyrerfigur, die geradezu romantisch an sich selbst leide, bestand ausgerechnet in der „unromantischen“ Satire. * Durch Erfahrung in der subtilen Kunst versiert, Teile ich die Mysterien eines Titels mit: Lehre den jungen Autoren, wie der Stadt zu gefallen, Und die schwere Droge des Reimes schlucken zu lassen.140
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––––––––––––––––––– Siehe ebd., Bd. 1, S. xlvii. Die Aussage der Schwester bezieht sich auf die Zeit, als Chatterton in der Kanzlei für den Notar Lambert arbeitete, zu Hause für sich und Rowley. Ob es immer nur beim zweckrationalen und keuschen Verlieben blieb, ist angesichts der großen Anzahl von Freundinnen zu hinterfragen, die er hatte, als er Bristol verließ (siehe Höpfner: Ein Wunderkind aus England, S. 10). Auch Croft gibt die Aussagen der von ihm befragten Chatterton-Augenzeuginnen wieder, „that he did not dislike the wenches“ (Croft: Love and Madness, S. 143), „that he was a sad rake, and terrible fond of women“ (ebd., S. 144). Das erweckt den Eindruck, Chatterton könnte Spaß an seiner Selbstkur durch Liebe gewonnen habe ‒ zumal sie ihn zum Schreiben inspirierte. Das belegt die Quantität seiner Liebessendungen. Ebenso willkommen wie die Liebe war ihm der Tod als Schreibanlaß; seine elegischen Nachrufe verfertigte er so prompt, daß eine Anekdote über eine vorschnell gedichtete Elegie kursierte, die daher später auf einen anderen Toten umzuwidmen war. Da Lyrik sprachlich schwieriger zu verstehen ist als Prosa; da Chatterton zudem beim fiebrigen Herunterschreiben seiner Satiren auf Punkte, Kommata und selbst Rechtschreibung wenig achtete, biete ich im folgenden Übersetzungen der beiden behandelten, zu Chattertons Lebzeiten unveröffentlichten Gedichte an. Dabei stütze ich mich auf deren wort- und zeichengetreuen Abdrucke im ersten Band der Complete Works of Thomas Chatterton (The Art of Puffing findet sich hier auf S. 650-651), zur Ergänzung aber auch auf den ersten Band von The Works of Thomas Chatterton (The Art of Puffing hier auf S. 149-151), in dem Herausgeber Southey dezent an Interpunktion und Rechtschreibung der Originale feilte. Da ich den Akzent auf inhaltliche Verständlichkeit und Werktreue lege, vernachlässige ich freilich den Reim und
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Mit diesen provokativen Zeilen beginnt The Art of Puffing. Die Kunst der Aufblähung will, wie der Untertitel verrät, Von eines Buchhändlers Handlungsreisendem geschrieben sein. In Wahrheit wurde die Satire von einem Siebzehnjährigen namens Thomas Chatterton gedichtet, und zwar am 22. Juli 1770, gut einen Monat vor des Verfassers Tod und schon in der fatalen Dachbodenkammer der Mrs. Angel. Wie es das lyrische Ich des „Buchhändlers Handlungsreisende[n]“ ankündigt, läßt sich seine folgende Niederschrift als eine Anleitung lesen, eine Einführung in die Strategien, sich und sein Werk aufzublähen, um es zu verkaufen. Es wird also von eben der „subtile[n] Kunst“ die Rede sein, in der Chatterton selbst, nach eigener Angabe und von aktueller Forschung erhärtet, „durch Erfahrung“ „versiert“ war.141 Doch zugleich ist seine Ratgeberschrift auch eine Satire: nämlich die schneidende Verhöhnung derer, die die angeratenen Kniffe anwenden. So daß man diese „Falschen“ und „Dummen“ nur mit ihren eigenen Tricks überbieten muß – um selber verwerflich, doch erfolgreich gewinnheischend zu werden. Diese (Un-)Moral der Geschicht’ steckt bereits in der eingangs abgesteckten Zielfragestellung: „wie der Stadt zu gefallen“. Um der „Stadt zu gefallen“, muß man also erstens, nach dem Vorbild eines gewissen „Curl“, „verschiedene Dummköpfe“ „durch verschiedene Kniffe“ „pfropfen“142. Anders gesagt geht es darum, Gönnern für Geld zu schmeicheln, mit einem sie erhöhenden Dichterlob. Aber das ist noch nicht alles Niedere, doch Gewinnbringende, was man tun kann: Die händlerischen Schlauköpfe erstreben, Wie Buchhändler, der Welt erstes Idol zu ergattern, Gewinn: Zu diesem Zweck blähen sie Goldsmiths schwerfällige Verszeile auf, Und rufen sein Gefühl, obwohl abgedroschen, als göttliches aus; Zu diesem Zweck klagt der patriotische Barde, Und Bingley bindet die arme Freiheit in Ketten: Zu diesem Zweck wurde jedes Lesers Vertrauen getäuscht, Und Edmund schwor, woran niemand glaubte: Zu diesem Zweck kämpfen die Geistreichen in verschwiegenen Verkleidungen, Zu diesem Zweck schreiben die Politiker verschiedener Meinungen,
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––––––––––––––––––– Originalrhythmus; so finden sich die nicht zu unterschlagenden englischen Originalversionen der beiden Satiren im Anhang. Man denke zurück an Chattertons Angeberbrief an seine Mutter, aufgenommen in Gregory: The Life of Chatterton, S. lxv, sowie an Suarez: What Thomas Knew. Wenn die Satire weitergeht zu: „[...] Curl, unsterblicher, nie sterbender Name! [...] / Pfropfte durch verschiedene Kniffe verschiedene Dummköpfe“, ist Curl einer jener Namen, die dennoch für die Heutigen gestorben ist und die Chatterton zahlreich ins Lächerliche zieht. Da es indessen wichtiger ist, was Chatterton den Vergessenen vorwirft als wem er es vorwirft, möchte ich der Frage nach den historischen Personen, die hinter den Namen stecken, nicht weiter nachgehen. Aufklärung darüber findet sich im Kommentarteil von Taylors Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 1117-1118.
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Zu diesem Zweck werden jeden Monat neue Zeitschriften verkauft, Mit langweiliger Dummheit gefüllt und Transkriptionen von Altem,
– und dem Chattertonkundigen fällt spätestens an dieser Stelle auf, wie gut Chatterton sich an den „händlerischen Schlauköpfen“ schulte; wie gut er sie benutzte; wie virtuos er sie gar übertraf. Denn gewisse Gönner, begonnen mit Catcott, Burgum, Barrett, „pfropfte“ Chatterton auch. Er selbst schrieb politische Satiren für die „patriotische“, radikal-oppositionelle Seite, sowie zugleich für die andere, konservative, die die Macht und mehr Geld hatte. Er selbst versorgte zahlreiche Zeitschriften, und mit Bedacht gerade die neuen,143 nicht gerade mit „langweiliger Dummheit“ und „Transkriptionen von Altem“; doch er reichte satirische Schriften ein, die mehr für den Eklat als für die Ewigkeit geschrieben waren, sowie „mittelalterliche“ Texte. Denn auch das tat Chatterton wie die anderen, oder besser als sie: Ob als politischer Satiriker „Decimus“ oder „Probus“, ob soeben als „eine[s] Buchhändlers Handlungsreisende[r]“, ob vor allem als Rowley – Chatterton selbst schrieb in „verschwiegenen Verkleidungen“. Kein Wunder also, wenn der Schluß der satirischen Einführung in die Kunst der dichterischen Selbstvermarktung zwiegespalten ist. Einerseits ist er in seinem Tonfall hochtrabend, als der Rat des blitzklugen Satirikers, der die Mißstände durchschaut, sie zwar für sich benutzt, aber dabei verächtlich über ihnen steht. Auf der anderen Seite klingt das Ende jedoch verbittert. Es spricht auch den Fluch des genialen Dichters und Selbstvermarktungskünstlers aus, der dennoch nicht „dumm“ oder beziehungsreich oder glücklich genug war – gerade für seinen hochwertig-raffinierten Rowley einen verkaufsförderlichen, reinlichsimplen Kalbsledereinband zu finden: 143
––––––––––––––––––– Suarez, der Chattertons Kontaktaufnahmen zu diversen Londoner Zeitschriften nachzeichnet, verweist auf seinen Kunstgriff, gerade das neue Universal Repository of Knowledge, Instruction, and Entertainment anzugehen: „Chattertons timing in developing a relationship with the monthly could scarcely have been better. ‘Saxon Tinctures’ and ‘On Mr. Alcock of Bristol, an Excellent Miniature Painter’, Chatterton’s first works to appear in a London periodical, were printed in the second issue. Hamilton’s fledging magazine […] doubtless needed a steady flow of diverse contributions to fill its pages.” (Suarez: What Thomas Knew, S. 86.) Was seine Londoner Publikationen auch belegen ist aber, daß Chatterton weit mehr als nur Satiren und „Mittelalterliches“ schrieb. Er wußte sich Stile und Gattungen mühelos anzueignen und schrieb (wie der Blick in die Inhaltsverzeichnisse seiner Werkausgaben bezeugt), ob für Zeitschriften, ob für sich, für Gönner oder verehrte Damen, alles, von der Elegie zum Singspiel, vom obszönen Gedicht zum heroisch-mittelalterlichen Drama, vom seriösen Forschertext über alte Dinge zur bissigen Politsatire oder seinem eigenen, die juristische Schreibweise persiflierenden Testament. So daß Lamoine vor einem Vergleich mit Mozart nicht zurückscheut: „Few authors can boast of having given the world so much, in such a comparatively short time, and at so early an age. Without calling the boy a universal genius, it must be admitted that he was able to strike many different chords of the lyre; the name Mozart comes to mind, at only a few years’ distance.“ (Lamoine: The Originality of Chatterton’s Art, S. 34-35.)
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Söhne Apollos, lernt; Verdienst ist nicht mehr, als ein gutes Frontispiz, die Türe zu schmücken. Der Autor, der seinen Titel gut erfindet, wird seine bedeckte Dummheit immer verkauft finden; Flexney und jeder Buchhändler wird kaufen, Niemals sterben wird das Werk, gebunden in reinliches Kalb.
Und Chattertons Kunst der Selbstvermarktung reichte auch nicht, für The Art of Puffing selbst noch vor seinem Tod ein Publikationsorgan zu finden. Die Satire erschien postum, erstmals im Town and Country Magazine XV von 1775; dann in Southeys The Works of Thomas Chatterton von 1803. * Noch härter und expliziter ging Chatterton in einem anderen satirischen „Fragment“ mit dem kaufmännischen Poeten ins Gericht, erstpubliziert wiederum von Southey.144 Taylor datiert das Werk auf den 27. Oktober 1769 und ordnet es somit in den Zeitraum der akuten Enttäuschungsstimmung ein, die Chatterton im Zuge seines fehlgeschlagenen Versuches befiel, Walpole als Förderer Rowleys zu gewinnen.145 So trägt seine Satire den bereits unheilsgeschwängerten Titel: Wirtschaftsinteresse, du Universalgott der Menschheit Wirtschaftsinteresse, du Universalgott der Menschheit, Erwarte den Vers und rüge die Feder: Sollte er unwillkommen zu deinen Ohren aufsteigen, Halte des Poeten Augen Gefängnis und Hungersnot vor, Bitte die Satire, ihren scharfen Rächerstahl in die Scheide zu schieben Und verliere eher eine satirische Zeitschriftennummer als ein Mahl. Nein, ich bitte dich, Ehre, mach mich nicht wahnsinnig, Wenn ich hungrig bin, muß etwas her: Kann das aufrichtige Bewußtsein, das Rechte zu tun, Mit einem Essen versorgen oder einem Mädchen für die Nacht? Wenn jene Sterne meine Seele mit Gold überziehen, [und] Mein sterblicher Plunder vor Kälte erzittert, Dann, verfluchter Peiniger meines Friedens, geh fort! Die Schmeichelei ist ein Mantel, und ich werde ihn anziehn. In einem niederen Landhaus, bebend im Wind, Vorn eine Tür, dahinter Licht eine Spanne, Begannen Tervonos Lungen ihr mystisches Spiel, Und die Natur prägte im Kinde den Mann vor. Sechsmal hatte die Jugend des Morgens, die goldene Sonne, 144
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––––––––––––––––––– Dieses „Fragment“, zu dem Herausgeber Southey annotierte „Transcribed from a M.S. in Chatterton’s hand writing“, findet sich auf Seite 203-205 in: The Works of Thomas Chatterton, Bd. 1. Siehe die Positionierung von Intrest thou universal God of Men in: The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 1, S. 377-379.
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Die zwölf Etappen ihrer Reise durchlaufen, Da erstand Tervono, der Kaufmann des Flachlands, Seine Seele war Handel, sein Elysium Gewinn; Die zerlumpten Spielfreunde nahmen sein Wort für Gesetz Und verloren im Tauschhandel jedes liebste Ding. Durch verschiedene Szenen steigt Tervono weiterhin auf, Und macht weiterhin Freunde, sie weiterhin vergessend: Erfüllt von der oftmals im Handel gehörten Maxime, Daß man nur mit Seinesgleichen Freundschaft schließen kann. Seine Seele ist ganz der Kaufmann. Niemand vermag Einen Schatten einer Tugend in seinem Gemüte zu finden. Auch ist seiner Laster Vernunft nicht mißangewandt; Ist nieder wie sein Geist, kriechend wie sein Stolz. Beim städtischen Abendmahl oder Schildkrötenspeisen Ist er so prompt wie ein hungriger Mönch; Kein Feind von brutalen bacchanalischen Riten, Vegetiert er seine Nächte in gemeiner Verwirrung dahin. Tervono wäre geschmeichelt; so soll ich also In stigmatisierender Satire meine Feder drohend schütteln? Muse, bereite seiner Stirne den Lorbeerkranz, Obwohl er bald welken wird, einmal da aufgesetzt. Komm, Lobeshymne: Vergötterung, eil dich, Und besing dieses Wunder von Merkantilem Geschmack; Und während seine Tugend mit meinen Zeilen aufsteigt, Ist der Gönner glücklich, und der Poet ißt. Manche philosophisch in Stahl Gewappneten Können weder Armut noch Hunger empfinden; Aber das ist nicht mein Fall: die Musen wissen, Was für ein Wassergrützenzeug von Phoebus herfließt. Wenn also die Wut der Satire mein Gehirn erfaßt, Mögen allein Dichterbrüder der Schreibwut begegnen: Mögen weder massige Ratsherrn noch Pfarrer sich dagegen erheben, Den Augen ihrer Brüder zum Entsetzen vorschweben, Wenn sie durch Gebet oder Gericht in Trance verloren sind, Dann ziehen die Sinne sich in ihren innersten Raum zurück Und werden, während sie dort in tiefer Beratschlagung schnarchen, Von den Gewöhnlichen für tiefschlafend gehalten.
So prangert der Satiriker zwei Feinde des Dichters an: einen äußeren und einen inneren. Der Feind von außen, das ist das „Wirtschaftsinteresse“. Dabei ist dieser „Universalgott der Menschheit“ hauptsächlich in „Tervono“ verkörpert, außerdem aber auch noch in den „massige[n] Ratsherrn“ und „Pfarrer[n]“, die dem unartigen, satirischen Dichter mit „Gefängnis und Hungersnot“ drohen. Der innere Feind des Poeten ist nämlich er selbst. Der Dichter ist sich Feind, weil er einerseits Seele und Körper ist, und seelisch ist er zwar von den Sternen (der Inspiration) „mit Gold“ überzogen – körperlich, in seinem „sterbliche[n] Plunder“ aber ist er „vor Kälte erzitter[nd]“. Und keine philosophische Selbst-
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wappnung hilft gegen dieses Hungern und Frieren. Daß der arme Poet sein Werk offenbar nicht verkaufen kann und keine Anerkennung in der Welt des Wirtschaftsinteresses findet: eben das macht ihn aber nur noch mehr zum Feind seiner selbst. Die Misere weckt in ihm den Satiriker. Gregory vertrat die Ansicht, daß der geniale Satiriker Chatterton die Empörung als Inspirationsquelle benötigte.146 Doch nach der Lektüre des Fragments Intrest muß man ergänzen: er verfluchte die Inspiration durch Empörung auch. Denn das Bedürfnis, „[i]n stigmatisierender Satire meine Feder drohend [zu] schütteln“, das Schreibwerkzeug als „scharfen Rächerstahl“ in der vibrierenden Faust, stellt nebst den äußeren Bedrohungen durch „Gefängnis und Hungersnot“ eine zweite, innere Bedrohung dar: die Verhinderung, das zu schreiben, was Geld bringt. – Was aber Geld bringt, ist das „Pfropfen“ „verschiedener Dummköpfe“ durch „verschiedene Kniffe“, wie es in The Art of Puffing genannt wurde; jetzt aber heißt es, bitter entschlossen: „Die Schmeichelei ist ein Mantel, und ich werde ihn anziehn.“ Im Zuge des 19. Jahrhunderts wird sich ein Interesse entfalten, das im 18. Jahrhundert wurzelt: das Interesse an der Autobiographie147 oder Biographie „großer“ Personen. „Tervono“ ist nun trotz seines schauerlich-romantischen Namens (der wohl an die „alt-italienische“ Schauerromanwelt von Walpoles Castle of Otranto erinnert)148 alles andere als eine „große Person“. Doch gerade deshalb hat er den Poeten nötig. Der biographische Binnenteil von Chattertons Satire ist nämlich Tervonos Leben gewidmet – und eine Persiflage auf die „biographischen Schmeicheleien“, die mancher Dichter des 18. Jahrhunderts wirklich für Geld auf Tervono-ähnliche Typen schrieb. So besteht die persiflierte und doch geradezu modellhafte „Schmeichelhymne“ in der beispielhaften Aufblähung eines Lebenslaufes, der inhaltlich gewöhnlicher, niederer, abstoßender nicht sein könnte, durch eine stilistisch hohe, poetisch kunstvolle Form und Sprache. Nicht Held, sondern Antiheld der Ge146 147
148
––––––––––––––––––– Siehe Gregory: The Life of Chatterton, S. xiii. Wilson skizziert den Trend zur „Verautobiographisierung“ der Dichtung, Musik und Kunst vom 18. bis ins späte 19. Jahrhundert wie folgt: „The trend is initiated in the eighteenth century with Rousseau’s Confessions (about 1762; published 1782), and gains momentum with Chateaubriand’s René (1802), De Quincey’s Confessions of an English Opium Eater (1821) and Musset’s La Confession d’un entfant du siècle (1836). Berlioz’s Symphonie Fantastique (1830) and its sequel, Lelio (1831) are described as episodes from the life of the artist […]. Delacroix attempts to dissemble by choosing subjects for his paintings from literature, history and the Bible, but his heroes are his alter egos and the scenarios he depicts driven by personal imperatives. There is no such evasion in the paintings of Courbet, Van Gogh, Gauguin and Munch where the subjects are more often than not drawn directly from the artist’s own life.” (Wilson: Rebels and Martyrs, S. 13.) Taylor räumt allerdings ein, keine erwiesene „source for the name Tervono“ gefunden zu haben (siehe The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 1000). Doch könnten zerstreute Bemerkungen Chattertons dafür sprechen, daß mit „Tervono“ Burgum gemeint sei (siehe ebd.). Tervono ist jedoch mehr als eine Satire auf Burgum. Er ist ein Inbegriff des geborenen Kaufmanns.
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dichtbiographie, die ihn poetisch aufpfropfen soll, ist nämlich Tervono: der Mann, der sich seit frühester Kindheit als „der Kaufmann des Flachlands“ bewährt. „Seine Seele war Handel, sein Elysium Gewinn;“ „Seine Seele war ganz der Kaufmann.“ Tervono ist der Inbegriff des Kaufmanns, und mehr wäre zu ihm nicht zu sagen. – So muß er zu mehr erhöht werden, nämlich zu einem Stück Fleisch gewordenem Wirtschaftsinteresse. Tervono, das ist dieser „Universalgott der Menschheit“ in Inkarnation. Nachts „[i]n einem niederen Landhaus“ geboren, „bebend im Wind, / Vorn eine Tür, dahinter Licht eine Spanne“, würde der Abgott auch wirklich beinah christusähnliche Züge aufweisen – würde er sich nicht im Zuge seiner Aufsteigergeschichte mehr und mehr als der „Anti-Christ“ beweisen, zu dem er geboren, bzw. zu dem er poetisch „erhöht“ ist. Also muß sich Tervonos Lebensgeschichte als eine Un-Heilsgeschichte entwickeln. So muß es sein, weil Tervono keinerlei Tugend hat und zwar eine Vernunft, doch die steht im Dienst seiner Laster. So ist Tervono „nieder“, „kriechend“, gierig und „prompt“ nicht nur was Gelddinge, sondern auch was Fressen und Saufen betrifft; und doch war und ist er gerissen genug, sein Wort zum Gesetz der „Spielfreunde“ zu machen und sie, betrügerisch schachernd, um „jedes liebste Ding“ zu bringen. Doch das wäre noch nicht das Niederste an Tervono. Das Niederste und Lächerlichste an dem Unhold ist: „Tervono wäre geschmeichelt“. Er wäre geschmeichelt, würde er selbst seine bis hierher gedichtete Biographie lesen. Denn er würde gar nicht die Un-Heilsgeschichte hinter der schönen Verpackung der sich reimenden Verse erwittern. Er würde gar nicht begreifen, daß ihn die vermeintliche Vergötterung als „Anti-Christ“ denunziert. Er würde die bittere Pille der verkappten Satire wie Schildkrötensuppe hinunterschlucken – weil er für eine Lobeshymne auf sich selber bezahlte, und weil er für ihre allerdings eigene Poesie gar keinen Sinn hat. Und das ist das Problem für den poetischen Satiriker: Tervonos selbstverliebte Dummheit bestärkt ihn in seinem abgründigen Spiel, das trotz allem riskant bleibt: „Tervono wäre geschmeichelt; so soll ich also / In stigmatisierender Satire meine Feder drohend schütteln?“ Es wäre falsch, es wäre gefährlich, und so beschwört der um sein Brot schreibende Dichter den Satiriker in sich, sich zu bezähmen und anstattdessen das „Wunder von Merkantilem Geschmack“ brav zu besingen: Denn dann „[i]st der Gönner glücklich, und der Poet ißt.“ Der Poet kann also nicht anders als heuchlerisch gegen Hunger und Ruin anzuschreiben, um von mehr als dem „Wassergrützenzeug“ zu leben, das seine wahre, ernsthafte Poesie ihm einbringt; und doch kann der Poet auch nicht anders als satirisch zu schreiben: ist sein „Gehirn“ von der „Wut der Satire erfaßt“ – die derselben Misere entspringt, gegen die er unsatirisch-schmeichlerisch anschreiben sollte. Es ist ein Teufelskreis; und so bleibt nichts als die Hoffnung, die ewig genährte, ewig hervorberstende Satire wenn es denn sein muß, so nur für den Kreis der Dichterbrüder zu schreiben. Nur diese Gleichgesinnten – die also der
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Poet wie der Kaufmann als seine „natürlichen“ Freunde sucht – vermögen die geniale Hyperaktivität des wütenden Satiriker-Hirnes zu schätzen. Allerdings wird die auch noch einmal aufgewertet durch das Schlußtableau des Gedichtes: das Bild des Innenlebens jener materiellen Leute, die den genialen Satiriker verurteilen wollen. Jene „massige[n] Ratsherrn“ und „Pfarrer“ geben zwar vor, vom Zorn auf den Satiriker zu einem Rausch des Gebets und des Richtens über ihn „inspiriert“ worden zu sein. Und doch – die „Gewöhnlichen“ irren sich wohl nicht, wenn sie hinter dem gesättigten Schnarchen der Verurteiler des armen Poeten einen gesunden Tiefschlaf sehen. So endet das Gedicht Intrest so, wie es begonnen hat und Zeile um Zeile war: als beißende, dem Dichter nicht ungefährliche und ihm dennoch notwendige Satire. Und auch dieses Werk entsprang dieser „Wut der Satire“, die es selbst thematisiert – deshalb fehlt im rasend heruntergeschriebenen Originalmanuskript jedes Innehalten, jedes Satzzeichen.149 Nur war die Misere, der die inspirierende Wut diesmal entsprang, nicht unmittelbar der Konfrontation mit einem äußeren Tervono verschuldet. Sie war dem Dilemma des Dichters verschuldet, das also noch einmal wie folgt zu resümieren ist. In Intrest prangert Chatterton zwei Feinde des Dichters an: auf der einen Seite die Feinde von außen, allen voran Tervono, der geborene Kaufmann, aber auch die weiteren Geld- und Machthaber, die Ratsherrn und Pfarrer. Auf der anderen Seite existiert jedoch noch ein zweiter, innerer Feind des Dichters, und das ist der Dichter selbst oder genauer: der Satiriker im essen müssenden Poeten. Dieser Satiriker muß sich zu Wort melden, inspiriert aus der Empörung über die nichtige Anerkennung des Dichters durch die Welt des Wirtschaftsinteresses; der Satiriker darf sich nicht zu Wort melden, will der Verfasser des einzig gefragten poetischen Schmeichelkrams sein Zeug unter die selbstverliebten und um eine vornehme Herkunft bemühten, da niedergeborenen Merkantilleute bringen. Sich an den Höchstbietenden verkaufen oder ihn in genialer Satire denunzieren – mit schlechtem Gewissen essen oder mit gutem Gewissen hungern, und das zudem schlimmstenfalls im Gefängnis: Dieser ewige Konflikt mit sich selbst ist des Dichters Dilemma – das ist sein Martyrium. Denn nicht, daß Chatterton die Assoziation zwischen armem Poeten und Märtyrer-Christus so aufdringlich nahelegen würde wie Rousseau es tat, der Verfasser seiner Confessions, welche, geschrieben um 1762, publiziert 1782, die historische Lust an der Autobiographie entfachten. Auch gebührt in den Bekenntnissen dem außergewöhnlichen Einzelindividuum Jean Jacques Rousseau die Selbsterhöhung zur christusähnlichen Märtyrerfigur seiner Zeit, nicht Jean 149
––––––––––––––––––– Auch Taylor bemerkt eine „enthusiastisch“-beseelte Eile, die dem Manuskript noch abzulesen ist, siehe The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 1000: „This poem is a fragment on the subject of self-interest v. the satiric impulse, a recurring theme with C [...]. This poem, Conversation and Hervenis harping are C’s first attempts at satire after the manner of Charles Churchill: the rapidity with which they were composed suggests the enthusiasm with which C took up this new style.“
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Jacques als exemplarischem Dichter.150 Eine solche Apotheose des Dichters oder Künstlers sollte erst die Epoche der Romantik entwickeln, der sich der Mythos des Genies als „Rebell und Märtyrer“ verdankt.151 Wie bereits gesagt, sollte dieser Mythos nie seine Attraktivität verlieren; und das erklärt, daß noch der nachromantische, präraphaelitische Künstler Holman Hunt ins Heilige Land reiste, um am Ort der Bibelgeschichte sein bis heute umstrittenes Gemälde The Scapegoat zu malen – jenes Portrait eines Sündenbocks vor authentisch-biblischer Kulisse, den man als symbolischen Doppelverweis auf Christus und auf den Künstler deuten könnte (dazu später mehr).152 Nicht zufällig wurde The Scapegoat aber 1855 vollendet: in dem Jahr, in dem Henry Wallis die Arbeit an seinem Chatterton begann – jenem Bild des verblassenden Poeten in seinem letzten, (angeblich) authentisch wiedergegebenen Intérieur, das den Ruin des Poeten in der Disposition seiner Dinge, in seiner Atmosphäre, geradezu haptisch greifbar macht. – Chatterton – der Sündenbock – der ruinierte, durch die Welt der Kaufleute martyrisierte Dichter: Davon konnte der historische Chatterton 1769 freilich nichts wissen. Ebenso wenig konnte er wissen, daß einmal ein Alfred de Vigny in einem Drama Chatterton dem ruinierten Poeten ein Feindbild gegenüberstellen würde: John Bell, den „Henker“, den Kaufmann. Doch es hätte Chatterton gefallen: war es doch der eigenen Kontrastierung eines satirischen Dichter-Ichs mit Tervono, dem Inbegriff des Kaufmanns, verblüffend nahe. Ist dieser Tervono aber, als inkarnierter Abgott „Wirtschaftsinteresse“, ein wahrer Anti-Christ zu heißen, muß sein Gegenbild, der in sich zerrissene Satiriker, als des AntiChrists Gegenbild ein christusähnlicher Märtyrer sein. – Schon Chatterton erhebt den ruinierten Poeten zum Hohebild eines „modernen“ Märtyrers. 150
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––––––––––––––––––– „Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple, et qui n’aura point d’imitateur. Je veux montrer a mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature, et cet homme, ce sera moi. Moi seul. Je sens mon cœur, et je connais les hommes. Je ne suis fait comme aucun de ceux que j’ai vus; j’ose croire n’être fait comme aucun de ceux qui existent. Si je ne vaux pas mieux, au moins je suis autre. Si la nature a bien ou mal fait de briser le moule dans lequel elle m’a jeté, c’est ce dont on ne peut juger qu’après m’avoir lu.“ (Rousseau: Les Confessions, S. 1.) Rousseaus Selbstinszenierung als christusähnlicher Sündenbock-Märtyrer beruht auf dem Gestus, in dem der Dichter seine Autobiographie als eine Selbstanprangerung vorstellt: Es ist der Gestus seiner Selbststilisierung zum außergewöhnlichen, die Normen der Natur sprengenden, nämlich im Kontakt zu einer korrumpierten Gesellschaft deformierten Menschen, der nun seine Deformationen mutig entblößt, um damit seine Mitmenschen zu warnen, sowie in ihnen Mitleid und Bewunderung zu erregen. Siehe zum Mythos des romantischen Genius als „Rebell und Märtyrer“ noch einmal Alexander [u.a.]: Rebels and Martyrs. Siehe zu The Scapegoat Alan Brownes Einleitung in Parris: The Pre-Raphaelites, S. 11-26, hier S. 25: „The goat is both symbol of Christ, carrying the sins of the world, and the symbol of the artist (i.e. Hunt himself) scorned and neglected by a philistine public, but the bearer of truth, ‘guided by his own light’.“
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Und das ist nun wirklich verblüffend, weil es nicht einmal nur wie ein Vorgriff auf den romantischen Mythos des rebellischen, verfluchten, also martyrisierten Genies aussieht. Es sieht mehr nach einem Vorgriff auf den Dichtermythos aus, den Vigny (un)romantisch und sozialkritisch machte, in dem er nicht mehr das Merkantile im Leben des Poeten ausblendete, wie es vordem geschehen war, um den Genie-Mythos rein-romantisch zu erhalten. Um ehrlich zu sein, wäre aber Chattertons ruinierter Poet auch Vigny zu verwegen unromantisch gewesen, wie der Vergleich zwischen dem ruinierten Poeten von 1769 und dem von 1835 an späterer Stelle ergeben wird. Allerdings hat aber auch Chatterton selbst noch einen zweiten, etwas weniger unromantischen Poeten erfunden, nämlich einen mittelalterlichen Dichter-Mönch, der auch nicht sofort im Leben ruiniert ist. Die Rede ist freilich von Rowley – und seinem Freund und Mäzen, dem Kaufmann Canynge.
3 Chattertons mittelalterlicher, bald ruinierter Poet oder Rowley – und Canynge Die mittelalterliche Welt, die Chatterton mit seinen „alten“ Manuskripten enthüllt, wurde von jeher als eine idealisierte Welt interpretiert, eine Gegenwelt zu Chattertons eigener „triste[r]“, weil frühkapitalistischer Lebenswelt.153 Der Vergleich der beiden Welten wurde dabei vereinfacht durch die Konstante des konkreten Ortes der „schlechten“ gegenwärtigen und der „guten“ alten Geschehnisse: Bristol, „in the present, was the focus for all his [Chatterton’s] outrage and contempt; while Bristol, in the late medieval past, was the projection of everything he loved and desired and imagined“.154 Wenn das alte Bristol Chatterton aber, zumindest teilweise, eine solche Projektionsfläche seiner Sehnsüchte sein dürfte, so weil sich der Unterschied zwischen erfundenem Einst und mangelhaftem Jetzt im Dasein, bzw. Fehlen, einer Größe begründet: Wyllyam Canynge. In Wahrheit dürfte man nicht von einer Rowley-Welt reden, sondern entweder von einer Canynge-Welt oder, noch richtiger, von einer Welt des Bündnisses Canynge-Rowley. Denn ohne Canynge hätte es den Dichter Rowley und seine im Auftrage Canynges produzierten Manuskripte niemals gegeben; doch umgekehrt wäre ohne den Manuskriptschreiber Rowley nichts von der Welt überliefert, die Canynge prägte und im Großen förderte wie er es im Kleinen mit Rowley tat. Nur heißt das trotz allem nicht, daß diese von Canynge geprägte 153
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––––––––––––––––––– „Das eindrucksvollste Beispiel für die Flucht aus einer tristen Realität in ein idealisiertes Mittelalter bietet der Knabe Thomas Chatterton“ (Leuschner: Die Tagträume des Thomas Chatterton, S. 1). Mit diesem Satz resümiert Leuschner die traditionelle Interpretation von Chattertons Mittelalterwelt. Holmes: Thomas Chatterton: The Case Re-opened, S. 227.
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und von Rowley überlieferte alte Bristol-Welt grundsätzlich besser gewesen wäre als die Welt von Chattertons Bristol. Im Gegenteil bestehen bedenkliche Ähnlichkeiten; und, um die Wahrheit zu sagen: Rowley, und mehr noch Canynge, am meisten aber das, was die beiden verband, waren keine „zeittypischen“ mittelalterlichen Erscheinungen, sondern Ausnahmefälle. „Cannynge and I from common corse dyssente“155 – das heißt so viel wie: „Canynge und ich“, Rowley, „weichen ab vom gewöhnlichen Kurs.“ Canynge und Rowley sind „dyssenter“ oder neuenglisch „dissenter“ – „Andersdenker“. So schreibt Rowley selbst in seinem, bezeichnenderweise in Gedichtform verfaßten, Brief an den Würdigen Meister Canynge (Letter to the Dynge Mastre Canynge). Aber was der „gewöhnliche Kurs“ ist, von dem Canynge und Rowley abweichen, kann man auch einem anderen Gedicht entnehmen. Und dieses ist vom zweiten Andersdenker geschrieben – denn ja, auch der Kaufmann und Mäzen Canynge war poetisch begabt. Sein Werk trägt den Titel The Worlde – und folglich die kritische Weltsicht der Andersdenker in sich. So läßt Canynge die bedrohliche Größe selber zu Wort kommen, die schon in seiner Welt allzu heimisch ist, und es ertönt diese merkwürdig vertraute Stimme: Mie Name is Intereste tis I Dothe into alle Boosoms flie Echone hylten secretes myne None so wordie good and dynge Botte wylle fynde ytte to thyne coaste Intereste wylle rule the roaste I to everichone gyve lawes, Selfe ys fyrst yn everich cause.156
In einer einfachen und kruden Übersetzung aus dem freilich selbst altertümlichkruden, doch zeitlos-scharfsinnigen „Altenglisch“ heißt das: Mein Name ist Wirtschaftsinteresse, ich bin es, Das in alle Busen fliegt, Mir gehört jedes verborgene Geheimnis, Niemand, auch noch so würdig, edel und gut, Der nicht seine Küste erobert fände:157 155
156 157
––––––––––––––––––– Siehe Rowleys Letter to the Dynge Mastre Canynge, in: The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 1, S. 176-178; hier S. 177. Wie von zahlreichen Vorentzifferern richtig bemerkt, läßt sich über das Lautlesen der Rowley-Schriften und so aus dem Klang des „Altenglischen“ das verständlichere „Neuenglisch“ herausfiltern. Hilfreich bei der Entschlüsselung der über das Schriftbild entfremdeten und mystifizierten Rowley-Sprache ist außerdem der Glossar to the Rowleyan Writings, den Taylor zur Verfügung stellt in ebd., Bd. 2, S. 1176-1228. Siehe Canynges The Worlde, in: ebd, S. 233-235, hier S. 234. In der Verszeile „Botte wylle fynde ytte to thyne coaste“ steckt noch ein subtiles Wortspiel. Daß jeder das hinterrücks ihn erobert habende Wirtschaftsinteresse an seiner eigenen inneren Küste findet, wie also das Unreine an der eigenen nicht (mehr) reinen Weste: Das wird angespielt durch die implizit erinnerte, doch dabei negierte nichtmittelalterliche Wortwendung „the coast is clear“, „die Luft ist rein“.
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II. Chatterton zum ruinierten Poeten Das Wirtschaftsinteresse wird über die Hühnerstange herrschen, Ich gebe jedem [meine] Gesetze, Das Selbst geht vor in jeder Sache.
„Wirtschaftsinteresse, du Universalgott der Menschheit“ – dieses Auffluchen könnte auch von Canynge und Rowley stammen. Denn schon diesen „Mittelalterlichen“ erscheint ihre Zeit keinesfalls idealisiert, sondern dem Ruinierer der Gemüter, dem Merkantilgeist, verfallen.158 So daß im folgenden zu hinterfragen ist, warum und inwiefern man Rowleys Welt als eine Projektionsfläche der Sehnsüchte Chatterton und seiner Zeit ausdeuten konnte: und das heißt konkret: Es gilt die Ausnahmeposition zu beleuchten, die Rowley und Canynge in ihrer „frühmerkantilen“ Welt einnehmen. Es gilt zu verfolgen, wie die beiden Andersdenker mit ihrem frühverwirtschaftlichten Spätmittelalter umgehen, wie sie sich dazu stellen, was sie dagegen unternehmen – aber auch, was sie im Sinne ihrer Zeit unternehmen, selbst geprägt vom „mittelalterlichen“ Merkantilgeist. So gebührt das Interesse dem Leben Rowleys und Canynges – dieser merkwürdigen Doppelbiographie, die so anrührend und gewinnbringend verschlungen ist. * Wer war Wyllyam Canynge? Wer war Thomas Rowley? Canynge, denn mit ihm muß man anfangen, war Bürgermeister, Kaufmann und der ideale Förderer des Poeten – den Chatterton in seinem Bristol nie fand, auch wenn er ihn einmal vergeblich in Horace Walpole suchte. So würde die Antwort der darin einhelligen Forschung lauten, und falsch ist sie nicht. Nur muß man genauer hinsehen, welche Antwort Chatterton selbst gab und auf welche Weise er sie gab oder besser: auf welche Weise er sie herausfinden ließ aus seinen „mittelalterlichen Fundstücken“. Tatsächlich sind die verflochtenen Lebensläufe von Canynge und Rowley der Stamm, der Chattertons Mittelalterwelt trägt bis in jede kleinste Verästelung. Jedes noch so triviale „mittelalterliche Dokument“, dessen Überlieferung sich stets Rowley und Canynge verdankt (so die Logik des Produzenten Chatterton), enthält einen Mehrwert von Bedeutung, weil es Teil eines großartigen Mosaiks ist. Jeder noch so unscheinbare Pergamentschnipsel, eine einfache prosaische Rechnung etwa, ist in Wahrheit ein nahezu „romantisches“ Stück: Es ist das dingliche Detail einer Geschichte, die bald romanhaft zu nennen ist. Denn sie ist nicht nur die Geschichte einer mittelalterlichen Welt, und das Mittelalterliche war das Romantische der Chatterton-Zeit. Diese Geschichte, von der hier die Rede ist, ist nur romantischer, weil sie die Intimversion einer Mittelaltergeschichte ist. Das Bild ihrer Zeit vermitteln Canynge und Rowley: indem sie ihre 158
––––––––––––––––––– Um aber Mißverständnissen vorzubeugen: Intrest ist von Taylor auf den 27. Oktober 1769 datiert worden, The Worlde auf den Zeitraum zwischen Dezember 1768 und Februar 1769 (The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 935). So ist Canynges Stimme kein Echo des Satirikers Chatterton, sondern der Satiriker Chatterton ist Echo der Stimme Canynges.
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eigene, persönliche Geschichte überliefern. Diese Historie ist aber die eines lebenslangen Zusammenwirkens – dessen Zweck ein produktiver Umgang mit dem Überlieferten und dem Überliefern war; davon gleich mehr. Jedenfalls machte ihr Zusammenwirken Rowley und Canynge zu mehr als zweckdienlichen Gesinnungsgenossen. Es machte sie zu Freunden. Die Geschichte, die Chattertons mittelalterliche Fragmente überliefern wollen, ist also die Geschichte einer vorbildlichen, mehr als nur finanziell gewinnbringenden Freundschaft – die trotzdem auch materiellen Gewinn mit sich brachte. Nur ist es gar nicht so einfach, diese höchst originelle Geschichte aus den Schnipseln herauszufinden, denen sie zerstreut eingeschrieben ist. Man muß sie sich selbst zusammenreimen, oder zusammenaddieren: Ausgangsmaterial des Rekonstruktionsakts ist schließlich eine Vielzahl von Dokumenten. Jedes von Chatterton produzierte Mittelalterfragment erzählt oder belegt seine angebliche Herkunftsgeschichte, die Geschichte des Zusammenwirkens Rowleys und Canynges, aus eigener Perspektive aufs neue – jedes von ihnen will dinglich verbürgen, daß Rowley und Canyge wirklich existierten, ihr fruchtbares Zusammenwirken wirklich geschahen. Als Mosaikstücke, die immer wieder eben dieses be-deuten, sind sich alle Dokumente grundsätzlich gleichwertig. Doch einige sind trotzdem insofern bedeutsamer, als von ihnen ausgehend das Gesamtmosaik in seinen großen Zügen zu überschauen ist. Einige Manuskripte setzen das Grobgerüst, das man durch die weiteren Kleindetail-Pergamente ergänzen muß: Diese tragendsten Mosaikbausteine sind Rowleys biographische, implizit autobiographische Manuskripte zu Canynge, jenem Freund und Mäzen, der nichts ohne seine „poetische rechte Hand“ tat. Chatterton ließ Rowley drei Biographien Canynges schreiben, zu unterschiedlichen Momenten und Anlässen in beider Leben. Da ist, in der Chronologie seiner erfundenen Geschichte zuerst, The Storie of Wyllyam Canynge.159 Diese Storie ist eine Lebensgeschichte in Form eines Gedichtes. Es ist ein Huldigungspoem Rowleys an seinen Freund und Mäzen; doch anders als die „Schmeichelei“ des Satirikers, für die Tervono bezahlte, ist die Canynge-Storie spürbar von Herzen geschrieben. In einer Rahmenhandlung liegt der Dichter-Mönch ruhend am Fluß Avon, und während sein Körper mehr und mehr in Trägheit versinkt, schwingt die davon befreite Seele sich hinauf, oder eigentlich zurück: Rowley versinkt im träumerischen Andenken alter, ihm vorzeitiger Helden. Doch beginnt die Rückbesinnung in fernster Vorvergangenheit, mit Ælla, jenem altsächsischen Feldherrn, dem Rowley ein Drama widmete, für das Canynge bezahlte,160 endet sie doch in der Gegenwart – und mit dem Zeitgenossen, der in 159
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––––––––––––––––––– In Chattertons Leben ist das Werk aber vermutlich die letztverfaßte Canynge-Biographie. Als Schlußteil der Dokumentkomposition Rowley’s Heraldic Account datiert Taylor es auf Dezember 1768 bis Februar 1769 (siehe ebd., S. 940). Die „richtige“ Werkbezeichnung lautet: Ælla: a Tragical Enterlude, or Discoorseynge Tragedie, wrotenn bie Thomas Rowelie; Plaiedd before Mastre Canynge, atte hys howse nempte the Rodde Lodge.
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seiner „Noblenesse“161 den Ruhm sämtlicher Vorhelden „aufkauft“: „A Canynge, who shall buie uppe all theyre Fame“.162 Andächtig huldigt Rowley dem Poesie fördernden Kaufmann, den er zu einem „modernen“ Helden verklärt, fast schon zu einer „romantischen“ Kultfigur. Denn dieser Mann ist am Ende auch noch eine Art Heiliger gewesen. Rowley erinnert die prägnanten Etappen dieser „Legende“ Canynge, und das heißt: seine bald schicksalhafte, frühkindliche Prägung zu dem Mann, der er einst sein würde – den Konflikt mit dem Kaufmannsvater – die unglückliche Liebe – die Wohltat der Errichtung St. Mary Redcliffes – die endgültige Selbstsakralisierung durch die Mönchswerdung. Denn ja: wenn Rowley Dichter-Mönch war, sollte Canynge zuletzt Kaufmanns-Mönch werden. – A Brief Account of William Cannings163 hingegen ist von Rowley in Prosa verfaßt. Deshalb ist es keine poetische Lebens-Storie, sondern ein prosaischer Lebens-Account: und (neuenglisch) „account“ ist mit „Bericht“, „RechenschaftsBericht“ oder auch mit „(Konto-)Abrechnung“ zu übersetzen. In seiner „Abrechnungsschrift“ summiert Rowley folglich nicht nur die legendären Lebenstaten Canynges. Noch eine zweite „kleinere“, doch unabdingbare „Addition“ ist im Abrechnungstext enthalten, ja insonderheit hervorgehoben: das Sich-Zusammentun Canynges mit Rowley. So ist dieser Biographietext am offenkundigsten auch als Autobiographie Rowleys zu lesen; das hauptsächliche Augenmerk liegt aber auf der Leidenschaft, die die Andersdenker verband und die der Knotenpunkt ihres in vielerlei Hinsicht gewinnbringenden Zusammenwirkens war: das Sammeln alter Pergamente. – Lyfe of W: Canynge – bie Rowlie ist schließlich das letzte und größte biographische Lebensmanuskript Rowleys zu Canynge, und in sich nochmals aus drei Gattungen von Dokumenten zusammengesetzt. In einer kurzen Präambel gibt Rowley zu verstehen, daß Canynge verstorben ist und er selbst am Alt- und Vergeßlichwerden. Diesmal durch Trauer und Gedächtnisverlust zum Schreiben motiviert, hat sich die Absicht des Biographen verschoben: Er will dem Mann nicht mehr voll dankbarer Andacht schmeicheln, der lebenslang sein Förderer und Freund war. Er will ihm ein pergamentenes Denkmal setzen. Er will erinnern, was Canynge vollbrachte. Entsprechend trocken liest sich der eigentliche Biographietext, der sich auf die Festmachung von Canynges historischen 161 162 163
––––––––––––––––––– Siehe Rowleys The Storie of Wyllyam Canynge, in: ebd., Bd. 1, S. 241-247, hier S. 244. Ebd. Der Brief Account of William Cannings stammt Taylor zufolge im zweiten Teil des Titels von Käufer Catcott: Chatterton hätte nicht auf „Neuenglisch“ „William Cannings“ geschrieben. Das Manuskript ist das erste Dokument, das Chatterton nach seiner Aufsehen erregt habenden Bridge Narrative der neugewonnen Käuferklientel Catcott und Barrett aushändigte. Taylor datiert die Entstehung des Accounts jedoch noch vor die der Bridge Narrative: auf den September 1768 (siehe ebd., Bd. 2, S. 840). So ist der Account eine der ersten Rowley-Schriften überhaupt – und für Chatterton selbst ebenso strukturtragend zur begonnenen Imagination seiner Rowley-Canynge-Welt gewesen, wie er es den Sammlern alles künftigen „Ergänzungsmaterials“ sein sollte.
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Lebenstaten in ihren Daten bemüht. Lebendig-intim lesen sich hingegen die Briefe, die Canynge an Rowley schrieb und die der Hinterbliebene gesammelt seinem Eingangsdokument anfügt. Noch persönlicher und unmittelbarer wird Canynge dem Entzifferer der Rowley-Manuskripte aber, als Rowley den Verlorenen zuletzt selbst zu Wort kommen läßt: Chatterton schrieb Canynges The Worlde, das Gedicht, in dem der Verfasser sich als Andersdenker und Kritiker seiner Merkantilwelt zu verstehen gibt, als Schlußteil des von Rowley zusammengestellten Erinnerungs-Dokumentgefüges Lyfe of W: Canynge. Um aber noch einmal auf dessen zweiten Teil zurückzukommen, die gesammelten Briefe: Hier liest sich die intime Lebensgeschichte Canynges und seines Freunds Rowley also als ein romantisch-mittelalterlicher und empfindsamer Briefroman. Dementsprechend sind es „gefühlige“ Lebensdetails, um die die Briefsammlung jenes Gesamtbild der Freundschafts- und Wirkungsgeschichte Rowleys und Canynges bereichert, das aus sämtlichen Mittelalterdokumenten zusammenzuaddieren ist. Und wenn Southey, Herausgeber der ersten Chatterton-Werkausgabe, 1803 diese notwendige Addition aller Mittelalterdokumente nicht unternahm, addierte er zumindest alle Briefe: Er fügte den gesammelten Briefen Canynges an Rowley noch die Briefe und Brieffragmente ein, die Chatterton im Namen Rowleys verfaßte.164 Konkret handelt es sich bei diesen Ergänzungen des mittelalterlichen Briefromanes um Four Letters on Warwyke, Abstracts of Letters und Three Rowley Letters.165 Mit diesen kommt aber wiederum eine „großhistorische“ Komponente ins Spiel – Canynges und Rowleys Beziehung zu den Rosenkriegen; außerdem Zusatzdetails, denkwürdige Werke der Freunde betreffend (ein aufgeführtes Schauspiel Rowleys; die unter Canynge gebaute Kathedrale St. Mary Redcliffe); und schließlich gewährt ein winziges pergamentenes Schriftfragment einen enorm interessanten Einblick: einen Blick auf das Aussehen Canynges. Allerdings „nur“ in Form einer verbalen Beschreibung. Doch während sich die Nachwelt Chattertons derart nach einem Gesichtsbild ihres Idols verzehrte, daß drei Fälscher die Welt nach und nach um drei „authentische“ Portraits bereicherten,166 eh Wallis dann das seine hinzutat, vergaß Chatterton selbst nicht, einem ähnlichen Bedürfnis bezüglich Canynges auch noch vorzubeugen. Vielleicht ist es als Hinweis darauf zu deuten, daß für ihn selbst nicht das Dichter-Alter Ego Thomas Rowley, sondern Wyllyam Canynge die denkwürdigere, faszinierendere, da unwahrscheinlichere und ersehntere Mittelalterfigur war. Nicht von Rowley jedenfalls, sondern von Canynge 164
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––––––––––––––––––– Von Southey aus seiner zentralen Position innerhalb von Lyfe of W: Canynge herausgelöst, findet sich die um sämtliche „sonstige“ Briefe aufgestockte Briefsammlung unter dem Titel Letters of Rowley and Canynge in: The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 316-346. Taylor zufolge entstanden sämtliche briefliche „Zusatzdokumente“ im Oktober und November 1768. Damit entstanden sie vor der Briefsammlung aus Lyfe of W: Canynge, doch bereits nach dem Brief Account of William Cannings (siehe The Complete Works of Thomas Rowley, Bd. 2, S. 887, 895 und 886). Siehe Holmes: Forging the Poet. Some Early Pictures of Thomas Chatterton.
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und seinen nächsten Familienmitgliedern fertigte Chatterton, pardon: Rowley, eigenhändig Portraitbildnisse an: „alte“ Zeichnungen, auf echtmittelalterlichem Pergament, der Büsten „of Wyllyame Canynge, Wm. Fadre, Roberte hys B[rother]., Isabelle hys Wyfe.“167 (Farbabb. 4) Wer diese Menschen waren, die Rowley/Chatterton portraitierte, das ist nun aber sehr bald zu erfahren. Denn das folgende ist das aus der Fülle aller Chatterton-Pergamente addierte Zusammenleben und -wirken Canynges und Rowleys. * Wer Thomas Rowley war, welcher Herkunft, wann geboren, steht nirgends geschrieben. Er ist die unabdingbare Figur im Hintergrund. Ohne ihn wäre nichts vom Nachstehenden überliefert worden – doch Auftraggeber, sowie Bezahler der Überlieferung war Canynge. So ist er die Hauptfigur der Geschichte, in der er von Beginn an im Vordergrund steht. Wyllyam Canynge wird 1402 geboren, und zwar als ein „Fate mark’d Babe“168. Wie im Falle Tervonos, zeigt sich auch im Kind Canynge der Mann, der dieses vom Schicksal gezeichnete „Babe“ einst sein wird. Nur ist Wyllyam zwar der zweite Sohn eines Kaufmanns. Trotzdem verspricht er gerade nicht, der exemplarische, nur an Geld interessierte Kaufmann zu werden. Seine erstaunliche Frühreife zeigt sich in Form eines frappierenden „connynge Wytte“169 („cunning wit“), eines „klugen“ oder „gerissenen Witzes“. Schon der kleine Wyllyam ißt „das Lernen“ wie „Kuchen“ „hinunter“, ist weise wie ein Ratsherr und mit zehn Jahren schon voll „wytte“ genug, um zum Bürgermeister zu taugen.170 Daß vom älteren Canynge Gedichte und Zeichnungen überliefert (also von Chatterton produziert) sind, verweist zudem auf eine poetische und künstlerische Neigung; und sie begründet seine Freundschaft zu Rowley. Diese entwickelt sich ab 1418, Canynges und so wohl auch Rowleys sechzehntem Lebensjahr, in dem beide gemeinsam auf die Schule gehen, bzw. von Mönchen unterrichtet werden. Rowley erinnert sich: „heere dyd begynne the kyndenesse of oure Lyves oure Myndes and Kyndes were alyche ande wee were alwaie togeyder.“171 – „Hier begann die Freundschaft unseres Lebens, unsere Gemüter und Seinsweisen waren sich gleich, und wir waren immer zusammen.“ * Trotzdem kündigt sich am Ende der Lehrzeit eine Trennung an, und was Canynge betrifft, ein Konflikt. Denn wie gesagt, Wyllyam ist Kaufmannssohn, und wenn nicht er, so ist sein Vater Tervono ähnlich: „He had a Fader (Jesus rest
167 168 169 170 171
––––––––––––––––––– Siehe den Eintrag Taylors zu „BMA, f. 38 (No. 41)“ unter den nicht von ihm gedruckten Chatterton-Werken, ebd., S. 786. The Storie of Wyllyam Canynge, S. 245. Lyfe of W: Cannynge, S. 228. The Storie of Wyllyam Canynge, S. 245 (Strophe 17). Lyfe of W: Canynge, S. 228.
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hys Soule) / Who loved Money as hys charie joie“172. Und weil der Vater selbst nichts als Geld liebt und anbetet, mag er außerdem nur noch seinen ältesten Sohn Roberte, der ihm in seinem Kaufmannswesen nachschlägt. Den zweiten Sohn Wyllyam, der Geld nicht zugeneigt ist, liebt der Vater nicht und vice versa; doch fest steht: auch der feingeistige Wyllyam ist vom Vater bestimmt zum Kaufmann. Was den Vater-Sohn-Konflikt endgültig zum Ausbruch bringt, ist nun die Liebe. Wyllyam ist (und bleibt lange) ein gutaussehender Mann: groß und stattlich, mit schwarzen Haaren und Augen, aber weißer Haut; beinahe frauenhaft zart („Wommanysh“) in seinen Zügen, stände ihm nicht zugleich soviel Edelmut im Antlitz, nicht soviel Zärtlichkeit, aber auch Stolz und Feuer in seinem Blick.173 Dieser recht unwiderstehliche junge Canynge beschließt nun auch, es sei Zeit, sich eine Frau zu suchen, „And use the Sexes as the purpose gevene“174. Die junge Frau, dem er „das Herz zum Bluten bringt“175, ist denn auch glücklicherweise rasch gefunden. Nur ist sie arm – zu einer vom Vater erwarteten Geldheirat nicht zu gebrauchen. Canynge heiratet trotzdem, aus Liebe.176 Zu etwa derselben Zeit wird Rowley Mönch und damit zum Beichtvater der Canynges; was annehmen läßt, daß er mit deren konfliktreichen Familienaffären vertraut war. Doch Intimitäten enthüllt der Dichter-Mönch in keiner seiner biographischen Schriften, sondern nur die natürliche Auflösung der Spannungen: um 1424177 ist es so weit, und der Vater verkündet: „I must nowe paie mie det.“178 Womit er die Zahlung der letzten Rechnung meint und damit meint, er muß sterben. Er tut es, und auch Roberte Canynge, des Vaters Lieblingssohn, stirbt. Und Wyllyam findet sich als Erbe eines unnennbaren Vermögens wieder (sein Vater nannte sich selbst den reichsten Mann des Königreiches); denn der jüngere Bruder Johne ist zweitrangig und obliegt nun seiner Vormundschaft. Wyllyam freut sich darüber nicht; denn Johne ist ein Tunichtgut. Was aber das 172 173
174 175 176
177 178
––––––––––––––––––– The Storie of Wyllyam Canynge, S. 246. Siehe die Originalbeschreibung des bereits Vater gewordenen Canynge (dessen Söhne nach ihm geraten) in Abstracts from Letters, in: The Complete Works of Thomas Chatterton, S. 124135, hier S. 134. The Storie of Wyllyam Canynge, S. 245. Siehe ebd., S. 246. Und hier besteht die einzige Uneinhelligkeit zwischen den Biographieversionen: Während in Lyfe of W: Canynge die verbotene Hochzeit unmittelbar nach dem nun folgenden Tod des Vaters stattfindet, kommen in der Storie of Wyllyam Canynge der Protagonist und seine Geliebte bereits davor zusammen (wobei von Hochzeit nicht ausdrücklich die Rede ist). Taylor vermutet, Chatterton habe in der später geschriebenen Storie durch die Rückdatierung der Hochzeit die drei Söhne legitimieren wollen, die Canynge am Ende seines Lebens als seine Erben aufweist – obwohl seine Frau, wiederum in Lyfe..., schon ein Jahr nach der Hochzeit im Kindbett stirbt (siehe The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 935). Eingedenk kleiner Abweichungen müßte der Vater 1424 oder 1425, oder erst 1430 gestorben sein. Lyfe of W: Canynge, S. 229.
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Geld betrifft, das er nie insonderheit liebte, fürchtet er in „zu viel Reichtümern einen ebenso bitteren Fluch wie in zu wenigen.“179 Doch nicht genug damit, daß Wyllyam in seinem Erbe mehr einen Fluch als einen Segen findet. Im Folgejahr ereilt ihn ein weit härterer Schicksalsschlag. Seine geliebte Frau stirbt im Kindbett. – Doch damit wird ein neuer Canynge geboren; oder damit hat Canynge die ihm vorbestimmte Rolle endlich gefunden. * Nachdem Canynge mit seiner Frau der Inhalt seines Lebens genommen ist, beginnt er seine Existenz in anderes als die Liebe zu investieren: und er entdeckt die gute Seite des Reichtums, die damit verbundene Macht. Und Canynge, der gerissene Feingeist und Intellektuelle, wird diese Macht nicht für sich, sondern zum Wohle Bedürftiger sowie zum Allgemeinwohl seiner Stadt und seines Landes nutzen – und erst darüber, implizit, auch zum Privatwohl seiner selbst. Um also als Förderer zu agieren, folgt Canynge nicht seinen dichterischen und künstlerischen Neigungen. Wie es sich jetzt zeigt, prädestinierte Canynges Grundeigenschaft, sein schon das Kind auszeichnender „gerissener Witz“ („connynge Wytte“180) ihn zum scharfsinnigen Investor in Wissenschaft und Künste: Canynge enthüllt sich als der geborene Berechner von Wohltaten, die der Welt sofort und auf lange Sicht nützlich und gewinnbringend sind. So ist es bezeichnend, daß Canynge, der gerissene Handelsmann und Liebhaber der Dichtung und schönen Künste, einerseits als Förderer seines jüngeren Bruders auftritt, den er zum Kaufmann ausbildet – während er auf der anderen Seite den Dichter Rowley unterstützt. Beide Investitionen seines Geldes, seiner Macht und seiner Liebesmühe sollen sich für Canynge auszahlen; der erfolgreiche Bruder schafft es 1457 bis zum Londoner Bürgermeister; Rowleys Verdienst aber erliest sich aus der Summe der Manuskripte und Zeichnungen, die explizit Canynges und implizit Rowleys Leistungen dokumentieren. So erfährt man überhaupt nur aus diesen pergamentenen Reststücken des gemeinsamen Wirkens auch von Canynges eigener Karriere, von seinem fünfmaligen Amt des Bristoler Bürgermeisters und seiner Erhebung in den Adelsstand. Dieser fast schwindelerregende Aufstieg ist aber eben daraus zu erklären, daß Canynge als Erneuerer auftritt. Sein Großprojekt ist es, mit bis dato ungewöhnlichen Mitteln den Handel, darüber aber den Ruhm der Stadt Bristol zu fördern. Eine Elitegruppe von ausgewählten Männern, die alle mit „cleere“ oder „counynge Wytte“ begabt sind, soll sich dem Studium der alten, vergessenen Ideen widmen – die jedoch noch in Form alter Zeichnungen und Manuskripte, teils in sächsi179 180
––––––––––––––––––– Siehe ebd., S. 230. Ebd., S. 228. Auffallend ist übrigens, daß der historische Name, den Chatterton zu seiner Figur ausbaute, sich „Canynges“ schrieb. Warum Chatterton hartnäckig das „s“ am Ende verweigerte, ist bislang nie hinterfragt worden. Doch wäre immerhin zu überlegen, ob Chatterton nicht eine Klangähnlichkeit zwischen der Grundeigenschaft und dem Namen ihres Eigners, zwischen „connyge“ und „Canynge“, erzeugen wollte?
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scher Sprache verfaßt, überliefert und aufzuspüren sind. Denn diese alten Ideen sollen als Anregungen, als Inspirationsquellen zu eigenen Neuerungen genutzt werden.181 Und damit kommt Jugendfreund Rowley ins Spiel – doch vorerst noch nicht als Dichter. * Da Rowley dank der Fürbitte Wyllyam Canynges von dessen älterem Bruder Roberte „one Hundred Markes“ geerbt hat, sucht der Mönch den zum Mäzen gewordenen Jugendfreund auf, um ihm zu danken. Bei der Gelegenheit bittet Canynge den Danksager im Gegenzug um eine Gegenleistung; doch nicht um die Wallfahrt nach Rom, die Rowley zuerst annimmt. „Wallfahrten“ soll Rowley trotzdem, nur auf andere Weise: Er soll sich auf den Weg zu diversen Abteien machen – auf der Suche nach altehrwürdigen Pergamenten, mit Kirchenbauplänen. Für jeden Preis soll Rowley solche Zeichnungen erwerben und sammeln, sind die es wert (was zu erkennen Canynge dem gelehrten Freund selbstredend zutraut).182 Es ist der Beginn von dem, was ein Kommentartext in Southeys Ausgabe der Chatterton-Werke „a cabinet of curiosities“183 nennt. Nur darf man sich dieses „Kuriositätenkabinett“ nicht als einen Raum mit allen möglichen kuriosen Objekten vorstellen. Die kuriosen Objekte, die Rowley für Canynge aufspürt und aufkauft, sind ausnahmslos alte Pergamente, geschriebene und gezeichnete „Kuriositäten“. Ihr „Kabinett“ oder Aufbewahrungsort ist aber eine, allerdings nicht unbekannte, Truhe: „Canynge’s cofre“. Worin Chatterton angeblich seine Rowley-„Originale“ fand. – Dieses ist also nicht nur die Gründungsgeschichte der Kuriositätensammlung, die Canynge bei Rowley in Auftrag gab, um im Rückgriff auf den Schatz des alten Ideengutes die gegenwärtige Welt zu erneuern und zu verbessern. Diese Gründungsgeschichte wird von Rowley in seinem Brief Account of William Cannings erzählt – im ersten „mittelalterlichen Fundstück“, das Chatterton nach seiner Bridge Narrative den neugefundenen „Mäzenen“ Catcott und Barrett vorlegte.184 – So sollte das, was dieses Manuskript enthält, wohl noch zu einer zweiten Gründungsgeschichte werden: zum Grundstein der Sammlung von alten Dokumenten, die Chatterton an Catcott & Co. zu verkaufen hoffte – und bei denen es sich „zufällig“ um Canynges und Rowleys schon für sie historisches „Kuriositätenkabinett“ handelt…. Und warum sollten Catcott & Co., die Vertreter einer modernen merkantil korrumpierten Welt, sich nicht ihrerseits von 181
182 183 184
––––––––––––––––––– Wie Canynge dieses Programm entfaltete, und sogleich in einem lateinisch verfaßten Manuskript fixieren ließ, erzählt er Rowley in einem Brief von 1432, enthalten in der Briefsammlung in Lyfe of W: Canynge, S. 230-231. Dieser Geschichte und ihren Folgen gilt A Brief Account of William Cannings, in: The Complete Works of Thomas Chatterton, S. 51-56, hier S. 51. Siehe The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 74. Siehe noch einmal Taylors Kommentar in: The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 840.
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den Reststücken einer guten alten Zeit dazu inspirieren lassen, etwas an ihrer eigenen Gegenwart zu verbessern? – Sie müßten nur, mit Chatterton gemeinsam, dem Vorbild Canynges und Rowleys folgen, und dann… Doch weiter im Text: Rowley wird also in der Tat fündig an kostbaren alten Zeichnungen (wie Chatterton angeblich gut dreihundertfünfzig Jahre später an sämtlichen gesammelten Dokumenten aus „Canynges cofre“). Auch sammelt er, Rowley, nebenher noch mehr: nämlich die Geschichten der Zeichnungen, d.h. die Lebensgeschichten ihrer Macher (so wie Chatterton seinerseits mit seinen „mittelalterlichen Fundstücken“ das Leben ihrer Urheber Rowley und Canynge „mitsammeln“ läßt). Die Anfertiger von Rowleys Fundstücken sind nämlich nicht nur interessant, weil sie sich in ihren Werken als „mickle counynge Menne“185 bewiesen (als „sehr gerissene Männer“; ein Kompliment, das auf den eigentlichen Fälscher-Produzenten der „alten Originale“, Chatterton, treffend zurückfällt). Höchst bemerkenswert war auch das, was die gerissenen Zeichner erst zur Ausübung ihres Talentes getrieben hatte: eine Reihe romanhaft-bewegender, skandalträchtiger, teils inzestuöser Geschichten – die auf eine Rückbesinnung der durch wohl ihre Gesellschaft mental Degradierten und auf ihre Mönchswerdung hinausliefen. (Und auch Manuskriptproduzent Rowley ist Mönch; und Canynges Lebensgeschichte soll sich allzu bald zur Geschichte eines Niedergangs und der Mönchswerdung entwickeln…) Um jedoch ausschließlich auf Rowley, den Dichter-Mönch selber zurückzukommen: Dieser legt als Sammler, der wenig Geld für hochwertige Pergamente ausgibt, nicht weniger gerissenen Witz an den Tag als die Produzenten seiner wohlfeil erstandenen Objekte. Canynge sieht es, bewundert es – und zeigt sich dafür höchst erkenntlich. Er gibt Rowley das Wertvollste, was er ihm geben kann: ein Versprechen. Und dieses soll nicht nur Rowley, sondern darüber wiederum Canynge, darüber hinaus aber wiederum beider Welt auf lange Sicht gewinnbringend sein. Vielleicht weil dieses Versprechen so wichtig ist, liest es sich im Vergleich zu manch anderen mittelalterlichen Rowley-Sätzen wie Klartext: Master William did say to me, Fadre you have done mickle well, all the Chattils are more worth than you gave, take this for your paines, so saying, hee did put into my Handes a Purse of twoe Hundred goode Poundes, and did saie that I shulde notte be in nede.186
Trotzdem auf Neudeutsch resümiert, erhält Rowley von Canynge nebst 200 guten Pfund und im Gegenzug dafür, daß er weit weniger für seine Erwerbschaften ausgab als diese teuren Pergamente Wert waren, das Versprechen: er werde nicht bedürftig sein. Canynge verspricht Rowley, ihn zu bewahren vor Verarmung und Ruin. Denn dieses Übel droht also auch schon dem mittelalterlichen Dichter: weil schon dessen Welt merkantilisiert ist. Und das heißt: Schon die mittelalterliche 185 186
––––––––––––––––––– A Brief Account of William Cannings, S. 52. Ebd., S. 53.
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Welt ist degradiert, bedroht von einem Ruin zumindest im moralischen Sinne. Auch wird diese ruinöse Welt ihr Gesicht bald deutlicher zeigen, im Zusammenhang mit den Rosenkriegen. Doch dies als Vorwarnung nur vorneweg. Denn noch ist es die Zeit des Aufstiegs, der Blüte – die Zeit einer Welt, die (noch) von einem Canynge verbessert sein will. * Denn Canynge hält sein Versprechen der kontinuierlichen Förderung Rowleys, zu Rowleys Wohl, zum eigenen Wohl und zum Wohl beider Welt. Stellt die gemeinsame Sammleraktivität die eine Grundsäule der gewinnbringenden Freundschaft Canynges und Rowleys dar, ist die andere Grundfeste nun auch bald gegeben: Rowley soll nicht mehr nur alte Manuskripte sammeln, er soll neue produzieren. Canynge wird zum Mäzen des Dichters Rowley. Das „Ding“, das Mäzen und Dichter wiederum am engsten verbindet, ist aber St. Mary Redcliffe. Wenn Canynge Rowley damit beauftragte, speziell alte Kirchenbauzeichnungen zu sammeln, so war St. Mary Redcliffe sein konkreter Hintergedanke dabei gewesen. Zu den Wohltaten, die er seiner Welt tut, zählt die Errichtung verschiedener Institutionen und Versammlungsräume sowie mehrerer Kirchen; doch nichts reicht heran an die Erbauung von St. Mary Redcliffe. Diese Kathedrale ist das Großmonument, das der Wohltäter Canynge, ob bewußt oder unbewußt, sich selber setzte; und implizit ist die Kathedrale auch das Denkmal Rowleys, Canynges rechter Hand. Auch ist Rowley durch mehr als das Auffinden der Zeichnungen, die zum Bau St. Marys führten, an deren Entstehung beteiligt. Zur Grundsteinlegung 1431 (oder 1432) gibt Canynge beim DichterMönch ein „Entyrlude“ in Auftrag, zur Weihe der vollendeten Kathedrale anno 1443 ein zweites dieser musikalisch begleiteten Schauspiele.187 Für beide erfolgreich aufgeführten Werke, die Rowley wie Canynge Ruhm einbrachten, wird der Dichter-Mönch reichlich entlohnt: sowohl in geldlicher Hinsicht; wie auch durch die begeisterte Anerkennung seines an Kunstsinn wie materiellem Gut so ausnahme-reichen Freundes. So profitieren beide, Rowley und Canynge, voneinander, in einem fortwährenden gewinnbringenden Austausch. Denn während Canynge, dank Rowleys Mithilfe, Karriere macht als fünfmaliger Bürgermeister von Bristol, widmet „sein“ Dichter Rowley sich und seine Werke dem Gönner von Herzen, wofür er stets gebührend entlohnt wird. Da Rowley darüber aber so wohlhabend wird, 187
––––––––––––––––––– Das zweite Schauspiel schrieb Rowley mit einem befreundeten Dichter, wie der Titel des „Feststücks“ es konstatiert: „An Entyrlude, Plaied bie the Carmelyte Freeres at Mastre Canynges hys greete Howse, before Mastre Canynges and Byshoppe Carpenterre, on dedycatynge the Chyrche of Oure Ladie of Redclefte–hight, The Parlyamente of Sprytes. Wroten bie T. Rowleie and J. Iscam“. Chatterton fertigte dieses Schauspiel als eigenes Dokument an; es ist nicht eingefügt in eines der biographischen Canynge-Manuskripte. Doch liest man in diesen davon, daß Rowley das besagten Entyrlude geschrieben habe, das Chatterton „zufällig“ auch wirklich in Manuskriptform „fand“. So steigern die Biographietexte, die übrigens allen Dichtungen Rowleys eine Geburtsstunde geben, deren Authentizität, während die Dichtungen umgekehrt die Echtheit der Biographietexte belegen.
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daß er gar nicht mehr unaufhörlich um sein Brot schreiben muß, fällt ihm in einer Mußestunde etwas anderes wieder ein. Im Zuge seiner Sammlung von Kirchenbauzeichnungen war er auch auf sächsische Manuskripte gestoßen. Er hatte die Schriftstücke nicht erworben, da es nicht seinem Auftrag entsprach. Doch nun, wo er Zeit hat, die er nicht müßig verschwenden will, beginnt Rowley, die sächsischen Manuskripte für Canynges Sammlung aufzukaufen und zu übersetzen: And now havynge nete to doe and not wyllynge to be ydle I went to the Minster of our Ladie and Saincte Godwyn, and there did purchase the Saxon Manuscript, and sette Myself diligentlie to translate and worde in Englishe Metre, which in one yere I perform’d [...].188
Dies ist der Beginn der Erweiterung von Canynges „Kuriositätenkabinett“, das mit einer Sammlung von Kirchenbauzeichnungen als Inspirationsquellen für St. Mary Redcliffe begann, um sich, dem Impuls Rowleys folgend, sächsischen Manuskripten zuzuwenden. Und diese neue Rückbesinnung auf Dokumente, die etwa die „Bloudie Battle of Hastynges“189 erzählen, erfolgt nicht mehr aus der Intention heraus, die eigene Welt durch die Inspiration an alten Ideen zu erneuern. Die Beschäftigung mit dieser älteren, durchaus kriegerischen, die freilich ihre bewundernswürdigen Helden hatte, wie den Feldherren Ælla, ist nicht mehr aus der Absicht einer unmittelbaren Fruchtbarmachung für die Gegenwart zu erklären. Diese neue, veränderte Vertiefung ins Alte entspricht einem gewandelten Charakter der Manuskriptsammlung. Der Blick zurück in sächsische Zeiten dient nicht mehr der Findung einer die Welt verbessernden Stoßrichtung nach vorn; wichtiger ist der nostalgische Rückzug aus einer Gegenwart geworden – die nicht mehr durch Canynge und Rowley verbessert werden will. * Auf dem Höhepunkt ihrer wechselseitig getragenen Aufsteigergeschichten ziehen dunkle Wolken auf, die Rowley und Canynge mit einem Abstieg drohen, oder zumindest das Wankende ihrer Positionen vergegenwärtigen. Was Rowley betrifft, erfährt er die neue Gefährdung am eigenen Leib, im Zuge seines neuen Interesses an alten Schriftstücken. Denn nicht alles, was irgendwo dokumentarisch bewahrt ist, will wiederausgegraben und erinnert sein. So stößt der Sammler auf Dokumente, die unschöne Details über Stammväter von Familien enthüllen, welche folglich nicht gewillt sind, ihrem Status durch Vergangenes und Vergessenes zu schaden. Das Umgekehrte ist freilich mehr als erwünscht. In seinem Gedicht-Brief an den ehrwürdigen Meister Canynge, den anderen „Andersdenker“, kritisiert Rowley die Obsession seiner kaufmännischen Gesellschaft durch ihr zweckrationales „historisches“ Interesse an alten Manuskripten – die prestige-erhöhende Vorgeschichten adeliger Familienurahnen ent188 189
––––––––––––––––––– A Brief Account of William Cannings, S. 54. Ebd.
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halten.190 Doch da einige Pergamente, die Rowley aufstöberte, das Gegenteil enthalten, wären sie allzu gefährlich für manchen zeitgenössischen Geld- und Machthaber. Und so ist es der unliebsame Aufstöberer selbst, der sich unversehens gefährdet sieht. Rowley schreibt Canynge von der Geschichte zwar so, als ob sie komisch gewesen wäre. Doch ganz geheuer war ihm wohl nicht, als er erfuhr, daß ein reicher Kaufmann, angefeuert von seiner in ihrem Familienruf bedrohten Gattin, Manuskripte aus deren Erbschaft verbrannte. Und noch heißer mag ihm in seiner Haut geworden sein, als der Mann ihm selbst, dem Unruhestifter, mit leibhaftiger Verbrennung drohte.191 * Canynge hält den Freund, sowohl was das Finden prekärer Manuskripte betrifft, wie auch bezüglich der gefährlich-kritischen Schriften, die Rowley nun schreibt, zur Geheimhaltung an.192 Daraus spricht nicht nur die Vernunft einer tendenziell verbitterten Weltkenntnis. Außerdem weiß Canynge um den eigenen Machtverlust. Nicht unter allen Umständen könnte er seinen Rowley noch schützen – wo er sich selbst nicht unter allen Umständen schützen könnte. Das mußte Canynge in der jüngsten Vergangenheit der Rosenkriege erfahren. Damals hatte Warwick (der dann bald verratene und ermordete Unterstützer des künftigen Königs Edward) sich an Canynge als den Bürgermeister von Bristol gewandt: Canynge sollte Edward von York zum König Englands proklamieren. Dieser Aufforderung zur Unterstützung Edwards war Canynge allerdings nur finanziell nachgekommen, nicht unter Einsatz von Liebesmühe. Einen Grund dafür (es war nicht der einzige) hatte der Bürgermeister nicht Warwick, aber Freund Rowley gestanden: butte to mee the issue maie be Death. Mie Brederen of the Councille doe notte bethynke me a Manne to advyse them bicaus I wulde not have them doe meane thynges for Gayne; therefore mie Wordes wylle not availe for where reveraunce is wanteinge advyce is nought.193
Wäre Canynge der Aufforderung Warwicks gefolgt, hätte er womöglich den Tod gefunden. Er wäre womöglich gemeuchelt worden, hätte sein Einsatz für Edward den Bristoler Ratsherrn und Kaufleuten nicht in den Geschäftskram gepaßt. Da er diesen das „Verrichten niederer Dinge zum Zweck des Gewinns“ unterbunden hatte, hatte er ohnehin ihren Respekt und ihre Verehrung („reveraunce“) verloren, damit aber auch seinen Kredit und Einfluß als Ratgeber. – Doch gänzlich entmachtet ist Canynge noch nicht – solange er noch Geld hat.
190 191 192 193
––––––––––––––––––– Siehe Letter to the Dynge Master Canynge. Siehe A Brief Account of William Cannings, S. 54-55. Siehe ebd. Four Letters on Warwyke, in: The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 1, S. 121124, hier S. 121.
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* Trotzdem – Canynge, der mißachtete Wohltäter, zieht sich aus der Welt zurück. Zumindest zu einem gewissen Grad, und bedingt durch eine Krise, die ihm noch bedrohlicher ist als die Wirrnisse der Rosenkriege es waren. Allerdings geht das erneute Bedrohliche aus diesen noch ganz frischvergangenen Umwälzungen hervor. Denn König Edward, den Canynge mit Geld unterstützte und der als Gewinner aus den Rosenkriegen hervorging, sieht das Ausweichende an diesem nur materiellen Einsatz nicht und hat folglich seinen Narren am reichen Canynge gefressen. In der Tat entwickelt sich die Beziehung zwischen König und Canynge zu einem Gegenverhältnis der Verbindung Canynges und Rowleys: Die Geschichte zwischen König und Kaufmann ist die eines Austauschs, der nicht Gewinn, sondern Unheil bringt. Edwards Idee ist es nämlich, Canynge im Gegenzug für sein gegebenes Geld etwas zurückzugeben – etwas, das den reichen Günstling nur unentrinnbarer an den „freundlichen“ König binden würde. Nur soll Edwards Rechnung nicht aufgehen. Denn Canynge, in diesem Jahr 1467 fünfundsechzig Jahre alt, will die Frau nicht, die er noch niemals gesehen hat – entstammt sie auch der Sippschaft des Königs. Canynge bittet Edward dringlich, auf seine ungewollte „Entlohnung“ zu verzichten; doch der lehnt ab. Da schreibt Wyllyam dem wahren Freund: Rowley. Vielleicht war es überhaupt der Gedanke an diese stete Stütze seines Lebens, der Canynge zu seiner verzweifelten Fluchtidee inspirierte. Diese Idee ist jedenfalls die: selber zum Mönch zu werden. Mönche sind nicht zur Heirat zu zwingen. Einmal mehr ist es Rowley, der als Canynges rechte Hand dessen Projekt in die Tat umsetzt: Einmal mehr erfolgreich arrangiert Rowley in aller Heimlichkeit und Eile Canynges Mönchsweihung, die in der Nacht des 17. September 1467 erfolgt (eine mittelalterliche Urkunde Chattertons belegt es). Und das ist vielleicht die größte Gegengabe, die Rowley dem Mann entgegenbringt, der ihm einst versprach, ihn vor Bedürftigkeit und Ruin zu bewahren. Die ungewollte Heirat und unheilvolle Bindung an Edward wäre Canynge der Ruin seines Lebens gewesen. Was aber den wutentbrannten königlichen Möchtegernfreund betrifft, dem es nicht gelang, aus merkantiler Berechnung den reichen Canynge an sich zu binden, verhält er sich am Ende ganz so, wie vom wahren „Kaufmanns-König“ zu erwarten: der dreitausend Pfund eingedenk, die der noch immer reiche Mönch Canynge ihm auszahlt, ist Edward bereit zu verzeihen. * Obwohl Canynge sich durch sein Gelübde ein Stück weit aus der Merkantilwelt zurückzog, die ihn mittlerweile ebenso wenig respektiert wie er sie, verliert er also doch niemals ganz den Kontakt nach „draußen“. Canynge wird, allen Enttäuschungen und Rückzugstendenzen zum Trotz, immer auch an den Königshof, an die Welt der Aktiven, an sein erstes selbstauferlegtes „Gelübde“ gebunden bleiben: die Weltverbesserung durch Wohltaten. So startet er eine zwei-
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te, geistliche Karriere. Er wird Sub-Diakon, Diakon, Priester (wie aus von Chatterton produzierten Dokumenten ersichtlich), schließlich, schon am 16. April 1468, Dekan der Kollegiatenkirche von Westbury. Für Canynge typisch, beginnt der Wohltäter sofort, seinen neuen Wirkungsraum architektonisch zu sanieren und auszubauen. Doch da er sich trotzdem in seiner Welt nicht mehr wohl fühlt, verlangt es ihn nach Rowley. I bee now shutte uppe ynne mie College of Westburie comme mie Rowlie ande lette us dyspende owre remeyneynge yeares togyder: hailiness ys no where to bee founde. Societye havethe Pleasures Eremittage havethe Pleasures botte Contente alleyne canne dysperple Payne. Wm. Canynge194 Ich bin eingesperrt in mein Kolleg von Westbury, komm, mein Rowley, und laß uns unsere verbleibenden Jahre miteinander verbringen: Glück ist nirgends zu finden. Gesellschaft gibt Vergnügen, Einsiedlerei gibt Vergnügen, aber Zufriedenheit allein kann Schmerz zerstreuen. Wm. Canynge
Trotz des Anrührenden dieses Freundesrufes muß Rowley Abstand davon nehmen, ihm unmittelbar zu folgen. Sich alt und krank fühlend, verzichtet er zunächst auf einen Umzug aus seinem Zuhause. Er macht erst noch mit dem Kauf eines ruinierten, doch qualitativ hochwertigen alten Hauses ein gutes Geschäft,195 ehe er dann doch zu Canynge zieht. „[W]hythe hym I lyved at Westburie Sixe Yeeres beefore he died and bee nowe hasteynge to the Grave mieselfe.“196 „[M]it ihm lebte ich sechs Jahre lang in Westbury, bevor er starb, und bin nun selbst zum Grabe hastend.“ So enthüllt der Verfasser von Lyfe of W: Canynge nach dem Tod des Freundes anno 1474; und damit enthüllt Rowley nur in diesem, seinem letztproduzierten Biographie- und Autobiographie-Dokument, das traurig-schöne Ende des innigen und gewinnbringenden Zusammenwirkens des Dichter- und des Kaufmannsmönches – der beiden Andersdenker in einer Mittelalterwelt, die zuletzt zu merkantil geworden war, um sie noch zu schätzen zu wissen. – Dabei waren der dichterisch begabte Kaufmann und der kaufmännisch begabte Dichter selbst merkantil genug geprägt gewesen, um ihre lebenslange Geschichte eines erfolgreichen Austauschs – die es trotz des wehmuts- und resignationsgeschwängerten Endes im Ganzen doch war – aus eben dieser Prägung heraus zu gestalten…
194 195 196
––––––––––––––––––– Lyfe of W: Canynge, S. 233. Siehe zu diesem Geschäft A Brief Account of William Canning, S. 55-56. Lyfe of W: Canynge, S. 233.
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4 Kuriositäten und Reliquien in Chattertons Welt Was wollte Chatterton den Käufern seiner „mittelalterlichen Kuriositäten mit dieser Geschichte unterjubeln, die die Fragmente enthalten und die man sich daraus zusammenaddieren muß? – Ehe diese Frage zu beantworten ist, sollte man auf das zurückblicken, was vor Chattertons Rowley-Manuskripten an „Altertümern“ durch England kursierte. Wenn Chatterton seiner Welt die Rowley„Kuriositäten“ verkaufen wollte, wußte er nämlich, daß eine Nachfrage nach solchen Dingen bestand. Diese Nachfrage war von mehr als einem „AltertumsFälscher“ vor ihm befriedigt oder im Gegenteil erst recht geschürt worden:197 begonnen mit James Macpherson, dem „Übersetzer“ der Works of Ossian (1765). „They are, if genuine, one of the greatest curiosities in all respects that ever was discovered in the commonwealth of letters.“198 So schrieb David Hume in einem Brief vom 19. September 1763 zu den Gedichten Ossians, die als gesammelte Works of Ossian zwar erst 1765 erscheinen sollten, in Einzelwerken jedoch schon eher publiziert worden waren (Fingal etwa 1762, Temora 1763). „Publiziert“ ist nun aber auch das rechte Stichwort, den ersten Unterschied zu Chattertons Rowley-Manuskripten von 1768-1770 festzumachen: Wenn auch Macpherson/Ossians „alte Gedichte“ unter der Rubrik der „curiosities“ verordnet wurden, erhielten sie diese Bezeichnung nicht als Dinge, nicht als Manuskripte. Nearly half a century has elapsed since the publication of the poems ascribed to Ossian, which poems he then professed to have collected in the original Gaelic, during a tour through the Western Highlands and Isles; but a doubt of their authenticity nevertheless obtained, and from their first appearance to this day has continued in various degrees to agitate the literary world.199
So steht es im Vorwort einer Ausgabe der Ossian-Gedichte von 1825. Noch immer ist ein „Zweifel an der Authentizität“ der „alten“ Werke vorhanden: weil noch immer kein manifester Beweis dafür vorliegt, und niemals vorliegen sollte. So steht es heute außer Frage, daß Macpherson die Ossian-Gedichte „gefälscht“, also gedichtet hat. Auch außer Frage steht ihr einschlagender Erfolg nicht nur in England, sondern in der Epoche der europäischen Empfindsamkeit und Vorromantik: Werther liest Lotte nicht zufällig aus Ossian vor, ehe es zum fatalen Kuß kommt. Denn Macphersons Erfolgsrezept bestand darin, seine Zeit 197
198 199
––––––––––––––––––– Schon Croft erinnert 1780 in Love and Madness, S. 125-126, an die Vorgeschichte der RowleyManuskripte, die „Fälschungen-Mode“ der Zeit, der ja auch Walpole frönte; und: „That Chatterton had Walpole and Ossian in some measure present to his mind, is manifest from his fixing upon the same person (Mr. W.[alpole]) to introduce Rowley to the world, whom Macpherson chose for Ossian.“ (Ebd, S. 126.) Hume: Brief an Dr. Blair, zit. n.: [o. N.]: A Preliminary Discourse in: The Poems of Ossian, 5-31, hier S. 8. A Preliminary Discourse in: The Poems of Ossian, S. 5-31, hier S. 5.
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mit dem zu bedienen, nach dem es sie verlangte: In Ossians Gedichten sind die Anmutung eines verlorenen Alten, Ursprünglichen, Natürlich-Einfachen und Unkorrumpierten mit dem Pathetisch-Sentimentalen eines Zeitgeschmackes vereint, der, im Gegenzug zur Rationalisierung einer „aufgeklärten“ und sich industrialisierenden Gesellschaft, nach großen, entfesselten Gefühlen verlangte. Diese Verbindung gab den Gedichten Ossians ihr zutiefst und peinvoll Anrührendes, Aufwühlendes – ihr „Romantisches“, wenn man „romantisch“ im noch nicht epochalen Sinne verwendet.200 Eingedenk des durchschlagenden Erfolges, der den Ossian-Poesien bestimmt war, erscheint es allerdings merkwürdig, von einer Besorgnis zu lesen, die Hume 1763 hegte. Er befürchtete, Ossians als Fälschung verdächtigtes Werk werde fallengelassen und in einigen Jahren vergessen sein, sollte Macpherson die Authentizität der alten Gedichte nicht ein für allemal beweisen.201 Er selbst macht zwei Vorschläge dafür, wie der Beweis zu erbringen sein könnte. Da Macpherson behauptete, er habe Ossians Gedichte auf einer Reise durch das urtümliche Schottland gesammelt, nämlich aufgeschrieben, was bislang oral tradiert worden war und was man ihm selbst mündlich vorgetragen habe, soll eine Expedition in besagte Region überprüfen, was von Ossians Gedichten von der schottischen Bevölkerung wiedererkannt werde. Weil aber zahlreiche Ungläubige grundsätzlich an einer oralen Überlieferung so „uralt-schöner“ Gedichte zweifelten, hatte Macpherson noch eine zweite Quelle seines Sammelguts angegeben: Macpherson pretends there is an ancient manuscript of part of Fingal in the family, I think, of Clanronald. Get that fact ascertained by more than one person of credit; let these persons be acquainted with the Gaelic; let them compare the original and the translation; and let them testify the fidelity of the latter.202
Hume will die Authentizität der Gedichte Ossians auch dinglich belegt haben: in Vorlage eines alten Manuskriptes. Wobei das Vorhandensein eines gälischen Schriftstücks freilich nicht ausreichend wäre ohne den Zirkel der Fachkundigen, die den Text ihrerseits ins Englische übersetzen müßten, um zu überprüfen, ob es sich wirklich mit Macphersons Ossian-Übersetzungen übereinstimmen würde. Da Macpherson niemals ein solches Originalmanuskript produzieren konnte, blieb er als Fälscher verdächtigt – doch war es dem Ruhm der Poesien Ossians, wie gesagt, dann doch nicht zum Nachteil. 200
201 202
––––––––––––––––––– Siehe das Eingangskapitel „‚Romantisch’ – ein Annäherungsversuch“ in Praz: Liebe, Tod und Teufel, S. 27-43. Der Verfasser verortet das Aufkommen eines Adjektives „romantic“ im England des späten 18. Jahrhunderts, wo es in Abgrenzung von „picturesque“ verwendet wurde und nicht mehr nur den Charakter einer Natur-Szenerie beschrieb, sondern die durch deren „Betrachtung hervorgerufene Gemütsbewegung“ (ebd., S. 39). Aus England fließt dieser Begriff des „Romantischen“ in den europäischen Sprachraum ein. Siehe Humes Brief zit. n. A Preliminary Discourse, S. 6. Ebd., S. 7.
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* Macphersons Werke Ossians waren schon 1765 derart berühmt geworden, daß Thomas Percy indirekt davon profitieren wollte, indem er ein Gegenwerk publizierte: die Reliques of Ancient Poetry. Mit diesem Buch kritisiert Percy Macpherson weit harscher als Hume es getan hatte „for relying on oral sources for Ossian. He [Percy] replaced this faith in the oral tradition by demonstrating the value of physical sources (runes, writing).“203 Erst Percy macht die Authentizität alten Dichtguts explizit an der Schrift, an „dinglichen Quellen“, an Manuskripten fest: denn für Hume und andere mußte die literarische Kuriosität nicht unbedingt dinglich als solche beglaubigt sein. Aber woran war sie dann überhaupt zu erkennen? – Ihr Alter mußte ihr abzulauschen sein: aus dem Klang, der Anmutung einer merkwürdig-urigen Sprache. Diese Anmutung war zunächst wichtiger gewesen als der materielle Beleg für die Authentizität der „urtümlichen“ Poesie; doch dann hatten sich schnell erste Stimmen erhoben, die genau nach dem materiellen Beleg verlangten Und das war wohl der eine Grund dafür, daß Percy sein Gegenwerk zu Macphersons Ossian-„Kuriositäten“ anders, nämlich als „Reliquien“ bezeichnete. Reliquien sind essentiell dinglich. Sie schöpfen ihre Bedeutung einzig daraus, körperlich-dingliche Reststücke zu sein, von Heiligen, im späteren 18. Jahrhundert aber auch von kultisch überhöhten Künstler- oder Dichtergenies.204 Zweitens ist Percys Benennung seiner „Reliquien“ aber auch insofern berechtigt, als tatsächlich eine „Reliquie“ im Spiel war. Bei Percys Reliques handelt es sich um eine Herausgabe von mittelalterlichen Arthusromanzen, Versen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, von Straßenliedern und volkstümlichen Balladen. Diese Sammlung von alten Werken will Percy aber manifest gefunden – und vor der Vernichtung gerettet haben. Er verbreitet dazu die folgende Geschichte: In eines Freundes Haus habe er anno 1756 ein dickleibiges Manuskript entdeckt – im Korb mit dem Zündpapier. Doch Percy habe den Wert seines Schatzes erkannt und teile seinen Reichtum nun der Welt mit, in gedruckter Form und unter dem Titel: Reliques of Ancient English Poetry, Consisting of old heroic Ballads, songs, and other Pieces of our earlier Poets (chiefly of the Lyric Kind), together with some few of the later date. Tatsächlich ist diese Geschichte keine Erfindung. Das Manuskript fand Percy wirklich. Nur ist es eben nicht mittelalterlich oder älter. Es stammt von 1650 und ist eine Verschriftlichung bis dato oral tradierten Dichtguts aus verschiedenen Vorzeiten. Und seltsam ist nur, daß Percy sein Buch unter dem Titel Reliques herausbringt, nicht Relique. Legt Percy einen neuen Wert auf die Schriftkultur und folglich auf das authentische Manuskript, kann doch nicht das eine gefundene Manuskript mit der titelgebenden Vielzahl der Reliques gemeint sein? – 203 204
––––––––––––––––––– Groom: Fragments, Reliques, & MSS, S. 189. Dabei ist nicht nur vom Geniekult der Romantik die Rede. Schon vor dieser Epoche setzte eine empfindsam-enthusiastische Sakralisierung des Dichters und Künstlers ein, damit aber eine „Umsakralisierung“ der Reliquie (siehe Maisak: „Köstliche Reste“).
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In der Tat ist Percys Begriff der „Reliquie“ komplexer, und vor allem doch wieder vergeistigter als er selbst es auf den ersten Blick glauben machte. Die titelgebenden Reliquien sind für Percy nämlich die Gedichte, Balladen, etc.: kurzum, das inhaltlich-sprachlich, nicht manuskriptdinglich Substantielle. Es ist zwar zur Beglaubigung ihrer Authentizität maßgeblich, daß eine immerhin „mittelalte“, barocke Verschriftlichung der Gedichtreliquien vorliegt. Aus diesem Grund pochte Percy durchaus auf die Existenz seines Manuskriptes – das er bei sich Zuhause verschlossen aufbewahrte und gewiß niemanden einsehen ließ. Denn hätte er das getan, wäre er, wenn nicht als Fälscher aufgeflogen, dann als was sonst? Freilich, vor sich selbst konnte Percy es mit guten Gründen verteidigen, daß er das alte Dichtgut, das es einem gehobenen, feingeistigen Publikum vorzulegen galt, „korrigierte“ – daß er es zensierte, wo es zu grob war, daß er manche krude Versstruktur gleitend machte, daß er sprunghafte Erzählfäden ausbesserte, indem er ganze Handlungsstränge selber erfand und einflocht. Schließlich bestand Percys Erfolgsrezept in einem Kunstgriff, der ziemlich genau dem des Fälscher-Dichters Macpherson entsprach. Es war die Verflechtung des authentisch-altertümlich Anmutenden mit dem „modernen“ Gefühl und Pathos, nach dem die vorromantischen Menschen verlangten. Eben dieses Bedürfnis wurde von Macphersons Ossian bedient, ohne es zugleich zu reflektieren. Das Verhältnis zwischen den begehrten „alten Poesiedingen“ und einer modernen, prosaischeren Lebenswelt, in der wohl irgend etwas „verloren“ war, wurde nicht von Ossian/Macpherson thematisiert. Doch nun blickt Percy prüfend auf den Lauf der Zeiten. In seine Reliquien ist eine Theorie der Kultur- und Nationalgeschichte Englands eingeflochten. Percy ist nämlich, wie auch Macpherson und jeder, der sich für das Alte und d.h. Altenglische interessiert, bestrebt, zurück zu den Wurzeln einer englischen Nationalkultur und -identität zu finden – die dabei freilich weniger wiederausgegraben als neuerfunden wird. Und Percys Beitrag zu dieser Erfindung ist es, die urenglische Kultur und Identität in der Schrift zu verorten, sie als eine Poesie- und Schriftkultur zu begreifen. Diese sei von den Barden und den Runen der Goten begonnen worden, um durch die mittelalterlichen „minstrels“ fortgesetzt und verfeinert zu werden.205 Diese Dichter-Sänger sieht Percy folglich dem Kreis der kulturbildenden Noblen zugehörig; ihr Werk habe aber Poesie und Geschichtsschreibung verbunden. Indem er, Percy, seine historischen Dichtungs„Reliquien“ ausgehend von einem (mittel)alten Manuskript herausgibt, sie dabei jedoch poetisch überarbeitet, erneuert und „verbessert“, setzt er sich also implizit in eine Traditionslinie mit diesen mittelalterlichen „minstrels“, die Geschichte bewahrende und sie poetisierende Werke hervorbrachten, als Erben der gotischen Barden und Runenschreiber. So inszeniert Percy sich über seine Reliques nicht als Dichter, sondern als Wahrer und Fortsetzer einer urenglischen Kultur: die immer schon und mit ihm 205
––––––––––––––––––– Siehe Groom: Fragments, Reliques, & MSS, S. 189-190.
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einmal mehr, und zwar auf dem bislang höchsten erreichten Kulturniveau der eigenen Zeit, auf Verschriftlichung beruhe. Diese sei in England aber stets latent poetisch gewesen, in einem Atemzug wahrend und poetisch-kreativ verbessernd. Percy meint also gar nicht unbedingt, alles Poetische sei seiner Welt gänzlich verloren. Seine Suche nach den Ursprüngen ist beseelt von einem unerschütterlich optimistischen – und doch zugleich konservativ-nostalgischen Fortschrittsglauben. Doch was bedeutet dieser merkwürdig rückbesinnliche Fortschrittsglaube für sein Verständnis der „Reliquie“? Diese „Reliquie“ Percys ist in sich selbst ein widersprüchliches Ding. Aus diesem Grund gibt es sie zweifach: auf der einen Seite die „Reliquie“ des Fundstück-Manuskripts von 1650 – auf der anderen Seite die weit älteren, eigentlichen Dichtungs-„Reliquien“, die das Manuskript nur nachträglich aus dem Zustand der Oralität in den der Schriftform übertrug. So ist dieses Manuskript wichtig – und unwichtig zugleich. Es ist „nur“ die erste „Flasche“, die den älteren, urenglischen Kulturgeist bewahrend auffing, ehe Percys Druck ihn wieder eröffnete, und das sogar (heimlich) verbessert. So heißt Percys Buch auch Reliques, nach den Gedichtreliquien, die in ihrem urenglisch-altertümlichen Anklang letztlich doch wichtiger sind als das Manuskript, das Percy fand. Doch dieses war in seiner Bedeutung auch deshalb nicht zu sehr hochzuschrauben, da es ja erst im 17. Jahrhundert entstanden war – nicht in den Momenten, in denen die darin verzeichneten Poesiereliquien einst gedichtet wurden. Eine „echte“ Reliquie müßte aber eben das sein: die Verschriftlichung eines Gedichtes in seinem Entstehungsaugenblick selbst. Nach eben solchen Reliquien verlangte es denn auch mehr als einen Zeitgenossen Macphersons, Percys und Chattertons. Es wurde ein solcher Kult um diese „echten“ Reliqien betrieben, daß ein scharfsinniger Kritiker namens Vicesimus Knox ihn 1782 gnadenlos anprangerte. In seinen Essays Moral and Literary findet sich die Überschrift „Objections to the Study of Antiquities when improperly Pursued“, und darunter das vernichtende Urteil: „He who venerates a contemptible relique is actuated with a degree of the pilgrim’s superstition, less pernicious indeed in its effects, but scarcely less absurd in its principle.“206 Mitangeregt durch Percys Pochen auf das Authentische des Manuskriptes, hatte sich im späten 18. Jahrhundert diese neue Sammelleidenschaft entwickelt, die zwar noch immer auf Dichtungen aus war, die ihrem Geist nach urenglisch und insofern reliquiengleich sein sollten. Doch wollten die Sammler mehr als nur über das Ohr oder den Geist das Authentisch-Urenglische begreifen. Wenn Groom erklärt, der Kritiker Knox habe einen „antiquarian scramble for scraps of old literature“207 im Visier gehabt, sind mit den „scraps“ manifeste alte „Schnipsel“ gemeint. Schnipsel und Fragmente, haptisch greifbare, „wahrhaft-
206 207
––––––––––––––––––– Knox: Essays Moral and Literary, London 1782, Bd. 2, S. 322; zit. n. ebd., S. 188. Ebd.
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dingliche“ Reliquien oder Überbleibsel englischer Kulturvorzeiten – wie die Manuskripte Thomas Rowleys. Und damit schließt sich der Kreis, und der Blick auf die Vorgeschichte der mehr oder minder gefälschten Altertümer vor Rowleys Manuskripten führt geradewegs auf diese zu. Chatterton habe sich nämlich bei der Produktion seiner pseudomittelalterlichen Fragmente maßgeblich von Percys Reliquien inspirieren lassen, so Nick Groom in Fragments, Reliques, & MSS.208 Doch das verhinderte nicht, daß er aus seiner Inspirationsquelle sein ganz eigenes Ding machte, oder richtiger: Rowleys Dinge. Das aber heißt: Wie in Percys, so soll auch in Chattertons „mittelalterlichen“ Gedichten – sowie allerdings auch anderweitigen Schriften – eine Kulturgeschichte Englands stecken, und wiederum konkret die Geschichte einer Schriftkultur. Nur das ist eben der Unterschied zu Percys Reliquien: Solche „Reliquien des englischen Kulturgeists“ sollten Chattertons Rowley-Manuskripte nicht nur im übertragenen, geistig zu begreifenden Sinne sein. Ihren Charakter als Kulturgeist-Reliquien sollte man, Rowleys Manuskripte zwischen den Fingern, haptisch erfassen, mit Händen greifen. Zweitens ist der Kulturgeist, um den es in Chattertons „Kuriositäten“ oder „echten Reliquien“ geht, auch nicht mehr der Adelskulturgeist, den sich Percy vorstellte. Die Kultur, die ein Canynge und ein Rowley stiften, ist erstens merkwürdig, weil sie eine Gegenkultur ist: die Kultur von zwei Andersdenkern. Dennoch ist auch deren Kultur, die einem überhandnehmenden Merkantilgeist entgegenwirken will, eine Kultur der Kaufleute. Chattertons „minstrels“, die Rowley erwähnt, sind nicht dem Adel verbunden. Sie sind handwerkliche „LiedSchmiede“ („songsmiths“209), so wie Rowley ein schlichter Manuskriptmacher ist: Thomas Rowley [...] was primarily a writer who left his physical signature lacing through elaborate manuscripts. Significantly, then, Chatterton’s interest lay in the production of plausible documents. The poet was a calligraphic craftsman, a producer of things – scrolls, rolls, and parchments – who sold the fruits of his labour. For Chatterton, in fact, the poet was ultimately a maker: a forger.210
Canynge und Rowley zusammen sind aber Kulturmacher, die diesen Kulturgewinn, der allerdings auch der Wirtschaft wohltut, aus ihrem Sammeln und Handeln mit alten Manuskripten ziehen211, sowie aus ihrer Produktion von eigenen, neuen. –
208 209 210 211
––––––––––––––––––– Groom drückt diese zentrale These seines Essays freilich unumwundener so aus: „Chatterton plundered the Reliques“ (ebd., S. 189). Groom: Fragments, Reliques, & MSS, S. 192. Ebd. Siehe ebd., S. 190-191.
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5 Chattertons Manuskripte oder letzte Dinge oder Geldwert-Scheine oder Ruinbruchstücke Canynges und Rowleys Was wollte Chatterton seiner Welt mit den Manuskripten Rowleys, in deren Summe eine merkwürdige Gegenkulturgeschichte Englands steckte, verkaufen? – Die entsprechend merkwürdige Antwort ist der Titel dieses Kapitels: Chatterton wollte seiner Welt keine einfachen „alten Manuskripte“ oder „Kuriositäten“ oder „Reliquien“ verkaufen. Er wollte ihr die historischen letzten Dinge oder Geldwert-Scheine oder Ruinbruchstücke der Gegenkulturstifter Canynge und Rowley verkaufen. Im Endeffekt lag es am Finder, bzw. Käufer, was er aus seinen Sammelstücken machen, wofür er sie verwenden würde. Diese merkwürdige Vieldeutigkeit der Rowley-Manuskripte ist aber durch jene Geschichte selbst angelegt, die man erst aus den Fragmenten zusammenaddieren muß, um dann zu begreifen, daß vier Aspekte an der rekonstruierten Historie entscheidend sind. Erstens und grundlegend entscheidend ist das exemplarische Bündnis zwischen Dichter und Kaufmann. Wobei dieses Bündnis schon dadurch vorbereitet ist, daß der Dichter-Mönch Rowley sich auch durch kaufmännische Gerissenheit auszeichnet, etwa beim Erhandeln kostbarer alter Pergamente für wenig Geld, während der Kaufmann Canynge auch poetisch und künstlerisch veranlagt ist. So sind beide Figuren essentiell zwiegesichtig – doch ohne diese Ambivalenz als innere Zerrissenheit zu erleiden, wie der merkantil kontaminierte Poet und geniale Satiriker von 1769. Im Gegenteil harmonieren der Kaufmann und der Poet in Canynge, der Poet und der Kaufmann in Rowley; und so harmonieren auch diese beiden Figuren perfekt miteinander, die sich komplementär ergänzen. Das zweite Wesentliche der Geschichte Canynges und Rowleys ist aber, daß sie nicht ohne Grund zusammenfinden. Canynge beauftragt Rowley mit dem Sammeln alter Zeichnungen und Manuskripte – und somit mit dem Sammeln alten Ideenguts. Was Rowley für Canynge aufkaufen soll, sind Fragmente eines älteren, urenglischen Kulturgeists. Dieser alte Kulturgeist, der in Dokumentform bewahrt ist, soll aber nicht nur aus Liebhaberei wiederausgegraben und gehortet werden. Er soll reaktiviert werden. Oder anders gesagt, soll der Geist einer älteren, reineren, besseren Kultur als Inspirationsquelle genutzt werden, um die „neue“ Kultur jenes Spätmittelalters, das Canynges und Rowleys 15. Jahrhundert ist, damit zu verbessern. So könnte man auch vom einer versuchten Restaurierung dieses Spätmittelalters reden, das nämlich dekadent und degradiert, in seinem Geist ruiniert ist: Es ist zu merkantil geworden… So sind Canynge und Rowley vom Beginn ihrer Geschichte an, schon im Gegensatz zu Canynges tervonoähnlichem Kaufmannsvater, Ausnahmegestalten. Sie sind außergewöhnlich in ihrem kaufmännischen und poetischen Witz; und sie sind außergewöhnlich in ihrem Interesse an alten, pergamentenen Kul-
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turerzeugnissen. Doch diese haben für ihre Sammler nicht sofort die Bedeutung jener „Kuriositäten“ der Chatterton-Zeit, die Fluchttore sein sollten, um sich aus einer schlechten Gegenwart in eine gute alte Zeit hineinzuimaginieren, auf die man seine romantischen Sehnsüchte projizierte. Canynges und Rowleys erste Verwendung ihrer gesammelten Altertümer soll eben nicht der Flucht aus ihrer merkantilen Welt dienen, sondern ihrer Verbesserung, bzw. Restaurierung: Canynge will, vom alten Ideengut seiner Sammelstücke inspiriert, religiöse und nützliche Bauwerke entwerfen und errichten – „Dinge“, die einen praktischen und geistigen, kulturellen Wert haben, auch wenn zusätzlich die Wirtschaft Bristols von den Baumaßnahmen profitiert. Da dieser kulturelle und wirtschaftliche Aufschwung sich aber den inspirierenden alten Dokumenten verdankt, tragen diese ihn als Mehrwert bereits in sich, wenn Rowley sie für Canynge aufkauft. Schon in diesem Augenblick sind sie aufgewertet durch ihre künftige Fruchtbarmachung. Schon in diesem Moment beinhalten sie eine Art „Geldwert“. Und dieser Geldwert dehnt sich auch auf die Dokumente aus, die Canynge nun von Rowley neu anfertigen läßt, wenn er nicht selber Hand dazu anlegt. Das beste Beispiel hierfür gibt die „Paper Rolle“, in der der junge Mäzen sein Weltverbesserungsprogramm im Rückriff auf das Alte eigenhändig beschreibt und festhält.212 Nur so ist es nämlich gewährleistet, daß andere, an anderen Orten, wenn nicht gar in anderen Zeiten, Canynges (und immer auch Rowleys) fixiertes Gedankengut ihrerseits „ausgraben“ und für sich fruchtbar machen können. Was diese mögliche Fruchtbarmachung an anderen Orten oder zu anderen Zeiten verbürgt, ist der dingliche Charakter des Manuskriptes. Weil das Manuskript ein Schriftding ist, vermag es zu kursieren. Es vermag durch die gegenwärtige Welt zu kursieren – und noch bis in die Nachwelt seines Urhebers hinein. Als ein Kulturgut bewahrendes und stiftendes Zirkulationsmittel hat das mittelalterliche Manuskript – dessen historische Bedeutung Chatterton damit revolutionär neuerfindet213 – also, wie gesagt, „Geldwert“: „For Chatterton, the principal characteristic of the manuscript in the fifteenth century was a potent form of cultural currency. Manuscripts were, in effect, paper money.“214 * Aus dem fruchtbaren Zusammenwirken des poetisch-phantasiebegabten Kaufmannes Canynge und des kaufmännisch-gerissenen Dichter-Mönchs Rowley geht also eine eigentümliche Kulturstiftung hervor: Die Stiftung einer Kultur, die auf einem Umgang mit Manuskripten beruht, welche einen „Geldwert“ haben: den Wert zirkulierbaren Fortschritts. Auch haben die beiden Kulturstifter anfangs enormen Erfolg: Canynge macht mit seinem Patentrezept der Fruchtbarmachung alten Kulturguts Karriere als fünfmaliger Bürgermeister, wird gea212 213 214
––––––––––––––––––– Siehe Lyfe of W: Canynge, S. 230. „Chatterton’s revolutionary innovation is to reimagine the culture of the manuscript.“ (Groom: Fragments, Reliques, & MSS, S. 190.) Ebd.
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delt und zieht seinen Manuskriptsammler und Dichter Rowley mit sich nach oben. Doch das dritte Wesentliche an ihrer Geschichte ist, daß sie nun kippt. Die Erfolgsgeschichte schlägt um in die Geschichte einer Niederlage, eines tendenziellen Ruins. Denn das Spätmittelalter, das Canynge und Rowley eine Zeit lang im Rückgriff auf das Alte verbesserten, bzw. restaurierten, war bereits in seinem Geist einseitig merkantil geworden. Nur hatten die Gegenkulturstifter dieses einseitig Merkantile, nur an wirtschaftlichem Gewinn Interessierte – das in poetisch gemilderter Form auch Teil ihrer Charaktere ist! – wiederum poetisch, d.h. rückbesinnlich und imaginativ ins Gute gewendet. Doch mit den Rosenkriegen ist die Zeit ihres erfolgreichen Wirkens vorbei. Die kriegerischen Unruhen befördern die Degradierung der Gemüter – ehe mit dem berechnenden Edward ein neuer „Kaufmanns-König“ aus ihnen hervorgeht. Vor diesem nur an Geld interessierten Machthaber, der ihn durch die bräutliche Gabe einer Verwandten für sich einkaufen will, flieht Canynge in das Mönchstum. Und obwohl er sogleich zu einer zweiten, geistlichen Karriere durchstartet und sein Weltverbessern, Restaurieren, Errichten noch immer nicht sein läßt, ist er doch tendenziell entmachtet. Er hat seinen Einfluß unter den Geld- und Machthabern seiner Zeit, die nun definitiv zu tervonoähnlich geworden sind, großteils verloren – und empfindet sich folglich, mehr denn je, als Andersdenker. Entsprechend ergeht es Rowley, der jetzt jenen Brief an den Würdigen Meister Canynge schreibt, in dem er feststellt: „Cannynge and I from common corse dyssente“215 – „Canynge und ich weichen vom gewöhnlichen Kurs ab.“ Und freilich, Canynge und Rowley werden nie so materiell ruiniert sein, daß sie keine pergamentenen Altertümer mehr kaufen könnten. Doch die Stücke, die sie nun erwerben, benutzen sie nicht mehr als Inspirationsmittel mit dem Geldwert der künftigen Weltverbesserung. Nun dient ihnen das Sammeln vorrangig sächsischer Manuskripte zur Flucht in eine gute alte Zeit, die zwar auch ihre Kriege hatte, dafür aber so großartige Kriegshelden hervorbrachte wie jenen Ælla, dem Rowley eines seiner dichterischen Werke widmete, für das Canynge gerne bezahlte. Für Canynge und Rowley sind ihre sächsischen Sammelstücke nun nämlich zu „Kuriositäten“ der Art geworden, wie Chattertons Zeitgenossen sie lieben sollten, wie sie sie auch in seinen Manuskripten Rowleys vorfinden wollten und von denen Leuschner schreibt: Es handelt sich um psychologische Vexierbilder, die je nachdem als Nostalgie oder Utopie verstanden werden können. Für das saturierte Bürgertum bietet die Scheinwelt des Mittelalters einen Ersatz für ideelle Werte, die in der Realität der kapitalistischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben und die auch in der rationalen
215
––––––––––––––––––– Siehe Rowleys Letter to the Dynge Mastre Canynge, in: The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 1, S. 176-178; hier S. 177.
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Theologie der anglikanischen Staatskirche nur noch ein Schattendasein führen. Die tonangebende Klasse kompensiert so ihre psychischen Defekte und Defizite.216
Freilich, Canynge und Rowley sind nun gerade nicht mehr tonangebend unter ihren Zeitgenossen. Doch gerade deshalb ist die sächsische Vorwelt ihrer Manuskripte für sie eine „romantische“ Sehnsuchts-Vorwelt wie die, die Chattertons Zeitgenossen, wie noch einmal gesagt, ausgerechnet in diesem ruinösen Mittelalter seiner Andersdenker finden wollten. – Zu Unrecht, wie die genaue Lektüre der Rowley-Manuskripte ergibt. * Die Illusion, Canynges und Rowleys Spätmittelalter sei eine vollkommen romantische, gute alte Zeit gewesen, muß allein schon durch den Umstand gestört werden, daß etwas an der Geschichte ihrer pergamentenen Reststücke nicht stimmt: Bei diesen Reststücken der Welt Canynges und Rowleys soll es sich aberwitzigerweise um eben die Manuskriptsammlung handeln, welche die Gegenkulturstifter, dann Weltflüchtigen selbst zusammenkauften und um selbstverfertigte Dokumente bereicherten. Und alles zusammen wurde angeblich von ihnen in „Canynge’s cofre“ bewahrt: Chattertons „Fundtruhe“ seiner „Kuriositäten“ in St. Mary Redcliffe. Diese wunderbaren Kuriositäten sind aber doch schon deshalb „arm“ und traurig, weil sie ja letzte Dinge sind. Zuerst starb nämlich Canynge, und Rowley stellte daraufhin sein letztes und umfangreichstes biographisches Dokument zum verlorenen Mäzen und Freund zusammen, jenes pergamentene Gedenkmonument mit dem Titel: Lyfe of W: Canynge – by Rowlie. Hier sind eine Daten-Biographie, die Freundesbriefe Canynges an Rowley, zuletzt Canynges zeitgeistkritisches Gedicht The Worlde aneinandergefügt; und um die Präsentation der intimeren Stücke zu begründen, schreibt Rowley: „Hys Worke I shalle ne blazon the Eyen wylle atteste yts Worthe. hys Mynde, knowledge and Lore hys hylten Epistles wyll shewe and the moe soe as hee dyd ne entende the same botte forre pryvate Syghte.“217 – „Sein Werk werde ich nicht rühmen, die Augen werden seinen Wert beglaubigen. Seinen Geist, sein Wissen und seine Gelehrtheit werden seine verborgenen [d.h. intimen] Briefe zeigen, und um so mehr als er sie nur zur privaten Einsicht bestimmte.“ Canynges Handschriften sollen für ihn selber sprechen – und bezeugen, was für ein großartiger Andersdenker, poetischer Kaufmann und Gegenkulturstifter er war. Denn wenn seine eigene Lebenswelt das am Ende nicht mehr sehen und honorieren wollte, erkennt vielleicht die Nachwelt den Wert eines Canynge – ? Und diesen Wert könnte sie nicht nur Canynges handschriftlichen Lebenszeugnissen entnehmen, die Teil von Rowleys Lyfe of W: Canynge sind. Die Nachwelt könnte Canynges, sowie immer auch Rowleys Wert allem entnehmen, das sie hinterließen. Und damit sind eben nicht nur die baulichen Monumente gemeint, allen voran St. Mary Redcliffe. Damit sind auch alle pergamentenen Hinterlas216 217
––––––––––––––––––– Leuschner: Die Tagträume des Thomas Chatterton, S. 4. Lyfe of W: Canynge, S. 229.
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senschaften gemeint, die in St. Mary Redcliffes nördlicher Vorhalle bewahrt sein sollten, in „Canynge’s cofre“. Denn mit dem Tod der mittelalterlichen Andersdenker sind ihre gesammelten Manuskripte, die für sie „Geld“ zur Restaurierung, dann Fluchttore zum Rückzug aus ihrer zu merkantilen Welt waren, zu ihren letzten Dingen geworden. Und über den Wert dieser letzten Dinge entscheiden die, die sie finden. * Denn nun fügt sich ein fünftes Entscheidendes an die Mittelaltergeschichte, die Chatterton in den letzten Dingen Canynges und Rowleys versteckte, und dieses final Entscheidende ist die Nachgeschichte, welche die letzten Dinge hätten auslösen können. Denn es lag an der Generation der Finder, bzw. Käufer der sogenannten „Rowley-Kuriositäten“, das letzte Ende der Geschichte oder des Dramas, das sie verbürgen, selbst zu gestalten. Es lag bei den Rezipienten selbst, die rechte Verwendung für die Hinterlassenschaften zu finden, und dafür bestanden drei Möglichkeiten. Die erste ist die: Jemand hätte die Manuskriptsammlung Canynges und Rowleys finden, bzw. kaufen können, ohne ihren „wahren Wert“ zu erkennen. Das hätte die Entwertung der letzten Dinge Canynges und Rowleys zu Abfall bedeutet, oder bestenfalls ihre Abwertung zu gewöhnlichen „Kuriositäten“. Diese hätten den Liebhaberwert jedes beliebigen mittelalterlichen Reststückes gehabt, das als solches von Chattertons nach Mittelalterromantik hungrigen Zeitgenossen begehrt war. Doch wer nur diese gewöhnlich-romantischen Kuriositäten in den letzten Dingen zweier außergewöhnlicher Gegenkulturstifter gesehen hätte – oder besser gesagt, wer nur diesen verflachten Sinn in ihnen sah –, der bewies keinen Canynge und Rowley gebührenden Witz. Die Rede ist von Catcott, Burgum, Barrett: denn was noch in Chattertons romantisch-mittelalterlicher „Ware“ stecken sollte, fanden ihre ersten Käufer niemals heraus. Mehr Freude, mehr Anerkennung und wohl auch mehr Geld hätte es Chatterton eingebracht, wenn jemand Würdigeres sich seiner mittelalterlichen Reststücke angenommen und ihre angebliche Herkunftsgeschichte rekonstruiert hätte. Diese gewitzte Person hätte die guten Stücke aber wiederum auf zweierlei Weise verwenden, den Dingen damit zwei verschiedene Bedeutungen geben können – je nachdem, wer sie gewesen wäre. Wunderbar wäre es freilich gewesen, Catcott oder Burgum oder eben ein gewitzterer Geld- und Machthaber hätte erkannt, wie vorbildlich das Zusammenwirken von Kaufmann und Poet im Mittelalter war, wie gewinnbringend sich Canynge und Rowley an ihren alten Manuskripten inspirierten. Freilich – der poetisch gewitzte Kaufmann, der so viel verstanden hätte, hätte nicht unbedingt Inspirationen zum Kathedralbau daraus gewonnen. Doch er hätte etwas gesehen, das eigentlich diejenigen einsehen sollten, die gerade nicht dazu in der Lage waren: Gerade die kaufmännisch-bornierten, unpoetischen Gemüter seiner Bristoler Lebenswelt – denen Chatterton den satirischen Spiegel vorhielt, indem er sie in den altbristoler Feinden Canynges und Rowleys persiflierte –,
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gerade sie hätten erkennen sollen, daß ein Kaufmann poetisch sein muß, rückbesinnlich und phantasiebegabt, um nicht nur für sich, sondern zum Wohl seiner Welt einen nicht nur wirtschaftlichen, sondern kulturellen Gewinn zu erzielen. Und hätte, rein hypothetisch gesehen, ein poetischer Kaufmann der Chattertonzeit sich in diesem Sinne vom Vorbilde Canynges inspirieren lassen – denn dieser wäre seine hauptsächliche Identifikationsfigur gewesen –, er hätte damit tatsächlich den ursprünglichen Wert der „mittelalterlichen“ Manuskriptsammlung wiederentdeckt und reaktiviert: ihren „Geldwert“. Den Wert der Inspirationsquelle zur Restaurierung einer zu merkantil gewordenen Zeit – sowie eines zu merkantil gewordenen Selbst – durch die Rückbesinnung auf das Bessere, Romantischere, Alte. Diese Wiedererkennung der letzten Dinge als „Pergamentgeld“ hätte aber auch ihre Anerkennung als intime Reliquien bedeutet. Reliquien nicht mehr nur im Sinne von Percys unpersönlichen Reliquien eines nationalen Kulturgeistes, sondern Reliquien im Sinne des empfindsamen und vorromantischen Kults um vorbildliche, bestenfalls verstorbene Personen. Diese waren durch ihren Tod nämlich erst recht „geheiligt“, erst recht kulthaft zu verehren. Wenn der Gartentheoretiker Hirschfeld 1785 anriet, man solle in den öffentlichen „Volksgärten“ Büsten „verstorbener Wohlthäter“ aufstellen, so war dieses sein Hintergedanke dabei: Das Erinnerungsmonument der hehren Vorbildfigur sollte den Gartenbesucher dazu inspirieren, ihr nachzueifern. – Oder, sollte Talent und Berufung dazu fehlen, sollte die „heilige Begegnung“ den Gartenbesucher zumindest romantisch berühren und auf diese Weise in seinem Alltagscharakter erhöhen.218 Die kleinen, intimeren Erinnerungsstücke oder Reliquien vorbildlicher Personen aber – eine Locke, eine Schreibfeder, eine Handschrift –, sie sollten noch inniger, noch wirkungsvoller als die öffentlichen Denkmäler anrühren, inspirieren, romantisieren. Es ist diese gesteigerte Romantisierungs- und Inspirationsmacht der „authentischen“ Intimreliquie, die Chatterton in seinen letzten Dingen Canynges und Rowleys mit der prosaischeren Bedeutung von Pergamentgeld verband. Und wie wunderbar wäre es eben gewesen, ein feingeistiger und reicher Canynge der Chattertonzeit hätte dieses erkannt! Allerdings hätte es auch sein können, ein anderer raffinierter, doch armer und desillusionierter Altertumsliebhaber hätte die Geschichte der Gegenkulturstifter aus ihren letzten Dingen rekonstruiert; er hätte sich dabei jedoch mit den beiden identifiziert, als es bereits mit ihnen bergab ging. Wer sich mit diesen enttäuschten, bald ruinierten Gegenkulturstiftern identifiziert hätte, aus dem Gefühl einer eigenen Machtlosigkeit heraus, etwas am kaufmännischen Geist der eigenen Zeit zu verändern, die seit Canynge und Rowley ja noch viel wirtschaftlicher geworden war, der hätte mit dem Geldwert der letzten Dinge aber auch nichts mehr anfangen können. Er hätte darin eine verjährte Währung 218
––––––––––––––––––– Siehe Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 5, S. 70.
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sehen müssen. In den unnütz gewordenen Reststücken einer gescheiterten Gegenkulturstiftung hätte der enttäuschte und wehmütige Altertumsliebhaber folglich die Beweisstücke ihres Scheiterns gesehen – die Bruchstücke von Canynges und Rowleys Ruin. Doch mit dem Ruin ist es wie mit dem Tod: Beide erhöhen die Person, die sie eigentlich vernichten. Nicht nur der Verstorbene wird erst recht kulthaft verehrt, ist er bereits zu Lebzeiten eine bemerkenswerte Persönlichkeit gewesen; und selbst wenn nicht – der Tod tilgt die dunklen Flecken aus jedem Lebenslauf und hinterläßt ein verklärtes Andenken des Verblichenen bei seinen Hinterbliebenen. Und ähnlich wird auch der Ruinierte verklärt: weil er als Opfer seines Ruins aufgefaßt wird. Durch seine dramatische Erniedrigung, die immerhin nie nur finanzieller Natur ist, wird er zu einem bewegenden, insofern doch romantischen Ruin-„Märtyrer“ erhoben. Es ist kein Zufall, wenn Canynge und Rowley, die Entmachteten, am Ende ihrer Geschichte beide zu Mönchen geworden sind. Ihr Mönchstum ist Zeichen ihrer Abkehr von einer zu merkantilen Welt, aber auch Zeichen ihrer Verfolgung durch diese. So hebt das Mönchstum Canynge und Rowley in neuem Märtyrerglanz noch über die Höhe hinaus, die sie als erfolgreiche Gegenkulturstifter erreicht hatten. Das letzte Scheitern Canynges und Rowleys gibt ihrer „verlorenen“ Vorbildposition den letzten Schliff, um aus den erfolgreichen Weltrestauratoren Idole mit dem Anruch quasiheiliger Märtyrer zu machen. Diesen Anruch verdanken sie aber nicht zuletzt ihren gesammelten Manuskripten – werden diese letzten Dinge als Bruchstücke ihres Ruines begriffen. Und während der alte Pergamentkram seine vermeintlichen Urheber, die gescheiterten Weltrestauratoren, postum bis zu den Sternen erhebt, klagt er stumm, nach Art der Dinge, und doch nicht ganz wortlos die Märtyrisierer der Idole an, die schließlich in den Manuskripten benannt werden: jene Kaufmänner und Unpoeten, die die Welt noch immer, ja sogar jetzt erst recht allgegenwärtig bevölkern. Da der enttäuschte Altertumsliebhaber das aber erkennt, fühlt er sich im Geiste mehr denn je mit Canynge und Rowley verbunden. Die Opfer der mittelalterlichen Kaufmannswelt sind nun seine Opferbrüder im Geiste. Voll Wehmut und Freundschaft fliegt sein Andenken zu ihnen zurück – und erhöht ihn selbst, als Bruder im Geiste der alten Märtyrer, in seinem Selbstgefühl zu einem ähnlich romantischen Opferhelden. Das intime Andenken an sie, die seine Freunde gewesen wären, hätten sie nur ein paar Jahrhunderte später gelebt, wird folglich zu seinem „Fluchtort“ aus der „schlechten“ Welt. Nicht das Andenken von Canynges und Rowleys Mittelalter im Ganzen, sondern das Andenken an das, was Canynge und Rowley stifteten und an das, was sie waren, wird zur „Sehnsuchtsheimat“ des enttäuschten Manuskripte-Entzifferers – der sich damit wirklich fast schon als „wahrer“ Romantiker zeigt, als Romantiker der Epoche der englischen Romantik. Denn in dieser Epoche wurde Chatterton selbst zum „Sehnsuchtsort“ des romantischen Andenkens, wovon bald die Rede sein wird.
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6 Das Dilemma des ruinierten Poeten, reflektiert, poetisiert und produktiv gemacht vom Satiriker und Altertumsfälscher Thomas Chatterton Chattertons Zeit und Zeitgeist brachte ein Buch hervor mit dem Titel: Reliques of Ancient English Poetry, Consisting of old heroic Ballads, songs, and other Pieces of our earlier Poets (chiefly of the Lyric Kind), together with some few of the later date. Wie hätte Chatterton seine Herausgabe der gesammelten Werke Rowleys, wie hätte er gar die gesammelten Werke Chattertons genannt, wären sie zu seinen Lebzeiten publiziert worden? – Daß Chatterton gerade mit den Rowley-Manuskripten Geld machen wollte – wie er dann, in einem zweiten Schritt, mit ihrer Publikation gern noch mehr Geld gemacht hätte –, diese prosaische Absicht sei dem Poeten aber verziehen. Schließlich war er selbst ein Produkt der Zeit, die sich, wie er durchschaute, von alten Dingen angezogen fühlte, weil sie die innere Flucht in eine bessere Welt ermöglichten, das träumerische Andenken einer verlorenen Vergangenheit, in der sich alles finden ließ, was der Gegenwart abging. Denn diese Gegenwart war entseelt oder vielmehr beseelt von einem einseitig regierenden Merkantilgeist. Deshalb war ein weiteres Produkt der Zeit aber, nebst der Liebe zu alten Dingen, das Phänomen eines exemplarischen Opfers: das traurige „Vor-“ oder „Gegenbild“ zum Zeitgeist – das Bild des ruinierten Poeten. Dieses Bild verdankt sich nun, in einer gegenwärtigen und einer mittelalterlichen Variante, eben jenem Chatterton, der nicht nur ein altertumsliebendes und altertumsfälschendes, ein satirisches und journalistisches Wunderkind war, sondern noch dazu gewitzt genug, sein Dilemma zu durchschauen und dabei fruchtbar zu machen. Die Zwickmühle zwischen „wahrem“ Poetsein und der Notwendigkeit, gedichtete „Ware“ für Geld zu verkaufen, erkennt der selbstreflexive Satiriker als seine Inspiration – zu Satiren, die sich nicht verkaufen lassen, weil sie dafür zu gefährlich scharfzüngig sind. So geht der Dichter, der auch Verkäufer seiner selbst sein muß, an den „Tervonos“ seiner Welt zugrunde – aber auch an sich selbst, der auf fatale Weise Poesie- und Geschäftsgeist vereint. Trotzdem ist sein Ruin eben deshalb großartig: Als Opfer der Welt der Tervonos verstanden, und so auch als Opfer des Tervonos in sich, beansprucht Chatterton, der natürliche Widerpart zu diesem „Anti-Christ“ zu sein, zu dem er den geborenen Kaufmann „erhöht“; und das macht ihn selbst christusähnlich. Der Verfasser von Intrest will ein hehres Opfer der Geldwelt sein, ihr Sündenbock und Märtyrer – gerade weil er selbst unheilbringend vom Abgott Wirtschaftsinteresse kontaminiert ist, jedoch auch gerade gegen den Tervono in sich poetisch aufbegehrt, in genialer Selbstsatire. Wie verwegen es war, ausgerechnet die merkantile Kontamination des Poeten in den Anstoß zu seiner Märtyrisierung, also Romantisierung umzumünzen – das wird der Vergleich zu den ruinierten Poeten aufzeigen, die Vigny, dann Wallis unter dem Namen „Chatterton“ einer späteren Welt verkauften. Doch
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um noch einen Moment lang bei diesem verwegenen, unverschämten, brillanten und ambivalenten Chatterton-Original zu bleiben: Seine innere Zwickmühle, zugleich Poet und Kaufmann zu sein, inspirierte ihn nicht nur zu seiner selbstund weltkritischen Satire Intrest. Es inspirierte ihn vor allem zu seinem Werk als „Altertumsfälscher“. Und hier, in der gedanklichen Identifikation mit Rowley und Canynge, deren Rollen er im Geiste wohl abwechselnd spielte, konnte Chatterton Poet und Kaufmann sein – und deshalb, zunächst, erfolgreich und anerkannt und mächtig und reich. Doch wenn Canynge und Rowley Sehnsuchtsfiguren und idealisierte Identifikationsfiguren seiner selbst waren, konnte der Satiriker es nicht lassen, auch seinen Lebensfeinden „Denkmäler“ zu setzen: Er portraitierte die Tervonos seiner Welt noch einmal, in den Feinden Canynges und Rowleys. Es ist eine Palette, die mit Canynges Kaufmannsvater beginnt, um mit dem Kaufmanns-König Edward zu enden: und der ist Schuld an Canynges Rückzug aus der Welt, an seinem Mönchstum, seiner Entmachtung – welche im Gegenzug den letzten Schliff zu seiner Verklärung zum Märtyrer-Helden bedeutet. Nun ist Canynge zu einem, wenn nicht ganz, so doch weitgehend ruiniertem Opfer einer Welt der überhandnehmenden Kaufleute geworden. (Vor dem definitiven Ruin, den die Heirat der Verwandten Edwards bedeutet hätte, bewahrte ihn Freund Rowley – den er vor der Bedürftigkeit des armen Poeten bewahrt hatte.) In ihrer letzten Opferrolle werden Canynge und Rowley aber erst recht zu Identifikationsfiguren für den „modernen“ Geistesverwandten, der in seiner kaufmännischen Welt gleichfalls keine Verwendung mehr findet. So wird das Andenken an Canynge und Rowley, die Opferbrüder im Geiste, nun erst recht zu einer romantischen Flucht aus der tristen Alltagswelt, in der Chatterton und jeder arme Poet der Gegenwart keine Gleichgesinnten mehr findet, wie Canynge und Rowley sie ihm gewesen wären. Wie gerne wäre Chatterton dabei jener Rowley gewesen, der in Canynge den idealen Mäzen fand, als beide zusammen Karriere machten! Denn dieser Moment der mittelalterlichen Geschichte, die Chatterton erfand und in Form von „authentischen“ Fragmenten zur Rekonstruktion bereitstellte, war wirklich die Utopie daran, die man seit der englischen Romantik in Chattertons Mittelalter überhaupt sehen wollte. Die englischen Romantiker waren die ersten, die Chatterton dafür verehrten – und darin verstanden –, in die erfundene Utopie einer besseren Welt zu entfliehen – leider nicht körperlich, sondern nur auf den Schwingen der dichterischen Phantasie. Und dieses Glaubenwollen an den romantischen Chatterton und seine Mittelalterutopie war dann so persistent, daß erst die neue Chattertonforschung um 2000 feststellte, daß die Welt Canynges und Rowleys doch gar nicht so rein utopisch sei. Nun stellte George Lamoine fast ein wenig irritiert fest, daß sich die Rowley-Welt eigentlich zwischen Utopie und Satire bewege, da sich stellenweise in den Rowley-Manuskripten eine explizite Kritik an modernen
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Merkantilverhältnissen finde.219 – In der Tat. Das Faszinierende an Chattertons Mittelaltergeschichte, sowie an den Manuskriptdingen, die sie bezeugen wollen, ist ihre kaleidoskopartige Vielgesichtigkeit. Man dreht das Kaleidoskop so, daß man die Hauptfiguren, Canynge und Rowley, anvisiert, die erfolgreichen Gegenkulturstifter, und das Ganze ist eine (relative) Utopie. Doch Achtung, die Utopie ist so schnell umgekippt! Man dreht nur ein wenig das Kaleidoskop weiter, und schon blickt man auf die Feinde Canynges und Rowleys, die die Gegenkulturstifter entmachten. Und schon ist das Ganze eine böse Satire… Man dreht das Kaleidoskop noch weiter, so weit es geht, bis der Blick in ein Kloster fällt, in dem zwei Mönche gemeinsam des Todes harren – und man sieht den letzten Akt eines merkwürdig modernen Ruindramas, wie es eigentlich erst das ruinbesessene 19. Jahrhundert interessieren würde, wären die Ruinopfer nicht durch ihre Mönchskutten doch so mittelalterlich-romantisch verbrämt, wie es der Chattertonzeit am besten gefiel. Doch so oder so oder so, aus welchem Kaleidoskopblickwinkel man auch immer die merkwürdige Mittelaltergeschichte betrachtet: Entscheidend ist, daß Chatterton damit bewegen wollte. Nur konnte diese Bewegung selbst verschiedene Stoßrichtungen haben. Mit der mittelalterlich verkappten Satire wollte Chatterton, so wie jeder Satiriker es immer will, die Gemüter kritisch bewegen, und somit letztlich auf eine Behebung der kritisierten Mißstände hinarbeiten. Noch deutlicher wird diese Absicht, eine „schlechte“ Welt zu einer Verbesserung, bzw. Restaurierung zu bewegen, aber mit Blick auf die Utopie in Canynges und Rowleys Geschichte. Die Utopie will einer merkantil degradierten Welt zeigen, wie sie sich im Idealfall restaurieren könnte: durch den Rückgriff auf das Alte, inspiriert durch die Vorbilder Canynges und Rowleys. Ihre Manuskriptsammlung selbst, die Chatterton seiner Welt zum Kauf anbietet, ist als der manifeste Rest ihres weltverbessernden Wirkens zu begreifen; diese letzten Dinge der vorbildlichen Gegenkulturstifter laden förmlich dazu ein, sich von ihnen inspirieren zu lassen und so ihren alten Geldwert zu reaktivieren. Doch wenn diese inspirierende Bewegung, welche die letzten Dinge der mittelalterlichen Andersdenker anstoßen könnten, über den Umweg zurück nach vorne ginge, mit dem Ziel einer praktischen künftigen Veränderung einer „schlechten“ Gegenwart, so könnten dieselben Dinge exakt das Gegenteil bewirken: eine Bewegung zurück, in eine resignierte Passivität; eine Bewegung ohne praktisches Ziel mehr. Die Bruchstücke des Ruins Canynges und Rowleys, als die sich ihre Hinterlassenschaften zuletzt doch auch noch begreifen lassen, sind zugleich die Fragmente ihrer Utopie. Sie bewegen, doch auf andere Weise als das Papiergeld, das die alten Pergamente wohl doch nicht mehr sein können. Folglich wühlen gerade diese Bruchstücke des Ruins, die das unrettbar Verlorene der Utopie be219
––––––––––––––––––– Siehe Lamoine: The Originality of Chatterton’s Art, besonders S. 41-45.
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weisen, den Enttäuschten zutiefst auf, der sich in den Märtyreropfern einer Welt wiedererkennt, die am Ende doch unrettbar kaufmännisch geworden war. Als Ruinopfer gehen ihm Canynge und Rowley, und somit ihre letzten Dinge, besonders nahe – denn die verlorene Utopie, die ihre letzten Dinge enthalten, wird wehmütig betrauert. Diese wehmütige Anrührung impliziert zwar noch eine stumme Anklage jener Unmenschen, die Canynge und Rowley zum Scheitern brachten. Doch diese Anklage ist zum bloßen Vehikel der Erhöhung beider Utopiestifter zu den „vorbildlichen Scheiterern“ geworden, mit denen sich der Weltenttäuschte der Gegenwart als Bruder im Geiste empfindet. So aber wendet er sich dem Andenken der armen Mönche mit einer inneren Bewegung zu, die zum Selbstzweck geworden ist. Die Aufgabe der Bruchstücke des Ruines besteht in der inneren Romantisierung ihres Rezipienten – in der Einladung dazu, aus der „schlechten“ Gegenwart in das Andenken Canynges und Rowleys zu entfliehen, damit aber in eine Zeit, in der immerhin vorübergehend die hehren Gegenkulturstifter das Sagen – und allerdings auch das Geld hatten… Man kann es drehen und wenden, wie man will: Chattertons Mittelalter und seine Helden bleiben stets aufreizend in der Schwebe zwischen spätaufklärerisch-merkantiler Zweckrationalität und resigniert-weltflüchtiger Vorromantik, zwischen dem Kult um das Geldlich-Fortschrittliche und dem um das PoetischNostalgische. Und trotzdem, oder eben deshalb, ist die letztgenannte, innere Gemütsbewegung, diese Bewegung, die jegliche weltretterische Ausrichtung verloren hat, tatsächlich geradezu romantisch zu nennen, bereits im Sinne der Epoche der Romantik. Denn in dieser Epoche hatten Weltverbesserungsutopien, aus denen noch immer ein restweise spätaufklärerischer Fortschrittsoptimismus sprach, gar nichts mehr verloren. Die englischen Romantiker, das war die Generation der Desillusionierten, die sich deshalb zu weltfremden Träumern stilisierten. Ihr Idol wurde die Poesie – und damit der romantische Genius. Was das rechte Stichwort gibt, von Chattertons Tod 1770 um zwanzig Jahre vorzuspringen – und den genialen Satiriker und Altertumsfälscher verwandelt wiederzufinden.
7 Zwanzig und mehr Jahre später oder Chatterton und die englische Romantik I thought of Chatterton, the marvellous Boy, The sleepless Soul that perished in his pride; […] By our own spirits we are deified: We Poets in our youth begin in gladness;
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But therefore come in the end despondency and madness.220
Wordsworth; Strophe sieben von Resolution and Independence (aus den Poems von 1807). Poor Chatterton! he sorrows for thy fate Who would have prais’d and lov’d thee, ere too late. Poor Chatterton! farewell! of darkest hues This chaplet cast I on thy unshaped tomb221 –
Coleridge; aus der Monodoy on the Death of Chatterton (1790-1834). The inheritors of unfulfilled renown Rose from their thrones, built beyond mortal thought, Far in the Unapparent. Chatterton Rose pale, – his solemn agony had not Yet faded from him; [...] And many more, whose names on Earth are dark, But whose transmitted effluence cannot die so long as fire outlives the parent spark, Rose, robed in dazzling immortality.222
Shelley; aus Strophe XLV und XLVI seiner Totenklage nicht nur auf Keats, Adonais (1821). O Chatterton! How very sad thy fate! Dear child of sorrow – son of misery! How soon the film of death obscur’d that eye, Whence Genius mildly flash’d, and high debate. How soon that voice, majestic and elate, Melted in dying numbers! Oh! How nigh Was night to thy fair morning. Thou didst die A half blown flow’ret which cold blasts amate. But this is past: thou art among the stars Of highest Heaven: to the rolling spheres Thou sweetest singest: nought thy hymning mars Above the ingrate world and human fears. On earth the good man base detraction bars From thy fair name, and waters it with tears.223
Keats; 1815; noch bevor er 1818 sein großes Poem Endymion zur Grab- oder Gedenk-Inschrift Chattertons bestimmte, indem er ihm die Widmung voranstellte: „Inscribed to the memory of Thomas Chatterton”. Wordsworth, Coleridge, Shelley, Keats – Blake, Southey, Lamb, De Quincey – im Grunde alle englischen Romantiker waren, „whether ‘major’ or ‘minor’, 220 221 222 223
––––––––––––––––––– Wordsworth: Selected Poems and Prefaces, S. 166-167. Coleridge: Gedichte, S. 34. Shelley: Selected Poems, S. 103. Keats: O Chatterton, zitiert nach Kelly: The Marvellous Boy, S. 94.
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male or female, well-known or lesser-known”, seit den 1790er Jahren fasziniert von Chatterton.224 Am wenigsten Byron; doch das ist nicht weiter erstaunlich. Byron war sich selber Idol, er brauchte kein zweites. Die anderen der englischen Romantik aber identifizierten sich mit Chatterton, freilich mit dem Chatterton, den sie sich aus ihm gemacht hatten und wieder und wieder machten, jeder für sich. Denn jeder für sich ließ sich von „seinem“ Chatterton zu Werken inspirieren, die dann einerseits durch Chatterton geprägt waren, andererseits den gemeinsamen romantischen Mythos Chatterton ihrerseits prägten. Das, die Selbstidentifikation und Inspiration, ist der „Gewinn“, den die Romantiker aus Chatterton zogen. Es ist in gewisser Hinsicht der falsche Gewinn. Die Romantiker ignorierten damit gerade die kaleidoskopartige Vielgesichtigkeit, die Chattertons Hinterlassenschaften Rowleys, und eben auch Canynges, so originell und spannungsvoll macht. Doch nicht nur ihr Bild von Chattertons Werk war verklärt. Vor allem Chatterton selbst schwebte den Romantikern in einer verklärten Version vor, in der gerade sein Unromantisches, Prosaisches, Merkantiles nichts verloren hatte. (Obwohl das nicht heißen darf, daß kein Romantiker mehr davon wußte; dazu bald mehr.) Was die Romantiker in Chatterton finden wollten, war nämlich das, was er selbst in Canynge und Rowley gesucht hatte. Die Romantiker wollten gedanklich auf Chattertons Spuren wandeln, so wie er auf den Spuren Canynges und Rowleys; sie wollten in Chatterton eines zu früh gestorbenen Bruders im Geiste gedenken, so wie er seiner Brüder im Geiste Canynge und Rowley gedacht hatte. So wollten die Romantiker Chattertons Orte besuchen und seine letzten Dinge berühren – die Chatterton für Canynge und Rowley hatte selbst anfertigen müssen, da seine Lieblingsfiguren ja leider „nur“ Ausgeburten seines Geists waren. (Daß es einen historischen Bristoler Bürgermeister Wyllyam Canynge gegeben hatte, der in St. Mary Redcliffe beigesetzt war, änderte daran nichts. Von ihm, von dem er gar nichts weiter wußte, stibitzte Chatterton nur, zur Beglaubigung seiner Phantasien, den authentischen Namen.) Denn darin hatten die Romantiker einen Vorteil: Ihr Idol Chatterton hatte wirklich gelebt und wirklich die Rowley-Welt erdichtet, und zwar in Bristol. So wurde die erzkaufmännische Stadt zu einem romantischen Wallfahrtsort. Die Romantik hatte nämlich, ganz allgemein und nicht nur auf Chatterton bezogen, mit dem Kult um den romantischen Genius auch einen Kult um Dichterandenken entwickelt, sowie um die Wohnhäuser, die diese intimen Reliquien bewahrten. Die Dichterwohnhäuser wurden folglich zu „sites of literary pilgrimage“, „places of meditation and remembrance“, „secular shrines“225. Zu solchen romantischen Wallfahrts- und Andenkens-Orten wurden die poetischen Wohnstätten freilich erst nach ihrer Einwohner Tod; doch der ließ meist nicht sehr lange auf sich warten. Wenn manche Romantiker doch alt wurden 224 225
––––––––––––––––––– Mergenthal: The Dead Poets’ Society, S. 288. Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 14.
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(Wordsworth etwa wurde achtzig), ist trotzdem mit Holmes zuzugeben: „Nonetheless, the individual biographies reveal what a high proportion of all their lives, long or short, was disrupted or ended in poverty, insanity, drug addiction, alcoholism or suicide (actual or attempted).“226 In der Tat endeten die englischen Romantiker zu einem großen Teil in „Armut, Wahnsinn, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus oder Selbstmord (tatsächlichem oder versuchtem)“. Denn die Romantiker kamen mit sich in ihrer Welt nicht zurecht. Schließlich hatte schon Gregory, der erste „große“ Biograph Chattertons, dessen Lebenszeit kritisiert als an age when literature is so little patronized by those who wield all the powers of the state, [...] when men of the first abilities [...] are permitted to languish in obscurity and poverty, without any of those rewards, which are appropriated to the professions they exercise, and are compelled to depend for a precarious subsistence on the scanty pittance, which they derive from diurnal drudgery in the service of booksellers.227
Und diese Position des Dichters in einer Welt, in der die Macht- und Geldhaber sich nicht für ihn und sein Werk interessierten, in der selbst der Begabteste keine angemessene Entlohnung erhielt und sich deshalb zur „täglichen Fronarbeit im Dienste von Buchhändlern“ verkaufen mußte – diese Position hatte sich in den zwanzig bis sechzig Jahren nach Chattertons Tod, den Jahren 1790 bis 1830 der englischen Romantik, keinesfalls verbessert. So erscheint es beinahe zwangsläufig, daß die jungen Romantiker ihr Fremdheitsgefühl in einer noch unpoetischer, noch wirtschaftlicher gewordenen Welt, die sie verzweifeln ließ und zuweilen an den Rande des Selbstmordes trieb, auf Chatterton zurückprojizierten. Gerade in Chatterton, dem siebzehnjährigen verhungernden Poetengenie, das aus Verzweiflung Selbstmord beging, wollten sich die Romantiker wiedererkennen: Aus diesem Grund wurde Chatterton das Idol aller von ihnen, und dieses Idol stand ihnen emotional ungemein lebendig nahe. Seinen Geist suchten sie also da auf, wo er gelebt und seine „utopische“ Sehnsuchtswelt Rowleys erfunden hatte. Hätte Chatterton 1790 noch gelebt, er wäre mehr als einmal Coleridge und Southey begegnet, die beide in Bristol ansässig waren und seine alten Lebenspfade abliefen. Chatterton wäre 37 Jahre alt gewesen – in Wahrheit viel zu alt für die jungen romantischen Dichter. Chatterton, das Idol, der Bruder im Geiste, mußte jung sein und jung auf ewig: Denn dieser Chatterton war in den Augen der Romantiker das poetische „Wunderkind“ schlechthin – noch zu jung und rein gewesen, um von der Außenwelt kontaminiert worden zu sein, und deshalb befähigt, eine „kindlich-reine“ „urenglische“ Sprache poetischer zu singen als irgendein echter Rowley des 15. Jahrhunderts es vermocht hätte. Thomas Chatterton: das war der inspirierte Genius, der zuerst in seinem jugendfrischen und fruchtbaren Innern eine als alt 226 227
––––––––––––––––––– Ebd., S. 20. Gregory: The Life of Chatterton, S. xli-xlii.
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verkappte Sehnsuchtswelt erfand, in die er aus der prosaischen Außenwelt floh, weil sie den Poeten nicht verstand oder gar honorierte; so daß der „marvellous Boy“ zuletzt eine zweite, endgültige Flucht unternahm – in den Selbstmord. Und diesen Fluchtgedanken, sich aus der mittlerweile noch prosaischeren Außenwelt in eine poetische Welt des Inneren zurückzuziehen, teilten die Romantiker im Essentiellen tatsächlich mit Chatterton, der diese Fluchtmöglichkeit in den Utopie-Anteil der Welt Canynges und Rowleys wirklich angeboten hatte. Doch hatte sich der Fluchtort des romantischen Träumers modernisiert, das verlorene Mittelalter entsprach seinen Sehnsüchten nicht mehr. Wonach es den Poeten der Romantik verlangte, das verriet etwa jener Samuel Taylor Coleridge, der von 1790 bis zu seinem Tod 1834 wieder und wieder an seiner Monody on the Death of Chatterton feilte, weil ihn lebenslang das Chatterton-Dilemma nicht losließ.228 Deshalb hatte Coleridge als sehr junger Mann mit dem Bristoler Dichterfreund Robert Southey seinen eigenen Chatterton-Kult betrieben, der die jungen Leute das gotische Bristol hatte durchstreifen lassen auf den Spuren ihres Idols. Nebenher war in den Freunden aber der illusorische Plan gewachsen, nach Amerika auszuwandern und dort die Utopie einer reinen Dichtergesellschaft oder „Panticocracy“229 zu verwirklichen. In Wahrheit flüchteten Coleridge und Southey allerdings nur bis in das Andenken, den Traum ihrer amerikanischen Gegenwelt – und Coleridge nahm Chatterton dabei mit, wie hier in seiner Monody zu lesen: Hence, gloomy thoughts! no more my soul shall dwell On joys that were! no more endure the weigh The shame and anguish of the evil day, Wisely forgetful! O’er the ocean swell Sublime of Hope I seek the cottag’d dell Where Virtue calm with careless step may stray; And, dancing to the moon-light roundelay, The wizard Passions weave an holy spell! O Chatterton! that thou wert yet alive! Sure thou would’st spread the canvass to the gale, And love with us the tinkling team to drive O’er peaceful Freedom’s undivided dale; And we, at sober eve, would round thee throng, Would hang, enraptur’d, on thy stately song, And greet with smiles the young-eyed Poesy All deftly mask’d as hoar Antiquity.230
Der glühendste Verehrer Chattertons der zweiten Romantiker-Generation war aber John Keats. Und auch er schuf sich einen inneren Fluchtort, in den er 228 229 230
––––––––––––––––––– Siehe Magnuson: Coleridge’s Discursive Monody of the Death of Chatterton, sowie Fairer: Chatterton’s Poetic Afterlife. Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 51. Coleridge: Gedichte, S. 36.
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Chatterton allerdings nicht mitnehmen mußte, weil Chatterton sein Fluchtort war. Keats träumte davon, mit seinem „poetical friend“ George Felton Matthew vor den „cares of the world“ zu fliehen, und zwar an „some secluded and romantic grove“231: Where we may soft humanity put on And sit and rhyme and think of Chatterton... And morn the fearful dearth of human kindness To those who strive with the bright golden wing Of genius, to flap away each sting Thrown by the pitiless world...232
Keats träumte davon, an ein „abgelegenes und romantisches Grab“ zu fliehen – und von dort in das Andenken Chattertons… Und wenn man diese Verszeilen der Romantiker liest, die dem verlorenen Wunderknaben huldigen und wohl verraten, daß sie immer mehr vom Andenken der verklärten Kultfigur als vom historischen Chatterton inspiriert sind, ist es schwer, sich vorzustellen, daß manche doch von dem auszublendenden, unromantischen, merkantilen Thomas wußten. Trotzdem – auch wenn man es ihren Chatterton-Poemen nicht immer anmerken würde, lasen die Romantiker den Dichter Chatterton, den sie nicht nur als Mythos ernst nahmen. Das ist Kelly zufolge der Unterschied zwischen der Generation der Romantiker und den vorromantischen Chatterton-Verehrern gewesen.233 Diese hatten noch während der Debatte um die Authentizität der Rowley-Gedichte, ab ca. 1780, eine erste Mystifizierung des armen Fälscher-Dichters unternommen,234 deren wohl kuriosestes Restzeugnis das Chatterton-Taschentuch ist. Das 1782 in Umlauf gebrachte Stoffding war blau- oder rotgrundig, darauf aber mit dem Bildchen eines armen Dichters in einem entsprechend miserablen Intérieur bedruckt, in dem er sich bald umbringen würde.235 Das ganze war aber, vielleicht, um wenigstens ein bißchen einem Manuskript zu gleichen, eingerahmt von einem Begleitgedicht und einem Kommentartext, der noch einmal in Prosa wiederholte, was am armen Jungpoeten so zu Tränen rührend war. So verband das TränenAndenkentuch seine Besitzer zu einem sentimental-melancholischen, spätempfindsam-vorromantischen Chatterton-Kreis – der sich nicht als Leser-Kreis für das Rowley- oder sonstige Dichtwerk ihrer Kultfigur interessierte; dafür blieb auf dem Tuch, das „ihren“ armen Chatterton vergegenwärtigte, schließlich auch kein Platz (Abb. 8). 231 232 233 234 235
––––––––––––––––––– Kelly: The Marvellous Boy, S. 96. Keats, zitiert nach ebd. Siehe zu dieser Kellys Studie grundlegenden These ebd., S. XVIII-XIX. Siehe zu dieser vorromantischen Phase der Mythisierung Chattertons ebd., S. 43-70, sowie Grazia Lolla: Truth Sacrifising to the Muses. Dieses Bild, das erst anschließend „widely distributed“ sein sollte „in the form of a memorial handkerchief“, war zuerst erschienen „in the Westminster Magazine for July 1782, just 12 years after Chatterton’s death“ (siehe Holmes: Forging the Poet, S. 254-255).
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Doch die Romantiker lasen Chatterton, vor allem natürlich seine „kindlichreine“ „urenglisch-expressive“ Rowley-Lyrik, deren Sprache und Rhythmik sie inspirierte: so daß Chatterton auch ungenannt aus manchem Dichtwerk der englischen Romantik „wiederklingt“236. Aber Robert Southey las nicht nur Chattertons „romantisches“ Rowley-Werk; Southey las alles – von dem er auch das meiste als erster aus Chattertons Handschriften transkribierte und druckfertig machte. Southey gab nämlich, zusammen mit Joseph Cottle und anstatt ins utopische Amerika auszuwandern, 1803 die erste Ausgabe der gesammelten Werke Chattertons heraus. In seinem Vorwort kommentiert er seinen Verzicht auf eine filternde Auswahl: That the Rowley-poems are thus printed as the Works of Chatterton, will not surprise the public, though it may perhaps renew a controversy in which much talent has been misemployed. The merit of these poems has been long acknowledged. Whatever be the value of the others, the Editors hope they have performed an acceptable, as they know it to be a useful labour, in thus collecting, so far as they have been able, all the productions of the most extraordinary young man that ever appeared in this country. They have felt peculiar pleasure, as natives of the same city, in performing this act of justice to his fame and to the interests of his family. ROBERT SOUTHEY237
Zwei Gründe bewegten Southey dazu, sämtliche Werke Chattertons zu publizieren. Der erste Grund war der, daß noch keine Werkausgabe Chattertons existierte, so daß Southey sie gut zu verkaufen hoffte. Allerdings rechnete er nicht für sich auf den materiellen Gewinn. Der Erlös war Chattertons verarmender Schwester zugedacht. – Woraus spricht, daß Southey ein romantisch-edelmütiger und praktisch denkender Bristoler Mensch war (der beizeiten die Seifenblase des amerikanischen Utopie-Projekts hatte platzen lassen); und insofern erstaunt es nicht, wenn dieser selbst ein wenig (un)romantische Southey nebst den Rowley-Poesien auch alle „anderen“ Werke Chattertons publizierte: von denen er ausdrücklich „hoff[t]e“, sie würden auch den Lesern „acceptable“ sein. Betonte Hoffnung, aus der allerdings eine leise Besorgnis spricht: Southey wußte wohl, daß diese „anderen“ Werke doch das Unromantische, Satirische, zuweilen gar Merkantile ihres Verfassers verraten würden – wie etwa die satirischen Gedichte The Art of Puffing oder Intrest thou universal God of Men. Doch „[w]hatever the value of the others“ – sogar die merkantil kontaminierten Gedichte haben ihre Daseinsberechtigung in Chattertons Werkausgabe der Zeit der Romantik. Auch sie sind Hervorbringungen des Dichters, den Southey, trotz allem, zum „most extraordinary young man that ever appeared in this country“ erhöht. Denn schließlich mag Southey die stillschweigende Ansicht vertreten haben, daß Chattertons Genie und Ruhm nicht verlieren, sondern gewinnen würde durch die Offenlegung der ganzen, kaleidoskopartig-facettenrei236 237
––––––––––––––––––– Einige Beispiele führt Kelly an in: The Marvellous Boy, S. XVIII-XIX. The Works of Thomas Chatterton, Bd. 1, ohne Seitenzahl die dritte Textseite.
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chen Bandbreite seiner Textproduktionen. Mögen diese auch auf den ersten Blick konfligierend romantisch und unromantisch erscheinen, bei genauerem Hinsehen sind sie komplementäre Ausdrücke eines Geistes, der freilich selbst zwischen seinem Poetischen und Kaufmännischen zerrissenen war – und eben daraus seine Inspirationen bezog. Southey, der u.a. Intrest transkribierte, wo diese „unschöne“ Inspiration von Chatterton selbst aufgedeckt wird, kann diesen (un)romantischen Chatterton nicht nicht gesehen haben und wird ihn vielmehr unter der Hand gewürdigt haben – auch wenn er diese problematische Würdigung eines gerade nicht rein poetischen Geistes nirgends ausdrücklich niederschrieb. Wer aber noch entschiedeneren Wohlgefallen gerade an jenem unromantischen Chatterton hatte, der die geldlichen Aspekte des Dichterlebens so gar nicht ausblendete, war Keats. Beth Lau weist darauf hin, daß Keats, ähnlich Chatterton, keinen „gehobenen“ Verhältnissen entstammte, keine klassische Bildung genossen hatte, daß er in jungen Jahren schon vollverwaist war und somit frühestmöglich gezwungen, eine Ausbildung zum Wundarzt zu machen, um davon und nicht vom Dichten zu leben. Aus diesem Grund fand Keats sich gerade im „ehrgeizigen“, „entschlossenen“, „praktischen“,238 also merkantil und berechnend denkenden Chatterton wieder – in jenem Chatterton, der die Macht- und Geldhaber ebenso kritisierte wie die „konservativen“ Kulturstifter in ihren Diensten, der sich deren Strategien dennoch selber aneignete und sie erfinderisch überbot. Dieses war, so Lau, auch Keats’ eigenes Programm239 – das Programm eines der noch heute verehrtesten und verklärtesten Idole der englischen Romantik, das sich also, wie es neuerdings aussieht, insgeheim am unromantischsten Chatterton inspirierte, der immerhin über zweihundert Jahre lang verheimlicht war240 Doch „Heimlichkeit“ ist eben der rechte Schlüsselbegriff, der erklärt, warum erst die neuere englische Literaturwissenschaft den „unromantischen“, „echten“ Chatterton wiederauszugraben beginnt, und somit im selben Atemzuge das latent „Unromantische“ des Chatterton-Enthusiasten Keats.
238 239
240
––––––––––––––––––– Siehe Lau: Class and Politics in Keats’ Admiration of Chatterton, besonders die resümierende Seite 35. Siehe zum Vergleich der poetischen und praktischen „Nachbar-Programme“ Chattertons und Keats’ auch Lau: Protest, “Nativism“, and Impersonation in the Works of Chatterton and Keats. Erinnert sei noch einmal daran, daß eine Forschung, die Chatterton als Dichter ernst nahm, überhaupt erst ab 1971, dem Publikationsjahr seiner historisch-kritischen Werkausgabe, in die Gänge kam; der merkantile Chatterton aber wurde nicht vor den 90er Jahren zaghaft beleuchtet. Suarez’ Essay: What Thomas knew. Chatterton and the business of getting into print, entstammt dem Jahr 1993; Groom entdeckte den „Geldwert“, den Chatterton den Manuskripten der Rowley-Zeit beimaß, in seinem 1999 veröffentlichten Aufsatz Fragments, Reliques, & MSS: Chatterton and Percy; die oben genannten Untersuchungen Laus, die Chatterton und Keats in ein (un)romantisches Zwielicht stellten, erschienen erst 2003/2004.
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II. Chatterton zum ruinierten Poeten
O Chatterton! How very sad thy fate! Dear child of sorrow – son of misery! How soon the film of death obscur’d that eye, Whence Genius mildly flash’d, and high debate. How soon that voice, majestic and elate, Melted in dying numbers! Oh! How nigh Was night to thy fair morning. Thou didst die A half blown flow’ret which cold blasts amate.241
Dieses erst halb erblühte und schon von den kalten Lebensstürmen getötete „Blümchen“: das ist das ausdrückliche, offizielle Chatterton-Bild, das Keats 1815 erdichtete und verbreitete. Auch zu diesem Gedicht mochte Keats wohl vom Andenken an ein Vorbild inspiriert worden sein, dem er sich in seinem Romantischen und Unromantischen bewegend wesensähnlich fühlte. Doch das Resultat der Inspiration war ein dichterisches Denkmal, das dann gerade nicht diesem romantischen und unromantischen Chatterton huldigte. Keats’ Verklärung Chattertons zu einem zarten, unschuldigen, von einem zu rauen und kalten Wind getöteten Blümchen steht beispielhaft für die romantische Sicht auf Chatterton, die, jedenfalls nach außen hin, seine unromantischen Facetten verschleierte, um nicht zu sagen, betont vergaß. An die Stelle des historischen Dichters setzten die Romantiker die idealisierte Vision eines zu früh verstorbenen Wunderknaben; und der erste, der ausdrücklich erinnerte, daß Chatterton kein romantisches „Blümchen“, sondern ein körperlich hungernder Mensch gewesen war und die „kalten Stürme“ seines Lebens ganz materielle, zum Ruin führende Geldsorgen, war Alfred de Vigny.
241
––––––––––––––––––– Keats: O Chatterton, zitiert nach Kelly: The Marvellous Boy, S. 94.
III. Vignys ruinierter Poet Chatterton (1834/35)
Keats, der große heimliche Bewunderer des zu verheimlichenden unromantischen Chatterton, starb mit fünfundzwanzig Jahren am 23. Februar 1821 in Rom an der Schwindsucht. Shelley schrieb 1821 Adonais als Totenklage auf Keats, aber auch auf Chatterton, und ertrank am 8. Juli 1822, gut ein Monat vor seinem dreißigsten Geburtstag, im Golf von Spezia. Coleridge hatte immerhin sein einundsechzigstes Lebensjahr erreicht, als er am 25. Juli 1834 in London verschied – und seine Monody on the Death of Chatterton unvollendet zurück ließ, über der er sein Leben lang gebrütet hatte. Man sagt, die englische Romantik endete 1830; vier Jahre hatte Coleridge „seine“ Epoche überlebt – und mit ihm der Mythos des armen wunderbaren Poetenkinds Chatterton, jenes Idolbild, das in der Romantik erblühte und mit ihr alt wurde – doch nicht mit ihr starb. Denn in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1834, knapp einen Monat vor Coleridges Tod und ohne daß der englische Romantiker davon wußte, vollendete ein französischer Dichter die Niederschrift eines Dramas. Es sollte am 12. Februar 1835 in Paris uraufgeführt werden; im Mai schrieb der Verfasser schon an der Einleitung für seine Buchausgabe. Unmittelbar danach erschien das Buch, unter dem Namen des Autors Alfred de Vigny – doch Vigny schrieb im Namen Chattertons.
1 Alfred de Vigny und Thomas Chatterton oder Im Namen Chattertons
J’ai vu dans une ancienne église, en Normandie, une pierre tumulaire, posée en expiation, par ordre du pape Léon X, sur le corps d’un jeune homme mis à la mort par erreur. Moins durable sans doute que cette pierre, puisse ce drame être, pour la mémoire du jeune poète, un livre expiatoire!242 Ich habe in einer alten Kirche in der Normandie einen Grabstein gesehen, der auf Befehl Papst Leos X. zur Sühne auf den Körper eines jungen Mannes gelegt worden war, der irrtümlich zum Tode verurteilt worden war. Möge dieses Drama, wiewohl es wahrscheinlich weniger dauerhaft ist als dieser Stein, dennoch ein Sühnebuch zur Erinnerung des jungen Poeten sein!243 242 243
––––––––––––––––––– Vigny: Sur les Œuvres de Chatterton, S. 417. Zitate Vignys gebe ich im folgenden in Originalsprache wieder, füge ihnen aber entweder wörtliche Übersetzungen oder freiere Unschreibungen in deutscher Sprache an.
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III. Vignys ruinierter Poet Chatterton
So schreibt Vigny im Mai 1835. Am 12. Februar war die Uraufführung jenes Dramas gewesen, das nun als Buch ein „Sühnebuch“ sein soll – ein Grabstein der Wiedergutmachung. Die Wiedergutmachung gilt allerdings nicht jenem namenlosen jungen Mann, der in mittelalterlichen Zeiten irrtümlich zum Tode verurteilt worden war. Die Wiedergutmachung gilt einem anderen jungen Mann aus einer neueren Vergangenheit, genauer einem „jungen Poeten“, der dennoch ebenfalls irrtümlich in den Tod getrieben worden war, von seiner Lebenswelt von 1770. Seinen Namen trägt Vignys Drama, sowie nun sein Buch: Chatterton. Warum Chatterton postum rehabilitiert werden muß, d.h. wie seine Welt ihn irrtümlich zum Tode verurteilte, eben das ist der Inhalt des Dramenbuches. So gibt Vigny also in seiner Einleitung zum Dramentext vor, eine alte Schuld der Welt auf sich zu nehmen. Die Welt verurteilte 1770 den siebzehnjährigen oder bei Vigny achtzehnjährigen Chatterton zum Selbstmord – Vigny nimmt es auf sich, eben dieses anklagende Fazit aus der Geschichte des historischen Fälscher-Dichters zu ziehen, um damit erstens den Selbstmörder von der Schuld an seinem Akt zu entlasten. Zweitens will er aber nicht nur den Selbstmörder, sondern auch den Dichter Chatterton postum würdigen, so wie es ihm zusteht. Zu diesem Zweck fügt er seinem Dramentext ein Kapitel mit dem Titel an: Sur les Œuvres de Chatterton. Gewiß, das Kapitel Zu Chattertons Werken ist kurz. Um einen Eindruck von Chattertons Werk zu geben, übersetzte Vigny drei der als „romantisch“ geltenden Rowley-Poeme in das Französische – denn freilich ist der französische Romantiker am meisten vom pseudomittelalterlichen und speziell vom dichterischen Werk Rowley-Chattertons fasziniert. Vigny wird die anderweitigen, nichtpoetischen Rowley-Schriften ebenso wenig entziffert haben wie das facettenreiche Gesamtwerk des Satirikers, Elegiedichters, Testamentfälschers Chatterton. Um Klartext zu reden, ist es ausgeschlossen, daß Vigny das Rowley-Werk in seinem Unromantischen, Satirischen durchschaute. Es ist ausgeschlossen, daß er daraus die Erfolgs- und später Ruingeschichte zweier mittelalterlicher Gegenkulturstifter und Opfer ihrer zu merkantil gewordenen Welt herausfand. Insofern ist es eine unglaubliche Ironie des Schicksals, daß Vigny in seinem Chatterton-Drama die Geschichte eines ähnlichen Märtyrers der Geldwelt erzählt. Diese Geschichte zu erzählen, und damit eine bestimmte Wirkung zu erzielen, das war schließlich seine hauptsächliche Absicht. In Wahrheit ist die Rehabilitierung des historischen Poeten Chatterton eine bloße Nebenabsicht Vignys gewesen – sowie ein Akt der Entschuldigung. Je ne peux me résoudre à quitter une idée sans l’avoir épuisée. J’aurais des remords involontaires d’abandonner ce nom de Chatterton dont je me suis fait une arme, sans dire hautement tout ce qui sert à l’honneur et tout ce qui atteste la puissance de ce jeune et profond esprit.244
244
––––––––––––––––––– Ebd., S. 393.
III. Vignys ruinierter Poet Chatterton
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Nicht ohne „unwillkürliche Reue“ könnte Vigny von „diesem Namen Chattertons“ ablassen, aus dem er sich „eine Waffe“ machte, bekennt er. Weil er den Namen Chattertons instrumentalisierte, aus diesem Grund muß er den historischen Dichter Chatterton rehabilitieren – nun endlich; denn vordem tat er es nicht. Dabei ist Vigny seit langem schon von Chatterton gefesselt, doch im Grunde ist es die Idee, die er selbst sich von Chatterton machte, der die lebenslange Faszination gilt. Schon 1831/32 hatte Vigny einige Kapitel seines philosophischen Romans Stello dieser Idee von Chatterton gewidmet; im Drama Chatterton nimmt diese Idee, die den Namen Chatterton zur „Waffe“ macht, dann präzisere und wirkmächtigere Konturen an. Damit Chatterton zur Waffe werden konnte, mußte Vigny ihn aber dazu machen; eine Verwandlung, die auf Kosten des „authentischen“ Andenkens des historischen Chattertons ging, wie Vigny weiß. So soll sein Buch, das endlich ein Kapitel zum dichterischen Werk des historischen Chatterton enthält, nicht nur eine alte Schuld der Welt an Chatterton wiedergutmachen. Das Buch soll auch die Wiedergutmachung einer Schuld Vignys bedeuten. Es soll auch eine verdinglichte Entschuldigung dafür sein, daß Vigny Chattertons Namen benutzte – dieses allerdings mit den edelsten Absichten. Im Vorwort seines Dramas erklärt er: Le poète était tout pour moi; Chatterton n’était qu’un nom d’homme, et je viens d’écarter à dessein des faits exacts de sa vie pour ne prendre de sa destinée que ce qui la rend un exemple à jamais déplorable d’une noble misère. Toi que tes compatriotes appellent aujourd’hui merveilleux enfant! que tu aies été juste ou non, tu as été malheureux; j’en suis certain, et cela me suffit. – Âme désolée, pauvre âme de dix-huit ans! Pardonne-moi de prendre pour symbole le nom que tu portais sur terre, et de tenter le bien en ton nom.245
Der Poet war alles für mich; Chatterton war nur der Name eines Menschen, und ich habe soeben absichtlich exakte Tatsachen seines Lebens beiseite geräumt, um aus seinem Schicksal nur das zu nehmen, was es zu einem auf ewig zu bedauernden Exempel eines edlen Elendes macht. Du, den Deine Landsleute heute das Wunderkind nennen! ob Du recht gehandelt hast oder nicht, Du bist unglücklich gewesen; dessen bin ich überzeugt, und das genügt mir. – Verzweifelte Seele, arme Seele von achtzehn Jahren! Verzeih mir, daß ich den Namen, den Du auf Erden trugest, als Symbol nahm, um das Gute in Deinem Namen zu versuchen.
Wenn man dieses ausdrückliche Bekenntnis Vignys liest, „absichtlich exakte Tatsachen“ aus dem Leben des historischen Chatterton „beiseite geräumt“ zu haben, staunt man freilich über diejenigen, die erzürnt Vignys „Verfälschungen“ und seine „Unkenntnis“ entdeckten – wie Marc Citoleux, Hans Wolpe zufolge der erste französische Literaturkritiker, der 1924 bemerkte: „Au poète Chatterton dont il créa la gloire, Vigny doit-il autre chose que le titre d’un drame? En 245
––––––––––––––––––– Vigny: Chatterton, S. 52. Im folgenden stehen Zitaten dieser Primärliteratur die Seitenangaben direkt in Klammern nach.
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écrivant sa pièce il songe fort peu à Chatterton et s’il lut ses ouvrages, il n’y paraît guère.“246 Erst 1924 stellte Citoleux fest, daß Vignys Dramen-Chatterton nicht viel mit dem historischen Chatterton gemeinsam habe und daß Vigny, sollte er Chattertons Werke gelesen haben, nicht diesen Eindruck erwecke. Dabei hätte Citoleux sich allein eingedenk eines gewissen Stille-Post-Prinzips nicht allzu verwundert zeigen dürfen. Wenn Vigny überhaupt von Chatterton erfuhr, der zwar auf der benachbarten Insel zur Kultfigur der englischen Romantiker mystifiziert war, in Frankreich jedoch ein noch unbeschriebenes Blatt, verdankte er das Charles Nodier. Später sollte Vigny in Thomas Wartons History of the English Poetry hineinlesen, die in drei Bänden zwischen 1774 und 1781 erschienen war und in deren zweitem Band sich auch eine Vorstellung Chattertons fand.247 Außerdem habe Vigny „wahrscheinlich“ die „sehr mittelmäßige Übersetzung“ der Werke Chattertons von Javelin Pagnon „durchblättert“, ehe er einige Romankapitel, ein Drama, schließlich drei eigene, wiederum „mittelmäßige“ Übersetzungen von Rowley-Gedichten anfertigte;248 so Wolpe, doch das ist allerdings falsch. Die Œuvres complètes de Thomas Chatterton traduites par Javelin Pagnon, précédés d’une Vie de Chatterton par A. Callet erschienen erst 1839, vier Jahre nach Vignys Dramenbuch und seinen Rowley-Übersetzungen. Was Vigny tatsächlich noch über Chatterton las, war hingegen die dreihundert Zeilen lange Elegie, in der der Dichter Henri Latouche 1825 das Los des englischen Wunderkindes beklagte: „This, though it was not published until 1833, Vigny read privately“.249 Aber wie auch dem, Vignys, sowie wahrscheinlich auch Latouches erste Informationsquelle in Sachen Chatterton war Nodier gewesen: jener ältere französische Romantiker und Begründer des ersten Cénacle, eines romantischen Künstlerund Literatensalons, in dem 1824 auch Vigny verkehrte. Nodier aber hatte 1809 einige Monate bei einem gewissen Engländer als Sekretär gearbeitet – Herbert Croft.250 Es war derselbe Croft gewesen, der 1780 in Love and Madness Chatterton eine Biographie in Briefform gewidmet hatte – und diese war zum tragenden Grundstein des vorromantischen Mythos Chatterton geworden.251
246 247 248
249 250 251
––––––––––––––––––– Citoleux: Alfred de Vigny, S. 377, zit. n.: Wolpe: Thomas Chatterton, S. 34. Siehe zur Entstehungsgeschichte von Vignys Chatterton Pierre-Louis Reys Vorwort in Vigny: Chatterton, S. 7-34, bezüglich der benutzten Quellen zu Chatterton besonders S. 11. „Vigny a probablement feuilleté Chatterton dans la médiocre traduction de Javelin Pagnon“, so Wolpe, ehe er Vignys eigene Rowley-Übersetzungen ironisch abkanzelt (siehe Wolpe: Thomas Chatterton, S. 34). In der Tat sind Vignys Übersetzungen von drei Gedichten Rowleys, die einem Franzosen in ihrer „altenglischen“ Sprache gewiß nur noch verrätselter anmuten mußten, recht frei. Kelly: The Marvellous Boy, S. 108. Auf diese Dreifachverbindung von Vigny mit Nodier und Nodier mit Croft verweisen Kelly, ebd., sowie Lamoine in: Thomas Chatterton dans l’Œuvre de Vigny et dans l’Histoire, S. 320. Kelly hebt diese Bedeutung von Love and Madness besonders hervor in: The Marvellous Boy, S. 59-70.
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So mögen gewisse „authentische“ Anekdoten, die der Publizist von Love and Madness ja bei den Augenzeugen des verstorbenen Chatterton einholte,252 von diesem Croft an Nodier gegangen sein und von diesem an Vigny. Und es ist einleuchtend, daß sich allein durch dieses Stille-Post-Prinzip die Entfernung zur historischen Figur Chatterton mehr und mehr vergrößert haben wird, daß Chattertons Bild sich fließend und unmerklich, am Ende aber dann getragen von dichterischer Absichtlichkeit transformieren konnte, zuletzt in den Protagonisten des Dramas Chatterton. Allein Vignys Herangehensweise an Chatterton, allein die Tatsache, daß der Franzose den englischen Dichter nicht zuerst aus dessen eigenem Werk, sondern aus einer Kette oraler Wiedererzählungen kennenlernte, hätte Citoleuxs Überraschung ob der festgestellten Abweichung des Vignyschen vom historischen Chatterton dämpfen müssen. Doch noch unverständlicher wird diese erst 1924 geäußerte Verblüffung eben angesichts der Zeilen, die Vigny doch selbst schwarz auf weiß zu lesen gab: „[...] ce nom de Chatterton dont je me suis fait une arme“253, das ist eine solche Zeile, fixiert 1835; „Chatterton n’était qu’un nom d’homme“ (52) ist eine andere, geschrieben 1834 und hinführend auf diese letzte, schuldbewußte Anrufung Chattertons: „Âme désolée, pauvre âme de dixhuit ans! Pardonne-moi de prendre pour symbole le nom que tu portait sur terre, et de tenter le bien en ton nom.“ (52) „Verzweifelte Seele, arme Seele von achtzehn Jahren! Verzeih mir, daß ich den Namen, den Du auf Erden trugest, als Symbol nahm und das Gute in Deinem Namen versuchte.“ – Auffallend ist der wiederholte Verweis auf den Namen. Chatterton war für Vigny „nur“ der „Name eines Menschen“ – ihm ging es um „den Poeten“, und das heißt: um eine Idee des Poeten. Den Namen Chatterton machte Vigny sich „zur Waffe“: er „nahm“ ihn als „Symbol“. Und wenn er sich dafür beim beschworenen Geist des historischen Chatterton entschuldigen muß, dann weil er diesen Geist über seinen Namen benutzte. In jeder Benutzung eines lebenden oder toten Menschen durch die Benutzung seines Namens steckt ein Akt der Aneignung, Objektivierung, Instrumentalisierung. Es ist ein an Mißbrauch grenzender, da ungefragter und insofern gewaltsamer Gebrauch. Das zeigt Vigny in Akt II, Szene IV seines Dramas des Namens Chatterton. In diesem Akt klagt die weibliche Protagonistin (die hier plötzlich im Leben des fiktiven Chatterton auftaucht) über ein Unrecht, das man ihr antat. Kitty Bell fühlt sich mißbraucht – denn sie, die kindlich-reine und keusche Seele, wurde erniedrigt und angetastet durch eine Gruppe junger Männer, die der Geburt nach Adelige sind, doch mitnichten in ihrem Verhalten. So wurde Kitty zum Objekt eines sie quälenden Annäherungs-„Spiels“, heute würde man wohl von 252
253
––––––––––––––––––– Croft hatte die einstigen Mitbewohner Chattertons in dessen erster Londoner Unterkunft befragt, zudem Chattertons Schwester und einstige Schulkameraden um ihre Eindrücke vom Verblichenen gebeten. Vigny: Sur les Œuvres de Chatterton, S. 393.
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sexueller Belästigung sprechen, und zu diesem ohnmächtigen Spielball wurde sie infolge des Bekanntwerdens ihres Namens. „Quelle femme sera honorer, grand Dieu! si je n’ai pu l’être, et s’il suffit aux jeunes gens de la voir passer dans la rue pour s’emparer de son nom et s’en jouer comme d’une balle qu’ils se jettent l’un à l’autre!” (92) „Welche Frau wird gewürdigt werden, großer Gott! wenn ich es nicht sein konnte und wenn es den jungen Leuten ausreicht, sie auf der Straße vorübergehen zu sehen, um sich ihres Namens zu bemächtigen und damit zu spielen wie mit einem Ball, den sie sich vom einen zum anderen zuwerfen!“
So klagt Kitty, ehe ihr die Stimme versagt und sie weint: und ihr Verstummen und ihre Tränen bezeugen nur deutlicher wie tief ihre Verletzung gegangen ist, wie sehr der Mißbrauch ihrer selbst durch die Aneignung und den Mißbrauch ihres Namens tatsächlich ein unkeuscher Mißbrauch war, eine Vergewaltigung nicht in Taten, aber in Worten. Über die Aneignung ihres Namens machten die „jeunes gens“, wie die gute Kitty ihre Peiniger milde nennt, die wehrlose Frau zu ihrem Spielball. Mit ihrem Namen spielten sich die „jungen Leute“ die Frau selbst zu, vom einen zum anderen. So wurde Kitty Bell über die „Bespielung“ ihres Namens zum Gegenstand des „Spiels“: sie wurde zu diesem „Spiel“ benutzbar. Ehe ihr Name bekannt war, war sie es nicht; doch ihr bekannt gewordener Name machte Kitty Bell zum bespielbar gewordenen „Ding“. Sie wurde instrumentalisiert zum plaisir ihrer Peiniger. Und dieser Mißbrauch Kittys durch den Mißbrauch ihres Namens, der das Subjekt Kitty Bell zum Objekt macht, macht es verständlich, warum auch Chatterton im Drama seines Namens inkognito sein will – warum er nichts so sehr fürchtet wie die Aufdeckung und Aussprache dieses Namens. Auch diese Aufdeckung seines Namens, zu der es freilich dennoch kommt, wird Chatterton zu einem Objekt machen: zum Objekt der fatalen „Fürsorge“ seiner „Freunde“, die, obzwar sie Chatterton nützlich sein wollen, doch in Wahrheit ihn nutzbar zu machen trachten. Die gewollte Nutzbarmachung des „unnützen“ Poeten durch eine Welt, die auf nichts anderes als Nutzen und Gewinn aus ist – und der Poet, der an dem Druck seiner Umwelt und an seiner eigenen „Nutzlosigkeit“, nämlich an seiner Untauglichkeit für die unpoetische Merkantilwelt, zerbricht: Das ist das Thema des Dramas Chatterton. Das ist das Thema, die Idee, die Vigny in Chatterton fand – in Chatterton, nicht als historische Persönlichkeit, sondern als Schlagwort und Name begriffen. Oder eben besser gesagt: als Schlagwort und Name instrumentalisiert und benutzt. In Chatterton klagt Vigny eine Welt an, die der Doktrin der Nutzbarmachung aller materiellen und immateriellen Dinge, inklusive der menschlichen Körper und Seelen, huldigt, mit dem einzigen und ewigen Ziel des Gewinns an Geld und daraus resultierender Macht. An seiner Position, oder richtiger am nichtigen Vorhandensein einer Position in dieser rein materiell orientierten Gesellschaft, geht der Mensch des Gefühls und der Imagination par excellence – der Dichter,
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hier genannt Chatterton – zugrunde. Doch um diese Idee des durch seine Geldund Objektwelt ruinierten Poeten zum Ausdruck zu bringen, muß Vigny selbst den Namen des historischen Kollegen Chatterton benutzen, sich das historische Subjekt Chatterton als „sein Ding“ aneignen und auf seine Weise Gewinn daraus ziehen. Insofern er dieses tut, insofern er selbst einen anderen Menschen über die Aneignung seines Namens instrumentalisiert, steht er in dessen Schuld. Doch soll in diesem Fall der erhoffte Gewinn doch die beste Entschuldigung für den Gebrauch des Namens Chatterton sein: „– Âme désolée, pauvre âme de dix-huit ans! Pardonne-moi de prendre pour symbole le nom que tu portais sur terre, et de tenter le bien en ton nom.“ (52) „Das Gute“ will Vigny in Chattertons Namen „versuchen“, diesen Gewinn will er aus seinem Drama ziehen, selbst wenn diese hauptsächliche Intention, die nun einmal die Instrumentalisierung des Namens Chatterton bedingt, mit der Nebenintention einer Denkmalsetzung zur Rehabilitation des historischen Dichters Chatterton ein wenig kollidiert. Dennoch sind es diese zwei sich widersprechenden und doch auch verschränkten Gewinne, auf die Vigny aus ist, und gerade die Schlußzeilen von Sur les Œuvres de Chatterton – die ich eingangs nicht bis zum letzten Wort wiedergab – mögen diese doppelte Absicht noch einmal bezeugen: J’ai vu dans une ancienne église, en Normandie, une pierre tumulaire, posée en expiation, par ordre du pape Léon X, sur le corps d’un jeune homme mis à la mort par erreur. Moins durable sans doute que cette pierre, puisse ce drame être, pour la mémoire du jeune poète, un livre expiatoire! Puissions-nous surtout, dans notre France, avoir une pitié qui ne soit pas stérile pour les hommes dont la destinée ressemble à celle de Chatterton, mort à dix-huit ans.254
Ich habe in einer alten Kirche in der Normandie einen Grabstein gesehen, der auf Befehl Papst Leos X. zur Sühne auf den Körper eines jungen Mannes gelegt worden war, der irrtümlich zum Tode verurteilt worden war. Möge dieses Drama, wiewohl es wahrscheinlich weniger dauerhaft ist als dieser Stein, dennoch ein Sühnebuch zur Erinnerung des Poeten [Chatterton] sein! Mögen wir vor allem, in unserem Frankreich, ein nicht unfruchtbares Mitleid mit den Menschen haben, deren Schicksal dem Chattertons ähnelt, der mit achtzehn Jahren starb.
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––––––––––––––––––– Vigny: Sur les Œuvres de Chatterton, S. 417.
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2 Die Idee des ruinierten Poeten und die Intention der Erweichung der Herzen Das Buch, das Alfred de Vigny zum Grabstein der Wiedergutmachung für Chatterton bestimmte, enthält mehr als nur den Text seines Dramas, das auf der Bühne Furore gemacht hatte. Das Buch enthält das entschuldigende Kapitel zu den Werken des historischen Chatterton, dessen Namen Vigny benutzte, und das Buch enthält ein Begleitwort zum Drama. Dieses Begleitwort, das mal als Vorwort, mal als Nachwort publiziert wurde, ist tatsächlich als Schlußwort der Arbeit am Drama entstanden. Aus diesem Grund trägt es den Titel: Dernière nuit de travail du 29 au 30 juin 1834. Letzte Nacht der Arbeit vom 19. auf den 30 Juni 1834: Dieser Titel mutet nun gewollt autobiographisch an. Es stempelt den Text des Schlußwortes, sowie des Dramas überhaupt, zu einer Hinterlassenschaft des Dichters. Es gibt vor, daß das Dramenbuch das „letzte Ding“ einer lebendigen Arbeitsphase wäre – das „Reststück“ von Vignys Auseinandersetzung mit Chatterton. Dieser traurige, aber auch heiligende Charakter des Reststückes paßt freilich zu der anderen Bedeutung, die Vigny seinem Dramenbuch an anderer Stelle, nämlich im Kapitel zu den Werken Chattertons, zuspricht: der Bedeutung des Sühnebuchs, des Grabsteins der Wiedergutmachung. Doch welche Gefühle auch immer Vigny mit seinen Bedeutungszuweisungen und Betitelungen erzeugt – das Gefühl verhindert nicht Pragmatismus und Ratio. Im Schlußwort wird mit konkreten Absichten und in prosaischem Klartext resümiert, was das Drama auf seine Weise „poetisch ausspricht“. Dieser Unterschied der Ausdrucksweisen ist übrigens zentral, weshalb später ausführlich davon die Rede sein wird. Doch nun ist also der besagte „Resttext“ der Letzten Nacht der Arbeit zu beleuchten, um zu begreifen, welche Idee Vigny sich aus der Figur Chatterton machte, welche Absicht er mit der Verwendung seines Namens verband. * Je viens d’achever cet ouvrage austère dans le silence d’un travail de dix-sept nuits. Les bruits de chaque jour l’interrompaient à peine, et, sans s’arrêter, les paroles ont coulé dans le moule qu’avait creusé ma pensée. (37) Ich habe soeben dieses nüchtern-strenge Werk in der Stille einer Arbeit von siebzehn Nächten vollendet. Die Geräusche des Alltags unterbrachen sie kaum, und unaufhörlich flossen die Worte in die Form, die meine Gedanken gegraben hatten.
Mit diesen Worten beginnt Vigny sein Vorwort zum Drama Chatterton, und in der Tat muten sie an wie die Ankündigung eines Vermächtnisses. Es ist ein erster Satz, der ein Ende markiert und den Beginn eines Hinterlassens. Und verweist der Schreiber auf „dieses“ Werk, das er „soeben“ „vollendet“ hat im Zuge von „siebzehn Nächten“, muß man ihn sich folglich noch immer am Schreibtisch sitzend vorstellen, am Ende der siebzehnten Nacht; es muß dunkel sein im Zimmer des Dichters, mit Ausnahme einer heruntergebrannten flackernden
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Kerze, vielleicht graut nur ein wenig der Morgen schon durch ein Fenster des einsamen Raumes; denn einsam muß es um den Poeten und sein noch tintenfeuchtes Werk sein, wo alles noch schläft; des weiteren „still“, denn von der „Stille“ der Nacht ist ausdrücklich die Rede. Die Stille ist aber nicht zufällig ausgesprochen. Vignys autobiographisch anmutende Eingangszeilen mögen ihm selbst dazu gedient haben, den Augenblick des Abschlusses einer Arbeit zu fixieren, die ihm am Herzen lag. Das ist der erste Eindruck, den sie erwecken. Doch ebenso dienen die Zeilen dazu, diesen Moment eines Endens und Hinterlassens auch den künftigen Lesern gleichsam zu wiedervergegenwärtigen. Die Bekenntniszeilen wollen die Leser selbst in die Situation und Stimmung des Dichters versetzen, der soeben sein Werk abschließt – was aber wie gesagt nicht verhindert, daß die stimmungsvollen Zeilen außerdem sehr bald das theoretische Programm des Dramas im Kern resümieren. Kein Wort zuviel und kein Wort zu wenig ist daher des weiteren gesagt, denn jedes Wort ist bedachtsamst gesetzt und aussagekräftig. So ist es gewichtig, daß Vigny sein Werk ein „nüchtern-strenges“ nennt, paßt doch dieser Charakter zur Entstehungssituation einer siebzehn Nächte währenden Schreib- und – Grabatmosphäre: Denn ist der wachende Dichter nicht in die dunkle Kammer der Nacht und in das Innere seiner selbst wie in ein anderes Schattenreich zurückgezogen und freiwillig abgeschieden aus der lebendigen Welt des Tages? Doch nicht nur in das (Grabes-)Dunkel, vor allem in die (Grabes-)„Stille“ der Nacht ist er geflüchtet. Dieser Stille verdankt das Werk Chatterton sein Zustandekommen: „Die Geräusche des Alltags unterbrachen sie [die nächtliche Arbeit] kaum, und unaufhörlich flossen die Worte in die Form, die meine Gedanken gegraben hatten.“ (37) Die Nacht hat keine Störgeräusche: aus diesem Grunde ungestört und ununterbrochen flossen „die Worte“ „in die Form“, die des Dichters „Gedanken gegraben“ hatten. Als ob die Worte das Fließen eigenmächtig unternommen hätten, ohne erzwingendes Zutun des Poeten. Dieser hatte gewiß mit seiner Gedankenarbeit die Form vorgegraben, die als Auffangbecken den Fluß der Worte anzog; gewiß ist im Begriff des „Grabens“ die Mühe enthalten, die die Gedankenarbeit gekostet hat, und sicherlich muß auch der Akt eines siebzehn Nächte währenden „bloßen Niederfließenlassens“ der Worte erschöpfend genug für die menschliche Konstitution sein, die, naturgemäß und sanktioniert durch die Gesellschaft, zu einem anderen Rhythmus bestimmt ist. Dennoch ist es bemerkenswert, daß das kontinuierliche Zusammenfließen der Worte des Dichters in die Hohlform seiner vorgegrabenen Gedankengänge bei aller Zähflüssigkeit unaufhörlich erfolgte, insofern an Mühelosigkeit grenzend. Dieser Schreibakt, der ja mit dem Ausguß der Worte beschrieben ist, ist merkwürdig in seinem mühevollen und mühlelosen Fließen, das wiederum auf der vergangenen Mühe einer noch nicht schriftlichen Denk- oder Vorgrabearbeit beruht. Und wenn ich mich so ausführlich bei dem ersten Absatz des Schlußworts zu einem Drama aufhalte, das mehr aufgrund seiner Hauptfigur interessieren
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sollte, bin ich unversehens mit ihr schon auf Tuchfühlung. Denn die Entstehungsgeschichte, die Vigny seinem Drama Chatterton gibt, beschreibt die Arbeitsweise eines Poeten, der auch „Chatterton“ heißen könnte. * Was wäre gewesen, hätte Vigny sich nicht in die Stille der Nacht zurückziehen können zum ungestörten Schreiben, und das siebzehnmal in ununterbrochener Folge? Glaubt man ihm, hätte es kein ungehemmtes Niederfließen der Worte, also kein Drama Chatterton gegeben. Dabei muß selbst dieser Akt des „mühelosen“ Fließenlassens im Grunde peinvoll gewesen sein: allein aufgrund der dauernden Angst vor Störgeräuschen, die erst zum Arbeiten in der Nacht antrieb. Dann aber muß die erzwungen-freiwillige Nachtarbeit erschöpfend sein, der Tag umgekehrt zur Erholung dienen – weswegen der nächtliche Dichter tagsüber „zu nichts zu gebrauchen“ sein kann, sollte jemand ihm in dieser „Freizeit“ erneute Schöpfung und Erschöpfung abverlangen. Daß die Arbeit des Poeten schwierig ist, ist damit angedeutet, doch damit noch nicht genug. Daß Vignys Chatterton über siebzehn Nächte hinweg in die vorgegrabene Form der Gedanken zusammenfloß, sowie in Tinte auf das Schreibpapier, das muß erschöpfend, aber auch befriedigend gewesen sein. Nur darf der Dichter sich kaum auf diesen Lorbeeren des Vollendethabens ausruhen, denn: À présent que l’ouvrage est accompli, frémissant encore des souffrances qu’il m’a causées, et dans un recueillement aussi saint que la prière, je le considère avec tristesse, et je me demande s’il sera inutile, ou s’il sera écouté des hommes. – Mon âme s’effraie pour eux en considérant combien il faut de temps à la plus simple idée d’un seul pour pénétrer dans le cœur de tous. (37)
Noch einmal kommt Vigny auf den Charakter seiner Arbeitsweise zurück, die das daraus hervorgegangene Werk prägte, denn dieses soeben „vollendete“ Werk ist noch „erbebend von den Leiden, das es mir bereitet hat, und [das] in einer Zurückgezogenheit, ebenso heilig wie das Gebet.“ Das nächtliche Schreiben erbrachte Anstrengung und Leiden – und doch war es dem sich selbst aufopfernden Dichter „ebenso heilig wie das Gebet“. Vigny widmete nicht dem Schöpfer Gott seine Andacht, aber dem Schöpfer Chatterton sein konzentriertes Andenken. So aber haftet dem Dichter, der sich Nacht für Nacht einsam dem Andenken Chattertons und dem Schreiben Chattertons hingab, etwas Mönchisches und Radikales an – wie dem Resultat seiner Dichtung, der Figur Chatterton selbst. Deren „costume“ auf dem Theater stellte Vigny sich als „à la fois militaire et ecclésiastique“ (53) vor, „zugleich militärisch und klerikal“. Doch um noch bei dem nichtfiktiven mönchisch-radikalen Poeten Vigny zu verbleiben, wird seine schlaflose und entsagungsvolle, hingebende und erschöpfende Nachtarbeit durch ein Werk belohnt – das dann kein verdientes Hochgefühl, sondern „Trauer“ in seinem Verfasser auslöst. Denn diese „Trauer“ entspringt einer neuerlichen Angst nach der Angst vor den das Dichten verhindernden Störgeräuschen: Wird dieses so teuer erarbeitete Werk „unnütz“ sein –
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oder doch „von den Menschen erhört“ werden? Nicht nur, ob die Menschen zuhören und es rezipieren werden, entscheidet über den Nutzen oder die Nutzlosigkeit des Resultats einer vielleicht umsonst investierten Dichtermühe. Hinzu kommt ein zweites Drohendes, das wiederum von der Problemgröße „Zeit“ herrührt. Vielleicht sind siebzehn Nächte ununterbrochener Schreibarbeit sehr lang für einen schlaflosen Menschen; vielleicht sind sie sehr kurz als Geburtszeit eines vollendeten Dramas.255 Doch wie auch immer man die Entstehungszeitdauer von Chatterton bemißt, die Geburt der Idee oder des „Gedankendramas“256 aus dem einen Menschen ist ein nichts gegenüber der Zeit, die es braucht, bis „die einfachste Idee eines einzelnen in die Herzen aller“ gelangt! – Und freilich sind die Herzen als Empfänger von Chatterton anvisiert und nicht die Köpfe. * Stendhal klagte 1822 über eine Verknöcherung der Herzen seiner männlichen Zeitgenossen: Die arbeitenden Männer sah der Verfasser von De l’Amour an den Nebenwirkung einer fatalen Verwirtschaftlichung der Arbeits-, Denk- und Lebensweise seiner Welt erkrankt. Vignys Diagnose einer Zeit- und Gesellschaftskrankheit der 1830er Jahre sieht entsprechend aus: denn nun kommt der Verfasser der Dernière nuit de travail auf Stello zu sprechen – auf jenen Roman, in dem er 1831/32 schon einmal einige Kapitel der Idee Chatterton widmete. Das macht eine Begründung dafür notwendig, warum ein zweites, ausschließlich Chatterton gewidmetes Werk sein mußte, und zwar ein Drama. Vignys Angst, sein Drama möge vergeblich geschrieben sein und sich als nutzlos erweisen, stützt sich auf die Erfahrung, die der Produzent von Stello machte. In die Sprachen mehrerer Länder wurde der Roman übersetzt und von Kritikern allseitig gelobt – bezüglich seines Stils, seiner Komposition, seines philosophischen Argumentationsgangs. Anders und mit Vigny gesagt, war Stello – ein Mißerfolg, ohne Nutzen. Denn das Eigentliche, worum es in Stello geht, wurde von Lesern und Kritikern beiseite gelassen, weshalb das Buch seine vom Verfasser erhoffte Wirkung verfehlte. Zumindest ist es das, was Vigny sich selbst fragt: „mais les cœur ont-ils été attendris? – Rien ne me le prouve. L’endurcissement ne s’amollit point tout à coup par un livre.“ (38) Stello hätte „die Herzen“ „erweichen“ sollen, um in Vignys Sinne ein nützliches und erfolgreiches Buch zu sein. Doch nichts will ihm beweisen, daß die Herzen sich er255
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––––––––––––––––––– Rey betont die außergewöhnliche Schnelligkeit der nur siebzehn Nächte gewährt habenden Schreibarbeit. Als Erklärung dieser „Eile“ („hâte“) des Dichters gibt Rey den Umstand an, daß Vignys Geliebte, die Schauspielerin Marie Dorval, im Frühling 1834 eine „provisorische Einstellung“ in der Comédie-Française erhalten hatte. Damit die Dorval sich beweisen und ihre Stelle behaupten konnte, habe Vigny schnellstmöglich das Drama mit der weiblichen Hauptrolle der Kitty Bell für sie geschrieben. (Rey: Préface, S. 8.) Kelly resümiert zu Vignys Schreibakt von Chatterton: „It was Vigny’s last play for her, written in seventeen nights of concentrated inspiration, his feelings so intense, he told a friend, that at times he fainted from emotion.“ (Kelly: The Marvellous Boy, S. 108.) So nennt Vigny sein Drama Chatterton: ein „DRAME DE LA PENSÉE“ (51).
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weichen ließen. Deshalb analysiert Vigny: „Die Verhärtung [der Herzen] läßt sich nicht auf einen Schlag durch ein Buch aufweichen.“ Vielleicht aber durch ein Drama. Denn wenn Vigny trotz seines „Mißerfolges“ von Stello noch einmal zur Feder greift, um nun ein Chatterton genanntes Theaterstück zu verfassen, muß er zwei Intentionen damit verfolgen. Auf der einen Seite muß er die Gedanken, die trotz ihrer ersten Verarbeitung zu einigen Kapiteln in Stello weiter und weiter in ihm „herumgruben“, erneut und pointierter zum Ausdruck bringen. Zweitens will Vigny diesmal aber nicht mit einem zu lesenden Buch, sondern mit einem zu erlebenden Theaterstück unmittelbarer, nachhaltiger und wirksamer die Herzen seines Publikums bewegen. Diesmal unwiderstehlich will er diese Herzen, die verhärtet sind, aufweichen. Doch scheint ihm die Dramenaufführung zur Herzenserweichung zweckdienlicher, hindert ihn das trotzdem nicht daran, Idee und Intention von Chatterton noch einmal theoretisch auch den Köpfen der Leser seiner Buchfassung von Chatterton zu vermitteln, mit ihrem Klartext redenden Resümee-Kapitel Dernière nuit de travail. * „La cause? c’est le martyre perpétuel et la perpétuelle immolation du poète. – La cause? c’est le droit qu’il aurait de vivre. – La cause? c’est le pain qu’on ne lui donne pas. – La cause? c’est la mort qu’il est forcée de se donner.“ (38) Das ist „la cause“, „der Beweggrund“, „die Sache“, die Idee oder eigentlich Ideenkette, die Vigny mit dem Namen Chatterton verbindet, die zu vermitteln er den Namen Chatterton benutzt. Diese Idee ist die eines „ewigen Martyriums und einer ewigen Hinopferung des Poeten“. Was heißt, daß der Poet „ein Recht zu leben hätte“ – daß man ihm jedoch sein Brot verweigert – daß der verhungernde Poet folglich dazu gezwungen ist, nicht mehr zu leben, sondern sich den Tod zu geben. Die Gesellschaft, die den Poeten nicht nährt, zwingt ihn zum Freitod. Das ist die Idee, die Chatterton Vigny eingab und mit der Vigny rückwirkend Chattertons Selbstmord entschuldigt. Doch vor allem will Vigny künftigen Selbstmorden vorbeugen: indem er im Namen Chattertons die Herzen der Gesellschaftsmitglieder erweichen und dazu bewegen will, das den Poeten angetane Martyrium erstens einzusehen, zweitens es abzuschaffen. Doch was konkret machen wir, die einzelnen Glieder oder Herzen der von Vigny angeklagten Gesellschaft, falsch? „Vous les tuer, en leur refusant le pouvoir de vivre selon les conditions de leurs nature.“ (38) „Ihr bringt sie“, die Poeten, „um, indem er ihnen verweigert, gemäß der Bedingungen ihrer Natur zu leben“, so Vignys kritische These, zu der zu ergänzen ist, daß man den Begriff „leben“ durch „arbeiten“ austauschen könnte. Daß die Gesellschaft die Poeten nicht auf die Weise arbeiten läßt, wie sie es tun müssen, um arbeiten zu können: das ist die Weise der Gesellschaft, die Poeten an ihrer Schaffens-, Lebens- und Seinsweise zu hindern. Diesen Umstand hat die Gesellschaft nur vergessen. Vielmehr behandelt sie den Dichter als eine „gewöhnliche Sache“ („chose commune“) und macht ihn zu einer „so billigen“ Ware („si bon marché“) (38), daß
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Vigny folglich den Wert des Poeten wiedererinnern muß. So kommt es zu einer Vorstellung des schreibenden Menschen, den Vigny in drei Kategorien einteilt. Die ersten beiden Arten des Schreibers benötigen allerdings weder Mitleid noch Hilfe, weshalb ich sie hier noch kürzer präsentiere als Vigny selbst es mit seinen Kontrastfiguren zum „wahren“ Poeten tut. Da ist zunächst der schreibende Mensch, dem Vigny den geringsten Wert beimißt, wiewohl und weil er die höchste Beliebtheit in seiner Lebenswelt genießt. Dieser „HOMME DE LETTRES“ (40) oder Berufsschriftsteller zeichnet sich nämlich durch seine „Befähigung für die Dinge des Lebens“ aus – er ist „[l]’homme habile aux choses de la vie“ (39). Dieser Schreibarbeiter ist für das Dingliche, Geldliche begabt, und das heißt: Der Berufsschriftsteller versteht es, sich ohne Gefühl und Inspiration aus seinem Repertoire von Stilen, Gattungen, Wortwendungen zu bedienen und je nach Nachfrage jegliche Ware zu produzieren, die er glücklich verkauft. Letzten Endes verfaßt dieser Berufsschreiber seine „Geschäftsschriftstücke wie Literatur, und verfaßt Literatur wie Geschäftsschriftstücke“: „Il écrit les affaires comme la littérature, et rédige la littérature comme les affaires.“ (39) Doch mit eben dieser uninspirierten Arbeit kommt er an, und da er bestens von seiner Wortdrechslerei lebt, fällt er niemandem zur Last, sondern ist „toujours aimé“ (40) – „immer geliebt“. Mehr von Vignys Wertschätzung gebührt einem zweiten Typus des schreibenden Menschen, gleichwohl auch er erfolgreich ist. Doch dieser „GRAND ÉCRIVAIN“ (41) oder „große Schriftsteller“ hat sich seine überlegene Machtposition redlich verdient – was bereits darauf hinweist, daß er kein junger Mann mehr sein kann. Vielmehr hat er ein Leben des freiwilligen Welt-„Rückzugs“ („retraite“) hinter sich, in dem er seine „komplette Philosophie“ („philosophie entière“, 40) entwickelte und aus der luftigen Höhe seiner Gedankenwelt die Außenwelt sezierte, kritisierte, durchschaute. So hatte und hat noch der große Schriftsteller seine Kämpfe mit der Außenwelt zu bestreiten, der er zeitweise lästig genug fällt. Doch ist er einer jener machtvollen Geister, die gestützt sind durch ihre „reiche, exakte und fast unfehlbare Erinnerung“ („mémoire“ „riche, exacte et presque infaillible“), ihr von Leidenschaften beinahe unbelastetes Urteilsvermögen (ein „jugement“ „exempt [...] de passions autres que ses colères contenues“), ihre pointierteste Aufmerksamkeit („l’attention portée au degré le plus elevé“) und ihr „wunderbares Ausdrucksvermögen“ (eine „plus magnifique expression“). (41) Derart befähigt, hat oder wird der große Schriftsteller die Wahrheit finden, die er sucht, und als ein vernunftgeleiteter Streiter dieser unanfechtbaren Wahrheit hat oder wird er letztlich sich selbst und den Rang behaupten, der ihm zusteht. Ein solcher Mensch wird auf die Dauer „Meister seiner selbst und vieler Seelen“ sein („maître de lui et de beaucoup d’âmes“, 41) – auch dieser schreibende Mensch braucht kein Mitleid, keine Hilfe. Bleibt nur noch die Art von schreiben müssendem Mensch, von dem Vigny als einziger sagt: „C’EST LE POÈTE.“ (43) Und dieser, dessen Typus in Reinform er den Namen Chatterton gibt, muß mit Vigny eingehender vorgestellt
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werden. Die Natur dieses einzigen, wahren Poeten charakterisiert Vigny als noch „leidenschaftlicher, reiner und rarer“ („plus passionnée, plus pure et plus rare“, 42) als die Natur des großen Schriftstellers. Daß diese Art von Mensch nur „in seltenen Intervallen“ („à de rares intervalles“) auf Erden erscheint, sei dem Poeten ein Glück, wenn auch ein Unglück für die Menschheit. Um das Paradox nämlich auf die Spitze zu treiben: „Il y vient pour être à charge aux autres, quand il appartient complètement à cette race exquise et puissante qui fut celle des grands hommes inspirés. –“ (42) Drei Aussagen sind in diesem einen Satz enthalten. Erstens kommt der Poet auf die Welt, „um den anderen eine Last zu sein“. Zweitens ist das gerade dann der Fall, sollte er „vollkommen zu dieser exquisiten und machtvollen Rasse“ „gehören“, „die die der großen, inspirierten Menschen war“. So daß die dritte, implizite Aussage des paradoxen Satzes ist: daß sein Paradox sich dem Fortschritt der Zeit verdankt. Da „war“ einmal eine so exquisite wie machtvolle Rasse von großen, inspirierten Menschen – der Poet, der heute der Fortsetzer derselben Rasse ist, ist seinen Mitmenschen nur noch eine Last. Sein Geist mag ebenso machtvoll und exquisit sein wie der seiner Vorgänger – seine Person ist es gerade nicht. Seine Person stört, ist überflüssig, wertlos. Was ist geschehen? Wie kommt es zur Lästigkeit dieses „veralteten“ und dabei so jungen und unbekannten Poeten? Vigny schildert die Existenz des Poeten als einen Werdegang ohne Ausweg, eine Spirale ins Leid. Geboren wird der Poet mit einem derart „tiefen und intimen“ „Gefühl“ („[l]émotion“ „si profonde et si intime“), daß er seit seiner Kindheit in „unwillkürlichen Ekstasen“ („extases involontaires“) und „endlosen Träumereien“ („rêveries interminables“) schwelgt und schon jetzt „unendliche Erfindungen“ („inventions infinies“) in sich entwickelt; denn: „L’imagination le possède par-dessus tous.“ (42) Schon der kindliche Poet ist befeuert von seiner Sensibilität, doch gänzlich „besessen“ von seiner Imagination, die noch angereichert wird durch eine „ausgedehnte Erinnerung“ („large mémoire“) und einen „geraden und eindringlichen Urteilsinn“ („sens droit et pénétrant“). (42) Doch die Imagination ist die erste Macht in ihm und so der Ballon, von dem gezogen des Poeten sämtliche Geistesvermögen unwiderstehlich gen Himmel streben: „Au moindre choc, elle part; au plus petit souffle, elle vole et ne cesse d’errer dans l’espace qui n’a pas de route humaine.“ (42) „Beim geringsten Anstoß geht sie los; beim leisesten Windhauch fliegt sie und hört nicht auf, in einem Raum umherzuirren, in dem es keine menschlichen Straßen gibt.“ So kommt es, daß der Poet den Boden unter den Füßen verliert, den Kontakt zu seiner realen Lebenswelt, die allerdings – so deutet Vigny noch einmal an, wenn er des Poeten Gedankenreisen eine „Flucht“ nennt (42) – eine ihm feindlich gesonnene Lebenswelt ist. Und nun beginnt der Teufelskreis der Poetenexistenz erst eigentlich: denn das Resultat seines Rückzugs in sich selbst, die eigene Fühligkeit und Phantasie, besteht in einer Intensivierung eben dieser Gefühligkeit, die wiederum die Imagination verstärkt befruchtet. So erleidet der
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Dichter exzessiv, was auch immer er erlebt – und exzessiv erleidet er auch „die Ekelgefühle, die Kränkungen und die Widerstände der menschlichen Gesellschaft“ („les dégoûts, les froissements et les résistances de la société humaine“). Erleidend und in intuitiver Klarheit durchschaut der Poet aber „alles zu vollkommen und zu tiefgründig“ („parce qu’il comprend tout trop complètement et trop profondément“): Er durchschaut die Mißstände seiner Welt und den zentralen Mißstand seiner nichtigen Verortung darin, und er versinkt in „unüberwindlichen Verzweiflungen“ („désolations insurmontables“). (43) Das aber wirft den Poeten noch einmal, noch exklusiver auf sich selbst zurück: „De la sorte, il se tait, s’éloigne, se retourne sur lui-même et s’y enferme comme en un cachot.“ (43) „Auf diese Weise verstummt er, entfernt er sich, wendet sich auf sich selbst zurück und schließt sich in sich ein wie in eine Gefängniszelle.“ Doch dieser Zustand des verzweifelten hermetischen Sichzurückwendens auf sich selbst, dieses Sichzurückziehens in das eigene Innere als eine ihm einzig offenstehende „Gefängniszelle“ – erst dieser peinvollste Zustand macht den geborenen jetzt zum produzierenden Dichter: Là, dans l’intérieur de sa tête brûlée, se forme et s’accroît quelque chose de pareil à un volcan. Le feu couve sourdement et lentement dans ce cratère, et laisse échapper ses laves harmonieuses, qui d’elles-mêmes sont jetées dans la divine forme des vers. (43) Da, im Inneren seines versengten Kopfes, bildet sich etwas, wächst etwas an, das einem Vulkan ähnelt. Das Feuer schwelt dumpf und langsam in diesem Krater und läßt seine harmonischen Lavaströme entweichen, die von selbst in die göttliche Form der Verse stürzen.
Alles Leid, alles, das der enttäuschte und verletzte Poet aus der Außenwelt in sein Inneres mit sich zurücknimmt, brodelt und arbeitet langsam und unaufhörlich, bis sich diese Schmerzens-Lava von alleine erhebt und entäußert in der harmonischen, „göttlichen Form der Verse“. Der Poet schöpft aus dem ihm zugefügten Leid seine Inspiration, so daß seine Poesie eine merkwürdige Transformation des Qualvollen, Weltlichen, Niederen, Häßlichen in das Harmonische, Göttliche, Schöne darstellt. Es ist ein Wunder, das sich im Poeten vollzieht, aber noch dieses Wunder hat einen dem Wundertäter unheilvollen Haken: „Mais le jour de l’éruption, le sait-il? On dirait qu’il assiste en étranger à ce qui se passe en lui-même, tant cela est imprévu et céleste!“ (43) Als ob er neben sich stünde sieht der Dichter dem zu, was da in seinem Inneren vor sich geht: „so unvorhergesehen und himmlisch ist es!“ Oder anders gesagt: Der Poet kann den Zeitpunkt der „Eruption“ seiner Gedankenlava nicht wissen und nicht planen. Im Gegenteil ist der Dichter, während tagelang das innere Schwelen sich ankündigt oder in ersten Wallungen vor sich geht, planlos, kopflos, unorientiert und in sich verlaufen: „Il va comme un malade et ne sait où il va; il s’égare trois jours, sans savoir où il est
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traîné“. (43) „Er geht wie ein Kranker und weiß nicht wohin er geht; er verläuft sich drei Tage, ohne zu wissen, wohin es ihn zieht“. Der an der Inspiration erkrankte Poet weiß nicht, worauf sein peinvoller Prozeß der poetischen Hervorbringung hinauswill; eben dieses Nichtwissenund-Geschehenlassen ist sein zwangsläufiger, intuitiv gesteuerter Weg, die Geistesgeburt zu unternehmen. In der Tat gibt Vigny dem Dichter und seinem Akt der quälenden, langandauernden und doch unaufhaltsam stattfindenden Versproduktion die Attribute einer gebärenden Frau. Und was für diese gebärende Hausfrau gilt, muß für den in sein Intérieur verschanzten Poeten erst recht und lebenslang gelten: „il a besoin de ne rien faire, pour faire quelque chose en son art.“ (43) Dieses ist der revolutionärste Satz aus Alfred de Vignys Kampfschrift, die Chatterton ist: „er“, der Poet, „hat es nötig, gar nichts zu tun, um etwas zu tun in seiner Kunst.“ Das heißt nicht, daß der Poet nicht arbeitet. Das heißt, daß dem Poeten keine andere als seine Kopfarbeit zuzumuten ist und kein anderer als sein Arbeitsrhythmus. Vigny exemplifiziert: Il faut qu’il ne fasse rien d’utile et de journalier pour avoir le temps d’écouter les accords qui se forment lentement dans son âme, et que le bruit grossier d’un travail positif et régulier interrompt et fait infailliblement évanouir. – (43)
Der Poet dürfe „nichts Nützliches und Tagtägliches“ tun, „um die Zeit zu haben, auf die Akkorde zu hören, die sich langsam in seiner Seele formieren“; denn der „grobe Lärm einer praktischen und regelmäßigen Arbeit unterbricht“ den Fluß des Dichtens und läßt ihn „unausbleiblich vergehen. –“ * Weil es Vigny selbst wie dem beschriebenen Poeten erging oder weil er zumindest die Unterbrechung seiner Arbeit durch die Störgeräusche der Alltagswelt fürchtete, flüchtete er in die Arbeit der Nacht, siebzehnmal nacheinander, und unaufhaltsam, weil ungestört, entströmtem ihm die Worte in die vorgegrabene Form seiner Gedanken, die er betiteln und resümieren würde mit einem Wort: Chatterton. – Chatterton: denn schließlich spricht Vigny doch nicht einfach von sich, wenn er den wahren, geborenen Poeten in seinem Wesen und Werken und daraus resultierenden Ruin vorstellt, um damit die verhärteten Herzen seiner Anhörer gleichsam wider Willen zu Mitleid und Hilfe zu erweichen. Vigny ging es zeitlebens so schlecht nicht, zumindest mußte er nie an Hunger leiden. Auch hatte er längst einen Namen, als er Chatterton schrieb, und war als Dichter anerkannt. Doch gerade deshalb, weil Vigny weiß, wie wahre, inspirierte Poesie entstehen muß, und weil er genug an Name und Einfluß hat, sich hörbar zu machen, gerade deshalb muß Vigny für diejenigen sein Wort einlegen, die anders als er noch namenlos sind und über kein „abgesichertes Leben“ (43) verfügen und trotzdem schreiben müssen, weil sie nicht anders können – weil sie geborene, von der Inspiration verfolgte Poeten sind.
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Es ist allerdings interessant, daß Vigny an dieser Stelle des Schlußwortes Dernière nuit de travail die Gesellschaft, die er doch verantwortlich für den Ruin des Poeten macht, nicht plastisch und überhaupt nicht direkt beschreibt. Seine Charakterisierung bleibt implizit: sie drückt sich aus in einer Kritik und einer Anklage. Die Kritik ist die, daß die Instanz der „Macht“ nur „materielle“ Interessen unterstütze („le Pouvoir déclare qu’il ne protège que les intérêts positifs“, 44); die Anklage aber lautet: Die Gesellschaft der am Poetischen nicht interessierten Machthaber treibt den Poeten in den Selbstmord. Denn was hat der geborene, doch namenlose und somit auch brotlose Dichter für eine Lebensperspektive? Er könne Soldat werden und, so Vigny, mit der körperlichen Aktivität die geistige abtöten; er könne „l’illusion“ auch abtöten, indem er sich buchhalterischen Berechnungen widme. Er könne sich als Berufsschriftsteller verkaufen und „l’imagination“, das Herz seines wahren Dichtertums, auf diese Weise vernichten (45) – und aus diesem traurigen Versuch resultierte ja (von Vigny ungewußt) das Lebensleiden des historischen Thomas Chatterton, das der Dichter von Intrest thou universal God of Men als sein Martyrium satirisch-selbstkritisch sezierte. Aber der gründliche Vergleich zwischen Chattertons Selbstbild und Vignys Idee des ruinierten Poeten Chatterton soll noch auf sich warten lassen, bis dieser zweite Chatterton Vignys komplett erörtert ist, mit Blick auf seinen Hauptauftritt, im Drama. So daß an dieser Stelle noch rein aus Vignys Perspektive festzuhalten ist: Egal, welchen der drei angegebenen Wege aus der Misere sein Poet ginge – alle drei wären „demi-suicides“ (45), halbe Selbstmorde. Wer könnte es ihm da übel nehmen, wenn er „cette lente destruction de lui-même“ (45), „dieser langsamen Zerstörung seiner selbst“, eine schnelle, einmalige, gänzliche Selbsttötung vorzöge? Vignys Argumentation ist zynisch, jedoch zutiefst ernst gemeint. Trotzdem will er (entgegen dem, was sein Drama Chatterton auslöste) nicht zum Selbstmord animieren oder den Dichter glorifizieren, der aus Verzweiflung und Hunger Selbstmord begeht. Wiewohl dieser schiere Hunger eine nicht abzutuende Entschuldigung wäre, denn Vigny gibt, beschämt für die Welt, zu: „Les beaux vers, il faut dire le mot, sont une marchandise qui ne plaît pas au commun des hommes.“ (49) „Schöne Verse sind, man muß das Wort sagen, eine Ware, die nicht der Allgemeinheit der Menschheit gefällt.“ Weshalb sie sich nicht verkaufen und ihre Macher verhungern lassen. – Und nichtsdestotrotz will Vigny verhindern, daß es zur fatalen Verzweiflung und zum Hunger des Dichters kommt: Nichtsdestotrotz will er die Gesellschaft aufmerksam machen auf das Unrecht, ja Martyrium, das sie dem mißachteten Poeten aufbürdet; trotz allem will Vigny die Herzen erweichen und für die verkannte Poesie und die unglücklichen Auserwählten gewinnen, die das „Unnütze“ produzieren und folglich selbst als unnütze Abfall-Produkte der Gesellschaft behandelt werden – bis sie es nicht länger ertragen. Sicher, als einen konkreten Vorschlag der Abhilfe hat Vigny nur eine praktische Idee anzubieten: die Einrichtung einer „pension alimentaire“ (48). Doch
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bewegender als solche praktischen sind doch die poetischen Formulierungen (und bewegen, das kann der Poet, das ist sein métier), und so setzt Vigny nicht wirklich auf seinen Vorschlag eines Nahrungsmittel-Stipendiums, um seine Welt dadurch zu einer Veränderung zu bewegen. Er setzt auf sein Drama Chatterton, das – wenn die Rechnung des Dichters aufgeht – mit fruchtbaren Konsequenzen zu Herzen geht.
3 Drama des Unaussprechlichen ‒ des Ruins Chatterton war für Alfred de Vigny ein Name, eine Idee, und diese Idee mit Kritik und gewissen Intentionen verbunden. In den Dienst welcher Absichten Vigny den Namen Chatterton stellte, formulierte er wiederholt und im Rahmen von zwei Texten: auf der einen Seite das schon Ende Juni 1834 verfaßte theoretische resümierende Schlußwort seines Dramas, Dernière nuit de travail; auf der anderen Seite das im Mai 1835 geschriebene Zusatzkapitel für sein Dramenbuch, Sur les Œuvres de Chatterton. Aus beiden Schriften zusammenaddiert, lassen sich die Intentionen Vignys wie folgt aufzählen: Zwar gab Alfred de Vigny in einem Brief an seine Geliebte, die Schauspielerin Marie Dorval, an, er habe Chatterton für sie geschrieben – für sie habe er, auf wenig glorreiche Weise, eine eigentlich alte Idee – aus dem Roman Stello – noch einmal verwertet und auf die Bühne gebracht.257 Doch wie Pierre-Louis Rey feststellt, spricht aus diesem intimen Briefbekenntnis „der eifersüchtige Liebhaber, der den Wert seiner Geschenke zu fühlen gibt.“258 Sicherlich hat Vigny auch im Andenken an seine Geliebte sein Drama um Chatterton – und Kitty Bell – geschrieben. Doch nicht diese intime Intention findet sich unter den Absichtserklärungen, die Vigny für die Öffentlichkeit aufschrieb. So schrieb Vigny, seinen gedruckten Aussagen zufolge, Chatterton erstens aus dem persönlichen Anliegen heraus, die Ideen zum ruinierten Poeten, die trotz ihrer ersten Verarbeitung in Stello (1831/32) weiterhin in ihm rumorten, noch einmal und pointierter zum Ausdruck zu bringen. Zweitens widmete Vigny sein Drama rückwirkend und in Buchform dem Andenken des historischen Chatterton: als ein Sühnebuch oder Grabstein der Wiedergutmachung. Eine Wiedergutmachung sollte das Drama aber weniger sein, weil Vigny darin die verkannten Qualitäten des historischen Dichters vergegenwärtigt hätte. Die Wiedergutmachung bestand in einer Verteidigung des Selbstmords des Jungdichters 257
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––––––––––––––––––– „Était-ce une grande gloire que de mettre au théâtre une idée de l’un de mes livres? C’était pour toi, tu l’as oublié...“ So findet sich der Brief Vignys vom 8. April an Marie Dorval zitiert in Rey: Préface, S. 9. So Reys Worte, ebd., S. 10.
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– mit einer die Benutzung des Namens Chatterton entschuldigenden Absicht: die Schuld am Dichterselbstmord der Gesellschaft zuzusprechen. Doch nicht nur anklagen wollte Vigny die Gesellschaft in Chattertons Namen. Da er sie als eine Gesellschaft der verhärteten Herzen charakterisiert, muß seine wichtigste Intention sein, im Namen Chattertons die Herzen zu erweichen und dazu zu bewegen, dem Martyrium des Poeten – von dem Vigny schließlich wußte, daß es alles andere als nur ein historisches Phänomen einer vergangenen ChattertonZeit war – entgegenzuwirken. So ist folglich zu fragen: Wie wird Vigny diese wichtigste seiner Absichten, mit Chatterton die Herzen zu erweichen und zum Wohl des ruinierten Poeten zu gewinnen, in die Tat umsetzen? Wie setzt er seine Idee des ruinierten Poeten und die daran gebundene Gesellschaftskritik, die er in Dernière nuit de travail im theoretischen Klartext resümiert, um in die Praxis eines Dramas? Und warum der Vorzug der Dramenform vor der des Buches, das sich, mit Stello, als unnütz erwies, die Herzen dauerhaft und effizient zu berühren? Dieser Frage nach dem Funktionieren eines Dramas, das gezielt dazu geschrieben ist, im Namen Chattertons die Herzen zu bewegen, und zwar im Sinne einer weltverbesserischen Intention, ist in der Analyse des Werkes nachzugehen. Dabei muß drei Aspekten besonderes Augenmerk gebühren. Zum ersten gilt es, das Verhältnis zwischen der anrühren sollenden Dramenfigur Chatterton zum historischen Thomas Chatterton auszudifferenzieren. Es leuchtet ein, daß Vignys Dramen-Chatterton ein anderer als das historische Original sein wird; doch welche wesentlichen Unterschiede trennen, welche Gemeinsamkeiten verbinden konkret den erdachten und den historischen ruinierten Poeten? Deren größte Gemeinsamkeit ist damit schon gesagt: es muß die Ruinierung sein, und bezüglich des historischen wie des fiktiven Poeten wird die Ruinierung aus der Positionierung des Dichters zu seiner Lebenswelt begründet. So ist zweitens zu dieser das Unheil in sich tragenden Umwelt zu fragen: Wie stellt Vigny Chattertons Gesellschaft von 1770 dar – ohne sie zum vergangenen Museumsdekor zu machen? Chattertons Gesellschaft interessierte Vigny aufgrund einer darin gefundenen Gemeinsamkeit zur eigenen Lebenswelt; eine Aktualität, die der Dramendichter folglich vermitteln muß. Drittens aber muß zum Schluß noch einmal nachgehakt werden, was im Fall des historischen und was im Falle des Dramen-Chatterton das Adjektiv „ruiniert“ heißt. Auf beide Figuren angewendet – auf die, die 1770 in Wirklichkeit ruiniert starb und auf die, die ruiniert stirbt am Ende des Dramas von 1834 – muß, ja kann die Bedeutung des Worts „ruiniert“ doch nicht exakt dasselbe implizieren? Was änderte sich von 1770 zu 1834, vom Selbstverständnis Thomas Chattertons als einem ruinierten Poeten zu Vignys Verständnis des ruinierten Poeten, den er Chatterton nennt? * Chatterton schrieb meist im Namen Rowleys, doch konnte es auch einmal Canynge sein – keine Gedichte. Er schrieb „Entyrludes“. So daß das, was der Le-
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ser der Chatterton-Zeit als Gedichte las und noch der heutige Leser als Gedichte lesen kann, streng genommen nur noch ein blasser Nachhall sein kann, ein karges Reststück von dem, was das „Entyrlude“ einst gewesen sein soll: ein Gesamtkunstwerk von schauspielerischem und sängerischem Vortrag der gedichteten Verse, begleitet von Musik. Doch dieser Gesamteindruck der mittelalterlichen körperlichen Entyrlude-Aufführungen ist vergangen, verloren; was bleibt, ist der körperlose Text allein ‒ wiewohl er auf seine Weise körperlich greifbar ist: als, von Chatterton „gefälschtes“, „altes Manuskript-Reststück“. Vigny interessierte sich, so wie die englischen Romantiker vor ihm, wenn überhaupt für Chattertons Werk, dann für das poetische Werk Rowleys. Nur daß für Vigny gar kein „Entyrlude“ des Dichter-Mönchs selber dessen „wichtigstes“ Gedicht ist, sondern Rowleys Übersetzung einer angeblich „homerisch“ inspirierten sächsischen Beschreibung der Schlacht von Hastings.259 Daß Chatterton sich jedes von Rowleys „Entyrludes“ als musikalisch aufgeführtes Schauspiel dachte, wird Vigny entgangen sein – wiewohl er gewahrte, daß Chatterton/Rowley nebst dem „poème épique“ der Schlacht von Hastings einerseits noch weitere „poème[s]“ hinterließ, auf der anderen Seite aber zwei Schauspiele: „Œlla, tragédie épique. Goddwyn, tragédie“.260 Doch wenn Vigny also die „Gedichte“ von den „Tragödien“ unterscheidet, zieht er in seiner Kategorisierung der Rowley-Werke da eine explizite Trennungslinie, wo Chatterton selbst es nicht tat: denn für Chatterton gab es eben für alles, was poetische Schrift Rowleys war, den einen Begriff „Entyrlude“. Vigny war sich nicht darüber im Klaren, wie untrennbar in Chattertons Verständnis seiner Werke Rowleys deren Worte mit der Idee ihrer körperlichen Aufführung waren. So muß es mehr Zufall als Anknüpfung an Chatterton sein, wenn Vigny mit Chatterton einen Dramentext schreibt, der wiederum untrennbar von der Idee der Dramenaufführung ist: Der Dramentext muß unbedingt gespielt und verkörpert sein. Vignys Chatterton ist nicht, wie Rey es von den Dramen Mussets formuliert, dazu gemacht, „pour qu’on les lise dans un fauteuil“261. Nicht für eine Lektüre im Sessel, zu Hause, sondern auf das Ereignis der körperlichen Aufführung auf der Theaterbühne ist Chatterton hingeschrieben; und das nicht nur, weil das Stück mit seiner Rolle der Kitty Bell auch ein Geschenk Vignys für Marie Dor259
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––––––––––––––––––– „Le plus important des poèmes de Chatterton est la Bataille d’Hastings. Sa forme est homérique et l’on trouve même à chaque pas des vers grecs traduits en vieux vers anglais. Rowley est censé traduire Turgot.“ Aus diesem Zitat aus Vigny: Sur les Œuvres de Chatterton, S. 398, läßt sich das Mißverständliche der Bewunderung Vignys für den historischen Poeten Chatterton erlesen. Bewundernswert findet Vigny vor allem das „Homerische“ an Rowleys Übersetzung eines Manuskripts des sächsischen Mönches Turgot; und so geht Vigny so weit, Chatterton eine inspirierte Übersetzung und Einflechtung des Altgriechischen in sein Altenglisch zu unterstellen. Doch Chatterton, Besucher einer charitablen Bristoler KaufmannsSchule, hatte niemals Latein, geschweige denn Griechisch gelernt. Siehe ebd., S. 396. Rey: Préface, S. 7.
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val sein sollte. Wie und warum die leibhaftige Umsetzung des Dramentexts auf der Bühne derart bedeutsam ist, wird sich noch zeigen; paradox scheint es allerdings, daß Vigny dieses aufgeführt und „materialisiert“ sein müssende Drama bezeichnet als ein „DRAME DE LA PENSÉE“ (51) – ein Drama des Immateriellen, „der Gedanken“, und Rey nennt es auch: „le drame de l’ineffable“262, „das Drama des Unsagbaren“. Ein „Drama der Gedanken“ – nicht nur die Wortkreation ist neu. Auch das damit bezeichnete Werk ist derart anders, daß Vigny sich in Dernière nuit de travail (noch ehe er sich bei Chattertons Geist dafür entschuldigt, seinen Namen „als Symbol“ zu benutzen,) entschuldigt für die Eigenheit seines Dramas. Denn gewiß sei es Zeit für solche „ernsthaften Sachen“ (51), meint Vigny und kritisiert damit die „kindisch-überraschenden“, nur oberflächlich „die Augen amüsierenden“ „Abenteuer“ (51), die er in den allzu romantischen Dramen seiner Zeit sieht (konkret denkt Vigny an die dramatischen Werke Victor Hugos und Alexandre Dumas’). Doch soll hier weder Vignys eigene Positionierung zum romantischen Drama noch die schwierige Einordnung des Chatterton durch andere interessieren.263 Was an Vignys Bezeichnung des „DRAME DE LA PENSÉE“ unmittelbarer interessiert, ist die Implikation einer „Handlungsarmut“ des Schauspiels – erkennt man nur die äußere Aktion als Handlung an. Es ist eine Vorwarnung, es ist eine Entschuldigung, wenn Vigny zugibt: „L’action matérielle est assez peu de chose pourtant. [...] Mais“, setzt er sogleich hinzu, „ici l’action morale est tout.“ (51) So hat eine „moralische“ eine „materielle“ Handlung „hier“ großteils abgelöst, und in merkwürdigem Ungleichgewicht stehen sich diese materielle äußere und die moralische innere Aktion gegenüber. Ist das Drama an materieller Handlung arm, ist es an moralischer Handlung überbordend, weshalb Vigny das „verarmte“ äußere Geschehen des Stückes in einem Satz zusammenzufassen vermag: „C’est l’histoire d’un homme qui a écrit une lettre le matin, et qui attend la réponse jusqu’au soir; elle arrive, et le tue. –“ (51) „Es ist die Geschichte eines Mannes, der morgens einen Brief geschrieben hat und der die Antwort bis zum Abend erwartet; sie kommt an, und tötet ihn. –“ Die reiche innere Handlung des Dramas ist aber diese: L’action est dans cette âme livrée à de noires tempêtes; elle est dans les cœurs de cette jeune femme et de ce vieillard qui assistent à la tourmente, cherchant en vain à retarder le naufrage, et luttent contre un ciel et une mer si terribles que le bien est impuissant, et entraîné lui-même dans le désastre inévitable. (51)
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––––––––––––––––––– Ebd., S. 13. Die klare Einordnung des Chatterton unter die romantischen Dramen zeigt sich bis in die zeitgenössische Forschung hinein als schwierig, weil Vignys Drama inhaltlich und in seiner Wirkung romantisch sei, in seiner Form jedoch geradezu klassisch aufgrund seiner Berücksichtung der Einheiten von Ort, Zeit und Chronologie der Handlung. Siehe Rey: Préface, S. 27-34, oder Ubersfeld: Le drame romantique, S. 136-138.
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Die Handlung ist in dieser schwarzen Stürmen ausgelieferten Seele; sie ist in den Herzen dieser jungen Frau und dieses Greises, die dem Leidens-Unwetter beiwohnen, vergeblich versuchend, den Schiffbruch zu verhindern, und die gegen einen derart furchtbaren Himmel und eine derart furchtbare Erde widerstreiten, daß das Gute machtlos ist, und selbst in das unausweichliche Desaster mitgerissen.
Die eigentliche, moralische Handlung von Chatterton ist eine Handlung der Seelen und Herzen. Aus diesem Grund ist es ein „Drama des Unsagbaren“, des Immateriellen. Allerdings sind der immateriellen Handlung drei körperliche Spielräume zugewiesen: das Intérieur Chattertons und die Herzen einer jungen Frau und eines Greises, die dem Tosen in Chattertons Innern, davon infiziert, „beiwohnen“. – Und daraus spricht doch, daß keiner dieser passiv Erleidenden, nicht Chatterton, nicht die junge Frau und nicht der Greis, die aktiven Protagonisten des Dramas sind. Chatterton hat im Grunde nur eine aktive Größe, die ihr Spiel allein und unaufhaltsam spielt: Dieses Immaterielle, Unsagbare aber ist „le naufrage“ – „der Schiffbruch“, der Ruin. In Chattertons Seele spielt sich dieser Sturm ab, der zum Schiffbruch kulminieren wird, die Herzen zweier außenstehender Beiwohner noch mitreißend; doch ihre Ohnmacht ist das, was die menschlichen Opferobjekte verbindet, während das aktive, eigenmächtige Subjekt des Dramas der Sturm ist, der es sich nicht nehmen läßt, als Schiffbruch zu enden. Der Ruin muß der „Held“ und Inhalt des „Dramas der Gedanken“ oder „Dramas des Unsagbaren“ Chatterton sein; und wie seine Übersetzung in die Metapher des Schiffbruchs betont, ist das Sujet ein peinvolles, atemnehmendes. Und ist es da wirklich anzunehmen, daß dieses unwiderstehliche Wüten nur diejenigen, die ihm auf der Bühne beiwohnen, fatal mitnehmen muß? Müssen nicht noch diejenigen, die von außerhalb der Bühne dem Schauspiel des Schiffbruches beiwohnen, gewaltsam davon mitgerissen werden? Ein derart vehementes Pathos-Erlebnis ist jedem Beiwohner von Chatterton angekündigt, daß Vigny sich auch dafür, einmal mehr, entschuldigt; und doch muß es so sein, denn jetzt kommt er zur Sache: J’ai voulu montrer l’homme spiritualiste étouffé par une société matérialiste, où le calculateur avare exploite sans pitié l’intelligence et le travail. Je n’ai point prétendu justifier les actes désespérés des malheureux, mais protester contre l’indifférence qui les y contraint. Peut-on frapper trop fort sur l’indifférence si difficile à éveiller, sur la distraction si difficile à fixer? Y a-t-il un autre moyen de toucher la société que de lui montrer la torture de ces victimes? (51-52)
Auf die „Folter“ und Gewalt, mit der eine „materialistische Gesellschaft“ den „vergeistigten Menschen“ „erstickt“, kann der Dichter nicht anders als mit seiner eigenen Art von Gewalt reagieren. Gegen den „geizigen Berechner“, der „ohne Mitleid die Intelligenz und die Arbeit“ „ausbeutet“, aber auch gegen die allgemeine „Gleichgültigkeit“, die dieses tatenlos zuläßt, kommt der Dichter nicht anders als gewaltsam an. „Kann man zu stark auf die so schwierig aufzu-
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weckende Gleichgültigkeit, auf die so schwierig zu fixierende Aufmerksamkeit einschlagen?“ Dies ist eine ebenso rhetorische Frage wie: „Gibt es ein anderes Mittel, die Gesellschaft zu berühren, als das, ihr die Folterqualen ihrer Opfer zu zeigen?“ So daß nach diesen vielversprechenden Zeilen auch Schluß sein soll mit der Ruhe vor dem Sturm, welches das theoretische Nachwort Dernière nuit de travail also ist, und gleich ist einzutauchen in den inneren Sturm dieses „praktisch“ anrühren sollenden Dramas. – Doch wie soll das Drama derart gewaltsam und heilsam-effizient für die Leiden des ruinierten Poeten sensibilisieren? * Vignys Chatterton soll extrem anrührend sein als ein „Drame de la Pensée“. Weil es ein solches Gedanken- oder Gemütsdrama ist, ist seine zentrale Handlung in das Innere seiner Figuren hinein verlagert: es ist eine verinnerlichte, vergeistigte, zurückgenommene Handlung. Doch da diese immaterielle Gemütshandlung als solche einem Publikum unhörbar, unsichtbar, unbemerkbar bliebe, muß sie sich in irgendeiner Form materialisieren und entäußern. Und das ist nun der Vorteil des Dramas gegenüber dem Buch: daß das Drama auf ein anderes Arsenal an Ausdrucksmitteln verfügt, um seine Ideen mitzuteilen. Das Buch wird sich zwangsläufig auf das Wort verlassen, die Mitteilung zu bewerkstelligen. Und gewiß kann man auch das Drama Chatterton lesen und einiges daraus entnehmen. Doch müßte man Chatterton aufgeführt sehen, denn nur dann würde man vollends begreifen, bzw. leibhaftig erfahren, wie und mit welchen Mitteln Vigny danach trachtet, die Herzen der Zuschauer im Namen Chattertons zu erweichen. In ihrem Essay Exploitation of the Body in Vigny’s ‘Chatterton’ gibt Barbara T. Cooper zwei Gründe dafür an, warum Vigny drei Jahre nach dem Roman Stello sein Drama Chatterton schrieb. Erstens habe Vigny noch nicht in Stello, sondern erst im Drama die Figur des Widersachers des ruinierten Poeten ausgearbeitet, die Rolle des „wealthy merchant-industrialist“ John Bell. Von einer Kritik an einem bestimmten politischen System zur Kritik an einer Wirtschaftswelt, dieses sei der entscheidende Schritt von den Chatterton-Kapiteln in Stello zum Drama Chatterton gewesen.264 Doch während Vigny sich kritisch dem Bereich der Wirtschaftswelt verschrieb, eignete er sich dichterisch selbst deren Prinzipien der Sparsamkeit und Effizienzsteigerung an: Vigny habe, zur effizienteren „Ansprache“ seines Publikums, auf die unmittelbarere, zeitsparende und zugleich wirksamere, auf die nonverbale Mitteilung gesetzt. Und Cooper führt im groben Überblick und anhand einiger Textbeispiele aus, welche Rolle der Bühnenraum bzw. die darauf dargestellten Räume einerseits, welche Rolle andererseits die Körper der Figuren, ihre beredte Kleidung, ihre Gestik und Mimik, spielen. 264
––––––––––––––––––– Siehe Cooper: Exploitation of the Body in Vigny’s Chatterton, S. 21-22. Weil es so ist, daß erst in Chatterton die Polarisierung von Dichter und Kaufmann, dichterischer Geistesarbeit und materiellem Gewinn sich zuspitzt, konzentriere ich mich von Beginn an und auch im folgenden allein auf dieses Drama, nicht auf die Vor-Arbeit Stello.
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Es ist der rechte Weg, sich Chatterton anzunähern, und so will ich Coopers grundsätzliche und grundsätzlich bleibende Entdeckung der Bedeutsamkeit des Nonverbalen vertiefen und von Beginn an um eine Nuance korrigieren. Wenn die Welt und Atmosphäre von Chatterton bedrückend und atemnehmend ist, so ist sie es aufgrund eines allgegenwärtig in der Luft schwingenden und wiederholt erinnerten Gebotes des Schweigens. Das Innere der Figuren – wo doch das Hauptsächliche des Dramas sich abspielt! – darf sich nicht ausdrücken; kaum Raum für Emotionen gibt dieser Bühnenraum, der fast durchgängig zum Hinterzimmer eines Geschäftes gestaltet ist, dessen Rumoren durch eine gläserne Tür nicht gänzlich sichtbar ist, doch kontinuierlich hörbar bleibt. Wo aber das Schweigen herrscht, sind es andere Dinge, die das „Sprechen“ übernehmen. Und Dinge sind es in der Tat, wie auch Cooper sie in zwei Formen benennt: die Körper der Akteure, sowie die Bühneräume, die ihrerseits dinglich gefügt sind, und ich würde diese Intérieurs als die „Guckkästen“ bezeichnen, die die menschlichen und anderen Objekte des Stückes „enthalten“ und in Verhältnis zueinander setzen. Das also ist die Umnuancierung, die ich an Coopers Interpretation unternehmen möchte: die Unterordnung der besonderen Bedeutung, die Cooper den Körpern und Räumen zuspricht, unter die Oberkategorie des Dinglichen. Erst diese Subsummierung läßt eine Blickerweiterung auf eine dritte Art von Objekten zu, die Cooper übersah, wiewohl sie in Chatterton ebenso beredt-bedeutsam sind wie die dinglich gefügten Räume und die Körper der Dramenakteure. Gemeint sind die „echten“, d.h. leblosen und handlichen Klein-Objekte, die im Rahmen der Bühnen-Intérieurs und im Zusammenspiel mit den menschlichen Körpern ein besonderes Eigenleben führen. Vigny selbst legt schließlich den Zeigefinger darauf, wenn er mit dem einen Satz die materielle Handlung seines Dramas resümiert: „Es ist die Geschichte eines Mannes, der morgens einen Brief geschrieben hat und der die Antwort bis zum Abend erwartet; sie kommt an, und tötet ihn. –“ (51) Nicht nur der Mann ist Protagonist dieses Stückes; mindestens ebenso aktiv und wichtig wie er ist der Brief. Doch der Brief ist eben nicht das einzige der für Chatterton relevanten Dinge. So werde ich im folgenden einerseits die aus Dingen gefügten, deshalb atmosphärischen Intérieurs von Chatterton untersuchen, sowie andererseits Vignys Dramenfiguren, die ihr äußeres Erscheinungsbild als Verkörperungen ihres inneren Erscheinungsbilds einsetzen. Dann aber ist die eigentliche Dramenhandlung als eine Geschichte der „anstößigen Dinge“ nachzuzeichnen: Denn Dinge sind die Motivatoren und dramatischen Knotenpunkte der materiellen und immateriellen Handlung von Chatterton, dieses Dramas des Ruins.
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4 Drama des Wartens, des Intérieurs und seiner Staffagefiguren Chatterton durchschaute und nutzte die Evidenzkraft der Räume und Dinge, und konkret der alten Dinge. Als angeblichen Fundort seiner Rowley-Manuskripte gab er „Canynges cofre“ an eine uralte Truhe im Inneren der gotischen Kathedrale Saint Mary Redcliffe; und das war erst das eine, was den „alten Fundstücken“ einen Anreiz des mit Händen zu greifenden Authentischen gab. Das andere war der dingliche Charakter der vermeintlichen Hinterlassenschaften Rowleys und Canynges selbst, die in „uralter“ Handschrift auf Pergamenten fixiert waren, die tatsächlich mittelalterliche Pergamente waren, von Chatterton zurechtgeschnitten und überschrieben – und zur geförderten Glaubhaftigkeit ihres Alters nachgealtert, mit Ocker und dem Schmutz einer Dachbodenkammer. – Das war Chattertons Art, eine besondere Evidenzkraft oder Beredtheit der Räume und Dinge zu nutzen, sowie sie selbst zu inszenieren. Und Vigny wird, gut siebzig Jahre später, wieder auf eine unwiderstehliche Beredtheit und Überzeugungsmacht der Räume und Dinge setzen, und diese selbst inszenieren. Doch wird er es auf seine theatralische Weise tun: in Chatterton, diesem Drama des Unsagbaren, das dennoch zu sagen ist. Doch um mit dem Einstieg in dieses Drama ganz vorn zu beginnen: Eine Aufstellung des Dramenpersonals zu Beginn des Textes wäre nichts Außergewöhnliches. Merkwürdig ist in Chatterton nur, daß Vigny seine Figuren doppelt vorstellt. Die zweite, herkömmlichere Vorstellung trägt den Titel: „PERSONNAGES ET DISTRIBUTION DES RÔLES Telle qu’elle eut lieu à la ComédieFrançaise le 12 février 1835 (56). Hier sind also nicht nur die im Drama auftretenden Personen genannt, sondern auch die Namen der Akteure, die bei der Premiere Chatterton und die anderen Dramenfiguren verkörperten. Da diese Schauspieler in der Theaterwelt keine Unbekannten waren, mochte so selbst der Dramenleser, der die Premiere verpaßt hatte, sich ein ahnungsweises Bild davon machen, wie etwa die weibliche Protagonistin Kitty Bell aussah: wie eine, natürlich kostümierte, „Mme Dorval“ (56). Doch wie war Marie Dorval, die Geliebte Alfred de Vignys, für die er die Rolle der Kitty Bell schrieb, konkret kostümiert? Was für einen Charakter sollte sie den Zuschauern (abgesehen davon, daß diese die umstrittene Geliebte Vignys und zudem „the darling of Romantic theatregoers“265 sehen wollten) noch vorführen?266
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––––––––––––––––––– Kelly: The Marvellous Boy, S. 106, wo die Verfasserin die Lieblings-Schauspielerin der romantischen Theaterbesucher wie folgt beschreibt: „She was unashamedly of the people, intuitive, witty and natural to the point of abandon. She had a hoarse, breathless voice which could switch from tremulous emotion to wild laughter or a fishwife tirade in a moment. Her large melancholy eyes could convey unbearable pathos or sparkle with gaiety. She was frail, dark, poetic – ‘better than pretty she was charming’, wrote George Sand, ‘and yet she was pretty but so charming that it was unnecessary.’”
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In der Tat sollte der Dramenleser zwar wissen, daß Kitty Bell von der Dorval gespielt wurde, bei der Uraufführung und darüber hinaus (zu Dorvals Lebzeiten sollte es niemals eine andere Kitty Bell als sie geben, so sehr verband man Kitty Bell mit ihrer Premieren-Akteurin Marie Dorval, Marie Dorval mit ihrer ersten Rolle in der Comédie-Française, Kitty Bell)267. Schließlich konnte das Wissen um die konkrete Schauspielerin, die der fiktiven Figur Kitty Bell Körper, Stimme und „reales“ Leben gab, das Vorstellungsbild dieser Figur nur konkretisieren – ein Vorstellungsbild, das Vigny allerdings von der Idee her schon vorher skizziert hatte, in einer anderen, ersten Personen-Präsentation, diese betitelt: „CARACTÈRES ET COSTUMES DES RÔLES PRINCIPAUX“ (53). Und diese Vor-Präsentation seiner Figuren nicht als „Personen“ oder „Rollen“, sondern als „Charaktere“ in ihren „Kostümen“ ist in der Tat ungewöhnlich. Hier beschreibt Vigny nicht nur detailliert, wie er sich die Kostüme jener Schauspieler vorstellt, an die er schon beim Schreiben des Dramas gedacht haben mag, so daß man in diesem Sinn sagen könnte: Vigny schneiderte die Kostüme, wie die Rollen überhaupt, den konkreten Schauspielern, an die er schreibend dachte, direkt auf den Leib. Doch trotz dieses Auf-den-Leib-Schreibens, das Vigny jedenfalls in Bezug auf seine weibliche Protagonisten tat, verbog er nicht seine Ideen, die er im Drama ausdrücken wollte. Nicht nur Chatterton, sondern jede weitere der mit Chatterton vernetzten Dramenpersonen stellt nämlich eine Idee dar, der Vigny im Rahmen eines Dramas Körper und Stimme, und damit Anrührungsmacht geben wollte. Das war und blieb sein primäres Ziel. Mit der Intimintention, eine Paraderolle für Marie Dorval zu schaffen, mußte es nicht kollidieren. Im Gegenteil zeichnete sich das Spiel der Dorval durch gewisse Fähigkeiten aus, die Vigny bei der Erfindung Kitty Bells inspiriert haben mögen, die der Darstellung dieser besonders anrührenden Gestalt auf der Bühne dann jedenfalls zugute kamen. Doch dazu später mehr. Auch will ich noch nicht an dieser Stelle mit Vigny seine Hauptpersonen in Charakter und Kostüm vorstellen. Denn der erste Satz, der ihrer Präsentation noch voran-
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––––––––––––––––––– Daß Vigny Chatterton für Marie Dorval verfaßt habe, schrieb er ihr zwar nur in einem intimen Brief (man denke zurück an Rey: Préface, S. 9). Dennoch war der Umstand der „intim-geheimen Widmung“ in Paris ein offenes Geheimnis. So erhöhte das Wissen um die Verflechtung eines gerüchtweise bekannten, „authentischen“ Liebeslebens mit der daraus resultierten Dramenproduktion noch den Anreiz, deren Resultat, Chatterton, anzusehen. Die Trennung Vignys und Dorvals am 17. August 1838 änderte nichts daran, daß Vigny der einstigen Geliebten allein die Rolle der Kitty Bell reservierte; als die Dorval in den Jahren 1845 bis 1849 ausgebucht ist, läßt Vigny deshalb sein Drama nicht wieder spielen, und erst nach dem Tod Marie Dorvals 1849 begibt sich Vigny auf die Suche nach einer anderen Kitty Bell. – Was die Rolle Chattertons betrifft, ist es ähnlich bemerkenswert, daß derselbe Schauspieler Geffroy, der bei der Premiere 1834 den Jungdichter mimte, eben das noch 1857 tut: zweiundzwanzig Jahre später (siehe Rey: Chatterton à la scène, in: Vigny: Chatterton, S. 146154, besonders S. 148-149).
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gestellt ist und der somit der erste Satz des Dramentexts Chatterton ist, lautet: „Époque 1770. – La scène est à Londres.“ (53) * „Epoche 1770. – Der Schauplatz ist in London.“ Dieses gibt Vigny zu wissen, noch ehe er seine Charaktere vorstellt, denn Zeit und Ort geben den vorzustellenden Figuren einen Hintergrund und Bezugsrahmen. Das mag in jedem Drama so sein, doch in diesem hier ist es besonders unabdingbar, sich die Figuren von ihrem zeitlich-räumlichen Bezugsrahmen her zu denken. Zugespitzt könnte man formulieren, daß in Chatterton der Raum, weil er einen gewissen Zeitgeist verrät, in den die Handlung gebettet ist, die Figuren erst ausmacht. Dieser Innenraum prägt die Figuren vor; er „erinnert“ die Positionen, die die Personen in ihrer Welt innehaben, und das unentrinnbar: von Beginn bis zum Schluß. Das mag sich vorerst verwirrend anhören, doch kurzum: Es gibt nur zwei Szenenräume im ganzen Stück Chatterton, und bei beiden handelt es sich um Intérieurs, Wohnräume, zu denen der Bühnenraum des Theaters abwechselnd gestaltet ist. Der zweite Wohnraum ist dabei nur ein einziges Mal flüchtig zu sehen: es wird Chattertons Dachbodenkammer sein. Der erste und dann fast durchgängig bleibende Blick des Premieren-Zuschauers fiel aber, hatte sich erst der Vorhang gelüftet, auf diesen Schauplatz des Dramas, dem Vigny in seinem Dramentext folgende ausführliche Regieanweisung widmet: La scène représente un vaste appartement; arrière-boutique opulente et confortable de la maison de John Bell. À gauche du spectateur, une cheminée pleine de charbon de terre allumé. A droite, la porte de la chambre à coucher de Kitty Bell. Au fond, une grande porte vitrée: à travers les petits carreaux on aperçoit une riche boutique; un grand escalier tournant conduit à plusieurs portes étroites et sombres parmi lesquelles se trouve la porte de la petite chambre de Chatterton. Le Quaker lit dans un coin de la chambre, à gauche du spectateur. À droite est assise Kitty Bell; à ses pieds un enfant assis sur un tabouret ; une jeune fille debout à côté d’elle. (57)
An dieser Beschreibung des ersten Blicks auf das Eingangstableau von Chatterton fällt zunächst auf, daß es sich um einen Innenraum, ein „weitläufiges Wohnzimmer“ handelt, zu dem die gesamte „Bühne“ gestaltet ist. Dies ist das erste, was Vigny ankündigt, ehe er fortfährt, das „weitläufige Wohnzimmer“ auszumalen und es als Vorstellungsbild zu konkretisieren. Doch an dieser Skizzierung in Worten fällt zweitens auf, daß Vigny sowohl beschreibt, was auf der Bühne zu sehen wäre und bei der Premiere etwa zu sehen war, wie auch das, was sich auf keiner Bühne unmittelbar zeigen und sehen ließe. Vignys Regieanweisung oder Anleitung zur Bühnengestaltung ist in Wahrheit nur zur Hälfte als solche zu gebrauchen: weil sie einerseits zu viel, andererseits aber zu wenig beschreibt. Gewinnbringender ist Vignys Raum-Skizze indessen als die Ideen-Skizze, die sie in erster Linie auch sein soll. Denn nicht nur die Dramenfiguren, auch deren Umraum ist Verkörperung einer Idee Vignys. Was für eine Idee ist es? Der Leser des Dramas soll es gedanklich nachzeichnen: auf den Spuren einer angeblichen Beschreibung dessen, was auf den ersten Blick auf die Bühne zu sehen sein solle – wiewohl der Blick eines leiblichen Auges auf eine reale Bühne weniger, in
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anderer Hinsicht aber mehr wahrnehmen würde als Vigny es beschreibend anvertraut. So wäre Vignys erster Satz, „Die Bühne stellt einen weitläufigen Wohnraum dar“, dem körperlichen Auge eines Dramenbesuchers noch ebenso faßbar wie er dem inneren Auge eines Dramenlesers einen ersten Umriß gibt. Doch dem Leser allein ist das ergänzende Zusatzdetail zugänglich: „stattliches und komfortables Geschäfts-Hinterzimmer von John Bell.“ Wem das Zimmer gehört, das der gelüftete Vorhang dem Theaterbesucher preisgeben solle, würde dieser dem Raum nicht unmittelbar ablesen können. Der Name „John Bell“ stünde an keine Wand und an kein Möbelstück des Wohnraums geschrieben. Erst aus dem Fortlauf der Handlung würde der Zuschauer begreifen, was nur der Leser von Beginn an erfährt: dies ist das Intérieur von John Bell. Für die Idee des Ganzen scheint dieser Umstand folglich wichtig. Daß es ein „stattliches und komfortables Geschäfts-Hinterzimmer“ sein soll, müßte indessen jedem leiblichen Auge sichtbar sein; und dieses, was da überhaupt nur der Zuschauer auf einen Blick als Raumeindruck aufnehmen könnte, muß der Leser sich Zug um Zug zusammenreimen aus den Anhaltspunkten, die der Dramendichter Vigny nun gibt. Das erste dieser konkretisierenden Raumdetails ist das: „Links vom Betrachter, ein Kamin voll von entzündeter Erdkohle“. Was besagt diese Information? Zunächst verweist sie, ganz einfach, auf eine jener Durchbrechungen der Wände eines Zimmers, die erst seinen InnenraumCharakter erinnern und erzeugen. Mario Praz zufolge wäre ein Innenraum nämlich gar nicht als solcher bewußt, hätten seine vier Wände keine Öffnungen. In gewisser Hinsicht machen nicht die Einwandungen eines Zimmers den Innenraum aus; das Intérieur ist nicht nur ein räumliches, materielles Faktum. In Bezug auf denjenigen, der im Innenraum befindlich ist, ist dieses Intérieur auch eine mentale Tatsache: ein Gefühl. Dieses Innenraum-Gefühl aber verdankt sich zunächst den Türen, den Fenstern: jeglicher Öffnung, die erinnert, daß auf der anderen Seite der Mauern ein Draußen ist. Diese Erinnerung des Außenraumes vergegenwärtigt das rechte Gefühl für das Dasein im Innenraum. Sie vergegenwärtigt, daß man jetzt drinnen ist – daß dieses ein Raum des Rückzugs ist und der intimen Geborgenheit.268 Dieses neue Innenraum-Gefühl, das sich eingeschlichen hat, nennt Praz die Stimmung des Intérieurs.269 Jedes Intérieur als solches zeichnet sich durch diese fühlbare Stimmung des intimen, geborgenen Rückzugsraums aus. Und doch gleicht keine Stimmung eines Zimmers exakt der Stimmung eines anderen. Jeder Raum hat seine eigene, individuelle Intimstimmung, und wie es sich zeigen wird, geht es Vigny darum, mit seinem Geschäfts-Hinterzimmer eine solche in268 269
––––––––––––––––––– Siehe zu diesem Beginn des gefühlten Innenraums, des Intérieurs, Praz: La Philosophie de L’Ameublement, S. 48-49. Siehe zur Stimmung als dem charakteristischen „sentiment d’intimité“ des Intérieurs ebd., besonders S. 47-49.
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dividuelle Atmosphäre zu erzeugen. Denn diese Atmosphäre korrespondiert mit der Idee, die er mit seinem Bühnen-Intérieur verkörpern und fühlbar machen will. Die Erzeugung dieser beredten Stimmung, die sich im Dramenzuschauer mit Blick auf den Bühnenraum von selbst einstellen müßte, muß Vigny nur bezüglich des Dramenlesers in Worten übernehmen. Das erklärt, warum er Details verrät, die auf keiner Bühne zu sehen wären – wohingegen er von dem, was de facto zu sehen wäre, nur das ihm Notwendigste beschreibt. So ist das erste Raumdetail, das den Eindruck oder das Gefühl eines „stattlichen und komfortablen Geschäfts-Hinterzimmers“ konkretisieren soll, also ein Kamin: „Links vom Betrachter, ein Kamin voll von entzündeter Erdkohle“. Warum aber dieser Kamin? Er ist wohl eine der Wand-Durchbrechungen, mit deren Zurschaustellung schon die niederländischen Genre-Maler den Innenraum als solchen kenntlich und in seiner Atmosphäre des Intimraumes fühlbar machten.270 Obwohl zur Erzeugung dieses Innenraum-Gefühls durch die Erinnerung des nahen Draußen eine „echte“ Wanddurchbrechung, ein Fenster oder eine Tür, zweckdienlicher gewesen wäre? Der Kamin ist im Grunde doch keine wirkliche Öffnung des Raumes zum Draußen hin – wiewohl er, als eine unleugbare Durchbrechung der Wand, noch an einen „echten“ Aus-Weg aus dem Innenraum erinnert? Doch wie dem auch sei; andererseits trägt der Kamin auf seine Weise durchaus zur Atmosphäre des Raumes bei: indem er ein zunächst rein körperliches Empfinden von Wärme erzeugt. Der Kamin ist gefüllt „von entzündeter Erdkohle“. (Warum es keine einfache Holzkohle ist, mag später erörtert werden.) Das aber gibt dem Zimmer, wie es schient, eine „warme“ Atmosphäre; auf jeden Fall tatsächlich eine luxuriöse. Das Angefülltsein des Kamines mit Erdkohle besagt, daß hier offensichtlich nicht an Brennmaterial gespart wird. Es ist kein Zimmer armer Leute. Nur würde man zur weiteren dinglichen Bezeugung des behaupteten stattlichen Komforts mehr als nur die Beschreibung eines stark heizenden Kamines erwarten? Wie geht die Konkretisierung dieses Wohnzimmer-Bilds weiter, dessen Stimmung Stattlichkeit und Komfort ausdrücken soll? „Rechts, die Tür des Schlafzimmers der Kitty Bell“, so heißt es als nächstes. Und wiederum ist damit eine Öffnung angesprochen: eine Durchbrechung nun der rechten Seitenwand des Bühnenzimmers, dem Kamin der linken Seite gegenüberliegend. Ein weiteres Zimmer muß hinter dieser Durchgangsöffnung des Wohnraumes liegen – obwohl gerade deshalb die besagte Tür wiederum eine verweigerte, geschlossene Wandöffnung sein wird. Denn diese Tür führt aus dem repräsentativeren Wohnzimmer hinüber in das intimste Schlafzimmer der Hausfrau, Kitty Bell, das nicht allen zugänglich sein darf. Mit der Bezeugung von Komfort und Stattlichkeit hat diese geschlossene Tür indessen nicht viel zu tun; außer, man wollte einen Hinweis auf die Vielräumigkeit und Größe des gesamten Hauses darin sehen. Doch geht die Be270
––––––––––––––––––– Siehe ebd., S. 49.
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schreibung des Wohnzimmers weiter. Allerdings sollte vordem noch angemerkt sein, daß Kitty Bells Schlafzimmertür als solche wiederum eines der Details ist, die Vigny nur seinem Leser gibt: Der leibhaftige Besucher einer Aufführung des Dramas könnte dem Anblick keiner verschlossenen Tür die damit verbundenen Besitz- und Raumverhältnisse so einfach ablesen. Er müßte diese Besitzzuordnung und Raumkonzeption – die Tür „gehört“ Kittys Schlafzimmer, das folglich unmittelbar dahinter, dem Wohnraum zur rechten Seite hin angefügt liegt – aus dem Verlauf der Dramenhandlung heraus begreifen. Erneut ist es die Idee dieses Raumes oder Raumgefüges in seiner Konzeption, die Vigny nur dem Leser unmittelbar und gleichsam im Vorgriff darreicht; auch wenn noch nicht feststeht, was konkret diese Idee einer Raumkonzeption bedeutet oder worauf sie hinauslaufen will. – Doch nun geht die Skizzierung des Zimmers weiter, und eine plastischere Ausmalung dessen, was daran „stattlich“ und „komfortabel“ sein soll, dürfte wohl zu erwarten sein. Wird Vigny nun, man möchte fast hinzusetzen, endlich, die Qualität der Teppiche, des Mobiliars, der dekorativen Objekte beschreiben, an denen sich Stattlichkeit und Komfort festmachen könnten? Nichts davon. Mit einer dritten Raumöffnung konfrontiert er, und konfrontiert im wahrsten Sinne des Wortes. Denn diese dritte Öffnung, von der nun die Rede ist, ist „im Hintergrund“ befindlich: in der Rückwand des Bühnenraums also, auf die der Zuschauer geradeaus schaut, die auch der Leser sich frontal vor seinem inneren Auge vorstellen muß. So wäre diese dritte Durchbrechung nicht irgendeiner der den Wohnraum umreißenden Wände, sondern der dem Publikum gegenüberliegenden Rückwand, dem leibhaftigen Zuschauer zuerst ins Auge gesprungen – noch vor dem Kamin links und der verschlossenen Tür der rechten Seite. Diese Vorrangstellung des „Zuerstauffallenmüssenden“ gebührt der dritten Raumöffnung auch aufgrund ihrer dann wahrhaft stattlichen Gestalt und Größe: Eine „großen Glastür“ ist es nämlich, und so will das stattliche, materiell teure Stück die Blicke nicht nur auf sich, sondern noch durch sich hindurch auf das Dahinterliegende ziehen: „durch ihre kleinen Glasscheiben hindurch“ – so scheint die Tür aus einem tragenden Gitterwerk um kleine Scheiben herum zu bestehen – „erspäht man ein reiches Geschäft“. Ein „reiches Geschäft“ hinter einer „großen Glastür“, dieses mag in der Tat die Idee von „Stattlichkeit und Komfort“ manifestieren, die der „weitläufige Wohnraum“ John Bells ja, wie eingangs versprochen, ausdrücken solle. Nun wird dieser Eindruck des stattlichen Komforts zudem mit Blick durch die Glastür erklärlich: Die Reichheit des „weitläufigen Wohnraumes“ erklärt sich aus dem „reichen Geschäft“ dahinter. Doch was heißt im Grunde: Das erspähte Geschäft liege „dahinter“? In Wahrheit muß das exakte Gegenteil der Fall sein, auch wurde eben das gleichfalls schon eingangs gesagt: John Bells Wohnraum ist ein „Geschäfts-Hinterzimmer“. In Wahrheit ist das Geschäft der Haupt- und Vorraum des Hauses, der Wohnraum „nur“ das Hinterzimmer, der sekundäre, intime Bereich hinter dem, was Forderfront macht. Vignys Kunstgriff aber, die
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Idee hinter seiner Intérieur-Konzeption, kristallisiert sich nun klarer heraus: Dieser Kunstgriff ist es, die genannte Rangstellung zu verkehren, die Perspektive um 180 Grad zu wenden und somit Einsicht in das intime Hinterzimmer des Vorder- und Geschäftsraumes zu nehmen – bzw. durch den Blick in den sonst verborgenen Intimwohnbereich hindurch Einblick in den Raum der Geschäftswelt zu nehmen. Und so lassen sich zwei Konsequenzen aus diesem Schluß ableiten. Erstens ist hier ein individueller Wohnraum mit seiner charakteristischen Atmosphäre und Gestaltung evoziert, der zweitens zugleich Allgemeineres ausdrücken will. Mit Blick in das Geschäfts-Hinterzimmer des Ehepaars Bell gibt Vigny Einblick in das Intimleben derer, die diesen Raum bewohnen – dessen Gestaltung, Konzeption und Atmosphäre folglich die Lebens- und Seinsweise seiner Eigner widerspiegeln und verraten muß. Mit dem Hause John Bells und seiner Raumkonzeption schafft Vigny darüber hinaus aber das Portrait nicht nur eines intimen Ehe-Universums, sondern einer allgemeineren, gesellschaftlichen Welt, die eine Welt ist, in der Geschäfts- und Intimbereich auf bestimmte Weise zueinander stehen – begonnen damit, daß der Geschäftsteil der fordere, dominante Teil ist. Vigny entschuldigte sich bei Chatterton dafür, daß er seinen Namen „als Symbol“ (52) nahm, um in diesem Namen das Gute zu versuchen. Nicht der historische Chatterton interessierte den Dichter Vigny, sondern die Idee, die er sich aus Chatterton machte und in Chatterton verkörperte oder symbolisierte. Cooper stellte fest, daß allerdings nicht nur Chatterton, sondern Vignys sämtliche Dramenfiguren zugleich als individuelle Charaktere und darüber hinausweisende „Symbole“ zu verstehen sind271 – sämtliche Figuren Vignys sind, wie sich bald deutlicher zeigen wird, zu Individuen verkörperte Ideen. Und mit Vignys Bühnen-Intérieur, mit dem der erste Eindruck des Dramas Chatterton beginnt, ist es nun ebenso. Auch dieser Raum stellt auf der einen Seite die Auffaltung eines intimen, individuellen Lebensentwurfes dar – auf der anderen aber einen Einblick in den Lebensentwurf „der Welt“, die freilich eine bestimmte Welt und Gesellschaft ist: eine Welt, die selbst in ihrem Intimbereich vom Geschäftlichen dominiert ist. Der Wohnraum der Bells ist wortlos beredtes Intérieur, ein nonverbales Seelenportrait seiner Eigner, wie Praz es für jedes Intérieur konstatiert und wovon die Rede noch sein wird; doch das Haus der Bells ist auch ein Symbol ihrer Welt und Gesellschaft, dieser Welt der allgegenwärtigen, unentrinnbaren Dominanz des Geschäftlichen.272
271 272
––––––––––––––––––– Diese richtige Schlußbemerkung findet sich in einer nachgefügten Fußnote am Ende von Seite 23 aus Cooper: Exploitation of the Body in Vignys Chatterton. Auf diese doppelte Lesart des Bühnenraums als ein „naturalistischer“ oder „symbolischer“ Innenraum verweist auch Rey: Préface, S. 28.
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Nun ist das Intérieur des späten 18. und 19. Jahrhunderts entwickelt als ein „anderer“ Raum gegenüber dem Arbeitszimmer.273 Das historische „wahre“ Intérieur sollte dem Rückzug aus der Welt des Draußen, der Arbeit, des Materiellen dienen. Es sollte dem Freizeitlichen, Intimen, Immateriell-Emotionalen reserviert sein. Dieses „wahre“ Intérieur, das auch der Wohnraum John Bells zu sein vorgibt, wird in Wahrheit aber von diesem Zimmer negiert, das vom Geschäftsbereich dominiert und dessen Atmosphäre bedrückend ist und nicht anheimelnd. Gerade die „große Glastür“ zum „reichen Geschäft“ hin muß den eingangs behaupteten „stattlichen“ und „komfortablen“ Charakter des Raumes exemplarisch belegen – und ihn denunzieren. Soll dieses „Geschäfts-Hinterzimmer“ „stattlich und komfortabel“ sein, will „komfortabel“ gerade nicht „gemütlich“ bedeuten. „Gemütlich“ würde nur ein „wahrer“ intimer Rückzugsraum sein: klar abgetrennt von allem, was an den Bereich der Arbeit, des Geschäftes, der umtriebigen und kaltberechnenden Außenwelt erinnert. Weil die „große Glastür“ aber derart stattlich, imposant und dominierend ist, vor allem aber derart durchsichtig, ist sie als Trennung vom Geschäftsraum untauglich. In einer Welt des Nutzdenkens, die John Bells Wohnhaus symbolisch verkörpert, ist ausgerechnet die Verbindungstür zwischen Geschäfts- und Intimbereich unnütz, nicht zweckdienlich, zu teuer für ihren Preis erkauft. Diese Tür ist – nichts als Protz und Verschwendung: Selbstdarstellung der Präsenz des Geldes. Denn durch diese vermeintliche Trennfläche ist das Geschäft im Wohnbereich stets sichtbar gegenwärtig, zumindest ausschnittsweise; daß das Geschäft aber vor allem andauernd hörbar ist, dieses sei schon im Vorgriff gesagt. Vielleicht war es aber doch vorschnell, die große Glasgittertür als unnützes Ding abzukanzeln. Einen Zweck mag sie ja doch verfolgen. Aus der Perspektive des Zuschauers mag sie das Guck-Auge zur Einsicht in die Geschäftswelt sein, doch umgekehrt ist der Intimbereich des Wohnzimmers vom Geschäft aus ständig einsehbar. Diese Tür ist ein Mittel der Kontrolle, und Kontrolle bedeutet Ausübung von Macht. So ist der vermeintliche Intimraum des Wohnzimmers um sein Intimes beraubt. Der angebliche Ort des Rückzugs, der Ruhe, des Geborgenseins steht, bewußt dramatisch gesprochen, jederzeit seiner Vergewaltigung offen durch das Eindringen der Geräusche, der Blicke, wenn nicht der Personen von jenseits der Glastür. Zumindest einer kann jederzeit von seinem Recht auf den Eintritt willkürlich Gebrauch nehmen: der Eigner des Hauses und all seiner Räume, seiner Einrichtungsstücke und seines Personals – John Bell. Doch braucht man die Dramengeschehnisse nicht zu antizipieren, um zu begreifen, daß Vignys Raumkonzeption seiner Theaterbühne geschwängert ist von möglichen Ereignissen: von Übergriffen und Akten des Eindringens und Überschreitens der zahlreichen Grenzen, die hier offensichtlich gezogen, doch 273
––––––––––––––––––– Das Intérieur wird erst in dem Moment zum intim aufgeladenen Stimmungsraum, in dem es als Rückzugsort aus der Außen- und vor allem der Arbeitswelt begriffen und ausgestaltet wird; siehe Praz: La Philosophie de l’Ameublement, besonders S. 20.
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allzu leicht überschreit- und verletzbar sind und bei denen es sich um räumliche, aber auch um seelische und um symbolische Grenzen handelt: die (noch) geschlossene Tür zu Kitty Bells Intérieur; die (noch) geschlossene, doch verglaste Gittertür zum Geschäftsraum hin; dieser Kamin, der allerdings keine Tür, kein Durchgang und kein Ausweg ist, aber voll mit glühender Erdkohle. Und wenn diese keine einfache Holzkohle ist, will nicht noch der Charakter der entzündeten Erdkohle den Charakter der stickig-überheizten Atmosphäre dieses Zimmers konkretisieren? Kein Fenster, keine offene Tür, keine Zufuhr von Atemluft und kein tatsächlicher Ausweg ist von Vigny ausdrücklich beschrieben, also vergegenwärtigt. So daß – der Unwahrscheinlichkeit eines wirklich fensterlos konzipierten Wohnraums zuwider – die nach Vignys Anleitung zu imaginierende Raumskizze tatsächlich fenster- und atemlos ist. Atemnehmend, bedrückend ist dieser Raum in seiner Atmosphäre, denn alles ist hier dem Geschäftlichen, dem Materiellen, dem Bodenhaften verbunden – darum das Heizen mit Erdkohle. Daß aus dieser niederen Stickigkeit kein Ausweg ist, mag noch das Gitter be-deuten, das wohl nicht nur die kleinen Scheiben der gläsernen Tür zum Geschäft hin am ihnen zugewiesenen Platz hält: Dieser Raum, der einerseits so offenliegend für mögliche Eindringlinge daliegt, scheint für die Insassen umgekehrt ein Gefängnis. Oder gibt es nicht doch noch eine letzte Öffnung, ein letztes Schlupfloch nach draußen? Da die Beschreibung des Geschäfts-Hinterzimmers noch nicht zu Ende war, kommt Vigny jetzt, nach der Darlegung der Raumkonstellation in ihrer Grundfläche und horizontalen Breitendimension, auf eine Vertikale zu sprechen: „eine große Wendeltreppe führt zu mehreren engen und finsteren Türen, unter denen sich die Tür des kleinen Zimmers von Chatterton findet.“ Die „große Wendeltreppe“ ist ein Sonderding. Nicht nur, daß sie vertikal in die Höhe geht und eine ungeahnte Verbindung vom Bodenbereich zu einem bislang ausgeblendeten Dachbodenbereich eröffnet. Auch ist die Treppe ein Zwitterding: weil sie ähnlich einer Tür eine Raumöffnung ist – unähnlich der Tür aber eine zerdehnte Raumschwelle. Hat man die Wendeltreppe betreten, hat man schon das untere Zimmer verlassen, ohne bereits in einem oberen Destinationsraum angekommen zu sein. So bildet die Wendeltreppe einen Raum für sich, ist eine Art Flur oder Vorzimmer – und wohin also führend? Nach oben jedenfalls, vom Boden fort – fort aus dem Bereich des unteren Wohnzimmers, das vom Geschäft aus durch die Glastür hindurch einsehbar ist, fort auch aus dem unmittelbar überheizten Sphärenbereich der Erdkohle. Es mag sein, daß hier oben die Luft noch reiner und in mehr atembarer Fülle vorhanden ist; tatsächlich ist dieser obere Hausbereich anders. Doch ist er dem unteren vorzuziehen? Gewiß, „mehrere Türen“ erwarten hier, und das mag eine gewisse Freiheit der Auswahl und der Bewegung implizieren. Auf der anderen Seite sind diese oberen Türen (die wohl wiederum geschlossen vorzustellen sind) „eng“ und „finster“. Im Schatten scheinen sie zu liegen, was vielleicht
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einen Hauch von Kühle impliziert und von wohltuender Unsichtbarkeit; doch die Enge und Finsternis der Türen weist andererseits auf einen Mangel des Komforts hin, der unten im Übermaß regiert. Und in der Tat soll ja hinter einer der oberen Türen – auf der freilich für keinen Zuschauer auf den ersten Blick sichtbar sein Name geschrieben stünde – Chatterton erwarten: in seinem „kleinen Zimmer“. Doch bis jetzt ist noch nichts von Chatterton zu sehen in diesem Eingangstableau des nach ihm benannten Dramas, das sich durch die Einfügung vier anderer Figuren zum kompletten Tableau vivant oder „Intérieur-Aquarell“ rundet: „Der Quäker liest in einer Ecke des Zimmers, links vom Betrachter.“ Das heißt, diese Figur des lesenden Religiösen sitzt nahe am heizenden Kamin. „Rechts sitzt Kitty Bell“, also bei der Tür ihres Schlafgemachs; „zu ihren Füßen sitzt ein Kind auf einem Schemel; ein junges Mädchen steht neben ihr.“ Während der Quäker ihr gegenüber, in einiger Entfernung auf der anderen Seite des „weitläufigen Wohnraums“, am Kamin liest, ist von keiner Beschäftigung Kitty Bells die Rede. Sie „sitzt“, mit dem Kind, das „sitzt“ zu ihren Füßen, und „neben ihr“ „steht“ das „junge Mädchen“. Doch die scheinbare Tatenlosigkeit dieser kleinen, lediglich beieinander sitzenden oder stehenden Gruppe soll noch nicht das Problem sein; vorerst sei festgehalten, daß diese Kleingruppe der Mutter mit ihren Kindern einerseits, die Figur des am Kamin lesenden Quäkers andererseits, doch eine dekorative Konstellation und Aufstellung der Figürchen ist, die in diesem atmosphärischen Eingangstableau eines Innenraums wohl als – Staffagefiguren fungieren? * Es ist nicht unrecht, bezüglich der Figuren Kitty Bells, ihrer Kinder und des lesenden Quäkers von „Staffagefiguren“ zu reden, denn was der Zuschauer im Theater wie der Leser des Dramas Chatterton zuerst vor sich sehen soll, ist ein Eingangstableau, das Tableau eines Wohnraums. Dieses mit Figürchen versehene Tableau vivant würde gleich beginnen, sich zu bewegen – das Bild würde sich in Bewegung setzen zum gespielten Drama. Als ein Bild war das Eingangstableau des Wohnraums den Zeitgenossen Vignys aber zweifelsohne bewußt, zumal es sie an eine bestimmte Art von Bildern erinnerte: an die Intimkunst der Intérieur-Aquarelle. Auf das Vorwissen um diese zeitgenössische Kunstgattung, ihre Bedeutung und Funktion, verläßt Vigny sich, auch wenn er später einmal den „Aspekt“ seiner Bühne mit einer anderen, älteren Form der Innenraum-Malerei vergleichen wird: „J’avais désiré et j’ai obtenu“, so Vigny im Rückblick auf die Uraufführung, „que cet ensemble offrît l’aspect sévère et simple d’un tableau flamand“274. Vigny wünschte, sein Dramen-Ensemble solle „den strengen und einfachen Aspekt eines flämischen [Innenraum-]Bildes vermitteln“.
274
––––––––––––––––––– Vigny: Sur les Représentations du Drame joué le 12 février 1835 à la Comédie-Française. In: Vigny: Chatterton, S. 134-138; hier S. 138.
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Doch nicht unbedingt mit dieser flämischen Innenraum-Malerei des 17. Jahrhunderts mußte der Zuschauer von Chatterton sich auskennen (auch wenn Intérieur-Theoretiker Praz sie als wichtige historische Vorstufe der späteren „biedermeierlichen“ Intérieur-Aquarelle erachtet275), um dennoch das BühnenIntérieur „richtig“ zu verstehen. Er mußte nur, wie alle Welt seiner Zeitgenossen, wissen: Im 19. Jahrhundert konnten Innenräume aus zwei Gründen in minutiöser Detailverliebtheit aquarelliert werden, einerseits als Anregungen zur Wohnraumgestaltung, wie sie in Modezeitschriften publiziert wurden, andererseits als „Portraits“ bereits existierender Räume. Dabei konnten die InnenraumPortraits berühmter Persönlichkeiten wiederum als Vorbilder zur „modischen“ Innenraumeinrichtung benutzt werden; aber das heißt nicht, daß es nur die Wohnräume berühmter Personen waren, die in Wasserfarbe fixiert wurden. Das Gegenteil ist sogar der Fall, denn es war ursprünglich (auch wenn es die Adelskreise bald übernahmen) ein bürgerlicher und in gewisser Hinsicht alltäglicher Usus, die eigenen vier Wände entweder selbst festzuhalten – was oftmals hieß, daß es die geschickten Finger einer Haus-Tochter oder Haus-Nichte waren, die das detailverliebte Aquarellieren übernahmen; oder es waren die Hände dilettantischer Hausfreunde, die den Liebesdienst taten.276 – Doch zu welchem Zweck? Warum wurde seit dem ausgehenden 18. und vor allem im 19. Jahrhundert das eigene, bürgerliche Wohnzimmer als würdig entdeckt, portraitiert zu werden? Die Antwort ist, daß es im Grunde nicht um das Zimmer ging. Es ging um das, was im Zimmer steckte. Es ging um das Immaterielle, das über das Materielle des Zimmers zum Ausdruck kam. Die akribische Detailwiedergabe, die charakteristisch für die Intérieur-Aquarelle des 19. Jahrhunderts ist, galt nicht der Festhaltung jedes Dinges des Raumes, weil dieses besonders kostbar, schön, geschmackvoll gewesen wäre. Über die Wiedergabe jedes Details des gegenwärtigen Zimmers, jedes noch so kleinsten sichtbaren Objekts in seiner Gestalt und Positionierung zu den weiteren Dingen des Raumes, galt es das Charakteristische, Einzigartige, Nichtmaterielle des Intérieurs festzuhalten: nämlich seine Stimmung. Dahinter aber stand die Idee, daß die charakteristische Stimmung eines Innenraums – so es ein intimer Wohnraum und kein davon abzugrenzender Geschäfts- oder Arbeitsraum ist – mit der charakteristischen Grundstimmung seines Bewohners korrespondiert, oder vielmehr: die Stimmung eines Wohnraumes ist die Stimmung seines Bewohners, diese aber aus der Präsenz und Komposition seiner Dinge heraus greif- und fühlbar gemacht.277
275 276 277
––––––––––––––––––– Praz zufolge beginnt die malerische Erzeugung eines Innenraum-Gefühls in der nordischen, also niederländischen Kunst; siehe Praz: La Philosophie de l’Ameublement, S. 49-51. Siehe zu Funktion und Genese der Intérieur-Aquarelle: Scènes d’Intérieur, besonders S. 38 und 45, sowie Gaillemin: L’Épaisseur du temps, besonders S. 25-27. So die zentrale These von Praz: La Philosophie des l’Ameublement, siehe besonders S. 18-20.
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Je savais en gros l’histoire remarquable de ce vieillard; mais j’avais toujours vivement souhaité d’en connaître les détails, et surtout de les tenir de lui-même. C’était pour moi tout un problème philosophique à résoudre que cette étrange destinée. J’observai donc ces traits, ses manières et son intérieur avec in intérêt particulier.278
In George Sands Roman Mauprat erhält ein junger Mann die Chance, sich einen seit langem gehegten Wunsch zu erfüllen: Eine Einladung in das Haus des alten Mauprat verspricht ihm, das Rätsel dieses „merkwürdigen Schicksals“ zu lösen, d.h. die „Details“ von Mauprats „bemerkenswerter Geschichte“ „von ihm selbst“ zu erhalten. Der junge Mann spekuliert also auf den Erhalt einer autobiographischen Erzählung; aber nicht allein aus den Worten Mauprats will der Besucher dessen faszinierende Geschichte und dessen faszinierenden Charakter „enträtseln“. Weil er eben dieses will, so schließt er, „beobachtete ich folglich seine Gesichtszüge, seine Manieren und sein Intérieur mit einem besonderen Interesse.“ Die Züge eines Gesichtes, die Manieren oder das Körpergebaren eines Menschen, schließlich sein Intérieur, sein Wohnraum: Alles drei ist von besonderem Interesse, will man aus diesem Nonverbalen die „intime“ Version einer Lebensgeschichte oder eines innersten Wesens herauslesen. Das ist ein Wissen des 19. Jahrhunderts, das bis in heutige Zeiten hinein nichts von seiner Gültigkeit verloren hat, wenngleich das Wohnen als eine psychologische Kunst der Wohnraum-Gestaltung nicht mehr derart reflektiert und bewußt gepflegt wird. Dennoch mag man selbst, der Mensch gegenwärtiger Zeiten, die Erfahrung gemacht haben, daß der erste Besuch im Wohnraum eines Bekannten stets neue Einblicke und ein tieferes Kennenlernen seiner Person vermittelt. Denn aus der Wohnungseinrichtung und ihren Dingen liest es sich nicht nur ab, ob der Bekannte ordentlich oder unordentlich ist. Seine Denkweise, Neigungen, Interessen werden aus den Objekten ersichtlich, die er alltäglich um sich haben will, also zum Dasein in seinen vier Wänden auswählte, anordnete, exponierte. (Wobei es immer möglich ist, daß im Verborgenen noch andere, ihm gar bedeutsamere, intime und nicht für aller Augen bestimmte Dinge präsent sind.) Doch noch mehr von dem Wesen des Einwohners, nämlich seinen persönlichsten Lebensrhythmus und seine alltäglichen Intimgesten, verraten die Spuren, die dieser gestikulierende, agierende, sich und seine Dinge im Raum plazierende Mensch unwillkürlich in seiner Wohnung hinterläßt. – Die Rede ist von dem abgenutzten, weil wohl beliebten Sesselkissen; die Rede ist vom Nässering der Teetasse, die nicht mehr auf dem Schreibtisch steht, doch vor kurzem noch da gewesen sein muß; die Rede ist von jedwedem Detail: das an sich „unordentlich“ oder „unschön“ wäre, wäre es nicht als Abnutzungsspur eines menschlichen Lebens unumgänglich und insofern entschuldbar – und dann sogar anrührend und kostbar, als flüchtige und intime Spur eines selbst flüchtigen und intimen Menschenlebens begriffen. 278
––––––––––––––––––– Sand: Mauprat, S. 12-13.
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So ergibt sich die charakteristische Atmosphäre eines Wohnraumes wohl zuerst daraus, daß das Zimmer Öffnungen hat, die es als ein Intérieur vergegenwärtigen und den Beginn eines Innenraum-Gefühles erzeugen. Doch kein Intérieur gleicht dem anderen in seiner Stimmung, und dieses einzigartige Charakteristische einer jeweiligen Atmosphäre „ergibt sich“ aus den im Raum präsenten Dingen. Die Stimmung „ergibt sich“ aus den Dingen, die absichtlich gesetzt sind, um den Charakter ihres Eigners auszudrücken, und den Dingen, die von den Spuren ihrer Benutzung unwillkürlich gezeichnet und „charakterisiert“ sind. Denn diese manchmal allmählich in die Dinge eingegrabenen, manchmal flüchtigen Spuren der Benutzung sind, als die unwillkürlichsten, vielleicht sogar die authentischsten Selbstzeugnisse des Menschen, der sein Zimmer nach seiner Art behaust und aus sich selbst heraus prägt. Die Romanschriftsteller und Alltagsmenschen und auch die Intérieur-Aquarellisten des 19. Jahrhunderts gewahrten das so, und sie sahen also, daß der Wohnraum das beredtere Seelenportrait gibt als das Gesichtsbild seines Einwohners. Das Intérieur ist eine in Dingen materialisierte Offenbarung eines „Spiegelsaal[s]“ oder „Resonanzkasten[s] der Seele“279: Und so fertigten die Aquarellmaler sogar mit Vorliebe Einsichten in „leere“ Räume an – Zimmer, deren Bewohner im Augenblick des gegebenen Einblicks nicht körperlich zugegen sind und dennoch präsent: präsent „nur“ in den gewollten und ungewollten Wohnspuren, die sie von sich im Raum hinterließen; präsent „nur“ in der Atmosphäre dieses Zimmers. Aber auf diese Weise sind die körperlich Abwesenden seelisch präsenter als wenn sie einem gegenüberständen und ihr intimstes Gesicht, das der Wohnraum enthüllt, vielleicht gar hinter oberflächlichen und höflichen Worten maskierten. Doch manchmal setzten die Aquarellisten trotz allem und, wie es sich gleich zeigen wird, mit gewissem Augenzwinkern das Einwohner-Figürchen in seinen Innenraum hinein. Denn dann war es weniger wichtig, das Individuum in seinen Gesichtszügen korrekt wiederzugeben; was einem dilettantischen Wasserfarbmaler auch schwerer fallen mußte als das geduldige Kopieren des Raums in der Fülle seiner leb- und reglosen Dinge – unter denen dennoch das charakteristischste „Hauptstück“ zuweilen nicht fehlte. Denn setzten die Aquarellisten den Raumbewohner zuweilen doch in sein materialisiertes Seelenportrait hinein, dieses Portrait des Intérieurs, so diente die Einwohner-Figur hier als Staffagefigürchen. Dieses Staffagefigürchen war dekorativ und beredt im Rahmen seines Raumes – dekorativ und beredt als eines, wenn auch nicht das unwichtigste unter den anderen dekorativen und stumm-beredten Dingen, die hier präsent waren als die Bestandteile des Zimmers und seiner Stimmung. Und solche Staffagefigürchen fügt auch Alfred de Vigny ein, nachdem er zunächst Schritt für Schritt einen „weitläufigen Wohnraum“ ausgemalt hat: das „stattliche und komfortable Geschäfts-Hinterzimmer des Hauses von John 279
––––––––––––––––––– Siehe zu diesen Benennungen Praz: La Philosophie de l’Ameublement, S. 19.
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Bell“ mit seinem Kamin und der glühenden Erdkohle, seiner Schlafzimmerund seiner gläsernen Geschäftszimmertür, seiner Wendeltreppe und den „mehreren“ oberen, „engen und finsteren Türen“. Das alles ohne vergegenwärtigtes Fenster übrigens, und erst ganz zum Schluß dann die letzten Objekt-Details, die das Eingangstableau komplettieren: „Der Quäker liest in einer Ecke des Zimmers, links vom Zuschauer. Rechts sitzt Kitty Bell; zu ihren Füßen sitzt ein Kind auf einem Schemel; ein junges Mädchen steht neben ihr.“ – Dieses Bild würde sich gleich in Bewegung setzen, doch vordem gilt es, Alfred de Vignys „Staffagefiguren“ – die im Eingangstableau von Chatterton „nur“ wortlos, durch ihren Umraum und ihre Positionierung darin „portraitiert“ sind, – so eingehend vorzustellen, wie Vigny es tat in „CARACTÈRE ET COSTUMES DES RÔLES PRINCIPAUX“. * „Interestingly, under the heading ‘character’, Vigny specifies both the physical features and personality traits he wants to be made visible to the audience.“280 Zurecht stellt Cooper fest, daß Vigny unter der Schlagzeile „Charaktere und Kostüme der Hauptrollen“ ineinander übergehend beschreibt, was dem Theaterbesucher mit leiblichem Auge an äußeren Charakteristika der Figuren zu sehen wäre und was ihm an inneren Charakteristika an sich unsichtbare wäre, doch hier aus den äußeren Wesensmerkmalen zu erschließen ist. Vigny beschreibt das Sichtbare, Materielle des Kostüms und damit zugleich das Unsichtbare, Immaterielle des Charakters, denn im Materiellen des Kostüms scheint das Immaterielle des Charakters auf. Die Kleidung seiner Dramenfiguren ist bei Vigny ähnlich beredt wie die Gestaltung seiner Innenräume. Cooper führt die beredte Kleidung von Chatterton und den anderen auf einen im 19. Jahrhundert verbreiteten Glauben an „some correlation between the physical and the spiritual sides of human nature“281 zurück. In der Tat könnte man an Lavaters physiognomische Studien des 18. Jahrhunderts denken oder an die Phrenologie des 19. Jahrhunderts: Der Versuch, aus dem Gesichtsbild oder dann der Schädelform den Charakter einer Person abzulesen, ist Ausdruck dieses Glaubens an einen Zusammenhang von innerer und äußerer, charakterlicher und körperlicher Erscheinungsform gewesen. Nur wäre dieser Zusammenhang unbeabsichtigt zustande gekommen, denn kein Mensch vermag es, sich seine Gesichtszüge oder Schädelform auszusuchen, und was dem Menschen angeboren ist, läßt sich nicht absichtlich von ihm verändern und gestalten. Mit Intérieur oder Kleidung verhält es sich jedoch anders. Die Kleidung ist nicht angeboren, sie ist „nur“ eine zweite Haut des Menschen. Und diese kann, zumindest innerhalb eines gewissen Vorgabekanons der Mode, sozialen Kaste, etc., selbst ausgewählt und angelegt werden. So steckt in der Formierung dieser zweiten Haut des Menschen ‒ seiner Kleidung ‒ ein Ge280 281
––––––––––––––––––– Cooper: Exploitation of the Body in Vigny’s Chatterton, S. 22. Ebd.
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staltungsakt, der allerdings mehr oder weniger bewußt gepflegt sein kann. Mit dem Bekleiden ist es ein wenig wie mit dem Ausgestalten des Wohnraums: Manche Handgriffe mögen dazu dienen, sich das eigene Selbstbild absichtlich zu gestalten, sich bewußt ob in den Dingen des Intérieurs, ob in den Dingen der Bekleidung auszudrücken. Aber anderes am Wohnraum oder am menschlichen Erscheinungsbild mag zufällig oder beiläufig „charakterisiert“ sein, gezeichnet von den Lebensgesten des Wohnens, die ihre intim-authentischen „Wohn-Spuren“ hinterließen, oder gezeichnet von charakteristischen Körperbewegungen, die ihre verräterischen Spuren ein-prägten oder ein-fältelten in die menschlichen Kleidung (wovon individuell abgelaufene Schuhe ein besonders prägnantes Beispiel geben). Und das ist nun das Entscheidende, das das Materielle einer Innenraumeinrichtung oder einer Bekleidung zum Ausdruck des Immateriellen eines Charakters macht: Intérieur und Kleidung sind Resultate einer gestischen (Selbst-)Gestaltung. Die Geste ist aber das spontane Ausdrucksmittel von unterschwelligen Intentionen, Stimmungen oder Gefühlsregungen, die dem Gestikulierenden gerade nicht vollends bewußt sind. Über die Geste teilt er sie anderen mit und vergegenwärtigt sie sich selbst erst um so deutlicher. Doch geht die gestische Vergegenwärtigung der Stimmung eben nur ein Stück weit. Die Geste ist ein körpersprachliches Ausagieren und „An-denken“ einer unterschwelligen Absicht oder Stimmung, anstatt eines Durchreflektierens und Benennens der Absicht oder Stimmung in Worten.282 Der Gestikulierende wird sich nicht in klaren Worten Rechenschaft ablegen über die Motive, die ihn soeben zum Gestikulieren treiben; er wird sich nicht vollends bewußt darüber sein, was er gerade körpersprachlich ausdrücken und damit erreichen will. Wenn aber der Gestikulierende selbst Absicht und Inhalt seiner Geste nicht in Worten ausdrücken könnte, ist dieses vom Beobachter der Geste gleichfalls nicht zu erwarten. Will dieser die Geste bestmöglich „begreifen“, muß er sie einfühlsam interpretieren, oder, um noch sicherer zu gehen, sie körperlich nachahmen. Diese körperliche Nachahmung wäre der gründlichste Weg, sich in die Rolle und Befindlichkeit des anderen hineinzuversetzen und seine Körpersprache am eigenen Leibe nach-zu-erfahren.283 Allerdings bleibt es im Alltagsleben doch meistens bei einem nichtkörperlichen, insofern weniger gründlichen einfühlsamen Miterleiden; aber noch dieses erfolgt dann ebenso 282
283
––––––––––––––––––– So benennt Flusser den inneren Prozeß, der sich im Akt der Gestikulierens vollzieht, als eine Verwandlung von unmittelbar erlittener „Stimmung“ in bewußter werdende „Gestimmtheit“. Siehe zur Funktionsweise und Phänomenolgie der Geste überhaupt Flusser: Gesten, besonders S. 7-18. „Um Gesten lesen und verstehen zu können, müssen sie mimetisch erfaßt werden [...]. Wer eine Geste wahrnimmt, versteht sie, indem er sie nachahmt und so den spezifischen Charakter ihrer körperlichen Ausdrucks- und Darstellungsform begreift. Obwohl Gesten bedeutungsvoll und einer Analyse zugänglich sind, erfaßt erst der mimetische Nachvollzug ihren symbolisch-sinnlichen Gehalt.“ (Wulf: Geste, S. 520-521.)
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unmittelbar und unwillkürlich, halb unreflektiert und doch dunkel „verständig“ wie das verfolgte Gestikulieren selbst. So ist es wie gesagt im Alltagsleben, und so ist es – auch im Theater? Aus der Geste spricht das Unwillkürlichste, Ungefiltertste, „Authentischste“ des Menschen: die Geste ist die Schaltstelle, an der das tiefste, vielleicht ungewußteste Innenleben umschlägt in eine äußerlich sichtbare Körperbewegung. Die Geste ist „materialisiertes Innenleben“, und wenn die Geste eine Gestaltungs-Geste ist, die ihre Spuren an der Kleidung oder im Wohnraum oder an einem Ding hinterläßt, prägt sie Kleidung, Wohnraum und Ding selbst zu bleibenden Mitteln eines stummen Ausdrucks des Seelischen durch das Materielle. Aus diesem Grund ist das Intérieur, das Kostüm, nicht zuletzt aber die Geste selbst so bedeutsam in Chatterton. Aus diesem Grund ist auch der Körper der Dramenfiguren selbst so beredt: weil er ein stumm-beredt gestikulierender, stumm-beredt bekleideter und stumm-beredt wohnender Körper ist. Der Körper der Vignyschen Dramenfigur ist ein potenziertes Mittel der Verkörperung der Seele oder der Idee, die sich auf diesem Weg, ohne Worte, ausdrückt. * Der menschliche Körper wird von Vigny nicht als „einfacher“ Körper begriffen, sondern als Mittel der Verkörperung des Immateriellen des Menschen, seiner Seele und Gemütsregungen, darüber hinaus aber auch als Verkörperung einer entpersonalisierten Idee. So verkörpert Chatterton seine Dichterseele, sein Dichtersein, dieses Dichtersein ist aber wiederum eine Idee Vignys. So ist sein Chatterton zu begreifen als ein Individuum mit exemplarischem Charakter – als ein Individuum und Symbol. Alle Dramenfiguren Vignys sind, so Cooper, als solche Individuen und Symbole zu begreifen284; das Individuum und Symbol Chatterton sieht aber in Charakter und Kostüm wie folgt aus: Caractère. – Jeune homme de dix-huit ans, pâle, énergique de visage, faible de corps, épuisé de veilles et de pensée, simple et élégant à la fois dans ses manières, timide et tendre devant Kitty Bell, amical et bon avec le quaker, fier avec les autres, et sur la défensive avec tout le monde; grave et passionné dans l’accent et le langage. Costume. – Habit noir, veste noire, pantalon gris, bottes molles, cheveux bruns sans poudre, tombant un peu en désordre; l’air à la fois militaire et ecclésiastique. (53)
Chattertons Charakter soll zunächst aus seinem Antlitz sprechen: der „junge Mann von achtzehn Jahren“ soll „blaß“ sein, doch „energisch in seinen Gesichtszügen“. Dieses energische, wenn auch blasse Gesicht widerspricht und korrespondiert jedoch mit dem Gesamteindruck einer „Schwachheit“ „des Körpers“: diese Schwachheit will zur Blässe, nicht zur Energie des Gesichtes pas-
284
––––––––––––––––––– Siehe Cooper: Exploitation of the Body in Vigny’s Chatterton, S. 23, die nachgetragene Fußnote des Aufsatzes: „If my interpretations of the significance of body language are valid, they suggest that all of the characters in the play, and not just Chatterton, need to be considered both as symbols and as individuals.“
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sen. Doch wird die Irritation aus dem Zusatz der Idee erklärt: Chattertons schwacher Körper sei „erschöpft vom Durchwachen und Denken“. Und nun verläßt die Beschreibung Chattertons vollends den Bereich des körperlichen Portraits und wendet sich ganz dem zu, was sich in einer gezeichneten Skizze vielleicht andeutungsweise aus der Körperhaltung ausdrücken ließe, was im Grunde jedoch nur verbal auszumalen ist: Chattertons Bewegungen, seine Manieren, sein Gebaren, seine Haltung gegenüber den Figuren, die ihn umgeben. „Einfach und zugleich elegant“ soll Chatterton in besagten „Manieren“ sein, in seiner Umgangsweise mit Kitty Bell aber „scheu und sanftmütig“, „freundschaftlich und gut mit dem Quäker, stolz mit den anderen und in der Defensive mit aller Welt“. Womit schon besagt ist, daß es zwei Kategorien von Mitmenschen in Chattertons Leben gibt: auf der einen Seite zwei Figuren, die ihm offenbar näher stehen und denen er mit positiven, gebenden, warmen Charaktereigenschaften begegnet – Scheu und Sanftmut, Freundschaft und Güte. Auf der anderen Seite aber „alle Welt“: und diese Welt entlockt ihm nur „Stolz“ und eine negative, defensive Haltung. Des weiteren kann sich man vorstellen, daß die Stimme ein Mittel sein wird, die jeweiligen Modulierungen von Chattertons Stimmungen und Gemütshaltungen mitauszudrücken; und in der Tat darf die Stimme nicht länger vergessen sein, wenn es um den Ausdruck des Immateriellen, Stimmungsvollen, Charakteristischen des Menschen geht. Vigny jedenfalls vergißt die Stimme nicht, die er einerseits mit einer charakteristischen Grundstimmung, andererseits mit einer typischen Sprache assoziiert, denn „ernst und leidenschaftlich“ sei Chatterton „im Akzent“ seiner Stimme und in „seiner Sprache“. So hat man Vignys Chatterton andeutungsweise vor den inneren Augen wie im inneren Ohr wie in der Phantasie eines intuitiv mitfühlenden Körperempfindens – seinen schwachen jungen Körper mit dem blassen Gesicht; gleichzeitig die Energie dieses Gesichtes, die in der passionierten, ernsten Stimme und Sprache ihren hörbaren Widerhall findet; die Modulierungen dieser Stimme sowie der nonverbalen Sprache seines Körpers, wenn Chatterton „aller Welt“ gegenüber stolz und defensiv auftritt, doch einer jungen Frau und einem alten Mann gegenüber sanftmütig und scheu, freundschaftlich und gut. Dies alles, diesen Voreindruck vermittelt Vigny noch vor Beginn des eigentlichen Dramas, nicht seinem Zuschauer, aber seinem Leser: ehe er das Portrait seines Protagonisten abrundet mit dessen noch einmal beredten Kostüm: „Schwarzer Rock, schwarze Weste, graue Hose, weiche Stiefel, braune Haare ohne Puder, ein wenig unordentlich herabfallend; im Eindruck zugleich militärisch und klerikal.“ (Abb. 9) Das ist Vignys Chatterton, der – den Stolz und eine gewisse Passioniertheit, das Dichtertum und das Armsein ausgenommen – nicht mehr viel mit dem historischen Chatterton gemein hat. Denn von dem ist zwar überhaupt kein gezeichnetes Gesichts- und Körperbild überliefert, doch weiß man, daß er seiner Schwester von seiner modischen und gewiß nicht langweilig-schwarzen Kleidung schrieb, die er sich in London zum Ausgehen zulegte. Der historische
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Chatterton ging nämlich gern und freiwillig unter die Leute – und immer berechnend, zum Knüpfen ihm günstiger Kontakte.285 Mönchisch war er also nicht, nicht insofern, sondern wenn überhaupt, dann als alter ego Thomas Rowleys; und auf das mittelalterliche alter ego mag Vigny ein wenig angespielt haben mit seinem „militärisch-klerikal“ kostümierten Einsiedler-Dichter der Nacht. Aber schließlich war das Haar des historischen Thomas Chatterton vielleicht rot, wie das von Wallis’ Chatterton, oder vielleicht auch braun wie das, das Vigny seinem Chatterton gab, man kann es nicht mehr wissen. Nur, so wie die braunen Haare von Vignys Chatterton fielen Thomas Chattertons Haare 1770 jedenfalls nicht. Diese „leichte Unordnung“, ein wenig wie vom inneren Seelenansturm des Dichters frisiert, erinnert mehr an die gewollt wild-stürmische Haartracht eines französischen Chateaubriand oder englischen Byron, Shelley, Keats. Und da Vignys schwarzgekleideter welt- und lebensfeindlicher Chatterton eine französisch-romantische Figur von 1834 ist, fehlt seinem Leben auch eine andere Frau als die Bristoler Schwester oder Mutter oder Großmutter, denn das sind die drei Frauen, die an ihren historischen Thomas Chatterton glaubten. Vignys Chatterton jedoch fehlt zuletzt noch eine tragisch an ihn glaubende Liebe. Ihr Name ist: Kitty Bell. * Chatterton muß in ihrem Zentrum stehen, doch kann er dort nicht alleine stehen: Es bedarf weiterer Figuren, um aus einer Figur ein Drama zu machen. Die weiteren Hauptpersonen, die Vigny nach dem Muster Chattertons in ihrem äußeren und inneren Erscheinungsbild, als Verkörperungen eines IndividualCharakters und einer Idee beschreibt, sind: Kitty Bell, der Quäker, John Bell, Lord Beckford und Lord Talbot. Von diesen weiteren fünf Hauptrollen müssen die ersten drei besonders interessieren. Da ist zuerst Kitty Bell, in deren Haus Chatterton in London lebt (wiewohl es streng genommen das Haus ihres Mannes, John Bell, ist). Im Leben des historischen Chatterton gab es tatsächlich eine letzte Londoner Hausfrau: Seine letzte Dachbodenkammer hatte Chatterton im zwielichtigen Holborn gemietet, bei einer nicht minder zwielichtigen „Mrs. Angel“. Daß der Name der „Frau Engel“ wohl Ironie des Schicksals war, wird Ackroyd in seinem Roman Chatterton von 1987 noch unterstreichen: Ackroyd wird Chatterton seine Unschuld bei der besoffenen „Mrs. Angell“ verlieren lassen (die nicht nur ein zweites „l“ schriftlich vom Engel unterscheidet); dafür wird Frau Engel dem Jungdichter die Geschlechtskrankheit geben, die der Unerfahrene nach einem hausgemachten „kill-or-cure“-Rezept kurieren wird – einem de facto tödlich wirksamen Gemisch aus Opium und Arsen.286 285
286
––––––––––––––––––– „I employ my money now in fitting myself fashionably, and getting into good company“, so Chatterton an seine Schwester vom 30. Mai 1770 aus London (The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 433). Siehe Ackroyd: Chatterton, S. 192-234.
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Doch davon kann Vigny 1834 noch nichts wissen und fände es wohl abgeschmackt, und seine letzte Unterkunft Chattertons ist zwar an der Peripherie von London, jedoch nicht in Holborn gelegen; vor allem aber heißt seine Haushälterin nicht „Angel“ und nicht „Angell“ – weil das zu aufdringlich, übertrieben, zu einfach wäre, um es als historische Zufälligkeit zu glauben. Vignys Kitty Bell soll nämlich tatsächlich innerlich der reine und liebende Engel sein287, der sein Engelsein in Kleidung und Gebaren ausdrücken muß, jedoch nicht plakativ im Namen zur Schau stellen. Vielmehr soll der Dramenleser Kittys Charakter der folgenden Beschreibung ablauschen: Jeune femme de vingt-deux ans environ, mélancolique, gracieuse, élégante par nature plus que par éducation, réservée, religieuse, timide dans ses manières, tremblante devant son mari, expansive et abandonnée seulement dans son amour maternel. (53) Junge Frau von etwa zweiundzwanzig Jahren, melancholisch, anmutig, elegant mehr von Natur als durch Erziehung, reserviert, religiös, scheu in ihren Manieren, zitternd vor ihrem Gatten, mitteilsam und hingebend nur in ihrer Mutterliebe.
Auch Kitty Bell scheint, wie Chatterton, ein unglücklicher Charakter zu sein, ein unterdrückter. Nur daß sie nicht mit Stolz und Defensivität auf „alle Welt“ reagiert, sondern mit Zittern auf ihren Gatten. Dieses Zittern mag auch der Schlüssel zu ihrer Melancholie sein, auch zur Scheu ihrer Manieren, selbst zu ihrer Reserviertheit und Religiosität, die auf eine Introvertiertheit, vielleicht eine Flucht in das Innere verweisen. Eine zweite Flucht oder Entlastung scheint Kitty aber nur noch in ihrer Mutterliebe gegeben: nur als Mutter darf die junge, Chatterton auch im Alter gefährlich nahe Frau sich so „mitteilsam und hingebend“, so liebevoll zeigen, wie sie es ihrem innersten Wesen nach wohl immer wäre – doch anscheinend nicht sein darf. Kitty Bell ist also eine still leidende, fühlende Erscheinung und dabei wohl nicht nur in ihren körperlichen Bewegungen, sondern auch in den Regungen ihres Gemütes mehr von Natur als durch Erziehung „elegant“ und anmutig. Wer aber das Leiden kennt, weiß mitzuleiden; und eben das muß zu einem erneuten Fluchtversuch aus dem Leiden und zu erneutem Leiden Kittys führen, denn: Sa pitié pour Chatterton“, so heißt es weiter, „va devenir de l’amour, elle le sent, elle en frémit; la réserve qu’elle s’impose en devient plus grande; tout doit indiquer, dès qu’on la voit, qu’une douleur imprévue et une subite terreur peuvent la faire mourir tout d’un coup.“ (53-54) Ihr Mitleid mit Chatterton wird sich in Liebe wandeln, sie fühlt es, und erbebt davor; die Zurückhaltung, die sie sich auferlegt, wird dadurch nur größer; alles muß anzeigen, sobald man sie sieht, daß ein unvorhergesehener Schmerz und ein plötzlicher Schock sie auf einen Schlag töten können.
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––––––––––––––––––– Siehe zu Vignys Reflexionen zum Engelsein seiner Kitty Bell Rey: Préface, S. 26.
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So bedarf es kaum einer weiteren Vorstellung von Kitty Bells schlicht-dunkler Kleidung und ihres weich-lockigen Haars, das allerdings unter einem Hut halb erstickt ist und nur en repentir, in Reue, darunter hervorfällt288, um ihren Charakter und sein dramatisches Potential zu erahnen. Ein „plötzlicher Schock“, „ein unvorhergesehener Schmerz“ können die junge Frau „auf einen Schlag töten“ (wie auch immer die Akteurin diesen Eindruck von Beginn an vermitteln soll); die junge Frau liebt unglücklich, schuldig gemäß der Gesellschaft, unschuldig nach anderen Kriterien einen Mann, den sie als Leidensgenossen erkennen und an dem sie Anteil nehmen muß, mehr als ihr gut ist; dabei hat Kitty Bell einen Ehemann, vor dem sie grundsätzlich und immer erzittert: Damit ist schon zu Beginn des Dramas, allein aus der Konstellation der Figuren heraus, mehr als eine tragische Katastrophe angelegt. Ein Sterben Chattertons am Ende des Dramas kann nicht überraschen; überraschen darf auch ein Tod Kitty Bells nicht, den man vielmehr von Beginn an erwarten muß – spielt die Mimin der Kitty ihre Rolle gut und gibt ihre lebensgefährliche Seelenfragilität so subtil zu fühlen, wie der Dramendichter Vigny es verlangt: „alles muß anzeigen, sobald man sie sieht, daß ein unvorhergesehener Schmerz und ein plötzlicher Schock sie auf einen Schlag töten können.“ In der Tat läßt allein die Konstellation der Hauptfiguren Dramatisches erwarten. Denn erstens zeichnet sich jede der Hauptrollen durch eine bestimmte charakterliche Prädisposition aus, die sich auch im Laufe des Dramas nicht verändern wird. Es geht Vigny in Chatterton nicht um psychische Entwicklungen oder Reifeprozesse seiner Charaktere, sondern darum, eine Reihe von Charakter-Ideen, von charakterlich unvariablen Symbol-Figuren, in Konstellation zueinander zu setzen. Diese theoretische Konstellation baut Vigny auf, indem er seine Hauptrollen in Charakteren und Kostümen vorstellt; doch „realisieren“ wird sich diese Konstellation oder das, was sie an Konflikten bedeutet, erst im Verlaufe des Stückes, wenn die Dramenfiguren sich begegnen – in Kontakt zueinander treten – auf Distanz zueinander gehen – erlaubten und unerlaubten Zugriff aufeinander nehmen. Auch daher resultiert die besondere Bedeutung des Bühnenraums, des fiktiven Intérieurs, in Chatterton: Der Bühnenwohnraum muß von tragender Bedeutung für das Drama sein, weil er der Rahmen ist, innerhalb dessen die Figuren sich bewegen, weil er die Konstellation der Personen zueinander auf seine Weise, aus ihrer Positionierung zueinander im Raum, noch einmal vorbestimmt und ausdrückt – weil er Berührungen zwischen den Figuren vorstrukturiert, erleichtert oder erschwert.
288
––––––––––––––––––– Die Frisur mit der beredten Bezeichnung en repentir, „in Reue“, ist keine von Vigny erdachte. Es ist eine tatsächlich historische Frisur, die in etwa in die Chatterton-Zeit paßt, vielleicht sogar ein wenig zu spät ist für 1770. Doch historische Korrektheit ist hier sekundär: wo es um Vermittlung einer Idee oder Stimmung aus dem Kostüm, bzw. der Frisur geht. Kitty Bell hätte eine Menge zu bereuen, ihre Ehe etwa; jedenfalls „paßt“ die Frisur, bzw. Haltung en repantir Vignys Absicht nach zu Kittys Rolle und Charakter.
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Um aber bei Vignys theoretischer Skizzierung der Konstellation seiner Figuren in Charakter und Kostüm zu bleiben, sind zumindest zwei weitere Hauptrollen noch vorzustellen: der Quäker, und natürlich John Bell. Der Quäker ist eine merkwürdige Figur, insofern er einen „Mittel-Punkt“ darstellt, einen Mittler zwischen den Parteien. Obwohl der Quäker damit einerseits über den Dingen steht, die er durchschaut, ist er zugleich irdischer Mensch und fehlbar. Vigny beschreibt ihn als einen achtzigjährigen, doch rüstigen Greis, der die Rolle eines alten „Hausfreunds“ („ami de la maison“) genießt, welcher „insgeheim von jedem“, sogar restweise von John Bell, als ein „Leiter seiner Seele und seines Lebens“ „zugegeben“ wird („chacun en secret l’avoue pour directeur de son âme et de sa vie“). (54) Diese Sonderrolle verdankt der Quäker seinem väterlich-wohlwollenden Auftreten und Bestreben, „en silence“, „stillschweigend“, diejenigen, die ihn umgeben, zu überwachen und in aller Sanftheit zu ihrem Besten anzuleiten. Seine Schwäche äußert sich darin, daß er als „humoriste et misanthrope“ mit seinem „regard [...] pénétrant“ oder „scharfem Blick“ die „Laster der Gesellschaft“ („vices de la société“) durchschaut und davon „irritiert“ ist – doch dem einzelnen Menschen gegenüber „nachsichtig“ („indulgent“). (54) Eine gewisse Unentschlossenheit zeichnet sich ab, der Wille, zu vermitteln, auszugleichen, zu befrieden – bei gleichzeitigem Unwillen oder Unvermögen dazu, zurecht unnachsichtig zu sein, nämlich konsequent einzelne Personen zu verurteilen, die doch die irritierenden „Laster der Gesellschaft“ verkörpern. Exemplarisch tut das John Bell. Er heißt nicht Tervono, sondern John Bell: Doch in Vignys Chatterton ist dieser John Bell der geborene Kaufmann, der materielle Mensch par excellence. Was die Vorstellung seiner Figur in Charakter und Kostüm sehr wortkarg macht, denn wo die inneren Qualitäten fehlen oder das Charakterliche sich in körperlichen und materiellen Attributen weitgehend erschöpft, ist eben nicht viel Charakter vorzustellen. Was bleibt, ist dieses: Caractère. – Homme de quarante-cinq à cinquante ans, vigoureux, rouge de visage, gonflé d’ale, de porter et de roastbeef, étalant dans sa démarche l’aplomb de sa richesse; le regard soupçonneux, dominateur; avare et jaloux, brusque dans ses manières, et faisant sentir le maître à chaque geste et à chaque mot. Costume. – Cheveux plats sans poudre, large et simple habit brun. (54-55)
John Bell, mit seinen „fünfundvierzig bis fünfzig Jahren“ mehr als doppelt so alt wie seine zweiundzwanzigjährige Frau, ist seine Körperkraft und sein rotes, aufgedunsenes Gesicht, ist sein Konsumieren von Ale, Porter und Roastbeef, ist sein Gang und seine Haltung, die den vollen Eindruck der Wucht seines Reichtums verbreiten, ist sein mißtrauischer, herrischer Blick, ist geizig und eifersüchtig, ist brüsk in seinen Manieren, ist der Körper, der die Gesten, und die Stimme, die die Worte formuliert, die immer nur eines vermitteln und aufdrängen können: den Eindruck, daß John Bell der Herr ist.
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Es könnte keinen größeren Gegensatz als zwischen Chatterton und John Bell geben – ausgenommen der Gegensatz zwischen John und Kitty Bell. Und es wird klar: selbst der alte Hausfreund und Mittler, der Quäker, wird angesichts dieser Gegensätze und dem, was sie an Reibungsflächen, Konflikten, Katastrophen implizieren, machtlos sein, aller seiner Altersweisheit und all seinem guten Willen zum Trotz. So daß, noch ehe das Drama begonnen ist, sein tragisches Ende schon feststeht. Dieses tragische Ende ist nur noch zu erwarten, auch wenn dieses zwangsläufige Erwarten die Befürchtung und Anspannung nicht eben geringer macht. Schließlich ist die Hoffnung im Menschen schwerlich totzukriegen – und auf dieses von Beginn an eingeforderte Erwartenmüssen des Tragischsten im Widerspiel mit der widerspenstigen Hoffnung auf das Glück setzt Vigny, und schürt daraus die Spannung und Atmosphäre seines Stückes: von dem er will, daß es so frappierend wie fruchtbar zu Herzen und Nieren, und zu Gewissen gehen möge. * Chatterton ist ein Drama des Wartens, weil das Warten wesentlicher Teil seines Inhaltes ist. Nicht umsonst hat Vigny die „materielle“ Handlung seines Dramas auf den einen Satz reduziert: „C’est l’histoire d’un homme qui a écrit une lettre le matin, et qui attend la réponse jusqu’au soir; elle arrive, et le tue.“ (51) Chatterton ist das Drama eines Mannes, der einen Tag lang, von morgens bis abends, eine briefliche Antwort auf eine briefliche Anfrage erwartet, ehe der erwartete Antwortbrief eintrifft und ihn tötet. Doch Chatterton ist nicht nur für seinen hauptsächlichen Protagonisten, den erwartenden Mann, ein Drama des Wartens. Nicht er allein wird in seinem Drama auf etwas warten, denn der Zuschauer, bzw. Leser von Chatterton selbst tut nichts anderes als das. Noch vor Beginn der eigentlichen Dramenhandlung stiftet Vigny auf doppeltem Wege eine Erwartungshaltung und Spannungsatmosphäre. Der eine Weg geht über die beredte Kostümierung seiner Figuren, bzw. über die Beschreibung der Charaktere und Kostüme der Hauptrollen in ihrer Konstellation; der zweite Weg geht über die Gestaltung des Bühnenraums zu einem „lebenden Intérieur-Aquarell“, das der erste Blick und Eindruck von Chatterton ist, den der erhobene Vorhang preisgibt. Vignys Figuren stellen Verkörperungen oder Symbole bestimmter Typen oder Charakter-Ideen dar. Ihre Kostüme verraten, ohne Worte, ihre fixierten und unwandelbaren charakterlichen Prädispositionen, die spätestens im Rahmen der Konstellation sämtlicher Hauptrollen problematisch sind. Denn allein die Zusammenstellung der Charaktere kündigt an, daß Konflikte zwischen den einen, verbotene Bündnisse zwischen den anderen denkbar, ja unabwendbar sind: Vigny schürt, indem er seine Figuren in Charakter, Kostüm und Konstellation vorskizziert, eine erste Erwartungshaltung, eine spannungsgeladene Vor-Atmosphäre des kommenden Dramas.
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Allerdings ist es der Dramen-Leser, der derart im Vorfeld schon vorgewarnt wird. Der Dramen-Besucher wird die spannungsvolle Figuren-Konstellation erst dem Verlauf des gespielten Stückes entnehmen. Doch auch sein erstes Eintauchen in die „stickige“ Erwartungs-Atmosphäre der Chatterton-Welt erfolgt, noch ehe die eigentliche Handlung begonnen ist, denn einen ersten Eindruck empfängt der Dramenzuschauer mit Blick auf das Eingangstableau, das der Bühnenraum repräsentiert. Die Leistung dieses Bühnen-Intérieurs ist es aber, daß sich darin die dramenträchtige Figuren-Konstellation wiederfindet – übersetzt in eine räumliche Komposition. Dieser Wohnraum mit seiner Reihe augenfälliger Türen – die in ihrer Geschlossenheit negierte Durchgänge sind und eine davon, aus Glas, eine negierte Trennwand –, dieser so poröse und doch so hermetische Raum schürt auf seine Weise eine eigene Form der Erwartung: Es ist die Befürchtung, oder das Erhoffen, von Grenzüberschreitungen, die Vorahnung eines Eindringens von etwas in diesen allzu porösen und zugleich hermetisch„intimen Rückzugsraum“, das den augenblicklichen status quo dieses Eingangstableaus und seiner sichtbaren (und unsichtbaren) Figuren aus dem Gleichgewicht, und darüber in Bewegung bringt. Folglich muß man sich, noch ehe dieser Beginn einer Handlung zu verfolgen ist, den Eingangsraum und die Eröffnungssituation des Stücks erneut vergegenwärtigen, und das angesichts der „Intérieur-Skizze des ersten Blicks“ wie eingedenk der Charakteristika des Dramenpersonals. Denn mag auch manche Figur noch nicht unmittelbar im Eingangstableau zu sehen sein, so wird sie dennoch im Unsichtbaren, Uneinsehbaren der Anschlußräume des Wohnzimmers warten. So fiele der erste Blick eines Theater-Besuchers von Chatterton zwar in einen Wohnraum hinein, hier aber sofort auf die dominante, augenfällige, dem Zuschauer gerade gegenüberliegende Glastür der Zimmerrückwand, durch die hindurch ein „reiches Geschäft“ zu erspähen ist. In diesem Geschäft muß sich der Herr des Geschäfts und des Hauses, der Kaufmann John Bell, befinden. – Währenddessen sitzt im intimen Wohnbereich dahinter – der dem Theater-Besucher allerdings der Vorderraum ist, in den er, wie durch das Hintertürchen, vollen Einblick hat – ein Quäker. Der Quäker sitzt, vom Zuschauer aus gesehen, an der linken Wand des Bühnenwohnraumes; er liest, und stört sich scheinbar nicht an der Atmosphäre der glühenden Erdkohle, wiewohl er dem Kamin, dem sie entströmt, auf Tuchfühlung sein muß. Auf der anderen, rechten Wandseite des Bühnenraums sitzt Kitty Bell mit ihren Kindern. Und drei Dinge fallen bezüglich ihrer Art und Weise, dort zu sitzen, auf. Erstens ist Kitty nahe ihrer Schlafzimmertür positioniert – wie sprungbereit, sich in das Zimmer, das ihr noch am meisten gehören muß, schnellstmöglich zurückzuziehen? Zweitens steht Kitty in einem merkwürdigen Verhältnis von Distanz und Nähe zum Quäker. Das auf den ersten Blick harmonisch und friedlich anmutende Beisammensein in einem Raum verbindet Kitty mit dem anderen erwachsenen Zimmergenossen, doch sitzen beide ge-
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trennt von der ganzen Länge des „vaste appartement“ (57), des „weiten Wohnraum[s]“. Zudem ist der Quäker in sein Buch vertieft, also Kitty zwar nicht ostentativ abgewandt, trotzdem aber einer möglichen Kontaktaufnahme durch Blicke oder Gespräche entzogen. Was aber tut Kitty, derart von einer Zimmerlänge und einem Buch von der anderen anwesenden Erwachsenenfigur geschieden? Sie „ist sitzend“, mit ihren Kindern, von dem eines ihr zu Füßen auf einem Schemel „sitzend ist“, während das „junge Mädchen“ „stehend ist“ neben der Mutter: „À droite est assise Kitty Bell; à ses pieds un enfant assis sur un tabouret; une jeune fille debout à côté d’elle.“ (57) Nichts tun die drei Figuren dieser intimfamiliären Kleingruppe der Hausfrau und Mutter mit ihren Kindern. Sie tun nichts, obwohl sie anwesend sind, und so beschränkt sich ihr „Tun“, bislang, auf das Da-Sein. Da sind sie also – und wo auch sonst? Sie gehören in das Haus des John Bell. Wie bloße charakteristische Objekte des Wohnraums, der mit allen seinen Dingen John Bell gehört, muten die „Staffagefiguren“ der Mutter und Kinder an. Doch vielleicht impliziert ihr bloßes, nutzloses, daher scheinbar auf das Dekorative reduziertes Dasein auch ein dumpfe Erwartungshaltung? Nicht nur im Deutschen existiert die Redewendung „auf glühenden Kohlen sitzen“. Auch im Französischen bezeichnet „être sur des charbons ardents“ einen Zustand des quälenden Wartenmüssens. Was auch immer Kitty und ihre Kinder erwarten könnten, darüber darf jedoch nicht vergessen sein, daß noch eine Person unsichtbar präsent ist. Oben, am Kopfende einer Wendeltreppe, befinden sich „mehrere Türen“ („plusieurs portes“), hinter einer davon aber „la petite chambre de Chatterton“ (57) – „das kleine Zimmer von Chatterton“. Chatterton muß da sein – außer er wäre ausgegangen. Doch wäre das bei diesem mönchisch in seine Innenwelt zurückgezogenen Dichter wahrscheinlich? Bezeichnend für das Drama Chatterton ist aber, daß Vigny gleich die erste geschürte Erwartung seiner Leser oder Zuschauer enttäuscht. Es wird ein ungefragt eindringender „Störfaktor“ die wohl erzwungene Ruhe der eingänglichen Wohnzimmer-Szene in Unordnung bringen, den Beginn einer dramatischen Handlung auslösend. Doch dieser Eindringling in jenen vermeintlichen Intimraum, der so aufdringlich porös zum Geschäftsbereich hin ist, wird nicht von dort her, nicht durch die große Glastür kommen. Der Eindringling kommt von oben und ist eine Bibel. * Chatterton ist ein Drama des Wartens, und diesen Charakter wird das Stück nicht verlieren, auch dann nicht, wenn es endlich zu einem Beginn der erwarteten Handlung kommt. Doch das Tempo und Temperament dieser Handlung bleibt aufreizend zögerlich, verhalten, zähflüssig – allmählich anschwelend, bis es durchglüht und in sich zusammenbricht. Oder weniger poetisch ausgedrückt – der erste Akt des Stückes ist noch immer eine noch eingehendere Vertrautmachung mit der Atmosphäre des Hauses Bell, durch Präsentation einer Folge
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häuslicher Szenen. Die Handlungen, die diese Szenen als solche dennoch haben müssen, zielen mehr darauf, die Figuren des Dramas in ihren Lebensweisen und Glaubenshaltungen näherzubringen als deren Gegebenheiten durch Aktionen zu verändern. Erst zum Schluß dieses Einstimmungs-Akts zeichnet sich die Vorbereitung einer künftigen Krise deutlicher ab. Der Weg zu dieser führt durch den zweiten Akt, der dem Eindringen hausfremder Gäste, Gerüchte, Ereignisse vom Draußen ins Drinnen gewidmet ist, was folglich mehr Bewegung ins Spiel bringt – ehe im dritten und letzten Akt alle lange und kunstvoll geschürte Bewegung kulminiert. Doch noch jetzt gilt, was für alle drei Akte gültig ist: das grundsätzliche Primat der inneren, moralischen vor der äußeren, materiellen Handlung. Aber wenn es überhaupt zu einer Entwicklung äußerer wie innerer dramatischer Handlung kommt, verdankt sich das den Dingen. Beginnt Chatterton mit dem Entwurf eines augenblicklich „ruhig-stickigen“ Wohnraums, wird diese Situation eines in Erwartung erstarrten Eingangstableaus durch Einführung eines Dings in ihrer Labilität erwiesen, nämlich „gestört“ und aufgescheucht. Doch warum? Wie kommt es zur Anstößigkeit eines simplen Objektes? Es kommt dazu, weil dieses erste eine Handlung motivierende Objekt, sowie später weitere Dinge des Stückes, stumm-beredt ist und in seiner stummen Beredtheit ein Bote. In der weitgehend stillschweigenden Welt von Chatterton werden Dinge von Menschen als Kontaktstücke benutzt, als angebotene oder aufgedrungene Vermittler einer Berührung. Das Ding ist der verlängerte Arm, die verlängerte Hand, ja die verlängerte Seele der Figur, von der es herrührt. Wenn aber die Dinge auf diese Weise für vermittelte (Seelen-)Berührungen sorgen, so weil das Thema der Berührung und ihres Gegenteils, der Isolation, in Chatterton zentral ist. Chatterton ist auch ein Drama um das Bedürfnis nach, sowie die Gefahr durch Berührungen zwischen isolierten Menschen. Isoliert sind dabei alle Figuren, denn diese Isolation des Menschen erklärt sich aus einer Krankheit seiner Zeit, der Verhärtung der Herzen. Der Mensch, dessen Herz verhärtet ist, ist unberührbar und isoliert in seinem Egoismus. Der Mensch, dessen Herz nicht verhärtet ist, der aber unter der Pluralität der verhärteten Herzen lebt, ist auf seine Weise isoliert und vereinsamt, und, im Unterschied zum herzlosen Egoisten, leidet er unter dem Entzug an zwischenmenschlicher Berührung. Doch auf der anderen Seite fürchtet er sich davor, gewaltsam angerührt und benutzt zu werden. Denn die Kehrseite der Isolation ist, daß sie den einen Menschen verletzlich macht, den anderen jedoch aggressiv. Der in sich selbst isolierte Egoist ist, weil er nur sich selber sieht und zudem vom System der „wirtschaftlichen“ Herzlosigkeit getragen wird, skrupellos und wollend jedem anderen gegenüber. Der in seiner nichtigen Verhärtung Vereinsamte ist, weil allein, unfähig, sich gegen mögliche Zugriffe auf seine Person zu wehren. Die Gefahr, die Vignys Chatterton wie auch Kitty Bell droht, ist, aufgrund ihrer Einzelheit oder Einzigartigkeit zu fragil und ohnmächtig zu sein, um gegenüber dem verhärteten Ego-
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isten John Bell, dem exemplarischen Typus seiner Geschäftswelt, auf Dauer zu bestehen. Die Gefahr, die immer spürbarer lauert, ist die einer Objektivierung dieser fragilen Individuen zu ihrer Nutzbarmachung, zu der sie nicht gewillt sind und gar nicht befähigt wären.
5 Drama der fatalen Dinge oder Geschichte eines Briefes und einer Bibel Die Uraufführung von Chatterton erwies sich als „eklatanter Erfolg“ („éclatant succès“289), und Vigny versuchte, sich selbst und der Welt das erwiesenermaßen Bewegende seines Dramas, das sein Erfolgsrezept war, mit dessen „zweiten Drama“ zu erklären: [D]errière le drame écrit, il y a comme un second drame que l’écriture n’atteint pas, et que n’expriment pas les paroles. Ce drame repose dans le mystérieux amour de Chatterton et de Kitty Bell; cet amour qui se devine toujours et ne se dit jamais; cet amour de deux êtres si purs qu’ils n’oseront jamais se parler, ni rester seuls qu’au moment de la mort; amour qui n’a pour expression que de timides regards, pour message qu’une Bible, pour messagers que deux enfants, pour caresses que la trace des lèvres et des larmes que ces fronts innocents portent de la jeune mère au jeune poète; amour que le Quaker repousse toujours d’une main tremblante et gronde d’une voix attendrie.290 Hinter dem geschriebenen Drama gibt es so etwas wie ein zweites Drama, das die Schrift nicht erreicht und das die Worte nicht ausdrücken. Dieses Drama beruht in der mysteriösen Liebe von Chatterton und Kitty Bell; diese Liebe, die sich immer erahnt und niemals sagt; diese Liebe zweier Wesen, die derart rein sind, daß sie es niemals wagen würden, sich auszusprechen, noch allein zu bleiben ausgenommen im Augenblick des Todes; Liebe, die nichts als scheue Blicke zum Ausdruck hat, als Botschaft nichts als eine Bibel, als Botschafter nichts als zwei Kinder, als Zärtlichkeiten nichts als die Spuren der Lippen und der Tränen, die die unschuldigen Stirne von ihrer jungen Mutter zum jungen Poeten tragen; Liebe, die der Quäker immer mit zitternder Hand zurückweist und mit erweichter Stimme rügt.
Chatterton ist nicht ein Drama, es ist eine Verflechtung von zwei Dramengeschichten: Es ist die Geschichte des Mannes, der einen Tag lang eine briefliche Antwort erwartet, ehe sie ihn erreicht und tötet, und es ist das zweite Drama einer „mysteriösen Liebe“, die sich nicht anders ausspricht als in scheuen Blikken, in der Botschaft einer Bibel, in den unsichtbaren Spuren von Küssen und Tränen an den Stirnen zweier Kinder. Und damit ist auch gesagt, daß Chatterton 289 290
––––––––––––––––––– Rey: Préface, S. 7. Vigny: Sur les Représentations du Drame le 12 février 1835 à la Comédie-Française, S. 135. Seiner Buchpublikation von Chatterton fügte Vigny diesen auf die Uraufführung zurückblickenden Text als Schlußkapitel bei.
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nicht nur ein Drama mit zwei Geschichten ist, es ist auch ein Drama mit zwei Erzählweisen: Da sind immer noch die Worte, die ihren Teil besagen, und da sind die nonverbalen Ausdrucksmittel, die das ihrige – das, was in Worten nicht sagbar ist, – noch dazutun. Den Interpreten stellt das vor ein Problem. Würde er das Stück so detailverliebt ausleuchten, wie es das verlangt; würde er die Bedeutung jedes wörtlichen und die jedes dinglichen, gestischen, mimischen Kleindetails erwägen, es würde ein Buch aus der Analyse werden, und im Rahmen dieses Kapitels eines Buches wäre das zu viel. Auf der anderen Seite verlangt Chatterton wie gesagt nach einer Analyse, die Wert auf das verbale, fast mehr noch jedoch auf das nonverbale, körpersprachliche, raumgestalterische Detail legt – insbesondere aber auf die „dinglichen Kleinigkeiten“, um die sich bei genauerem Hinsehen die vernetzten Subgeschichten des Schauspieles aufspannen. Denn Chatterton ist eben hauptsächlich das Doppeldrama der Geschichten eines Briefes und einer Bibel; es ist aber außerdem die Geschichte eines verkannten Reliquienschreins, ein paar fehlender Münzen, einer alten Tabaksdose mit einem Miniaturportrait und noch weiterer Dinge. Auf diese gewöhnlichen, banalen, alltäglich-häuslichen Objekte – die im Drama Chatterton jedoch tragend in ihrer Bedeutsamkeit sind – gilt es in der folgenden Interpretation also hauptsächlichen Wert zu legen. Oder umgekehrt gesagt: Diese Kleinobjekte sollen in ihrer Funktion als Ankerpunkte und Handlungsmotoren der Dramengeschichte(n) herausgestellt und in ihrem stummberedten Auf- und Wiederabtauchen verfolgt werden. Das erste davon läßt auch nicht lange auf sich warten, denn es tritt in dem Augenblick in Erscheinung, in dem sich das Eingangstableau des Dramas belebt. * Man wird dieses Eingangstableau noch vor sich haben, diesen Einblick in einen Wohnraum, der eigentlich das Hinterzimmer eines Geschäfts ist – der stattlich und komfortabel sein soll, ohne wohnlich und gemütlich anzumuten – der dominiert wird von einer großen Glastgittertür zum Bereich der Arbeit und des Gelderwerbs hin. (Nur die drei engen und finsteren Türen am Kopfende einer großen Wendeltreppe mögen sich dem Blickbereich dessen entziehen, was von hinter der Glastür, vom Geschäft aus, ständig einsehbar sein muß.) Dazu links ein Kamin mit glühender Erdkohle, dabei sitzend ein lesender Quäker; rechts eine verschlossene Schlafzimmertür, davor sitzt Kitty Bell mit ihren Kindern. Und nun werden drei quasi zeitgleiche Geschehen das Intérieur-Aquarell und seine Staffagefiguren beleben: erstens eine Geste der sechsjährigen Rachel291, zweitens die darauf hin ertönende Stimme der Mutter, die halbwegs auf die Geste der Tochter, aber auch halbwegs auf noch ein Drittes reagiert: „KITTY
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––––––––––––––––––– In der Aufstellung des Dramenpersonals wird das Alter Rachel Bells als sechs Jahre angegeben, Rachels jüngerer Bruder soll vier Jahre zählen (siehe S. 56).
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BELL, à sa fille qui montre un livre à son frère: Il me semble que j’entends parler monsieur; ne faites pas de bruit, enfants.“ (57-58) Das Mädchen zeigt seinem Bruder ein Buch, dieses ist seine Geste. Das Zeigen kann nicht lautstark vor sich gegangen sein, dennoch bittet die Mutter ihre Kinder, „kein Geräusch“ zu machen. Denn es scheint ihr, sie habe „monsieur“ reden gehört, nur daß „reden“ zu milde gesagt ist. Die Wahrheit ist, daß dieser Hausherr schreit, seine „starke Wut“ nämlich hört Kitty aus dem „Klang seiner Stimme“: „Mon Dieu! Votre père est en colère! Certainement il est fort en colère; je l’entends bien au son de sa voix.“ (58) „Mein Gott! Euer Vater ist in Wut! Er ist sicherlich stark in Wut; ich höre es doch aus dem Klang seiner Stimme.“ – So beginnt die Handlung von Chatterton mit dreierlei Eindringen: erstens mit dem Eindringen eines Störgeräuschs aus dem Geschäft in den Wohnraum, dem Eindringen von John Bells Stimme, die in ihrem Zorn mühelos eine Glasgittertür durchdringt. Das zweite, was sich der Szene bemächtigt (wenn es nicht schon vorher latent da war), ist Angst: Ihre Angst vor dem Hausherrn, seiner Wut, motiviert Kittys Bitte an die Kinder, zu schweigen. Doch wenn diese Kinder sich überhaupt regten, so weil noch ein Drittes, Fremdes in den Raum eingedrungen ist; dieser Fremdkörper aber ist ganz stumm und friedlich ansprechend, nämlich „ein Buch“. Und dieses Objekt muß Kitty am Ende einer weiteren Warnung der Tochter (vor der Berührung eines „eitlen“ Dings, einer Schmuckkette,) zuletzt doch näher bemerken; und wie vor Erstaunen ruft sie es aus, ihre Bitte um Stille damit halbwegs vergessend: „Mais qui donc vous a donné ce livre-là? C’est une Bible; qui vous l’a donnée, s’il vous plaît?“ (58) Nicht was für ein Objekt es ist, fragt Kitty voll Aufregung, sie hat es selbst schon gesehen: „Es ist eine Bibel.“ So ist ihre wiederholte Frage auch: „Aber wer nur hat euch dieses Buch da gegeben? [...] wer, bitte, hat es euch gegeben?“ Dem zeitgenössischen deutschen Leser mag es übrigens seltsam anmuten, diese Mutter ihre kindliche Tochter mit „Sie“ ansprechen zu hören; aber in besseren französischen Kreisen war diese distanzierte, „unkindliche“ Anrede gewöhnlich. Trotzdem außergewöhnlich will die Heftigkeit anmuten, mit der Kitty Bell die kleine Rachel um Antwort auf ihre wiederholte Frage bedrängt – „qui vous l’a donnée, s’il vous plaît?“ Fast als ob es eine schmeichelnde Bitte wäre, fragt Kitty. Und dabei weiß oder ahnt sie selbst ja schon die Antwort, wie sie beweist, indem sie sie selber gibt: „Je suis sûre que c’est le jeune monsieur qui demeure ici depuis trois mois. / RACHEL: Oui, maman.“ (58) Kitty wußte, daß die Bibel in der Hand ihrer Kinder nur aus den Händen jenes „jungen Herrn“ stammen konnte, „der seit mehr als drei Monaten hier wohnt.“ Aber warum dann die heftige Reaktion auf die Bestätigung ihres Vorwissens durch ihre Tochter? „Oh! Mon Dieu! Qu’a-t-elle fait là“ (58) – „Oh! Mein Gott! Was hat sie da getan“, ruft Kitty, wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagend aus (jedenfalls mag man sich unwillkürlich ein Ausagieren der inneren in der äußeren Körperbewegung vorstellen); und so alarmiert ruft
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Kitty: weil sie ihren Kindern verbat, irgend etwas anzunehmen, „et surtout de ce pauvre jeune homme“ (58) – „und vor allem nicht von diesem armen jungen Mann“. Der „junge Herr“, der seit über drei Monaten unter ihrem Dach wohnt, ist in Kitty Bells Worten und so auch in ihren Augen, vor allem aber in ihrem Mitgefühl, „ein armer junger Mann“. Kittys Mitleid ist förmlich mit Händen zu greifen, wenn sie das kindliche Annehmen eines Geschenkes aus den so armen Händen ablehnt. Doch lehnt sie wirklich derart ab, was ihre Kinder getan haben? Ihre Worte besagen, daß Kitty nichts von dem Annehmen der so armen und unschuldigen Gabe (einer Bibel) wissen will – doch das hindert die junge Mutter nicht daran, mehr von dem Akt der Gabe und mehr von dem Geber selbst wissen zu wollen. Denn erneut stellt sie nun eine Frage, deren Antwort sie in Wahrheit schon erahnt, und dennoch fragt sie: „Quand donc l’avez-vous vu, mon enfant?“– „Wann nur haben Sie ihn gesehen, mein Kind?“; und dennoch antwortet sie sich selbst: „Je sais que vous êtes allée ce matin, avec votre frère, l’embrasser dans sa chambre.“ (58) Kitty weiß, daß ihre Kinder „heute morgen“ bei dem armen Mieter waren, „um ihn in seinem Zimmer zu umarmen.“ Das entlockt ihr eine zweite verbale Rüge – die im nächsten Moment von einer widersprüchlichen Geste der liebenden Mutter entkräftet, ja verkehrt wird: „Pourquoi êtes-vous entrés chez lui, mes enfants? C’est bien mal! (Elle les embrasse.) Je suis certaine qu’il écrivait encore, car depuis hier au soir sa lampe brûlait toujours.“ (58) Kitty tadelt ihre Kinder dafür, daß sie zu „ihm“ eintraten, aus Angst, sie mochten „ihn“ gestört haben. Denn da die junge Frau anscheinend so aufmerksam wie diskret die Lebensregungen ihres Mieters verfolgt, ist sie „sicher, daß er noch schrieb, da seit gestern Abend seine Lampe noch immer brannte.“ Kitty fürchtet, daß ihre Kinder den jungen Schreiber störten – und kann ihnen das Eindringen in das tabuisierte Zimmer des Dichters (der der nächtelang Schreibende wohl nur sein kann) doch nicht verübeln. Denn der Grund der Störung ist ihr bekannt: die Kleinen wollten den armen jungen Mann „umarmen“. Obwohl Kitty ihren Kindern zu hören gibt, daß sie „sehr schlecht“ mit ihrem Besuchen des Mieters handelten, gibt sie ihnen trotzdem zu fühlen, daß es sehr gut war, was sie taten: Ja sie selbst nimmt die „Untäter“ zur ungesagten Belohnung verräterisch liebevoll in die Arme, wie es laut Regieanweisung heißt: „Elles les embrasse.“ Kittys Kinder umarmten den armen jungen Mannes und erhielten in Antwort auf ihre Gabe einer gestischen Liebesbekundung von ihm eine Bibel. Die Kinder nahmen die Bibel und erhalten als Antwort der Mutter darauf ein schimpfendes Wort, sekundiert von einer liebevoll belohnenden Umarmung. Und es ist diese zweite Antwort Kitty Bells, die mehr von Herzen kommt als der Tadel. Doch warum dann überhaupt der Tadel? Warum die Widersprüchlichkeit zwischen Kittys verbaler und nonverbaler Aussage? Aus dem Ganzen scheint eine innere Unruhe und Uneinigkeit der jungen Frau zu sprechen, die
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sich gezwungen sieht, das eine zu sagen, während sie doch das andere fühlt. Daß Kitty tatsächlich in sich ruhelos, uneinig und zerrissen ist, enthüllt der Fortgang des Gespräches: Nun muß sie nämlich etwas erfahren oder zumindest explizit bestätigt bekommen, was sie vielleicht schon befürchtete, was sie aber jetzt, unweigerlich vernommen, vollends aus dem Gleichgewicht bringt. Die kleine Rachel bejaht nicht nur, daß sie und ihr Bruder am Morgen bei dem jungen Mieter waren, der noch am Arbeiten war; unverblümt sagt sie von diesem noch mehr: „Oui, et il pleurait.“ „Il pleurait!“ – „Er weinte!“, echot Kitty, fassungslos, ehe sie ausstößt: „Allons, taisez-vous!“ (58) Es ist schwierig, im Deutschen die Qualität dieses Wortes „Allons“, das Kittys Gebot „seien Sie still“ (oder „seid still“) einleitet, in seinen Nuancen wiederzugeben. „Allons“, das wörtlich übersetzt „gehen wir“ heißt, kann als Ausdruck einer verstärkten Aufforderung an andere verwendet werden und dann so viel besagen wie: „Auf!“, „Los!“. Es kann aber auch als Ausdruck der Selbstermahnung verwendet werden, sich einen Ruck zu geben, sich zusammenzureißen. Beides, die Ermahnung der redenden Tochter und die Selbstermahnung der hörenden Mutter, schwingt wohl hinein, wenn Kitty das Schweigen befiehlt: „Allons, taisez-vous!“ Denn ja, die Rede vom jungen Mieter und seiner Gabe soll nun plötzlich verstummen, aber warum? Warum will Kitty nichts mehr vom Weinen des armen Dichters hören? Gleichgültigkeit und Mangel an Mitleid sprechen daraus doch kaum? Dann vielmehr das Gegenteil: ein zu viel an Mitleiden, ein zu inniges Teilnehmen an dem armen, weinenden und wohl einsamen jungen Mann? – Doch wie innig genau ist dieses Teilnehmen? Es muß ein intensives Mitgefühl sein, das Kitty zu ihrem Mieter hinzieht. Denn dieses Mitgefühl diktiert es ihr, von den Kindern zu verlangen, die arme Gabe demjenigen zurückzugeben, von dem sie weiß, daß er es sich nicht leisten dürfte, etwas von sich zu geben. Dabei sollen die Kinder den Mieter weder stören, noch je wieder etwas von ihm akzeptieren; schließlich habe sie selbst, so Kitty in ihrer eigenen naiv-kindlichen Unschuld, seit den drei Monaten seines Daseins unter ihrem Dach „kein einziges Mal“ mit „Herrn Tom“ auch nur gesprochen – „et vous avez accepté quelque chose, un livre. Ce n’est pas bien. – Allez... allez embrasser le bon quaker.“ (58-59) Erneut rügt Kitty ihre Kinder dafür, dieses Buch angenommen zu haben – und wiederum überkommt sie das Bedürfnis, zu umarmen – oder umarmen zu lassen. Denn dieses Mal ist nicht sie es, die ihre Kinder noch einmal ans Herz schließt. Dieses Mal schickt sie ihre Kinder aus, ihrerseits zu umarmen. Aber wen? Logisch und gerecht wäre es, dem armen jungen Mann, der für die Umarmung zweier Kinder eine Bibel hingab, dafür wiederum und nur mehr noch zu umarmen. Doch vielleicht, weil sie ihren Kindern soeben das neuerliche Stören des Dichters verbot – vielleicht noch mehr, weil der Impuls des Umarmenwollens ja von ihr selbst, Kitty Bell, ausgeht und sich trotzdem auf einen ihr fremden jungen Mann und nicht auf den eigenen Gatten richtet – etwas in Kitty hindert sie daran, ihre Kinder auszuschicken, denjenigen zu umarmen,
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dem die Umarmung eigentlich gebührte. Dennoch ist der Impuls zu umarmen – und wenn nicht selbst, so gleichsam in Stellvertretung, durch ihre Kinder – nun einmal wirksam, und so findet er sich ein Ersatzobjekt. Kitty schickt ihre Kinder nicht zu ihrem jungen Freund nach oben, nach kurzem Zögern fällt ihr ein anderer, erlaubterer ein: „Allez... allez embrasser le bon quaker. – Allez, c’est bien le meilleur ami que Dieu nous ait donné.“ (59) „Geht... geht den guten Quäker umarmen. – Geht, das ist der beste Freund, den Gott uns gegeben hat.“ Erst dieser Satz bringt die Präsenz des Quäkers ins Spiel, der allerdings die ganze Szene über zugegen war, wenn auch am anderen Ende des Zimmers, am Kamin. Und obwohl der gute Alte hier las, wird er doch einiges mitbekommen haben. Deshalb muß er Kitty auf ein Fehlverhalten hinweisen und sie dafür rügen. Das Fehlverhalten, an das der Beiwohner des Dramas als erstes denken könnte, ist es allerdings nicht. An der Ehefrau Kitty hat der Quäker nichts auszusetzen (obwohl er weder blind noch taub ist). Tatsächlich ist des Geistlichen Tadel ähnlich ambivalent wie Kittys verbal-nonverbale Ausdrucksweise: Der Tadel tut der Ehefrau, die derart innig an einen jungen Mieter denkt, nicht weh, sondern er tut ihr einen Gefallen. Der Quäker gibt Kitty nämlich einen guten Grund dafür, die arme Gabe des jungen Mannes nicht zurückzugeben, sie zu behalten: Dem Unglücklichen sein Geschenk zurückzugeben, hieße ihn demütigen und ihn sein Elend ermessen lassen, so des Quäkers Argument. War es dem Quäker bewußt, daß er nicht nur dem armen Geber, sondern mehr noch Kitty Bell einen Liebesdienst tun wollte, als er ihr diesen weisen Grund dafür gab, die Bibel zu behalten? Kittys Überreaktion auf seine Worte können keinem einsichtigen Beobachter mißverständlich sein; der Quäker muß die Emotion, die sich wie folgt ausdrückt, spätestens jetzt begreifen, und vielleicht besser als es diese Gestikulierende selber tut: Denn Kitty springt auf, ruft wiederholt aus, daß der Quäker recht habe – und reißt ihrer Tochter förmlich die Bibel aus der Hand, in der ausgesprochenen Absicht, sie „das ganze Leben lang“ zu behalten: „KITTY BELL s’élance de sa place: Oh! il a raison! il a mille fois raison! – Donnez, donnez-moi ce livre, Rachel. – Il faut le garder, ma fille! le garder toute la vie.“ (59) „KITTY BELL springt von ihrem Platz auf: Oh! er hat recht! er hat tausendmal recht! – Geben Sie, geben Sie mir dieses Buch, Rachel. – Man muß es behalten, meine Tochter! es das ganze Leben lang behalten.“ – Es ist nicht ohne Komik, was hier passiert, in dieser Szene eines Gefühls, das sich hinter einer „Handlung aus reiner Weisheit“ schwerlich verkappt und vielmehr in seiner Irrationalität, Spontaneität und erschreckenden Intensität zugibt. Erschreckend ist diese Intensität, weil sie erstens Kitty zu einem unbedachten, ihr gefährlich werden könnenden Handeln veranlaßt, denn zweites ist das Gefühl, das sich hier verrät, doch mehr als Mitleid für einen fremden Untermieter? Aber wie konnte nur der Quäker, ein geistlicher Mann, diesem verbotenen Gefühlsaufwallen zuspielen?
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Tatsache ist, daß das Komische dieses Gefühles, das wider ihren eigenen Willen aus Kitty spricht, latent traurig ist. Denn Kitty ist unglücklich, und das ist der Grundstein ihrer Sympathie mit dem jungen Mieter – die sich ausgewachsen haben mag in Dimensionen mit einem dramatischen Potential. Allein daß das Komische, ja Verspielte am Verhalten Kitty Bells seinen Schauplatz in jenem bedrückenden Geschäfts-Hinterzimmer hat, darf weder der Verfolger des Dramas, noch Kitty Bell selbst gänzlich vergessen. Auch der Quäker vergißt es nicht, und es ist eingedenk einer Welt, in der es seiner Meinung nach keine „menschliche Weisheit“ gibt („Il n’y a pas de sagesse humaine“, 59), kein Gefühl und keine Wertschätzung der Fühlenden, daß er Kitty ihre verbotene Emotion nicht nur verzeiht. Der alte Mann liebt Kitty für ihre außergewöhnliche und zeituntypische Fähigkeit, derart hingebungsvoll, unegoistisch und daher unschuldig-rein zu lieben. Er, der Quäker selbst, findet sich von einem liebevollen Mitleid für Kitty eingenommen, das ihn unfähig macht, sie für ihre reinwohlwollende Neigung zum armen Mieter zu verurteilen. Vielmehr beklagt und bewundert der Quäker diese „âme simple et tourmenté“, diese „einfache und gequälte Seele“, deren Wert er, und nicht Ehemann John Bell, erkennt und preist, und beinahe andächtig betet der alte Weise die junge Frau an, denn: „Il n’y a pas, ô Kitty Bell, il n’y a pas si belle pensée à laquelle ne soit supérieur un des élans de ton cœur chaleureux, un des soupirs de ton âme tendre et modeste.“ (59) „Es gibt keinen, Oh Kitty Bell, es gibt keinen noch so schönen Gedanken, dem einer der Impulse Deines warmen Herzens, einer der Seufzer Deiner zarten und bescheidenen Seele nicht überlegen wäre.“ – Doch im Augenblick dieser gerührten und rührenden Huldigung an Kitty Bell ertönt die Stimme des Mannes, die alles zerstört: „On entend une voix tonnante.“ Die „donnernde Stimme“ John Bells, die zu Beginn der Szene schon einmal beängstigend hörbar war, bringt alles zu sich. Die Szene des Gefühls, ausgelöst von dem Geschenk einer Bibel, getragen vom so geheimen wie verratenen, so unschuldig-schuldigen Andenken an ihren Geber, schließlich gekrönt von der andächtigen Anbetung der „unschuldigen Schuldigen“ durch einen alten Weltweisen – diese Szene des so luftig-hohen wie innigen Gefühles, des Andenkens, der Andacht, verwandelt sich durch das neuerliche Eindringen einer donnernden Stimme zurück in die Situation des bedrückend-materiellen Geschäfts-Hinterzimmers des Hauses Bell. Eine Befindlichkeit in Atemnot, Angst und Unterdrückung, wie Kittys Worte auf die wiedervernommene Donnerstimme ausdrücklicher denn je verraten: „KITTY BELL, effrayé: OH! mon Dieu! encore en colère! – La voix de leur père me répond là. (Elle porte la main à son cœur.) Je ne puis plus respirer. – Cette voix me brise le cœur.“ (60) „KITTY BELL, erschrocken: Oh, mein Gott! schon wieder in Wut! – Die Stimme ihres Vaters meldet sich mir dort. (Sie legt die Hand auf ihr Herz.) Ich kann nicht mehr atmen. – Diese Stimme bricht mir das Herz.“ Und das ist nicht nur Kittys ahnungsvolle Empfindung. Auch der bei allem Mitleiden nüchter-
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nere, klarer sehende Quäker hält es für sicherer, die kleine Familie in Kittys Zimmer zu schicken, mehr aus der Reichweite des Wütenden heraus; schließlich beendet er die Szene mit den so erhellenden wie finsteren Worten: „Cet homme-là vous tuera... c’est une espèce de vautour qui écrase sa couvée.“ (60) „Dieser Mann da wird euch umbringen... das ist eine Art von Geier, der seine eigene Brut erdrückt.“ * Wenn Chatterton das Drama einer Bibel und eines Briefes ist, wo ist dann im ersten Akt, dem Beginn von allem, das zweitgenannte Ding gewesen? Die Bibel hatte ihren Auftritt, doch wo war der Brief? Ein Brief war da. Nur war es erstens noch nicht der letzte, fatale, dessen Geschichte Chatterton auch ist; es war erst der Brief, der den zweiten, fatalen als Antwort verlangen wird. Außerdem war dieser die Katastrophe nur vorbereitende erste Brief verkappt hinter „M. Toms“ Tränen. Der junge Mann weinte, als Kittys Kinder ihn besuchten, und Kitty konnte es nicht ertragen, von diesen Tränen zu hören, die das Schreiben eines Briefes hervorrief. Denn wenn der Dichter die Nacht hindurch schrieb, schrieb er zuletzt diesen Brief, den zu verfassen ihn seine Tränen kostete, wie es sich sehr viel später herausstellen wird. Doch tatsächlich ist es der Morgen des Tages, der mit Chattertons Verfassen und Fortschicken eines Briefes beginnt, um mit dem Erhalten der tödlichen Antwort am Abend zu enden. Zwischen diesen beiden Briefen und der Geschichte, die sie erzählen, oder richtiger parallel dazu entwickelt sich aber die zweite, andere Geschichte des anderen Dings: das zweite Drama, das der Bibel. Vignys Chatterton werden die Erfüllung seiner Liebe und die Erfüllung seines Lebens, ihm werden Kitty Bell und das Dichten beide versagt werden, das wird das Resultat der beiden miteinander verschränkten Geschichten eines fatalen Briefs und einer fatalen Bibel sein. Doch wenn es am Ende soweit kommt, dann weil zwei Vorgeschichten die fatale Ausgangssituation des Dramas vorbereiten. Die erste davon ist die Geschichte einer Art Krankheit der Welt, die zweite ist die Geschichte einer Art Krankheit des Dichters Chatterton. Um zunächst bei der erstgenannten Krankheitsgeschichte zu bleiben: Diese stellt Vigny in der zweiten Szene des ersten Akts vor, personifiziert in John Bell. John Bells wütende Stimme war es, die Anfang und Ende der ersten Szene einläutete. Nun wird diese Wut erklärt, wenn John Bell in personam und nicht nur stimmlich aus dem Geschäft in den Wohnraum eintritt, in dem nur noch der Quäker präsent ist; denn die junge Mutter mit ihren Kindern hatte der fürsorgliche Hausfreund wohlweißlich in Kittys Nebenzimmer geschickt. Tatsächlich ist es besser so, denn John Bell ist nicht allein. Hinter ihm drängen sich zwanzig schweigende Arbeiter in das Zimmer („vingt ouvriers le suivent en silence“, 61). Doch anscheinend haben diese Arbeiter es gewagt, vor kurzem zu reden. Anscheinend haben sie protestiert – gegen ihre Ausbeutung, gegen die Einführung von Ma-
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schinen in der Fabrik292, hauptsächlich aber gegen die Entlassung eines Kameraden namens Tobie. All dies ist dem Beiwohner des Dramas allerdings nicht aus dem zu entnehmen, was einer der schweigenden Gruppe jetzt äußern würde. Nur eine einzelne Stimme erhebt sich von Seiten der Arbeiter und wird sogleich von John Bell wieder zum Schweigen gebracht, und zwar durch Lautbarmachung einer Tirade, in der sich das Vorgeschehen, darüber hinaus aber vor allem die Natur des exemplarischen Geldmenschen offenbart. So nimmt John Bell sich sein Recht, die Arbeiter mehr arbeiten zu lassen für weniger Geld; er nimmt sich sein Recht, Maschinen anzuschaffen, die ihm allein Gewinn einbringen, den Lohn seiner Arbeiter aber reduzieren; John Bell nimmt sich zuletzt das Recht, sich Tobies zu entledigen. Als „sein Recht“ sieht Bell seine Maßnahmen an, weil es das Recht des Reicheren, also Stärkeren ist. Und schließlich hat er selbst „beispielhaft“ gearbeitet und gewirtschaftet, um sich in seine Position des „einzigen Herrn“ der Fabrikwelt zu setzen: „Si j’en suis le seule maître à présent, n’ai-je pas donné l’exemple du travail et de l’économie?“ (61) Bell hat keinerlei Mitleid mit denen, die ihm untergeben und von ihm abhängig sind, weil er ihnen von seiner hohen Position aus den zynischen Rat geben kann, ihm doch nachzueifern, wollen sie etwas an ihrer niederen Position verändern. Damit ist seines Erachtens nach auch alles gesagt und kein Gesprächsbedarf mehr bestehend; John Bell zwingt die Arbeiter zum wortlosen Verlassen seiner Wohnung, indem er droht, den ersten, der etwas sagen werde, zu entlassen und ihm – da Bell anscheinend das gesamte Dorf hier am Rande Londons gehört – damit nicht nur das Brot, sondern auch die Wohnung und jegliche Arbeitsmöglichkeit überhaupt zu nehmen: „Retirez-vous sans rien dire, parce que le premier qui parlera sera chassé, comme lui [Tobie], de la fabrique, et n’aura ni pain, ni logement, ni travail dans le village.“ (62) Die Arbeiter gehorchen. Doch der Quäker, der wortloser Zeuge der Szene war, gehorcht nicht und beginnt zu reden. Mit derart beißendem Humor spricht er Bell applaudierenden Mut für sein „gesundes“ Räsonnieren zu („Courage, l’ami! Je n’ai jamais entendu au Parlement un raisonnement plus sain que le tien“, 62) – daß der Fabrikant nun den Geistlichen selber drohend zum Schweigen zu bringen versucht: „Vous parlez rarement, mais vous deviez parlez jamais.“ (62) „Sie sprechen selten, doch sollten Sie niemals sprechen.“ Weil der Quäker von seinem alten Sonderrecht des Hausfreundes so weit profitiert wie möglich, kommt es dennoch zu einem Versuch, John Bell ins Gewissen zu reden – nicht in Äußerung unmittelbarer Kritik, sondern in Anwendung scharfzüngiger Ironie und Zynik. Trotzdem bleibt das Gespräch für den Greis gefährlich genug und darüber hinaus unfruchtbar. Mehr als einmal drückt Bell sein 292
––––––––––––––––––– Die Einführung von Maschinen löste tatsächlich solche Arbeiterproteste aus, allerdings erst um 1826 (siehe Reys Anmerkung dazu in Vigny: Chatterton, S. 177), nicht schon 1770. Doch geht es Vigny eben nicht um eine historische Korrektheit seines Dramas, sondern um „Aktualität“, die Parallele zur eigenen Zeit, die er in Chattertons Zeit und Lebensposition halb wiederfindet, halb neu erfindet.
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Verlangen danach aus, den unbequemen Alten zum Schweigen zu bringen, etwa wenn er drohend genug erinnert: „Si vous n’étiez quaker, vous seriez pendu pour parler ainsi.“ (63) „Wenn Sie nicht Quäker wären, würden Sie dafür gehängt sein, derart gesprochen zu haben.“ Was aber des Quäkers Absicht betrifft, eine Gewissensinstanz im Fabrikanten aufzustacheln, ist das vergebliche Liebesmüh’. Das einzige, was dem harten Mann zu entlocken ist, ist gerade nicht das erbetene Zugeständnis für seine Arbeiter, sondern ein nochmaliges, ausführlicheres selbstherrliches Bekenntnis der eigenen wirtschaftlichen Glaubenshaltung. Nicht umsonst nennt der mutige Quäker seinen Widerpart einen „baron absolu de ta fabrique féodale“ (63), einen „absolut herrschenden Baron in Deiner feudalistischen Fabrik“. In der Tat glaubt John Bell daran, daß alles um ihn herum ihm zurecht gehört: die Erde, weil er sie kaufte, die Häuser darauf, weil er sie baute, die Einwohner darin, weil er ihnen (bezahlte) Unterkunft gewährt, die Arbeit aller, weil er sie entlohnt. So ist es nur konsequent, wenn das menschliche Objekt, das ihm sogar am ersten und meisten gehört, seine Frau, Kitty Bell, ist. John Bell, der Herr des Hauses, sieht Kitty Bell als seinen Besitz, über den er verfügen, den er unterdrücken und zur Arbeit verwenden kann. Kittys konkrete Aufgabe definiert John Bell damit, unsichtbar, doch ständig „aus dem Hintergrund seiner Wohn-Zimmer dieses Lusthaus“ zu dirigieren. Ein „Lusthaus“ sieht der Fabrikant also in einem Geschäftshaus mit Hinterzimmern. Eine Bezeichnung, die nur um so scheinheiliger ist eingedenk der wahren Bestimmung, die Bell seiner Behausung einkalkuliert. Wenn er sie an diesem Ort, nicht im Herzen Londons und nicht gänzlich außerhalb der Stadt, sondern exakt am Rande davon erbaute, so tat er es aus gewinnbringendem Grunde: Malgré mes ateliers et mes fabriques aux environs de Londres, je veux qu’elle [Kitty] continue à diriger du fonds de ses appartements cette maison de plaisance, où viennent les lords, au retour du Parlement, de la chasse ou de Hyde Park. Cela me fait de bonnes relations que j’utilise plus tard. (64)
John Bells Haus in der Peripherie Londons soll ein „Lusthaus“ vor allem für durchreisende „Lords“ sein, die Bell en revanche später für sich zu „benutzen“ trachtet, und dieses wird noch bedeutsam werden. Doch nicht mit der Erklärung der Benutzung seines „Lusthauses“ sowie seiner Frau endet John Bell seine sich selbst huldigende Ansprache, mit der er den Quäker abspeist, der ihm ins Gewissen reden wollte. Tatsächlich schließt Bell zuletzt mit einer „Rechtfertigung“ der Handlung, die den ersten Anstoß für den Ärger des Tages und den Konflikt mit den Arbeitern gab: die Entlassung Tobies. Eine reuevolle Entschuldigung ist das folgende indessen nicht. Tobie mußte deshalb entlassen werden, weil er beispielhaft dem Glaubensbekenntnis John Bells widersprach: „Tout doit rapporter, les choses animées et inanimées.“ (64) „Alles muß gewinnbringend sein, die lebendigen und die leblosen Dinge.“ Denn gewiß; in den Augen John Bells sind auch seine Mitmenschen „Dinge“,
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zwar „lebendige Dinge“, doch nichtsdestotrotz als „Dinge“ benutzbar. Tobie aber war nicht mehr benutzbar: er hatte sich seinen Arm in einer der Maschinen John Bells zerschmettert. Und was für den Fabrikanten das Bedauerlichste ist: der Fremdkörper des zermalmten Arms hatte wiederum die teure Maschine ruiniert: „LE QUAKER: Il [Tobie] s’est rompu le bras dans une de tes machines. / JOHN BELL: Oui, et même il a rompu la machine.“ (65) Mit diesen letzten Worten scheint John Bell als der Gewinner aus dem Gespräch mit dem Quäker hervorzugehen, denn diesem verschlägt es – beinahe – die Sprache, oder zumindest sieht der alte Geistliche ein, daß sein Reden ein unnützes ist; doch eben das muß er noch sagen: daß John Bell und sein „gesundes Räsonnieren“ in Wahrheit krank sind, leidend an einer Zivilisationskrankheit, die im Individuum Bell exemplarisch und konsequent ausgeprägt ist. Dessen Herz selbst ist nämlich zur stählernen Maschine geworden: „va, ton cœur est d’acier comme ta mécanique.“ (65) Das Fatalste daran ist aber, daß diese Maschinisierung eines Herzens zwar ein beispielhafter, jedoch kein Einzelfall ist. Die Verstählung der inneren Organe ist eine um sich greifende Lawine, die ihre eigene Beschleunigung und ihre Wucht des Unaufhaltsamen mit sich bringt. Sie war schon begonnen, ehe es einen John Bell gab; aber weil dieser sich „nur konsequent“ nach seiner Lebenswelt formierte und innerlich deformierte, trägt er selbst nun zum beschleunigten Fortgang der Zeitkrankheit der Maschinisierung der Herzen bei. So ist den Worten des Quäkers zu entnehmen, die auch seine letzten Worte dieser Szene sind – da mit diesem Un-Menschen, diesem Maschine gewordenen John Bell, nicht mehr zu reden ist: La Société deviendra comme ton cœur, elle aura pour dieu un lingot d’or et pour Souverain Pontife un usurier juif. Mais ce n’est pas ta faute, tu agis fort bien selon ce que tu as trouvé autour de toi en venant sur la terre; je ne t’en veux pas du tout, tu as été conséquent, c’est une qualité rare. – Seulement, si tu ne veux pas me laisser parler, laisse-moi lire. (65) Die Gesellschaft wird wie Dein Herz werden, sie wird als Gott einen Goldbarren haben und als herrschenden Hohepriester einen jüdischen Wucherer. Aber es ist nicht Deine Schuld, Du handelst sehr gut gemäß dem, was Du um Dich herum vorgefunden hast, als Du auf die Welt kamst; ich nehme es Dir überhaupt nicht übel, Du warst konsequent, das ist eine rare Qualität. – Nur, wenn Du mich nicht reden lassen willst, laß mich lesen.
So endet die Szene damit, daß John Bell sich ein anderes Objekt seiner redewütigen Streitsucht und Machtlust sucht; er „öffnet die Tür seiner Frau gewaltsam“ („ouvre la porte de sa femme avec force“, 65) und befiehlt Kitty Bell zu sich. * Tobies weicher Arm, der sich als Fremdkörper der Maschine John Bells entgegenstellte, hatte keine Chance gegenüber dem stählernen Ding: er mußte zermalmt werden. Wenn Tobies Kollegen ihrem Herrn nicht gehorchen und die Arbeit wiederaufnehmen, die sie niederlegten, um Fürbitte für Tobie und die
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Menschlichkeit zu leisten, werden sie von ihm entlassen, vernichtet, zermalmt, so die Drohung des Fabrikanten. Denn nichts und niemand in dieser maschinisierten Geldgesellschaft darf sich dem obersten Gebot der Nutzbarmachung jeglichen Dinges, ob lebendig, ob tot, entziehen. Wer nicht dazu bereit ist, als stillschweigendes Rädchen in der Fabrikwelt zu arbeiten oder sich seinen Weg darin zu erkaufen durch die Verhärtung seines eigenen inneren Gefühlsorgans, hat keinen Platz, ist zu viel, ist selbst ein Fremdkörper, der folglich zermalmt wird. Aus diesem Grund hat auch Kitty keine andere Wahl, als dem Befehl des Mannes, der ihr ihren Platz in Leben und Arbeit zuweist, zu gehorchen und auf sein Verlangen hin vor ihn zu treten. Doch daß Kitty nicht für ihre Art der Verwendung gemacht ist, obwohl sie versucht, sich in ihr Los zu fügen, verrät ihr Rechenfehler. John Bell will von Kitty nämlich die Abrechnung des Vortages vorgelegt haben; insbesondere denkt er an jenen verdächtigen Mieter, der nur unter dem Vornamen „Tom? ou Thomas?...“ (65) im Hause bekannt ist und dessen Miete gestern eingegangen sein sollte. In der Tat untersteht besagter Tom nur deshalb nicht dem unmittelbaren Zugriff John Bells, weil er sich diese Freiheit erkauft: Er bezahlt für das Zimmer, das ihm im Haus Bell einen Freiraum gewährt; oder zumindest sollte der Mieter für seinen Freiraum bezahlt haben. Auf Kittys Abrechnung findet sich allerdings der nötige Eintrag unter dem Vornamen des Mieters, nur findet der Geldmann Bell auf den ersten Blick etwas anderes, das ihn, einmal mehr, in Rage bringt: fünf oder sechs Guineas in der Gesamtsumme fehlen – Kitty Bell hat sich verrechnet. Sie ist schuldig, muß folglich mit dem Gatten in ihr Zimmer zurück und vor seinen Augen die Addition noch einmal unternehmen. In der letzten Szene des ersten Aktes ist das geschehen und Kittys Rechenfehler als solcher bestätigt, als Sachverhalt jedoch nicht aufgeklärt. Die fünf bis sechs Guineas fehlen in der Tat, doch wo sie geblieben sind, will Kitty nicht sagen. Es ist das erste Mal, daß sie ihrem Mann unerwarteten Widerstand leistet; Kitty fleht jedoch darum, „darüber schweigen“ zu dürfen, „de garder le silence là-dessus“ (75). Obwohl John Bell die junge Frau so bedrängt, wie man es von ihm erwarten kann, obwohl er sie dazu bringt, ihn um ihr Leben anzuflehen – „[a]yez pitié avec moi! vous me tuez par de telles scènes“ (75) –, bleibt Kitty im selben Atemzug erstaunlich unnachgiebig; und alles, was sie sagt, ist der Grund, der sie zum Schweigen zwingt. Diesen Grund zu äußern, ist wiederum unerhört mutig, impliziert er doch eine Kritik am gefürchteten Gatten: Kitty muß schweigen, weil „votre cœur c’est endurci, et que vous m’auriez empêchée d’agir selon le mien.“ (75-76) Kitty muß verschweigen, wo das fehlende Geld ist, was sie damit getan hat, denn das Herz ihres Gatten empfindet sie selbst als „verhärtet“ – und so hätte der Verhärtete sie daran gehindert, nach ihrem eigenen, unverhärteten Herzen zu handeln. Es ist einleuchtend, daß John Bell sich mit einer solchen Aussage nicht zufrieden gibt – eine Handlung des Herzens kann sein Ding nicht sein und ist
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folglich nicht akzeptabel; schon gar nicht als ein Grund, sich seiner Autorität zu widersetzen. Trotzdem läßt Bell sich am Ende um eine winzige Spur von seiner verzweifelten Frau erweichen – so weit, sie mit seinem Wissenwollen nicht zu bedrängen bis zum kommenden Tage. John Bells Großmut reicht aus, seiner Frau die Frist eines Tages zu geben und erst dann das Rätsel um das verschwundene Geld aufgeklärt, die Münzen wiederbeschafft haben zu wollen. Und weil John Bell derart großmütig ist und nicht etwa die Hand gegen seine Ehefrau erhebt, ist sie es, die die Hand des Mannes berührt, und küßt. Im Augenblick dieser Berührung geschieht aber etwas in Kitty, und aus dem, was in ihr geschieht, wird dem Zuschauer oder Leser klar, daß die Geschichte des fehlenden Geldes etwas zu tun hat mit der Geschichte der Bibel. So daß die Geschichte des fehlenden Geldes letztlich sogar als die Fortsetzung der Geschichte Bibel endet. Denn was in Kitty geschieht, ist das: „KITTY BELL, seul: Pourquoi, lorsque j’ai touché la main de mon mari, me suis-je reproché d’avoir gardé ce livre? – La conscience ne peut pas avoir tort. (Elle rêve.) Je le rendrai.“ (77) „KITTY BELL, für sich: Warum habe ich mir, als ich die Hand meines Mannes berührte, darüber Vorwürfe gemacht, dieses Buch behalten zu haben? – Das Gewissen kann sich nicht irren. (Sie träumt.) Ich werde es zurückgeben.“ – Im Augenblick der Berührung der Hand ihres Mannes denkt Kitty an das Buch, das aus der Hand eines anderen Mannes kommt und das sie, als das unschuldige Geschenk eines armen, leidenden jungen Dichters, angerührt hat. Und sie gesteht sich nichts anderes ein als daß sie sich, die Hand ihres Mannes küssend, Vorwürfe ob ihres Behaltens des Buchs aus der Hand des anderen machte – sowie daß das Gewissen sich niemals irrt. Mehr gesteht Kitty sich nicht in Worten zum Zustand ihres Inneren ein; nur ihre Geste ist beredt: sie will das Buch zurückgeben. Aber heißt das wirklich, sie will das unwillkürliche Andenken an den jungen Mieter, das das Buch ihr bedeutet, nicht länger? Oder sucht Kitty nicht umgekehrt einen Vorwand, das Schweigen endlich zu brechen, das seit drei Monaten zwischen ihr und dem Geber der Bibel besteht? – Distanz- oder Kontaktaufnahme: was ist der Hintersinn von Kitty Bells intendierter Geste des Zurückgebens der Bibel? Doch was auch immer es ist: Chatterton seinerseits wünscht eine unmittelbarere Kontaktaufnahme zu Kitty. Dieses steht zum Zeitpunkt von Kittys Entschluß, die Bibel zurückzugeben, längst fest: Denn zwischen der dritten Szene, dem Beginn der ehelichen Krise aufgrund des Funds eines Rechenfehlers, und ihrem letzten Ende, Kittys Berührung der Hand ihres Gatten in der Schlußszene des ersten Aktes, ist „Herr Tom“ aufgetreten. * Vigny läßt seinen Zuschauer wie Leser bis zur vierten Szene seines Dramas warten, ehe er ihm einen bloßen Blick auf die noch wortlose Gestalt des geheimnisvollen jungen Mieters „M. Tom“ gewährt, der doch nur Chatterton sein kann. Diese vierte Szene des ersten Auftrittes Chattertons ist extraordinär – allein schon aufgrund ihrer radikalen Kürze. Zu Beginn sind nur der Quäker und das
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Mädchen Rachel im Bühnen-Intérieur präsent (und vielleicht noch der kleine Bruder Rachels, doch zu dessen Verbleiben wird nichts Explizites gesagt). Soeben ist John Bell in gereizter Stimmung mit seiner Frau abgegangen, um Kittys Rechenfehler im Nebenzimmer zu überprüfen; Rachels Text beginnt die Szene, und er besteht aus einem einzigen Satz: „J’ai peur!“ (67) –„Ich habe Angst!“ Und während der Quäker das Mädchen auf seine Knie zieht und ihm dabei ein Leben auf den Spuren ihrer Mutter prophezeit, ein Leben in sklavischer Unterdrückung durch ihren Vater, dann ihren Gatten, ein Leben von Angstmoment zu Angstmoment, sieht man Chatterton von hinter der Tür seiner Dachbodenkammer heraustreten und langsam die lange Spiraltreppe hinuntersteigen. Damit beginnt die fünfte Szene, und es ertönt Chattertons Stimme. Chatterton spricht mit dem Quäker. Er teilt ihm sein Glaubensbekenntnis mit: daß er niemandem nützlich sei – daß sein Leben „allen“, und das heißt der Welt, „zu viel“ sei: LE QUAKER: Ta vie n’est-elle donc utile à personne? CHATTERTON: Au contraire, ma vie est de trop à tout le monde. LE QUAKER: Crois-tu fermement ce que tu dis? CHATTERTON: Aussi fermement que vous croyez à la charité chrétienne. (68) DER QUÄKER: Dein Leben ist also niemandem nützlich? CHATTERTON: Im Gegenteil, meinen Leben ist allen zu viel. DER QUÄKER: Glaubst Du fest an das, was du sagst? CHATTERTON: So fest, wie Sie an die christliche Nächstenliebe glauben.
Im Zuge des derart eingeleiteten Dialoges kristallisieren sich drei Sachverhalte heraus. Der erste ist, daß und wie Chatterton leidet. Chatterton leidet, weil er nicht anders und nichts anderes kann, als „nur“ geistig zu arbeiten. Er kann nur „nutzlos“ träumen und dichten aus der Inspiration, die ihn dabei überkommt, ob er es will oder nicht, und die ihn überkommt, wann immer sie will. So ist sein Dichtertum, in das er aus der Welt flieht und das ihn nur noch mehr zum überflüssigen Außenseiter darin macht, dem Poeten eine Gabe und ein Fluch, und Chatterton selbst verehrt und verflucht „die Poesie“ als l’ennemi fatale née avec moi: la fée malfaisante trouvé sans doute dans mon berceau, la Distraction, la Poésie! – Elle se met partout; elle me donne et m’ôte tout; elle charme et détruit toute chose pour moi; elle m’a sauvé... elle m’a perdu. (73)
Chatterton ist sein Dichtertum der fatale Feind, der mit mir geboren ist: die böse Fee, wahrscheinlich in meiner Wiege gefunden, die Zerstreuung, die Poesie! – Sie läßt sich überall nieder, mischt sich überall ein; sie gibt und nimmt mir alles; sie bezaubert und zerstört jegliches Ding für mich; sie hat mich gerettet... sie hat mich verloren.
Und da der bald Achtzehnjährige einmal zu dieser Einsicht gekommen ist, hat er es aufgegeben, anders sein zu wollen. Er hat es aufgegeben, gegen sein innerstes Sein, sein Herz, zu rebellieren und auch nur zu versuchen, sich zu ver-
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biegen, zu verhärten oder zu „maskieren“. Chatterton will nicht einmal so tun, als wolle er nach ihrem Regelwerk als gewinnbringendes Rädchen der Gesellschafts-Maschine funktionieren: „Pour moi, j’ai résolu de ne me point masquer et d’être moi-même jusqu’à la fin, d’écouter, en tout, mon cœur dans ses épanchements comme dans ses indignations, et de me résigner à bien accomplir ma loi.“ (69) Chatterton will „er selbst sein, bis zum Schluß“, er will „in allem seinem Herzen zuhören“, „in seinen Ergüssen wie in seinen Empörungen“, und so will er sich dazu „resignieren“, kein anderes als sein eigenes „Gesetz gut zu befolgen“. Soweit zu Chattertons Selbstverständnis und Zukunftsplänen, wenn man es so nennen will. Doch was sich im Gespräch mit dem Quäker auch noch enthüllt, ist Chattertons Vergangenheit, die Vorgeschichte, die ihn in das Haus der Bells einführte und die für die verletzte und resignierte Lebenshaltung des jugendlichen Dichters verantwortlich ist. Diese Vorgeschichte ist die Geschichte eines verkannten Reliquienschreines – nur daß dieser Schrein ein Buch ist. Daß Chatterton ein materiell nutzloser Träumer und Dichter ist, ist nämlich trotzdem nicht materiell spurlos an der Welt vorübergegangen. Chatterton brachte durchaus etwas Dingliches aus sich hervor, nur blieb dessen gerechte Entlohnung aus: Das ist der Urgrund für das materielle und seelische Lebensleiden des armen Dichters. Und aller behaupteten Resignation zum Trotz muß der junge Mann sich beim bloßen Erinnern an das, was er tat und was man ihm im Gegenzug antat, erneut empören; denn was tat er? Was tut er noch? Er „arbeitet [...] Nacht und Tag“ („travaille [...] nuit et jours); er sucht „mit so viel Anstrengung in den nationalen Ruinen ein Paar Blumen Poesie, denen ich einen bleibende Duft entziehen kann“ („cherche avec tant de fatigues, dans les ruines nationales, quelques fleurs de poésie dont je puisse extraire un parfum durable“). (71) Freilich findet des Dichters Suche nach den inspirierenden Blumen einer alten Poesie unter den „nationalen Ruinen“ der Sprache statt. Der materielle Arbeitsraum dieser Suche ist folglich keine Ruine, sondern das Intérieur. Der Wohnraum ist der Ort, sich in das eigene, seelische Innere zurückzuziehen. Dieses seelische Innere ist aber der Raum einer nur hier wiederauferstandenen, weil mit aller Anstrengung wiederangedachten verlorenen Zeit. Dieses Andenken einer Zeit, in der England noch in den Kinderschuhen stand und weit weg war von der materialisierten Welt des Jetzt, ist aber der Akt einer mentalen Flucht und einer inneren Selbstreinigung vom Kontakt mit der „erwachsen“ und unrein gewordenen Gegenwart. Und vielleicht ist nur ein Mensch, der „morgen achtzehn Jahre alt“ wird und dafür ein „armes Kind“ genannt wird – auf Seite 68 hieß es: „CHATTERTON: J’aurai demain dix-huit ans. / LE QUAKER: Pauvre enfant!“ – zu einer solchen inneren Reinigung im Kontakt mit der altkindlichen Welt, ihrer Sprache und ihrem merkantil unkontaminierten, poetischen Zeitgeist, in der Lage. Wie dem auch sei, dieser reinigende Flucht-Akt ist
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für den jungen Dichter ein quasi-sakraler Akt gewesen, den er deshalb in einem geheiligten Intérieur verortet und enden läßt in der Einschreinung einer Reliquie: J’ai fait de ma chambre la cellule d’un cloître; j’ai béni et sanctifié ma vie et ma pensée; j’ai raccourci ma vue, et j’ai éteint devant mes yeux les lumières de notre âge; j’ai fait mon cœur plus simple; je me suis appris le parler enfantin du vieux temps; j’ai écrit, comme le roi Harold au duc Guillaume, en vers à demi saxons et francs; et ensuite, cette muse du dixième siècle, cette muse religieuse, je l’ai placée dans une chasse comme une sainte. – (73-74) Ich habe aus meinem Zimmer die Zelle eines Klosters gemacht; ich habe mein Leben und mein Denken gesegnet und geheiligt; ich habe meine Sicht verkürzt, und ich habe vor meinen Augen die Lichter unserer Zeit ausgeschaltet; ich habe mein Herz einfacher gemacht; ich habe mir das kindliche Reden der alten Zeit beigebracht; ich habe geschrieben, wie König Harold an den Grafen Wilhelm, in halb sächsischen, halb fränkischen Versen; und dann habe ich diese Muse des zehnten Jahrhunderts, diese religiöse Muse, in ein Reliquiar gelegt wie eine Heilige. –
Das Andenkenzimmer des Dichters wurde ihm zur Mönchszelle, denn auch sein inneres Intérieur, sein Herz und seine Gedanken, wurden von der Heiligkeit und „Kindlichkeit“ der alten Zeit und Sprache durchdrungen, gereinigt und erhöht: und aus diesem Zustand der zweifachen Zurückgezogenheit, in die Mönchszelle und in das „geheiligte“ Seeleninnere, heraus schrieb der Dichter, neue Verse in der „alten Sprache“, die doch die Sprache seiner eigenen „religiösen Muse“ war. Das Produkt oder manifest hinterbliebene Relikt dieser Muse aber legte der Dichter wiederum in einem „Innenraum“ nieder: im Innenraum eines Reliquiars. Doch in Chattertons blumiger Sprache ist damit letztlich „un livre“ (72) gemeint, „ein Buch“. So hat Vignys Chatterton das Rowley-Buch vollendet, das der historische Chatterton als Buch nie herausbringen konnte. Denn der historische Chatterton wurde als Fälscher verkannt und verschrien, noch ehe er die Chance hatte, einen Verleger für sein Buch zu finden. Folglich existierten seine Rowley-Schriften „nur“ in Form alter „Kuriositäten“: als pergamentene Manuskripte, die Walpole als erster als Fälschungen in Verruf brachte. Doch diese Manuskripte produzierte Thomas Chatterton, weil danach ein Liebhaberbedürfnis seiner Zeit bestand – es war eine verkaufbare Ware. Wenn der historische Chatterton im Namen Rowleys (und immer auch Canynges) schrieb, und zwar alte Manuskripte und noch kein Buch, so war das der Grund: der Verkaufstrick. Von einem Verkaufstrick ist bezüglich des heiligen Rowley-Buchs in Vignys Chatterton indessen keine Rede. Wenn Vignys Chatterton seine kindlich-reine und quasi-heilige Mittelalterpoesie im Namen Rowleys schrieb und im Reliquiar ablegte, geschah es zum Schutz dieser zarten Poesie und zum Selbstschutz des verletzlichen Dichters in einer Zeit – die nicht nur grundsätzlich unpoetisch ist, sondern zudem geschmacksverirrt. So daß es ihr, was Dichter betrifft, gefällt, „die Toten leben und die Lebenden sterben“ zu lassen, wie auch der Quäker Chatterton
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beipflichtet: „ils [die machthabende Pluralität der anonymen Zeitgenossen] aiment assez à faire vivre les morts et mourir les vivants.“ (72) In Vignys Drama schützt der Tod des Dichters Rowley das Werk des Dichters Chatterton. Mit der Sorge um das Verkaufen hat das (vorerst) nichts zu tun, vielmehr mit der Angst vor dem Verriß, der Entweihung der unverstandenen Poesie. „Ils l’auraient brisée s’ils avaient crue faite de ma main; ils l’ont adorée comme l’œuvre d’un moine qui n’a jamais existé, et que j’ai nommé Rowley.“ (72) – „Sie hätten sie“, die „châsse“, den Reliquienschrein und die darin verkörperte „heilige Muse“, „zerbrochen, wenn sie sie von meiner Hand geglaubt hätten; sie haben sie angebetet als das Werk eines Mönches, der niemals existiert hat, und den ich Rowley nannte.“ Dies ist Vignys Chattertons Verteidigung seiner als altenglisch ausgegebenen Dichtung, deren Beliebtheit auf einem irrtümlichen Verständnis ihrer „Heiligkeit“ beruht. Die Verkleidung als alte Dichtung einer vergangenen Zeit und ihrem toten Dichter verlieh der Rowley-Poesie eine erdichtete Grabes-Heiligkeit, die tatsächlich „angebetet“ wurde; doch die „wahre“ Heiligkeit dieser Dichtung, und das heißt ihr „kindlich-reiner“ Charakter – der dem Reinigenden, Heiligenden des Aktes des Andenkens und Dichtens im Intérieur entsprang – wäre nicht geschätzt worden und wurde auch gar nicht im Buch gefunden. Wenn Chattertons „heiliges Buch“ Erfolg hatte, dann als das Werk des toten Rowley, nicht des lebenden Chatterton, der in Rowleys Zeitgeist floh und sich daran inspirierte; wenn dieses Buch Erfolg hatte, beruht dieser Erfolg auf einem Mißverständnis zwischen dem Dichter Chatterton und seinem Publikum. Vignys Chatterton ist gerade als Produzent der Rowley-Dichtungen ein anderer Charakter als der historische Chatterton, und so ist es auch nicht sein Problem, noch vor der Publikation eines Buches als Fälscher verschrien zu sein. Vignys Chatterton gibt sein Buch heraus, die Entlarver treten zu spät auf, um es zu verhindern oder das Buch zu „zerstören“ und „abzutöten“ („[o]n ne pouvait plus le détruire, on l’a laissé vivre“, 72). Doch weil die Entlarver dennoch auftreten, bringt dem armen Dichter sein „gefälschtes“ Werk nicht mehr ein als „un peu de bruit“ (72), „ein bißchen Lärm“ – was eine ironische Untertreibung ist. Denn vor diesem „bißchen Lärm“ ist Chatterton in das Haus John Bells, an den Stadtrand von London, geflüchtet. Geld zum Überleben hatte er mit seinem mißverstandenen Reliquiarbuch trotzdem nicht oder kaum verdient. Im Haus der Bells schenkte Chatterton dann den Kindern nicht sein eigenes heiliges Buch im Gegenzug für ihre Umarmungen. Er schenkte den Kindern eine Bibel. Daraus mag einerseits die Bescheidenheit des jungen Mannes sprechen, andererseits sein Wunsch nach Bewahrung eines Inkognitos, das ihm die Ruhe und Flucht aus der Welt bedeutet, die er sich für den Preis seiner Namenlosigkeit und seines Mietgelds erkauft. Doch vielleicht könnte man das, was der von der Welt verkannte und verletzte Chatterton im Haus des Ehepaars Bell sucht, auch eine innere Heilung nennen. Und wie es aussieht, hat er sie ein Stück weit gefunden. Dem Quäker jedenfalls gesteht er: „En vérité, depuis trois
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mois, je suis presque heureux ici: on n’y sait pas mon nom, on ne m’y parle pas de moi, et je vois de beaux enfants sur mes genoux.“ (71) – „Um die Wahrheit zu sagen, bin ich seit drei Monaten beinahe glücklich hier: man kennt nicht meinen Namen, man redet mir nicht von mir, und ich sehe schöne Kinder auf meinen Knien.“ Um aber noch mehr Wahres zu sagen, sind es nicht die „schönen Kinder“ allein, deren Präsenz Chatterton „beinahe glücklich“ macht. Verräterisch war schließlich die allererste Frage, die Chatterton, kaum zum ersten Mal auf die Bühne getreten, schon an den Quäker richtete: „Mistress Bell n’est pas ici?“ (68) Chattertons erste Frage, die er überhaupt im Drama stellt, ist die Frage nach dem (nichtigen) Dasein Kitty Bells; daß der Quäker diese Frage diplomatisch überging und ersatzweise eine persönliche Frage nach Chattertons innerem Befinden stellte, war überhaupt der Anfang ihres Gesprächs über des Dichters Selbstverständnis und dessen Vorgeschichte gewesen. Und noch während der Quäker am Ende sein Fazit zieht und Chattertons Lebensleiden an der Poesie als eine „unheilsame Krankheit“ diagnostiziert („La maladie est incurable!“ 73), ist Chatterton, den diese Diagnose doch berühren sollte, schon wieder (wenn nicht immer noch) mit seinen Gedanken woanders, denn es heißt von ihm: „CHATTERTON, continuant de parler à Rachel, à qui il a parlé bas pendant la réponse du Quaker: Et vous ne l’avez plus, votre Bible? où est donc votre maman?“ (73) Chatterton hatte, noch während der Quäker ihm Antwort gab, „leise“ mit der kleinen Rachel gesprochen; als der mißachtete Quäker aber verstummt, versteht man Chattertons leises Gemurmel als ein Nachfragen nach dem Verbleiben der Bibel – unmittelbar gefolgt von der Frage nach dem Verbleiben von Rachels „maman“. Als ob Chatterton die Bibel unmittelbar mit Kitty assoziieren würde – das Verbleiben der einen mit dem Verbleiben der anderen. Als hoffte er, die Bibel aus seinen Händen habe, über die Brücke der Kinder, den Weg in Kittys Hände gefunden? War die Gabe an die Kinder insgeheim als Gabe an die Mutter gedacht? Die Vor-Geschichte des verkannten Reliquienschreins mag vorübergehend Chatterton abgelenkt haben von der Geschichte, die ihm jetzt und eigentlich am Herzen liegt und die sich soeben abspielt: die Geschichte der Bibel. Und wie sehr diese Geschichte dem jungen Mann am Herzen liegt, beweist jede weitere seiner Unhöflichkeiten dem Quäker gegenüber, den er auf bereits unhöfliche Weise gegen die Wand diagnostizieren ließ. Doch so leicht läßt der Alte sich nicht übergehen und revanchiert sich, indem er selbst der kleinen Rachel das Antworten auf Chattertons Fragen abnimmt: Er übergeht die Fragen nach der Bibel und nach Kitty nochmals und fordert Chatterton auf zu einem gemeinsamen Ausgang. Woraufhin Chatterton wiederum den Quäker überhört und sich halsstarrig erneut an Rachel wendet: „Qu’avez vous fait de la Bible, miss Rachel?“ (74) – „Was haben Sie mit der Bibel gemacht, Miss Rachel?“ Doch ehe der junge Mann die erhoffte und tatsächlich zutreffende Antwort erfahren kann, daß die Bibel sich augenblicklich in den Händen Kittys befindet,
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findet eine erneute Störung statt, und diesmal nicht mehr nur vom Quäker herrührend. Die dröhnende Stimme John Bells kündigt die Rückkehr des Ehepaars aus dem Bereich des Schlafzimmers an, wo sich das Vorhandensein eines Rechenfehlers und das Fehlen einiger Guineas mittlerweile erhärteten. Ein zweites Mal und dringlicher fordert der Quäker Chatterton zum Verlassen des Hauses auf, mit der Begründung, gewisse „chose d’intérieur“, Intimraum-Dinge einer Ehe, nicht indiskret einsehen zu dürfen. Dennoch hat Chatterton, der Zögerliche, Zeit genug, einen Blick auf die arme junge Frau zu erhaschen, zu der er bemerken muß: „Certainement cette jeune femme est fort malheureuse.“ (74) – „Sicherlich ist diese junge Frau sehr unglücklich.“ Wie Kitty das Leiden ihres jungen Mieters sah, so sieht Chatterton das Leiden der jungen Vermieterin. Und auch, wenn der Quäker ihn nun beinahe gewaltsam mit sich hinauszieht, ist der letzte Blick, das letzte Wort doch Chattertons: „Ah! comme elle pleure! – Vous avez raison... je ne pourrais pas voir cela. – Sortons.“ (74) Kitty konnte es nicht ertragen, von dem Weinen des jungen Dichters zu hören: Deshalb gebot sie ihrer es aussprechenden Tochter, in für sie untypischer Schärfe, zu schweigen: „Allons, taisez-vous!“ (58) Nun ist es Chatterton, der es nicht ertragen kann, Kittys Tränen zu sehen: „Ach! wie sie weint! – Sie haben recht... ich könnte das nicht ansehen.“ Deshalb befiehlt der zu intensiv Mitleidende dem Quäker, in ihm untypischer Schärfe, das Hinausgehen: „Sortons!“ – „Gehen wir!“ – Wie es scheint, ist die Geschichte der Bibel die eines gegenseitigen Erkennens und Mitleidens zweier Opfer miteinander – falls der Begriff des „Mitleidens“ noch ausreichend ist für die Gefühle der einen, wie der anderen Seite.
6 Akt II des Dramas der fatalen Dinge, des Ruins des Poeten So liegen die Karten auf dem Tisch: Chatterton ist das Drama einer materiellen und einer immateriellen Handlung – Drama eines fatalen Briefs und Drama einer fatalen Bibel. Daß es zudem das Drama ein paar fehlender Guineas, sowie eines unverkannten Reliquiarbuches ist, auch das schürt noch die Spannung, die zu erzeugen das Schauspiel von seinem Eingangstableau an, dem Wohn-Intérieur mit seiner bedrückenden Atmosphäre, angelegt war. Denn die Dinge geben Rätsel auf oder kündigen sich als die Lösungen offener Rätsel an. Warum weinte der arme Dichter, als ihn Kittys Kinder morgens in seinem Zimmer besuchten? Daß das Verfassen eines ihm peinvollen Briefes Ursache des Weinens war, daß dieser Brief eine Antwort mit katastrophalen Konsequenzen ins Haus holen wird, das kann der Dramenbeiwohner noch nicht wissen. Doch die Tränen des Poeten, die einen Vorgeschmack auf den damit verbundenen Brief-
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wechsel und seinen Ausgang geben, verlangen nach einer Erklärung, deuten darauf hin, daß da noch etwas kommen wird – schüren Erwartung, Spannung. Aber noch dringlicheres Wissenwollen mag von der Bibel herrühren: diesem dinglichen Handlungsimpuls eines zweiten, immateriellen Dramas im Drama, einer Liebe, die sich nicht anders sagt als über die gestische Behandlung des heiligen Buches, das trennend und verbindend zwischen Kitty Bell und Thomas Chatterton steht. Wird Kitty die „unschuldige“ Bibelgabe des armen Dichters ihm tatsächlich zurückgeben? Warum will sie es eigentlich tun? Wie wird die Rückgabe erfolgen, und mit welcher Reaktion Toms darauf? Gab dieser nicht eigentlich mehr für Kitty als für die Kinder das „unschuldige“ Buch hin? Diese Geschichte einer mysteriösen Nähe zwischen zwei Menschen, die seit drei Monaten unter einem Dach leben, ohne ein Wort gewechselt zu haben, die sich dennoch als Opfer und stillschweigende Leidensgenossen erkannten und vielleicht längst mehr als Mitleid füreinander empfinden (doch wäre das eben nicht in Worten gesagt): Diese Geschichte der beredten Bibel sorgt wiederum für ihre eigene, intime Spannung – denn der Fortgang dieser Geschichte ist zu erwarten im Fortgang des Dramas, wenn Kitty die Bibel zurückgeben will. Und schließlich steht noch eine dritte Frage, ein drittes Rätsel offen, gebunden an ein paar fehlende Guineas, im Grunde aber auch an ein ungewürdigtes Reliquiar. Obwohl diese Dinge, die verlorenen Geldstücke und der verkannte Buch-Reliquienschrein, nicht wieder im Drama genannt sein werden und insofern marginalere Rollen spielen als der Brief und die Bibel, sind sie dennoch unabdingbar für Handlung und Spannungsatmosphäre des Schauspiels: Denn an den fehlenden Geldstücken (und implizit am verkannten Reliquiarbuch) hängt Vigny eine Gnadenfrist auf, einen Countdown. Wo sind die fünf bis sechs Münzen geblieben, die in Kittys Haushaltsabrechnung fehlen? Daß diese fehlenden Guineas im Zusammenhang mit der Geschichte der Bibel stehen (und der daran gebundenen Liebe), aber auch mit der Geschichte des anderen heiligen Buchs (das dem Verfasser weder immaterielles Lob noch materiellen Gewinn zum Leben, geschweige denn zum Bezahlen seiner Miete einbrachte), ist zu erahnen. Die Aufklärung dieses Rätsels hat aber einen zeitlich festgesetzten Endpunkt, der umgekehrt bedeutet: Fortan sind Kittys unerwartetem Widerstand und Stillschweigen gegenüber Kohn Bell, fortan sind John Bells, aber auch des Lesers Ungeduld die Minuten gezählt. Bis zum folgenden Tag darf Kittys Schweigen noch währen; die Zeit dieser vierundzwanzig Stunden verrinnt indessen spürbar, unaufhaltsam... und dann? So steht es am Ende des ersten Aktes. Der zweite ist ein „Durchgangsakt“ mit sich beschleunigender materieller und immaterieller Aktion auf die Katastrophe des dritten Akts zu und soll entsprechend zügig durchschritten werden. * Der erste Akt endete mit einem materiellen und einem immateriellen Bedrängnis Kittys: John Bell setzte seiner Frau zu, um ihr Schweigen bezüglich der fehlenden Guineas zu brechen; Kitty ließ die Berührung der Hand ihres Mannes
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unversehens an die Bibel aus der Hand eines anderen denken; ihr Gewissen regte sich, und unter diesem zweiten, innerlichen Druck entschloß sie sich dazu, das womöglich zu sehr geliebte Buch zurückzugeben. Der zweite Akt beginnt damit, daß Chatterton seinerseits von einer materiellen und einer immateriellen Sorge unter Druck gesetzt wird und daß auch er befürchten muß, daß seine ruhigen Minuten im Hause Bell bald gestört sein werden. Unversehens findet auch Chatterton sich in einer Gnadenfrist seines Lebens wieder, die jeden Moment auslaufen kann. Denn sein „Hafen“ („port“, 78) oder „Asyl“ („asile“, 79), wie er seine versteckte Dachkammer-Wohnung nennt, ja selbst sein zweiter Fluchtort, das Inkognito, sind vermutlich verraten. Der erste Akt gab Einblick in die häuslichen Szenen des Intimbereichs eines Geschäftshauses, das in der Anordnung seiner Zimmer der materiellen Geschäftswelt, ihren auf Geldsummen reduzierten Werten und ihrer aggressiven Atmosphäre der Ausbeutung, den Spiegel vorhält. Auf diese Weise, mit Einblick in das intime Hinterstübchen des Räderwerks einer maschinisierten Geldwelt, stellte Vigny seine Dramenfiguren in ihren Charakteren und Kostümen vor, aber auch in ihrer Konstellation zueinander – in ihrer Verortung und Rangordnung innerhalb der Ordnung dieses Hauses und seiner vielsagenden Raumkomposition. Daß der vorgebliche Intimbereich hinter dem Geschäftszimmer im Grunde ständig bedroht und gefährlich porös ist, dominiert von der Glasgittertür zur Geldwelt hin, war maßgebliches Charakteristikum des Wohnraums der Bells. Doch nutzte bislang nur der Hausherr allein sein Recht auf gewaltsames Eindringen, wird sich das im zweiten Akt ändern. Der zweite Akt ist der, in dem die unliebsame Außenwelt, vor der Chatterton in sein Asyl floh, ihn nichtsdestotrotz einholen muß, und der baldige materielle und seelische Ruin des Dichters wird sich unleugbar manifestieren. Vom Quäker fast gewaltsam mit sich gezogen, und weil er den Anblick der Tränen Kittys nicht ertragen konnte, floh Chatterton zum Schluß des Voraktes aus dem Haus. Nun kehrt er mit dem Quäker zurück, ist innerlich jedoch mehr außer sich denn je. Auf seinem Ausgang mußte er einen jungen Mann namens „Lord Talbot“ sehen, und dieser ist ihm gefährlich, da er ein alter Freund ist. Chatterton suchte seinen ruhigen „Hafen“ im Hause Bell nämlich nicht auf, weil er vor seinen Feinden geflohen wäre. Chatterton floh vor seinen Freunden. Ein Paradox, das vorerst so stehen bleiben soll. Nun also, wo er Talbot sah, muß der Flüchtling aber befürchten, auch umgekehrt gesehen worden zu sein: Und kann nicht jeden Augenblick die ungeliebte, verlassene Außenwelt zu ihm eindringen und sein Asyl entweihen? Diese ist aber nur die eine, materielle Gefahr, von der Chatterton bedroht ist. Nebenher, doch andauernd denkt er an die Bibel. Scheinheilig genug und scheinbar zusammenhangslos fragt er den Quäker, ob Kitty Bell sehr gläubig sei? Wie es ihm scheine, habe er eine Bibel in ihren Händen gesehen. Der Quäker wird es abrupt verneinen, und es reißt ihn gar zu einer Lüge hin, wenn er dem jungen Mann Kitty als eine „kalte“ junge Frau verkaufen und damit ab-
1: Daniel Maclise, Charles Dickens, 1839
2: Richard Westall, Lord Byron, 1813
3: Joseph Severn, John Keats, 1819
4: Thomas Chatterton, Wyllyame Canynge (Mitte), sein Vater (rechts), sein Bruder Roberte (links) und seine Frau Isabelle (unten), um 1769
5: William Holman Hunt, Der Sündenbock, 1854–55
6: John Everett Millais, Ophelia, 1852
7: Henry Wallis, Persischer Teller, 1887
8: Unbekannter Künstler, George Meredith, vor 1893
9: Unbekannter Künstler, George Meredith, vor 1929
10: Henry Wallis, Chatterton, 1855–56
11: Henry Wallis, Chatterton (Detail), 1855–56
1: Edward Matthew Ward, Die Südsee-Blase, eine Szene in ›Change Alley‹ 1720, 1847
2: H. K. Browne, Titelillustration zu Dickens’ Roman Dombey and Son, 1848
3: Unbekannter Stahlstecher nach unbekanntem Künstler, Blick auf Bristol mit Saint Mary Redcliffe, o. J.
4: W. Hawkins nach G. Holmes, Der Kirchturm von St. Mary Redcliffe mit Blick auf den Archivraum über dem Nordtor, 1802
5: Storer nach King, Das Innere des Raums in St. Mary Redcliffe, wo Rowleys Manuskripte angeblich aufbewahrt waren, 1802
6: Neele, Faksimile von Rowleys / Chattertons Handschrift, 1803
7: Bye & Smith nach Thomas Chatterton, Das De Bergham Wappen, 1802
8: Unbekannter Hersteller, Das Chatterton-Taschentuch, 1782
9: Unbekannter Künstler, Chatterton (M. Geffroy), 1835
10: Morin, Akt III, Szene VI aus Chatterton, 1858
11: Titelseite einer in Berlin publizierten Ausgabe von Chatterton, 1835.
13: Frontispiz zu Alfred de Vigny, Chatterton, 1835
12: Unbekannter Künstler, Graf Alfred de Vigny, um 1860
14: Henry Wallis, Mary Ellen Meredith, 1858
15: Alais nach Branwhite, Chatterton, 1837
16: Unbekannter Stahlstecher nach unbekanntem Künstler, Chatterton, 1797
17: Larry nach Wallis, aus Punch, Juni 1987
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schreckend machen will. Die geheime Befürchtung des alten Mannes ist, der unglückliche Dichter werde Kitty als seinen „letzten Rettungszweig“ ergreifen und im Strudel seines Untergangs mit sich ziehen. Bei allem Mitleiden und Wohlwollen, das der Quäker für Chatterton hat, sähe er ihn aber lieber ertrinken als das Leben Kittys mitruinieren: „J’aime mieux qu’il se noie que de s’attacher à cette branche.“ (80) Doch nicht der Quäker stellt sich als der effizienteste Schutz der reinen Kitty vor einer unlauteren Antastung durch ihren Untermieter heraus. Dieser selbst will Kitty der Freund und sich selbst der Feind sein, der eine weitere, manifeste Annäherung nicht zulassen will. Der Quäker hat Unrecht, Kitty als Chattertons letzten Rettungszweig vor dem Untergang zu befürchten, denn vielmehr könnte Kitty ein weiterer Stein sein, den Unglücklichen nur schneller seinen Schiffbruch erleiden zu lassen. Chattertons Meinung ist nämlich, daß der Mann, den Kitty lieben würde (und John Bell ist damit nicht gemeint), besser daran tue, sich eine Kugel ins Hirn zu schießen, als die junge Ehefrau zu verführen. Doch dieser Mann, von dem der junge Dichter in der dritten Person spricht, will er selbst eben nicht sein. Chatterton will sich selbst als „ungefährlich wie die Kinder“ sehen („inoffensif comme les enfants“, 81) – und nicht einer weiteren Person die „Ansteckung seines Unglücks“ („la contagion de mon infortune“, 81) weitergeben. Daß Chatterton selbst dieses Wort einer möglichen „Ansteckung“ seines Lebensleidens, seines Ruines, ins Spiel bringt, mag allerdings alles andere als beruhigend wirken. Denn wie es scheint, teilt Vignys ruinierter Poet nicht nur einige Eigenschaften mit Thomas Chatterton. Byron inszenierte sich als erster als inkarnierter Inbegriff des romantischen, weil verfluchten Poeten, der zudem sein Lebensleiden an sich selbst, seinem Poetsein, noch auf andere überträgt und diese in sein Unglück mitreißt.293 Vignys Chatterton ist nicht verflucht durch ein unabänderliches, unergründliches „Schicksal“; sein Poetsein ist ihm nur deshalb ein Fluch294, weil Chatterton in einer als merkantil durchschauten, also keinesfalls unergründlichen Welt lebt, die zudem vielleicht noch zu ändern ist. Deshalb ist Chatterton nicht der romantisch verfluchte, er ist der (un)romantisch ruinierte Poet und ein (un)romantischer, sozialkritisch kontaminierter Mythos. Byronesk-reizvoll an ihm bleibt aber, wie es scheint, das Wirkprinzip der gefährlichen „Ansteckung“: daß auch der (un)romantisch ruinierte Chatterton seinen „Fluch“, seinen Ruin, auf andere übertragen könnte. Dieses romantische Prinzip wird am Ende der Weg sein, in unromantischer Wirklichkeit die Herzen aller Beiwohner am Ruindrama des Poeten mitzuzerrütten und so zu erweichen; 293 294
––––––––––––––––––– Siehe zu diesem „vampirähnlich“ ansteckenden Byron Praz: Liebe, Tod und Teufel, S. 75-95. Auch wenn das Wort des „Fluches“ im Text nicht fällt, nennt Chatterton die Poesie doch „l’ennemi fatale née avec moi: la fée malfaisante trouvé sans doute dans mon berceau, la Distraction, la Poésie! – Elle se met partout; elle me donne et m’ôte tout; elle charme et détruit toute chose pour moi; elle m’a sauvé... elle m’a perdu.“ (73)
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ob diese nun mit Chatterton auf der Bühne sind oder nur wenig entfernter von ihm in den Rängen. * Stärker als Chattertons Vorsätze ist das Ego des wollenden John Bell. Dieser hat tatsächlich mit Lord Talbot gesprochen und Chattertons Namen erfahren, sowie von einer Berühmtheit seines Mieters gehört. Vielleicht war Vignys Chatterton selbst doch schlichtweg zu bescheiden, als er die gänzliche, materielle und immaterielle Folgenlosigkeit seines Reliquiarbuchs, der Rowley-Werke, behauptete? Wie dem auch sei; Bell, der bekanntlich stets nach ihm günstigen Kontakten strebt, will unverzüglich den jungen Mann zum Essen einladen, den er für einen gesellschaftlich und geldlich hoch positionierten hält. Nur will er den niederen Dienst des Einladens nicht selber verrichten, sondern instrumentalisiert Kitty zu seinen Zwecken: Es ist die Hausfrau, die die Einladung aussprechen soll. Egal, daß Kitty die Bibel zurückgeben und auf diese Weise eine weitere Kontaktaufnahme (vorgeblich) unterbinden wollte; egal, daß Chatterton (vorgeblich) lieber den Selbstmord des Mannes sähe, den Kitty liebte, als ihre Verführung: Ein erster Wortwechsel zwischen der jungen Leuten scheint unausweichlich – da er befohlen ist vom alles dominierenden Hausherrn. Doch zum Glück ist noch der Quäker präsent, und so erbittet Kitty ihn sich zum Boten und Mittler ihrer Worte, wie John Bell seine Frau zur Botin und Mittlerin erzwang. Das Resultat ist ein aberwitziges Stille-Post-Spiel, das auf ein gegenseitiges Mißverständnis hinausläuft. Der Quäker, der seinerseits verhindern will, daß Kitty und Tom sich näherkommen, gibt beiden Seiten den Eindruck, daß die Einladung vom jeweils anderen ungewollt sei. Von ihm subtil gelenkt, verzichtet der hungrige Chatterton auf das gemeinsame Essen, und das sorgt für das erste Mißverständnis, der Motive Chattertons durch John Bell: CHATTERTON, au Quaker: Je suis forcé de me retirer chez moi. LE QUAKER, à Kitty: Il est forcé de se retirer chez lui. KITTY BELL, à John Bell: Monsieur est forcé de se retirer chez lui. JOHN BELL: C’est de l’orgueil: il croit nous honorer trop. (82) CHATTERTON, zum Quäker: Ich bin gezwungen, mich zu mir zurückzuziehen. DER QUÄKER, zu Kitty Bell: Er ist gezwungen, sich zu sich zurückzuziehen. KITTY BELL, zu John Bell: Der Herr ist gezwungen, sich zu sich zurückzuziehen. JOHN BELL: Das ist Stolz: er glaubt, uns zu sehr zu beehren.
Womit John Bell wiederum nicht ganz Unrecht hat, denn stolz ist Chatterton, der seinerseits dem Quäker zu verstehen gibt: „Je n’aurais pas accepté; c’était par pitié qu’on m’invitait.“ (83) „Ich hätte nicht angenommen; es war aus Mitleid, daß man mich einlud.“ So wäre das zweite Motiv zum Ausschlagen der Einladung – nach der Absicht, halb auf Manipulation des Quäkers hin, halb dem eigenen Gewissen folgend, Kitty Bell auszuweichen – tatsächlich Chattertons Stolz. Nur ist es nicht der arrogante Stolz des reichen und hoch positionierten Mannes, der sich für zu gut für seine kaufmännischen Gastgeber hält.
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Es ist der Stolz des armen, verkannten Dichters, der jedoch geistig zu hochgesonnen ist, das Mitleid und das Brot derjenigen zu ertragen, die seinem beschämenden Ruin beiwohnen. Es ist der überlieferte Stolz der Kultfigur Chatterton: denn dieser historische Chatterton soll ja kurz vor seinem Tod, als er wohl am Verhungern war, die Essenseinladung seiner Hauswirtin Mrs. Angel ausgeschlagen haben, aus Angst, man könne meinen, er sei bedürftig.295 Doch wie gesagt, wäre dieser Stolz nur der zweite Grund für Vignys Chatterton gewesen, nicht an einem Essen mit Kitty Bell teilzunehmen; und dann wird gerade das unmittelbar Anschließende enthüllen, wie weit entfernt Vignys Dramenheld von dem historischen Vorbild ist, dem er den Namen, den Stolz, den Ruin und den Selbstmord verdankt, aber nicht mehr. * Chattertons Flucht in das Inkognito hat ihr Ende gefunden – die Flucht in die Abgeschiedenheit eines Hauses am Rande von London endet nun auch, weil der Dichter Besuch erhält. Lord Talbot ist da, allerdings in angetrunkenem Zustand und mit weiteren jungen Lords im Gefolge; man ist auf dem Weg aus der Stadt hinaus und zur Jagd; man weiß um die Wirtlichkeit des Hauses eines Mannes, der gern hochstehendem und künftig gewinnbringendem Besuch die Türe weit aufhält; man will, ehe es mit dem Jagen von Tieren losgeht, zunächst anderes aufscheuchen: Talbot hat nicht umsonst Chatterton erkannt. Nun nimmt der junge Adelige sich das Recht, Chatterton als einen alten Freund zu besuchen. Die Lebensgeschichte von Vignys jungem Dichter Chatterton, die dabei in Teilen enthüllt wird, könnte unterschiedlicher zur Biographie des historischen Chatterton, dem Bristoler Sohns einer armen Lehrerwitwe und Besuchers der charitablen Colston-Schule, nicht sein. Vignys Chatterton entstammt Talbots Kreisen. Beide haben gemeinsam in Oxford studiert, nur ist aus Talbot danach nichts geworden, während dieser gelangweilte Müßiggänger noch einmal dem Freund, der sich als genialer Dichter herausstellte, ein Loblied singt. Die schwarze Kleidung des Dichters weiß Talbot des weiteren als Trauerkleidung um seinen vor kurzem gestorbenen Vater zu erklären (während der Vater des historischen Chatterton schon vor Geburt seines Sohnes gestorben war); doch zum Trost erinnert der heitere Lord seinen Freund an sein Erbe: „LORD TALBOT: Ah! il était bien vieux aussi. Que veux-tu? te voilà héritier. / CHATTERTON, amèrement: Oui. De tout ce qu’il lui restait.“ (84) „LORD TALBOT: Ach! er war auch ganz schön alt. Was willst Du? Jetzt bist Du Erbe. / CHATTERTON, bitter: Ja. Von allem, was ihm blieb.“ – So scheint Chatterton nach dieser zweideutigen Antwort, gegeben in einem verrä295
––––––––––––––––––– „Mrs. Angel told [...], after his [Chatterton’s] death, that, as she knew he had not eaten any thing for two or three days, she begged he would take some dinner with her in the 24th of August; but he was offended of her expressions, which seemed to hint that he was in want, and assured her he was not hungry.“ (Croft: Love and Madness, S. 147.)
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terisch bitteren Tonfall, doch tatsächlich ein armer Mann zu sein? Nur wäre er im Gegensatz zum historischen Chatterton nicht schon immer arm gewesen. Es klingt so an, als habe der einst wohlhabende Vater, vermutlich von adeliger Herkunft, seinen Besitz und dem Sohn sein Erbe verloren. Mag sein, der Vater ruinierte sich, und so den Sohn in zweiter Instanz mit. Die Andeutung ist gegeben – und damit der Verweis darauf, daß Vigny beim Portraitieren seines Dramen-Chatterton mehr an seinen eigenen Vater und seine eigene Biographie und Lebensposition dachte, als an den Vater, die Biographie und soziale Position des historischen Chatterton.296 Doch was hier Einflechtung autobiographischer Wahrheiten ist, macht den Dramen-Chatterton zugleich um so romantischer: Dieser Chatterton ist gezeichnet von der dramatischen Fallhöhe und Schlagartigkeit seines Verlustes – er ist gezeichnet und erhöht durch das dramatisch-tragische Ereignis des Ruins des wohlhabenden Adeligen, noch ehe es zur zweiten Ruinierung, nämlich der des Dichters, kommt. Vignys Chatterton ist der verkleidete Prinz, der sein Königreich verlor und deshalb Zuflucht im Hause einfacher Leute suchte und darin die Liebe fand: doch anders als im Märchen kann die Geschichte nicht gut ausgehen. Sie kann nicht gut ausgehen, weil Talbot nicht ins Haus gekommen ist, um den Freund zu retten und in seine alte Position zurückzuholen. (Daß die „Prinzessin“ des Hauses bereits an den Despoten vergeben ist, ist noch ein anderes Unglück.) Dieser rettende Freund ist der junge Lord gerade nicht. Vielmehr hat er eine zweite, heimliche, hauptsächliche Jagd-Absicht verfolgt, als er um das Haus Bell herumschweifte, um schließlich unter dem Vorwand eines Besuches Chattertons einzutreten. Dieser Urgrund seines Eindringens ist die vergebene Prinzessin: Kitty Bell. Wie es den betrunkenen Lords entschlüpfen wird, ist Kitty Bell ihnen das „Objekt einer Wette“ („objet d’un pari“, 92). Seitdem sie um Kittys Namen wissen und sich damit auch des Wissens um ihre Behausung und Lebensposition bemächtigt haben, besteht die Wette, Talbot werde die junge Ehefrau verführen. Auch macht der Eindringling keinen großen Hehl um seine lüsternen Absichten, wenn er Kitty vor aller Augen nicht etwa von sich aus berührt, sondern umgekehrt sie zur Berührung seiner selbst, seiner Hand, zwingt, und das mit den mehr anzüglich als zärtlich tadelnden Worten: „Ah! mistress Bell, vous êtes une puritaine. Touchez là, vous ne m’avez pas donné la main aujourd’hui.“ (84) – „Ach! Frau Bell, Sie sind eine Puritanerin. Faßt da an, Sie haben mir heute nicht die Hand gegeben.“ Die Formulierung „touchez là“ ist keine Erfindung, sondern eine an sich unanzügliche alte Aufforderung zu einem Händedruck, der unter Edelleuten eine Versöhnung oder ein Abkommen besiegeln soll. Vigny legte sie, historisch korrekt, in seinem im 17. Jahrhundert angesiedelten Roman Cinq-Mars (von 1826)
296
––––––––––––––––––– Siehe Reys Anmerkung in Vigny: Chatterton, S. 180.
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Ludwig XIII. in den Mund.297 Doch im 18. Jahrhundert ist die Redewendung erstens veraltet, zweitens zwischen Mann und Frau immer schon eine ungebräuchliche Geste gewesen, die daher, von Talbot als Aufforderung zur Berührung an Kitty Bell gerichtet, anzüglich wird. Und diese Anzüglichkeit wird noch dadurch verstärkt, daß die vernommene Formulierung eine klangliche Doppeldeutigkeit enthält: „Touchez là...“, „Faßt da an...“, klingt genau so wie „Touchez la...“, „Faßt sie an“. Im Französischen vernommen klingt es, als könnte Talbot auch gesagt haben: „Ach! Frau Bell, Sie sind eine Puritanerin. Faßt sie an, Sie haben mit heute noch nicht die Hand gegeben.“ Man kann sich denken, wie peinlich Chatterton das Dabeisein bei dieser Szene sein muß, in der Kitty vor seinen Augen aufgesucht und belästigt wird, und das unter dem Vorwand seines Besuches, beinahe in seinem Namen. Um so quälender wird der Auftritt der hohen Herren, als Talbot sich als der „Freund“ zeigt, der er ist, und Kitty förmlich an Chatterton weiterreicht, mit weiteren unverhohlen zweideutigen Worten. Dabei ist es übrigens nicht so, daß John Bell derweilen abwesend wäre. Auch wenn als einziger der friedfertige, doch moralische Quäker sich gezwungen sieht, mutig die Stimme gegen den feinen Besuch zu erheben, um ihn zum Schweigen zu bringen: „Jeune homme, depuis cinq minutes que vous êtes ici, tu n’a pas dit un mot qui ne fut de trop.“ (85) – „Junger Mann, seit den fünf Minuten, die Du hier bist, hast Du kein Wort gesagt, daß nicht zu viel gewesen wäre.“ Der Quäker sagt es; aber was ist mit John Bell? Müßte nicht er, der Ehemann und Hausherr, seine eigene Frau vor den fremden Zudringlichkeiten verteidigen? John Bell ist da. Er ist Zeuge der gesamten Szene. Doch John Bell spielt mit. Schließlich will er ja künftigen Nutzen aus den jungen Herrschaften ziehen, und zu deren Zirkel addiert er nun Chatterton hinzu. So daß er sehr wohl hört, wie Talbot Chatterton auf den Kopf zusagt, aufgrund der Hausherrin sein Quartier ausgesucht zu haben. Bell versteht sehr wohl die Hinweise darauf, man solle Chatterton und Kitty allein lassen. John Bell selbst ist derjenige, der den ausdrücklichen Befehl dazu gibt, denn schließlich verspricht er sich von einem Gespräch zwischen Chatterton und seiner Frau nur soviel Annäherung, daß Kitty den jungen Mann dazu überreden möge, ein größeres und teureres Zimmer bei ihm zu nehmen. Allerdings ist Bells Körpersprache beredt genug, seine eigentliche Einstellung zu Chatterton, den honigsüßen Worten zum Trotz, zu fühlen zu geben, und das ganz körperlich, ja brutal. Die erste und einzige körperliche Berührung zwischen dem Geldmann mit dem verknöcherten Herzen und seinem Widerpart, dem armen, leidenden Dichter, hat ihren Augenblick jetzt: „JOHN BELL: Monsieur Chatterton, je suis vraiment heureux de faire connaissance avec vous. (Il lui serre la main à lui casser l’épaule.) Toute ma maison est à votre service.“ (87)
297
––––––––––––––––––– Siehe Vigny: Cinq-Mars, S. 320.
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„Herr Chatterton, ich bin wirklich froh darüber, mit Ihnen Bekanntschaft zu machen. (Er schüttelt ihm die Hand bis zum Schulterbrechen.) Das ganze Haus steht Ihnen zu Diensten.“ Er mag Chatterton die Schulter bald ausrenken, wie er will, trotzdem gibt Bell dem Dichter die Zusage, das ganze Haus stehe ihm zu Diensten – inklusive seiner Dinge, inklusive seiner Hausfrau, Kitty Bell. Auf seine Weise ist John Bell bereit, seine eigene Frau für eine gewisse Zeit und bis zu einem gewissen Grad zu vermieten. Um den Gelüsten derer zu Willen zu sein, die er im Gegenzug später auszunehmen trachtet, ist der kalte Berechner bereit zu dieser Prostitution Kitty Bells, die es von der Anlage, von der Geste her ist. So ist kein anderer als John Bell der Initiator einer Szene der Annäherung, des Gespräches, die Tom und Kitty niemals so, nicht als erzwungenes und „beschmutztes“ Beieinandersein, wünschten. * Kitty Bell wie auch Thomas Chatterton begriffen sehr wohl, wie und was ihnen geschah, und beide sind nun (wie der Quäker es von Kitty sagt) „blessée au cœur“ (89), „verletzt im Herzen“. Beide sind verstört und in ihrer Verstörtheit unfähig, miteinander zu reden. Deshalb ist es ein Glück, daß als einziger der Quäker sich Bells schmutziger und beschmutzender Aufforderung widersetzte, die jungen Leute alleine zu lassen. In der Tat fungiert der Quäker fast die gesamte Szene hindurch als der Mittler zwischen den beiden Unglücklichen, die sich zwar verstohlen ansehen, doch fast kein unmittelbares Wort zueinander sagen. Den notwendigen Beginn dieser peinlichen, erzwungen Annäherung gibt aber die Bibel. Die Verletztheit Kittys beruht nicht nur auf ihrer Demütigung durch die dreisten Adeligen, die sich die junge Frau zum Objekt ihres Spiels machten. Noch schlimmer als dieser Mißbrauch durch Worte und Gesten, an der ihr Ehemann teilnahm, ist Kitty der Verdacht, den die Worte Talbots in ihr erregten. Auch sie muß plötzlich glauben, daß Chatterton kein armer, sondern ein reicher Mann ist, der sich folglich auf unlauterem Wege ihres (Mit-)Gefühles bemächtigte. Und da ihr tatsächlich kein griffigeres Motiv dafür gegeben ist, warum ein Mann aus besseren Kreisen drei Monate lang in der Dachkammer eines Geschäftshauses wohnen sollte: Muß an diesem einen insinuierten Wort Talbots nicht etwas Wahres sein? War es nicht tatsächlich um ihretwillen, um sie zu verführen, daß Chatterton mit Kitty unter ein Dach zog? Diesen schrecklichsten Verdacht spricht Kitty in dieser vierten Szene des zweiten Akts nicht unmittelbar aus, doch bestimmt er ihre Verhaltens- und Redeweise. So gibt ihr der ungesagte Verdacht den Mut, Chatterton (über den Quäker) die Bibel zurückzugeben. Der Verlauf dieser Rückgabe-Szene ist dieser: KITTY BELL: Voici un livre que j’ai trouvé dans les mains de ma fille. Demandez à monsieur s’il ne lui appartient pas. CHATTERTON: En effet, il était à moi; et à présent je serais bien aise qu’il revînt dans mes mains.
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KITTY BELL, à part: Il a l’air d’y attacher du prix. Ô mon Dieu! je n’oserai plus le rendre à présent ni le garder. LE QUAKER, à part: Ah! la voilà bien embarrassée. (Il met la Bible dans sa poche, après avoir examiné à droite et à gauche leur embarras. À Chatterton.) Tais-toi, je t’en pris; elle est prêt à pleurer. (89) KITTY BELL: Hier ist ein Buch, das ich in den Händen meiner Tochter fand. Fragen Sie den Herrn, ob es ihm nicht gehört. CHATTERTON: Tatsächlich gehörte es mir; und jetzt wäre es mir sehr lieb, wenn es in meine Hände zurückkäme. KITTY BELL, für sich: Er scheint, einen Wert daran zu knüpfen. Oh mein Gott! jetzt wage ich es weder, es zurückzugeben, noch es zu behalten. DER QUÄKER, für sich: Ach! jetzt ist sie arg in Verlegenheit. (Er steckt die Bibel in seine Tasche, nachdem er nach rechts und nach links ihre Verlegenheit untersucht hat. Zu Chatterton.) Sei still, ich bitte Dich; sie ist im Begriff zu weinen.
Kittys Anfrage nach der Herkunft der Bibel ist so gesucht kalt in ihrem Tonfall, daß sie von Chattertons Seite eine derart heftige Reaktion hervorruft, daß er es wagt, ohne die Übermittlung des Quäkers direkt zu antworten, und ja, er will „jetzt“ diese Bibel zurück in seine Hände, wobei das „jetzt“ („à présent“) eben beredt ist. Denn will Chatterton mit der Rücknahme der Bibel unter der Betonung des Wortes „jetzt“ nicht andeuten, daß er den „jetzt“ von Talbot gegen ihn geschürten Verdacht entkräften will? Daß er jegliche, eigentlich noch so unschuldige und indirekte Annäherung an Kitty „jetzt“ rückgängig machen will – „jetzt“, wo Kitty die Verunglimpfung glauben und eine unreine Verführungsgeste in der Bibel verkörpert sehen könnte? Auch wenn Chatterton Kittys Glauben an diesen Verdacht, der tatsächlich aus der kalten Ansprache seiner Person sowie aus der Rückgabe der Bibel spricht, der jungen Frau doch übelnimmt? Das Heftige seiner Worte weist auf eine Verletzung Chattertons hin, die von der Zurückweisung seiner mißverstandenen Buchgabe herrührt. Und Kitty gewahrt wohl diese Verletztheit, die, ihrem Verdacht zum Trotz, erneut an ihr Mitleid und damit auch an die tiefere Emotion in ihr appelliert, die halb hinterfragt, doch nicht klar eingestanden ist; die jetzt angetastet ist, doch nicht verloschen. So sieht Kitty, und sie muß das seiner stumm-beredten Mimik und Körperhaltung ablesen und dem Tonfall seiner Stimme entnehmen, daß Chatterton „einen Wert daran“ „knüpfe[]“, und mit „daran“ kann nicht nur das Buch gemeint sein, sondern ihr, Kittys, Umgang mit der Bibel. Aus diesem Grund fühlt die junge Frau sich hin und her gerissen und wie gelähmt: unfähig, das Buch tatsächlich zurückzugeben oder es doch zu behalten. Wie auch immer sie sich entscheidet: Chatterton wird den einen oder anderen gestischen Akt in seinem „Wert“ „fühlen“ und „verstehen“. Aus Kittys unschlüssiger Handhabung der Bibel spricht ihre Unschlüssigkeit gegenüber der Person des Gebers, den sie abweisen und doch nicht abweisen will, an den sie nicht mehr glauben darf und dennoch glauben möchte, den sie verletzt hat und es doch nicht wollte. Der Quäker löst diese „Verlegenheit“, die
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er nun auf beiden Seiten feststellt – denn wird nicht Chatterton seinerseits aus Kittys Körpersprache ablesen, daß nun wiederum sie von ihm in peinvolle Verlegenheit gebracht, also verletzt wurde? –; der Quäker also erlöst beide von der Verlegenheit, die darauf beruht, verletzt zu sein, verletzt zu haben und nicht weiter verletzen zu wollen, indem er die Bibel an sich nimmt und in seine Tasche steckt. Er konfisziert die Bibel – und zieht sie aus dem Spiel. Insofern die Bibel, dieses insgeheim als ein Liebesandenken gegebene und insgeheim als ein Liebesandenken empfangene Ding, aus dem Spiel ist, ist ihre Geschichte zu Ende. Insofern ihre Geschichte die Geschichte der besagten wortlosen Liebe ist, ist sie es allerdings noch nicht: diese Liebesgeschichte wird bis zum Ende des Dramas gehen. Nur hat sich mit der Konfiszierung des Buchs durch den Quäker, eigentlich aber mit dem Eindringen der jungen Lords in Chattertons Refugium, etwas an der Liebesgeschichte geändert. Sie hat ein Stück ihrer Unschuld verloren, denn nun ist der Begriff der Verführung so gut wie gefallen, der Gedanke daran ins Spiel gebracht. Deshalb ist die Essenz der Beziehung zwischen Kitty und Tom, dieses stillschweigende mitfühlende Einvernehmen, diese keusche Sehnsucht nach liebender Annäherung, die aus der Gabe und dem Empfang einer Bibel sprach, aber bedroht. Eine neue Unsicherheit und Uneinigkeit herrscht zwischen den jungen Leuten, und diese macht ihre Unterhaltung zur Zerreißprobe. So bohrt Kitty (über den Quäker) nach den Gründen nach, die Chatterton in ihr Haus zogen, womit sie ihrer Verunsicherung, ihrem Zweifel an Chattertons Charakter und Intentionen erneuten Ausdruck gibt; Chatterton wiederum hält dieser fühlbaren Abkehr von seiner Person und dem Demütigenden eines solchen Bezweifeltwerdens nicht stand und beendet abrupt die Begegnung: indem er das Zimmer fluchtartig verläßt. Doch nur, um in einem Zustand des baldigen Wahnsinns zurückzukehren. Kitty, in ihrer Verzweiflung soeben bereit, sich dem Quäker anzuvertrauen und ihm die ihr unerklärliche Anrührung zu gestehen, die der junge Dichter auf sie ausübe, ob sie es wolle oder nicht, wird in ihrem Geständnis einer sich selbst unbewußten Liebe jäh unterbrochen durch diesen Wahnsinnsauftritt, in dem Chatterton wie von Sinnen mehr zu sich selbst als zu den anderen spricht und Unzusammenhängendes ausstößt. Dennoch geht aus seiner zerfetzten Rede der Urgrund der Raserei hervor: daß er sich „jetzt“ auf Erden nur von Fremden umgeben fühle. Chatterton glaubt Kitty – die der Quäker also zurecht einmal als den von Chatterton ersehnten „Rettungszweig“ im Strudel eines ruinierten Lebens befürchtete298 – „jetzt“ verloren. Und trotzdem kämpft Chatterton in seinem Irrereden ja noch immer um seinen „Zweig“, er gibt nämlich, in abgerissenen Andeutungen, den von Kitty erbetenen wahren und entschuldbaren Grund für sein Dasein im Hause Bell an. Da ist die Anspielung auf einen Wohlstand, den sein Vater einmal gehabt, doch 298
––––––––––––––––––– Man denke zurück an des Quäkers Worte: „J’aime mieux qu’il se noie que de s’attacher à cette branche.“ (80)
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dann mit ins Grab genommen habe und der auch ihm, den Sohn, einst viele falsche Ehrerbietungen eingebracht habe, doch dies sei nun eben vorbei: „Mais tout cela est fini, je suis ouvrier en livre.“ (94) „Arbeiter in Sachen Büchern“ nennt Chatterton sich, denn wo kein Vermögen aus dem ruinierten Haus seines Vaters übrig ist, ist der Sohn gezwungen, für sein Brot zu arbeiten. Und Chatterton peinigt sich und die anderen, indem er sich selbst aus den Augen der Welt, in der er lebt, sieht und sich selbst also erniedrigt: zu einem Handarbeiter, der mühsam seine Werkstücke zusammenflickt – nicht besser als ein Vertreter der armseligsten, mißachtetsten Profession, der arme Schneider.299 Auf diesen Vergleich des Dichters mit dem Schneider spielt Chatterton an, wenn er vielleicht Kitty und vielleicht dem Quäker und vielleicht nur sich selbst und dem Geiste des Zimmers die Begründung seines Da-Seins an den Kopf wirft: „Je ne voulais qu’un peu de repos dans cette maison, le temps de coudre l’une à l’autre quelques pages que je dois“. (94) Chatterton wollte nichts weiter als „ein wenig Ruhe in diesem Haus, die Zeit, einige Seiten die eine an die andere zu nähen“; denn anscheinend „schulde[t]“ der Dichter diese Seiten. Er verläßt Bühne und Zimmer mit dem verzweifelten Ausruf: „Ha! ha! – Ich verliere viel Zeit! Ans Werk! ans Werk!“ („Ha! ha! – Je perds bien du temps! À l’ouvrage! à l’ouvrage!“, 94) * Wenn die Geschichte der Bibel mit der Konfiszierung des Buchs durch den Quäker als Geschichte der Bibel beendet ist und dennoch weiterläuft, dann weil sie einfließt in die andere Geschichte, die von Beginn an parallel läuft: die Geschichte des Briefes. Es ist die Geschichte des Briefs, der am Abend desselbigen Tages Chatterton töten wird. Während die Bibel, und damit die uneingestandene Liebe zwischen Kitty Bell und Tom Chatterton, beiden Seiten ein Stück Hoffnung, Wärme und Poesie des Lebens bedeutete und deshalb beiden so teuer war – als ein Ding, das die miserablen Leben zweier Unterdrückter, Isolierter, trotzdem lebenswert machte; während die Bibel insofern ein belebendes und lebensbewahrendes Ding war, wird der Brief das Mittel sein, Leben zu nehmen, zu ruinieren.300 So ist in dem Moment, in dem die allerdings verbotene Geschichte einer Bibel und der darin verankerten unschuldigen, doch unehelichen 299
300
––––––––––––––––––– Daß der Schneider die Profession innehatte, die am wenigsten geschätzt wurde, da sie als unwürdig und armselig verrufen war, verdeutlicht vielleicht kein Roman des 19. Jahrhunderts so sehr wie Evan Harrington von George Meredith. Jener Dichter Meredith, der 1855/56 für den Maler Henry Wallis als verblassender siebzehnjähriger Chatterton im ruinierten Intérieur posierte, schrieb 1860 den Roman um einen anderen Siebzehnjährigen, der sich gegen Armut und Ruin auflehnt. Evan ist Sohn eines Schneiders und dennoch in seinem Innern ein Gentleman; er gibt sich als Edelmann aus und bewegt sich erfolgreich in höchsten Kreisen – im ständigen Spiel mit der Ruinierung seines zeitgebundenen Glücks. Die Bibel spendet und bewahrt zwei Leben (auf Zeit) durch die Gabe von Hoffnung – der Brief wird Leben nehmen, indem er alle Hoffnung zerstört: Siehe zur Logik dieses lebensspendenden und verjüngenden oder alternden und mental abtötenden Andenkens auch Hoefer: Die Erfindung des ewigjungen Helden.
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Liebe in die des Briefes umschlägt, alle Hoffnung auf einen guten Ausgang des Dramas im Vorfeld verloren. Dieses Umschlagen von der Konzentration auf die Bibel zur Konzentration auf den Brief erfolgt in der letzten Szene des zweiten Aktes, wiewohl es bereits in der Szene zuvor, in der die Bibel in die Tasche des Quäkers geriet, vorbereitet wurde. Denn in seinem Wahnsinnsauftritt ließ Chatterton nicht nur verlauten, was er im Haus Bell gesucht hatte. Er stieß auch aus, was ihn noch immer da hielt, dem Verlust Kittys zum Trotz: das Warten auf einen Brief. Kitty wird sich in der Folgeszene, in der Chatterton nicht mehr präsent ist, an dieses flüchtige Wort des erwarteten Briefes erinnern. Diese letzte Szene des zweiten Akts dient dem Quäker und Kitty dazu, den Schock durch den Wahnsinnsauftritt Chattertons zu verarbeiten, wobei es derselbe Schock ist, der den zutiefst Bewegten die Zungen löst und sie Dinge bekennen läßt, die sie sich bislang nicht eingestehen wollten. So gibt der Quäker Kitty zu verstehen, daß sie die unschuldig Schuldige an Chattertons Raserei sei, und er, der doch die beiden jungen Leute auseinanderhalten wollte, bekennt Kitty eine Zuneigung des jungen Mannes zu ihr, eine Zuneigung, deren Abweisung oder Bezweifelung durch Kitty Chatterton derart außer sich gebracht habe – und die ihn in Zukunft gänzlich ruinieren könnte. Zwar spricht der Quäker das Wort des „Ruines“ nicht aus; doch erstmals spricht er von der „folie“ (95), dem „Wahnsinn“ des jungen Poeten, der sein innerer Ruin wäre und den der Geistliche als schlimmer erachtet als des Poeten Tod. Dennoch könnte der Tod am Ende aus dem Wahnsinn hervorgehen. Der alte Geistliche betätigt sich nämlich noch einmal als Seelendoktor und diagnostiziert, Kitty warnend, eine „maladie toute morale et presque incurable, et quelquefois contagieuse“ (97) im jungen Patienten; diese „gänzlich moralische und beinahe unheilbare, und zuweilen ansteckende Krankheit“ aber konkretisiert der Quäker als „den Haß auf das Leben und die Liebe zum Tod: es ist der halsstarrige Selbstmord“: „Ce mal, c’est la haine de la vie et l’amour de la mort: c’est l’obstiné Suicide.“ (97) Der Quäker will Kitty zu seiner Komplizin oder „Krankenschwester“ machen, um Chatterton vor dem Selbstmord zu retten: Deshalb sprach er von einer Neigung Chattertons zur jungen Hausfrau und zu der Notwendigkeit, diese zu erwidern; doch deshalb auch verharmloste der gute Mann die Art von Liebe, um die es sich handeln solle. Um Kitty zuletzt von ihrem eigenen, sie noch immer quälenden Zweifel am jungen Mieter restlos zu befreien, öffnet er ihr auf seine Weise die Augen darüber, was Chatterton im Hause Bell gesucht und was er gefunden habe. Sehr wohl gibt der Quäker also zu, daß Kitty der Schatz war, den der Unglückliche fand, ja sogar des Dichters Muse sei Kitty gewesen ‒ denn vielleicht habe Chatterton sich daran gewöhnt, sich an Kittys „Anblick“ und ihrer „mütterlichen Anmut“ zu „inspirieren“ („peut-être [il] s’est habitué à s’inspirer de ta vue et de ta grâce maternelle“, 96). Aber die Betonung der „mütterlichen Anmut“ ist Teil des Kunstgriffs des Quäkers. Wie in einem Gewächshaus, erhitzt von den brennenden Leidenschaften der Poesie, sei Chattertons
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Geist zu schnell gereift, sein Herz aber sei das „cœur naïf d’un enfant“ (96), das „naive Herz eines Kindes“, geblieben. Chatterton habe eine Familie, eine Mutter gesucht, und diese in Kitty und ihren Kindern gefunden. Doch allzu feurig und verräterisch ist die Zweiundzwanzigjährige bereit, dem fast Achtzehnjährigen nichts von der „stillschweigenden und tiefen Sympathie“ („sympathie silencieuse et profonde“, 96) zu entziehen, die dem Dichter weiterhin zu geben der Quäker ihr ans Herz legt. Jetzt, wo Kitty von den klärenden Worten des alten Hausfreundes darüber versichert ist, daß Chatterton nicht als unlauterer Verführer ihre Nähe suchte – jetzt verrät sie selbst sich in ihrer mehr als mütterlichen Liebe, indem sie einen kleinen Frevel gesteht, den sie für Chatterton beging. In ihrem allzu leidenschaftlichen Bestreben, dem jungen Mieter weiter zu dienen, ist Kitty verzweifelt gewillt, dem „Rechenfehler“, um des es nämlich geht, das größere „Verbrechen“ („crime“, 98) einer Lüge folgen zu lassen. Kitty vertat sich bei ihrer Haushaltsabrechnung absichtlich zugunsten Chattertons. Die Geldstücke, die John Bell mit erstem Blick auf die Rechnungssumme vermißte, verwendete Kitty für den armen Poeten. Doch ehe Chatterton sich aus Armut umbringt, ist Kitty bereit, ihm noch mehr Geld zu beschaffen. Auch hält sie dem Quäker impulsiv und hastig alles hin, was sie an Schmuck hat, damit der alte Freund alles für Chatterton verkaufe. Der Quäker nimmt den Schmuck jedoch nicht, den Kitty im darreicht, ihre kopflose und totale Hingabe für Chatterton damit gestisch und gegen ihren eigenen Willen aussprechend. Er faßt ihre Hände, führt sie zusammen und küßt sie, sie anzubeten: „Tes mains! Tes mains! Ma fille, que je les adore. (Il baise ses deux mains réunies.)“ (98). Zu schön ist in dieser Welt der maschinisierten Herzen und der egoistischen Ausbeutung Kittys kopf- und selbstlose Hingabe aus unschuldig-schuldiger Liebe. Und in diesem Augenblick, in dem sie selbst beflügelt und wie außer sich ist in ihrer inneren Bewegung, hat Kitty ihre eigene Inspiration, oder zumindest eine rettende Erinnerung, die eine neue Hoffnungsperspektive eröffnet: KITTY BELL: Mais n’a-t-il pas parlé d’une lettre qu’il aurait écrite à quelqu’un dont il attendrait du secours? LE QUAKER: Ah! c’est vrai! Cela était échappé à mon esprit, mais ton cœur a entendu. Oui, voilà une ancre de miséricorde. Je m’y appuierai avec lui. (98) KITTY BELL: Aber hat er nicht von einem Brief gesprochen, den er jemandem geschrieben hätte und von dem er Hilfe erwartete? DER QUÄKER: Ach! das ist wahr! Das war meinem Geist entgangen, aber Dein Herz hat gehört. Ja, das ist ein Anker der Barmherzigkeit. Ich werde mich mit ihm darauf stützen.
In der Tat muß Kitty Chattertons Bemerkung mit dem Herzen gehört und damit besser oder hoffnungsvoller verstanden haben als es eigentlich aus den Wortfetzen des Dichters zu verstehen war, denn dieser hatte in seiner verletzten Raserei ausgestoßen: „Je vous rendrai votre chambre quand vous voudrez; j’en
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veux une encore plus petite. Pourtant je voulais encore attendre le succès d’une certaine lettre. Mais n’en parlons plus.“ (93) Chatterton sei bereit, jederzeit sein Zimmer zurückzugeben – da er ein „noch kleineres“ wolle. Dabei hätte er noch den Erfolg eines gewissen Briefs abwarten wollen; aber davon wolle er nicht mehr reden. Das waren seine Worte gewesen, denn für ihn, in seinem schwarzen Zustand, war alle Hoffnung verloren gewesen, auch die auf den Brief – der dennoch noch immer zwischen ihm und dem Einzug in das „noch kleinere“ Intérieur, wohl eines Sarges, stehen muß? Kittys Herz hat richtig gehört; da ist noch ein Brief zu erwarten, der eine mögliche Hilfe von unbekannter Hand in sich tragen könnte. So würde der zweite Akt mit einem Schimmer von Hoffnung enden. Schließlich sind Chatterton zwei Menschen gegeben, die ihn verstehen und zu ihm stehen, der Quäker und Kitty Bell; und dann ist da außer Hause noch jene dritte, unbekannte Person im Spiel, deren Brief eine Rettung Chattertons vor seinem materiellen, aber auch vor seinem damit zusammenhängenden moralischen Ruin bedeuten könnte. Sogar der Quäker, der im Verhältnis zu Kitty der bedachtsamere Räsonierer ist, will diesen Brief, auf das sich fortan alles Erwarten konzentrieren muß, als einen „Anker der Barmherzigkeit“ begreifen und an sein Kommen glauben. Trotzdem ist dem Wohlwollen des Quäkers Chatterton gegenüber eine Grenze gesetzt, die er schon einmal im Vorfeld andachte, die er nun aber, am Ende des zweiten Akts, erneut zu hören gibt und zu hören geben will. Denn Kitty kann nicht anders; das Eindringen Talbots und seines insinuierten Worts der Verführung haben sich zu tief in ihrem Intérieur festgesetzt, ganz davon abzulassen; noch einmal bohrt die Beunruhigte in diese Richtung bei dem Quäker nach – der zuletzt, mehr wider Willen, dem blinden Andrängen der jungen Frau nachgibt und ihr das, was sie eigentlich und leidenschaftlich hören und nicht hören will, quasi zugibt. Am Ende korrigiert der Quäker seine Geschichte der „kindlichen“ Neigung Chattertons zur „mütterlichen“ Kitty, wenn er seine gedanklichen Überlegungen laut ausspricht: LE QUAKER: [...] supposer que ce charme d’intimité serait devenu en lui une passions?... Si cela était... KITTY BELL: Oh! ne me dites plus rien... laissez-moi m’enfuir. Elle se sauve en fermant ses oreilles, et il la poursuit de sa voix. LE QUAKER: Si cela était, sur ma foi! j’aimerais mieux le laisser mourir! (99) DER QUÄKER: [...] angenommen, dieser Zauber der Intimität [die Liebe zu einer mütterlichen Kitty] wäre in ihm zur Leidenschaft [der Liebe zur Frau Kitty] geworden?... Wenn dem so wäre... KITTY BELL: Oh! sagen Sie mir nichts mehr... lassen Sie mich fliehen. Sie entflieht, sich die Ohren zuhaltend, und er verfolgt sie mit seiner Stimme. DER QUÄKER: Wenn dem so wäre, bei meinem Glauben! ließe ich ihn lieber sterben!
Mag sein, der erwartete Brief könnte Gutes mit sich bringen; doch wenn Chattertons Rettung von seinen engsten Vertrauten, dem Quäker und Kitty Bell ab-
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hängt, ist er verloren. Kitty will seine Liebe und will sie nicht und versucht vergeblich, vor ihrem inneren Konflikt in ihr einsames Zimmer zu fliehen. Der Quäker aber würde notfalls Chatterton opfern, um nur Kitty vor ihrer Liebe zu ihm zu bewahren.
7 Akt III oder Akt der Phiole und der Spiraltreppe „La chambre de Chatterton, sombre, petite, pauvre, sans feu, un lit misérable et en désordre.“ (100) – Es ist der Beginn des letzten Akts und das Bühnenbild hat sich verändert, es ist wieder ein Intérieur, doch nicht mehr das Geschäfts-Hinterzimmer des Hauses Bell. Es ist „[d]as Zimmer Chattertons, dunkel, klein, arm, ohne Feuer, ein miserables Bett in Unordnung.“ Dieses Zimmer ist aber der Beginn noch eines Dramas noch eines Dinges, das das Gesamtdrama Chatterton auch noch enthält. In Chattertons Zimmer beginnt die Geschichte der Phiole. Am Ende der ersten Szene des Schlußaktes wird sie in Erscheinung treten (weil ein anderes Ding als Trost- und Hoffnungsspender vordem versagte). Doch war die Phiole die ganze Szene über bereits irgendwo da, präsent im Raume – und wird schon seit Beginn des Bühnenstücks in Chattertons verborgenem Intérieur gewartet haben. „Dunkel, klein, arm, ohne Feuer, ein miserables Bett in Unordnung“: Diese Beschreibung von Chattertons Dachbodenkammer unterscheidet sich diametral von der des Wohnraums, in dem sich die bisherige Handlung abspielte. Begonnen damit, daß Vigny das Wohnzimmer der Bells aus seinen porösen Wandöffnungen und Raumschwellen definierte: der Kamin, Kittys Schlafzimmertür, die Glasgittertür zum Geschäft hin, die Wendeltreppe, hinführend zu drei finsteren, engen Türen am Kopfende der Treppe. So erschien das Geschäfts-Hinterzimmer im Ganzen als ein hybrider Raum: ein Durchgangszimmer, als intimer Rückzugsort behauptet, doch nicht zu gebrauchen, vielmehr als Passage unentschlossen zwischen dem Außenraum des Geschäfts und den verhältnismäßig intimeren Schlafräumen oszillierend. Daß dieses Flur-Zimmer zudem, bei aller Ungemütlichkeit und Stickigkeit seiner Atmosphäre, dennoch weitläufig, stattlich und komfortabel sein sollte, ist insofern nur der zweite Unterschied zu Chattertons Zimmer und seiner Beschreibung: Dieses Dachbodenzimmer ist nicht Glasgittertür-licht, sondern „dunkel“, es ist nicht weitläufig, sondern „klein“, es ist nicht stattlich, sondern „arm“; es ist nicht stickig-überheizt, sondern „ohne Feuer“, aber vor allem ist es ein reiner Rückzugsort. Denn hier ist keine Wandöffnung auch nur erwähnt, sondern alle Konzentration auf ein einziges dominantes Einrichtungsstück gelegt: „ein miserables Bett in Unordnung.“ Dieses Zimmer ist eine Höhle, das Lager eines verletzten verwilderten Wesens. Für „sauvage“ (84) hält Lord Talbot den Charakter seines alten Freundes;
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„sauvage“ aber bezeichnet seit Chateaubriands René (1802) und dem Beginn der französischen Vorromantik einen Zustand nicht eigentlich des Wildseins, sondern der romantischen Seelenverwilderung eines unglücklichen Individuums, das sich in seiner Andersartigkeit, d.h. im Exzeß seiner Sensibilität und seiner Leidenschaften, von der Gesellschaft isoliert fühlt. Chatterton ist einerseits auf diese Weise „sauvage“, kein „Wilder“, sondern ein aus lauter Überraffinement seiner Seelenvermögen verwilderter, anderer, isolierter Mensch; andererseits ist er nicht mehr der „alte“ Verwilderte. Seine Seelenverwilderung ist nun eine Seelenruinierung, und so zog der weidwunde, weil von seiner unpoetischen Gesellschaft mißachtete Poet sich nicht wie René in die Wälder Amerikas zurück. Vignys „modernisierter“ Verwilderter behaust ein Intérieur, das korrespondiert mit dem Intérieur seiner Seele. So ist dieses Intérieur des (un)romantisch ruinierten Poeten keine erhaben-melancholische Einsamkeit wie Renés Urwälder Amerikas. Chattertons Intérieur ist nicht erhaben – dafür ist es peinvoll anrührend und romantisierend auf seine Weise: als ein ruiniertes Zimmer. Es ist ein Innenraum, aus dem der seelische, aber zunächst doch der ganz materielle Ruin des (un)poetisch körperlich leidenden Dichters spricht.301 So ist die erste Szene des dritten Aktes dazu gedacht, den Einblick in des Dichters Lebensdilemma, seinen materiellen und seelischen Ruin, zu konkretisieren mit Einblick in des Dichters Zimmer: so daß man diese Szene als verkürztes Resümee des ganzen Stückes erachten kann.302 Dem Charakter des Gesamtstücks gemäß ist es aber, daß Chatterton zwar in den Worten eines Monologs zu sich und seinem Publikum spricht, daß er aber auch zu den Dingen seines Intérieurs spricht, die auf ihre Weise stumm-beredt sind – stumm-beredt wie die Körpersprache des armen Poeten, die seine Worte begleitet und vereindringlicht. So daß zuweilen schwer zu entscheiden ist, welches die aussagekräftigere Sprache wäre und ob nicht vielmehr die Worte des Monologs „nur“ die Begleitung und lautstarke Bekräftigung dieser anderen, stummen Sprache sind, 301
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––––––––––––––––––– Um den Unterschied zwischen dem ersten (vor)romantischen „sauvage“, Chateaubriands René von 1802, und Vignys Chatterton von 1834 noch einmal zu bekräftigen: Chateaubriands hypersensibler, melancholischer und träumerischer René reist nach Amerika und lebt dort als „sauvage parmi les sauvages“ (Chateaubriand: René, S. 150), als „Verwilderter unter den Wilden“, weil ihn das Andenken seiner verbotenen Liebe zur eigenen Schwester aus Gesellschaft und Leben ausschließt. – Vignys Chatterton mag gleichfalls an einer verbotenen Liebe leiden, doch diese stand nicht am Anfang seiner Verwilderung. Chatterton lebt verwildert in seinem Intérieur: untermittelbar unter dem Dach eines Mannes, der exemplarisch die ihn ausschließende Gesellschaft verkörpert. Und es ist der Konflikt zwischen einer materiellen Geldwelt und dem kreativen Menschen, der seinen seelischen, weil zuerst materiellen Ruin begründet. Der unprosaischste Geldaspekt als Urgrund des mentalen Leidens des Protagonisten, sowie die explizite Kritik an einer merkantilen Gesellschaft: dieses zeichnet Vignys Drama aus, dessen Hauptfigur, Inhalt und Botschaft nicht mehr im alten, Renéschen Sinne „romantisch“ ist. „Le monologue de Chatterton situé au début de l’acte III est à lui seul un résumée de la pièce“ (Rey: Préface, S. 13).
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dieser Sprache des Zimmers, seiner Dinge und seines menschlichen Objekts in seinen Gesten und Haltungen? Schon der erste Blick in das Zimmer des Dichters und die Position seines Einwohners darin erzählt eine Geschichte für sich: „Il est assis sur le pied de son lit et écrit sur ses genoux.“ (100) Chatterton sitzt an dem Fußende seines Bettes, dem einzigen Einrichtungsgegenstand, auf den sich die Beschreibung des Intérieurs konzentrierte, und er schreibt „auf seinen Knien“. Es ist das Bild des armen Dichters bei seiner Arbeit – es ist das Bild eines Arbeitszimmers, das so arm ist, daß ihm die tragendste Arbeitsgrundlage mangelt: Es gibt hier keinen Schreibtisch. Sein Bett ist des Dichters Stuhl und Schreibtischgestell zugleich, seine Knie sind ihm seine Schreibtischplatte. So ist dem Poeten sein Lager der Ruhe und des nächtlichen Schlafes zum Platz der Aktivität und Erschöpfung verkehrt: „Tous les hommes ont un lit où il dorment; moi, j’en ai un où je travaille pour de l’argent. (Il porte sa main à sa tête.) (103) „Alle Menschen haben ein Bett, wo sie schlafen; ich habe eines, wo ich arbeite für Geld. (Er führt seine Hand an seinen Kopf.)“ So sieht Chatterton es selbst im Zuge der Szene, die den Dichter in seinem ruhelosen Arbeits-Intérieur zeigt; und wenn er seine Hand an seinen Kopf führt, was eine Geste des Schmerzes ist, so ist dieses eine der Gesten, die auf ihre Weise eindringlicher besagen, daß der Zustand des bettlosen Dichters unnormal ist – daß dieser Dichter „krank“ ist, und „frierend“ und „hungrig“, ein „Chatterton malade“, ein „Chatterton qui a froid, qui a faim“ (100). Es ist ein Chatterton am Rande des materiellen, körperlichen und des mentalen Ruins, den bereits „ein bißchen Delirium“ ergreift („Un peu de délire le prend“, 103); es ist ein Chatterton, der zu sich selbst und halb irre redet – und doch dabei die tiefsten, visionärsten, ihm schmerzlichsten Einblicke macht in das Dilemma des ruinierten, da in seiner Welt überflüssigen Poeten. Dieser vereinsamte Poet hat keinen Schreibtisch, hat nur sein Bett und seine Knie; weil aber das Zimmer auch kein Feuer hat, ist das Bett vielleicht ebenso gut, denn es hat eine Decke, die der Durchfrorene sich in fiebriger Bewegung „über die Schultern werfen“ kann („Il jette sur ses épaules la couverture de son lit“, 102-103). Nur ist diese Decke ungenügend, denn draußen herrscht „dichter Nebel“ („épais brouillard“, 103); er hängt vor dem Dachfenster, der einzigen Wandöffnung des Zimmers, von der an dieser Stelle zwar doch einmal die Rede ist. Jedoch gewährt gerade diese Öffnung keinen Ausblick, keine Perspektive auf das äußere Leben: denn diese starre, reglose Außenwelt, die im dichten, fast körperlich-massiv bedrängenden Nebel konzentriert ist, empfindet der fröstelnde Dichter als „tendu au dehors de ma fenêtre comme un rideau blanc, ou comme un linceul“ (103) – „von außen vor mein Fenster gespannt wie ein weißer Vorhang, oder wie ein Leichentuch“. Die Kälte, an der der sich ruinierende Kopfarbeiter leidet, ist nicht nur die seines armen Zimmers. Es ist die klamme, wabernd-dichte Kälte der Außenwelt, von der man weiß, daß es eine materielle Welt der erkalteten, maschinisierten Herzen ist. Die Atmosphäre dieser kalten, erdrückenden Geldwelt dringt
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noch in das letzte Refugium des „intelligenten Parias“ („Paria intelligent“, 104) ein, als der Chatterton sich selber empfindet, und sie lähmt ihn und hindert ihn an seinem Schreiben um Brot und Leben. Daß er um sein materielles, körperliches, aber auch um sein charakterliches Überleben schreiben muß: eben das hämmert dem Übernächtigten nämlich eine „vieille horloge“ (101) ein, eine alte Erinnerungsuhr, die mit ihm im Intérieur präsent ist und die jede Viertelstunde dumpf anschlägt, die der Poet mit seinen traurigen Gedanken verschwendet, die ihn vom erzwungenen Werken abhalten. Denn für einmal, ihm ungewohnt, wartet Chatterton vergeblich auf die Inspiration, die ihn sonst zuverlässig mitriß. Wieder und wieder kommen seine ungehorsamen Gedanken auf Kitty Bell – und auf das Vermissen des letzten Wärmefunkens, den Chatterton ausgerechnet im Hause John Bells fand und dann, wie er glauben muß, wieder verlor. Dieser befürchtete Verlust ist der Grund für die Trost- und die Inspirationslosigkeit, an der der junge Dichter in seinem Intérieur zum ersten Mal und daher bitterer leidet als an der Kälte und seinem Hunger. Das Leiden um den Verlust des stillschweigenden emotionalen Einvernehmens mit Kitty, dieser wohltuenden unausgesprochenen Zweisamkeit in einer Welt der Isolation, des Egoismus und der Gefühlskälte, schürt in Chatterton das volle Bewußtsein dessen auf, was diese Welt ohne Kitty bedeutet. Das summierte Erleiden seines Dichterlebens drängt auf Chatterton ein, und so vermag er es diesmal nicht mehr, sich selbst und seinem Los in die Selbstvergessenheit des Dichtens zu entfliehen. Chattertons summiertes Lebensleiden, intensiviert durch das neue Erleiden des Verlustes Kittys, stört Chattertons Arbeit, sein Dichten. Eine innere Kälte hat den Poeten ergriffen, die sein poetisches Herz lähmt, wiewohl es von den Schlägen einer alten Uhr getrieben wird. Diese Uhr erinnert Chatterton mehr als alles andere daran, daß er „sein Herz öffnen muß, um es auf einen Verkaufstisch auszulegen“: „Ouvrir son cœur pour le mettre en étalage sur un comptoir! S’il a des blessures, tant mieux! il a plus de prix; tant soit peu mutilé, on l’achète plus cher! (Il se lève.)“ Chatterton weiß, daß es jetzt wie immer so ist, daß der verwundete Zustand seines sich ruinierenden Herzens der daraus resultierenden Dichtung gut tun würde; er weiß, daß das in Dichtung geronnene Herz an Attraktion und Verkaufswert gewinnt, wenn es etwas „verstümmelt“ ist. Es mag den Wert der zu Poesie gewordenen „Herzensrarität“ in dieser Welt der maschinisierten Herzen nur steigern. Chatterton durchschaut nicht zum ersten Mal diesen paradoxen Geschmack seiner gefühlskalten Zeit an kurios gewordenen poetischen Herzdingen – springt dennoch empört auf – und wird sich trotzdem resigniert wieder setzen: Denn gerade jetzt hat er noch weniger Zeit denn je zum Aufbegehren, gerade jetzt muß er Worte produzieren, und nicht nur Worte, sondern ein ganzes Buch: „si demain ce livre n’est pas achevé, je suis perdu.“ (101) Ist das Buch, von dem da die Rede ist, am kommenden Tag nicht vollendet, ist Chatterton „verloren“ – und es fällt das Wort „Gefängnis“ („prison“, 103) –
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womit nur ein Schuldnergefängnis gemeint sein kann. So will Chatterton, doch kann er nicht schreiben als „Harold“ oder „duc Guillaume“ (103), denn mit seinem doppelten Verlust Kitty Bells und seiner Inspiration ist in ihm ein neuer Selbstzweifel aufgekommen, vernichtend für alles bisher Produzierte. Aus diesem Grund fragt Chatterton sich – was wohl Vigny sich in Chattertons Namen fragte: La bataille d’Hastings!... Les vieux Saxons!... Les jeunes Normands!... Me suis-je intéressé à cela? Non. Et pourquoi donc en as-tu parlé? – Quand j’avais tant à dire sur ce que je vois. (Il se lève et marche à grand pas.) Réveiller de froides cendres, quand tout frémit et souffre autour de moi; quand la Vertu appelle à son secours et se meurt à force de pleurer; quand le pâle Travail est dédaigné; quand l’Espérance à perdu son encre; la Foi, son calice; la Charité, ses pauvres enfants; quand la Loi est attachée et corrompue comme une courtisane; lorsque la Terre crie et demande justice au Poète de ceux qui la fouillent sans-cesse pour avoir son or, et lui disent qu’elle peut se passer du Ciel. (103-104) Die Schlacht von Hastings!... Die alten Sachsen!... Die jungen Normannen!... Aber habe ich mich dafür interessiert? Nein. Und warum also hast Du davon gesprochen? – Wo ich so viel zu sagen hatte zu dem, was ich sehe. (Er steht auf und schreitet in weiten Schritten.) Die kalte Asche wiedererwecken, wenn alles um mich herum erzittert und leidet; wenn die Tugend um Hilfe ruft und dahinsiecht kraft ihres Weinens; wenn die blasse Arbeit mißachtet ist; wenn die Hoffnung ihren Anker verlor; der Glaube, seinen Abendmahlskelch; die Barmherzigkeit, ihre armen Kinder; wenn das Gesetz ungläubig und korrumpiert ist wie eine Kurtisane; während die Erde schreit und beim Poeten um Gerechtigkeit verlangt gegen die, die sie ohne Unterlaß durchwühlen, um ihr Gold zu haben, und die ihr sagen, daß sie ohne Himmel auskommt.
Dieses ist das Portrait, das Vignys Chatterton von seiner Welt gibt, die er sieht als eine ungläubige und korrumpierte, verkäufliche und unreine, als eine himmellose und rein materielle Geldwelt. Es ist eine ruinierte und sich unaufhaltsam weiter ruinierende Welt – und dennoch ist der Dichter dazu berufen, sie zumindest versuchsweise wachzurütteln und zu sich zu bringen, und so in ihrem blinden Abfahrtslauf vielleicht noch zu verlangsamen und zu korrigieren? In diesem Augenblick jedenfalls ist Vignys auch von Kitty verlassener Chatterton weidwund und empört genug, sich zu diesem Anschreiben gegen die Welt berufen zu fühlen, anstatt noch einmal die alte Asche seiner mittelalterlichen Dichtungen aufzuschüren. Daß der historische Chatterton seine RowleyWelt als einen imaginären Fluchtort aus seiner Gegenwart erdachte, sie aber auch zugleich als eine satirische Kritik und Verbesserungsanleitung der ruinösen Merkantilwelt unter die Kauflustigen bringen wollte: das ignoriert Vigny, ob aus Absicht, ob aus Unwissenheit (was wahrscheinlicher ist, da der französische Romantiker sich ja nicht gründlich mit dem Gesamtwerk Chattertons befaßte). Das, was schon der historische Chatterton zu seiner ruinösen Merkantilwelt zu sagen gehabt hätte, sagt – so Vignys Inszenierung – erst der Chatterton seines eigenen, Vignys, Dramas. Doch aufschreiben wird dieser modernisierte, offenkun-
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dig sozialkritisch gewordene Chatterton seine poetisch-aufrührerische Anprangerung der ruinierten Geldwelt nicht; denn obwohl er einen Moment lang große Lust verspürt, bei seiner dichterischen Verurteilung der Welt sofort und zwar mit der Verurteilung derer zu beginnen, die ihn als Fälscher des Rowley-Werkes verurteilten – trotzdem schreckt Chatterton vom Schreiben zurück: vor der Satire. „Mais... c’est la satire! tu devient méchant. (Il pleure longtemps avec désolation.) (104) Chatterton „weint lange mit Verzweiflung“, denn „böse“ will er nicht werden. Die Satire ist ihm eine zu „böse“, zu kalte Poesie, sie wäre die Poesie eines erkalteten, verhärteten Herzens. Es wäre die Poesie eines von der Kälte seiner Welt selbst kontaminierten Poeten, und Vignys Chatterton will dieser kontaminierte Poet nicht sein. Da er aber auch keine andere Form weiß, eine „warme“ Kampfschrift-Poesie zu verfassen (ein „Drame de la Pensée“ fällt ihm, im Gegensatz zu Vigny, eben nicht ein), kann er nicht arbeiten und keinen Trost oder flüchtiges Selbstvergessen in seinem Dichten finden. So zerreißt er seine mittelalterlichen Poesien, die schon in Worte gefaßt waren als Teile des Buchs, das es bis morgen zu schreiben gilt („Il déchire le manuscrit en parlant“, 103). Konfrontiert mit diesem erbarmungslos „weißen Papier“ („ce papier blanc“, 104), das noch vor ihm liegt und das nun, wo das bereits geschwärzt gewesene Papier zerrissen ist, nicht weniger erschreckend und lähmend wirkt (es läßt auch den lähmenden weißen Leichentuch-Vorhang des Nebels vor dem Fenster wiederandenken) – zurückschreckend von diesem allzu weißen Papier, suchen die Hände, die sich dem Schreiben verweigern, Rückhalt an einem anderen, tröstlicheren Ding: Es ist eine Tabaksdose. Die Tabaksdose ist ein Andenken an den verstorbenen Vater. Doch aus diesem Grund gibt es weniger Rückhalt und Trost als erneute Seelenmisere. Die Dose erinnert daran, daß sie das letzte Wrackgut ist, das aus dem Ruin des Vaters auf seinen Sohn kam; eine Negativstelle an der Stirn des väterlichen Gesichtsbilds auf dem Deckel des Behältnisses erinnert daran, daß Chatterton den hier angebrachten Diamanten verkaufte und daß der Erlös längst verbraucht ist. Außerdem erinnert die Tabaksdose auf ihre Weise erst recht mahnend daran, daß mit ihr noch eine andere teure Bürde vom Vater auf den Sohn gekommen ist: der Name Chatterton. Der Name aber, das heißt auch: der Stolz, die Ehre. Chatterton muß die blanken Seiten vor ihm schwärzen, sonst droht ihm das Gefängnis („prison“, 104). Zum zweiten Mal taucht das Wort, zum zweiten Mal taucht die Erinnerung an das Schuldnergefängnis auf, denn die Drohung dieser Ruinierung des Namens, des Stolzes und des Ehrgefühls – die alles sind, was Chatterton jetzt noch hat, – wird vom Vaterandenken der Tabaksdose schmerzlich pointiert. So gibt dieses Andenken doch keinen Trost und keinen Rückhalt. Es erhöht den inneren Druck auf den Dichter und vermehrt die Lähmung seiner Inspiration. Weil Chatterton dem Vaterandenken verzweifelt schwört, den Namen Chatterton nicht zu entehren, kann er weniger arbeiten denn je; weil er weniger
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arbeiten kann denn je, muß er nur verzweifelter das Andenken seines Vaters, seinen einzigen Besitz, Stolz, seinen Willen, nicht sein Ehrgefühl zu ruinieren, beschwören. Die weißen Seiten füllen sich davon nicht; und so halten Chattertons Hände plötzlich ein anderes Ding. Es ist ein Fläschchen, eine Phiole. Chatterton begrüßt seinen letzten Trost- und Motivationsspender mit den Worten: „Tenez, tenez, voilà de l’opium! Si j’ai par trop faim... je ne mangerai pas, je boirai. (Il fond an larme sur la tabatière où est le portrait.)“ (105) In Tränen aufgelöst über der Tabaksdose mit dem Portrait seines ruinierten Vaters, die Opiumphiole sicher in der Hand, denkt Chatterton, der ohnehin nichts zu essen hat, an das Trinken, und Sterben. * Der Fortgang des Dramas bis zu seinem Schluß ist von Vigny nicht kurz erzählt, der dritte Akt allein macht beinahe die Hälfte von Chatterton aus. Doch wirkt dieser letzte Akt kürzer, kurzweiliger aufgrund seiner Verkettung schnell wechselnder, knapper, bewegter Szenen. Die Handlung des Stückes, deren Erwartung von Beginn an geschürt wurde (was über weite Strecken des Dramas seine „Handlung“ war) läuft allmählich zielstrebiger auf ihr Kulminieren zu. Die wachsende Spannung geht konkret darauf zurück, daß immer mehr Versprechen in der Luft hängen, immer mehr Pakte gemacht oder aufgedeckt werden, immer mehr alte und neue Rechnungen offen stehen. Der Druck auf die Hauptfiguren, die derart belastet sind, wächst. Ein zeitliches Ende dieses Drucks, das Eintreten konkreter Konsequenzen aus dem Einhalten oder Brechen der gemachten Pakte, ist abzusehen. Diese zeitlichen Endpunkte, auf die die jeweiligen Countdowns zulaufen, treffen sich dabei in einem Moment und einem Wort: „morgen“. „Morgen“ soll Kitty ihr Schweigen brechen, ihrem Mann den Rechenfehler erklären, auf dessen Kosten fünf bis sechs verlorene Guineas gingen. „Morgen“ muß Chatterton das Buch vorlegen, das er schuldet, sonst erwartet ihn das Gefängnis. Doch jetzt, wo Chatterton nicht arbeiten kann, denkt er an das Trinken von Opium. (Denn an einem Übermaß an reinem traumspendenden Opium, ungetrübt durch das „Rattengift“ Arsen, wird Vignys ruinierter Poet, anders als Thomas Chatterton 1770, sterben.) Und der Quäker, dessen schwere Schritte auf der Treppe draußen der junge Dichter nun hören naht, weiß noch nicht, daß er nur bis „morgen“ Zeit hat, einem Verzweifelten ins Gewissen zu reden. Doch den armen Poeten und wenn doch nicht ihn, so zumindest Kitty Bell zu retten: das ist der Pakt, den der Quäker mit sich selber abschloß. Daher kommt es, daß er Chattertons Intérieur betritt – die Phiole sieht, aus deren Dasein Chatterton auch gar keinen Hehl macht – und es entwickelt sich daraus ein merkwürdig philosophischer Dialog über die Vor- und Nachteile des Selbstmords. Allerdings ist es so, daß der Quäker wie gegen Windmühlenräder kämpft, denn jeder Gedanke des jungen Mannes will wieder auf den „vernünftigen“ Selbstmord hinaus als auf den konsequenten Weg des Poeten, die Welt, in der
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er überflüssig ist, zu verlassen. Chattertons Argumente sind dabei so gut, daß es dem Quäker mit keinem Lockmittel gelingt, sein Interesse am Leben wiederzuerwecken. Bei der Erinnerung an den Ruhm, den Namen, flackert nur kurz etwas in Chatterton wieder auf; so versucht der Quäker es mit einer Anfrage nach dem Ding, von dem er glaubt, es könne dem Dichter Hilfe von außen bringen: Der Alte fragt Chatterton nach dem Brief, von dem der junge Mann kürzlich gesprochen habe? Chatterton gibt zu, daß er einen Brief an Lord Beckford, Bürgermeister von London und ein alter Freund seines Vaters, geschrieben habe und eine Antwort auf seine Bitte um Protektion erwarte. Doch anstatt Hoffnung und Lebenslust in ihm zu schüren, stürzt die Erinnerung an diesen Brief den Poeten nur tiefer in seine Krise. Denn dieser Gedanke des Briefes erinnert noch einmal den Schmerz der Selbsterniedrigung, den das Verfassen der Bittschrift kostete, das war nämlich der Urgrund von Chattertons morgendlichen Tränen. Und so inspiriert dieser wiedererinnerte Schmerz der Selbstdegradierung Chatterton zu einer nur noch klareren Vision seiner Position des Dichters in einer ihm feindlichen Welt. Es ist die Vision des martyrisierten, des christusähnlichen kreativen Menschen: „Les hommes d’imagination sont éternellement crucifiés, le sarcasme et la misère sont les clous de leurs croix. Pourquoi voulezvous qu’un autre soit enfoncé dans ma chair: le remords de s’être inutilement abaissé?“ (108) „Die Menschen der Imagination sind auf ewig gekreuzigt, der Sarkasmus und das Elend sind die Nägel ihrer Kreuze. Warum wollen Sie, daß ein anderer in mein Fleisch gebohrt sei: die Reue darüber, sich umsonst erniedrigt zu haben?“ Von Beckford erhofft Chatterton – der sich als bereits hingerichteter Märtyrer empfindet – nichts mehr; nicht mehr in seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung, die infolge des Verlustes des Lichtschimmers Kitty bereits mehr als halbruiniert ist. Und der Quäker sieht diesen letzten Urgrund für die desolate Verfassung seines Gegenübers auch, wenn er zuletzt zu einem Verzweiflungsschlag ausholt. Er geht ein hohes Risiko ein, wenn er diese Karte setzt, und er weiß es. Diese Karte kann alles gewinnen oder alles definitiv ruinieren: Die Karte ist nichts anderes als der Name Kitty Bells. Wenn der Quäker diesen Namen ins Spiel bringt, dann tut er es tatsächlich, um Chatterton die Liebe der jungen Frau zu ihm, dem Dichter, zu verraten. Aber nicht etwa, um dem jungen Mann Hoffnung auf eine Erfüllung dieser unsagbaren und dennoch vom Quäker gesagten Liebe zu machen. Doch Kitty würde sterben, stürbe Chatterton – deshalb droht der Quäker Chatterton mit der Schuld, nicht ein, sondern zwei Leben mit seinem Selbstmord zu nehmen. Der Quäker verlangt von Chatterton, Kitty zuliebe auf den Tod zu verzichten. Machte er Kitty damit zur letzten Spielkarte, zum letzten Instrument seines Versuchs, Chatterton zu retten – soll die Erinnerung Kittys aber umgekehrt das unberechenbare Subjekt Chatterton zum freiwilligen Objekt eines Selbstopfers machen. Denn es ist nicht falsch, diese vom Quäker verlangte „Objektwerdung“ Chattertons zu behaupten. In der Tat fordert der alte den jungen Mann,
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der nicht mehr weiß, was er tun und was er nicht tun soll, dazu auf, sich nicht viel anders zu verhalten als ein stumm-beredtes Ding: „Il faut vivre, te taire et prier Dieu!“ (109) – „Du mußt leben, schweigen und zu Gott beten!“ * Das Bühnenbild ist wieder das alte: das Geschäfts-Hinterzimmer des Hauses Bell. Dies ist der Ort von drei kleinen Intrigen, die sich zwischen dem Quäker und Kitty Bell abspielen, aber natürlich ist auch Chatterton im Spiel. Die Intrige des Quäkers besteht darin, Kitty konsequent als Mitretterin Chattertons zu behandeln und auf diese Weise von der Richtigkeit der Rettungsmaßnahmen zu überzeugen, die er selbst für angemessen hält und von denen er weiß, daß sie Kittys innerlichen Neigungen widersprechen. So will der Quäker, der optimistisch auf akute Hilfe durch den erwarteten Brief Beckfords hofft, sodann den Dichter stufenweise in die Welt zurück integrieren. Dazu müsse der junge Mann aber bald an den Gedanken gewöhnt werden, in ein anderes Haus zu ziehen. Kitty, die die Notwendigkeit der Entfernung Chattertons aus ihrem Haus gewiß nicht eingestehen will, gesteht in ihrer unverfälscht-kindlichen Naivität vielmehr, ohne es wirklich zu wollen, eine eigene kleine Intrige. Zu Beginn der Szene hörte man sie ihre Kinder dazu auffordern, dem brotlosen Mieter „alle ihre“, der Kinder, „Früchte“ in einem großen Korb zu bringen, natürlich den Namen der Mutter als Geberin verschweigend, und leise: „Portez-lui tous vos fruits. – Ne dites pas que je vous envoie, et montez sans faire de bruits.“ (110). Dem Quäker gegenüber wird Kitty nun flunkernd behaupten, ihre Kinder selbst hätten dem verhungernden Dichter unbedingt ihr Obst bringen wollen, und mit bezaubernder Unschuld schließt sie: „Est-ce un grand crime à moi, mon ami? en est-ce un à mes enfants?“ (111) Die Pointe dieser zweiteiligen Frage ist die subtile Doppeldeutigkeit der naiven Worte, die ein halbes Zugeständnis Kittys sind, daß sie sich vom Quäker durchschaut weiß. Das kleine Wörtchen „à“, das dem „Verbrechen“ der Obstgabe seine Täter ‒ oder seine Täterin ‒ zuordnet, könnte auf zweifache Weise übersetzt werden. Es kann ein Verbrechen „von“ oder „an“ der genannten Person oder den genannten Personen sein. Besonders bezüglich des zweiten Teiles der Frage ist diese Doppeldeutung relevant, denn den ersten kann man wohl eindeutig übersetzen mit: „Ist es“, bzw. sie, die von den Kindern vermittelte Obstgabe, „ein großes Verbrechen von mir?“ Doch dann kann Kitty weiterfragen: „ist es eines von meinen Kindern“ – oder „ist es eines an meinen Kindern?“ – Die Mutter, die hier spricht, läßt einem jungen Mann keinen Apfel, sondern einen ganzen Obstkorb zukommen: indem sie ihre Kinder als Boten benutzt und instrumentalisiert zu ihrer barmherzigen Tat, und es ist nicht ihr Mann, dem sie die so vielsagende wie obendrein unsinnige Gabe zukommen läßt. Der Dichter hat kein Brot – wird das Obst ihn nähren? Keine Frage: aus der Perspektive ihrer materiellen Geldgesellschaft ist Kitty schuldig, und zwar doppelt schuldig: schuldig der Untreue zu ihrem „Besitzer“
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John Bell, zudem schuldig einer irrationalen und ineffektiven, weil herzgeleiteten Handlungsweise. Aus diesem Grund aber muß der Quäker Kitty einmal mehr ihre kleine und feine Torheit verzeihen und halb freiwillig zum Opfer ihrer nächsten unschuldig-schuldigen Intrige werden. Kitty dankt dem alten Freund für seine gute Ermahnung des Vormittages, man dürfe armen Menschen ihre Gaben nicht zurückgeben, um sie nicht zu demütigen. So habe der Quäker sicherlich die Bibel, die er einsteckte, noch behalten? – Tatsächlich ist es so, und der Quäker weiß, worauf Kittys Frage hinauswill. Es war ein vorschneller Irrtum anzunehmen, einmal konfisziert, sei die Bibel aus dem Spiel. Der alte Mann ist zu sehr eingenommen von der jungen Frau, die in ihrer inneren Unschuld und Gefühlsreichheit nicht von ihrem äußeren Elend korrumpiert, nicht von der Zeitkrankheit der maschinisierten Herzen infiziert ist. Und er gibt ihrem impliziten Wünschen nach und reicht ihr, langsam, sie warten und seine Worte hören lassend, die Bibel hin: „LE QUAKER lui donnent sa Bible lentement, en la lui faisant attendre: Tiens, mon enfant, comme c’est moi qui te la donne, tu peux la garder.“ (112) Da sie aus seinen Hände komme, dürfe Kitty die Bibel behalten – und das wird sie tun, bis zum Ende. * Lord Talbot taucht wieder auf. Doch eine merkwürdige Wandlung ist mit ihm vorgegangen, und der Mann, der im zweiten Akt Kitty und Chatterton mit verheerenden Folgen quälte, betritt das Haus nun als einer, der Chatterton ehrlich wohltun will. Vier Gründe hat er für seine Verwandlung anzugeben. Erstens ist der junge Lord gelangweilt davon zuzusehen, wie seine adeligen Freunde im Versuch, ihn zu hofieren, sich ruinieren. Zweitens spürt er wohl, daß er etwas in diesem Haus wiedergutzumachen hat: Talbot hat doch noch ein Gewissen. Drittens findet er sich schockiert darüber aufgeklärt, daß er sich irrte. Chattertons Herzensbuch, sein verkanntes Reliquiar, das Talbot für so berühmt und beliebt hielt, weiß er nun attackiert als vorgebliche Altertums-Fälschung, und auch daß Chatterton keinen materiellen Gewinn aus seinem Werk erzielte, ist Talbot mittlerweile bekannt. Am dringlichsten alarmierte ihn aber eine weitere Information, die ihm zu Ohren kam und die Talbot bewog, Chatterton sofort zur Hilfe zu eilen. So unerhört ist diese weitere „Dinggeschichte“, von Chattertons Leiche, daß der Lord selbst sie nur atemlos, nur wie unter der Hand, wiederholen kann. Doch diese unsagbare Geschichte, die Talbot dennoch dem Quäker und dem Ehepaar Bell zuflüstert, ist diese. Chatterton hat Schulden bei seinem letzten Vermieter. Dieser Mann droht dem Dichter mit dem Gefängnis, sollte er bis Ablauf einer gesetzten Frist nicht für sein altes Zimmer, seinen alten Platz auf der Welt, bezahlt haben. Chatterton selbst unterschrieb den Vertrag, der die Frist beschloß und der, wie man weiß, am kommenden Tag auslaufen wird. Ehe Chatterton seinen Namen unter das Schriftstück setzte, fügte er jedoch noch einen Satz hinzu: Sollte er vor Ablauf der Frist sterben, wolle er seinen Körper an die chirurgische Schule verkaufen, um von dem Erlös seine Schulden postum zu erstatten.
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Chatterton verpfändete seine Leiche. Freilich, er hoffte auf die Fertigstellung eines zweiten Buchs, um mit dessen Erlös seine Schulden zu bezahlen und der Degradierung des Schuldnergefängnisses zu entgehen. Doch sollte es mit dem Buch nichts werden, so hatte Chatterton vorgesorgt: um wenn nicht mit dem Erguß seiner immateriellen Dichterseele, so eben mit der nackten Materie seines sezierbaren Körpers den Ort zu bezahlen, an dem er vordem sein zum Leben ungenügendes Dichten betrieb. Seine Selbstmordgedanken, die Präsenz der Phiole im Dachboden-Intérieur werden nachträglich begründet, plausibler, ja rationaler gemacht. Die Phiole ist nicht Ding eines halb wahnsinnigen, bereits ruinierten Geistes, der sich kopflos umbringen will. Es ist eine ganz mathematische, wirtschaftliche, korrekte Berechnung, die dem Dasein der Phiole zugrunde liegt. – Und schließlich stellt die Phiole nur Chattertons allerletzten Notausgang dar, noch ist der Dichter nicht unbedingt verloren. Nun geht Kitty nämlich förmlich über sich selber hinaus und spricht in Anwesenheit ihres tyrannischen und eifersüchtigen Gatten den Mann an, der ihr kürzlich zu nahe trat. Kitty spricht Lord Talbot an und bittet ihn, sich bei Lord Beckford, der ein entfernter Verwandter Talbots ist, für Chatterton einzusetzen. Der Vorschlag ist praktisch, die Sache machbar. Unverzüglich gibt Talbot sein Wort, sich für den alten Studienfreund zu verwenden, wie Kitty es vorschlug, während John Bell, erschüttert über den unerwarteten Einsatz seiner Frau für einen anderen als ihn, ihr unverzüglich jegliches künftige Wort an Chatterton verbietet. * Es kommt zu einer seltsamen Szene. Chatterton kommt, freiwillig, einen Stapel Papiere in der Hand, die Treppe hinunter zu den anderen. Talbot ist noch da und begrüßt die Begegnung. Doch die ganze Szene hindurch blickt Chatterton auf niemand anderen als Kitty. Während sein Auge auf ihr ruht, gibt er die von ihm erbetenen Antworten – gibt sie vielleicht allzu gern und dabei ohne jegliche Überzeugung oder Anteilnahme. Wie zu einem Automaten reduziert spricht und agiert Chatterton, apathisch, gleichgültig, wenn er zunächst seine Mietschulden zugibt und auch zugibt, daß er nicht bezahlen kann: weil seine Inspiration nicht in der Lage war, sich an die Frist des Schuldenvertrages zu halten. Doch er selbst habe seine unsterbliche Seele wie stundenweise verkauft, sei also fraglos am aktuellen Notstand schuld; aber nun sei ja alles vorbei, er nämlich von dieser „Krankheit des Gehirns“ („maladie de cerveau“, 117) „geheilt“ („guéri“, 117), wie er nun die Poesie nennt. Erläuterungen zu dieser mysteriösen Heilung von der Poesie gibt Chatterton nicht, nimmt es aber hin, daß Talbot ihm seine Hilfe in Sachen Beckford verspricht. Doch dieser Einsatz wird sich als unnötig herausstellen, denn Beckford kommt selbst. * Lord Beckford, der Bürgermeister von London, kommt, mit großem Pomp und Aufgebot, in das Hause John Bells, um darin Chatterton zu suchen. Kitty küßt
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ihre Kinder im Überschwang ihres Glücksgefühls mit derart „hingebungsvoller Leidenschaft“ („avec transport“, 119), daß ihr Liebesakt sich als der „Kuß der Geliebten“ („baiser d’amante“, 119) verrät, als der er gemeint ist und als der zumindest der Quäker ihn für sich bezeichnet. In der Tat hat Beckford die von ihm erhoffte Gabe in der Tasche, diesen einen Tag lang erwarteten Brief. Was der Brief enthält? Das verrät Beckford jetzt schon, mündlich: ein Gehalt von einhundert Pfund im Jahr. Und Chatterton nimmt es an. Chatterton nimmt es an für Kitty; das ist sein Selbstopfer an sie, denn er muß leben, um Kitty nicht zu töten. Ein Opfer ist die Annahme dieses verbrieften Gehalts aber deshalb, weil Chatterton weiß, daß nicht der Dichter Chatterton die jährlichen einhundert Pfund erhält. Um diesen Sachverhalt klarzustellen und Chatterton von seinen „Dummheiten“ zu kurieren, ist Beckford gekommen. Tatsächlich ist die Rede des selbst-, geld- und machtverliebten Bürgermeisters eine andauernde Folter des Poeten, der den Erhalt seines Briefes mit dem Hinnehmen einer unaufhörlichen Demütigung teuerst erkauft. So profaniert Beckford zunächst die Muse ganz allgemein, indem er sie zur „maîtresse“ (121) degradiert: Man dürfe sie im Leben haben, ja jeder könne sie im Leben haben, aber nicht als Ehefrau. Die Liebelei zur Poesie als Zeitvertreib, für jeden, der sich an ihr belustigen will – als Ehefrau jedoch eine Profession mit Mitgift und Gewinn: diese Vergewaltigung seiner heiligen Muse muß Chatterton desto schwerer erträglich sein, als er kein Wort dagegen sagen darf, denn das Schweigen wird hier von ihm erwartet. Noch hält der arme Dichter den Brief nicht in den Händen, den zu erhalten er anscheinend nichts weiter tun muß als das: duldsam schweigen ‒ bis Beckford ihn doch zum Reden auffordert. Der Bürgermeister will von dem Dichter wissen: was seiner, Chattertons, Ansicht nach denn der Poet überhaupt tauge, was er wert sein solle? Und wie Chatterton vordem für Kitty schwieg, wird er nun für Kitty reden. Er wird die unverfrorene Frage, die die absoluteste, intimste Kränkung des Dichters bedeutet, beantworten – mit einem poetischen Bild. Er sieht in seiner Welt, die er „England“ nennt, keine Maschine, sondern einen Schiffskörper, im Intérieur des Schiffes aber die Hände aller Menschen zusammenspielen, so daß jede ihre noch so kleinste Aufgabe, ihren noch so kleinsten Platz hat, und alle sind für das Manövrieren des Schiffs unabdingbar. Lord Beckford gefällt diese Antwort, obwohl er sie als „schon wieder Poesie“ („encore de la Poésie“, 122) zugleich verhöhnt; doch will er nun erst recht wissen: wo zum Teufel auf diesem Schiff der regen Hände der Platz des Dichters sei? Ein Moment des Schweigens („moment d’attente“, 122) eröffnet die schlicht ergreifende Antwort: „Il lit dans les astres la route que nous montre le doigt du Seigneur.“ (122) (Abb. 10) „Er liest in den Gestirnen den Weg, den der Finger Gottes uns zeigt.“ Obwohl Talbot den poetischen „i-Tupfen“ eines poetischen Bildes in das prosaische Wort des „nicht unnützen Steuermanns“ übersetzt („Le pilote n’est pas in-
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utile“, 122), kann Beckford dem nicht mehr folgen. So tituliert er die Imagination als Wahnsinn, den Dichter als „gut zu gar nichts“ („bon à rien“, 122), und zum Beweis verweist er dunkel auf eine Aufdeckung gewisser „kleiner Manuskript-Winkelzüge“ („petites ruses de manuscrit“, 122), winkt Chatterton auch vielsagend mit einer Zeitung zu, die er dabei hat. Er wird sie Chatterton geben – und trotz allem, aufgrund seiner eigenen, Beckfords, betonter Großmütigkeit, doch auch den Brief, der einhundert jährliche Pfund bedeutet. * Chatterton erwartet nicht die Gabe einer Einstellung als Dichter von Beckford. Er weiß nicht, was er im Brief des Geldmanns erwarten soll, denkt flüchtig an das Angebot einer Tätigkeit als „commis“ (124), „Verkäufer“ oder „Buchhalter“? So ist es Zeit, den Brief zu öffnen; denn alle sind gegangen, um die selbstherrliche Großmut Lord Beckfords mit ihm zu feiern; nur Chatterton bat sich einen Moment des Zurückbleibens in Einsamkeit aus. Ehe er den Brief öffnet, der ihm verkünden soll, welche Funktion im Leben er für einhundert Pfund pro Jahr einnehmen soll, öffnet er die Zeitung, die Beckfords zweite Gabe an ihn war. Er liest seine Verurteilung, nicht als Fälscher mittelalterlicher Dichtung, sondern als Betrüger: Chatterton sei nicht der Autor seiner Werke, die in Wahrheit tatsächlich der mittelalterliche Mönch Rowley übersetzt habe nach einem älteren Mönch Turgot. Der „Betrug“ („imposture“, 125) sei von einem Schüler herrührend verzeihlich, später, von einem Älteren herkommend, wäre er kriminell gewesen. Chatterton öffnet den Brief des Mannes, der ihn für einen unfähig-schülerhaften oder kriminellen Betrüger hält und ihm trotzdem einhundert jährliche Pfund anbietet – für die Stelle eines „valet de chambre“ (125), eines Hausdieners, eines Lakaien im Hause Beckford. Das ist zuviel. Alles, was Chatterton im Leben noch hat, ist seine Würde, sein Stolz, sein Name. Dieses alles wäre von dem Brief und dem Lakaiendienst, den das Schriftstück bedeutet, zerstört. Chatterton bereut es, seine Dichterseele ein zweites Mal, nun für diesen Brief, verkauft zu haben und nicht stundenweise, sondern lebenslang. Er kauft seine Seele zurück, indem er die Phiole vorzieht und trinkt. Da das Opium nicht sofort tödlich wirkt, hat der Dichter die Zeit, seine Selbstzerstörung zur Befreiung des Selbst von allen irdischen Mißbräuchen auf eine zweite Weise zu begehen: Im großen, sonst mit Erdkohle heizenden Kamin des Geschäfts-Hinterzimmers verbrennt er die gesammelten Manuskripte, die er zu diesem Zwecke aus seinem Intérieur mit sich hinunternahm.303
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––––––––––––––––––– In gewisser Hinsicht tut Vigny dem historischen Bürgermeister von London Beckford, den es wirklich gegeben hat, Unrecht mit seiner erfundenen Version der Figur. Es ist zwar richtig, daß auch der historische Beckford nicht unmaßgeblich zum Ruin Thomas Chattertons beitrug. Doch tat Beckford es „versehentlich“: Er, den Chatterton erfolgreich als potentiellen künftigen Förderer umworben hatte, verstarb 1770, noch ohne etwas für den Jungpoeten getan zu haben. Chattertons Reaktion auf die Nachricht des Todes Beckfords beschreibt
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* Kitty Bell findet Chatterton, sich selbst in seinem Werk zerreißend und verbrennend. Es kommt zum ersten und letzten Dialog zwischen den beiden, dessen Ursache Chatterton selbst erst nahe dem Ende Kitty gesteht: „c’est un homme mort qui vous parle.“ (130) Es ist ein toter Mann, der zu Kitty spricht, denn das Opium ist genommen. Doch weil Chatterton ein so gut wie toter Mann ist, nimmt er sich das Recht zu reden. So ist es eine Szene, in der ein coup de théatre auf den anderen folgt, in der, nach anfänglichem Zögern, ein lange zurückgehaltenes Seelengeständnis das andere ablöst und noch übertrifft und der großen Wahrheit allmählich näher kommt, die so lange zu verschweigen gewesen war und bald wieder verstummt sein wird auf immer. Kitty solle ihn vergessen, solle ihre Kinder lieben und für sie leben – so Chattertons erste seltsame Bitte, noch ohne aufklärende Begründung und sogleich sekundiert von der zweiten, beharrlich wiederholten Aufforderung, mit der Chatterton selbst einer Aussprache noch im Wege stehen will: Kitty solle gehen. Sie solle ihn allein lassen. Chatterton will nicht, daß Kitty seinen Tod sieht, doch Kitty läßt sich nicht zum Gehen bewegen, und so ist sie es, die mit ihrer hartnäckigen Präsenz den Widerwilligen zum Reden bringt. Immer unumwundener, immer unhöflicher hat Chatterton Kitty das Gehen befohlen, immer weniger war Kitty dazu zu bewegen, es zu tun, so daß der Schlagabtausch plötzlich in einen „gehaltvolleren“ Dialog abgleitet und in diesem Geständnis kulminiert: CHATTERTON: Venez-vous pour ma punition? Quel mauvais génie vous envoie? KITTY BELL: Une épouvante inexplicable. CHATTERTON: Vous serez plus épouvanter si vous restez. KITTY BELL: Avez-vous de mauvais desseins, grand Dieu? CHATTERTON: Ne vous en ai-je pas dit assez? Comment êtes vous là? KITTY BELL: Eh! comment n’y serais-je plus? CHATTERTON: Parce que je vous aime, Kitty. KITTY BELL: Ah! monsieur, si vous me le dites, c’est que vous voulez mourir. (129) CHATTERTON: Kommen Sie, um mich zu bestrafen? Welch schlechter Genius schickt Sie? KITTY BELL: Ein unerklärliches Entsetzen. CHATTERTON: Sie werden entsetzter sein, wenn Sie bleiben. KITTY BELL: Haben Sie schlechte Absichten, großer Gott? CHATTERTON: Habe ich Ihnen nicht genug gesagt? Wie kommt es, daß Sie da sind? KITTY BELL: Und wie sollte ich nicht mehr da sein? CHATTERTON: Weil ich Sie liebe, Kitty. ––––––––––––––––––– Gregory als heftig: „When Beckford died, he is said to have been almost frantic, and to have exclaimed, that he was ruined.“ (Gregory: The Life of Chatterton, S. lxi.)
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KITTY BELL: Ach! mein Herr, wenn Sie es mir sagen, dann wollen Sie sterben.
Es ist heraus, Chattertons Wort, das Kitty seine Liebe gesteht. Und Kitty hat sofort begriffen, daß nur ein sterben wollender Chatterton ihr dieses Wort sagen kann – und trotzdem unterschätzt sie den Poeten noch, denn kein sterben wollender, nur ein sterben werdender Chatterton konnte sagen, was sie hörte. Doch ist es nur der erste Klimax des Schwanengesangs einer Liebe gewesen, die sich vor dem Tod stehend weiß, und dem Ringen Kittys um Beweggründe, Chatterton in das Leben zurückzurufen, das sie noch von seinem Willen abhängig glaubt, entspringt dieses zweite, dann dritte einschlagende Wort: KITTY BELL: Et moi! Je vous prie pour moi-même. Cela me tuera. CHATTERTON: Je vous ai avertie! Il n’est plus le temps. KITTY BELL: Et si je vous aime, moi! CHATTERTON: Je l’ai vu, et c’est pour cela que j’ai bien fait de mourir; c’est pour cela que Dieu peut me pardonner. KITTY BELL: Qu’avez-vous donc fait? CHATTERTON: Il n’est plus temps, Kitty; c’est un homme mort qui vous parle. (130) KITTY BELL: Und ich! Ich bitte Sie für mich selbst. Es wird mich umbringen. CHATTERTON: Ich habe Sie gewarnt! Es ist keine Zeit mehr. KITTY BELL: Und wenn ich Sie liebte, ich! CHATTERTON: Ich habe es gesehen, und aus diesem Grund habe ich gut daran getan zu sterben; dafür kann Gott mir verzeihen. KITTY BELL: Was haben Sie nur gemacht? CHATTERTON: Es ist keine Zeit mehr, Kitty; es ist ein toter Mann, der zu Ihnen spricht.
Weil Kitty aber noch immer nicht geht und noch weniger gehen kann, niedergesunken auf ihre Knie; weil sie gar, auf Chattertons nochmalige Aufforderung zu gehen, gänzlich in sich zusammenbricht – an diesem Punkt muß Chatterton sich geschlagen sehen und Kitty nachgeben. So gibt er an erst jetzt die Intimität der Annäherung zu, die damit geschieht, daß er zum ersten und letzten Mal die junge Frau als ein „Du“ anspricht, und sie berührt: CHATTERTON: Eh bien donc! prie pour moi sur la terre et dans le ciel. Il la baise au front et remonte l’escalier en chancelant; il ouvre sa porte et tombe dans sa chambre. (130) CHATTERTON: Nun denn also! bete für mich auf Erden und im Himmel. Er küßt sie auf die Stirn und steigt wankend die Treppe hinauf; er öffnet seine Tür und fällt in sein Zimmer.
In diesem Augenblick findet Kitty auf dem Boden die Phiole – und damit das sich manifest aufdrängende Bewußtsein dessen, was da vor sich geht: „KITTY BELL: Ah! – Grand Dieu! (Elle trouve la fiole.) Qu’est-ce que cela? – Mon Dieu! Pardonnez-lui.“ (130-131) – „KITTY BELL: Ach! – Großer Gott! (Sie findet die Phiole.) Was ist das? – Mein Gott! Verzeiht ihm.“
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* Es ist noch nicht die letzte Szene gewesen. Das Ende der letzten Geschichte, die auch die erste dieses Dramas der verwobenen Dinggeschichten war, steht noch aus: Es kommt nun zum Ende der Geschichte der Bibel. Doch vordem ist es auch die Geschichte der Wendeltreppe und der wahrscheinlich sensationellsten dramatischen Inszenierung eines seelischen und daher auch körperlichen Ruins, der je auf die Bühne gebracht wurde. „Ruin“, das heißt auch „Verfall“, „Zusammenfall“, „Zusammenbruch“ oder „Niederfall“. Chatterton fiel in sein Zimmer hinein, nachdem er sich wankend die Spiraltreppe hochgezogen hatte; ein zweiter Fall eines zweiten Körpers steht bevor. Der Quäker mag Kittys letzten Ausruf und den Aufprall von Chattertons gefallenem Körper gehört haben; er kommt, wird von Kitty nach oben geschickt, um Chatterton zu helfen, falls Hilfe noch möglich ist. Kitty selbst wirft einen suchenden Blick durch die Scheiben der Glasgittertür in den Geschäftsraum, in dem soeben sie Selbstfeier Beckfords und seiner Welt abläuft, kann dort aber nichts und niemanden gewahren, dessen Anblick Rettung verspräche. So folgen ihre Schritte dem Quäker nach, während sie auf die Geräusche horcht, die aus Chattertons Zimmer kommen. Doch der Quäker befiehlt Kitty, unten zu bleiben, und schließt von innen Chattertons Tür. Man erahnt Chattertons Seufzer von hinter dieser Tür, und die ermutigenden Worte des Quäkers. Und nun kann Kitty nicht anders. Kitty Bell monte à demi évanoui, en s’accrochant à la rampe de chaque marche; elle fait effort pour tirer à elle la porte, qui résiste et s’ouvre enfin. On voit Chatterton mourant et tombé sur le bras du Quaker. Elle crie, glisse à demi morte sur la rampe de l’escalier, et tombe sur la dernière marche. (131) Kitty Bell steigt halb ohnmächtig hinauf, sich von Stufe zu Stufe am Geländer festklammernd; sie bemüht sich, die Türe zu sich zu ziehen, die ihr widersteht und sich endlich öffnet. Man sieht Chatterton sterbend und auf den Arm des Quäkers gefallen. Sie schreit, rutscht halbtot das Geländer der Treppe hinab, und fällt auf der letzten Stufe.
Marie Dorval war für ihre Stärke im ungekünstelten mimischen und gestischen Ausdruck bekannt,304 in ihrer Rolle als Kitty Bell wurde sie dafür berühmt, daß sie Vignys Regieanweisung mißachtete, in ihrer Intention nämlich überbot. Die Dorval ließ sich nicht das Geländer hinabgleiten und die letzte Stufe hinunterfallen; in einem artistischen Akt stürzte sie kurzum die Treppe hinunter.305 Noch 304
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––––––––––––––––––– Als die (insbesondere von älteren, klassisch geschulten Kolleginnen umstrittenen) Stärken der Dorval nennt Kelly erstens ihren „theatrical instinct“, der „so sure“ war, „that even Dumas took corrections from her“ (Kelly: The Marvellous Boy, S. 109). Außerdem verdankte Marie Dorval ihre Verrufung als „Boulevard-Schauspielerin“ aber ihrem „plebeian accent and naturalism“ (ebd., S. 110): was nichts anderes als ihre „natürlich-kreatürliche“ Körpersprache meint. „This theatrical piece of business“, bemerkt Robin Buss zu Dorvals berüchtigter „dégringolade“, „had been kept secret by Dorval, whom Vigny had expected to stagger down the steps before falling on the last of them. It caused an outburst of enthusiasm in the audience which
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zwanzig Jahre später wird sich Théophile Gautier, der der unauslöschlichen Vorstellung der Dorval beiwohnte, erinnern: Et quel cri déchirant à la fin, quel oubli, quel abandon lorsqu’elle roulait, foudroyée de douleur, au bas de ces marches montées en élans convulsifs, par saccades folles, presque à genoux, les pieds pris dans sa robe, les bras tendus, l’âme projeté hors du corps qui ne pouvait la suivre!306 Und welch zerreißender Schrei zum Schluß, welche Selbstvergessenheit, welche Hingabe, als sie, erschlagen vom Schmerz, zum Bodenende dieser Stufen rollte, die sie hinaufgestiegen war in konvulsivischen Anläufen, in tollen Vorstößen, beinah auf den Knien, die Füße verfangen in ihrem Kleid, die Arme ausgestreckt, die Seele aus dem Körper hervorgeschleudert, der ihr nicht folgen konnte!
Noch intensiver, noch hingebungsvoller als Vigny es seiner Geliebten abverlangt hätte, spielte Marie Dorval körperlich den Ruin – sie verkörperte den Ruin im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem Treppenabsturz; sie agierte damit körpersprachlich den Ruin von Kittys Seele aus, der das Echo ist auf den Ruin des zugrundegegangenen Chatterton. Nicht nur Chatterton ist tot. Auch Kitty ist tot. Sie ist gefallen, weil und nachdem Chatterton vor ihren Augen sterbend in sein Zimmer, dann auf den Arm des Quäkers gefallen ist. Und so ist auch Kitty gefallen; und nun, nächster Schock, hört man John Bell aus dem Nebenzimmer seine Frau bei ihrem Namen rufen: JOHN BELL: Mistress Bell! Kitty se lève tout à coup comme par ressort. JOHN BELL, une seconde fois: Mistress Bell! Elle se met en marche et vient s’asseoir lisant la Bible et balbutiant tout bas des paroles qu’on n’entend pas. Ses enfants accourent et s’attachent à sa robe. (132) JOHN BELL: Mistress Bell! Kitty erhebt sich auf einmal wie durch einen Federmechanismus betrieben. JOHN BELL, ein zweitesmal: Mistress Bell! Sie setzt sich in Bewegung und geht sich hinsetzen, ihre Bibel lesend und ganz leise Worte murmelnd, die man nicht hört. Ihre Kinder laufen herbei und hängen sich an ihr Kleid.
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––––––––––––––––––– had already stopped the play briefly with its applause at the end of Chatterton’s second monologue.“ (Buss: Vigny: Chatterton, S. 69.) Kelly ihrerseits bestätigt: „The set centred round a spiral staircase which led up to Chatterton’s room. From the top of this, she announced, she would stage her dying fall. She refused to rehearse her dégringolade, and the company, disapproving and curious, had to wait for the first night to see the acrobatic and audacious climax. The first night was her triumph, the vindication of Chatterton and Dorval. [...] Emotion reached its highest pitch at the moment of the dégringolade. “ (Kelly: The Marvellous Boy, S. 110.) Gautiers titelloser Artikel für den Moniteur vom 14. Dezember 1857 zur Wiederaufführung des Dramas ist zitiert nach Vigny: Chatterton, S. 164-172, hier S. 171.
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Kitty war halb, aber nicht ganz tot nach ihrem Treppensturz; die Maschine funktioniert noch auf den üblichen Knopfdruck hin, die Stimme des Maschinenbesitzers John Bell. Wie durch einen Federmechanismus betrieben, steht der gestürzte Körper wieder aufrecht – doch die Bruchstücke des ruinierten Geistes, der die Maschine noch restweise beseelt, wollen nicht der Stimme des Befehlshabers weiterhin nachgeben. Nicht John Bell sucht Kitty auf, sondern den Sessel, um ihre Bibel darin zu lesen – oder um zumindest, die teure Bibel in der Hand, Worte zu murmeln, die niemand hören kann. Kitty, oder der Rest ihres Innern, der noch präsent ist, klammert sich fest an diesem Buch, das ihr – anders als die arme körperliche Poetenleiche – das einzige Reststück von Chattertons reicher Seele und seiner Liebe bedeutet. An dieses Andenken des verlorenen Geliebten, zu dem die Liebesgabe der Bibel nun erst recht geheiligt ist, klammert sich der Rest der Seele Kittys, wie die Kinder sich an das Kleid der Mutter klammern, die sie schon nicht mehr beachtet. Kittys Geist ist schon nicht mehr im irdischen Hause präsent, und so währt auch die Wiederauferstehung der körperlichen Maschine nicht lange. John Bell selbst dringt machtvoll in sein Wohnzimmer ein, in ohnmächtiger Wut die Herausführung des Eindringlings aus seinem Hause befehlend, dessen Nähe seine Frau offenbar suchte. Der Quäker korrigiert Bell dahingehend, daß Chatterton nur noch herauszutragen sei – er sei tot. „Mort!“ – „Tot“, wiederholt Bell das Wort, das noch einmal ausspricht, was zu sehen war, geschehen ist. „Oui, mort“, „Ja, tot“, bestätigt der Quäker: „tot mit achtzehn Jahren! Ihr habt ihn alle so gut empfangen, wagt es nur, erstaunt darüber zu sein, daß er gegangen ist!“ – „Oui, mort à dix-huit ans! Vous l’avez tous si bien reçu, étonnez-vous qu’ils soit parti!“ (132) Doch nicht John Bell ist am meisten von den Worten des Quäkers betroffen. Diese Worte, oder vielmehr der ganze, das Wort „tot“ wieder und wieder einhämmernde Wortwechsel geben dem Geschehen, das „nur“ Kittys Augen aus der Entfernung sahen, den letzten Rest an Realität. Dieses vielfach skandierte Wort „tot“ erinnert auf seine eindringliche Weise die Unleugbarkeit des offen Gesagten und zwangsläufig Gehörten. Dem Anblick der Leiche konnte Kitty sich mit Blick auf die Bibel entziehen, dem Wort „tot“ kann sich es nicht – so ist dieses Wort „tot“ das Stichwort ihres zweiten und letzten Zusammenbruchs, und Kitty stirbt, wie Chatterton ihr zuvor, in den Armen des Quäkers. Das Stück endet mit einem einfrierenden Tableau, über dem der Vorhang sich senkt. Es ist das Geschäfts-Hinterzimmer des Anfangs, an dem Raum selbst hat sich in seiner Konzeption nichts geändert. Nur daß oben, am Kopfende der Wendeltreppe, eine Tür offen steht und man einen auf dem Boden zusammengesunkenen Körper im Zimmer dahinter erahnt. Unten steht irgendwo, vermutlich erstarrt, John Bell im Raume; irgendwo die wohl angststarren Kinder; irgendwo nahe dem Sessel am Kamin die Leiche Kitty Bells. Irgendwo auf dem Boden mögen auch noch eine Zeitung und ein Brief liegen, vielleicht noch Reste zerrissener Manuskripte, auch eine Phiole, leer, und eine Bibel. Doch sie
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alle sind nur der Hintergrund der finalen Intérieur-Szene, den Vordergrund bildet der Quäker: LE QUAKER, à genoux: Oh! dans ton sein! dans ton sein, Seigneur, reçois ces deux martyrs! Le Quaker reste à genoux, les yeux tournés vers le ciel jusqu’à ce que le rideau soit baissé. (133) DER QUÄKER, auf den Knien: Oh! in Deine Brust! in Deine Brust, Herr, nimm diese beiden Märtyrer auf! Der Quäker bleibt auf den Knien, die Augen zum Himmel gewendet, bis der Vorhang gesenkt ist.
8 Zwanzig Jahre später oder Chatterton in den materialistischen Jahren des Second Empire
When the final curtain fell there was a moment of stunned silence, then the whole house rose to its feet with applause that lasted for twenty minutes. Vigny’s friends flung their arms round his neck weeping; he himself was in tears.307 Vigny avait avidement suivi de l’œil tous les mouvements d’un public passionné; il eut là son premier, son unique triomphe populaire. «J’ai gagné ma petite bataille», écrivait-il à sa mère; et, sur son Journal intime: «J’ai le remords d’avoir mal jugé mes concitoyens.»308 At midnight on 12 February 1835, Vigny was able to note in his journal: “Chatterton à réussi”. The play was a triumph. It had thirty-nine performances at the Comédie Française before transferring to the Odéon, and was revived four times during Vigny’s lifetime. It has established its place in the repertory of the French theatre and notable modern revivals include those at the Comédie Française in 1947, at the Théâtre de l’Œuvre in 1956 and at the Théâtre de l’Athénée in 1962.309
Unbestritten ist Chatterton bei seiner Uraufführung am 12. Februar 1835 ein eklatanter, ein Vigny selbst bald schockierender und zu Tränen auflösender Sensationserfolg gewesen. Daß dieser Sensationserfolg nahtlos überging in das Prestige des noch im 20. Jahrhundert wieder und wieder aufgeführten Dramas, wie Robin Buss es im letzten der drei Zitate darstellt, diese Ansicht teilen Linda Kelly und Pierre Flotte aber nicht. „Attendue avec hésitation, très bien jouée, la 307 308 309
––––––––––––––––––– Kelly: The Marvellous Boy, S. 105. Flotte: La Pensée Politique er Sociale d’Alfred de Vigny, S. 139. Buss: Vigny: Chatterton, S. 69.
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pièce eut un succès éclatant, mais d’une durée médiocre“310: Auf „nur fünfzig und ein Paar mehr Aufführungen“311 schränkt Flotte die Lebensdauer der ersten, elektrisierenden Wirkmacht von Chatterton ein. Kelly aber begründet: mit dem Ende der Romantik sei „[t]he message of Chatterton [...] no longer fashionable“312 gewesen. Für Kelly ist das Drama des (un)romantisch ruinierten Poeten das romantische Drama schlechthin; insofern es in seiner Wirkung das romantischste, nämlich das romantisierendste ist, kann man ihr zustimmen. Schließlich war Chatterton von Vigny dazu angelegt, die Herzen seiner Zuschauer oder Leser im Namen Chattertons anzurühren bis zur Erweichung, und etwas von diesem Romantisierungszauber scheint doch die Epoche der Romantik überdauert zu haben? Denn Kelly räumt ein, daß das „unmodisch“ gewordene Stück trotzdem in ganz Europa berühmt geworden sei, übersetzt in die deutsche und italienische Sprache; auch auf Französisch wurde es vielerorts aufgeführt und publiziert (Abb. 11), sogar im fernen St. Petersburg. 1876 war Chatterton trotz allem noch attraktiv genug, den achtzehnjährigen Ruggiero Leoncavallo dazu zu bewegen, Chatterton zum Helden seiner ersten Oper zu machen;313 und trotz allem hatte Wallis 1855/56 Chatterton gemalt, und trotz allem schrieb Ackroyd 1987 seinen Roman Chatterton, muß man Kelly noch weiter ergänzen: Denn wie es scheint, ist die Wirkungsgeschichte von Vignys ruiniertem Dramenpoeten seltsam konträr314 und dieser Chatterton ein Sensationserfolg für den Augenblick gewesen – doch mit dem Potential, den Augenblick zu überleben. Irgend etwas war daran, an diesem Chatterton-Drama, das eine Generation von Beiwohnern insbesondere ansprach; aber irgend etwas ist noch daran, das den Augenblickserfolg sich selbst ein Stück weit überwinden ließ. * Vignys Chatterton schlug in das Paris des Jahres 1835 ein, weil es den Geist der Zeit an wundem Punkt traf. Die Zeit war nämlich aus zwei Gründen reif für ein solches Drama. Den ersten führt Robert Denommé an: Chatterton paraît justement au moment où la France connaît la transition effective de système féodal au système industriel. […] Le parallélisme qu’il [Vigny] laisse sousentendre entre la scène de Chatterton qui se déroule à Londres en 1770 et les conditions qui marquent la nouvelle société industrielle en France confère à la pièce sa dimension d’actualité en 1835.315
310 311 312 313 314
315
––––––––––––––––––– Flotte: La Pensée Politique er Sociale d’Alfred de Vigny, S. 138. Siehe ebd. Kelly: The Marvellous Boy, S. 113. Siehe ebd., S. 113-114. Einen detaillierten Überblick über die unmittelbare Wirkung und konträre Aufnahme von Chatterton gibt Sophie Marchall in: Le Poète, la Presse et le Pouvoir: l’accueil de Chatterton en 1835. Denommé: Chatterton ou le Dilemme du héros dans un monde non-héroïques, S. 145.
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Chatterton ist „aktuell“ in dem historischen Moment, in dem Frankreich definitiv vom „feudalen“ in das „industrielle System“ übertritt. Damit einher geht eine gefühlte „décomposition de valeurs qui résulte de structures culturelles et sociales dissolues“316. Dieses Gefühl des Verlustes der alten Werte, kulturellen und sozialen Strukturen, die die Vorleben vergangener Generationen stabilisierten, spielt aber schon dem zweiten Hinter-Grund des Erfolges von Chatterton zu: The Romantic Movement in France was at its height when Alfred de Vigny’s Chatterton opened at the Théâtre Français in 1835. Paris was alight with the enthusiasm of a generation which, brought up amid the fanfares of the Napoleonic Wars, and now deprived of its stirring ideals, had turned its ardour to the arts instead, flinging themselves into revolt against the restrains of academic art and literature.317
Kelly erinnert einen zweiten Verlust, neben dem der „ganz alten“ Werte und Strukturen, an dem gerade die jungen Männer der Vigny-Zeit litten: der Verlust des Idols Napoleon (als solches Idol konnte Napoleon erst recht im verklärenden Rückblick erscheinen) und seiner „stirring ideals“. Bewegend an der Idee „Napoleon“ war aber das Gefühl, die „andere“ Existenz eines glorreichen, von Enthusiasmus und Heldentum erfüllten Lebens verloren zu haben, die Chance auf einen sozialen Aufstieg zudem, denn Offiziersposten waren von Napoleon nicht für den Adel vorreserviert gewesen. Im Gegenteil hatte der Usurpator ein Händchen dafür gehabt, sich seinen neuen Militär-Adel selbst zu erschaffen und nach Leistung zu erwählen. Doch dieses war nun vorbei, und so mußte sich die Generation derer, die die Welt Napoleons mit der des Kaufmannes eintauschten, neue Ideale, Werte und rebellische Kämpfe suchen – und fanden das alles in der Bewegung der Romantik, so Kelly. So aber kam es, daß bei der Uraufführung von Chatterton einerseits die Bürger-Königin Marie Amélie anwesend war, in ihrer Loge, und die teuren Plätze waren ausverkauft von reichen Adeligen und Geldadeligen. Das Parterre jedoch gehörte diesen jungen Männern, die Théophile Gautier wie kein anderer zu charakterisieren weiß, war er selber doch einer von ihnen gewesen: La jeunesse de ce temps-là était ivre d’art, passion et de poésie; tous les cerveaux bouillaient, tous les cœurs palpitaient d’ambitions démesurées. Le sort d’Icare n’effrayait personne. Des ailes! des ailes! des ailes! s’écriaient-on de toutes parts, dussions-nous tomber dans la mer! Pour tomber du ciel, il faut y être monté, ne fûtce qu’un instant, et cela est plus beaux que de ramper toute sa vie sur la terre. […] Le parterre devant lequel déclamait Chatterton était plein de pâles adolescents aux longs cheveux, croyant fermement qu’il n y avait d’autre occupation acceptable sur ce globe que de faire des vers ou de la peinture […] et regardent les bourgeois avec un mépris dont celui des renards d’Heidelberg ou d’Iéna pour les philistins approche à
316 317
––––––––––––––––––– Ebd., S. 146. Kelly: The Marvellous Boy, S. 104.
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peine. […] Jamais telle soif de gloire ne brûla des lèvres humaines. Quant à l’argent, l’on n’y pensait pas.318 Die Jugend dieser Zeit war trunken von Kunst, Leidenschaft und Poesie; alle Gehirne brodelten, alle Herzen schlugen höher, voll von unmäßigem Ehrgeiz. Das Los des Ikarus erschreckte niemanden. Flügel! Flügel! Flügel! rief man von allen Seiten aus, sollten wir auch ins Meer abstürzen! Um vom Himmel zu stürzen, muß man dahin aufgestiegen sein, und wäre es nur für einen Augenblick, und das ist schöner als sein ganzes Leben lang auf der Erde zu kriechen. [...] Das Parterre, vor dem Chatterton deklamierte, war voll von blassen Jugendlichen mit langen Haaren, die fest daran glaubten, daß es keine andere akzeptable Beschäftigung auf diesem Planeten gäbe, als Verse oder Kunst zu machen [...] und die die Bourgeois mit einer Mißachtung betrachteten, an die die der Füchse in Heidelberg oder Jena für die Philister kaum heranreicht. [...] Niemals verbrannte ein solcher Durst nach Glorie menschliche Lippen. Was das Geld betraf, dachte man nicht daran.
Nein, diese Generation der jungen Romantiker hatte keine Angst vor dem Absturz des Ikarus, sollte der „schöne“ Sturz auch vom Scheitern an den unschönen, mißachteten, materiellen Lebenstatsachen herrühren – sollte der „romantische“ Sturz des Ikarus auch ein (un)romantischer Ruin sein! Gerade die Verachtung der Bourgeoisie und des Geldes – die nicht verhinderte, daß man am „Unromantischen“ der Armut und Degradierung erst recht litt –, das alles führte dazu, daß die jungen Theaterbesucher nicht nur mit-fühlten mit dem sich ruinierenden Chatterton. Die jungen Leute fühlten sich als die Chattertons ihrer Lebenswelt, als habe man ihnen einen Spiegel vorgehalten, damit aber einen Lebenssinn und eine, allerdings fatale, Figur zur Orientierung. Und mit Chatterton erlebten die jugendlichen Möchtegern-Poeten also „ihren“ Ruin noch einmal, oder besser gesagt erlebten sie seine letzte Konsequenz im Vorgriff: Sie erlebten diesen Ruin, der im Selbstmord kulminierte, welcher doch der „schöne“ Sturz des Ikarus war und das Glorreichste, was sie ihm Leben erwarten konnten. Daß mancher das glaubte, bewies er hernach. Doch ehe auf diese Selbstmorde zu kommen ist, ist das Merkwürdige der Situation noch zu Ende zu denken, nämlich: daß nicht nur das Parterre „seine“ Rolle im Drama erkannte. „Plus d’une jeune femme romantique, au teint d’opale, aux longues boucles anglaises, tournait les yeux mélancoliquement vers son mari classique, bien nourri et vermeil, comme pour attester la ressemblance.“319 Mehr als eine junge, romantisch-blasse Ehefrau, sitzend auf den teureren Plätzen, fand sich in Kitty Bell wieder: weil sie umgekehrt, melancholischen Seitenblickes, in ihrem klassischen, wohlgenährten und rotgesichtigen Ehemann „die Ähnlichkeit“ – zu John Bell – nur bestätigt sah. Und obwohl Flotte diesen John Bell als eine „Satire“ bezeichnet, „gezeichnet von einem Adeligen, der dem 318
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––––––––––––––––––– Gautiers titelloser Artikel für den Moniteur vom 14. Dezember 1857 zur Wiederaufführung des Dramas ist (wie noch einmal zu erinnern) zitiert nach Vigny: Chatterton, S. 164-172, hier S. 165-166. Ebd., S. 168-169.
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Sozialismus nahe steht“ („satire tracée par un gentilhomme voisin du socialisme“320): Trotzdem identifizierten die „bourgeoisen“ Besucher des Dramas selbst sich allzu bereitwillig mit diesem zum Feindbild hochstilisierten Kaufmann. Und sie rächten sich für diese peinliche Berührung und unerwünschte Aufregung auf ihre Weise. Doch ehe auch auf diese zweite Folge eines auf konträre Weisen bewegenden Dramas zu kommen ist, ist noch einmal zu vergegenwärtigen, daß sich im Theaterraum der Comédie-Française, am 12. Februar 1835, also die Chattertons, Kitty Bells und John Bells der wirklichen Lebenswelt versammelt fanden – alle in einem Raume und alle, sich ihrer Rollen bewußt. Und wenn man sich diesen Theaterraum vorstellt, mit seiner aufgestauten, latent konfliktuösen Atmosphäre auf und unterhalb der Bühne: erst dann kann man wirklich nachvollziehen, was Gautier meint, wenn er anmahnt: „Qu’on juge de l’effet que produisit dans un tel milieu le Chatterton de M. Alfred de Vigny, auquel, si l’on veut le comprendre, il faut restituer l’atmosphère contemporaine.“321 – „Man beurteile den Effekt, den in einem solchen Milieu der Chatterton von M. Alfred de Vigny bewirkte, [und] dem man, will man ihn begreifen, die zeitgenössischen Atmosphäre zurückerstatten muß.“ „Man beurteile den Effekt“, den man also nur in Rückerstattung des Zeitgeists begreifen könne, den Vigny mit seinem Chatterton traf: Doch was war dieser Effekt, bzw. was blieb von der elektrisierenden Wirkung auf die Dramenbeiwohner, hatten sie das Theater verlassen? „The play launched a craze for suicide ‘à la Chatterton’. The cult that had started with Werther had reached its apogee.”322 Junge Leute, die zu sehr vom Los des ruinierten Poeten bewegt waren, weil sie sich zu sehr mit Chatterton identifizierten, entschlossen sich zum leibhaftigen Nachspielen des schönen Ikarus-Sturzes oder Ruins des Poeten und verwirklichten seine letzte Konsequenz, den Freitod. Eben das aber spielte dem zweiten von Vigny ungewollten Nacheffekt seines Chatterton zu: Die Bourgeoisie fand in den Selbstmorden einen Grund, den Verfasser des Dramas der Immoralität zu bezichtigen. Vigny habe den Selbstmord in Chatterton verteidigt – Vigny sei der schuldige Verführer zum Selbstmord (und folglich nicht die bourgeoise Gesellschaft).323 Dabei sei diese Brandmarkung Vignys nur das Ventil gewesen, einer Irritation Luft zu machen, die sich nicht primär an den Selbstmorden armer Poeten störte. Viel näher ging den John Bells der wirklichen Lebenswelt die Tatsache, daß Vigny zwar ein geborener Adeliger war und auch in seinen Ansichten erfüllt von einem ganz aristokratischen stoischen Pessimismus. Trotzdem war ausgerechnet dieser „edle“ und zarte Romantiker Vigny – innerlich wie äußerlich das Gegenbild zu den „grobschlächtigen“, vor Vitalität und Aufruhr „überschäumenden“ Kollegen 320 321 322 323
––––––––––––––––––– Flotte: La Pensée Politique er Sociale d’Alfred de Vigny, S. 136. Gautier: Artikel zur Wiederaufführung von Chatterton, S. 166. Kelly: The Marvellous Boy, S. 105. Siehe Flotte: La Pensée Politique er Sociale d’Alfred de Vigny, S. 139.
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Hugo und Dumas324 – nun offenbar der radikalste von allen, nämlich abgeglitten zu den „Grenzregionen des Sozialismus“ – womit er „den Block der Bourgeois, auf dem die Juli-Monarchie ruhte“, dabei „um- oder überg[ing]“.325 Und dieses, daß die Bourgeoisie die geld- und machthabende Instanz der Juli-Monarchie war, die sich von Chatterton, nicht zu Unrecht, attackiert fühlte, das ist der Grund dafür, daß Vigny in seiner Intention zur Hälfte scheiterte. Denn Vigny hatte im Namen Chattertons die Herzen erweichen wollen, und das gelang ihm so gut, daß Gautier noch 1857 und im Namen der Romantiker von 1835, die sich nicht zum Selbstmord hatten anstecken lassen, das Erlebnis dieses Dramas als eines der unvergeßlichen und prägenden Ereignisse des Lebens wertschätzt – als „[u]ne des vives impressions de notre jeunesse“326. Doch wollte Vigny die Herzen der Individuen bewegen, um darüber in zweiter Konsequenz die Gesellschaft selbst aufzurütteln. Und diese verwirtschaftlichte Gesellschaft ließ sich zwar aufscheuchen; und eine materielle Besserung erwirkte Chatterton: The Government, alarmed by the morbid tendencies of literary youth, held a debate to discuss the deplorable influence of Chatterton. The Minister of Interior complained of being plagued by letters from starving geniuses, threatening to kill themselves unless the State came to their aid; and a Count Maillé de Latour-Landry, moved by Vigny’s picture of the poet’s plight, founded a prize for struggling poets, to be administered by the Académie Française.327
Doch es ist bezeichnend, daß ein adeliges Individualherz und kein RegierungsOrgan sich dazu erweichen ließ, eine Art Dichterpreis zu stiften, sowie Alfred de Vigny selbst sich plötzlich in der Rolle des Unterstützers armer Poeten wiederfand. Es war eine Rolle, die Vigny, obwohl „far from rich“, dennoch „nobly“ und lebenslang ausfüllte328 (die Abb. 12 zeigt den gealterten Wohltäter), so daß noch Flaubert, in the materialistic years of the Second Empire, spoke of him as the sole comforting figure in the world of letters; and it is moving to think of him, already old and stricken with his last illness, befriending Baudelaire, whose genius he recognized and applauded.329
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––––––––––––––––––– „He [Vigny] seemed totally dissimilar to his comrades-in-arms, who with him dominated the new movement in the theatre – Victor Hugo and Alexandre Dumas, both of them coarse of feature and brimming over with panache and vitality.“ (Kelly: The Marvellous Boy, S. 106.) „Vigny semblait glisser du carlisme aux confins du socialisme, en contournant le bloc bourgeois sur lequel reposait la monarchie de juillet.“ (Flotte: La Pensée Politique er Sociale d’Alfred de Vigny, S. 142.) Gautier: Artikel zur Wiederaufführung von Chatterton, S. 165. Kelly: The Marvellous Boy, S. 105. Siehe ebd., S. 106. Ebd., S. 112.
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Aber Vignys heroische Selbstüberwindung, als Vertreter der Rechte des Poeten gar aus dem eigenen Dichter-Intérieur und seiner vergeistigten Welt hinabzusteigen in die politische Öffentlichkeit, wurde nicht wie erhofft honoriert. Kelly erzählt dieses Scheitern Vignys an der Welt, die er in Chatterton allzu heftig und doch nicht heftig genug kritisierte, wie folgt: An open letter to ‘Messieurs les Députés’ in the Revue des Deux Mondes of 1841 led to the introduction of a bill to improve the copyright position of authors, and to provide a government pension for three years for any poet who had produced the work of accepted merit. Despite an eloquently argued debate the bill was rejected by an unsympathetic majority, ‘a chamber of clerks and grocers’, noted Vigny. Balzac, who with Vigny had been listening to the debate from the spectators’ bench – the only other writer present – called across with genial resignation: ‘Eh bien! Monsieur de Vigny, les poètes seront donc toujours, comme l’a dit votre Chatterton, des parias intelligents?’330
* Seine Gesellschaft, die schon zu sehr von den John Bells seiner Zeit regiert war, vermochte Vigny nicht zur materiellen Verbesserung der Position des Poeten zu bewegen – vielleicht, weil er die Gemüter zu heftig bewegte, vielleicht war es noch zu wenig, vielleicht war es überhaupt ein fruchtloser Versuch, die Poesie einsetzen zu wollen als „Waffe“ gegen eine Industrialisierung, die 1835 in Frankreich als definitive fühlbar wurde. Und dabei war es, wie gesagt, erst der definitiven Verwirtschaftlichung Anfang; nicht umsonst wird Kelly erst die Jahre des Second Empire als „the materialistic years of the Second Empire“331 bezeichnen. In dieser Zeit der um zwanzig Jahre fortgeschrittenen Verwirtschaftlichung geschieht es aber, daß Vignys Chatterton, nach längerer Spielpause, wiederaufgeführt werden soll. Es ist Dezember 1857, die Epoche der Französischen Romantik ist seit spätestens 1848 passé, und Gautier sorgt sich. Freilich will er die Wiederaufführung des Dramas sehen, dessen Premieren-Erlebnis ihm ein teures Andenken seiner Jugendzeit bedeutet, eine der „vives impressions de notre jeunesse“.332 Doch nicht nur die Romantik ist Vergangenheit. Auch das romantische und romantisch enthusiasmierbare Selbst, das man war, ist lange nicht mehr – kurzum: Droht Gautier nicht eine bittere Enttäuschung, sollte er die Wiederaufführung des Dramas besuchen? Kann, ja muß es nicht so sein, daß das Werk ihn nicht mehr berühren, daß der Besuch der Aufführung 1857 das Andenken des Kultstücks von 1835 ruinieren wird?
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––––––––––––––––––– Ebd., S. 112-113. Ebd., S. 112. Gautier: Artikel zur Wiederaufführung von Chatterton, S. 165.
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Schon hebt sich der Vorhang und enthüllt einen altbekannten, nur „von der Zeit etwas verblichenen“ „Dekor“ („décor un peu effacé par le temps“333), und es fehlt nichts: da sind die braunen Holzmöbel, die grünlichen Glasscheiben der Tür zum Geschäft hin, die Wendeltreppe, von der am Ende Kitty Bell stürzen wird – und trotzdem scheinen sich Gautiers schlimme Befürchtungen zu bewahrheiten. Denn da ist dieser John Bell, der früher einmal der Inbegriff des Feindes und Schlächters war; doch was ist er jetzt? Dieser Mann, der nicht will, daß man seine Maschinen zerstört, der meint, daß man hart arbeiten muß, um aufzusteigen und der den anderen gegenüber ebenso unnachgiebig ist wie gegenüber sich selbst: das ist doch „le seule personnage raisonnable de la pièce.“334 Keine andere „vernünftige“ Figur ist in diesem Stück zu finden, denn der Quäker wirkt in seinem Gebrabbel wie ein „patriarche en enfance“335, ein in den Zustand der mentalen Kindheit zurückgefallener Patriarch; Kitty Bell muß jeder jungen Frau heutiger Zeiten „absurde“336 erscheinen dafür, daß sie selbstaufopfernd einen Mann liebt, der keinen Penny besitzt; denn was diesen Chatterton betrifft, ist der schließlich das Lächerlichste vom Ganzen: En 1835, cela paraissait tout simple d’aimer Chatterton; mais aujourd’hui comment s’intéresser à un particulier qui ne possède ni capitaux, ni rentes, ni maisons, ni propriétés au soleil, et qui ne veut pas même accepter de place, sous prétexte qu’il a écrit La Bataille de Hastings, composé quelque pastiche de vieilles poésies en style anglosaxon, et qu’il est un homme de génie?337
In der Tat, dieser Chatterton hat keinerlei geldlichen Besitz, keine Renten, keine Häuser, keine Besitzungen unter der Sonne (sprich: im Süden); er will nicht einmal eine Stelle annehmen, unter dem Vorwand, eine Schlacht von Hastings und weitere gefälschte alte Poesien verfaßt zu haben – er sei nämlich ein Dichtergenie. Kann man das 1857 noch ernst nehmen? Für diese Person soll man sich interessieren, oder sie gar lieben? Wie es scheint, ist da kein Funke mehr, der überspringt, zwischen Chatterton und den anderen komisch-romantischen Figuren einerseits, andererseits dem durch und durch zweckrationalen und desillusionierten Menschen von 1857, der daher wenn überhaupt, nur mit John Bell sympathisiert. Nur daß dann die Verwandlung eintritt. Ein Stück des alten Zaubers taucht doch wieder auf und ist erst der Anfang einer Herzenserweichung, die dieses Mal, zweiundzwanzig Jahre später, nur länger brauchte, um am Ende trotz allem da zu sein, spürbar wirksam im Innern. Der so effektiv gen Herzen nachbohrende „Zauberstab“ ist aber das Intérieur des Poeten. 333 334 335 336 337
––––––––––––––––––– Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Ebd. Ebd. Ebd.
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„Cependant l’émotion lentement préparée est arrivée enfin, lorsqu’on a vu cette chambre nue et froide, à peine éclairé par une lampe“.338 Etwas im Zuschauer ist doch „endlich“ bewegt, nachdem er dieses „nackte und kalte“, von einer mickrigen Lampe „kaum erleuchtete“ Zimmer gesehen hat; ein Zimmer, in dem Chatterton auf einem Bett sitzt, das mehr einem Sarg gleicht und wo er „seine jungfräuliche Gedankenwelt“ dazu zwingen will, „sich wie eine Kurtisane für Geld zu geben“. „Chatterton veut forcer sa pensée vierge à se donner pour de l’argent comme une courtisane“: diese Intérieur-Szene hat doch „produit un sinistre effet.“339 Dieses Bild des Dichters in seiner ruinierten Dachbodenkammer hat einen verhängnisvoll-düsteren Eindruck gemacht; es hat gewirkt, weil es, bei aller wahrscheinlichen Übertreibung, im Kern „wahr“ – also aktuell ist: „Plus d’un écrivain dans la salle, a pu reconnaître là le tableau, exagéré sans doute, mais foncièrement vrai, de ses lassitudes, de ses luttes intérieures et de ses abattements.“340 – „Mehr als ein Dichter im Saal konnte darin das wahrscheinlich übertriebene, doch essentiell wahre Tableau seiner Erschöpfungen, seiner inneren Konflikte und seiner Niedergeschlagenheiten wiedererkennen.“ Damit ist aber das Eis gebrochen. Der Dichter findet sich nach wie vor, oder jetzt erst recht, in diesem anderen Dichter wieder, der auch schon sein poetisches Selbst als Kurtisane für Geld verkaufen will, weil er es muß, notgedrungen in seiner Geldgesellschaft. Und so ist von diesem Punkt an Chatterton von der abstrakten Figur in den Menschen zurückverwandelt, der nicht mehr den Kopf, sondern das Herz eines nicht länger unbeteiligten Beiwohners an seinem Ruindrama anspricht. „Du cerveau, le drame descend au cœur“;341 und spätestens bei Kitty Bells dégringolade von der Treppe steht das Bestürzende fest: „Le dénouement a remué les spectateurs comme aux premiers jours.“342 „Das Ende hat die Zuschauer bewegt wie in den ersten Tagen.“ – Das ist um so frappierender, als doch gar nicht mehr die unvergleichliche, mittlerweile verstorbene Marie Dorval sich die ganze Treppe hinunter warf, das Echo auf den Ruin des Poeten verkörpernd. Doch an die Dorval und ihre erste, unübertrefflich mitreißende Wirkung muß Gautier, weil infiziert von der „alten“, in ihm erneuerten Chatterton-Stimmung, zuletzt zurückdenken. Und bei aller, nun sanfter Ironie spricht der Andenker Gautier seine Schlußzeilen doch schwärmerisch aus, unleugbar romantisiert in einem von ihm selbst kaum mehr erhofften Grade (wenn auch leicht amüsiert über die gelungene Romantisierung): Et quel cri déchirant à la fin, quel oubli, quel abandon lorsqu’elle [Marie Dorval / Kitty Bell] roulait, foudroyée de douleur, au bas de ces marches montées en élans convulsifs, par saccades folles, presque à genoux, les pieds pris dans sa robe, les bras tendus, l’âme projeté hors du corps qui ne pouvait la suivre! 338 339 340 341 342
––––––––––––––––––– Ebd. Ebd., S. 170. Ebd. Ebd., S. 171. Ebd., S. 170.
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Ah! si Chatterton avait ouvert une dernière fois ses yeux appesantis par l’opium et qu’il eût vu cette douleur éperdue, il serait mort heureux, sûr d’être aimé comme personne ne le fut, et de ne pas attendre longtemps là-bas l’âme sœur de la sienne.343 Und welch zerreißender Schrei zum Schluß, welche Selbstvergessenheit, welche Hingabe, als sie, erschlagen vom Schmerz, zum Bodenende dieser Stufen rollte, die sie hinaufgestiegen war in konvulsivischen Anläufen, in tollen Vorstößen, beinah auf den Knien, die Füße verfangen in ihrem Kleid, die Arme ausgestreckt, die Seele aus dem Körper hervorgeschleudert, der ihr nicht folgen konnte! Ach! wenn Chatterton seine vom Opium beschwerten Augen ein letztes Mal geöffnet hätte und wenn er diesen rasenden Schmerz gesehen hätte, wäre er glücklich gestorben, sicher, geliebt zu sein wie noch niemand es war, und sicher, dort drüben nicht lange auf seine Schwesterseele zu warten.
Daß Gautier, wiederbegeistert von Chatterton, seinen Enthusiasmus noch schürt durch das Andenken an Marie Dorval, die unbestrittene „Königin des Treppensturzes“: Das allerdings ist kein Wunder. Denn was das Drama des ruinierten Poeten zeitlos anrührend macht, was es romantisierend macht über die Epoche der Romantik hinaus, ist zweierlei. Auf der einen Seite die unverändert aktuelle Thematik des Poeten in der verwirtschaftlichten Gesellschaft, oder anders gesagt: das Bild des Dichters in seinem ruinierten Intérieur. Auf der anderen Seite aber, und wie der Blick auf die Intérieur-Szene auch verrät, das nonverbal Beredte des Ruindramas. Hinter dem Zeitlosen von Chatterton steckt, nebst der Thematik, auch deren Ausdrucksweise, der „triomphe spectaculaire du geste et du corps de l’acteur romantique“344 – nur daß die Akteure von 1857 oder später nicht mehr Akteure der Romantik sind. Doch nach wie vor wirken ihre von Vigny vorgeschriebenen Gesten romantisierend. „The climate of Chatterton is distinctively that of Romanticism. But the play has retained its power to move audiences and readers“, erkennt auch Robin Buss an. Nur betont er das Bewegende der verbalen Dramensprache. Diese zeichne sich durch ihre Reduziertheit aus, gekoppelt an eine Reichheit der Anklänge, die eine „world of meanings and correspondences“ eröffnen: „so that a refined and fairly restricted vocabulary becomes an instrument of considerable power.“345 Es ist eine Sprache, die „machtvoll“ ist aufgrund dessen, was sie einerseits in sehr einfachen und präzisen Worte sagt, andererseits aber durch indirekte Anspielungen und Aussparungen suggeriert. Es ist eine Sprache, die aus den Zeilen und von zwischen den Zeilen, aus ihrem Sprach-Gestus, anspricht – und die eben noch irritierender bewegend ist, weil sie mit oder gegen die zeitgleiche andere Sprache, die Körpersprache der Akteure, anredet, ist Buss zu ergänzen. Was diesem zufolge aber auch noch an Chatterton zeitlos bewegend sei, ist zudem dieses: 343 344 345
––––––––––––––––––– Ebd., S. 171. Ubersfeld: Le drame romantique, S. 138. Buss: Vigny: Chatterton, S. 76.
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that the play is recognizably a myth in which we can accept that the characters represent ideas outside themselves and pursuit their own courses along predestined lines. This feeling of myth is aided not only by the simplicity of the language. Rather than a vast melodrama on the model of Hernani or Ruy Blas, this is a compressed work, for quartet rather than full orchestra, introducing, interweaving and recalling its insistent themes.346
Buss sieht in Vignys Drama Chatterton, nicht nur in der Chatterton-Figur, einen zeitlos wirkenden „Mythos“ – ein Stück, das ein „feeling of myth“ auslöst. Diesen Charakter des Mythos verströme das Drama aber nicht nur aufgrund der Einfachheit seiner Sprache, der Symbolträchtigkeit seiner Figuren und ihrer wortlos beredten Konstellation (denn diese Konstellation meint Buss mit seinen „prädestinierten [Verhaltens-]Linien“). „Mythisch“ berühre das Ruindrama auch als ein „komprimiertes Werk“, ein geradezu „haus-musikalisches“ Intim„Quartett“, das, taktvoll und rhythmisch, seine Themen einführe, verflechte, wiederhole. Auch wenn es konkreter so ist, daß Vigny seine Themen rhythmisch wieder hervorholt: mit den Dingen. Denn Vignys Chatterton ist ein Drama des Wartens, des Intérieurs, der Gesten, die wortlos das Intimste, Ungesagte und Unsagbare enthüllen; und so ist es auch das Drama der gegebenen oder empfangenen, vernichteten oder produzierten, in jedem Fall aber gestisch „aufgeladenen“ und daher stumm-beredten Dinge. Was Buss als das Musikalische, mythisch Ansprechende von Chatterton anspielt, ist Vignys Kunstgriff, sein Drama als ein Netzwerk von Dinggeschichten zu entwickeln: begonnen mit dem rahmenden Duett der Geschichten eines Briefes und einer Bibel, bereichert um die weiteren Geschichtenfäden um einige fehlende Guineas, ein mißachtetes Reliquiarbuch, eine alte Tabaksdose, ein noch erschreckend weißes, unbeschriebenes Blatt sowie beschriebenes und zerrissenes Manuskriptpapier, schließlich eine Phiole, zuletzt aber zwei zu Objekten reduzierte Subjekte, Chattertons und Kitty Bells Leichen. After consuming sixty grains of opium, Chatterton begins shredding and burning his manuscripts, transforming both his corps (body) and his corpus into corpses. The poet’s death, like the destruction of his writing, represents the ultimate triumph of the body over the spirit, of a mean, mercantile mentality over humane and humanitarian values. Kitty Bell’s subsequent death – perhaps the most spectacular demise from a broken heart in all of French drama – lends further support to such an interpretation of Chatterton’s suicide.347
Dieses Fazit zieht Cooper aus Vignys Chatterton, und mit Recht. Die Ruine Chattertons und Kitty Bells werden vollzogen in den gestischen Akten des Trinkens von Opium, des Verbrennens von Manuskripten und des Treppensturzes und sind sodann bezeugt und verkörpert in zwei Leichen sowie Papierasche und -Schnipseln. So „repräsentieren“ diese letzten Dinge und Bruchstücke des 346 347
––––––––––––––––––– Ebd. Cooper: Exploitation of the Body in Vigny’s Chatterton, S. 26.
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III. Vignys ruinierter Poet Chatterton
Poetenruins unleugbar „den letzten Triumph des Körpers über den Geist, einer niederen, merkantilen Mentalität über humane und humanitäre Werte“. Doch weil Chattertons Gesten der Selbstvernichtung in Körper und Werken, gedoppelt von Kittys Geste des Treppensturzes – weil die davon übrig bleibenden Leichen, Papierreste und anderen Dingdetails des Schlußtableaus von Chatterton diesen doch empörenden Triumph des Merkantilen über das Geistige „besagen“ ‒ aus diesem Grunde verkehrt sich der Triumph in sein Gegenteil. Die Gesten und die Dinge, die das Empörende im stummen Appell„besagen“, bewegen, sie romantisieren denjenigen, der ihre Botschaft aufnimmt. Diese Romantisierung ist aber der Triumph des Geistes (des ruinierten Poeten) über eine vielleicht schon merkantilisierte Mentalität – man denke nur an Gautier, den nicht mehr romantischen und doch romantisierten Theaterbesucher (und Dichter!) der „materialistischen Jahre des Second Empire“. Und so bezeugt das Beispiel Gautiers auch: daß das romantische Prinzip der Romantisierung die Epoche der Romantik in seiner Effizienz überdauerte, und damit überdauerte Vignys Chatterton. Nicht umsonst setzte Vigny auf das stumm-beredt Anrührende und zeitlos Ansprechende der Gesten und Körper, Räume und Dinge: denn dieses sind seine Haupt-Mittel zur Romantisierung des Rezipienten von Chatterton und wirksam über die Epoche der Romantik hinaus. Was auch deshalb interessant ist, weil schon Thomas Chatterton 1768/69, lange vor Vigny, auf seine Weise auf die Wirkmacht der armen, teuren Dinge setzte, und Henry Wallis, der dritte Erfinder oder Reinszenierer eines nun „malerischen“ ruinierten Poeten, wird es 1855/56 wieder tun.
IV. Zwei ruinierte Poeten – und zwei Strategien der Anrührung durch die Bruchstücke des Ruins
1 Vignys Bekenntnis einer „Reinigung“ Chattertons Es ist Zeit für ein Zwischenresümee, und so für die Konfrontation von Thomas Chatterton, dem verkannten Erfinder einer ersten Symbolfigur eines ruinierten Poeten in einer „zeitgenössischen“ und einer „mittelalterlichen“ Spielart, und Alfred de Vigny, dem anerkannten Erfinder eines „Poète maudit“348, der richtiger der „ruinierte Poet“ heißen sollte und jedenfalls den Namen trägt: „Chatterton“. Es war kein Zufall, daß mehr als ein Dichter darauf kommen konnte, eine Verwirtschaftlichtung der Welt zu kritisieren, die schon 1768/69 spürbar die Handelsstadt Bristol dominierte und die 1834/35 auch in Frankreich definitiv geworden war. Ein merkwürdiger Zufall war es trotzdem, daß zwei Dichter als Mittel der Kritik das Bild eines exemplarischen Märtyrers der unpoetischen Geldwelt erdachten: das Opferbild eines ruinierten Poeten – möge er 1768/69 „der Widerpart Tervonos“ oder „Rowley (mit Canynge)“ heißen; möge er 1834/35 „Chatterton“ genannt werden. Des Zufalles Gipfel wollte es aber, daß Thomas Chatterton als Erfinder eines ersten ruinierten Poetentypus, der allerdings selbst merkwürdig unromantisch, weil geldorientiert gewesen war, vergessen sein mußte, ausgeblendet schon von der englischen Romantik, um einen französischen Romantiker Vigny dazu zu inspirieren, einen ruinierten „Chatterton“ zu kreieren, der auf andere Weise romantisch und unromantisch im selben Atemzug war. Vigny schuf nämlich einen zum sozialkritischen Drama umgemodelten Dichtermythos, und der mußte zum Zweck der Kritik verhältnismäßig unromantisch sein – um sein Publikum im Gegenzug verstärkt zu „romantisieren“. Vigny instrumentalisierte damit nicht nur den Namen Chatterton. Er instrumentalisierte auch das romantische Prinzip der Romantisierung. Bei ihm war sie kein Selbstzweck, keine innere Bewegung, die selbstgenüßlich zu erleiden war und die zu empfinden man sich sehnte, da man im verwirtschaftlichten Alltag Gefühl und Emotion hinten anstellte. Vigny aber gibt der romantischen Bewegung einen Hintersinn und eine Stoßrichtung. Er will sein Publikum oder seine Leser zu etwas bewegen. Seine selbst zweckrationale Instrumentalisierung des Namens Chatterton und des Prinzips der Romantisierung zielten auf eine Er348
––––––––––––––––––– Man denke zurück an Radiguets Urteil in: Règle du jeu, S. 443: „Le Poète maudit, préjugé romantique, cela va de soi, est une invention de Vigny, et c’est dans Chatterton que le mot, repris par Baudelaire, Verlaine, a toute sa force.“
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weichung der maschinisierten Herzen der Individuen ab, die in ihrer Summe „die Gesellschaft“ ausmachten. Es ging Vigny darum, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, daß sie sich verwirtschaftlichte und daß dieses ein bedrohlicher Prozeß war. Um diese Botschaft zuerst den verknöcherten Herzen selbst zu fühlen zu geben, mußte Vigny also so zweckrational sein – den historischen Chatterton ein wenig zu entstellen: nämlich zu „reinigen“. Erst 1924 stellte in Frankreich ein gewisser Citoleux halb überrascht, halb empört fest, Vignys Dramen-Chatterton habe nicht viel mit dem historischen Chatterton gemeinsam, und sollte Vigny Chattertons Werke gelesen haben, erwecke er nicht diesen Eindruck.349 1971 dann (in dem Jahr, das den eigentlichen Beginn einer Erforschung des Dichters, nicht mehr nur des Mythos Chatterton markiert,350) wertet Georges Lamoine die Unterschiedlichkeit zwischen dem historischen und Vignys Chatterton nicht mehr ab, sondern widmet ihr einen Aufsatz. Lamoine erstellt eine detaillierte Auflistung der Abweichungen des Dramen-Chatterton vom Chatterton-Original – ohne allerdings deren Absicht und Effekt zu hinterfragen. So daß am Ende des Essays die bloße Bestätigung der „Modifikationen“ steht, gefolgt von einer offen bleibenden Frage nach dem Grad der Absichtlichkeit oder des Versehens dieser romantisierenden Veränderungen:351 Il reste à déterminer si A. de Vigny connaissait suffisamment bien la vie de son héros pour l’avoir volontairement modifiée, ou si, comme il est plus probable, son époque et lui n’en connaissaient que des versions fortement romancées et par conséquent parfois inexactes.352
Es bleibe zu hinterfragen, ob Vigny das Leben seines Helden gut genug gekannt habe, es absichtlich zu modifizieren, oder ob er, was Lamoine eher glaubt, auf das romantisierte Chatterton-Bild seiner Zeitgenossen zurückgriff, das diese aus England importiert hatten. Anscheinend wußte Lamoine nicht, daß Vigny selbst eine Antwort auf diese Frage gegeben hatte – in einem Brief vom 26. Juni 1839
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––––––––––––––––––– „Au poète Chatterton dont il créa la gloire, Vigny doit-il autre chose que le titre d’un drame? En écrivant sa pièce, il songe fort peu à Chatterton et s’il lut ses ouvrages, il n’y paraît guère.“ (Citoleux: Alfred de Vigny, S. 377, zit. n.: Wolpe: Thomas Chatterton, S. 34.) Der Grund dafür war das Erscheinen von „Donald Taylor and Benjamin Hoover’s monumental Complete Works“ der Chatterton-Werke, mit angefügtem „Glossar“ der Rowley-Sprache. Siehe zu dieser Werkausgabe als Zündpunkt einer neuen Chatterton-Forschung Groom: Introduction [in: Thomas Chatterton and Romantic Culture], S. 6. Lamoine nennt als die zwei wichtigsten Veränderungen der Lebensgeschichte des historischen Chatterton durch Vigny die Einführungen eines „coté sentimental“ und einer Figur Kitty Bell, „pour les besoins du romantisme de son auteur et de ses affaires sentimentales personnelles.“ (Lamoine: Thomas Chatterton dans l’Œuvre de Vigny et dans l’Histoire, S. 317.) Doch freilich war nicht nur Vigny allein nach dem Romantischen und so nach einem romantisierten Chatterton bedürftig. Ebd., S. 330.
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an die ersten Übersetzer der Werke Chattertons in das Französische, Auguste Callet und Javelin Pagnon: Si dans la création, ou plutôt dans l’épuration de caractère, j’ai écarté ce qui pouvait diminuer l’intérêt, pour que le public n’hésitât pas à prendre le parti du malheureux, je ne pense pas moins, à présent comme alors, que se suicide fut un homicide de la société, et que, dans une organisation meilleure, le mérite, que confirme si bien votre traduction, eût reçu de l’État une existence régulière et invariable qui ne peut humilier comme l’humiliaient des secours qu’il regardait comme des aumônes et qu’il voulait fuir dans la tombe.353 Wenn ich bei der Kreation, oder vielmehr bei der Reinigung des Charakters das aus dem Wege geräumt habe, was das Interesse hätte mindern können, damit das Publikum nicht zögern sollte, Partei mit dem Unglücklichen zu ergreifen, denke ich dennoch, jetzt wie damals, daß dieser Selbstmord ein Mord durch die Gesellschaft war und daß in einer besseren Organisation [der Gesellschaft] der Verdienst, den Ihre Übersetzung so gut bestätigt, vom Staat eine regelmäßige und unvariable Existenz[Unterstützung] erhalten hätte, die nicht demütigen kann wie ihn die Hilfeleistungen demütigten, die er als Almosen betrachtete und vor denen er ins Grab fliehen wollte.
Was Vigny an Chatterton bewegte und ihn dazu inspirierte, ein Drama Chatterton zu schreiben, war erstens die Idee, die er in Chattertons ruinierter Lebensgeschichte fand: die Idee, daß die Gesellschaft am Ruin und so auch am Selbstmord des Poeten Schuld gewesen war. Zweitens war Vigny angerührt von Chattertons märtyrerischem Stolz. Exemplarisch bewiesen hatte der historische Jungdichter diesen Stolz am Ende seines Lebens, als er, schon am Verhungern, das Angebot einer Mahlzeit abwies, das ihm seine Vermieterin Mrs. Angels unterbreitete: Er hatte Angst davor, bedürftig zu erscheinen. Eine in keiner der älteren und neueren Chatterton-Biographien fehlende Anekdote, die auch Vigny gekannt haben wird – und die freilich verklärend in den Hintergrund rückt, daß Chatterton wiederum nicht so viel Stolz hatte, geldliche Gaben oder Einnahmequellen abzulehnen. Halb stolz auf seine selbstvermarkterischen Künste, halb zähneknirschend war Chatterton (u.a.) dazu bereit, politische Satiren für die höherbietende oder einfach für beide Seiten zu schreiben – was nicht nur aus diesen überlieferten Schriften selber spricht, sondern auch aus Chattertons Briefen, in denen er seine „glorreichen Untaten“ offen zuzugeben pflegte.354 So daß sogar ein flüchtigerer Einblick in Chattertons Lebensgeschichte und Auszüge seines Werkes, ein Einblick, wie Vigny ihn tat, ehe er zur Feder griff,355
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––––––––––––––––––– Vignys Brief ist zitiert nach Rey. Préface, S. 23. So schrieb Chatterton, um nur eine der beredten Briefstellen zu zitieren, seiner Schwester aus London: „But he is a poor author, who cannot write on both sides.“ (The Works of Thomas Chatterton, Bd. 3, S. 435). Freilich war, wie zu erinnern ist, Vignys Einblick in Leben und Werk Chattertons nur flüchtig: Er las in Thomas Wartons History of the English Poetry von 1774-1781 hinein, in deren zweitem Band sich eine Vorstellung Chattertons fand; außerdem kannte er Henri Latouches
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fast unweigerlich etwas von diesem unromantischen, merkantilen, satirischen Chatterton verraten mußte? Und in der Tat: Da war etwas Störendes gewesen, das Vigny im historischen Chatterton gesehen hatte. Den Erfinder eines ersten Typus des ruinierten Poeten wird er nicht unmittelbar aus Chattertons Satire Intrest thou universal God of Men oder aus der Summe aller Rowley-Fragmente herausgelesen haben. Dennoch war da etwas an diesem Chatterton, den Vigny flüchtig las, das einer „Reinigung“ („épuration“) bedürfte. Denn etwas an Chattertons Charakter hätte einem Interesse des romantischen Publikums an ihm hinderlich sein können – etwas an Chatterton hätte einer Teilnahme am unglücklichen Poeten im Wege stehen können. Und diese Teilnahme, diese Erweichung durch einen liebenswerten und deshalb Mitleid erregenden ruinierten Poeten zu erzeugen: das war die zentrale Absicht Vignys gewesen. Was und wieviel Störendes oder „Unromantisches“ Vigny im historischen Chatterton sah, den er deshalb nicht versehentlich, wie Lamoine es ihm unterstellt, sondern sehr bewußt in seinem Charakter modifizierte – dieses ist nicht mehr von ihm zu erfahren. Doch der Begriff der „Reinigung“ spricht für sich. Die „Reinigung“ scheint der kommenden Konfrontation von Chatterton und Vignys Chatterton, dem (Selbst-)Bild des ruinierten Poeten von 1768/69 und dem ruinierten Dramenpoeten von 1834/35, das rechte Stichwort zu geben – die „Reinigung“ gegenüber der „Kontamination“, durch den Geist der merkantilen Gesellschaft.
2 Chatterton und Vignys Chatterton: Konfrontation ihrer Biographien Thomas Chatterton, geboren am 20. November 1752 in Bristol, verstarb in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1770 mit siebzehn Jahren und neun Monaten. Vignys Chatterton stirbt in der vorletzten Szene des Dramas seines Namens und am Vorabend des Tages, der sein achtzehnter Geburtstag gewesen wäre. Thomas Chatterton wuchs vaterlos auf, seine Mutter betrieb, um ihre Kleinfamilie über Wasser zu halten, in ihrem Haus eine Handarbeitsschule; der vor der Geburt seines Sohnes verstorbene Vater war einfacher Lehrer gewesen, der Familienberuf der Chattertons aber, den noch der Onkel des kleinen Thomas ausübte, war der des Küsters und Totengräbers von St. Mary Redcliffe. Vignys Chatterton hat keine Mutter und keinen Onkel, von dem im Drama die Rede wäre; doch hatte er einen Vater, und das bis vor kurzem: Die schwarze Kleidung des Dichters bezeugt noch die Trauer ob des Verlustes. Dieser Vater ––––––––––––––––––– Elegie auf Chatterton, geschrieben 1825. Wichtig waren ihm nicht zuletzt die oralen Erzählungen Nodiers gewesen, die dieser erfahren hatte von Croft, Verfasser von Love and Madness.
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war aber ein Adeliger gewesen, ein Offizier in der Marine356, dazu ein Mann, der sich ruinierte und seinem Erben nicht mehr als seine Tabaksdose, seinen Namen und seinen Stolz überließ – womit er dem künftigen „Schiffbruch“ des brotlosen Poetensohns zuspielte. Thomas Chatterton besuchte die charitable Bristoler Colston-Schule und erhielt dort eine Ausbildung, die ihn zum Kaufmann befähigte. Von seinem Vater erbte er jedoch das Interesse an alten Dingen, sowie die „Kuriositäten“, die zur praktischen Verwendung als Buchbindungen oder Schnittmusterpapier und mehr auf unlautere Weise ins Haus gekommen waren (wie andere auch, hatte der Vater Chatterton sich aus den aufgebrochenen alten Truhen in St. Mary Redcliffe ungefragt bedient). Doch das Kind Chatterton war fasziniert von den illuminierten Buchstaben auf alten Pergamenten, die es nicht „benutzen“ und zerstören, sondern detailverliebt, erfinderisch, poetisch nachproduzieren sollte. Und das war freilich sein Weg, aus dem verhaßten, weil merkantilen Bristol der Gegenwart in das bessere Bristol des Mittelalters, das Bristol Rowleys und Canynges, zu fliehen. Vignys Chatterton studierte in Oxford, gemeinsam mit Lord Talbot. Doch weder das Studium, noch das Vatererbe der Tabaksdose mit dem Gesichtsbild des Erzeugers (und der Negativspur eines verkauften Diamanten) verweisen auf den Ursprungsmoment, dem die Liebe des jungen Dichters zur alten Zeit, ihrer Sprache und Dichtung, einmal entsprang. Und von einer Liebe zu alten Pergamenten ist hier mitnichten die Rede: es sind die Bruchstücke einer alten Sprache, aus denen ein noch „kindlich-reiner“, ganz unkaufmännischer Zeitgeist spricht, in den Vignys Chatterton sich verliebt und in dem er sich einnistet auf seiner Flucht vor der unpoetischen Welt des Draußen. Denn auch Vignys Chatterton flieht, und floh schon einmal: „Jetzt“, in der Spielzeit seines Dramas, ist er versteckt in seiner Dachbodenkammer im Hause Bell; aber schon einmal zog er sich in das zur Mönchszelle geheiligte Intérieur zurück, im Hause eines anderen Mietsherrn. Hier aber tauchte er ein in einen inneren Sakralraum seiner Dichterseele. Er tauchte ein in den Zustand eines reinigenden Andenkens und Wiederbelebens der alten, noch unmerkantilen Sprech-, Denk- und Fühlweise einer verlorenen poetischen Welt, die doch „die seine“ war; und aus diesem Andenken inspiriert, schrieb er in „fremden“ alten Zungen ein Buch – das er dennoch zurecht den Reliquienschrein seiner ureigensten Muse nannte. Thomas Chatterton hatte sich wirklich in seiner Freizeit, außerhalb der Schule und dann fern seiner Lehrstelle bei einem Notar, in die Dachbodenkammer des mütterlichen Zuhauses zurückgezogen: um dort ungestört die mittelalterlichen Manuskripte Rowleys zu produzieren und sich der Neuerschaffung einer alten Welt aus ihren Bruchstücken zu widmen. Er überzog echte alte Pergamentstücke mit nachgeahmt-alten Schriftzügen und Bildern, um sie anschließend nachzuantiquieren mit dem Schmutz des Stubenbodens, mit Kerzenrauch und Ocker. Chatterton produzierte schließlich nicht nur für sich die teuren Reststücke der Welt Rowleys und Canynges. Er produzierte das, was auch anderen Liebhabern alter „Kuriositäten“ lieb 356
––––––––––––––––––– In seinem „Dialog“ mit der Tabaksdose des Vaters ruft der junge Mann seinen Erzeuger an als: „Bon vieux marin! Franc capitaine de haut bord, vous dormiez la nuit, vous, et, le jour, vous vous battiez!“ (104)
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und teuer war – und daher, allerdings billig, zu verkaufen. Es war die rechte, die verlockende Art, der Welt seine vielschichtig gewinnbringenden Rowley-Fragmente anzudrehen (auch wenn nichts darauf hindeutet, daß einer seiner Käufer den potenzierten Hintersinn herausfand); einen Verleger für ein Rowley-Buch fand Chatterton aber nicht. Walpole verweigerte seine Hilfe dem, den er als erster einen „Fälscher“ nannte; doch sollte es dauern, bis die Debatte um den „Fälscher“ der Rowley-Werke erst richtig begann, nach dem Tod des Umstrittenen. Zu dessen Lebzeiten war Chatterton wahrscheinlich weniger verrufen als schlichtweg zu namenlos, um in der Welt des Londoner Literaturbetriebs einen Verleger zu finden, auch wenn er die Großstadt freilich zu diesem Zwecke durchstreifte, umtriebig, doch letztlich vergeblich. Und so, weil er bei aller Mühe dennoch nach wenigen Monaten nicht erfolgreich und reich, sondern am Verhungern und Verzweifeln war – vielleicht aber auch, weil er sich nach einem Geheimrezept eigenmächtig von einer Geschlechtskrankheit kurieren wollte –, jedenfalls nahm Chatterton sich, ob absichtlich oder nicht, in der Nacht des 24. August 1770 mit einer Überdosis Arsen und Opium das Leben. Vignys Chatterton hat sich mit seinem Rowley-Buch einen Namen gemacht: den umstrittenen Namen, den erst der Tod dem historischen Chatterton machte: den Namen eines Genies oder Fälschers. Vor dieser Debatte um seine Person, die er bewußt miterlebte, floh Vignys Chatterton in das „Lusthaus“ der Bells, an den Rande Londons, in eine arme Dachbodenkammer. Anderes konnte er sich nicht leisten, denn außer dem fragwürdigen Ruhm seiner Person erhielt er keinerlei materielle Anerkennung für die Frucht seiner hingebungsvollen und erschöpfenden Arbeit. Doch als er sich an seinem Hort der Abgeschiedenheit aus der unpoetischen Welt der maschinisierten Herzen, die er für den Preis eines Inkognitos und einer Miete erkaufte, verboten in die unschuldig-gefühlvolle Hausfrau verliebt; als er erfährt, daß er neuerdings als schülerhafter oder gar krimineller Betrüger angeprangert ist, als ein Dieb, der einem historischen DichterMönch Rowley sein Werk geraubt habe; als er schließlich zum „Lohn“ für seinen Betrug das imperative Angebot erhält, seine Dichterseele für einhundert jährliche Pfund zu verkaufen und Lakai im Haus des obersten Geld- und Machtmenschen von London zu werden, Lord Beckford: da bringt auch Vignys Chatterton sich um, doch mit einer Überdosis reinen Opiums. Kitty Bell, die ihn so wortlos wie innerlich unmäßig liebte, zieht er hinter sich her in seinen Ruin, läßt sie zusammenbrechen und hinabstürzen von der Spiraltreppe zu seiner Dachbodenkammer, wo er, der Leichnam, auf den Arm des Quäkers gefallen liegt. Er liegt nahe der Tür und der Schwelle zur Treppe, so daß Kitty Bell und die weiteren Beiwohner des Dramas den letzten Vollzug des Ruins eines Dichters erspähen und unmittelbar miterleben konnten, im Augenblick des Geschehens. Thomas Chatterton, an den in der Nacht des 24. auf den 25. August 1770 vielleicht seine Schwester, seine Mutter oder seine Großmutter dachte – denn das waren die „Frauen seines Lebens“ – zog keine der Unwissenden unmittelbar mit sich in seinen Ruin. Auch seine Vermieterin Mrs. Angel stürzte nicht von der Treppe, als sie erst am Morgen des 25. den jungen Mann fand, tot und entstellt von den Giftkrämpfen, in seinem Exkrement auf dem
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Bett seiner Dachbodenkammer, in dem er das Arsen und Opium zu sich nahm. Fetzen von Manuskripten lagen verstreut auf dem Boden. Fetzen von Manuskripten liegen noch auf dem Boden der Bühne, nahe dem sonst nur mit Erdkohle beheizten Kamin; außerdem aber eine Bibel, eine Zeitung, ein Brief, eine Phiole, ein lebloser Frauenkörper im Bereich des unteren Bühnenzimmers, der mit einem leblosen Männerkörper im Bereich des oberen Bühnenintérieurs korrespondiert; dazu vier versteinerte Gestalten, ein bulliger Mann, zwei kleine Kinder, im Vordergrund aber der Quäker: ein kniender Greis, die Augen flehentlich zum Himmel erhoben, um dort eine barmherzige Aufnahme zweier Märtyrer zu erbitten. So sieht es aus, als der Vorhang sich über dem erstarrten Schlußtableau von Chatterton senkt.
3 Zwei (un)romantische ruinierte Poeten: Konfrontation ihrer Charaktere Vignys Chatterton ist nicht gleich Thomas Chatterton – das ist keine Überraschung. Denn Vigny eignete sich den Namen und die von den englischen Romantikern verklärte Lebens- und Sterbensgeschichte des „marvellous Boy“ an und wußte außerdem, daß er seinerseits den „historischen“ Chatterton „reinigen“ mußte. Das mußte er aber tun, um Chatterton zu funktionalisieren. Die Benutzung diente allerdings einer edlen Absicht: Vigny wollte im Namen Chattertons seine entmenschlichte Welt der maschinisierten Herzen aufrütteln und dazu bewegen, sich zu ändern, zu „restaurieren“. Und diese Absicht teilte Vigny, was ihm vermutlich gar nicht bewußt war, da er sich nie eingehend mit dem Werk Chattertons befaßt hatte, trotzdem mit diesem historischen Dichter selbst. Zu seiner Zeit hatte der im Namen Rowleys und Canynges, zweier am Ende ihrer Existenzen bald ruinierter mittelalterlicher Mönche, ein ähnliches Restaurierungsvorhaben einer Welt angestrebt, von der er nahelegte, sie sei schon im Spätmittelalter zu sehr verwirtschaftlicht gewesen – womit er der eigenen Welt der 1760er Jahre einen satirischen Spiegel vorhielt. Vigny und Chatterton verbindet, aberwitzigerweise zufällig, mehr als daß Vigny seinen Dramenhelden „Chatterton“ nach dem historischen Dichter nannte. Daß Vigny diesen Namen Chatterton benutzte, wie vor ihm Chatterton die Namen Rowleys und Canynges: dieses besagt, daß beide kritischen Dichter die Maske eines historischen ruinierten (oder zwei zumindest bald ruinierter) Poeten erfanden und als Sprachrohr verwendeten, um ihre jeweilige Gesellschaft der Verwirtschaftlichung und „Entpoetisierung“ anzuklagen. Zu diesem Zweck erfanden Vigny und Chatterton einen (un)romantischen Mythos, gemessen am „regulär-romantischen“ Mythos des rebellischen, verfluchten Poeten.
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Dieser romantische Mythos war nämlich der: ein Dichter, „young, solitary, brooding, beautiful and damned“357; ein Poet oder Künstler, der sich als „rebellious artist-hero” ausgab, „isolated and suffering in his genius“; ein „inspired rebel, battling against a hostile, philistine society“358. Jung, einsam, melancholisch brütend, schön und zu einem zu frühen Tode verdammt – isoliert und an seinem Genius leidend, inspiriert, rebellisch, ankämpfend gegen eine ihm antagonistische Philister-Gesellschaft: Das mag alles auch auf den ruinierten Poeten zutreffen. Nur mit zwei entscheidenden Umnuancierungen. Erstens ist es keine Philister-, es ist eine Kaufmanns-Gesellschaft, gegen die der ruinierte Poet aufbegehrt, die sein Martyrium begründet. Zweitens ist diese Kaufmannsgesellschaft nicht nur implizit angeprangert, mit fokussierendem Blick auf den isolierten Märtyrergenius – um den der unschöne Urgrund seiner schönen Rebellion stets ausgeblendet sein mußte, um das hehre Bild nicht zu entweihen. Chatterton jedoch zeigte, vor allem in seinem satirischen Selbstportrait Intrest, die unschönen Seiten des Dichterlebens, den Hunger, das Frieren, die körperliche, aber auch die mentale Erkrankung; und auch Vigny zeigt das Unschöne, Entweihende, Merkantile des Dichterlebens, er zeigt John Bell und zeigt Chatterton in seinem ruinierten Intérieur, im verzweifelten Versuch, für Geld zu schreiben. Das, was von der realen alltäglichen Künstler- oder Poetenexistenz ausgeblendet sein mußte, um diese Existenz zum romantischen Mythos zu erhöhen, wurde von Chatterton und von Vigny in den Mythos des ruinierten Poeten wiedereingeholt. Dieses Auszublendende resümiert Wilson als das Geschäftliche, Praktische der Werkeproduktion und Werkevermarktung; auch erinnert er daran, daß die Zeit der Verehrung des rebellischen Poeten dieselbe Zeit ist, in der der reale Dichter sich unromantische Vermarktungsstrategien aneignet: denn längst schafft er seine Werke nicht mehr unter der Ägide eines adeligen Mäzens; er arbeitet für den Markt eines bürgerlichen Publikums.359 Es ist die Zeit, in der sich die Existenz und Arbeitsweise des kreativen Menschen, sowie das Leben und Arbeiten seiner Zeitgenossen überhaupt, verwirtschaftlicht. Und dieser Sachverhalt der Verwirtschaftlichung auch, ja sogar des kreativen Menschen war eben nicht kompatibel mit dem romantisierten Bild der Künstler- oder Poetenexistenz, das man sich als Gegenbild zur Existenz des Kaufmanns oder schlichtweg des verwirtschaftlichten Menschen schuf – weil man das Bedürfnis danach empfand, an diese romantische andere Existenz zu glauben, die einem selbst nicht gegeben und gleichsam verloren war. Wenn reale Dichter oder Künstler freiwillig in die Maske des romantischen Genius schlüpften, um sich darin zu inszenieren – und zu verkaufen; wenn nämlich eine „popular imagination“360 hartnäckig am Mythos des rebellischen, verfluchten Poeten festhielt und nach ihm verlangte: so ist das eben damit zu begründen, daß dieser Mythos als Ge357 358 359 360
––––––––––––––––––– Holmes: The Romantic Poets and their Circle, S. 7. Wilson: Rebels and Martyrs, S. 7. Siehe ebd., S. 7. Ebd.
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genbild zu dem Menschen populär wurde, der man nicht sein wollte, doch der man zu werden befürchtete und vielleicht im Kern bereits war: der seinerseits zum Feindbild überhöhte Kaufmann. Implizit ist der rein-romantische Mythos des Rebellen-Poeten immer gegen eine Front von Gegenfiguren ankonzipiert, man mag diese nun als „Philister“ oder „Bourgeois“ oder eben als „Kaufleute“ bezeichnen. Nur blendet die Vision des romantischen Genius seine Antagonisten und ihre Qualitäten konsequent aus. Daher muß dieser romantische Genius, als Gegenpol zum „Feindbild“ des philiströsen, bourgeoisen oder schlichtweg merkantil kontaminierten Menschen vor allem eines sein: unkontaminiert von der „Zeitkrankheit“ der Verwirtschaftlichung. Doch wie gesagt, nicht ein, sondern gar zwei Dichter widersetzten sich der romantischen Spielregel der Ausblendung des Merkantilen aus den Bildern der Poeten, welche sie als verhältnismäßig unromantische Spielarten des rein-romantischen Dichtermythos erschufen: Vigny und Chatterton konzipierten, jeder für sich, ihren Märtyrer-Poeten explizit als Gegenfigur zu einem Feindbild des Kaufmanns. Dieser Kaufmann bedeutet in beiden Fällen den materiellen Ruin des Poeten – und doch ist es nicht der einzige Ruin, von dem der Poet betroffen ist. Chatterton und Vigny erfanden jeder für sich einen Poeten, der außerdem ruiniert ist: weil die Kontamination durch den Merkantilgeist der Zeit ihn selber betrifft; weil dieser „innere Ruin“ seine eigene Dichterseele zumindest bedroht. Das ist der Kern des Dilemmas des ruinierten Poeten. Und die Frage ist nur, wieviel des verbotenen Merkantilen den ruinierten Poeten kontaminieren darf, um ihn zu einem besonders intim anrührenden – oder zu einem abstoßed-irritierenden Märtyrer zu machen? * Gewiß, als Thomas Chatterton zwei Versionen eines gegenwärtigen und eines mittelalterlichen ruinierten Poetentypus ausklügelte, geschah das in einer Zeit, in der der Mythos des romantischen Genius noch gar nicht erfunden war. Dieser Mythos bildete sich nach den Modellen lebender oder gelebt habender romantischer Dichter aus, in England also erst mit Byron, Shelley, Keats... Als Chatterton 1769 sein Gedicht Intrest thou universal God of Men schrieb, schwebte weder ihm noch irgendwem sonst das mythische Vorbild eines byronesk-verfluchten Poeten vor; und das könnte das kraß „Unromantische“ von Chattertons vorromantischer Skizze eines ruinierten Poeten entschuldigen – würde Chatterton nicht dennoch, auf provokante Weise, das romantische Element seines Poeten – sein Märtyrersein – aus seinem unromantischen Element – dem Merkantilsein – begründen. Eben das tut Chatterton aber, und am radikalsten in seinem satirischen Selbstbild des ruinierten Poeten: dem lyrischen Ich des Gedichtes Intrest. In Intrest thou universal God of Men stellt Chatterton zwei Figuren als Kontrahenten einander gegenüber, als Opfer und Täter: auf der einen Seite der arme, hungernde, frierende Poet – auf der anderen Tervono, der geborene Kaufmann. Da Tervono zum „wahren Anti-Christen“ überzeichnet wird, ist sein Gegenstück, der Poet, folglich implizit als „wahrer Christ“ bezeichnet, als exemplari-
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scher Märtyrer. Tatsächlich ist der arme Dichter das Opfer Tervonos und seiner Welt; er ist, stellvertretend für das Poetische, Imaginative, das Menschlich-Fühlende im Menschen, das Tervonos Welt verloren ist, der Sündenbock seiner Kaufmannsgesellschaft. – Soweit ist Chattertons „zu frühes“ Selbstbild eines ruinierten Poeten eine überraschend romantische Figur. Nur daß seine Opferrolle gegenüber Tervono nicht das Einzige oder Eigentliche ist, das Chattertons Dichter zum Märtyrer erhebt. Chattertons Poet wird zu diesem Märtyrer, weil er an sich selbst leidet. Auch das ist im Vorgriff unleugbar romantisch, ja geradezu byronesk. Denn Chattertons Poet leidet sogar, wie um noch mehr das künftige Klischee zu erfüllen, an seinem inspirierten Selbst. Nur ist sein Selbst inspiriert zur unromantischen Satire. Und das ist nur das letzte Bruchstück der Pointe. Deren Ganzes ist nämlich, daß der Poet selbst ein poetisch-inspiriertes und ein merkantil berechnendes Doppelwesen ist. Der Dichter ist innerlich Poet und Tervono. Denn er weiß, was er schreiben muß, will er es verkaufen und von seinem Verkaufen leben. Er weiß, die reichen Geld- und Machthaber bezahlen für Schriften, von denen sie etwas haben, aus denen sie Gewinn ziehen; sie zahlen für Lobeshymnen auf sie oder für anderweitige Nachadelungen ihrer kaufmännisch-bürgerlichen Charaktere und niederen Herkünfte. Wahre, inspirierte Poesie hingegen würde dem Kaufmann Tervono nichts nützen – und zudem seinem niederen Geist ganz unverständlich sein. So aber wird der Poet nicht durch unmittelbare Machtausübung auf ihn von außen zu einer Arbeit getrieben, unter der er leidet. Er wird einerseits durch sein Hungern und Frieren, andererseits aber durch seinen eigenen Merkantilwitz dazu getrieben, die niedere Ware zu fabrizieren, von der er scharfsinnig durchschaute, daß sie sich verkaufen werde – wiewohl er persönlich sie verachtet. Und nicht nur seine niedere Ware verachtet der Dichter, sondern auch sich selbst, dafür, sie aus berechnenden Gründen produziert zu haben. Der Poet verachtet den niederen, merkantil berechnenden Tervono in sich, der bereit ist, den inspirierten Poeten zu verkaufen. Der Poet prostituiert seine Dichterseele – doch das ist noch nicht die ganze Essenz seines Martyriums. Der Poet bäumt sich gegen seine Selbstprostitution auf – er empört sich – und diese Empörung wird ihm zur Inspiration. Die Empörung inspiriert ihn: und zwar zu der Art von Produktionen, die der Dichter auf keinen Fall schreiben dürfte. Denn diese Empörung über das Merkantile seiner Außenwelt, aber auch das Merkantile in sich, inspiriert den Satiriker im Poeten. Und die Gefahr der Satire besteht nicht darin, unverstanden und daher unentlohnt zu verklingen. Das Sprengpotential der Satire besteht darin, womöglich allzu gut verstanden zu werden. Da sie sich aber gegen die Tervonos der Welt richtet, die doch die Geld- und Machthaber sind: Deshalb riskiert der Satiriker-Dichter, nicht nur mit nichts, sondern mit dem Gefängnis für sein Werk „entlohnt“ zu werden. Das also ist das Dilemma des ruinierten Poeten Chatterton: selbst merkantil kontaminiert zu sein; seine Dichterseele bewußt, und deshalb unter inneren
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Protestqualen für Brot und Geld zu verkaufen; auf diese Weise aber, aus der Empörung ob dieser inneren Zerrissenheit zwischen merkantilem und „wahrem“ Poeten heraus, zum inspirierten Satiriker zu werden; damit jedoch nicht nur vernichtend-scharfsinnig auf die Tervonos der Welt zu wirken, sondern selbstzerstörerisch die Katastrophe des nichtigen Einkommens und der Inhaftierung heraufzubeschwören: was dem materiellen Ruin und dem Ruin des Rufes, des Stolzes, gleichkommt. Doch schlimmer als die drohende Gefängnisstrafe und auch schlimmer noch als der Hunger, der die Selbstprostitution des Dichters antreibt, ist eben dieser innere Konflikt an sich; dieser innere Konflikt eines Poeten, den erst das Aufbegehren gegen den Tervono in sich zum inspirierten, genialen Satiriker macht. Diese innere Zerrissenheit, die aus der Kontamination durch das Merkantile resultiert und einmündet in die Inspiration zur Satire, ist der seelische Ruin eines von seiner Zeit gebrandmarkten Poeten. Die merkantile „Korruption“ ist die seelische Ruinierung des Dichters durch einen Zeitgeist, der nicht spurlos an ihm vorüberging. Und das Paradoxe ist nur, daß dieser seelische Ruin des „zeittypischen“ Poeten trotzdem die Essenz seines Martyriums ist – und dieses Martyrium macht ihn, den widerwillig merkantil kontaminierten Poeten, trotz allem zum Gegenbild Tervonos und erhebt ihn zum Sündenbock seiner Merkantilwelt. Der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen verwirtschaftlichten Menschen und dem verwirtschaftlichten Dichter ist schließlich, daß der Poet im Augenblick der satirischen Inspiration, konkret im Schreiben von Intrest, seine Seelenkontamination als solche durchschaut, daß er sie seziert, verurteilt, daß er damit aber nicht nur sich selbst anprangert. Verachtungsvoll wirft der Satiriker sein beflecktes Selbstbild der Welt ins Gesicht wie einen Fehdehandschuh: In seinem Gedicht steckt der Vorwurf an die Welt, Schuld an seiner merkantilen Verunreinigung zu sein, Schuld zu sein an der qualvollen Ruinierung seiner in sich zerrissenen Seele. Zwischen den Zeilen ruft der Dichter es lauthals aus: „Seht, ich bin ein Poet – und doch... Seht, was ihr aus mir gemacht habt!“ Und diese Selbstanklage zur Anklage der Welt hebt den merkantilen Dichter doch über sich selbst und alle Welt hinaus. Sie erhöht ihn zum exemplarischen Sündenbock und Märtyrer jener Tervono-Gesellschaft, die Chatterton im „neuen“ Bristol verkörpert sah. Denn im alten Bristol wurde der Ruin des Dichter-Mönchs Thomas Rowley, so Chatterton, zumindest ein halbes Leben lang abgefangen durch die gewinnbringende Vereinigung mit dem Kaufmann und Busenfreund Canynge. Erst als die mittelalterliche und trotzdem bereits zu kaufmännische Welt nichts mehr von denen wissen wollte, die sie, inspiriert vom Kulturgut alter Manuskripte, ihre halbe Existenz lang „restauriert“ hatten, weckte das vollends die Satiri-
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ker361, vor allem aber die Sammler in den Verkannten. Zuletzt waren der alte Dichter- und der alte Kaufmannsmönch zwar nicht gänzlich materiell ruiniert, wohl aber in ihren Lebensbestrebungen. Aus diesem Grund zogen sie sich in das Kloster zurück, hier aber in das Andenken der guten alten Zeit ihrer geliebten sächsischen Manuskripte. Doch das ist eine andere Geschichte, auf die später noch einmal zurückzukommen sein wird. Zuerst ist nämlich ein Blick auf jenen anderen, Chatterton genannten ruinierten Poeten zu werfen, den Alfred de Vigny erfand und der seinerseits nur flüchtig merkantil kontaminiert ist. * Vignys noch ganz junger Chatterton flüchtet in das heilige, weil reinigende Andenken einer alten, besseren, unkontaminierten Welt – und er schreibt definitiv keine Satiren: er fürchtet sich im Gegenteil davor, derart „böse“ zu werden. „Ah! misérable! Mais... c’est la Satire! tu deviens méchant. (Il pleure longtemps avec désolation.)“ (104) „Ach! Elender! Aber... das ist die Satire! Du wirst böse. (Er weint lange und mit Verzweiflung.)“ So Chattertons beredte Sprache und Körpersprache, die verrät, wie sehr der Poet sein Satirisch- oder Bösewerden fürchtet. Denn es wäre ein Anzeichen dafür, daß sein eigenes warmes Herz erkältet wäre, angesteckt vom Geist der kalten Merkantilwelt, der der Poet doch entfliehen will. Vignys Chatterton ist von dieser Welt der maschinisierten Herzen nicht kontaminiert – er will es „mit Verzweiflung“ nicht sein. In der Tat trägt Vignys Chatterton einige geradezu regel-romantische Charakterzüge, die ihn als Enkel von Chateaubriands René und Sohn des Typus Byron verraten. Chatterton ist in seinem weltflüchtigen Wesen melancholisch„sauvage“ (84), verwildert, wie es in Frankreich seit René alle romantischen jungen Poeten sein müssen. Sein Dichtersein oder seine „Poésie“ aber empfindet Chatterton als eine Art Fluch, als „l’ennemie fatale née avec moi: la fée malfaisante trouvé sans doute dans mon berceau […]. – Elle se met partout; elle me donne et m’ôte tout; elle charme et détruit toute chose pour moi; elle m’a sauvé... elle m’a perdu.“ (73) Und tatsächlich wird dieser Fluch sich am Ende, wie vom Quäker befürchtet, auf Kitty übertragen und sie mit ins Unglück stürzen. Kein Wunder, daß man Vigny für den Erfinder eines „Poète maudit“ oder „verfluchten Poeten“ halten könnte – oder zumindest für einen Neuimprovisator des byronesken Typus des Dichters, der „vampirisch“ sein Lebensunglück verbreitet! Wäre es nicht doch anders und der „Fluch“ des Poeten nicht mehr mit einem fatalen, unumgänglichen „Schicksal“ zu erklären, sondern aus der ungünstigen Konstellation zwischen Poet und unpoetisch gewordener Gesellschaft. Nur in dieser Welt, die nichts mehr von Poesie wissen will und folglich nicht für sie zahlt, ist es ein Fluch, zum Dichter geboren zu sein. Nur in dieser Welt der 361
––––––––––––––––––– Daß schon Rowley und Canynge eine satirische Ader hatten, bezeugt beispielsweise Canynges „Entyrlude“ The Worlde (in: The Complete Works of Thomas Chatterton, Bd. 1, S. 233-235), das Chattertons wesentlichen Anklagepunkte von Intrest, auf die Mittelalterwelt übertragen, gleichsam vorwegnimmt.
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erkalteten Herzen ist es ein Fluch, anders zu sein, also sensibel und leidenschaftlich, vergeistigt und phantasiebegabt, kurzum: inspiriert. Dabei erfolgt Chattertons Inspiration ausgerechnet aus dem Andenken einer guten alten Zeit heraus, in die er sich zur Weltflucht zurückzog. Außerdem inspiriert ihn seine Seelenpein, das bewußte, durchschauende Erleiden seines Lebensdilemmas, in eine Welt hineingeboren zu sein, die für ihn keine Verwendung mehr hat. So daß das fatale Dichten kein Ende nehmen kann, solange das Leiden des Poeten an seiner unpoetischen Welt währt. Es ist ein Teufelskreis, doch der ist eben kein fatal-zeitloses Schicksal, sondern ein zeittypischer, materieller und seelischer Ruin, der zu verhindern gewesen wäre und einen konkreten Schuldigen hat: die verwirtschaftlichte Gesellschaft. In diesen zeittypischen Ruin wird Chatterton Kitty Bell mitstürzen – darüber aber, wenn es gelingt, die Herzen der anderen Dramenbeiwohner, die unterhalb der Bühne sitzen, gleich mit bestürzen. Und wenn es gelingt, werden diese bestürzten Herzen hoffentlich dazu bewegt sein, etwas an ihrer gleichgültig gewordenen Einstellung ihrer sich verwirtschaftlichenden Welt gegenüber zu ändern – und so ihre Gesellschaft zu verändern? Dieses zu erwirken hoffte Vigny, und sein hehres Ziel teilte er, ohne es zu wissen, mit dem historischen Chatterton. Dessen Charakter mußte er allerdings „reinigen“, um sich aus Chatterton seine Waffe zu machen. Der „gereinigte“ Chatterton darf im Wesentlichen nämlich nicht unromantisch sein: Er darf das nach dem Romantischen verlangende Publikum nicht als satirischer oder gar merkantiler Dichter abstoßen. Damit ginge seine Anrührungsmacht verloren. Die Instrumentalisierung Chattertons reflektiert und entschuldigt Vigny explizit im Nachwort seines Dramas, das er in der letzten Nacht der Arbeit daran niederschrieb und in dem er die Thesen und Absichten seines Werkes in theoretischem Klartext resümierte. Hier definiert Vigny den wahren Poeten in Abgrenzung zu zwei anderen schreibenden Menschen. Der eine ist der „große Schriftsteller“, der andere der „homme de lettre“ oder Berufsschriftsteller. Und diesem Berufsschriftsteller schreibt Vigny all die Eigenschaften zu, die Chattertons ruinierter Poet an sich selber verachtet: Der Berufsschriftsteller ist der „herzlose“ Schreiber für Geld, der Produzent jeglicher Ware, die sich als gefällig verkaufen läßt. Der „homme de lettre“: das ist der merkantile, in seiner Welt erfolgreiche, reiche Schreiber. Der Poet: das ist der, der aus seiner Inspiration heraus dichtet, seinem Herzen folgend und nicht nach dem Geschmack der anderen. Das ist der, dessen Werk zuviel Tiefgang und eine zu hehre, vielleicht zu schwierige Schönheit hat, um von den Unsensiblen, die sich mit Literatur amüsieren wollen und sonst dem Geschäftsleben frönen, zugänglich zu sein. Der Poet ist folglich der, der nicht verkauft, der verarmt und sein Dilemma selber durchschaut – und der trotzdem seine körperliche und mentale Gesundheit weiter ruiniert im nächtelangen, trotzigen, verzweifelten Schreiben – im Erschreiben dessen, was nie einen Käufer finden wird, was aber geschrieben werden muß, weil der Poet nicht
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anders kann, als seiner Inspiration zu folgen. Dabei weiß er wohl, daß die Inspiration eine Art Fluch ist, die sich halb aus dem fluchtartigen Andenken poetischer Vorzeiten generiert, halb aus dem bewußten Erleiden der Position eines gekreuzigten Märtyrers der unpoetischen Merkantilwelt. „Les hommes d’imagination sont éternellement crucifiés, le sarcasme et la misère sont les clous de leurs croix.“ (108) – „Die Männer der Imagination sind auf ewig gekreuzigt, der Sarkasmus und das Elend sind die Nägel ihrer Kreuze.“ Diese Erkenntnis durchfährt den Dramen-Chatterton im Augenblick einer Inspiration durch einen erneuten, intensivierten Seelenschmerz, den VerlustSchmerz um Kitty Bell. Doch in Dernière nuit de travail erklärt Vigny das Bild noch einmal anders, und zwar als einen Teufelskreis des Poetendaseins. Dieser Teufelskreis ist der: daß sich der von der Welt verkannte Poet mehr und mehr in das weidwunde Selbst zurückzieht – wo mehr und mehr aufgestaute Negativeindrücke lava-ähnlich brodeln – bis sie überquellen in eine Poesie, die denen immer weniger verständlich wird, welche in ihrem Inneren immer weniger diesem Poeten ähneln, der sich in seiner schmerzlichen Inspiration verschraubt. So daß sie für ihn und sein Werk immer weniger Sympathie aufbringen – und immer weniger Geld. Auf diese Weise schreiten der materielle und der mentale Ruin des Dichters Hand in Hand unaufhaltsam voran. Am Ende steht, als letzter Fluchtweg aus dem Dilemma der sich von außen und innen voranschraubenden Ruinierung des Poeten, der Selbstmord. Doch ist es wirklich dieses Dilemma, das das Drama Chatterton erzählt? Im Grunde genommen nicht. Chatterton ist in Wahrheit, und anders als es sein theoretischer Kommentar resümiert, ein Drama der negierten Verführung. Und damit ist nicht nur die nichtige Verführung Kitty Bells durch Chatterton gemeint. In erster Linie ist Chatterton das Drama der drohenden Verführung des Poeten durch den Merkantilgeist, den Geist John Bells und Lord Beckfords, dem der junge Chatterton als fragiler Mensch nicht ungefährdet ausgeliefert ist. Vignys Chatterton scheint zwar zunächst, anders als Thomas Chattertons ruinierter Poet, unkontaminiert von seiner Geldwelt zu sein und zumindest insofern mit sich im Reinen. Auch verspricht Vignys Chatterton sich selbst, dem Quäker und dem Publikum eben das: er selbst, der reine Poet, zu bleiben, bis zum Ende. Er verspricht, nicht die Maske des merkantilen Menschen überzuziehen, in die er nicht passen würde, sondern nur auf sein eigenes Herz und dessen Gesetze zu hören: „Pour moi, j’ai résolu de ne me point masquer et d’être moi-même jusqu’à la fin, d’écouter, en tout, mon cœur dans ses épanchements comme dans ses indignations, et de me résigner à bien accomplir ma loi.“ (69) Doch Chattertons Drama besteht darin, zweimal diesem Versprechen untreu zu werden. Zweimal verkauft Vignys Chatterton seine reine Poetenseele. Das erste Mal ist ein Akt der Vergangenheit gewesen: Chatterton unterzeichnete einen Vertrag, in dem er seinem einstigen Hausherrn versprach, bis zu einem festgesetzten Termin seine Mietschulden zu bezahlen. Bezahlen wollte er allerdings aus dem Erlös eines Buches, das noch zu schreiben war. So verkaufte
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Chatterton seine Dichterseele nicht stundenweise, aber er verpfändete sie für den Zeitraum der Frist bis zur Schuldentilgung. Nebenher schloß er zur Sicherheit noch einen zweiten Pakt ab, der darin bestand, im Fall des Ruins oder Todes seinen Leichnam an die chirurgische Schule zu verkaufen, um dann damit die Schuldenlast zu begleichen. Und dieser Pakt trug den Krisenhöhepunkt des Dramas schon in sich. Tatsächlich kommt es zu diesem Ende, nachdem Chatterton ein erneutes Angebot bekommen hat, seine Dichterseele noch einmal zu verkaufen – und diesmal definitiv, fürs Leben. Chatterton, der zu diesem Zeitpunkt ohnehin weiß, daß sein Name des Dichters nunmehr als der eines kriminellen Betrügers verschrieen ist, könnte einen Brief Lord Beckfords annehmen, damit aber eine Lebensstelle als Lakai im Hauswesen dieses obersten Geld- und Machtmenschen von London. Chatterton könnte, den Brief, die Stelle und das Gehalt annehmend, sein verrufenes Dichterselbst ablegen – doch er kann es nicht. Chatterton, der schwor, er selber zu bleiben bis zum Ende, hält sich letztlich doch an sein Gelöbnis; er kauft seine Seele, die sich durch die Annahme des geschlossenen Briefes nur flüchtig und versehentlich prostituierte, wieder frei durch das Austrinken einer Phiole Opium. Und dieser Freikauf ist nun der kritische Punkt des Dramas. Denn einerseits ließe sich die Geste also wie folgt interpretieren: Chatterton kauft mit seinem Tod die Unkontaminiertheit seiner Dichterseele zurück, so daß er am Ende als gereinigter, eindeutig romantischer und nicht-merkantiler Poet aufleuchtet. Dieser ruinierte Dichter wäre in der Tat eine befriedigend gereinigte Gegenversion zu Chattertons eigenem, zu unromantisch beflecktem Poeten: Denn der zog dem Sterben und Hungern das Leben vor, verkaufte deshalb seine Dichterseele, litt deshalb an der Zerrissenheit seines „niederen“ kaufmännischen und seines „hehren“ Poetenselbsts; deshalb geriet er in die Gefahr, als empörter und inspirierter Satiriker sich selber zu schaden und seinen materiellen und mentalen Ruin eigenhändig, die Feder in der Hand, weiter voranzutreiben. – Und ja, dieser ruinierte Poet Chattertons wäre dem französischen Theaterpublikum von 1835 abstoßend gewesen, aufgrund seiner gar nicht verschwiegenen, sondern im Gegenteil selbst-bewußt, trotzig und anklagend ans Licht geholten merkantilen Verunreinigung. Vignys Chatterton hingegen bewegt und gewinnt die Herzen, weil er bis zuletzt der Gefahr der Kontamination seiner Poetenseele durch den andringenden Wirtschaftsgeist standhält. Außer, man sieht die Sache andersherum. Denn das Problem bleibt nichtsdestotrotz, daß der reinigende Freitod nun einmal ein Freikauf ist, und dieses sogar in doppelter, in ideeller und materieller Hinsicht. Es ist erstens ein Freikauf der Seele, die, befreit von ihrem materiellen Ballast, in Regionen aufsteigt, in denen nichts und niemand mehr sie mit merkantilen Dinge behelligen wird. Zweitens verbleibt der materiellen Erde aber ein plötzlich gewinnbringendes Reststück: des Dichters Leiche kann, wie von Chatterton in die Wege geleitet, an die chirurgische Schule verkauft werden, um seine Mietschulden postum abzutragen. – Ist dieses aber ein „romantisches“ Dramenende??
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Nur ist Vignys Chatterton eben kein romantisches, es ist ein tendenziell unromantisch gewordenes Drama – das gerade deshalb erst recht romantisiert. Unromantisch, unschön und doch besonders intim berührend ist nämlich erstens die ausdrückliche Erinnerung: daß sogar der „wahre Poet“ in ständiger Bedrängnis und daher in Versuchung steht, um sein Überleben zu schreiben, sich für Geld und Brot zu verkaufen. Diese bedrohliche Möglichkeit einer Merkantilisierung sogar des „hehren“ Poeten auszusprechen, ist bereits Bruch der stillschweigenden romantischen Regel, Realtatsachen der zeitgenössischen Dichterexistenz, die dem romantischen Eindruck störend wären, auszublenden. Zweitens ist es daher ebenso irritierend und doch intim verständlich, daß der Selbstmord, diese letzte, poetische Flucht des verkannten Dichters aus der Welt der John Bells und Lord Beckfords, aus den prosaischsten Geldgründen hervorgeht. Weil Chatterton Geldschulden hat, die er nicht bezahlen kann, steckt er in seiner fatalen Zwickmühle, Beckfords Brief anzunehmen oder eben nicht. Der Mangel an Geld, und daher an Nahrung, Wärme und körperlicher Gesundheit: diese prosaisch-materiellen Gründe sind die ersten, banalsten Fundamente seines Freitods. Und wenn dieser Selbstmord Chatterton von allem Geldlichen und Weltlichen reinigen und freikaufen soll, so ist drittens dieses Freikaufen doch selbst ein merkantiler, berechnender, kaufmännischer Akt? Daß auch Buss Vigny als Erfinder des Mythos des verfluchten und nicht des ruinierten Poeten erachtet362, hindert ihn nicht daran, das Innovative und Attraktive von Chatterton wie folgt zu benennen: What attracted most attention at first was not Vigny’s advocacy of greater patronage in poetry, but his apparent defence of suicide by shifting responsibility for it from the individual to an unjust society. In its widest connotations, this accusation of society is probably the most modern aspect of the play.363
Vigny gibt nicht einer zum Wahnsinn hochgesteigerten romantischen Melancholie die Schuld am Selbstmord des Dichters, er gibt sie dem Unromantischen einer verwirtschaftlichten Gesellschaft. Das sei das „Moderne“ und „Attraktive“ von Chatterton. Das aber bedeutet, daß Vignys Chatterton nicht so sehr romantisch-verfluchter Ausnahmemensch ist, daß er unbeeinflußt von konkreten, 362
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––––––––––––––––––– Siehe Buss: Vigny: Chatterton, S. 71: „The most profound influence of Chatterton is the intangible one in fixing more precisely than anyone had managed to do before a certain image of the poet and a certain idea of poetry. The feeling that the poet was a person cursed rather than blessed by an acute sensitivity had found expression in one form in Byron (or rather in the Byronic image), but was fully realized in Chatterton before being further defined by Verlaine in his study of the poètes maudits.” Ohne Vignys Leistung der Stiftung eines besonders einprägsamen Poetentypus schmälern zu wollen, und ohne leugnen zu wollen, daß Vignys Chatterton anregend auf Verlaine wirken konnte, halte ich trotzdem an der Differenzierung fest: „Einschlagend“ wirkte Chatterton als Mythos eines von der Geldgesellschaft ruinierten, nicht schicksalhaft verfluchten Poeten. Ebd., S. 70.
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materiellen Dingen wäre. Der Dichter, dieses hehre Idol, ist ein kreatürlicher Mensch. Deshalb ist er gefährdet durch die Verlockung der außerehelichen Liebe – die Versuchung zur Selbstvermarktung – zuletzt durch die dritte Verführung, zum Selbstmord. Vignys ruinierter Poet ist insofern „unromantisch“ – und in besonders vertraulicher Weise anrührend –, als er vom unantastbaren Mythos des hehren romantischen Idols näher an das Menschliche, Kreatürliche seiner Zeitgenossen heranrückt. Er ist ihnen verwandter. Diese neue, unromantisch bewegende Nähe wird aber an dem Punkt am offensichtlichsten und brisantesten, an dem der kreatürliche Dichter sich selbst zum poetischen Märtyrer erhöht – indem er sich zugleich zu einem merkantilen Märtyrer erniedrigt. Chatterton erkauft sich mit seinem Selbstmord seinen Märtyrerstatus, und er erkauft sich mit der Abtötung seines überflüssigen Seelen- und Poetenanteils einen nützlichen Platz im Getriebe der maschinisierten Welt – das, was nach dem Selbstmord übrigbleibt, sein „körperlicher Abfall“, ist für Geld zu verkaufen, da es der chirurgischen Schule, und so der Welt, brauchbar ist. Nicht nur Chattertons ruinierter Poet, auch Vignys ruinierter Chatterton ist merkantil kontaminiert: jedoch nur für den Augenblick. Und das ist das merkwürdige Paradox, das sein Drama am Ende so irritierend unromantisch macht, daher aber so beunruhigend intim ansprechend und an wundem Punkt berührend. Chatterton verfährt nicht romantisch-wahnsinnig, er verfährt überaus vernünftig, exakt nach den Merkantilregeln seiner Gesellschaft, wenn er das Unnütze, Poetische (seiner Seele) eliminiert und das Materielle (seiner Leiche) verkauft. Chatterton eignet sich damit selbst die kalt berechnende Denkweise seiner Umwelt an, nur gegen seine eigene Person angewendet. Freilich, er tut es mit einer sublimen und zynischen Selbstironie, wenn er sich derart als eine Kreatur manifestiert, die selbst von der Gesellschaftskrankheit der verhärteten Herzen angesteckt ist. Doch eben das tut er, indem er sich vor den Augen des Dramenpublikums aus kalter Berechnung tötet, weil er, wie gesagt, einerseits kein geistiger Übermensch ist, der von allen materiellen, kreatürlichen, merkantilen Nöten abgelöst wäre, die ihn zur kalten Verzweiflungstat trieben; andererseits bleibt Chatterton jedoch trotz allem etwas Besonderes: nämlich einer, der sein Dilemma der Bedrohung durch die merkantile Kontamination durchschaut, sich selbst als Kontaminierter verurteilt – darüber aber die Welt anklagt, die ihn derart materiell und seelisch ruinierte. Vignys Chatterton verkehrt, im Grunde ähnlich wie Chattertons ruinierter Satiriker-Poet, seine Selbsterniedrigung zum merkantilen Dichter in die Selbsterhöhung zum Opfer der Welt, die ihn – den Poeten! – derart vernichtete. Nur deutet sich Vignys Chatterton nicht mit der Feder, vermittels eines satirischen Gedichtes, als beispielhafter Sündenbock der verwirtschaftlichten Gesellschaft. Vignys Chatterton „verwirklicht“ seine Opferrolle durch eine Geste. Anstatt die definitive Verwirtschaftlichung seiner selbst, die ihm mit Beckfords Brief droht, dumpf im Leben geschehen zu lassen, inszeniert Chatterton seine nur einmalige
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Beugung unter dem Druck des Merkantilen. Chatterton räumt seine Poetenseele selbst aus dem Weg, verkauft das materielle „Reststück“ gewinnbringend – und erkauft sich doch mit diesem merkantilen Akt des Selbstmords zum Verkaufen der Leiche die Freiheit seiner Seele, die er „danach“ nie mehr erkaufen oder verkaufen muß. Vignys Chatterton ist einmal im Leben „in der Tat“ nieder genug, sich einer merkantilen Strategie zu bedienen: um danach vom Merkantilen befreit zu sein. Das ist ein geradezu an Hobbes’ Leviathan erinnerndes Paradox, denn hier sollen sich alle egoistischen Einzelindividuen, die einander in Freiheit wölfisch zerreißen würden, dieser Freiheit einmal im Leben bedienen: um sich im Akt der Wahl eines absolutistischen Souveräns der gefährlichen Freiheit zu entledigen. Im Falle Chattertons erkauft sich ein Poet, der lebenslang von der Ansteckung durch den Wirtschaftsgeist seiner Umwelt gefährdet ist, mit seiner einmaligen Selbsterniedrigung zum merkantil kontaminierten Menschen seine Erhöhung zum Märtyrer. Er erkauft sich seine Selbstreinigung zum nur ein wenig unromantischen, da nur einmal, flüchtig, wirtschaftlich-verunreinigt gewesenen Poeten. So ist Chattertons letzte, verunreinigende und reinigende, selbsterniedrigende und selbsterhöhende Tat die romantischste und unromantischste Geste des Dramas. Dieser Akt des Selbstmords zum Freikauf der Seele und Verkauf der Leiche ist nicht nur opfermütig-zweckrational – er ist auch sublim selbstironisch und zynisch. Es ist eine „böse“ Tat. Chatterton, der Angst vor der Inspiration zur kalt-bösen Satire hatte, ist am Ende doch ein wenig kalt-böse geworden – und das ausgerechnet in dem Augenblick, in dem er sein Versprechen einlösen will, er selbst, der fühlende Herzensmensch, zu bleiben.364 – Das ist aber ein wiederum böses Fazit von Alfred de Vigny. Zwar läßt der seinen Chatterton mit einem Schlußtableau enden, das gewollt herzerweichend ist, pathetisch und in Andacht versetzend – jene „nature morte“, das Stilleben oder erstarrte Abschiedsbild der Bühne mit Märtyrerleichen, fatalen Dingen und betendem Quäker. Doch das ändert gar nichts daran, daß Vigny, kurz bevor er den heiligenden Grabschleier des Schlußbildes versöhnlich auf den Korpus seines Dramas legte, seine spitzeste, unromantischste, beunruhigendste und doch auch ansprechendste Pointe in Chatterton plazierte: den Freikauf des Poeten. Am Ende ist Vigny selbst, der vergeistigte Romantiker, subtil „böse“ und zudem „satirisch“ geworden. Nicht umsonst schreibt Flotte zum Feindbild John 364
––––––––––––––––––– Auch ist am Rande noch einmal zu erhärten, daß Chatterton im Akt des Selbstmords aus Verzweiflung der poetische Herzensmensch ist und nicht mehr ist: Chattertons Freitod ist egoistisch. Der Dichter behauptet zwar in seiner Aussprache mit Kitty, als er das Gift schon genommen hat, er habe sich auch zu ihrem Besten aus dem Wege geräumt (siehe S. 130). Doch in Wahrheit hatte er dem Quäker versprochen, Kitty zuliebe am Leben zu bleiben, um sie nicht mit seinem Freitod mitzutöten. Tödlich verletzt durch das Angebot der Lebensstelle als Lakai Beckfords, und folglich egoistisch auf sich selber fixiert, dachte Chatterton dann aber nicht an Kitty, als er das Opium trank (siehe S. 125).
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Bell: „C’est une satire tracée par un gentilhomme voisin du socialisme.“365 „Es ist eine Satire, gezeichnet von einem Adeligen, der dem Sozialismus nahe steht.“ Letztendlich erging es Vigny beim Schreiben von Chatterton nicht so anders als Thomas Chatterton beim Schreiben von Intrest thou universal God of Men, dem selbstreflexiven Gedicht, das exakt analysiert, wie die Inspiration zur Satire aus der Empörung entspringt. Mag sein, daß Vigny sich nicht gerade am Kaufmannsanteil seiner eigenen Seele empörte; trotzdem kann man Chatterton als eine persönliche Abrechnung ansehen: Chatterton est une explosion de toutes les rancunes accumulées contre les événements et les hommes. Les jeunes lords, en particulier, procèdent vraisemblablement des gendarmes rouges que l’auteur avait connus quand il était trop pauvre pour figurer dans le monde. Vigny ne délègue à son héros que ses amertumes et ses déboires.366
Chatterton sei eine „Explosion sämtlicher akkumulierter Rachegedanken gegen Ereignisse und Menschen“, so François Germain, der in Lord Talbot und seinem Gefolge folglich eine Gruppierung von Männern wiedererkennen will, die Vigny das Leben schwer gemacht hatten, als er „zu arm war, in der [gesellschaftlichen] Welt aufzutreten“. Vigny habe seinem Helden „nichts als seine Verbitterungen und seine Enttäuschungen“ vermacht – das ist vielleicht wiederum zu einseitig gesehen, doch gänzlich unbegründet ist es nicht. Schließlich ist das Dramenende dieses ruinierten Poeten bitterböse, der sich einmal zum merkantil berechnenden Menschen erniedrigt, um danach von allen kaufmännischen Bedrängnissen frei zu sein (und seine Leiche mag schon ein anderer verkaufen, um die offenen Mietschulden aus dem Erlös zu begleichen). Doch gerade diese (un)romantische, Chatterton erniedrigende und ihn erhöhende, den Poeten kontaminierende und ihn reinigende Pointe mußte sein, um die Dramenbeiwohner wachzurütteln. Vigny wollte die Zuschauer oder Leser seines Dramas nicht mit einer romantischen Geschichte einlullen. Er wollte ihnen nicht die Flucht aus der Welt des verwirtschaftlichten Alltags in eine bessere, romantische Dramenwelt ermöglichen, auch wenn man seinerzeit als Dramenbesucher eine solche Flucht ersehnt hätte. Doch Vigny wollte sein Publikum im Gegenteil zur Einnahme einer aktiveren Position der Verwirtschaftlichung auch ihres Lebens gegenüber bewegen – ein Prozeß, der seiner Meinung nach zu wenig reflektiert und zu passiv hingenommen wurde. Aus diesem Grund hielt er seinem Publikum und dann seinen Lesern einen Poeten als Identifikationsfigur vor, der zumindest flüchtig merkantil verunreinigt war: In einem rein-romantischen Poeten hätte das Publikum sich nicht wiederfinden können. Der Alltagsmensch der 1830er Jahre war vom kalten Wirtschaftsgeist seiner Zeit längst angesteckt; eben deshalb suchte er, etwa im Theater, den Weg „zurück“ in das „verlorene Romantische“. Im Herzen war man bereits erkältet und deshalb gleichgültig gegenüber 365 366
––––––––––––––––––– Flotte: La Pensée Politique et Sociale d’Alfred de Vigny, S. 137. Germain: Introduction in: Vigny: Chatterton. Quitte pour la peur, S. 9-19. hier S. 17.
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den Leiden des fühlenden und imaginativen Menschen geworden, den der Poet jedoch nach wie vor exemplarisch verkörperte. Aus diesem Grund wußte Vigny, daß sein Publikum nicht so leicht zu bewegen war und daß er, wenn er es romantisieren wollte, es mit den härtesten, irritierendsten, nämlich unschön und unromantisch gewordenen Effekten tun mußte. Deshalb schrieb er diese Verteidigung des unromantisch, unschön und eben sozialkritisch Frappierenden in Chatterton: J’ai voulu montrer l’homme spiritualiste étouffé par une société matérialiste, où le calculateur avare exploite sans pitié l’intelligence et le travail. Je n’ai point prétendu justifier les actes désespérés des malheureux, mais protester contre l’indifférence qui les y contraint. Peut-on frapper trop fort sur l’indifférence si difficile à éveiller, sur la distraction si difficile à fixer? Y a-t-il un autre moyen de toucher la société que de lui montrer la torture de ces victimes? (51-52) Ich wollte den geistigen Menschen erstickt von einer materialistischen Gesellschaft zeigen, in der der geizige Berechner ohne Gnade die Intelligenz und Arbeit ausbeutet. Ich habe nicht versucht, die verzweifelten Akte der Unglücklichen zu verteidigen, sondern zu protestieren gegen die Gleichgültigkeit [ihrer Welt], die sie zu ihnen nötigt. Kann man zu stark auf die so schwierig wachzurüttelnde Gleichgültigkeit, auf die so schwierig zu fixierende Zerstreutheit einschlagen? Gibt es einen anderen Weg, die Gesellschaft zu berühren, als ihr die Folterqualen ihrer Opfer zu zeigen?
4 Zwei Strategien der Anrührung durch die armen, teuren Dinge, die Bruchstücke des Ruins Von einem Schiffbruch verbleibt Wrackgut, von einem Ruin verbleiben Bruchstücke. Die Bruchstücke müssen anrührend sein: denn sie sind „der Rest“ – alles, was noch da ist von etwas, das einmal war. Die Bruchstücke des Ruins sprechen wortlos den Verlust aus, den das Erlebnis des Ruines bedeutet. In seinen Bruchstücken konzentriert sich die Bedeutung des Ruins – die Bedeutung, die diese prosaisch-materielle und doch wahrhaft-dramatische, diese, wenn nicht romantische, so doch bewegende, romantisierende Verlusterfahrung der industrialisierten Welt zur Angstgröße und zum Faszinosum machte – zum Thema zahlloser Ruinromane des 19. Jahrhunderts und in England zum Sujet einer verklärend-sozialkritischen Kunst. Alfred de Vignys Drama Chatterton ist eine solche Ruingeschichte des 19. Jahrhunderts; und die Geschichte, die Thomas Chatterton aus seinen Hinterlassenschaften Thomas Rowleys zusammenreimen ließ, war es, gleichsam verfrüht, im 18. Jahrhundert schon gewesen. Und nun ist es nicht nur merkwürdig, daß Chatterton und Vigny beide als Waffe zur Gesellschaftskritik den Typus eines
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ruinierten Poeten erfanden – beide, obwohl Vigny darin vermutlich gar nicht bewußt dem historischen Chatterton nacheiferte, dessen Namen er benutzte, ohne sein Werk eingehend studiert zu haben. Merkwürdig ist daher ebenso, daß Vigny wie Chatterton die Reststücke des Ruines verwendeten, jene anderen, alten, materiell wertlosen Dinge, um gerade daraus ihren Gewinn zu ziehen. Gerade die Bruchstücke des Ruins des Poeten sollten dessen ungerechtes Martyrium nachfühlbar machen; gerade die Bruchstücke des Poetenruins, die anklagend von seinem Opfertod übrigblieben, sollten diejenigen, die sie sahen, bewegen – und konkret dazu bewegen, sich gegen das Unrechte aufzulehnen. Schon in Chattertons Manuskripten Rowleys und Canynges, den letzten Reststücken ihrer gescheiterten Karriere als Weltrestauratoren, steckt mitunter dieser Hintersinn. * Chatterton wußte um die Faszination, welche „Kuriositäten“ oder „Reliquien“ englischer Vorzeiten und ihres Kulturgeists auf seine Zeitgenossen ausübten – waren diese gefälscht oder nicht. Chatterton wußte um den Triumph der von Macpherson angeblich nur verschriftlichten Gesänge Ossians, des vorgeblich mittelalterlichen, von Walpole angeblich nur herausgegebenen Schauerromans The Castle of Otranto, der von Percy nach einem zumindest mittel-alten, barocken Manuskript angeblich nur neuverschriftlichten Reliques of Ancient Poetry. Doch Chatterton wußte außerdem, daß seine Zeitgenossen die authentische Ehrwürdigkeit der Reststücke alter Vorzeiten mit Händen be-greifen wollten, daß es sie nach dinglichen Reliquien verlangte, nach Original-Manuskripten. Dieses Bedürfnis nach greifbaren Relikten einer verlorenen Vorzeit verstand Chatterton deshalb so vollkommen, weil er selbst der Liebe zu mittelalterlichen Dingen – für ihn St. Mary Redcliffe, ihre Truhen und die darin bewahrten Dokumente – von Kindheit an erlegen war. Doch Chatterton war der zeitgenössischen Hinwendung zu den alten Dingen nicht blind erlegen. Die Doppelbiographie Rowleys und Canynges erfindend, durchschaute er das Sammeln alter Manuskripte als eine Flucht: die gedankliche und emotionale Flucht aus einer Gegenwart, die den poetisch gesonnenen Menschen abstoßen mußte aufgrund ihrer Fixierung auf das Materielle, Wirtschaftliche, Geldliche. Doch diese geldlich-materiellen Dinge, denen die unpoetische Geldwelt huldigte, fanden nun einen Gegenpol in diesen anderen, alten Dingen, die von einer anderen, poetischeren Welt oder „guten alten Zeit“ übriggeblieben waren. Jeglichen Nutz- oder Geldwert, den sie einmal besessen haben mochten, hatten diese alten Manuskriptdinge mit ihrer Epoche zusammen verloren. Und doch waren die unnützen Überbleibsel ihren neuen Wertschätzern, den Sammlern, emotional unsagbar teuer: Denn sie sollten restweise eine verlorene Vorwelt verbürgen – wie idealisiert man sie sich auch immer vorstellen wollte. Schon diese alten Dinge, damals „Kuriositäten“ oder „Reliquien“ genannt, waren begehrt, weil sie uneingestandene Projektionsflächen einer neuen Sehnsucht nach dem „verlorenen alten Romantischen“ waren – dem
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„Romantischen“ im damaligen Sinne. Denn nicht zu vergessen, konnte „romantisch“ Ende des 18. Jahrhunderts eine Person oder Landschaft charakterisieren (als „gefühlsbetont, von Stimmungen abhängig, schwärmerisch“, bzw. „stimmungsvoll, malerisch, düster, geheimnisvoll“) – oder als Gegenpol zu „klassisch“ gesetzt sein und kein der Antike, sondern dem Mittelalter entlehntes Kunst-, Poesie-, Welt- und also auch Dingideal bezeichnen.367 So bediente Chatterton also seine Welt mit solchen an sich wertlosen Kuriositäten, die jedoch die Liebhaberherzen höher schlagen ließen, weil sie für die andere, verlorene Welt des „romantischen“ Mittelalters einstanden. Und wie sehr Chattertons Zeitgenossen nach den teuren Altertümern bedürftig waren, spricht schon allein daraus, daß niemand an der Authentizität der Stücke zweifeln wollte, die doch mit primitiven Mitteln gefälscht waren. Im Gegenteil hielten die ersten Käufer der Rowley-Manuskripte hartnäckig an der Echtheit ihrer mit Ockerfarbe, Stubenstaub und Kerzenrauch antiquierten Schätze fest – auch als Chatterton längst gestorben und als Fälscher verrufen war. Dabei hätte spätestens eines ihre Authentizität bezweifeln lassen müssen: Die Summe dieser Manuskripte Rowleys, die da angeblich nach mehreren Jahrhunderten der Verschollenheit wieder durch Bristol kursierten, enthielt die Geschichte zweier alter Gegenkultur-Stifter – welche sich allerdings merkwürdig „modern“ verhielten. Und freilich wollte Chatterton der Welt in Wahrheit diese Geschichte von aktuellstem Interesse verkaufen, die er in den pseudomittelalterlichen Kuriositäten versteckte: Denn diese Verpackung seiner revolutionär innovativen Gedanken368 als alte Kuriositäten war Chattertons Köder. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Chatterton als Elfjähriger einen solchen Köder ausgeworfen. Er überraschte einen poesieliebenden Lehrer an der Colston-Schule mit dem „Fundstück“ eines offenbar mittelalterlichen Gedichtwerks: Eleanor and Juga; soweit konnte dieser Lehrer namens Philips entziffern. Doch das ist es eben. Philips, sekundiert von seinem Lieblingsschüler Thistlethwaite, bewies dem Jungfälscher, wie gut sein Köder funktionierte: Philips und Thistlethwaite wollten das Stück mittelalterlicher Poesie nicht nur als Kuriosität 367 368
––––––––––––––––––– Siehe Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1137. Nur am Rande sei der revolutionäre Hintersinn von Chattertons mittelalterlichen Schriften noch einmal erhärtet, durch das Zitat der Schlußzeilen der Excelente Balade of Charitie. Rowley soll diese „exzellente Barmherzigkeitsballade“ 1464 gedichtet haben; Chatterton schrieb sie, als das letzte Rowley-Werk seines Lebens, im Juni 1770. Es ist das „alte“, jedem Menschen der herzlosen Merkantilwelt allzu bekannte Lied eines armen Pilgers, der, von Hunger, Frieren und Unwetter bedroht, umsonst einen wohlgenährten Abt um ein Almosen und Obdach anfleht. Erst ein einfacher Mönch gibt dem noch ärmeren Wanderer eine Silbermünze, sein Obergewand und dazu eine verbitterte Warnung vor der herzkalten Mittelalterwelt, in der Mildtätigkeit nicht zu erwarten sei. Ehe Rowley, der Balladendichter, sein Werk selbst mit Worten beschließt, die um mehr als um Mitleid beschwören: „Vyrgynne and hallie Seyncte, who sitte yn gloure, / Or give the mittee will, or give the gode man power.“ (The Works of Thomas Chatterton, Bd. 2, S. 368.) – „[Heilige] Jungfrau und Heilige, die ihr sitzt in Glorie, / Gebt entweder dem Reichen den Willen [Gutes zu tun], oder gebt dem guten Mann Macht.“
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besitzen. Sie wollten auch enträtseln, was da geschrieben stand in faszinierend alter Sprache. Nur hatte der elfjährige Thomas seine Dichtung zu gut versteckt, einerseits hinter einer „veralteten“ Rätselsprache, andererseits hinter dem Firnis aus Ocker, Schmutz und Kerzenruß, mit dem er sein echt mittelalterliches Pergament noch nachgealtert hatte. Philips und Thistlethwaite gelang ihre Entzifferung, zu ihrem großen Bedauern, nicht, aber der junge Chatterton wußte fortan, was er tun mußte, wollte er gelesen werden. Das pseudomittelalterliche Gedicht eines Elfjährigen hätte niemanden interessiert – die „echte“ Kuriosität, das Reststück eines mittelalterlichen DichterMönchs Thomas Rowley, war jedoch als solche Rarität den Liebhabern lesenswert gewesen. Diese Kuriosität wollte besessen werden, wäre vielleicht gar gekauft worden, hätte der kleine Thomas sie nicht verschenkt; dann verlangte sie aber auch danach, entziffert zu werden. So mußte Chatterton in Zukunft nur an das Liebhaberherz des Kuriositätensammlers appellieren, um diesen dazu zu bewegen, den Hintersinn herauszufinden, der in den Rowley-Kuriositäten versteckt war. Denn tatsächlich hatten diese „Kuriositäten“, die Chatterton dann fünf bis sechs Jahre später en gros produzierte, einen Hintersinn; und der bestand darin, daß sie keine einfachen alten Kuriositäten waren, sondern bei genauerem Einsehen eine sehr aktuelle Geschichte enthüllten. Das war die geheime Pointe, die Chatterton in seinen als Kuriositäten verkauften, doch nichtigen Kuriositäten verbarg. Hätte sich nämlich ein scharfsinniger und feinfühliger Sammler der RowleyFragmente in Bristol oder später in London gefunden – ein Sammler, wie Catcott, Burgum, Barrett, Chattertons Bristoler Rowley-Abnehmer, es nicht waren –, er hätte durch den Kuriositätenanschein der Pergamente dazu verführt sein werden, sie erstens zu kaufen. Damit hätte Chatterton schon einen ersten Gewinn aus seinen Produktionen gezogen, der ihm selbst nicht der unwichtigste war: den materiellen Gewinn, dessen er bedurfte. Doch wenn Chattertons Biographen von jeher davon irritiert waren, daß der Jungpoet sich als Macher seiner mittelalterlichen Werke nicht eingestehen wollte,369 daß er am immateriellen Gewinn einer Anerkennung als Rowley-Dichter anscheinend nicht interessiert war, ist dem doch zu widersprechen. In gewisser Hinsicht schrien die RowleyKuriositäten danach, in ihrem Hintersinn enträtselt, als satirisch unterminierte „Fälschungen“ von akutestem Interesse durchschaut zu werden.370 369
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––––––––––––––––––– Nicht alle Biographien sind sich darüber einig, ob sich Chatterton nicht doch in seinem Leben versehentlich oder gewollt der einen oder anderen vertrauten Person als FälscherDichter seiner Kuriositäten verriet. Doch alle sind sich einig darin, daß Chatterton seine Maskerade als Rowley zumindest fast durchgängig durchhielt. In manchen Biographien finden sich Hinweise darauf, daß Chatterton in seinen „kuriosen“ Werken selbst deutliche Hinweise auf ihr Gefälschtsein plazierte. „Now the amazing credulity of these learned people is one of the least comprehensible circumstances of our poet’s strange life“, muß Maurice Hare (in seiner Editor’s Introduction in: The Rowley Poems by Thomas Chatterton, S. v-iv, hier S. xii) um so erstaunter feststellen eingedenk von Tatsachen wie dieser: „Mr. Burgum was completely taken in”, und zwar von einem „mittelalterlichen“
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Schließlich legte Chatterton eine Anwendbarkeit seiner „Altertümer“ auf die Gegenwart nahe. Er bot mit seinen alten Stücken zwei aktuelle Nutz- oder Gewinnmöglichkeiten an – je nachdem, als was der scharfsinnig-einfühlsame Sammler, der ihm vorschwebte, sich daraus herausgedeutet hätte. Grundbedingung dieses Herausdeutens wäre nur der Besitz einer Vielzahl dieser RowleyFragmente gewesen: Nur aus ihrer Summe ließ sich eine Geschichte rekonstruieren. Diese Geschichte war zwar auch die eines englischen Mittelalters, doch war sie aus einer persönlichen Perspektive erzählt: aus der Perspektive des Dichter-„Historikers“ Rowley. Allerdings schrieb Rowley immer auch im Sinne von Canynge. Der Clou von Chattertons Rowley-Pergamenten ist schließlich, daß alle das Geschehensein einer Geschichte verbürgen, die sie in ihrer Summe enthalten, die sie Detailstück für Detailstück ergänzen – dieses aber um das tragende Gerüst der wichtigsten Pergamentstücke herum. Es sind die biographischen Dokumente zu Canynge, die aber Rowleys Leben erzählen – denn der Poeten-Mönch und der Kaufmann waren unzertrennlich. Diese Geschichte zweier mittelalterlicher Existenzen hätte aber aus guten Gründen dem Entzifferer, den Chatterton für seine „nichtigen Kuriositäten“ nie fand, merkwürdig vertraulich berühren und ihn zum Grübeln anregen müssen. Erstens ist die in den pergamentenen Fragmenten schlummernde Geschichte „modern“ berührend. Sie beginnt als eine Erfolgs- und Karrieregeschichte, um in eine Ruingeschichte umzuschlagen. Der Ruin, dieses erst mit der industrialisierten Welt aufblühende Lebensphänomen, ist schon in Chattertons Mittelalter beheimatet. Zweitens verhalten sich die Helden dieser „vormodernen“ Karriere- und dann Ruingeschichte aber, bei aller veralteten Mittelalterlichkeit ihrer urtümlichen Sprache, trotzdem merkwürdig verständlich; was insbesondere für den zweiten, den Ruinteil ihrer Geschichte gilt. Der Karriereanfang der Geschichte ist nämlich ungemein interessant, die Identifikation mit ihren Helden aber dadurch erschwert, daß sie so ungemein vorbildlich handeln – und daß sie das Geld, die Macht und das Ansehen haben, es zu tun. Das Freundesduo des merkantil gewitzten Dichter-Mönchs Rowley und des poetisch gesonnenen Kaufmanns, Bürgermeisters und Mäzens Canynge unternimmt es, seine frühverwirtschaftlichte Mittelalterwelt zu „restaurieren“. Der Dichter und der Kaufmann entwickeln ein Modell der Stiftung von Fortschritt durch Rückgriff auf das Alte. Sie entdecken einen Nutz- und „Geldwert“ der sächsischen Manuskripte, die sie sammeln. In diesen erkennen sie die Reststücke des Kulturgutes einer (relativ) guten alten Zeit, welche folglich als Inspirationsmittel zu verwenden sind: Von ihren alten Manuskripten angeregt, agie––––––––––––––––––– Stammbaum (plus Wappenzeichnung, siehe Abb. 10), der die adelige Herkunft des Kaufmanns aus der Geschlechtslinie der „de Burghams“ bewies, „and, exulting in his new-found dignity, [Burgum] acknowledged the announcement of his splendid birth with a present of five shillings. It is worthy to notice that the pedigree made mention of a certain Radcliffe Chatterton de Chatterton, but Burgum’s suspicions were not aroused by the circumstance.“ (Ebd., S. xii.)
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ren Canynge und Rowley als Kulturstifter. Sie ziehen aus ihren Altertümern einen kulturellen Gewinn, der aber auch der Wirtschaft ihres alten Bristols zugutekommt, in dem u.a. St. Mary Redcliffe erbaut wird – was zahlreichen Menschen Arbeit und Geld verschafft. Alles, was Canynge und Rowley, inspiriert von ihren alten Manuskripten, erdenken, wird aber wiederum zuerst auf Pergament fixiert. So werden auch diese neuen Pergamente von ihnen als Manuskripte mit einem „Geldwert“ gehandelt: dem Wert eines noch in Zukunft zirkulierbaren, dinglich verbürgten Potentials zum Fortschritt. Eben diese Dokumente, die selber erzählen, wie sie einst produziert wurden, um als „Papiergeld“371 oder Aktien des künftigen Fortschritts im Rückgriff auf das Alte zu dienen, wollte Chatterton also 1768/69 seiner frühindustrialisierten Welt für bare Münze verkaufen. – Und legte er nicht folglich den zündenden Gedanken nahe, seine Käufer sollten sich vom Vorbilde Canynges und Rowleys inspirieren lassen? Wäre es nicht gut gewesen, die alten Papiergeld-Manuskripte wären als solche durchschaut und als Anregungen zu einer neuen Gegenkulturstiftung verwendet worden, der Stiftung einer Kultur, die ihre Innovation aus dem inspirierenden Alten schöpft? Doch freilich, nicht jeder scharfsinnige Enträtseler der hintersinnigen Kuriositäten Chattertons/Rowleys hätte auch das Geld und die Macht gehabt, frei wie Canynge und Rowley in der ersten Hälfte ihres Lebens zu agieren. Und auch diese sollten dann ja schon allzu bald scheitern. Die Rowley-„Kuriositäten“ erzählen selbst, wie die Rosenkriege einen Einschnitt in der Doppelexistenz Canynges und Rowleys markieren, und fortan ist deren Welt zu egoistisch, korrumpiert, geld- und machtlüstern geworden, um das ehrenwerte Gespann des Dichters und Kaufmanns als Stifter eines rückbesinnlichen Fortschritts länger zu dulden. Canynge degradiert sich notgedrungen zum Kaufmanns-Mönch, zieht sich, von Rowley gefolgt, aus der Welt des aktiven Handelns, der Macht und des Geldes ins Kloster zurück. Hier aber flüchten die Enttäuschten in die bessere Welt ihrer sächsischen Manuskripte, die sie jetzt nur noch für sich selbst und als Fluchttore aus ihrer Gegenwart sammeln, welche nun unverbesserlich merkantil-degradiert ist. Es ist der Teil der Geschichte, der dem Entzifferer der Manuskripte, die sie enthalten, ungleich näher geht als der Anfang. Die Karrieregeschichte war anregend, bewundenrswürdig, erhebend – doch um so mehr tut der Ruin der gefallenen Vorbilder weh. Als dann erst Canynge stirbt, was Rowley schriftlich festhält, und auch dessen Tod absehbar ist, verwandeln sich ihre Sammelstücke, die ihnen Manuskripte mit Geldwert und dann Fluchttore in die gute alte Zeit 371
––––––––––––––––––– Man denke noch einmal zurück an den anregenden Aufsatz Nick Grooms, der als erster aussprach, daß Chatterton eine Geschichte der mittelalterlichen Manuskripte als „Papiergeld“ erfand: „Chatterton’s revolutionary innovation is to reimagine the culture of the manuscript. [...] For Chatterton, the principal characteristic of the manuscript in the fifteenth century was a potent form of cultural currency. Manuscripts were, in effect, paper money.” (Groom: Fragments, Reliques, & MSS, S. 190.)
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der Sachsen waren, aber definitiv in die Bruchstücke ihres Ruins. Die Manuskriptsammlung Canynges und Rowleys ist am Ende alles, was von ihrem Erfolg, und alles, was von ihrem Scheitern als Gegenkulturstifter und Weltrestauratoren bleibt. So daß der in der Chattertonzeit lebende Rezipient ihrer Geschichte, sollte er selbst einer jener weltenttäuschten Vorromantiker sein, sich gerade mit den ruinierten Weltverbesserern identifiziert; und in ihre Welt der am Ende enttäuschten Hoffnungen flieht er dennoch vor der seinen, die alten Rowley-Pergamente in den Händen. – Das Bild dieses Entzifferers seiner merkwürdigen Mittelaltergeschichte mag sich Chatterton zumindest ausgemalt haben; zu seinen Lebzeiten fand sich weder der Mensch, der sich von Rowley und Canynge zum Gegenkulturstifter hätte inspirieren lassen, noch der andere Mensch, der in das Andenken der beiden ruinierten Gegenkulturstifter floh. Niemand enträtselte die Geschichte, die in den vermeintlichen Rowley-Kuriositäten verborgen lag, niemand sah in ihnen den Geldwert oder den Wert der romantisierenden Bruchstücke eines mittelalterlichen Ruins. Das mag einerseits daran gelegen haben, daß die tatsächlichen Käufer der Rowley-Schriften nicht scharfsinnig genug waren, deren Hintersinn zu durchschauen. Außerdem aber besaß jeder von ihnen ja nur einen Teil der Dokumente, deren Sammlung erst die ganze Geschichte ergab. So wäre ein Buch die mögliche Alternativform eines „Versammlungsorts“ aller Schriftenfragmente Rowleys gewesen. Doch Chatterton selbst hatte es zeitlebens nicht vermocht, einen Verleger für seinen Rowley zu gewinnen. Erst 1777, im Zuge der Debatte um die Authentizität der „Kuriositäten“, wurde von Tyrwhitt eine erste Ausgabe der Rowley-Werke publiziert: doch waren es nur die gesammelten poetischen Werke des Dichter-Mönches.372 Die Erstausgabe sämtlicher, in jahrelanger Such- und Transkribierarbeit zusammengestellter Werke Rowleys und Chattertons überhaupt verdankte sich 1803 Robert Southey und Joseph Cottle, dem Bristoler Gespann eines Chatterton-begeisterten Jungromantikers und eines poetisch gesonnenen Buchhändlers und Verlegers.373 So hätte denn 1803 endlich die Möglichkeit bestanden, den Hintersinn der Rowley-Produktionen zusammenzuaddieren und zu würdigen? – Wenn Chatterton nicht bereits zum Idol des romantischen Genius verklärt worden wäre. Jetzt wurden die Rowley-Dichtungen, von denen man nun sicher war, Chatterton habe sie selber nicht gefälscht, sondern gedichtet, zwar endlich gewürdigt. Doch würdigte man die geniale Nach-Erfindung einer verlorenen englischen Ursprungssprache in ihnen, sowie die Leistung, eine ganze verlorene Welt erfunden zu haben. Diese Erfindung paßte freilich zu diesem Chatterton, von dem die Romantiker glauben wollten, er sei schon vor ihrer Epoche ein „romanti372 373
––––––––––––––––––– Der gesamte Titel lautete vielsagend: Poems, supposed to have been written at Bristol, by Thomas Rowley, and others, in the fifteenth century. Das Resultat ihrer produktiven Zusammenarbeit, das in seinem Erlös Chattertons verarmender Schwester zugedacht war, erschien unter dem Titel: The Works of Thomas Chatterton. Containing his Life, by G[eorge] Gregory, D. D. and Miscellaneous Poems.
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scher Weltflüchtiger“ in dieses „bessere Mittelalter“ gewesen, das eine Ausgeburt seines genialen Geists war. Doch das Satirische, das mit dem Glauben an aufklärerischen Fortschritt und Zweckratio Spielende, sowie die inszenierte Trauer um das Scheitern eines Welt- und Fortschrittskonzepts, das aus der Symbiose eines kaufmännisch gewitzten Dichters und eines poetisch gesonnenen Kaufmanns hervorgegangen wäre: All das hätten die Romantiker nicht im Werk „ihres“ Chatterton sehen wollen. Mit ihm identifizierten sie sich, weil sie ihre eigenen Ideale in den zu früh verstorbenen „Bruder im Geiste“ zurückprojizierten. Allerdings konnten die Romantiker den wahren, alles andere als rein-romantischen Chatterton eben auch deshalb leichter übersehen, weil sie, wie gesagt, in ihrer Lektüre wählerisch waren und sich auf Rowleys Poesie fixierten, welche sie zu eigenen Dichtungen inspirierte.374 Die sonstigen Schriften Rowleys, zur Heraldik und sächsischen Vorgeschichte, zur Herkunft des Geldes, zur Architektur St. Mary Redcliffes – oder zu Herkunft, Leben und Werk Wyllyam Canynges375: Diese „unpoetischen“ Rowley-Manuskripte ließen die Romantiker kalt, erwärmten sie ja nicht einmal mehr als „alte Kuriositäten“. Denn abgesehen davon, daß die Romantiker ja nicht mehr an die Echtheit der „alten Kuriositäten“ Rowley-Chattertons glauben konnten, weil sie anerkannten, daß die „alte Poesie“ vom jungen Chatterton stammte – noch ganz abgesehen davon also, war die Zeit der Liebe zu „Kuriositäten“ oder „Reliquien“ urenglischen Kulturgeists ohnehin vorbei. Chattertons alter Verkaufstrick hatte sein Verlockendes verloren. Und wenn manchen Romantiker trotzdem auch etwas an den „alten Originalmanuskripten“ reizte und nicht nur an der schönen Rowley-Poesie, dann war es nicht mehr die Handschrift Rowleys. Es war die Handschrift Chattertons. Daß er zur romantischen Kultfigur geworden war, machte nämlich jegliches dingliche Reststück seines Lebens und seines Wirkens zu einem unbezahlbaren Andenken für seine Verehrer. Diese intimen „Reliquien“ oder Erinnerungsstücke einer bewunderten oder geliebten Person, aber auch eines besonderen Ortes oder Erlebnisses, waren aber die neuen „alten Dinge“, an die man nach den Kuriositäten und Reliquien nationalen Kulturgeists sein Herz knüpfen konnte, um etwas Wärme, Poesie und Romantik des Lebens darin zu finden. Die „Mode“ der Kuriositäten oder Reliquien englischen Kulturgeists hatte ihren Höhepunkt in den Jahren der Fälschung solcher Altertümer etwa durch Macpherson, Walpole, Percy gehabt. In England waren sie ein Phänomen der 1760er Jahre. Doch die Empfindsamkeit (die u.a. ein sentimentales ChattertonTaschentuch hervorbrachte) und dann die Romantik schufen ihren eigenen 374
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––––––––––––––––––– Die Rhythmen mancher Rowley-Gedichte finden sich in den Werken der davon inspirierten Romantikern wieder; insbesondere Keats liebte diesen melodischen Chatterton, in dem er „the purest writer in the English language“ sah (Kelly: The Marvellous Boy, S. 95). Siehe zum Überblick über Chattertons Rowley- und andere Schriften in ihrer Chronologie und ganzen Bandbreite das Inhaltsverzeichnis in den von Taylor und Hoover 1971 herausgegebenen Complete Works of Thomas Chatterton, S. ix-xviii.
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Kult um die intimen, an sich wertlosen, doch emotional unsagbar teuren alten Dinge, die sie nun „Reliquien“ oder „Andenken“ oder „Souvenirs“ o.ä. nannten. Aus diesem Grund auch war die Romantik (u.a.) in England die Geburtsstunde einer neuen Gattung des bis heute existierenden „Wallfahrtsort-Museums“: Das Dichterwohnhaus wurde nun zum Reiseziel der Verehrung des verstorbenen Genies – und es zu besuchen, romantisierte die „Pilger“. Es wurde und wird immer noch als bewegend empfunden, den unmittelbaren Kontakt zum „authentischen Lebensraum“ eines hehren Kultbildes zu suchen – sowie den Kontakt zu seinen hier bewahrten dinglichen Reststücken: den Andenken oder Bruchstücken einer oft tragischen, durch Wahnsinn, Krankheit oder zu frühen Tod ruinierten Poetenexistenz.376 Und während die Mode der Kuriositäten und Reliquien englischen Kulturgeists eine vorübergehende war, verschwanden die intimen Andenken nicht so schnell wieder aus der Welt. Obwohl insbesondere das 19. Jahrhundert an den gefühlsgeladenen, insofern romantischen und romantisierenden Erinnerungsstücken festhielt und insgesamt eine romantikbegeisterte Epoche war, überlebte das Andenken die Schwelle in das „ernüchterte“ 20. Jahrhundert. Und nun braucht gar nicht daran erinnert werden, daß wir noch heute an touristischen Orten zum Andenkenkauf geneigt sind oder kleine Erinnerungsobjekte aus der Kindheit, von geliebten Personen, etc., behalten.377 Da dieses ein Buch zu Chattertons Werk und seinem Wirken ist, ist rasch das Verhalten eines besonderen Vertreters des „unromantischen“ 20. Jahrhunderts zu präsentieren. Linda Kelly widmet das letzte Kapitel von The Marvellous Boy – Lyfe and Myth of Thomas Chatterton der Chatterton-Rezeption durch Edward Harry William Meyerstein. Die These und Pointe der Autorin ist freilich, daß dieser Schriftsteller und Biograph den Kult um Chatterton gleichzeitig fortgesetzt und untergraben habe: Meyerstein habe in Life of Thomas Chatterton, erschienen 1930, eine Entmystifizierung des Poeten betrieben. „Myth and sentimentality are cleared away, Chatterton’s character is shown in an often unpleasing light“378, so Kelly. Und doch räumt sie ein, daß Meyerstein durch eine „love“ und „devotion“ mit seinem Sujet verbunden gewesen sei, die sie in ihrer „intensity“ als „obsessive” bezeichnet.379 Zu dieser Obsession von Chatterton gehörte es aber, daß Meyer376
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––––––––––––––––––– Siehe zum Dichterhaus als modernem Wallfahrtsort Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 14, zu der tatsächlich hohen Rate ruinierter Lebensläufe romantischer Genies ebd., S. 20. Einen exemplarischen Überblick von historischen zu zeitgenössischen Spielformen von Erinnerungsstücken bietet der Ausstellungskatalog: Der Souvenir. Erinnerungen in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Kelly: The Marvellous Boy, S. 130. Originellerweise inspirierte Meyersteins entromantisierende Chatterton-Biographie wiederum zu einem neuen, den Mythos Chatterton anders fortsetzenden, doch eben fortsetzenden Roman: Cover his face, erschienen 1943, ist von seinem Verfasser Neil Bell explizit Meyerstein gewidmet, „whose great work [...] has been an inspiration“ (siehe die fünfte Seite in dem besagten Buch). Kelly: The Marvellous Boy, S. 130.
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stein sich jahrelang dem Andenken seines „Antihelden“ widmete – daß er Chatterton unmittelbar auf Tuchfühlung gehen wollte, im Wieder- und Wiederdurchstreifen der Chatterton-Orte Bristols, wo Meyerstein sich zum Leben und Schreiben niederließ. Dazu paßte es aber auch, daß Meyerstein, noch als seine entmystifizierende Chatterton-Biographie längst erschienen war und in Wahrheit bis zu seinem Lebensende 1952, an seinem irritierend „unromantischen Idol“ festhielt – und konkret an einem Stück von seinem Geist und seiner Hand: „For Meyerstein [...], the idea of Chatterton was one that sustained him throughout his life. He carried in his pocket, like a talisman, a scrap of Chatterton’s writing.“380 * Daß Chatterton 1768/69 Spielformen eines unromantisch und sozialkritisch gewordenen, ruinierten Poeten erdachte, sowie daß er die manuskriptenen Hinterlassenschaften seiner mittelalterlichen gescheiterten Weltrestauratoren als die Bruchstücke ihres Ruins zu verstehen gab, welche immer zugleich intime Andenken an eine glückliche Vorzeit vor dem Ruin sind – dieses war seinerzeit schlichtweg zu früh. Es war noch das 18. Jahrhundert, und in dessen 60er Jahren war weder der Kult um den rein-romantischen Poeten, noch um das intime Andenken, noch das Interesse am Faszinosum des Ruins aufgeblüht. Allerdings sollte dieses Aufblühen nicht so viel später seinen Lauf nehmen, und in Vignys Zeit war es dann evident, daß man sich vom Mythos des romantischen Genius, vom emotional teuren intimen Andenken und, angstvoll, vom Angstphänomen des Ruins romantisieren ließ. Denn alle drei waren nicht nur Themen des Alltags, sondern auch Themen von Literatur und Kunst geworden, darüber aber feste Bestandteile der populären Imagination geworden. Insofern ist es ein kurioser historischer Zufall, daß Vigny 1834/35 ähnliches wie Chatterton tut, in seinem Namen, aber ohne unmittelbar von ihm inspiriert worden zu sein, dessen Werk und Absichten er gar nicht gründlich kannte. Doch daß Vigny den nun längst bestehenden Mythos des rein-romantischen ein wenig entromantisierte, um ihn sozialkritisch zu machen, erscheint nachvollziehbar: In gewisser Hinsicht war es einfach an der Zeit, sozialkritisch zu werden und mit dem alten Ideal vom hehren, von allem Wirtschaftlichen unberührten Poeten ein wenig aufzuräumen. Und wenn Vigny sich, um die erkälteten Herzen seiner verwirtschaftlichten Zeitgenossen zu erweichen, dazu auf die stumme, doch emotional bewegende Sprache der Dinge verließ, die am Ende des Dramas alle zu den Bruchstücken des Poetenruins geworden sind, so ist auch das insofern nicht erstaunlich, als Vignys Zeit sich, wie gesagt, sowohl für das intime Reststück oder Andenken begeisterte, wie auch für den Ruin als Faszinations- und Angstphänomen. Was Vignys hervorstechende Leistung ist, ist aber, daß er das Romantisierende des Poetenmythos, des intimen Andenkens und des Ruinbruchstücks instrumentalisierte: Er wollte den Dramenbesucher 380
––––––––––––––––––– Ebd., S. 136.
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nicht zu dessen Selbstgenuß bewegen, sondern dazu bewegen, etwas an seiner verwirtschaftlichten Welt, aber auch an seinem verwirtschaftlichten und gleichgültig gewordenen Selbst zu ändern. Dazu ging er aber, um es zu resümieren, wie folgt vor. Vigny habe beim Schreiben seines „drama of economics“, genannt Chatterton, selbst „the full range of all economies of drama“ genutzt381, so Coopers zentrale These in Exploitation of the Body in Vignys ‘Chatterton’. Vigny sei nämlich in der Wahl seiner Ausdrucksmittel sparsam und auf Effizienz bedacht gewesen: wenn er vor allem auf das unmittelbar, unterschwellig und auf einen Blick Ansprechende der nonverbalen Kommunikation setzte. Vigny ließ die Körper der Dramenakteure sprechen, so Cooper: Er ließ diese Körper sprechen aus ihren Kostümen und ihrem Gebaren, schließlich aus ihrer Positionierung in den beiden Innenräumen, zu denen die Bühne abwechselnd gestaltet war. Und diese grundlegende Entdeckung Coopers einer Beredtheit der Körper und Räume in Chatterton war nur umzunüancieren, um sie zu vertiefen: Chatterton ist ein Drama, in dem zuerst die Dinge sprechen. In Chatterton sprechen die Dinge – im Augenblick ihrer gestischen „Behandlung“, ihrem Geschenkt- oder Empfangenwerden, ihrem Geraubt- oder Aufgedrängtwerden, ihrem Bewahrt- oder Zerstörtwerden, was ihnen Bedeutsamkeit verleiht. Es sprechen die Dinge, aus denen die Bühnenraum-Intérieurs, John Bells Wohn-Zimmer und Chattertons Dachbodenkammer, gefügt sind. Es sprechen zuletzt die Dinge, zu denen der Dichter und seine Herzensgeliebte reduziert sind – als Leichen. Vigny selbst schreibt die Anrührungsmacht seines Dramas seinem „second drame“ zu,382 jenem „zweiten Drama“, das das erste, geschriebene, gleichsam unterhalb der Ebene seiner verbalen Dialoge auch noch enthält. Mit diesem „zweiten Drama“ meint Vigny selbst das wortlose Schauspiel des „nur“ in den Dingen, Gesten, Intérieurs Gesagten. In der Tat besteht Vignys Kunstgriff darin, seine große Ruingeschichte Chatterton aus einem feinen Netzwerk kleiner, miteinander verflochtener Dinggeschichten zu entwickeln. Denn wenn überhaupt etwas in diesem verinnerlichten „Drame de la Pensée“, diesem Drama einer von Beginn an bedrückenden Stimmung, einer allmählich wachsenden Befürchtung des Ruins, eine äußere, materielle Handlung vorantreibt, sind es die besagten Dinge. Diese handlungsanstoßenden Dinge sind die Gegenstücke zu den Geld- und Luxusartikeln, die in John Bells bedrückend-lähmendem Wohnraum als Zeugen des kaufmännischen Geld- und Machtgeistes präsent sein müssen, wiewohl sie in der Beschreibung des Intérieurs ausgespart sind. Diese „anderen“ Dinge aber, welche die äußere aus der inneren Handlung des Ruindramas motivieren, 381 382
––––––––––––––––––– Cooper: Exploitation of the Body in Vigny’s Chatterton, S. 22. „[D]errière le drame écrit, il y a comme un second drame que l’écriture n’atteint pas, et que n’expriment pas les paroles.“ (Vigny: Sur les Représentations du Drame le 12 février 1835 à la Comédie-Française, S. 135.)
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sind an materiellem Wert arm – und deshalb intim-teuer, reich auf ihre Weise. Es sind Dinge, die von ungesagten, verbotenen, aufgestauten Emotionen bersten: eine mit andächtig glühender Liebe aufgeladene Bibel, fragiles und doch manifestes Verbindungsglied zwischen Chatterton und Kitty Bell; eine mit Sohnesliebe und Sohneszorn, Enttäuschung und Stolz überbefrachtete Tabaksdose, letztes Erbe und Lebens-Bruchstück von Chattertons ruiniertem Vater; eine verzweiflungs- und daher wiederum hoffnungsvolle Phiole, Versprechen eines möglichen Freikaufs aus einer sonst unentrinnbaren Existenzmisere; ein umgekehrt erst Hoffnung, dann Verzweiflung spendender Brief, ermahnungsvolles Erinnerungsstück der merkantilen Welt, die den unnützen Dichter endlich nützlich machen und kaufen will, gezeichnet: Lord Beckford; nicht zu vergessen jene von Dichterhand beschriebenen Blätter, dem Poeten selbst Reliquien seiner heiligsten Muse, doch vor der Beschmutzung durch die Welt Bells und Beckfords nur zu retten durch ihre Verbrennung. – Am Ende, wenn Chatterton und Kitty Bells Liebe ruiniert ist und beide tödlich an ihrer Welt gescheitert sind, wenn sie deshalb zu Leichen „objektiviert“ sind, von denen eine zu verkaufen sein wird – am Ende bleiben von der ganzen Ruingeschichte, die sie einst motivierten, die armen, teuren Dinge alleine zurück: als nutzlos gewordene Motoren und Bruchstücke einer abgelaufenen Dramenhandlung. Sie bleiben offensichtlich übrig, auf der Bühne. Denn Chatterton endet mit einem Schlußtableau, das wortlos-pathetisch einprägsam ist, weil eben nach dem Tod der Protagonisten die Bibel mehr als eine Liebes-, die Phiole mehr als eine Todesgabe ist. Nach dem Selbstmord, dem letzten gestischen Ausdruck eines freiwillig vollendeten materiellen und seelischen Ruins des Poeten, und nach dem Echo-Tod seiner Muse, die sich von der Spiraltreppe stürzte, sind die Dinge, die schon vordem stumm beredt waren, noch einmal verwandelt und in ihrer Bedeutsamkeit intensiviert. Sie sind durch Tod und Ruin nachgeadelt und restlos sakralisiert: Jetzt sind die emotionalen Andenken-, Liebes- oder Verzweiflungsdinge einander angeglichen in ihrer einen, neuen Bedeutung: als Bruchstücke des Ruins, Evidenzstücke des Martyriums eines Dichters und seiner ins Unglück mitgerissenen Geliebten. Die Dinge sind nun Andenken an verstorbene Protagonisten und eine ebenso vergangene Handlung, die allerdings immer schon „Geschehen des Ruins“ war. Doch erst jetzt sind die Dinge die Rest- und Evidenzstücke des „vollendeten“ Ruins. Und aus jedem dieser Objekte, inklusive der Leichen des Dichters und Kitty Bells, spricht der Ruin der beiden Sühneopfer der Wirtschaftswelt folglich wieder und wieder den Betrachter dieses Schlußtableaus an, das alle toten Dinge und erstarrten Lebenden versammelt, ehe sich, langsam, der Vorhang wie ein Grabtuch darüber senkt. Alles, was am Opferruin des jungen Poeten und seiner Kitty Bell doch himmelschreiend empörend und anrührend ist, schreien die Bruchstücke des Ruins noch einmal, stumm und echohaft, dem Publikum von der Bühne entgegen, bis sie endlich hinter dem Vorgang nur noch zu erahnen sind – doch bleibend präsent im Gedächtnis.
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Auf eine Eindrücklichkeit seines Dramas, eine Betroffenheit, die über das Dramenerlebnis hinaus anhielt, mußte Vigny schließlich abzielen. Keine Frage, der elektrifizierendste und insofern einprägsamste Moment des Schauspiels war Kittys Treppensturz gewesen – der verkörperte Ruin der liebenden Seele als Echo auf den Ruin des Poeten. Doch das bildhaft Einprägsamste von Chatterton konnte die Sturzbewegung nicht sein; zu schnell ging dieses Fallen vorüber. So gab Vigny seinem Dramenbeiwohner ein anderes Erinnerungsbild mit nach Hause: einen letzten Eindruck. Es war ein Schlußtableau, das alle vergangene Handlung, alle vergangenen Eindrücke (inklusive Treppensturz) noch einmal resümierte, denn alle alten Handlungsmotivatoren, alle stumm-beredten Dinge (sowie die Treppe auch), und noch dazu alle wichtigsten Protagonisten des Stückes waren hier noch einmal präsent und zu einem makaberen letzten Augen-Blick angeordnet: ein auf Sekunden, vielleicht Minuten zerdehnter Augen-Blick auf das Innere des Hauses Bell, nun Trümmerfeld des Ruins und Versammlungsort seiner stumm anklagenden Bruchstücke. Erst der komplett gesenkte Vorhang sollte dieses Schlußbild ganz ausblenden – doch damit schnitt er die Flut der Impressionen des Dramas just nach der resümierenden Schlußbild-Impression ab, welche sich folglich dem Gedächtnis einprägen mußte. Und darauf kam es nun an: die Anrührung der Herzen, die das Dramenerlebnis von Chatterton erstens bewirken sollte, zweitens dauerhaft zu machen. Das Schlußtableau des Dramas, als „Andenken für Zuhause“ gedacht, sollte mitgarantieren, daß der im Zuschauerraum für einige Stunden betroffen Gemachte noch außerhalb des Theaters ergriffen genug sein würde, über das Erlebte nachzudenken. Wer einmal durch das Dramenerlebnis des Ruins des Poeten hingerissen und selbst mental zerrüttet worden war, mußte mit dieser Überwältigung zurechtkommen. Er würde an das Gesehene und Gehörte zurückdenken, es im Geiste noch einmal Revue passieren lassen, seine Eindrücklichkeit reflektieren und vielleicht überhaupt erst im Nachhinein vollends, in aller Bewußtheit, begreifen. Womöglich überhaupt erst im Nachhinein würde der Theaterbesucher es sich ganz klar machen, daß John Bells Intérieur nicht nur persönliches Intérieur, sondern auch Symbol einer verwirtschaftlichten Welt war; daß Chatterton nicht nur historisches Individuum war, sondern das exemplarische Opfer der Geldwelt. J’ai voulu montrer l’homme spiritualiste étouffé par une société matérialiste, où le calculateur avare exploite sans pitié l’intelligence et le travail. Je n’ai point prétendu justifier les actes désespérés des malheureux, mais protester contre l’indifférence qui les y contraint. Peut-on frapper trop fort sur l’indifférence si difficile à éveiller, sur la distraction si difficile à fixer? Y a-t-il un autre moyen de toucher la société que de lui montrer la torture de ces victimes? (51-52) Ich wollte den geistigen Menschen erstickt von einer materialistischen Gesellschaft zeigen, in der der geizige Berechner ohne Gnade die Intelligenz und Arbeit ausbeutet. Ich habe nicht versucht, die verzweifelten Akte der Unglücklichen zu verteidigen, sondern zu protestieren gegen die Gleichgültigkeit [ihrer Welt], die sie zu ihnen
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nötigt. Kann man zu stark auf die so schwierig wachzurüttelnde Gleichgültigkeit, auf die so schwierig zu fixierende Zerstreutheit einschlagen? Gibt es einen anderen Weg, die Gesellschaft zu berühren, als ihr die Folterqualen ihrer Opfer zu zeigen?
Vigny wollte im Namen Chattertons so stark wie nur möglich auf die „Gleichgültigkeit“ „einschlagen“, die von den Herzen seiner verwirtschaftlichten Zeitgenossen Besitz ergriffen hatte; er wollte mit aller Gewalt ihre „Zerstreutheit“ „fixieren“; er wollte seinen ruinierte Poeten herzerweichend und einprägsam machen, denn Vigny wollte mit seiner bald gewaltsamen Beeindruckung des Dramenbeiwohners auf den Nacheffekt einer Bereitschaft zur Nachdenklichkeit hinaus, die in eine Selbst- und Weltkritik einmünden mußte. Und freilich ließ er seinen nachdenklich gemachten Rezipienten nicht lange mit seinem Grübeln über die „Botschaft“ von Chatterton allein. Fast unmittelbar nach dem Einschlagen des Sensationserfolgs der Premiere kam schon das Buch Chatterton heraus – inklusive eines Nachworts, das Idee und Intention des Dramas noch einmal in theoretischem Klartext resümierte. Alles, was der Theaterbesucher unmittelbar und intuitiv „begriffen“ hatte, im Mit-Erleiden des Dramas des Ruins, der Dinge und Gesten, ließ sich mit Hilfe des Buches noch einmal anders, in sezierender Klarheit, ins Gedächtnis zurückrufen und nun nicht mehr mit dem Herzen allein, sondern mit dem Kopf aufs Neue begreifen. Daß dieses Buch, das die Aufklärung des Herzens mit der des Kopfes vollenden half, tatsächlich gerade denen zugedacht war, die das Stück gesehen oder zumindest davon gehört hatten und im Vorfelde davon betroffen gemacht waren – dieses spricht aus seinem Frontispiz, das zum Kaufen verlockte. Es zeigt die Spiraltreppe (Abb. 13). Kaum zufällig verlockte das Frontispiz der Erstausgabe von Chatterton mit einem Andenkenbild an den berüchtigten Augenblick des Dramas, der am meisten bestürzt hatte: der Augenblick von Kittys Ruinsturz. Alfred de Vignys Plan war es also gewesen, erst an die Herzen, darüber aber im zweiten Schritt auch an die Köpfe der von Chatterton ergriffenen Individuen zu appellieren. Doch über diese Individuen wollte er deren Summe, die Gesellschaft im Ganzen, bewegen: und nicht nur innerlich bewegen, sondern zu handelnden Konsequenzen anstoßen. Es klingt faszinierend logisch und einfach – und ging doch nicht auf, denn was ausblieb, war ausgerechnet das, worauf es Vigny im letzten Schritt und am meisten ankam: die tatsächliche Veränderung der Gesellschaft und des Loses des Poeten. Der Grund für dieses Scheitern des Dramas als praktische Waffe gegen die Verwirtschaftlichung der Welt und das Martyrium des Dichters läßt sich aber letztlich damit erklären, daß an Chatterton etwas fehlte, was Thomas Chatterton, vielleicht noch restweise aufklärerischoptimistisch motiviert, angeboten hatte. Chatterton hatte, ob im Ernst, ob im satirischen Scherz, ein Rezept dargeboten, wie es besser zu machen wäre – auf welche Weise man einen „anderen“, rückbesinnlichen Fortschritt und so eine Restauration der merkantil-ruinösen Welt bewirken könnte. Vignys Chatterton hingegen läßt fühlen, daß es so nicht weitergehen kann, daß diese Welt dem
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Poeten, als Stellvertreter des Poetischen, Fühlenden, ja Menschlichen überhaupt, sein reines Martyrium bedeutet. Aber dann entwickelt Vigny kein Gegenkonzept. Was ihm fehlt, sind konkrete Vorschläge, wie die Welt vor ihrer Verwirtschaftlichung zu retten wäre. Anscheinend sah Vigny schlichtweg so gut wie keine konkreten Besserungsmöglichkeiten seiner bereits übermächtig wirtschaftlich gewordenen Gegenwart. Jedenfalls führt er überhaupt nur einen Weg an, das Leiden des Poeten, des größten und exemplarischen Leidtragenden am industrialisierten System, zu lindern. Vignys rebellischste Erkenntnis und Parole lautet: „il a besoin de ne rien faire, pour faire quelque chose en son art.“ (43) Der Dichter „braucht es, gar nichts zu tun, um etwas zu tun in seiner Kunst“, und das heißt genauer: „Il faut qu’il ne fasse rien d’utile et de journalier pour avoir le temps d’écouter les accords qui se forment lentement dans son âme, et que le bruit grossier d’un travail positif et régulier interrompt et fait infailliblement évanouir. –“ (43) „Es muß so sein, daß er nichts Nützliches und Tagtägliches tut, damit er die Zeit hat, den Akkorden zuzuhören, die sich allmählich in seiner Seele bilden und die der grobe Lärm einer praktischen und regelmäßigen Arbeit unterbricht und unweigerlich vergehen läßt.“ Der Poet braucht die freie Verfügung über seine Zeit, er braucht Freizeit, weil diese seine Arbeitszeit ist; er braucht aber trotzdem eine Unterstützung seiner körperlichen Existenz, um die er selbst eben nicht tagtäglich und praktisch arbeiten kann – um die er nicht anders arbeiten kann als dichtend. Und wann die Inspiration kommt, ist unberechenbar, und ob sich ihr Produkt verkaufen wird, noch mehr. Kurzum, gerade der junge, namenlose Poet, an den hier gedacht ist, kann nicht von seinem Dichten überleben. Daher ist Vignys einzige praktische Forderung an die Gesellschaft die Einrichtung einer „pension alimentaire“ (48), eines staatlichen Dichterstipendiums, das dem Poeten seine Zeit geben und ihn dabei nähren solle. Es ist der einzige praktische Vorschlag zur Besserung seiner Welt, den Vigny auch nicht im Drama selbst, sondern im programmatischen Resümee des Dramenbuchs macht – und der dennoch nicht praktikabel genug ist. So sah es zumindest Théophile Gautier, wiewohl er selbst Dichter und als junger Mensch von Chatterton hingerissen worden war, und obwohl er zweiundzwanzig Jahre später überraschenderweise noch einmal von ihm hingerissen wurde. Hierauf aber reflektiert er: Avec quelle sympathie nerveuse, quelle sensibilité féminine, quelle chaleureuse pitié M. de Vigny comprend et déplore les souffrances de ces âmes délicates froissées par le contact brutal des choses! comme il réclame pour elles la vie et la rêverie, c’est-àdire le pain et le temps; en l’écoutant on lui donne raison, tellement sa voix est éloquente, et cependant qui jugera si le poète est vraiment un poète et si la société doit le nourrir oisif jusqu’à ce que l’inspiration lui descende du ciel? – En croira-t-on les
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affirmations de l’orgueil ou les avis de la critique, et le bruit populaire? Mais arrivé là, déjà l’écrivain n’a plus besoin d’aide.383 Mit welcher feinfiebrigen Sympathie, welcher femininer Sensibilität, welch warmem Mitleiden begreift und bedauert M. de Vigny die Leiden dieser zarten Seelen, verletzt durch den brutalen Kontakt mit den Dingen! Wie er für sie das Leben und das Träumen einfordert, das heißt, das Brot und die Zeit; ihm zuhörend, gibt man ihm Recht, so überzeugend ist seine Stimme, und doch, wer wird darüber urteilen, ob der Poet wirklich ein Poet ist und ob die Gesellschaft ihn müßig nähren muß, bis die Inspiration vom Himmel zu ihm herabsteigt? – Wird man den Beteuerungen des Stolzes glauben oder der Ansicht der Kritik oder dem populären Raunen? Aber da angekommen, braucht der Schriftsteller schon keine Hilfe mehr.
Gautiers Kritik zum Trotz, war dennoch die Stiftung eines Dichterstipendiums gewährt worden, allerdings nicht vom Staat, sondern von einem von Chatterton eingenommenen Grafen Maillé de Latour-Landry. Das war das praktischste Resultat, das Vigny mit seinem Drama bewirkte. Außerdem trat er selbst fortan als Unterstützer armer Jungdichter auf, bis zu seinem Lebensende. Doch Vignys persönlicher politischer Einsatz zur Besserung des Loses des Dichters in der Wirtschaftsgesellschaft scheiterte an der Borniertheit und vielleicht auch Gekränktheit der durch den Erfinder John Bells angerufenen Deputierten – „‘a chamber of clerks and grocers’, noted Vigny.”384 Und so erhärtete es sich, daß Chatterton dazu bestimmt war, nur die Herzen zu bewegen – nicht über die Herzen die Gesellschaft. Im Endeffekt läßt sich die Wirkung von Vignys Ruindrama folglich ähnlich beschreiben wie die der verklärend-sozialkritischen Kunst der englischen „hungry forties“ und ihrer Folgejahre: These pictures were not intended to be acts of reform; they operated most effectively on the level of increasing public awareness of problems which had been hidden far too long. They were ‘important’ pictures, big pictures, intended to make an impression.385
Eine „impression“, einen „Eindruck“ auf die Herzen machte Vignys Chatterton, zweifelsohne. Ebenso wahr ist es, daß Vigny mit den unschön-merkantilen Elementen des Dichterlebens, das bislang im Namen des „romantischen Genius“ von allem Merkantilen gereinigt worden war, etwas „viel zu lange Verstecktes“ aussprach, ja buchstäblich vor Augen führte, damit aber eine „wachsende öffentliche Bewußtheit“ für das schürte, was der exemplarische Ruin des Poeten in der unpoetischen Gesellschaft besagte. Und obwohl die Wirkung von Chatterton sich damit erschöpfte und praktische Reformakte ausblieben, kann man Vigny trotzdem einen Vorwurf eben nicht machen: die Romantisierung durch den unromantisch ruinierten Poeten absichtlich zum Selbstzweck inszeniert zu haben. 383 384 385
––––––––––––––––––– Gautier: Artikel zur Wiederaufführung von Chatterton, S. 167. Kelly: The Marvellous Boy, S. 112. Treuherz: Hard Times, S. 13.
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Diesen Vorwurf aber, so etwas wie l’art pour l’art einer Romantisierung ausgerechnet durch den unromantischen Chatterton zu betreiben, konnte man, vielleicht zu Unrecht, zwanzig Jahre später einem anderen als Vigny machen. Denn ist es nicht diese aufreizende „Nutzlosigkeit“ des Ölbildes gewesen, ja diese morbide Schönheit allein, die Henry Wallis’ malerische Intérieur-Szene mit verblassendem Poeten und weiteren Bruchstücken seines Ruins bis heute so unvergessen machte?
V. Zwanzig Jahre später oder Chatterton von Wallis (1855/56)
Es existiert kein Gesichtsbild von Thomas Chatterton. Kein authentisches Portrait ist überliefert. Aber dieses Bild fällt einem unwillkürlich ein, wenn einem etwas zum Stichwort „Chatterton“ einfällt. Es fällt einem ein, obwohl man weiß, daß nicht Chatterton darauf portraitiert ist – das Ölbild stammt von 1855/56, Chatterton ist seit fünf- bis sechsundachtzig Jahren tot. Auch weiß der, der sich informiert hat, daß ein anderer Dichter, George Meredith, als Thomas Chatterton posierte. Es ist Merediths rotes Haar, das man beim Schlagwort „Chatterton“ aufleuchten sieht – es ist Merediths schönes bleiches Gesicht, sein schmaler Körper, der jugendlich genug für einen Siebzehnjährigen anmutet, obwohl Meredith schon siebenundzwanzig war – zwei Jahre älter als sein Freund Henry Wallis, der ihn sich zum Modell nahm. Obwohl man weiß, daß Wallis’ Ölbild ein „gefälschtes“ Chatterton-Portrait ist, fällt es einem ein, unwillkürlich und eigenwillig. Warum? Weil es ein faszinierendes Bild ist – ein verstörendes, so man sich darauf einläßt. Ein bewegendes, irritierendes Bild – warum? Vor allem deshalb, weil man nicht weiß, wohin der Maler einen bewegen will – was er von einem will, wenn er uns konfrontiert mit seinem Chatterton. Und diese Irritation, die mit der Faszinationsmacht von Wallis’ Chatterton Hand in Hand geht, ist nicht neu.
1 Zwanzig Jahre später oder vom augenblicklichen Sensationserfolg eines (un)moralischen Chatterton Sich auf Wallis’ Chatterton einzulassen, ist etwas anderes als die Beschäftigung mit Vignys Chatterton oder Chattertons eigenen ruinierten Poeten: weil Wallis’ Werk erstens ein Gemälde ist, also ein „Bild“ des ruinierten Poeten im wahrsten Sinne des Wortes. Und zweitens existiert über den Medienwechsel hinaus noch ein tiefergehenderer Unterschied: nämlich der, daß die vordem zentrale Frage, ob der ruinierte Poet eine romantische oder unromantische Mythenfigur wäre – ob er gar seelisch ruiniert sein könnte, in seinem eigenen Inneren kontaminiert von seiner ruinösen Merkantilwelt – sich in eine andere Frage verwandelt hat. Im Vordergrund steht nicht mehr: Ist Wallis’ Chatterton romantisch oder unromantisch?, sondern: Ist Wallis Chatterton moralisch oder unmoralisch? Um es gleich vorneweg zu sagen: Wie zu befürchten, haftet dem ruinierten Poeten Chatterton, so wie Wallis ihn darstellt, etwas Unmoralisches an, was auf eine
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Romantisierung oder Verklärung des Themas zurückzuführen ist: auf die beschönigende Betrachtung eines Beschönigung Sterbenden. Ausgerechnet dieses Unmoralische aber, das mit dem Moralischen des Werkes effektvoll verschränkt wurde, ist der Zündpunkt seines Sensationserfolges gewesen und der Ausgangspunkt einer Berühmtheit, die heute noch zu konstatieren ist. „This haunting and memorable image of the dead poet has rightly become one of the most popular of all Pre-Raphaelite pictures, and it created a sensation at the Royal Academy Exhibition of 1856.“386 „Dieses geisterhaft verfolgende und einprägsame Bild des toten Poeten“ ist bis heute eines der populärsten Werke der Präraphaelitischen Malschule sowie des viktorianischen England überhaupt. Und schon bei seiner ersten Präsentation, im Rahmen der Ausstellung der Londoner Royal Academy von 1856, war es die „Sensation“. Das heißt: das Publikum war aufgewühlt und hingerissen von der Inszenierung des verblassendem Poeten, und die Kunstkritiker machten ihrer inneren Bewegung in glühenden Worten Luft, unter denen die John Ruskins zu geflügelten Worten geworden sind. Ruskin, im Laufe seines Lebens immer berühmter und einflußreicher als Schriftsteller, Kunstkritiker und Sozialphilosoph, hatte 1856 bereits einen Namen als Verteidiger der Kunst William Turners und Verfasser einer durch Turner inspirierten Kunst- und Farbtheorie. Dieses Monumentalwerk Modern Painters, dessen erster Band 1843 erschienen war und dessen fünfter und letzter erst 1860 vollendet werden sollte, prägte (u.a.) die junge Maler-Geheimbrüderschaft der Präraphaeliten – welche wiederum Zuspruch durch Ruskin fanden. Seine Unterstützerrolle junger, noch namenloser Talente, die seine Schriften offenbar ernst genommen hatten, nahm Ruskin jedoch nicht nur aus geschmeichelter Gönnerhaftigkeit ein, sondern war vielmehr durch eine „kunst-ökonomische“ (und ein wenig an Vigny erinnernde) Überzeugung motiviert: nämlich, daß es notwendig sei, die künstlerischen Talente einer Zeit ausfindig zu machen und staatlich zu fördern, damit ihr Potential nicht verschwendet werde und verloren ginge.387 In Henry Wallis sah Ruskin nun ein solches glücklich gefundenes Potential, seinen Chatterton beschreibt er als: Faultless and wonderful: a most noble example of the great school. Examine it well and inch by inch: it is one of the pictures which intend and accomplish the entire placing before your eyes of an actual fact – and that a solemn one. Give it much time.388
„Fehlerlos und wundervoll: das edelste Beispiel einer großen Schule“ sei dieses Bild, das „die vollkommene Vor-Augen-Stellung eines tatsächlichen Gesche386 387
388
––––––––––––––––––– Wood: The Pre-Raphaelites, S. 61. Ruskin veröffentlichte seine kunst-ökonomischen Überlegungen 1857 unter dem Titel: The Political Economy of Art, being the Substance (with Additions) of Two Lectures delivered in Manchester July 10th and 13th, 1857. Ruskin: Notes on the Principal Pictures in the Royal Academy. Das berühmte Zitat aus diesem Pamphletes von 1856 ist wiedergegeben nach Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144.
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hens, und zwar eines düster-ernsthaften“ leiste; was in irgendeiner Form damit zusammenhängen muß, daß die Bildbetrachtung „inch für inch“ vor sich gehen müsse, weshalb ihr „viel Zeit“ zu geben sei. – Der Macher dieses mit ehrfurchtsvollem und detektivischem Auge abzutastenden Werkes aber, ein bislang unbekannter junger Künstler, hatte auf einen Schlag einen Namen: „young Wallis ‘found himself famous’.“389 Wallis hatte auf einmal einen berühmten Namen, der untrennbar verwoben war mit dem Namen seines Bildsujets: Chatterton. Und das war erst der Anfang der Sensation. Ein Jahr später, 1857, wurde Wallis’ Chatterton erneut ausgestellt, dieses Mal in Manchester. Und noch im Rückblick des Folgejahrs 1858 auf diese unvergeßliche Manchester-Ausstellung prangte das „magische“ Wort in den Zeitungen: „sensation“390. Denn der Andrang des von Chatterton außer sich gebrachten Publikums war derart heftig gewesen, daß es zweier Polizisten bedurft hatte, das Kunstwerk zu schützen vor „the crushing crowd“391. Eine Selbstmord-Welle löste das Ölbild Chatterton nicht aus; doch eine elektrifizierende Wirkung ist ihm nicht abzusprechen. Offenbar traf das Werk des englischen Malers, so wie gut zwanzig Jahre zuvor das gleichnamige Bühnenwerk des französischen Dichters Vigny, wiederum den Zeitgeist seiner Epoche an einem wundem Punkt, und traf deshalb so effektiv. Und wiederum war der Sensationserfolg ein Erfolg für den Augenblick – von dem dennoch etwas nachleben sollte, bis in heutige Zeiten hinein. „One of the most famous narrative images is Henry Wallis’s Chatterton“392: so das für heutige Zeiten bezeichnende Urteil Julia Thomas’; und der damit bestätigte Nachruhm des Gemäldes, über den Augenblick seines ersten Sensationserfolges hinaus, ist um so erstaunlicher, als der besagte Ersterfolg noch kurzlebiger gewesen war als der von Vignys Chatterton-Drama. Das hatte eine ähnliche Feuerprobe erwiesen, wie sie vordem das Theaterstück um den ruinierten Poeten hatte bestehen müssen: die Feuerprobe einer Wieder-Präsentation, im Falle des Chatterton-Bilds allerdings nicht zweiundzwanzig, sondern nur elf Jahre später. 1857, zweiundzwanzig Jahre nach einer unvergeßlichen Premierennacht, ließen sich in Paris Gautier und andere noch einmal in ihren mit der Zeit dabei bis ins Mark materialistisch gewordenen Herzen anrühren vom Drama des Ruins des Poeten. 1857 ist auch das Jahr, in dem sich die entfesselte Menge um Wallis’ Chatterton drängte, nur mühsam gebändigt von zwei Polizisten; doch elf Jahre später, 1868, sah es um dasselbe Bild desolat aus: However, eleven year [...] later when it was again exhibited in Leads, the Art Journal singled out Chatterton as an instance of how the Pre-Raphaelite School and its protagonists were now of the past: ‘It is, indeed, a striking sign of the instability of 389 390 391 392
––––––––––––––––––– Parris: The Pre-Raphaelites, wo die Autorin zitiert aus dem Saturday Review vom 17. Mai 1856, S. 58. Ebd., wo Parris zitiert aus dem Morning Star vom 5. Mai 1858, S. 6. Ebd., wo Parris zitiert aus dem Art Journal VII vom 1. August 1868, S. 156. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 84.
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V. Chatterton bei Wallis
fashion and of fame, that Wallis’s Death of Chatterton which needed two policemen for its protection in Manchester against the crushing crowd, is now […] overlooked and neglected’.393
Daß Ruskin zwölf Jahre zuvor, im Zuge der Erstausstellung in der Royal Academy, Wallis’ Chatterton als ein fehlerloses, wunderbares und beispielhaftes Werk pries, scheint ebenso „of the past“ wie der allgemeine Aufruhr der Gemüter, den es erregte. Gleichwohl sieht auch der Kunstkritiker des Art Journal von 1868 Chatterton als ein Exempel – für die „Instabilität der Mode und des Ruhmes“. Chatterton sei nun „übersehen und vernachlässigt“, weil aus der Mode gekommen – zusammen mit der „Mode“ der Präraphaelitischen Malschule, so der Kritiker. Doch die Wahrheit ist: wenn Chatterton insbesondere, sowie die Kunstrichtung des Präraphaelismus im allgemeinen aus der Mode gekommen sind und die Gemüter nicht mehr bewegen, bedeutet das, sie treffen den Zeitgeist von 1868 nicht mehr an einem wundem Punkt. Und das muß wiederum heißen: Nur elf, zwölf Jahre nach dem ersten Sensationserfolg des Portraits des verblassenden Poeten in seinem ruinierten Intérieur wird sich die Gesellschaft derart verändert haben, daß kein Funke mehr von Wallis’ Chatterton auf sein neues Publikum überspringt. Denn diese Gesellschaft von 1868 wird schlichtweg noch materialistischer, nüchterner, noch weniger romantisch geworden sein: zu unromantisch für Wallis’ zwar historisch authentisch gewolltes und doch zugleich, wie das Kommentarschild der Tate Gallery es noch heute besagt, „stark romantisiertes“ Bild des schönen vergifteten Poeten.
2 Das Nachleben des unmoralischen Chatterton Und doch: „One of the most famous narrative images is Henry Wallis’s Chatterton“394 – so Thomas. Und doch: „This haunting and memorable image of the dead poet has rightly become one of the most popular of all Pre-Raphaelite pictures“395 – so Wood. Und doch sei „Henry Wallis[’s] [...] lovely painting Chatterton [...] one of the minor masterpieces of the Pre-Raphaelite Movement, and still the image which his name most recently evokes“396 – so Kelly. Und doch will keine zeitgenössische Ausstellung, kein Katalog, keine Studie, die sich mit der englischen Kunst des 19. Jahrhunderts befaßt, auf das „Dabeisein“ von Wallis’ Chatterton verzichten (mag das Rahmenthema das Werk der Präraphaeliten sein, 393 394 395 396
––––––––––––––––––– Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144. Parris zitiert aus dem Art Journal VII, S. 156, vom 1. August 1868. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 84. Wood: The Pre-Raphaelites, S. 61. Kelly: The Marvellous Boy, S. 116-117.
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die narrative Malkunst des Viktorianischen England, das Künstlerbild des 19. Jahrhunderts, etc...). Und doch ist Chatterton eines der gefragten Poster, die der Besucher der Londoner Tate Gallery sich als Souvenir seines Museumsbesuches erwerben kann; und doch durchgeistert gerade Wallis’ Chatterton-Bild, als das Bild Chattertons, das Internet – kurzum: Wallis’ Chatterton erlebt einen Nachruhm, der besagt, daß etwas vom augenblicklichen ersten Sensationserfolg den Augenblick doch überlebte. Dieses „etwas“ aber ist eine Faszinationsmacht, welche sich aus einer Irritation speist, die mit der Zeit nicht verging; denn es ist eine nicht zu beruhigende Irritation. Wallis’ Chatterton bewegte die Gemüter der Betrachter von 1856/57, und etwas daran bewegt noch immer, dieses latent Beunruhigende ist aber die letztlich unlösbare Rätsel-Frage: wohin, wozu, zu was das Bild bewegen will? Auf der einen Seite standen nämlich drei Dinge von Beginn an für alle Kritiker fest: erstens, daß Chatterton eine „Geschichte“ „erzählte“; zweitens, daß in dieser Geschichte eine „Moral“ steckte; drittens, daß die Geschichte und darüber die Moral des Bilds seinen Details zu entlesen sei – und wären diese auch auf den ersten Blick noch so leblos und unscheinbar: „There is not a trait in the most inanimate part of the picture that does not bear upon the story and enforce its moral“, zitiert Kelly aus einer viktorianischen Bristoler Zeitschrift.397 So wäre denn die Geschichte und Moral des Kunstwerkes, wie Ruskin es anriet, ganz einfach, wenn auch mit viel Zeit und Einfühlungsvermögen, „inch by inch“398 seinen übrigens dinglichen Details zu entnehmen? Nur, so einfach wäre dieses „Lesen“ von Chatterton wiederum nicht. Die „Geschichte“ – der Ruin eines Poeten – läßt sich wohl geduldig herausfinden, rekonstruieren aus den Bruchstücken des Ruins; doch was wäre die „Moral“ dahinter? Daß darüber bis heute Unklarheit herrscht, verraten Formulierungen wie diese: „Wallis may have intended the picture as a criticism of society’s treatment of artists, since his next picture of note, The Stonebreaker (1858 [...]), is one of the most forceful examples of social realism in Pre-Raphaelite art.“399 Wallis könnte sein Chatterton-Bild als eine „Kritik der Behandlung des Künstlers durch die Gesellschaft“ intendiert haben, so Christopher Wood; doch nicht aus dem Werk selbst, sondern aus Wallis’ Folgebild The Stonebreaker erklärt der Kunsthistoriker seinen Verdacht, auch Chatterton könnte sozialkritisch gemeint gewesen sein. Denn (erst) dieser Stonebreaker von 1858 (das Bild eines buchstäblich ruinierten, nämlich in sich zusammengebrochenen toten Steinbrechers vor dem Hintergrund einer rauen Naturkulisse, abendrot beschienen) sei „eines der stärksten Beispiele des Sozialrealismus in der Präraphaelitischen Kunst“ gewesen. Und auch Leslie Parris mag nicht mehr tun als die sozialkritische Intention und Moral von Chatterton lediglich zu vermuten, wenn sie ihrerseits schreibt: 397 398 399
––––––––––––––––––– Ebd., S. 118. Siehe noch einmal die Wiedergabe des berühmten Zitates Ruskins in Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144. Wood: The Pre-Raphaelites, S. 61; Hervorhebung von mir, N.H.
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That there was indeed a moral in this picture, was then discerned by some critics. But other reactions were clearly at odds with the idea of homage to neglected artistic genius which must have been in Wallis’s mind when he painted Chatterton.400
Hatte Henry Wallis beim Malen von Chatterton den Gedanken, dem (von der Gesellschaft) vernachlässigten künstlerischen Genius ein Denkmal zu setzen? War das seine „Moral“ und kritische Absicht? Die wiederholte Aussprache dieser betonten Vermutung durch Kunsthistoriker gegenwärtiger Zeiten kaschiert einen leisen Zweifel. Und kein Wunder: denn das Reizvolle und Problematische an Wallis’ Chatterton ist, daß der Maler „nur“ die Dinge, die Bruchstücke des Ruins des Poeten, inklusive dem „größten“ Ruin-Reststück, der Leiche, (an)sprechen läßt. Doch daß der Betrachter des Bildes sich davon angesprochen fühlt, heißt noch nicht, daß er selbst sich seine innere Bewegung und das, was Chatterton ihm damit einflüstern könnte, erklären könnte; es heißt schon gar nicht, daß er seine innere Bewegung funktionalisieren könnte: kanalisieren in eine Absicht, die schuldige Gesellschaft zu ändern, die da wohl den Poeten ruinierte. Zu einer solchen Absicht kann es schon deshalb kaum kommen, weil die empörende, also zur Rebellion motivierende Schuldzuweisung an die Gesellschaft eben nirgendwo „geschrieben“ steht und auch mit keinem malerischen Detail explizit angedeutet wäre. Wallis’ Bild konzentriert sich rein auf das Opfer. Es fehlt der Blick auf eine Schuldigen-Instanz – die damit abstrakt und unantastbar wird. Eine entgleitende Größe, unerreichbar für konkrete Absichten der Verbesserung dieser, nur in der Ausblendung präsenten, Gesellschaftswelt. Und das muß doch einen Rückschritt Wallis’ bedeuten? Die nur implizite Kritik einer dem Poeten feindlich gesonnenen Gesellschaft durch ihre Ausblendung, sowie die exklusive Konzentration auf den glorifizierten Märtyrer-Dichter ist doch die Grundidee des alten, romantischen Mythos des rebellischen, verfluchten Poeten gewesen. Diesen romantischen Mythos hatte Vigny 1834/35 revolutioniert und sozialkritisch gemacht, durch die Rückholung des Ausgeblendeten in den Mythos selbst. Vignys Chatterton war ein (un)romantisch ruinierter Poet gewesen, offensichtlich das Opfer der Geldmenschen John Bell und Lord Beckford und seelisch gar selber gefährdet durch die Ansteckung des „modernen“ Merkantilgeists, dem sich zu unterwerfen dem Dichter auch seine eigene Kreatürlichkeit abverlangte, sein Hungern, Fiebern und Frieren. Chatterton, ausgemergelt, krank, zitternd, verzweifelt, gehetzt durch die Notwendigkeit arbeitend in seinem bezeichnend ruinierten Intérieur: Das war einer der neuen, unschön-sozialrealistischen Eindrücke gewesen, mit denen Vigny die Besucher seines Dramas allerdings erst recht romantisierte: nämlich bewegte, erweichte, empörte. Und wenn Wallis nun kein Feinbild eines John Bell vorhält, in dessen Namen der Geldgeist anzuprangern wäre, bleibt bei ihm doch immerhin diese vielsagende Erweiterung des romantischen Blickes, der sich auf den Poeten allein 400
––––––––––––––––––– Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144; Hervorhebung von mir, N.H.
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konzentrierte, auf den Poeten in seinem Intérieur. In dessen Dingen aber spiegelt sich der Ruin des Poeten, und so die Position des vergeistigten Dichters zu seiner konkreten, materiellen Welt, ab – so daß etwas von dieser „schuldigen Realwelt“ doch nicht restlos ausgeblendet ist, weshalb auch etwas von der Schuldzuweisung an sie mit dem ruinierten Intérieur präsent bleibt. Dieses „etwas“ genügt(e), um den Verdacht zu erregen, Wallis’ Chatterton könne so wie The Stonebreaker – oder so wie der Chatterton Vignys – sozialkritisch gemeint sein. Nur war (und ist) dieses „etwas“ zu wenig, zu sehr sublimiert, als daß es als ein deutlicher sozialkritischer Impuls zu empfinden sei – vielmehr bleibt die Intention des Bildwerkes bis heute irritierend fraglich. Was nämlich vorzüglich verstörend und eben keineswegs sozialkritisch bewegend an Wallis’ Bild des verblassenden Poeten ist, und was wiederum rückverweist auf die Tradition der romantischen Mythenbildung, ist die Schönheit des Kunstwerkes, die sich noch einmal konzentriert in der Schönheit der titelgebenden Hauptfigur. „[Y]oung, solitary, brooding, beautiful and damned“401 – so mußte der romantische Genius sein, und Wallis’ Chatterton würde die beispielhafteste Verkörperung dieses romantischen Ideals darstellen – wäre er lediglich zu einem frühen Tode „verdammt“ und nicht de facto bereits am Verblassen. Daß dieser einsam verbleichende junge Poet als ein Leichnam zu vermuten ist, macht ihn, seinen Anblick, aber abstoßend – und fesselnd zugleich; und es ist eben nicht nur das Mysterium des Todes, das das Auge des schaudernden Betrachters einnehmen will, fast wider seinen Willen. Während Wallis sich die größte Mühe gab, das letzte Intérieur des Poeten historisch-authentisch zu gestalten, mißachtete er bezüglich des Leichnams die überlieferten und auch von Seiten der Logik her einleuchtenden Tatsachen, nämlich: daß Chatterton von seinen Giftkrämpfen entstellt war, als man ihn am Morgen des 25. August in seinem Exkrement fand.402 Wallis’ Chatterton hingegen ist unleugbar „schön“ – wenn auch auf eine eigenwillige und nicht regeltypische Weise. Man könnte bemängeln, daß seine Nase zu lang, sein Haar zu rot und seine Glieder zu unmännlich-fein wären, um akademisch-schön zu sein; doch romantische Schönheit ist nicht akademisch-schön und nicht das, was den Reiz dieses in pietàHaltung403 hingegossenen Märtyrerkörpers ausmacht. Wallis’ Chatterton ist auf seine zugleich alt-romantische und viktorianisch-morbide Weise404 abstoßend401 402
403 404
––––––––––––––––––– Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 7. Eine knappe, doch eindrückliche Beschreibung des Leichnams im oben besagten Zustand gab der „coroner’s inquest“, der am 25. August 1770 urkundlich festgehaltene Behördenbericht, den Wallis kannte, wie Parris vermutet in: The Pre-Raphaelites, S. 142. Siehe Kelly: The Marvellous Boy, S. 118: „The boy poet lies outstretched on his bed, pale and beautiful, like a figure of a pietà“. Das viktorianische Zeitalter ist nicht nur die Epoche der fetischisierten neuproduzierten Warendinge (wovon die Rede noch sein wird). Es ist auch die Produktionszeit der Glashauben, unter denen ausgestopfte Tiere oder getrocknete Pflanzenreste verwahrt wurden; die Zeit der einbalsamierten Herzen verstorbener geliebter Menschen (siehe Scène d’Intérieur,
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schön – und eben so unheimlich attraktiv gewesen, daß es von manchen als unmoralisch empfunden wurde. Denn die einen Kritiker sahen in Chatterton eine Moral – wenn sie auch nicht hätten sagen können, welche genau. Für die anderen aber war Chatterton unmoralisch; und auch wenn sie es nicht explizit aussagten, mußte dieses Unmoralische doch im Verführerischen des allzu schönen Sterbendenbildes gründen. Nur dieses fatal Anziehende der doch im Grunde schrecklichen Intérieur- und Todesszene kann erklären, daß man Wallis denselben Vorwurf machte, wie vor ihm Vigny: mit seinem Chatterton eine „seeming glorification of the suicide“405 zu betreiben. Die Kritiker, die sich von der ihnen unheimlichen Attraktion des Sensationserfolgsbildes zum Eifern in die Gegenrichtung anstoßen ließen, machten Wallis den Vorwurf, als Verklärer des Selbstmordes unmoralisch zu sein, so wie schon aufgrund der Auswahl seines Sujets. Dieser Chatterton selbst sei schließlich unmoralisch gewesen mit seiner „‘sad history of [...] misdirected genius and boyish vanity’, which culminated in his ‘mad deed’“.406 Und diese Verurteilung Chattertons spielt noch mit hinein, wenn ein gewisser Tom Taylor 1857, im Anschluß an die Manchester-Ausstellung des von Polizisten bewachten Bildes, Wallis ein ambivalentes Kompliment macht. Zwar will Taylor in Chatterton durchaus eine „Moral“ sehen. Doch wenn er schreibt: „never was the moral of a wasted life better pointed in painting“407, läßt er es diplomatisch offen, welche Moral dem veranschaulichten Exempel eines „verschwendeten Lebens“ zu entziehen, wem die Schuld daran zuzuschreiben wäre: der Gesellschaft – oder nicht etwa doch dem allzu stolzen, verrückten, mental ruinierten Poeten? Was wollte Wallis mit seinem Chatterton? Diese Frage wurde niemals geklärt; und gerade das, diese ungelöste und von Wallis selbst als unlösbar inszenierte Beunruhigung, führte zum Nachleben des Ruhmes des Bildes, über den Sensationserfolg der Jahre 1856/57 hinaus. So die These; doch ehe sie mit Blick auf das Ölbild des ruinierten Poeten selbst zu erhärten ist, sind zunächst die historischen und dann die legendären Hintergründe seiner Entstehung zu betrachten.
405 406 407
––––––––––––––––––– S. 58) – der Andenken überhaupt, die immer „tote Reststücke“ von etwas Vergangenem sind und als solche morbid, wenn auch zugleich unheimlich lebendig in ihrem Ansprechendem. Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144. Siehe ebd., wo Parris zitiert aus dem Saturday Review vom 17. Mai 1856, S. 58. Siehe ebd., wo Parris zitiert aus Taylors Handbook to the Gallery of British Paintings, London 1857, S. 112.
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3 Drei Entstehungshintergründe von Wallis’ Chatterton Vermutlich, auch wenn es eben nicht mit Sicherheit zu beweisen ist, bestand die Moral von Wallis’ Chatterton darin, den verblassenden Poeten als ein exemplarisches Opfer seiner Gesellschaft darzustellen (so Wood und Parris als Vertreter derer, die noch heute eine Moral in Chatterton annehmen wollen408) – und diese Gesellschaft wäre folglich eine unpoetische, eine verwirtschaftlichte gewesen. Tatsächlich hatte der historische Chatterton, als Erfinder eines ersten Typus des ruinierten Poeten, schon seine Gesellschaft von 1768/69 dafür angeprangert, zu einseitig wirtschaftlich geworden zu sein, und Vigny hatte seine noch materiellere Welt von 1834/35 dann in Chattertons Namen dazu bewegen wollen, in ihrer Verwirtschaftlichung innezuhalten. Aber weder der eine, noch der andere Dichter hatte mit seiner Kritik verhindern können, daß die Merkantilisierung ihren Lauf nahm; und so ist es kein Wunder, wenn Kelly das Frankreich der Wiederaufführung von Vignys Chatterton 1857 als die definitiv „materialistic years of the Second Empire”409 bezeichnet. Weil das Second Empire derart materialistisch war, hatte das Drama des ruinierten Poeten aber noch immer, wenn nicht erst recht seine Aktualität; und das war nicht nur in Frankreich so. Daß im England desselben Zeitraums der alte, romantische Mythos Chatterton gleichfalls ein „revival“ hatte, und das schon vor Wallis’ Produktion seines Ölbildes,410 begründet Kelly damit: Chatterton himself, though no longer a Romantic commonplace as he had been earlier in the century, could still be seen as a symbol of the creative artist’s isolation in a philistine and materialistic world; to the Pre-Raphaelites, in a society increasingly dominated by the Industrial Revolution, the symbolism seemed stark enough.411 408 409 410
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––––––––––––––––––– Siehe ebd., sowie Wood: The Pre-Raphaelites, S. 61. Kelly: The Marvellous Boy, S. 112. „The story of Chatterton was already in the air when Wallis’s painting was first exhibited, at the Royal Academy, in 1856. Chatterton: The Story of a Year, a biographical novelette by David Masson, had been published earlier that year, a reprint from the Dublin University Magazine of 1851.“ (Kelly: The Marvellous Boy, S. 117.) Wallis könnte sich an Masson inspiriert haben, allerdings nur an einem Gespräch über Chatterton, nicht an der Lektüre von Massons Text, der 1856 erst nach Vollendung des Ölbildes Chatterton komplett publiziert wurde. In der Erstversion der „novelette“ von 1851 hatten aber noch die Beschreibung der letzten Stunden des Jungdichters gefehlt. So ist es zu vermuten, daß Wallis als schriftliche Inspirationsquellen zu seinem Sujet Schriften des 18. Jahrhunderts zusammensuchte, inklusive des „concocted, but vivid, inquest record“ mit der Beschreibung der freilich unschönen historischen Leiche (so Parris: The Pre-Raphaelites, S. 142). Von einer Auseinandersetzung Wallis’ mit Vignys Chatterton ist nichts überliefert; doch daß Masson, der mögliche Gesprächspartner des Malers, Vigny gelesen hatte und bezüglich seiner Umänderungen der historischen Fakten kritisierte, erinnert Rey in: Préface, S. 11. So mag Masson im Gespräch mit Wallis Vignys Drama thematisiert haben. Kelly: The Marvellous Boy, S. 116.
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Chatterton war Mitte des 19. Jahrhunderts aktueller denn je: denn materialistischer als je zuvor war die Welt geworden. Und wie materialistisch, bzw. wie fetischisiert dieses mittige 19. Jahrhundert war, diese Zeit der Great Exhibition im Londoner Crystal Palace 1851, gibt Eva Badowska zu bedenken. In Auseinandersetzung mit Charlotte Brontës Roman Villette (1853) bemerkt Badowska eine merkwürdig in sich gespaltene Obsession der Jahrhundertmitte von den Dingen. Badowska sieht (mit Brontë) in der Weltausstellung von 1851 ein bezeichnendes Zeitphänomen, man könnte es auch einen exemplarischen Ausdruck des Zeitgeistes nennen: Zeittypisch ist die Art und Weise, wie sich das Erlebnis der Great Exhibition auf die Besucher auswirkte. Die Konfrontation mit den gesammelten „Dingen der Welt“ sei eine ambivalente Erfahrung gewesen zwischen Abwehr und Anziehung, „mental helplessness“, ja „shock“ – und dem Erliegen einer Faszination durch die „hypnotische Macht“ („hypnotic power“) der Dinge.412 Diese ambivalente Reaktion auf die Konfrontation mit den versammelten Dingen der Welt sieht Badowska aber als typisch, weil das Verhältnis zu den Dingen Mitte des 19. Jahrhunderts im allgemeinen in sich widersprüchlich gewesen sei. Begonnen hat es damit, daß die modernen Produktions- und Verbreitungsmöglichkeiten dinglicher Güter dafür sorgten, daß die Menschen schlichtweg von mehr Objekten umgeben waren, daß sie selbst mehr Dinge besaßen, daß sich die Wohnräume füllten.413 Doch wenn sich die Intérieurs in ihrer „Dingdichte“414 anreicherten, dann nicht nur deshalb, weil ein neues Angebot von Waren- oder Gebrauchsdingen („commodity“) gegeben war. Auch verlangte es die Menschen verstärkt nach diesen Dingen: weil sie mehr als „einfache Dinge“ darin sahen. Badowska stellt fest, daß im mittigen 19. Jahrhundert „firm distinctions between terms like thing, material object, and fetish impossible“ gewesen seien, denn: „under commodity culture, they all acquire the aura of the commodity and thus of the fetishism“.415 Die neue „Kultur der Waren- oder Gebrauchsdinge“ sei gleichzusetzen mit einem modernen Fetischismus: Diese These formulierend, 412 413
414
415
––––––––––––––––––– Siehe Badowska: Choseville, S. 1511. Badowska kommt hier zwar auf den Wohnraum des 19. Jahrhunderts als einen zentralen Schauplatz seiner Dingekultur zu sprechen, geht aber weder auf die konkrete Bedeutung und Funktionsweise dieses „Spiegelsaals der Seele“ ein (siehe Praz: La Philosophie de l’Ameublement, S. 19), noch auf seine Geschichte, die in der Zeit des Biedermeiers und Viktorianismus, so Praz, auf eine eklektizistische Überfüllung mit Dingen hinausläuft (siehe ebd., S. 56-60). Die „Dichte“ der Innenraum-Dinge ist eine vom Intérieur-Theoretiker Peter Thornton eingeführte Kategorie. Thornton verweist damit auf eine zeitlich und kulturell fluktuierende Kapazität des Auges, das Intérieur in seiner dinglichen Gefülltheit zu absorbieren. Am Ende der dinglastigen viktorianischen Ära etwa habe das Auge mehr Dingdichte aufnehmen können als in den vom dinglichen Überballast „befreiten“ dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts (siehe Thornton: Innenraumarchitektur in drei Jahrhunderten, S. 9). Badowska: Choseville, S. 1512.
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kann Badowska sich auf Zeitzeugen berufen, die den Fetischismus ihrer eigenen Epoche kritisch unter die Lupe nahmen. So tat es etwa der Verfasser eines Essays, der 1858 in der von Dickens herausgegebenen Zeitschrift Household Words erschien, und zwar unter dem bezeichnenden Titel: Fetishes at Home. Wenn hier von „Fetischen“ und nicht von „Gebrauchsdingen zu Hause“ die Rede ist, so eben aufgrund der schon vom Zeitzeugen konstatierten „habit” seiner Zeitgenossen „of attaching an extraordinary importance, if not a superstitious veneration, to articles of the most commonplace and homely description“416. Da ist die Rede von einer „Gewohnheit“, die „gewöhnlichsten und häuslichsten“ Dinge mit einem Mehrwert zu versehen oder diesen Mehrwert darin gefunden zu sehen. Dieser Mehrwert ist immateriell, er kann nämlich in einer „außergewöhnlichen Bedeutung“ bestehen und gar in einer „abergläubischen Verehrung“ gipfeln. Was diese außergewöhnliche Bedeutung aber nicht selbstredend meint, jedenfalls nicht Badowska zufolge, ist der Mehrwert einer Erinnerung. Auch wenn Badowska das Wort „Andenken“ bzw. „memento“ oder „souvenir“ niemals ausspricht, hebt sie doch Dinge, die eine Erinnerung und so einen Verlust bedeuten, ab von den anderen, den „positiv-materiellen“ Gebrauchsdingen oder Warenfetischen.417 Badowskas zentrale, der Interpretation von Villette entzogene These läßt sich nämlich damit resümieren, daß sich die „commodity culture“ des mittigen 19. Jahrhunderts zwar allseitiger Beliebtheit erfreute, weil man die Dinge fetischisierte, d.h. mit nicht-materiellen Mehrwerten besetzte oder diese anscheinend wie von selbst in den Objekten gegeben fand. Solchen Dingen haftete dann eine persönlich empfundene Attraktion an, aufgrund der Eigner sich dazu entschlossen hatte, das Objekt zu kaufen und im eigenen Intérieur zu plazieren. So diente das „Ding nach dem Geschmack des Eigners“ hier nicht zuletzt dessen Selbstrepräsentation. Und wie üblich es geworden war, sich selbst wortlos, über das eigene Intérieur und seine Dinge, auszudrücken, wurde bereits angesprochen: Vigny setzte bei der Gestaltung seiner Bühnen-Intérieurs von Chatterton auf das Wissen seiner Zeitgenossen um das Stumm-Charakteristische des Innenraums. Doch Vignys Drama verdeutlichte auch, daß in der Welt seines Chatterton zwei Kategorien von selbst-repräsentativen Dingen aufeinanderprallten. John Bells stattliches Wohnzimmer diente freilich der persönlichen Selbstrepräsentation seines Eigners, nämlich dem plakativen Selbstausdruck des Geldund Machthabers Bell. Doch nichts Intimeres als das drückten die Besitztümer des Kaufmannes aus: die Selbstrepräsentation John Bells in seinen Dingen und den daraus gefügten Intérieurs blieb oberflächlich. Die Präsenz des Materiellen, Kostspieligen, sprach hier für sich, und das genügte. Zum Zwecke dieser Aus-
416 417
––––––––––––––––––– Die Passage aus dem besagten Essay ist zitiert nach ebd. Siehe Badowska: Choseville, S. 1514-1515.
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sprache der Präsenz des Geldes und der daran gebundenen Macht waren die Dinge da. Aber die „anderen“ Dinge, die den Geld- und Machtlosen Chatterton und Kitty Bell gehörten, waren selbst arm, daher alt und unscheinbar – und erst recht unsagbar teuer. Sie waren wortlose Ausdrucksmittel von Emotionen, die anders nicht gesagt werden konnten oder durften. So repräsentierte auch die Bibel, die Chatterton Kitty zuspielte, ihren Eigner; doch nicht den materiellen Menschen, der sich den Kauf des Buchs hatte leisten können, sondern den emotionalen Menschen, der sich selbst gestisch hingab mit dem abgegriffenen und unpräsentablen Stück – einem seiner gezählten Besitztümer überhaupt! –, aus andächtig verhaltener Zuneigung. Freilich ist es etwas seltsam, daß auch Chatterton und Kitty Bell mit einer eigenen „Kultur der intimen Dinge“ das materialistische System in gewisser Weise mittragen. Wäre nicht eine radikale Abkehr vom Dinglichen überhaupt die konsequentere Rebellion gegen die Kultur des überhandnehmenden Materiellen gewesen? Doch anscheinend konnten sich auch die Menschen des mittigen, materialistischen 19. Jahrhunderts, die seinen Zeitgeist und seine erdrükkende Präsenz der Waren fürchteten, dem Anreiz der Dinge nicht gänzlich entziehen – die sie „nur“ in ihrer Aussage verkehrten und nicht als oberflächliche Repräsentanten des materiellen Subjekts wertschätzten, sondern als „tiefsinnige“ Repräsentanten des intimen, immateriellen, seelenguten Menschen. Badowska sieht in Villette also ein Buch, das eine Verhandlung versucht zwischen einer Kritik des allgegenwärtigen „commodity fetishism“ einerseits, andererseits einer „paradoxical fetishistic preoccupation with the traces and tokens of inner life.“418 Brontë habe mit ihrem Roman darauf reagiert, daß sich das „bourgeois subject“ ihrer Lebenszeit aus einem gespaltenen Verhältnis zu den Dingen konstituierte. Auf der einen Seite kam dieses Subjekt „into being through its relations with things“, denn der Bourgeois inszenierte sich selbst in seinen (oberflächlich) repräsentativen Dingen. Auf der anderen Seite aber definierte das Bourgeois-Subjekt sich „by the nostalgic notion that its true interiority has been lost under the pressure of things“.419 Der Bourgeois fand seine Identität in der eines „verlorenen Subjektes“, denn er hatte das nostalgische Gefühl, seine wahre Innerlichkeit in der Flut der oberflächlichen Dinge verloren zu haben. Nur regte der Wunsch nach Wahrhaftigkeit ihn ausgerechnet dazu an, sich noch verstärkt den Dingen zuzuwenden, sich erst recht in Dingen auszudrücken und die eigene Identität, durch die Welt der oberflächlichen Objekte bedroht ist, trotzdem im Rückgriff auf Gegenstücke zu festigen. Diese existentiell bedeutsamen Gegendinge waren also anders, nämlich intim, arm und insofern durchaus „negativ“; doch gerade deshalb waren sie den Herzen teuer: Es waren Dinge, die Erinnerung, also Verlust bedeuteten. 418 419
––––––––––––––––––– Badowska: Choseville, S. 1510. Ebd.
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So erlebt sich Lucy Snowe, die Protagonistin von Villette, ganz „zeittypisch“ bedrängt durch eine Gesellschaft, die sie gänzlich, als körperliche Arbeitskraft zu vereinnahmen und als geistige, fühlende Person abzutöten droht. Was Lucy bleibt, um ihre fragile seelische Identität zu stützten und „handzuhaben“, ist nur das Festhalten, oder zuweilen auch Loslassen, intimer Andenken – die stets teuer sind, doch zu schmerzerfüllt, sollten sie die Erinnerung eines zu peinvollen Verlustes bedeuten.420 Und was Badowska selbst nicht bis zur letzten Konsequenz vergegenwärtigt, was aber der Fall ist, ist also der Umstand: daß die Gegenobjekte zu den „positiven“, oberflächlichen, geld- und machtrepräsentativen Dingen der materialistischen Gesellschaft von Villette – einer fiktiven Stadt, die Brontë in einer Erstfassung ihres Romanes noch „Choseville“, „Dingstadt“, nannte421 – nicht einfach nur „Erinnerungsstücke“ sind. Vielmehr sind jegliche Andenken Lucy teuer und folglich identitätswahrend, oder verwandeln sich im Laufe des Romans dazu. Oder konkreter gesagt, all die Habseligkeiten, die Lucy Snow besitzt, sind Bruchstücke des Ruins, denn sie Lucy ist eine Romanfigur, deren Lebensgeschichte sich aus einer Kette von Ruinerlebnissen fügt, und die zersprengten Reststücke, die von den Verlusten bleiben, sind dann die einzigen, freilich „negativen“ Intimdinge, die Lucy noch gegeben sind, um einen Fortgang ihrer zerrütteten Existenz darauf aufzubauen. Doch auf Villette als eine Geschichte des Ruins und seiner Bruchstücke soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die (nochmalige) Auseinandersetzung mit einer anderen alten Ruingeschichte und ihren Reststücken steht schließlich bevor. Ehe wir aber auf Wallis’ Chatterton-Portrait blicken, das eine ganze Reihe von keinesfalls oberflächlichen, sondern tiefsinnig und intim beredten Restdingen beherbergt, sind einige Worte zu einem zweiten Entstehungshintergrund zu verlieren, dem dieses Bildwerk entspringt. Dieser zweite, konkretere Entstehungshintergrund, nach dem allgemeineren einer materialistischen und fetischisierenden Zeit, ist das Aufkommen einer Präraphaelitischen Bewegung im Kunstschaffen des viktorianischen England – das Aufkommen einer Kunst, die nur den tiefsinnigen Dingen huldigt; dieses aber obsessiv. * Wallis’ Chatterton ist versuchsweise in eine Reihe von Schubladen gesteckt worden, fast immer mit dem Geständnis der Versucher, daß das Werk diese Lade sprenge. Chatterton haftet etwas dezidiert Eigentümliches an, das sich der klaren Einordnung in eine Kunstrichtung oder -gattung seiner Zeit entzieht. Trotzdem ist es legitim, die Rückbindung zu künstlerischen Bewegungen und Genres (im Plural) zu unternehmen, an denen sich Wallis gleichwohl inspirierte: denn Chatterton ist gespeist aus einer Vielzahl von Anregungen, aus denen Wallis sein dann freilich schwer faßbares „eigenes Ding“ machte. 420 421
––––––––––––––––––– Siehe zu einem Beispiel einer solchen Andenkenvernichtung Hoefer: Geraubte Augenblicke, S. 203-206. Siehe Badowska: Choseville., S. 1509.
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So bringt dieses Chatterton-Bild von 1855/56 das Kunststück fertig, als eines der bekanntesten Bilder der Präraphaelitischen Schule zu gelten – obwohl es doch nur noch ein Nachzügler-Werk ist. Angefertigt wurde es von einem Maler, der sich wie zahlreiche andere nur flüchtig und zu spät von dieser revolutionären Kunstbewegung anstecken ließen, welche Dante Gabriel Rossetti zufolge kaum im Sommer 1848 ins Leben gerufen, so 1853 schon wieder beendet war. Rossetti war mit William Holman Hunt und John Everett Millais Begründer der Prärapahelitischen Brüderschaft gewesen und daher allerdings besonders streng in seinen Definitionskriterien. So ist es zuzugeben, daß der Präraphaelismus seinen „Tod“ von 1853 noch einige Dezennien lang überdauerte, nun allerdings getragen von zersprengten „Brüdern“, die ihren je eigenen Wegen folgten. Doch wenn Rossetti den Präraphaelismus als die ursprüngliche Brüderschaft von 1853 als gestorben ansah, geschah es infolge von Millais’ Eintritt in die Royal Academy.422 Mit diesem Eintritt machte sich Millais in Rossettis Augen zum Verräter der Ideale, für die die gemeinsam begründete Geheimbrüderschaft einmal eingestanden war und auf ihre Weise gekämpft hatte. So betont etwa Christopher Wood, daß der Präraphaelismus eine sehr antiakademische wie überhaupt verschwörerisch-geheimbündlerische rebellische Bewegung war.423 Er war eine Revolution auf künstlerischem Felde, die im Jahr 1848 explodierte – in dem Jahr, in dem es in England, im Gegensatz zu anderen Ländern Europas, zu keiner politischen Revolution kam. Für Wood war der rebellische Präraphaelismus „the most influential and controversial movement in the history of English art“424; die Präraphaeliten aber, eine Hand voll idealistischer, sehr junger Männer, seien „unquestionably the Victorian heirs of the Romantic Movement“425 gewesen. Allerdings schafften es die Präraphaeliten, sogar in ihrem „Romantischen“ aufreizend kontrovers zu sein. Denn obwohl sie Erben der Romantiker waren, blieben sie zugleich Kinder ihrer eigenen, viktorianischen Epoche, auch wenn sie gegen eben diese aufbegehren wollten. Um Woods Resümee zur Präraphaelitischen Bewegung nämlich gleich an den Anfang zu stellen: The Pre-Raphaelite Movement is a blend of romantic idealism, scientific rationalism and morality. This typically mid-Victorian mixture is, like so much in the Victorian age, full of paradox. How else can one explain a group of artists and intellectuals whose idea of modernity was to paint the Middle Ages? The Pre-Raphaelites were
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––––––––––––––––––– Siehe Wood: The Pre-Raphaelites, S. 9. Wood verweist ebd. darauf, daß die Geheim-Brüderschaft, die der Bund der Präraphaeliten war, als solche bewußte Rückbezüge zu den politischen Geheimorganisationen der Zeit, wie der der Carbonari, stiften sollte. Die Präraphaeliten wollten sich als „wahre“, nicht nur künstlerische Revolutionäre verstehen. Ebd. Ebd., S. 12.
V. Chatterton bei Wallis
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modern and medieval at the same time, and to understand them is to understand the Victorians.426
Die Präraphaeliten waren also auf eine für den Viktorianismus bezeichnende Weise in sich paradox, und dieses begann damit, daß sie romantisch und unromantisch zugleich waren. Romantisch an ihnen war der Idealismus, das Aufbegehren gegen die Welt der festgefahrenen Konventionen, das Aufbegehren insbesondere gegen die gegenwärtige, immer materialistischere Gesellschaft, der die andere Welt des vergeistigten, religiösen Mittelalters vorzuziehen war. Nicht umsonst spielten die Präraphaeliten mit ihrem Namen und dem daran gebundenen Programm auf ihre Vorbilder an: die Nazarener, jene deutschen Jungmaler des beginnenden 19. Jahrhunderts, die sich in Rückbesinnung auf die spätmittelalterliche Kunst einer „rejuvenation of religious art“ gewidmet hatten.427 Die jungen Präraphaeliten wollten ihrer materialistischen Welt selbst eine „altmodisch-beseelte“ Kunst entgegenhalten, eine Kunst, die wenn nicht Andacht, so vielleicht eine Art von Andenken auslösen sollte; so jedenfalls würde ich die innere Bewegung bezeichnen, die anzuregen die neue Kunst anstrebte – welche also auch deshalb „romantisch“ zu nennen ist, weil sie romantisieren wollte. Die Mittel allerdings, die die romantisierende Bildwirkung hervorbringen sollten, sind als „unromantisch“-modern zu bezeichnen. Der Präraphaelismus war getragen von einem „wissenschaftlichen Rationalismus“ („scientific rationalism“428), der als Grundlage einer neuen Farbentwicklung, Farbenlehre und Ästhetik diente. Die jungen Rebellen brachen mit den alten Kunstgriffen der akademischen Malweise, verzichteten auf ein „artificial chiaroscuro of the Old Masters“429, um ihre neue illuminierte Farbwirkung und Bild-Stimmung zu kreieren. Sie malten auf einer Grundierung von Weiß, welche die teils chemisch neuentwickelten, ausgefallenen, intensiven Farbtöne gleichsam von innen heraus leuchten ließ. Zwei Effekte gingen aus dem neuen Leuchten des Bildwerkes hervor: erstens eine Betonung der Kontur der Dinge, die farblich scharf und plastisch voneinander abgesetzt waren. Zweitens ließ das Leuchten des präraphaelitischen Bildes und seiner Dinge jedes noch so feine Detail daran sichtbar werden. Denn auch darin waren die Präraphaeliten „unromantisch-modern“ und geradezu wissenschaftlich-rational: sie waren besessen detailrealistisch. Und was vordem vom chiaroscuro verschluckt war, trat nun in bald über-realistischer Schärfe hervor: ob es sich um die Beschaffenheit eines Einzelhaars innerhalb einer Frisur handelte, die gewobene Fadenstruktur eines Kleidungsstoffes oder das filigran und samtig anmutende geäderte Blatt einer Pflanze. Die Präraphaeliten verführten zu einer bald haptisch-sinnlichen Betrachtungsweise ihrer Werke; sie malten Objekte, die den Anschein erweckten, man könne sie aus 426 427 428 429
––––––––––––––––––– Wood: The Pre-Raphaelites, S. 12. Siehe zu dieser Vorbildfunktion der Nazarener ebd., S. 10. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10.
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dem Bild herausgreifen oder wenn nicht, so zumindest mit einem streichelnden Auge daran entlangfahren. Und dieses Abtasten mit dem Auge und daran gebundene Verweilen bei dem Ding sollte auch sein. Denn es sollte nicht nur einen eigentümlichen Genuß bereiten, sondern war notwendig zur Lektüre der Botschaft. Das Unromantischste, nämlich Zweckrationalste am präraphaelitischen Kunstwerk war nämlich sein „Moralisches“. Denn freilich, dieses Bildwerk sollte romantisieren, oder mit Wood ausgedrückt: „They [the Pre-Raphaelites] were crusaders, with an earnest desire to produce better art, and to paint pictures that would inspire and uplift the spectator.“430 Die Präraphaeliten trachteten danach, die Betrachter ihrer Œuvres zu „inspirieren“ und zu „erheben“, sie in einen gehobenen, bewegten Gemütszustand zu versetzen: und aus diesem Grund malten und liebten sie zwar die Details der Dinge um ihrer selbst willen431, doch nicht ohne Hintersinn. Der Dreh- und Angelpunkt der präraphaelitischen Rebellion gegen die „Trivialität und Vulgarität“432 des materialistischen Viktorianismus, gegen dessen Kunst und Warenfetischismus bestand darin, mit einer Gegenwelt der tiefsinnigen Dinge zu konfrontieren. So findet in den präraphaelitischen Bilderwerken eine „total identification of realism and symbolism“433 statt. Kein detailrealistisch dargestellter Gegenstand will hier das prosaische materielle Objekt sein, das er einerseits ist, nur daß er zugleich immer mehr ist. Auch das schlichteste Ding ist im Rahmen des präraphaelitischen Bildwerkes Träger einer darin enthüllten, und freilich auch verhüllten, Bedeutung. Denn jedes Ding, das eine tiefere Bedeutung insinuiert, ohne sie im Klartext zu sagen, ist Teil eines Objekt-Gefüges, das im Ganzen eine „Geschichte“ ergibt; diese aus Dingen gewobene Geschichte aber ist das Gefäß einer Moral. Diese tiefere Moral des präraphaelitischen Bildes mußte ihm vom Betrachter selbst entzogen werden: im Akt eines konzentrierten An-denkens und Zusammenreimens der Bedeutungen der einzelnen Dinge-Details zu ihrer Gesamtgeschichte. In den Zustand dieses An-denkens der Moral im Bild zu versetzen, war der innerlich bewegende, romantisierende, der inspirierende und erhebende Effekt der präraphaelitischen Kunst. Doch sollte der Genuß dieses gehobenen Zustands eben nicht Selbstzweck sein. Über die suggerierte Moral wollte das präraphaelitische Œuvre seinen Rezipienten belehren und „aufklären“434, also über den Augenblick hinaus bewegen zu einer veränderten Einstellung gegenüber der Welt, und so in letzter Konsequenz zu einer veränderten Handlungsund Lebensweise. Und daß die präraphaelitische Kunst also selbst zweckrational 430 431 432 433 434
––––––––––––––––––– Ebd., S. 10. Siehe ebd., S. 15: „They love the detail for its own sake“. Wood bezeichnet die Bewegung der Präraphaeliten ale eine Rebellion gegen „the tide of triviality and vulgarity which annually engulfed the Academy walls.“ (Ebd., S. 10.) Parris: The Pre-Raphaelites, S. 12. „Theirs was an intensely didactic, intensely moralistic art“, so auch Wood: The Pre-Raphaelites, S. 12.
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romantisieren wollte und auf konkrete Effizienz aus war, ändert nichts daran, daß das hauptsächlich von ihr Kritisierte die Unmoral einer Zeit war, die als materialistisch-dekadent aufgefaßt wurde und die entweder durch das Vorhalten einer anderen, vorbildlich-moralischen, mittelalterlichen Gegenwelt attackiert wurde oder in Bildwerken mit zeitgenössischem Sujet, die dann offenkundig sozialkritisch waren.435 Auch dieses ist eines der kontroversen Paradoxe innerhalb der präraphaelitischen Kunst: daß sie sich mittelalterlichen und zeitgenössischen Sujets im selben Stil, auf dieselbe Art und Weise widmete – indem sie „alte“ wie „neue“ detailrealistisch-symbolische Dinge sprechen ließ. Und wie weit die präraphaelitische Besessenheit zu einem Detailrealismus ging – der das „authentische Ding“ als die geradezu haptisch greifbare Verkörperung einer Idee eindrücklich machen sollte – dieses veranschaulicht beispielhaft Holman Hunts berühmtes, weil umstrittenes Bild The Scapegoat (Farbabb. 5). Hunt erschuf es 1854/55, und er schuf es nach präraphaelitischer Manier vor Ort,436 auf einer Reise in das Heilige Land. Detailrealistisch zu malen, hieß schließlich zwangsläufig, nach einem konkreten Modell zu arbeiten. So ist die Hintergrundkulisse des zentralen „Sündenbocks“ eine de facto „alttestamentarische Szenerie“, wenn auch von Hunt erst 1854 bereist: Es handelt sich um das Ufer des Toten Meeres in Osdoom mit den Bergen von Edom in der Ferne. Die Urlandschaft wirkt tatsächlich derart unverändert, als habe sie schon zu alttestamentarischen Zeiten eben so und nicht anders ausgesehen. So mag Hunt seine Reise selbst wie eine Zeitreise vorgekommen sein; in seinem Ölbild läßt er den Betrachter jedenfalls die Zeitreise machen, und der 1854 bereiste und vor Ort fixierte historische Spielraum biblischer Geschichte wird zum Signum einer „Authentizität“ des „alttestamentarischen“ und doch aktuellen Bildes The Scapegoat. Doch was zeigt dieses Bild also – was ist dessen alte und doch aktuelle Moral? Umstritten war die Moral des Gemäldes nicht aufgrund der detailrealistisch fixierten Landschaftskulisse, sondern aufgrund der ebenso detailrealistisch portraitierten Hauptfigur: dem Ziegenbock. Denn nicht nur die Natur, jegliches Ding, inklusive der menschlichen oder eben tierischen Subjekte des präraphaelitischen Bildes, mußte unmittelbar vom lebenden Modell abgenommen werden; und da dieses bei historischen oder literarischen Figuren schwerlich möglich war, posierten übrigens die Malerfreunde in den Rollen der lange verstorbenen oder erfundenen darzustellenden Gestalten. Es ist der direkte Vorverweis auf Henry Wallis, für den allerdings kein Maler-Freund, sondern ein befreundeter Dichter, George Meredith, als Chatterton posierte. Meredith verkörperte für Wallis Chatterton – was freilich merkwürdig 435 436
––––––––––––––––––– Siehe ebd., S. 12. Zumindest die Vorarbeiten zu ihren Ölbildern fertigten die prä-raphaelitischen Künstler auf ihren Reisen „vor Ort“ an, selbst wenn die Vollendungen der Werke dann später im Atelier stattfinden sollten.
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gewesen sein muß, da dieser Chatterton in der Tat ganz Körper geworden, nämlich entseelt und am Verblassen sein sollte. “Now move your head towards me. So.” He turned his own head so that he was staring down at the floor. “No, you look as if you are about to fall asleep. Allow yourself the luxury of death. Go on.” Meredith settled more deliberately on the bed, and at once felt something digging into his back. “Did you ever read,” he asked, “the story of the princess and the pea?” He got up for a moment, and found a small red button lying on the sheet beneath him. He put it into his trouser pocket and then lay back again. “I can endure death,” he said into the air. “It is the representation of death I cannot bear.”437
So stellt sich Peter Ackroyd in seinem Roman Chatterton (1987) die nach außen hin komische, im Grunde jedoch mental belastende Szene der Verkörperung des toten Chatterton durch den lebenden Meredith vor – Merediths gegen den materiellen Widerstand eines körperlich störenden roten Knopfes anringenden Versuch, sich rückhaltlos und wirklich überzeugend der „luxury of death“ hinzugeben, weit entfernt davon, wirklich tot zu sein. – Doch dieses nur als ein vorgreifender Einschub. Um nämlich zurück auf Hunts The Scapegoat zu kommen, entstanden ein Jahr vor Wallis’ Chatterton: Hunt portraitierte also ein lebendes Tier, und dieser Ziegenbock ist nun mit allen Details derart realistisch wiedergegeben, daß er mit Haut und Haar nach einem wirklichen, prosaischem Ziegenbock aussehen würde – wäre er eben nicht von einer alttestamentarischen Landschaft umgeben; und trüge er nicht einen blutroten Kranz auf seinem Haupt. – Der Farb-Symbolismus ist, nebst dem Dingsymbolismus, das zweite Mittel der Präraphaeliten, Bedeutung wortlos zu suggerieren.438 Hier macht der blutrote Kranz die Assoziation vom Ziegen- zum Sündenbock, wie der Bildtitel es vorgibt, greifbar durch das visualisierte Andenken an den martyrisierten Christus mit Dornenkranz. Aber nicht genug damit, daß Hunt offenbar einen Ziegenbock durch eine Christuserinnerung sakralisierte – und die Moral des Gemäldes in den Augen mancher Viktorianer damit als äußerst unmoralisch anmuten ließ. Das das umstrittene Kunstwerk läßt sich Parris zufolge gar nicht nur als eine „einfache“ Verbindung der Gestalt des Tiers mit der Idee Christus’ lesen, vereint unter dem Begriff des „Sündenbocks“. Der Sündenbock ist ein Symbol, das ist einleuchtend; doch als Symbol bleibt er vieldeutig, und noch vieldeutiger als auf den ersten Blick anzunehmen. So könnte der Sündenbock, wie Parris erklärt, den historischen Märtyrer Christus – oder den Märtyrer der modernen Zeit, den Künstler – oder beides zugleich symbolisieren.439 Hunt äußerte sich bewußt nicht dazu, und was er „wirklich“ mit seinem Bild sagen wollte, nahm er mit ins
437 438 439
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 138. Siehe Parris: The Pre-Raphaelites, S. 16. Siehe ebd., S. 25.
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Grab. – Die beste Voraussetzung dafür, die Welt endlos an seinem Kunstwerk rätseln zu lassen. So aber „funktionieren“ die präraphaelitischen Bildwerke grundsätzlich: als Kunstwerke, die sich der detailrealistisch dargestellten Objekte sowie auch der Farbe als Symbole bedienen, daraus aber eine Eindrücklichkeit gewinnen, die den Betrachter wortlos anspricht und zum „Erlesen“ der Moral des Bildes auffordert – ohne diese Moral in Worten aufzuschlüsseln. Denn auch der Bildtitel, der einen hilfreichen Kommentar abgeben könnte, diente im Gegenteil „nur“ der begrifflichen Verstärkung der wortlosen Aussage des Bilds durch die Benennung, und eben nicht Erklärung als des zentralen Symbols – möge es nun The Scapegoat, möge es Chatterton heißen. * Der dritte Entstehungshintergrund des Ölbildes Chatterton ist Wallis’ Vorliebe für eine an tiefsinnigen Dingen reiche und dabei literarisch inspirierte Kunst. „MR. HENRY WALLIS. – The death of Henry Wallis in December 1916 […] removes the last of the less well-known painters who were caught up for a time by the mantle of the greater Pre-Raphaelites.”440 Es hört sich bescheiden glorreich an, was das Londoner Burlington Magazine Nummer 30 von 1917 zu dem im Dezember des Vorjahres verschiedenen Wallis schreibt. Anscheinend ist der Maler von Chatterton sechzig Jahre nach der Produktion seines Sensationserfolgs nur noch restweise berühmt gewesen und galt gerade einmal als einer der „weniger gut bekannten Maler, die eine Zeit lang vom Mantel der größeren Präraphaeliten mitgerissen wurden“. Was aber sein umruchtestes Werk selber betrifft, scheint es immerhin nach wie vor das Unvergessendste von Wallis zu sein und anerkannt als das Œuvre, dem der Verblichene überhaupt seinen bescheidenen Nachruhm verdankt; jedenfalls erinnert der Verfasser seines Nachrufes: „in 1856, he exhibited his Chatterton, the popular picture which has chiefly earned him notoriety.“441 Es ist freilich nicht falsch, Henry Wallis als einen vom Mantel der größeren Präraphaeliten nur zeitweilig Mitgerissenen zu bezeichnen, denn erstens malte er Chatterton 1856 um drei Jahre zu spät, um noch zu der ersten, „wahren“ Gründergeneration der Präraphaelitischen Brüderschaft zu gehören, die sich als Geheimbund 1853 beendet sah. Zweitens war Chatterton zwar nicht das letzte präraphaelitisch inspirierte Kunstwerk, das Wallis schuf; noch bis 1877 stellte er hin und wieder solche Werke in der Royal Academy aus, so auch 1858 seinen nach Chatterton zweitgrößten Erfolg, den schockierend bewegenden und nun offenkundig sozialkritischen The Stonebreaker, zu dem Treuherz schreibt: For the first time, visitors to the Academy were confronted with the brutal fact of death of a common pauper. Here was a labourer not happy at his job but one who 440 441
––––––––––––––––––– „MR. HENRY WALLIS. –“ [Nachruf auf Henry Wallis, Verfassername abgekürzt mit „C. A.“], S. 123. Ebd., S. 124.
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had collapsed and died with exhaustion from the terrible hardship of his toil. It was, at once, recognized as a powerful general statement about the ‘condition of England’ and a criticism of the Poor Law.442
Doch nach der Ausstellung des Stonebreaker wurde es still und immer stiller um Wallis; so still, daß der Verfasser seines Nachrufs im Burlington Magazine bekennt: His Elaine, painted in 1861, was exhibited a few years ago at the Burlington Fine Arts Club, under the mistaken impression that the painter Henry Wallis was no longer alive, so much had his earlier activities as a painter been overlaid by his retired life at Sutton in Surrey and his later specialization upon oriental pottery.443
Schon einige Jahre vor Wallis’ tatsächlichem Todesjahr 1916 hatte man sein Bild Elaine in der irrigen Annahme ausgestellt, der Maler sei bereits verblichen. Denn Tatsache ist, daß Wallis zwar noch einige zersprengte Bildwerke nach 1858 schuf, sowie ein Konvolut von über achtzig Aquarellen. Doch diese Aquarelle, Szenen und Ereignisse seiner Reisen durch Europa und den Orient detailverliebt festhaltend, malte Wallis eben „vor Ort“ – fern von England, so daß er nur noch wenig Bezug zur Heimat hatte. Allerdings war eine Entfernung von England 1858 auch Wallis’ dezidierte Absicht gewesen (es wird noch erläutert werden, warum) und der Beginn eines neuen Lebens, erst auf Reisen, später halb auf Reisen, halb zurückgezogen in seinem Wohnort in Sutton, Surrey. 1858 markierte in Wallis’ Existenz einen Einschnitt (der allerdings seit 1855/56 vorbereitet war), und mit diesem Einschnitt begann tatsächlich etwas Neues für den Macher des Chatterton: Er entdeckte eine andere Passion als die präraphaelitisch ding-besessene Malerei und wendete sich, wohl inspiriert durch einige Mitbringsel von seinen südeuropäischen und orientalischen Reisen, immer mehr dem Sammeln von alten Dingen zu. Kostbare alte Dinge waren es, altitalienische und orientalische Teller, Vasen und andere antike Keramiken.444 Nebenher war er von 1879 bis 1892 „Hon. Secretary of the Commitee for the Preservation of St. Marks, Venice“445 und wirkte im Anschluß daran in einer Kampagne für die Erhaltung der altägyptischen Monumente mit. Hauptsächlich waren seine älteren Lebensjahre aber immer dem Bewahren eigener antiker Dinge gewidmet, und Wallis wendete seine künstlerischen, durch präraphaelitische De442 443 444
445
––––––––––––––––––– Treuherz: Hard Times, S. 36. „MR. HENRY WALLIS. –“, S. 124. Siehe zu Wallis als Keramiksammler Wilson: A Victorian artist as ceramic collector. Diane Johnson erinnert allerdings wiederholt daran, daß Wallis schon als junger Mann von der Liebe zu alten Dingen beseelt und folglich zum Sammler nicht nur von alter Keramik prädestiniert war: „In his early twenties, he is already an antiquarian in his soul, likes old houses where the famous dead were born, likes bits of old lace, the feel of velvet.“ (Johnson: The True History of the First Mrs. Meredith, S. 103-104.) Und: „Things caught his eye, all sorts of things: a fragment of Titian’s canvas, leaves of a fine old Koran“, so Johnson, ebd., S. 178, zu Wallis auf einer Romreise. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 102.
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tail-Obsession geschulten Fähigkeiten nun dazu an, seine alten Keramiken haarfein – und offensichtlich beseelt von der Liebe des Sammlers – abzuzeichnen: zur Illustration seiner kunsthistorischen Schriften, etwa zur Machart altpersischer Töpferkunst (Farbabb. 7) oder zum Einfluß der orientalischen Keramik, ihrer Form und Ornamentik, auf die der europäischen Renaissance.446 Es ist richtig, daß Wallis als präraphaelitisch inspirierter Maler keine große Berühmtheit wurde. Etwas, der Lebenseinschnitt des Jahres 1858 (und eigentlich schon 1855/56), war seiner Künstlerkarriere hinderlich gewesen. Aber auch wenn Wallis trotz allem, aufgrund seines Chatterton, zu den noch immer restweise bekannten präraphaelitischen Nachzüglern gehört, ist dieses nur bedingt berechtigt. Denn Chatterton kam 1856 nicht nur drei Jahre zu spät, um noch zu den ur-präraphaelitischen Produktionen zu zählen; Wallis’ Portrait des ruinierten Poeten war zudem zu gleichen Teilen typisch und untypisch für die Werke der Präraphaelitischen Schule. Wie weiter oben angesprochen, wurde Chatterton in mehr als eine Schublade gesteckt, die für gewöhnlich als zu eng ausfielen. Dieses Werk, das sich aus mehr als einer Kunst- und Genrerichtung bediente zu erfassen, bleibt eine schwierige Aufgabe. Doch vielleicht ist es Julia Thomas, die eine am weitesten gefaßte und daher geeignetste Schublade für Chatterton fand. Für Thomas ist Chatterton ein prägnantes Beispiel für die Victorian Narrative Painting: jene „erzählende Malerei“, die die Kunsthistorikerin als ein Zeitphänomen erachtet, das Kunststile und -genres übergreift. So ist es unleugbar, daß speziell die präraphaelitische Kunst eine erzählende Malerei ist: erzählend aus den detailrealistisch fixierten, dabei mit symbolischem Tiefsinn aufgeladenen Dingen. Erfanden die Präraphaeliten ihre Art und Weise des bildkünstlerischen Erzählens neu, waren sie jedoch nicht die ersten und nicht die letzten Maler des 19. Jahrhunderts, die grundsätzlich „erzählen“ wollten. „These [narrative] paintings span the century and its different artistic styles“447, betont Thomas. Sie bezeichnet diese Stile und Schulen übergreifende erzählende Malkunst als
446
447
––––––––––––––––––– Wallis publizierte Schriften wie u.a. Notes on some examples of early Persian pottery (3 Teile, 1885, 1887, 1889), Egyptian ceramic art: The Macgregor collection. A contribution towards the history of Egyptian pottery (1898), The Oriental influence on the ceramic art of the Italian Renaissance (1900), Oak-leafjars: A fifteenth century Italian ware showing Moresco influence (1903) oder Italian ceramic art. Figure design and other forms of ornamentation in XV century Italian majolika (1905). – Siehe zu Wallis’ Leben, zu dem allerdings nur Fragmentarisches überliefert ist, nebst dem oben zitierten Nachruf im Burlington Magazine 30 (1917) auch van de Puts biographischen Abriß desselben Jahrs 1917. Van de Put, ein Freund des Verblichenen, legte auf S. 35-38 eine erste Bibliographie der Schriften Wallis’ vor. Intimere Detailfragmente aus Wallis’ Leben durchziehen Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, wo der Wallis als Geliebter Mary Merediths und als treusorgender Vater des gemeinsamen Sohnes Felix gar als „the villain – or the hero – of this work“ von 1971 figuriert (siehe ebd., S. 227). Die bislang aktuellste biographische Skizze, von 2003, gibt John Ramm in: The forgotten Pre-Raphaelite. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 13.
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the ‘sister’ not so much of poetry but of the novel, with which it shared its storytelling devices. Many narrative paintings relied directly on texts to tell their tales, such as the often lengthy quotations that accompanied them in the exhibition catalogue or on the frame. Explanations were also provided by titles. But the clearest analogy between these textual and visual genres can be seen in the pictorial stories,448
welche die Bilder auf ihre Weise „erzählten“: und zwar im Rückgriff auf eine „wealth of symbols and details that narrative painting and the novel shared“; so wie Mal- und Romankunst auch das Interesse an der beredten „physiognomy [...] as an index of character“ teilten.449 Im Rahmen dieser allgegenwärtig erzählenden Malkunst des 19. Jahrhunderts zeichnet sich der Präraphaelismus nicht dadurch aus, daß er auf literarische Rückbezüge und das Erzählen in Symbolen und Dingen, Gesten und Mimiken, verzichten würde. Auch die Präraphaeliten ließen sich literarisch inspirieren – allerdings von „alten“ Autoren, wie Shakespeare; berühmt ist etwa Millais’ Ölbild der blumengeschmückt im Wasser treibenden Ophelia, von 1852 (Farbabb. 6). Doch ob in ihren „alt-literarisch“ angeregten, ob in ihren „mittelalterlichen“, ob in ihren offenkundig aktuellen und sozialrealistischen Bildwerken: Stets waren die präraphaelitischen Rebellen-Künstler um Originalität in ihrer Erfindung der Dingsymbole bemüht, die sie zudem in einem neuen, detailverliebten Realismus geradezu handschmeichlerisch vergegenwärtigten. Rossetti, Hunt, Millais und ihre Nachfolger ließen sich nicht auf den Vorgabekanon herkömmlicher, aus Romanen bekannter Dingzeichen ein; sie ließen sich nicht dazu herab, Literatur im Rückriff auf dasselbe Repertoire an Symbolen, Dingen, Physiognomien zu illustrieren. Die Moral auch von Millais Ophelia sollte nicht durch ein Nachlesen von Shakespeares Hamlet in Klartext zu übersetzen sein – die Sprache der symbolisch aufgeladenen Dinge und Farben mußte nonverbal bleiben, und das heißt in letzter Konsequenz unauflösbar rätselhaft – trotz der expliziten Einladung zur enträtselnden Bildlektüre. Das präraphaelitische Bild wollte, selbst wenn ihm eine literarische Szene zugrunde lag, restweise hermetisch bleiben, in seiner Botschaft annäherungsweise, doch niemals gänzlich zu begreifen. Das machte das Bild so inspirierend und erhebend – und so bleibend irritierend und oftmals umstritten in seiner, von den Verstörten schnell als Unmoral verdächtigten, Moral. Ein Beispiel eines solchen als unmoralisch verdächtigten Bildes gab Hunts The Scapegoat – ein anderes ist Wallis’ Chatterton, der sich natürlich unter den von Thomas angeführten Bildern der erzählenden viktorianischen Malkunst befindet. Da die Autorin die von ihr behandelten Gemälde nach Erzählanlässen des Lebens kategorisiert, findet der Leser Wallis’ berühmtestes Werk unter der Rubrik: „Death“.450 Denn 448 449 450
––––––––––––––––––– Ebd., S. 12-13. Ebd., S. 15. „Childhood“ – „Love and Marriage“ – „The Home and its Oucatst“ – „Death“ – „The End of the Story?“: das sind die Kapitelüberschriften von Thomas’ Studie zur narrativen Malkunst.
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natürlich erzählt die Intérieur-Szene von 1855/56 den Ruin des Poeten aus seinen Bruchstücken, inklusive Leiche – ohne die dahinter steckende Moral im Klartext auszudrücken. Daß gerade im Falle von Chatterton die Frage der Moral oder Unmoral des Bildes ein Zankapfel war und bis heute noch immer nicht als solcher aus dem Wege geräumt ist, macht Chatterton aber sogar zu einem Paradebeispiel dessen, was Thomas zufolge vielleicht das Charakteristischste und Bewegendste der narrativen Malkunst im allgemeinen sein könnte – und was, wie hinzuzusetzen ist, die Präraphaeliten insbesondere kultivierten. Denn einmal nur, flüchtig, und doch sehr ernsthaft, berührt Thomas die heikle Frage: nach der nichtigen Lesbarkeit der erzählenden Kunst: Perhaps narrative paintings are unable to tell their story completely or perhaps they refuse to do so, leaving the viewer searching for the missing clue or resolution that never comes. The power of the narrative picture lies in this ability to evoke the spectator’s desire, a desire that it always fails to satisfy.451
Es mag sein, die narrativen Bilder (und insbesondere die der Präraphaeliten und noch mal insbesondere das eine Bild Wallis’) wollen gar nicht bis zum letzten Grunde entschlüsselt werden. Mag sein, sie wollen nur soviel erzählen, um in ihrem Betrachter das „Verlangen“ („desire“) nach einem Begreifen zu schüren, das sie im selben Atemzuge verweigern. Mag sein, dieses (nicht) erzählende Kunstwerk ähnelt darin ein wenig dem dinglichen Andenken: das als solches den „Inhalt“ einer Erinnerungsgeschichte, das Da-Sein eines verborgenen Tiefsinns des Objektes, wortlos insinuiert – ohne ihn einem anderen als demjenigen zu enthüllen, der einst das Andenken zum solchen bestimmte und folglich als einziger um dessen Intimbedeutung weiß. – Wie auch dem; Chatterton ist unter der stilübergreifenden Rubrik der (nicht) erzählenden Kunst in der Tat am besten aufgehoben (nur ist es nicht ganz sicher, ob er in das Kapitel „Death“ wirklich paßt; doch dazu später mehr). Der „engeren“ Schublade der Präraphaelitischen Schule entzieht Chatterton sich nämlich um so vieles, wie er in eine andere, dritte hineinpaßt. Diese dritte Schublade, in der Chatterton auch verortet wurde, führt aber noch einmal zurück auf Wallis’ Biographie. Bei allem Revolutionären daran, mit dem Anblick eines verblassenden Menschen zu schockieren, ist es doch eben erst The Stonebreaker, bei dem die Waagschale kippt und nun das Abstoßende des Bildes sein Anziehendes um einen Bruchteil überwiegt: zum besten der nun offenkundig sozialkritisch aufreizenden Wirkung. Chatterton jedoch ist suspekt, will man ihn als ein solches sozialkritisches Bildwerk begreifen. Denn Chatterton ist aufgrund seines Zentralstücks, der Leiche, zu schön – und eingedenk des im Grunde doch Abstoßenden und Unheimlichen des Toten auf paradoxe Weise nur noch fesselnder für den Betrachter gewesen. Dieser Chatterton aktivierte wohl weniger zu sozialkritischer Empörung als zu einer selbstgenüßlichen Versunkenheit mit morbiden, lethargischen, unmoralischen Sehnsüchten – ideali451
––––––––––––––––––– Ebd., S. 19.
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sierte dieses Bild nicht das Nichts-mehr-tun-müssen im Tod, den Selbstmord? (Es ist eine Zeit des spürbaren, unentrinnbaren Zwanges zum „struggle for existence“452 und Anarbeiten gegen die Bedrohung des Ruins: da konnte der Fluchtgedanke in die „letzte Lethargie“ wohl verlockend sein – ?) Wallis’ allzu schöner verblassender Chatterton verführte zu einer „unnützen“, lethargischen Versunkenheit, anstatt dezidiert sozialkritisch zu bewegen: Und das wäre anders gewesen, wäre Wallis dem präraphaelitischen Anspruch nach detailrealistischer und historisch authentischer Darstellung des Bildsujets gefolgt. Doch eben das tat er nicht bezüglich Chattertons Leiche. Während diese in Wahrheit von Giftkrämpfen entstellt gewesen war, schönte Wallis seinen Toten. Er romantisierte ihn. Wallis’ Todesszene von Chatterton „eschews the very harshest realities“453, wie Parris es ausdrückt. Dieses aber sei darauf zurückzuführen, daß Chatterton einer bestimmten Tradition verhaftet sei, die „should not be overlooked, even if the intensity of the artist’s vision and its execution allies it to the truly Pre-Raphaelite works.“454 Für Parris zählt Wallis’ Bild des ruinierten Poeten nicht zu den „wahrhaft“ präraphaelitischen Werken: weil es in der „Intensität der Vision des Künstlers und ihrer Ausführung“ der rebellischen Bewegung zwar verbunden sei, nicht jedoch in seinem Genre. Wiewohl anzumerken ist, daß auch „wahre“ Präraphaeliten diesem Genre restweise huldigten, indem sie (alt-)literarische, mit Vorliebe Shakespearesche oder Chaucersche Szenen bildkünstlerisch aufgriffen. Denn dieses ist Parris’ dritte mögliche Schublade für Chatterton: die Schublade der im 19. Jahrhundert so zeitlos beliebten, literarisch inspirierten „genre subjects“ oder „tableau[x] vivant[s]“.455 Und Kunstwerke dieser Schublade pflegten mehr verklärend als detailrealistisch und historisch-authentisch zu „erzählen“. So würde sich Wallis’ Rückgriff auf eine „unrebellische“, populäre Bildart rückschrittlich anhören – würde seine Kunst ihre Originalität nicht aus einer spannungsvollen Verschränkung schöpfen, aus der Anwendung einer neuen Ausdrucksweise auf ein altes Genre. Dabei waren es nicht die Werke der „großen Alten“, Shakespeare oder Chaucer, die Wallis inspirierten. Es war in Wahrheit überhaupt keine Literatur. Wallis vergegenwärtigte in präraphaelitischer, die Dinge und ihre Orte sprechen lassenden Manier die Macher berühmter Literatur: Er vergegenwärtigte dichterische Kultfiguren. Damit begann seine Karriere als Maler. Die ersten Werke, die Wallis überhaupt in der Royal Academy ausstellte, formierten eine Serie, gefügt aus Titeln wie: „Dr. Johnson, Shakespeare (both exh. 1854), Andrew Marvell (1856), Montaigne (1857) and Sir Walter Raleigh
452 453 454 455
––––––––––––––––––– Man denke zurück an Muther: A History of Modern Painting, Bd. 3, 1896, S. 114; zit. n. Treuherz: Hard Times, S. 9. Parris: The Pre-Raphaelites, S. 142. Ebd. Siehe ebd.
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(1858 and 1862)“456. So die Aufzählung Parris’; doch der Verfasser von Wallis’ Nachruf im Burlington Magazine erinnert sich in manchem genauer: He began to exhibit at the R.A. in 1854, sending Dr. Johnson at Cave’s, the publisher and three topographical subjects connected with Shakespeare’s birth at Stratford. In 1855 he showed The Fireside Reverie with the quotation “Is she the star of one that is away; She, that by the fire so gravely dreams“, – George Meredith, and the next year, in 1856, he exhibited his Chatterton, the popular picture which has chiefly earned him notoriety. The picture was painted in his friend Mr. A. P. Daniel’s rooms in Gray’s Inn, and George Meredith was the model.457
4 Das Legendäre von Wallis’ Chatterton Es existiert noch ein vierter Entstehungshintergrund von Henry Wallis’ Ölbild Chatterton. Und genau genommen ist es der erste, um nicht zu sagen: die Entstehungsgeschichte überhaupt, die „man sich erzählt“. Denn diese Geschichte ist legendär geworden und nun umgekehrt fester Bestandteil des Legendären von Chatterton. Der Verfasser von Wallis’ Nachruf im Burlington Magazine Nummer 30 spielt auf diese legendäre Entstehungsgeschichte an, wenn er vielsagend betont, Wallis habe Chatterton „in seines Freundes Mr. A. P. Daniels Räumen in Gray’s Inn“ gemalt. Was sich so unspektakulär anhört, muß doch bemerkenswert gewesen sein, sonst hätte die Bemerkung zum Entstehungsort der Intérieur-Szene keinen Eingang in die knappe biographische Skizze des Nachrufs gefunden. – Was hatte es also auf sich mit diesen „Räumen“ des Freundes Daniel im „Gray’s Inn“? “So this is where the poor poet died.” Meredith turned in a circle, his boots scraping against the worn wooden boards of the floor. “How does Shelley put it? Rose pale, his solemn agony had not yet faded from him? Nonsense, no doubt.” He felt the bed with his hand and then knelt upon it to look out of the window, across the roof
456 457
––––––––––––––––––– Ebd. „MR. HENRY WALLIS. –“, S. 123-124. Hier besonders wichtig unter der aufgezählten Serie von Bildern ist übrigens das 1855 ausgestellte und 1854 gemalte Fireside Reverie: „[…] for it was in this year [1854] that their [Merediths] friend, the promising young painter Henry Wallis, painted Mary Ellen in a pensive attitude before the fire: Fireside Reverie, and accompanied it with part of a little poem of George’s: ‘is she… / She, … / In evening’s lulling stillness, while the ray / Tits her soft cheek, like sunset on fair streams? / Is she the star of one that is away; / She, that by the fire so gravely dreams?’” (Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 90.) Das erste Portrait Mary Merediths durch Henry Wallis, manifestes Zeugnis des freundschaftlichen Kontakts des Malers zum Dichter und seiner Frau, ist heute verschollen.
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of Furnivals Inn and towards the blackened dome of St Paul’s. “Your friend’s bed is very hard,” he said. Wallis was scattering small pieces of paper across the floor. “Augustin Daniel lives downstairs. This is his servant’s room.” “That girl?” “Her name is Pig. Don’t ask me why.” Meredith had no intention of doing so; he was watching in amusement as Wallis continued dropping bits of paper around his feet. Wallis caught the glance. “In Catcott’s account of Chatterton’s death,” he went on, “we are told that pieces of torn manuscript were found beside the body. I’m glad that you’re amused by my poor attempts at realism.” “Call it verisimilitude.” “Call it what you will. It is the same thing.” “Well, it is the same room.”458
Es mußten diese Räume, es mußte genauer nur einer der von Daniel gemieteten Raum sein, die Dachbodenkammer, in der der Freund des Mieters, Henry Wallis, Chatterton malte. Denn diese Kammer, in der laut Ackroyds Roman Chatterton, historisch wahrscheinlicher, nur Daniels Dienstmädchen schläft, ist, wie George Meredith im Buch sagt: „the same room.“ Es ist Chattertons letzte Dachbodenkammer. Nachdem, immer noch im Roman Ackroyds, Meredith schon eine Weile als toter Chatterton auf Thomas Chattertons authentischem Sterbebett posiert hat, bereichert sich die intime Szene um seine Frau, Mary Ellen Meredith (selbst Tochter eines Dichters, Thomas Love Peacock, ein Altersgenosse und Freund des längst verstorbenen Shelley459). Und so ist es Mrs. Meredith, der Wallis noch einmal erklärt, warum das Arbeiten vor Ort, in Chattertons letztem Intérieur, sein muß: “You cannot beat the reality, Mrs. Meredith. This is Chatterton’s room, precisely as it was...” “Is everything the same?” Mary surveyed it, steadily taking in her husband as she looked around as if he, too, were part of its old furniture. 458 459
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 137. „Peacock was not a great writer, and as a man no more remarkable than the cultured world had thought him“; so das freilich harsche Urteil Robert Sencourts in: The Life of George Meredith, S. 36. Doch Sencourt, nach eigener Angabe Verfasser der ersten amerikanischen „authoritative biography“ (ebd., S. ix) Merediths, erschienen 1929 in New York, interessiert sich insbesondere für solche historisch-authentische und intim-pikante Details, die ein Dichterbild anrührend, lebendig und charakteristisch machen (siehe ebd., S. xiii). Und Merediths Existenz sah Sencourt an Pikantem reicher als das Leben Peacocks, als dessen Höhepunkt nur zu erzählen sei: „Above all, he [Peacock] had been the intimate friend of Shelley from 1812 to 1818: knew all about his relations with Harriet and Mary, and had in fact made Shelley, as Scythrop, the hero of his novel, Nightmare Abbey.“ (Ebd., S. 37.) Johnson allerdings, die nicht wie Sencourt für Meredith parteiisch und somit gegen den Vater Mary Ellens voreingenommen ist, weiß in The True Story of the First Mrs Meredith genug pikante Details über Peacock zu enthüllen und betont zudem seinen Doppelerfolg als „famous writer“ und „lord of commerce“ (siehe ebd., S. 18).
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“Yes, it is!” Wallis was so enthusiastic now that even this simple enquiry elicited his strong assent. “Yes, exactly! And, you see, if I can depict the room now I will have fixed it for ever. Even the poor plant, of all things the frailest, that too will survive!” In his excitement he had touched her arm, and he withdrew his hand quickly from her. But she had not moved away. He went on, not quite knowing what he was saying now. “I sat down here and looked at the entire scene. I was doing this for hours before you came, George” – He swung wildly towards him. “– But I told you that. And the room somehow became brighter as I watched it. Can you conceive of this?” “Yes,” she said. “Yes, very well.”460
Daß hier Wallis’ Enthusiasmus für Chattertons authentisches Sterbezimmer noch gesteigert durch die Anteilnahme wird, die der Maler durch Mrs. Meredith erfährt, kann kein Zufall sein in einem Roman, der in seinen 1855/56 spielenden Passagen selbst präraphaelitisch erzählt – mit akribischem Blick für das historisch-authentische Detail, das zuglich zum Symbolisch-Tiefsinnigen, des Künftigen dunkel Gemahnenden erhöht wird. – So sind die Begründungen, die Ackroyd den präraphaelitisch inspirierten Wallis angeben läßt, warum er in Chattertons letzter Dachbodenkammer malen mußte, in der Tat historisch plausibel. Wallis mag wirklich den Gedanken dabei gehabt haben: „You cannot beat the reality“, gefolgt von dem zweiten Gedankenblitz: „if I can depict the room now I will have fixed it for ever.“ Denn erstes ist es das Zimmer, in dem Chatterton wirklich starb – vor gut fünfundachtzig Jahren. Und diese Realität, dieser Raum, spricht gleichsam für sich, ist in seiner stummen Beredsamkeit nicht zu übertreffen. Während es mit Chatterton damals zu Ende war, blieb der Sterberaum, gleichsam als Beweisstück und Mahnmal des darin vollzogenen Geschehens. Der Raum, in dem sich der letzte Vollzug von Chattertons Lebensruin abspielte, blieb als das Reststück des Ereignisses davon zurück. Nun ist es demjenigen, der das Zimmer als den Bühnenraum des einstigen Geschehens weiß, keine gewöhnliche ärmliche alte Dachbodenkammer mehr. Nun ist es ein Raum, der eine Erinnerung speichert. Es ist ein Andenkenzimmer. Diese Atmosphäre des Andenkenzimmers ist es, deren Inspiration Wallis suchte; und das ist nicht nur die Geschichte aus Ackroyds Roman, sondern die Entstehungsgeschichte des Chatterton-Bilds, an die schon 1917, zur Zeit des Nachrufes Wallis’, alle Welt glaubte und wie lange schon, ist nicht mehr rekonstruierbar. Doch fest steht also, alle Welt glaubt. Wie lange schon diese Geschichte kursiert, ist nicht mehr rekonstruierbar. seit wann auch immer, an diese Geschichte: Wallis habe Chattertons letzte Dachbodenkammer ausfindig gemacht als einen der Räume, die ein Freund und MalerKollege in Gray’s Inn gemietet hatte; Wallis habe es mit diesem Freund Daniel arrangiert, den anderen, den Dichterfreund Meredith, am „Ort des Geschehens“ selbst als verblassenden Chatterton zu portraitieren. Und was diese Existenz des gefundenen Raumes betrifft, mag es sein, daß Wallis wirklich so 460
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 142.
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dachte, wie Ackroyd es ihm in den Mund legt: War es nicht geradezu wunderbar, daß der authentische Raum noch immer da war, unverändert? Aber nur die malerische Fixierung würde es garantieren, daß dieses Zimmer, das wie durch ein Wunder von Chattertons Sterben übrig und dann über achtzig Jahre lang unverändert blieb – so daß etwas vom Geist des ruinierten Poeten darin nachlebte – „for ever“ überdauern würde; oder zumindest so lange überdauern wie der neue „Schrein“ seiner Atmosphäre: das Ölbild Chatterton. Dieses ist der intim-biographische, vierte Entstehungshintergrund von Chatterton, wie man ihn sich von Wallis erzählte – ob Wallis selbst es so erzählte, ist nirgends überliefert. Doch hätte er es getan, wäre er nicht nur Maler, sondern auch Dichter gewesen oder schlichtweg ein Fälscher: der Fälscher eines historischen Sachverhalts. Tatsache ist nämlich, daß es heute so gut wie feststeht, daß Wallis Meredith nicht in der authentischen letzten Dachbodenkammer Chattertons als Chatterton posieren ließ. Whilst there has never been any doubt that Wallis used Meredith as the model for Chatterton, it has been stated many times that the painter actually used the room in which Chatterton died for the background of his painting. This has often been cited as one of the most notable instances of the Pre-Raphaelite concern for truth; however, the evidence is such that this assumption must be questioned.461
Mit diesen Worten leitet Parris eine geradezu detektivische Demontage der alten Legende ein, Wallis habe Chatterton in Chattertons Sterbezimmer gemalt. Denn die rekonstruierbaren historischen Tatsachen sind diese. Tatsächlich wohnten Henry Wallis und sein Freund Peter Augustin Daniel beide von 1855 bis 1858 nicht in Gray’s Inn, sondern im Gray’s Inn Square, Hausnummer 8. Doch erstens verfügte das Haus dieser Adresse über keine Dachbodenkammer, die der von Wallis gemalten ähnlich gewesen wäre. Zweitens war von der Straßenseite der Hausnummer 8 aus keinerlei Aussicht auf die Kuppel des St. Pauls-Doms und das Panorama des westlichen Holborn gegeben, das doch durch das Fenster des Intérieurs von Chatterton zu sehen ist. – Der Raum, den Wallis als Chattertons Sterbezimmer malte, konnte sich unmöglich im Gray’s Inn Square Nummer 8 befinden, war keiner der von Wallis und auch keiner der von Daniel bezogenen Räume. Allerdings ist es wahr, daß Wallis noch ein anderes Zimmer in der Gegend gemietet und seit mindestens drei Jahren als Atelier benutzt hatte. Auch wahr ist es, daß das Viertel an sich „das richtige“ ist: Chatterton starb in der Brooke Street 39 – „a few minutes walk away from Gray’s Inn Square just on the other side of Gray’s Inn Road.“462 Es wäre grundsätzlich möglich gewesen, Wallis hätte sich in Chattertons Sterbezimmer zum inspirierten Malen eingemietet. Nur ist es erstens nicht überliefert, wo sich sein Atelier konkret befand; zweitens konnte Wallis noch gar nicht mit Sicherheit wissen, wo Chatterton gewohnt hatte. Erst 1857, nach461 462
––––––––––––––––––– Parris: The Pre-Raphaelites, S. 142. Ebd., S. 143.
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dem das Ölbild Chatterton vollendet und zum Sensationserfolg geworden war, wurde der Sterbeort des jungen Poeten in der Brooke Street 39 lokalisiert; und dort soll kein Maler Augustin Daniel, sondern ein Klempner und Viehzüchter William Jefford gewohnt haben, der nichts mit Henry Wallis zu tun hatte. Es kursierte aber schon vor der Wiederfindung des „richtigen“ ChattertonHauses eine Geschichte zum letzten Intérieur des Jungpoeten, an die sich ein Antiquar des mittigen 19. Jahrhunderts namens J. C. Hotten erinnerte. Dieser vagen Geschichte zufolge wäre das letzte Zuhause Chattertons allerdings genau auf der falschen, der gegenüberliegenden Seite seiner 1857 herausgefundenen Plazierung gewesen. Von der fälschlich angenommenen Seite aus hätte aber keine Dachbodenkammer eine Aussicht auf St. Paul haben können. Hätte Wallis sich also das Zimmer eines der Häuser der nur gerüchteweise richtigen Straßenseite zum Vorbild für das Intérieur seines Chatterton genommen, er hätte dort nicht die „richtige“ Aussicht auf West-Holborn vorfinden und wiedergeben können. Doch nun kommt eben die entscheidende Pointe, der historische Zufall, der die Nachwelt restlos an die Portraitierung des historischen Sterbezimmers Chattertons durch Wallis glauben ließ: Obwohl die Dachbodenkammer des wahren Sterbehauses, Brooke Street 39, 1855/56 bereits baulich verändert gewesen war (so noch einmal Zeitzeuge Hotten), und obwohl sie deshalb ihre Aussicht auf St. Paul und Umgebung verloren hatte – trotzdem hatte sie ursprünglich ein Fenster wie das von Wallis gemalte gehabt. Und durch dieses Fenster hindurch hatte man auf St. Paul und das Panorama von West-Holborn gesehen. –463 Wie kam Wallis darauf, in einem vermutlich „falschen“ Intérieur trotzdem das „richtige“ Fenster mit der „authentischen“ Aussicht zu malen, die Thomas Chatterton 1770 genoß? „This could only have been a lucky accident of the painter’s’“, schließt Parris, ehe sie doch noch eine zweite, rationalere Erklärung anbietet: A more probable explanation of this coincidence may well be that in order to render the scene of Chatterton’s death as effectively as possible, and certainly in accordance with at least one of the known facts, Wallis needed to show and clearly suggest dawn breaking and that meant a view looking eastwards over the rooftops of the City.464
Es gibt eine legendäre Entstehungsgeschichte von Wallis’ Chatterton, die vermutlich unwahr ist – doch ist das Glauben der Nachwelt an sie nachvollziehbar und so unbegründet wiederum nicht. Denn es ist anzunehmen, daß Wallis – sollte er nicht in Chattertons authentischer, letzter Dachbodenkammer gemalt haben – es doch getan hätte, hätte er um den Ort dieses historischen Sterbezimmers gewußt. „In his early twenties, he is already an antiquarian in his soul, 463
464
––––––––––––––––––– Es ist heutzutage nicht mehr möglich, all diese Angaben vor Ort zu überprüfen. Chattertons Sterbehaus in der Brook Street 39 existiert schon lange nicht mehr; heute erinnert nur noch eine Gedenktafel an seinen Ort. Parris: The Pre-Raphaelites, S. 143.
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likes old houses where the famous dead were born, likes bits of old lace, the feel of velvet.“465 So charakterisiert Diane Johnson den Maler, der seine „three topographical subjects connected with Shakespeare’s birth at Stratford”466 zweifelsohne in Stratford, im historischen Intérieur William Shakespeares und an weiteren authentischen Shakespeare-Orten, malte. Und wie wichtig ihm dieses Malen der „übriggebliebenen“ Zimmer berühmter Schriftsteller der Vorzeiten war, wie wenig Mühen er scheute, diese Räume, auch wenn sie im Ausland lagen, aufzusuchen und sich den Zutritt förmlich zu erkämpfen, erinnert Diane Johnson: Henry was off painting Montaigne’s study among other things, for he was fond of doing the rooms and birthplaces of famous writers, especially after his great success with The Death of Chatterton. He evidently had had a problem getting into Montaigne’s rooms. Mary Ellen remarks, with characteristic irony, “What a misfortune that Montaigne’s tower should have fallen into the hands of such a brute. I am very glad you insisted on having admittance. I have no doubt your moral force controlled the wretched slave into yielding the miserable two hours he dared not withhold.”467
Wenn es aber ausgerechnet Mary Meredith ist, deren Brief an den reisenden Wallis, geschrieben im Frühjahr 1856, die Bemühungen des Malers bezeugt, Montaignes Intérieur vor Ort festzuhalten, in einer in zwei Stunden angefertigten Skizze: so ist das nicht nur das treffende Nachwort zur Entstehungsgeschichte von Chatterton als einem Werk, das Wallis wahrscheinlich nicht im rechten Zimmer malte, obwohl er das sicherlich gewollt hätte. Wenn niemand anders als Mary Meredith intime Einblicke in die Arbeit an Wallis’ nächstem Dichterzimmer-Bild nach Chatterton gibt: so ist das zudem bereits Teil der zweiten legendären Geschichte, die sich noch heute um Chatterton rankt. * Es gibt eine legendäre Entstehungsgeschichte von Wallis’ Chatterton, die vermutlich unwahr ist – und es gibt noch eine andere Geschichte, die die Entstehung des Bilds des ruinierten Poeten nach sich zog und die wiederum Teil seines Legendären geworden ist. Auch kein seriöser Kunsthistoriker verzichtet darauf, zumindest am Rande diese skandalöse Nach-Legende der Entstehung von Chatterton zu erinnern. Denn trägt sie auch nicht unmittelbar zur Interpretation des Werkes bei, ist sie dennoch erstens wahr; zweitens ist die wahre historische Skandalgeschichte zugleich außerordentlich und doch bezeichnend für das Klima der viktorianischen Epoche im allgemeinen gewesen, sowie speziell für die atmosphärischen Spannungen, wie sie unter den Präraphaelitischen Brüdern aufkommen konnten. Wie schon gesagt, war es unter den Präraphaeliten nämlich üblich, einander Modell zu stehen. Nichts malten die vom authentischen Detail besessenen 465 466 467
––––––––––––––––––– Johnson: The True History of the First Mrs. Meredith, S. 103-104. „MR. HENRY WALLIS. –“, S. 123. Johnson: The True History of the First Mrs. Meredith, S. 100-101.
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Künstler ohne konkretes Vor-Bild; und so schlüpften sie füreinander in die Rollen der Persönlichkeiten, die nicht selber Modell stehen konnten, weil sie lange verstorben oder erfunden waren. Aber nicht nur als Modelle, auch als Künstler waren die Präraphaeliten Experten in Sachen „Rollenspiele“. So hatten Rossetti, Hunt, Millais ihren Kreis bewußt als eine verschwörerisch-rebellische Geheimbrüderschaft gegründet: um auf diese Weise in die Rollen von „Carbonari der Kunstwelt“ zu schlüpfen.468 Ein anderes, ähnliches Rollenspiel war aber das, als Künstler seine Geliebte oder Ehefrau zum weiblichen Modell zu nehmen. Denn dieses hatte, Elizabeth Prettejohn zufolge, nicht nur praktische (und vielleicht auch finanzielle) Gründe, sondern „a specially self-conscious element to it. The artists were highly aware of the mythology about the erotic relationship between male artist and female model.”469 Die Präraphaeliten waren vertraut mit einer „relatively new but rapidly expanding literature of art history, which in the mid-nineteenth century had a strong biographical focus.“470 Das heißt, der Mythos des erotischen Verhältnisses zwischen dem Künstler und seinem weiblichen Modell war den jungen Malern aus konkreten biographischen Beispielen vielfach präsent: konnten sie doch an „Phryne who inspired Praxiteles [denken], Goya and the Duchess of Alba, Raphael and his mistress, Rubens and his young second wife Helena Forment“471, und so weiter und so weiter... Indem sie selbst ihre Geliebten oder Ehefrauen zu Modellen wählten, schlüpften die jungen Künstler gleichsam in die Rollen der alten, berühmten Meister: „Thus, when Pre-Raphaelite artists chose their lovers or wives as models, they would have been aware of emulating the studio practices ascribed to the great artists of the past.”472 Und obwohl dieses Einnehmen der Rollen alter Meister, die sich von ihren geliebten Modellen inspirieren ließen, ein präraphaelitisches Rollenspiel war, waren die möglichen Folgen daraus absolut ernst. Es kam auch vor, daß die Geliebte oder Frau eines der Präraphaelitischen Brüder für einen anderen posierte; und es kaum vor, daß es infolge dessen zum Treuebruch und Bruderverrat kam.473 Was aber die Entstehungsgeschichte von Wallis’ Chatterton betrifft, wo keine Frau, sondern ein Mann, George Meredith, für den Künstler Modell lag, stellt Prettejohn fest:
468 469 470 471 472 473
––––––––––––––––––– So die These Woods in: The Pre-Raphaelites, S. 9. Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 197. Ebd. Ebd. Ebd. Mehr als ein skandalöses Dreiecksverhältnis kam unter den Präraphaeliten zustande; und Ironie des Schicksals ist es wohl, daß auch Ruskin, der von den Präraphaeliten verehrt wurde, die er wiederum unterstützte, seine Ehefrau infolge einiger Portraitsitzungen an den jungen Millais verlor: „Millais, while painting Ruskin, fell in love with his wife, whom he later married.“ (Kelly: The Marvellous Boy, S. 119.)
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There is a paradox here, for in fact Meredith’s sittings to Wallis did lead to an erotic entanglement – not between Wallis and Meredith but, in a bizarre displacement of the myth, between Wallis and Meredith’s wife, who subsequently left her poet husband to elope with the painter.474 The model for this painting was himself a struggling author, George Meredith, with whose wife Wallis later eloped. The results of this affair, at least from the literary point of view, were not so tragic, however, and Meredith used this experience as the source for one of the greatest Victorian poems Modern Love (1862), which told the story of a wife’s altered affections.475
So erzählt Thomas die legendäre, doch auch den Kunsthistorikern unverzichtbare Skandalgeschichte, die als versteckter Entstehungshintergrund in Wallis’ Chatterton schlummert; Wood aber schreibt als Begründung für den Karriereabbruch Wallis’ als Maler: Wallis painted [nach Chatterton und The Stonebreaker] one or two other pictures in PreRaphaelite style, but this phase of his career came to an abrupt close in 1858, when he eloped with the wife of the novelist and poet, George Meredith. Thereafter Wallis spent much of his time traveling and living abroad, and he never returned to painting seriously again.476
So wäre denn Wallis’ „elopement“ mit Mary Meredith 1858, so wäre denn im Grunde die Anfertigung von Chatterton 1855/56, die zur ersten intimeren Annäherung zwischen dem Maler und der Frau seines Modells und Freundes führte, Schuld an Wallis’ nichtiger Karriere als Maler gewesen, die so vielversprechend mit den Sensationserfolgen von Chatterton und The Stonebreaker begann – ? Es scheint so gewesen zu sein und ist jedenfalls eine wahrhaft-romantische Geschichte zu heißen – eine romanhafte Skandalgeschichte, die dennoch wirklich geschehen ist. Nur eines darf das nicht heißen: daß der Skandal hinter Chatterton am Sensationserfolg des Bildes Anteil gehabt hätte. Denn abgesehen davon, daß 1856, zu der Zeit der ersten Ausstellung, noch niemand von der unmoralischen Liebesgeschichte wissen konnte, die noch bis zum „elopement“ von 1858 weitgehend verheimlicht war, bzw. überhaupt erst in aller Heimlichkeit heranwuchs,477 war 1856 auch nicht mehr 1835 oder 1820.
474 475 476 477
––––––––––––––––––– Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 195. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 85. Wood: The Pre-Raphaelites, S. 61-62. Heute weiß man, daß Mary Meredith ihren Mann im Sommer 1857 verließ. Ihr Verhältnis mit Wallis habe sie wahrscheinlich im Februar desselben Jahres begonnen, doch zog sie nicht sofort mit dem Maler zusammen, sondern mit ihren beiden Kindern nach Seaford, an die Küste, um dort von ihrem Schreiben und Erspartem zu leben. Im Sommer machte sie mit Wallis eine Reise nach Wales, aus der als „Andenken“ der gemeinsame Sohn Harold hervorgehen sollte, geboren im April 1858; Wallis nannte ihn „affectionally [...] Felix“, „meaning love child“ (siehe „The author’s first wife...“, o. S.]. Nach Capri seien Wallis, Mary Ellen und ihr Kind allerdings zur Erholung der fragilen Mutter vom Kindbett gereist und nicht aus ro-
V. Chatterton bei Wallis
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Und 1835 in Paris war es so gewesen, daß das Wissen darum, daß Vigny sein Drama Chatterton für die so faszinierende wie umruchte Marie Dorval geschrieben hatte, das Interesse an dem Werk noch geschürt hatte. Hier spielte die Dorval, die Geliebte des Dramendichters, die verbotene Geliebte eines armen Dichters: und die sich aufdrängenden autobiographischen Bezüge machten das Bühnenstück mit dem authentischen Urgrund erst echt bewegend. Es war der Effekt, den Holmes für das zeitlich etwas ältere Theater der englischen Romantik um 1820 konstatierte: Auch das englische romantische Theater erregte durch eine neue „Romantic authenticity“478 die Gemüter, was heißt, daß die romantischen Akteure in der Maske ihrer angenommenen Bühnenrollen sich selbst, ihre authentischen Emotionen, ausspielten – was durch tatsächliche Liebesaffären zwischen männlichen und weiblichen Protagonisten gefördert wurde. „[P]rivate lives and public theatre overlapped, often scandalously”479, resümierte Holmes; und hätte Wallis seinen Chatterton 1820 ausgestellt und dazu die skandalöse Geschichte seiner Entstehung durchsickern lassen: Das nach „romantischer Authentizität“ und daher durchaus nach skandalösen Überlappungen privaten und öffentlichen Lebens begierige Publikum wäre für das Gemälde nur noch empfänglicher gewesen. Aber 1856 ist Wallis’ Chatterton manchen Kritikern allein schon suspekt aufgrund seiner angeblichen Verklärung des Selbstmords, die wohl zurückzuübersetzen ist in die irritierende Beschönigung eines Verblassenden. Ein Jahr zuvor war The Scapegoat verurteilt worden aufgrund des bloßen Verdachts einer Entweihung Christus’, durch seine Gleichsetzung mit einem detailrealistisch dargestellten, profanen Ziegenbock sowie vielleicht auch mit dem Künstler, der sich damit selbst zum Märtyrer sakralisierte; und 1857 hatte Vigny der Erhebung dieses Vorwurfes gegen ihn freiwillig vorgebeugt ‒ und hatte den Satz, in dem sein Chatterton den Dichter mit dem Gekreuzigten gleichsetzt, aus dem Dramentext gestrichen.480 Denn das Paris der materialistischen Jahre des Second Empire war, zumindest nach außen hin, nicht weniger moralisch sowie bigott als das viktorianische England derselben Zeit. Und wenn auch Wallis seiner Welt gegenüber präraphaelitisch-rebellisch eingestellt war, stellte er Chatterton trotzdem in der Royal Academy aus, jener traditionellen Kulturinstitution, die von einem großteils gutbürgerlichen Publikum besucht wurde. Und welchen Neigungen auch immer der viktorianische Bourgeois in seinem Privatleben frönen mochte (und die viktorianische Doppelmoral ist heute kein Geheimnis mehr) – den Aner-
478 479 480
––––––––––––––––––– mantischen Gründen (siehe ebd., sowie Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 124-125; 132). Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 16. Ebd. Siehe Reys Kommentar zu Vigny: Chatterton, S. 108, ebd. S. 180-181: „ »Les hommes d’imagination sont éternellement crucifiés… »: encore une phrase supprimée lors des représentations de 1857-1858. L’assimilation trop directe du poète au Christ en croix a-t-elle pu passer pour sacrilège?“
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V. Chatterton bei Wallis
kennungserfolg eines Bildes mit einer Hintergrundgeschichte wie der von Wallis’ Chatterton hätte die breite Masse der viktorianischen Moralmenschen kaum mitgetragen. Da die alte Skandalgeschichte um die Produktion von Chatterton also definitiv nicht zum Sensationserfolg des Werkes beitrug, sondern diesem Erfolg aller Wahrscheinlichkeit nach sogar geschadet hätte – wäre überhaupt schon 1856 etwas von dem angesponnenen Verhältnis des Malers mit der Frau seines Modells und Freundes in breiter Öffentlichkeit ruchbar geworden –, könnte man die Sache somit auf sich beruhen lassen und sich nunmehr dem Bild des verblassenden Poeten selbst zuwenden, um zu sehen, was sonst daran derart elektrisierte. Wenn ich die Detailanalyse des Werkes zurückstelle, um trotz allem mehr von dem alten Skandal zu erzählen, so allerdings aus zwei Gründen. Erstens erhellt sich daraus, warum es Meredith sein mußte, den Wallis als Chatterton portraitierte; zweitens ist das bekannte Dilemma des Dichters, seine Poetenseele für Geld verkaufen und verraten zu müssen, um sich selbst – samt Familie – zu ernähren, hier Dreh- und Angelpunkt der Geschichte einer Ehe, die schon vor dem Ehebruch ruiniert war. * Warum kam Wallis auf den Gedanken, ausgerechnet Meredith darum zu bitten, für ihn den verblassenden Chatterton zu verkörpern? Wie kam Wallis überhaupt auf die Idee zu diesem Portrait des ruinierten Poeten in seinem letzten Intérieur? – Darauf, daß das Sujet des seiner materialistischen Welt zum Opfer gefallenen Dichters schon vor dem Sensationserfolg „seines“ Bildportraits in der Luft lag, hat Kelly hingewiesen;481 und daß die Präraphaeliten das vergeistigte Mittelalter als Gegenwelt zur eigenen Epoche der oberflächlichen Warendinge wiederentdeckten, legt ihre Wiederentdeckung auch Chattertons, des Erfinders der Rowley-Welt, nahe. In der Tat war insbesondere Dante Gabriel Rossetti, einer der drei Begründer der Präraphaelitischen Brüderschaft, lebenslang mit Chatterton beschäftigt und thematisierte ihn mehrfach, allerdings nicht in Bildern, sondern in Gedichten.482 So daß es nicht unbedingt erstaunlich ist, wenn Wallis, der im Kreise Rossettis und der anderen ein und ausging und der zudem seit 1854 an einer Portraitserie berühmter Dichter oder ihrer Räume arbeitete, 481
482
––––––––––––––––––– „Chatterton himself, though no longer a Romantic commonplace as he had been earlier in the century, could still be seen as a symbol of the creative artist’s isolation in a philistine and materialistic world; to the Pre-Raphaelites, in a society increasingly dominated by the Industrial Revolution, the symbolism seemed stark enough.” (Kelly: The Marvellous Boy, S. 116.) Berühmt ist die erste, die Chatterton-Strophe aus Rossettis Five English Poets, beginnend mit: „WITH Shakspeare’s manhood at a boy’s wild heart, – / Through Hamlet’s doubt to Shakspeare near allied, / And kin to Milton through his Satan’s pride, – / At Death’s sole door he stooped, and craved a dart; / And to the dear new bower of England’s art, – / Even to that shrine Time else had deified, / The unuttered heart that soared against his side, – / Drove the fell point, and smote life’s seals apart.” (Rossetti: Five English Poets, S. 337.) Die vier weiteren Poeten, die Rossetti nach Chatterton besingt, sind Blake, Coleridge, Keats und Shelley.
V. Chatterton bei Wallis
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auf Chatterton kam – und von da auf Meredith. Außer es wäre umgekehrt die Bekanntschaft mit Meredith gewesen, von der der zündende Funke, die Idee zum Chatterton-Bildnis, ausgegangen wäre; aber freilich ist davon nichts überliefert und der Gedanke nicht mehr als eine historische Möglichkeit. – Doch was auch immer zuerst da war, der Anreiz „Chatterton“ oder der Anreiz „Meredith“: die Verbindung zwischen diesen beiden Dichtern herzustellen, lag auf der Hand. Daß Meredith zum Zeitpunkt seines Modell-Liegens als Chatterton dessen erreichte Lebenszeit bereits um zehn Jahre überschritten hatte, sah man dem Siebenundzwanzigjährigen schließlich nicht so sehr an; während das, was man von ihm sah, ihn anscheinend zum Modell des Chatterton prädestinierte. Denn: No portraits of Chatterton were known, so Wallis was free to invent a physical appearance for him. At some level the assumption must have been that the inward qualities, intellectual or spiritual, that made Meredith a poet were somehow visible outwardly; in short, that his being a poet meant he looked like a poet. However mystical this belief, it produced one of the most compelling fusions of model and imagined character in Pre-Raphaelite painting.483
Der Glaube daran, daß Merediths intellektuelle oder spirituelle Dichterqualitäten in seinem körperlichem Erscheinungsbild Ausdruck fanden, war jedoch so „mystisch“ wiederum nicht. Es ist Teil der Faszination gewesen, die von Meredith ausstrahlte – glaubt man seinem Biographen Sencourt, der gut zwanzig Jahre nach dem Tod des Dichters dessen Nachkommen und noch lebende Freunde aushorchte und sämtliche auffindbaren Intimaufzeichnungen zu seinem Sujet las.484 Der allgemeine Eindruck, der von Meredith überlebte, war also: Eine geradezu elektrisierende Geistes-Ausstrahlung sei Merediths Gestalt und Antlitzzügen sowie insbesondere seinen Bewegungen, seiner Gestik und Mimik, entströmt – und dieser Attraktion war 1849, gut sechs Jahre vor Henry Wallis, auch Mary Ellen Nicolls, geborene Peacock, erlegen. Um aber vorerst bei den Gemeinsamkeiten zwischen Meredith und Chatterton zu verbleiben (und nicht schon auf den Unterschied des Verheiratetseins nur des einen zu kommen): Wie einst Chatterton, so entstammte auch Meredith einfachen und armen Verhältnissen. Sein Vater war Schneider gewesen, noch dazu ein 1837 bankrott gegangener, ruinierter Schneider. Doch sogar ohne Ruin war der Schneiderberuf eine unrühmliche und brotlose Handwerkertätigkeit des 19. Jahrhunderts – die vom Vater mit dessen Laden und Schulden zu erben Merediths Romanfigur Evan Harrington sich verweigert. Evan rebelliert gegen die ihm einzig gegebene Möglichkeit des Geldverdienens, das Schneidern, an, gibt sich als der „Gentleman“ aus, der er innerlich und aus bestimmten extraordinären Gründen auch von seiner Erziehung her ist, bewegt sich in den ober483 484
––––––––––––––––––– Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 193. So Sencourts eigene Angaben zu seiner Vorgehensweise der Erarbeitung von The Life of George Meredith, siehe ebd., S. xii-xiii.
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sten Gesellschaftskreisen – stürzt von dort ab, in seinen Hoffnungen und seinem Ruf ruiniert – nur um am Ende doch erfolgreich einzuheiraten in die seinem edlen und idealistischen Charakter angemessenen Sphären. In Evan Harrington (im Untertitel zuweilen auch mit dem Zusatz benannt: or He would be a Gentleman) triumphiert zuletzt der Geist, allerdings des Gentlemans und nicht des Poeten, über die Zwänge des Materiellen; und: „lending romance to tradesman“485 – das war überhaupt „das Ding”, die lebenslange Absicht des Dichters Meredith in seinen Romanen. Wenn Meredith selbst ambitioniert gegen das Vatererbe des Schneiderseins rebelliert hatte, war ihm dieses allerdings dadurch erleichtert worden, daß auch er, wie seine Romanfigur Evan und eben anders als Chatterton, eine für seine soziale Position extraordinäre Erziehung genossen hatte. Evan Harrington verdankte diese schulische Erziehung eines Gentleman einem Vater, der zwar Schneider, dabei jedoch eine schillernde und im Grunde unglaubliche Persönlichkeit gewesen war – gutaussehend, witzig, faszinierend, eine Persönlichkeit zwischen verführerischem Genie und blendendem Betrüger, eine Art Chamäleon-Lebenskünstler, der mit seiner adeligen Klientel auf „Du und Du“ verkehrte und sie ihn wiederum seine soziale Position vergessen ließ auf den Soireen, zu denen man ihn einlud; ein Mann zudem, der es immer zuwege brachte, auch materiell über seine Verhältnisse zu leben, weil der Unwiderstehliche stets verschuldet war, doch eben niemals lange ohne Kredit. – Das authentische Urmodell zu diesem „Great Mel“ oder Melchizedeck Harrington sei aber Melchizedeck Meredith gewesen: George Merediths Großvater.486 So wie Melchizedeck Harrington und nach seinem Tod seine Töchter, Evans Schwestern, so sorgten Melchizedeck Meredith und nach seinem Tod seine Töchter, Georges Tanten, dafür, den jungen Mann unstandesgemäß darauf hinzuerziehen, die gehobene soziale Position zu erstreben, der er sich innerlich bereits zugehörig fühlte. Aus diesem Grund war der junge Meredith, der sich von frühester Kindheit an dem väterlichen Schneiderhaushalt entwurzelt fühlte, wie Chatterton erfüllt von „ambition“487; nur daß es ein Ehrgeiz war, der nicht auf das schnellstmögliche Gewinnen von Geld durch das Dichten abzielte. Meredith war in der Entwicklung seines dichterischen Selbstbewußtseins bescheidener und langsamer als Chatterton; was damit zusammenhing, daß sein Ehrgeiz oder seine Sehnsucht zuerst auf immaterielle Bereicherung, auf Bildung, aus war, welche dann wiederum den Dichter in Meredith nährte. Mit vierzehn Jahren – in dem Alter, in dem Chattertons dürftige Ausbildung an der ColstonSchule beendet war – schickte Meredith sich selbst auf eine von Herrnhutern geleitete Schule in Deutschland. Hier blieb er zwei Jahre lang, begeisterte sich 485 486 487
––––––––––––––––––– Siehe ebd., S. 57. Siehe zu dem historischen und dem Roman-Melchizedeck sowie zum freilich idealisierten, bzw. romantisierten Autobiographischen von Evan Harrington überhaupt ebd., S. 1-2. Ebd., S. 8.
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für „Fichte, Jean Paul Richter, Novalis, Eichendorff, Mörike, [...] Freiligrath“488 und noch einmal insbesondere für „Heine“489, ließ sich aber auch sinnlich inspirieren, durch die reizvolle Rheinlandschaft um Neuwied. Erst mit sechzehn Jahren kehrte Meredith nach England zurück und wurde (nach einer Phase des zwanzig Monate währenden vor sich hindichtenden Müßiggangs, um dabei nebenher sein vergangenes und künftiges Leben zu bedenken), wie einst Chatterton, Lehrling bei einem Notar. Doch ob es Zufall war oder die Verbindungen seiner Tanten dabei mit im Spiel gewesen waren – dieser Londoner Notar namens Richard Stephen Charnock war selbst ein Ausnahmeoriginal, und während der Bristoler Notar Lambert Chattertons dichterischen Ambitionen quergestanden hatte, fand noch mehr der Dichter als der Notarlehrling Meredith Unterstützung durch seinen Arbeitgeber. Charnock verkehrte in den literarischen Kreisen Londons, dilettierte selbst als Schriftsteller und ermutigte junge, von ihm als talentiert erachtete Leute – wie nicht zuletzt Meredith –, für den von ihm ins Leben gerufenen Monthly Observer zu schreiben. „The plan of the Monthly Observer [...] was for each contributor to edit and criticize in turn“;490 Meredith aber erwies sich bald als unübertrefflicher Meister im Verfassen so scharfsinniger wie phantasievoller, so einfühlsamer wie witzig-satirischer Literaturkritiken. Schon in diesen ersten, spielerischen literarischen Publikationsexperimenten enthüllte der Dichter Meredith seinen individuellen Geist und Stil; und dieser läßt tatsächlich an Chatterton zurückdenken: jenen unermüdlichen Vielschreiber in allen möglichen, dabei meist subtil persiflierten Stilen und Gattungen – jenen raffinierten „Fälscher“ der Pseudo-Reststücke einer verlorenen, besseren, poetischeren Rowley-Welt, die, allen idealisierten Elementen zum Trotz, eben doch auch das Werk des unberechenbaren Satirikers Chatterton war. Von Merediths Geist und Stil aber heißt es bei Sencourt: „His mind had a vitality that even to the end was for ever escaping from discipline to harlequinade, and his immense zest released itself in fun, and recurring roars of laughter, only to renew itself in a fresh and passionate tensity, which grew serene in rapture.“491 * Den Bewegungen seines Geistes entwachsen, bauen Merediths Schriften atmosphärische Spannungen auf, die sich intervallweise in szenischer Komik entladen, „nur um sich selbst zu erneuern in frischer und passionierter Anspannung“. Das ist freilich doch nicht dasselbe wie Chattertons stets verkappt satirisches Schreiben; ebenso wenig wie Merediths Leben identisch mit Chattertons Werdegang ist, wiewohl beide Dichter einfachen Verhältnissen entstammten, beide ambitioniert waren, sich daraus sozial hochzuarbeiten, beide dabei auf ihren Geist setzten und beide ihr Schreiben zeitweilig mit einer Notarlehre ver488 489 490 491
––––––––––––––––––– Ebd., S. 15. Siehe ebd., S. 16. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27.
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einbaren mußten. Bei genauerem Hinsehen sind sich Meredith und Chatterton frappierend ähnlich und unähnlich gewesen. Doch das 19. Jahrhundert kannte den „wahren“ Chatterton ja nicht mehr, hatte ihn seit der englischen Romantik „vergessen“. So mochten die unleugbaren rudimentären Gemeinsamkeiten zwischen Meredith und Chatterton Wallis (und wohl auch anderen) genügt haben, um im faszinierenden, ehrgeizigen, doch namenlosen viktorianischen Jungdichter Meredith einen „neuen“ Chatterton zu sehen. Schien Chatterton re-inkarniert zu sein in Meredith, lag es aber auf der Hand, Meredith als Verkörperung Chattertons posieren zu lassen. Zumal das Lebensglück, das Meredith, im Gegensatz zu Chatterton, in seinen jungen Jahren noch stets vor der Gefahr einer existentiellen Misere abgefangen hatte – und diese hätte dem dichterisch ambitionierten Schneiderssohn ja durchaus drohen können –, ihn in den beginnenden fünfziger Jahre verließ. Der dichterische Erfolg, von dem Meredith meinte, es wäre nun dafür an der Zeit, ließ auf sich warten; so daß Sencourt von diesem mittlerweile gut fünfundzwanzig Jahre zählenden Jungdichter schreibt: „Poverty, neglect, and disillusionment severely scourged Meredith’s intense and at times morbid sensitiveness.“492 Was aber war geschehen zwischen den Jahren 1846, wo Meredith glücklich Notarlehrling bei Charnock wurde, und 1855/56, wo er sich vielleicht mehr denn je als Chatterton fühlte, posierend als verblassender ruinierter Poet? – Das markanteste Ereignis seines Lebens war wohl seine Hochzeit gewesen. The most interesting of the other contributors to the Monthly Observer was Peacock’s daughter, Mary Nicolls. She was a naval officer’s widow, approaching thirty, with a little girl of four or five. A keen wit, a lack of nervous stability, and a nature extraordinarily susceptible to the attraction of genius or talent in men, had inclined Mary Nicolls to a fatal interplay of sarcasm and sentiment. No premonition of this crossed the mind of the young man of twenty-one who met her in Edward Peacock’s rooms.493
So beschwört Sencourt in fatalistischer Rede das Ende einer Ehe in ihrem Anfang – dem Kennenlernen von zwei Menschen, die sich im selben Atemzuge so ähnlich und zugleich unähnlich waren, daß sich die anfängliche magnetische Attraktion, die beide aufeinander ausübten, im Zuge von wenigen Jahren in eine dauernde Anspannung aus Haß und widerwilligem Festhalten aneinander verwandelte. Allzu ähnlich waren sich George Meredith und Mary Nicolls – die nach einer Phase der stürmischen Werbung (George machte Mary sechs Heiratsanträge) am neunten August 1849 zu Mrs. Meredith wurde. Zu ähnlich waren sich die beiden in ihrem Wesen, in ihrer Wirkung auf andere Menschen sowie in 492 493
––––––––––––––––––– Ebd., S. 56-57. Ebd., S. 29. Edward Peacock, in dessen Räumen die erste Begegnung stattfand, war Mary Ellens Bruder.
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ihrer Empfänglichkeit für eine solche, von anderen ausstrahlende Faszination. Denn nicht nur Mary Nicolls, auch Meredith war „außerordentlich empfänglich für die Attraktion des Genies oder des Talentes“ eines gegengeschlechtlichen Gegenübers;494 zumal, wenn dieser attraktive Geist aus einem schönen Körper als seinem Ausdrucksorgan sprach, so wie im Falle von Mary Nicolls (Abb. 14). Das Faszinierende von deren Erscheinung ließe sich schließlich beinahe in den Worten umschreiben, die Linda Kelly mit Hilfe von George Sand fand, um das Anziehende Marie Dorvals zu charakterisieren, Alfred de Vignys Kitty Bell: She was unashamedly of the people, intuitive, witty and natural to the point of abandon. She had a hoarse, breathless voice which could switch from tremulous emotion to wild laughter or a fishwife tirade in a moment. Her large melancholy eyes could convey unbearable pathos or sparkle with gaiety. She was frail, dark, poetic – “better than pretty she was charming”, wrote George Sand, “and yet she was pretty but so charming that it was unnecessary.”495
Mary Nicolls muß ähnlich unnötig schön, weil außerordentlich „charming“ gewirkt haben, ähnlich expressiv gewesen sein in ihrem wetterwendischen, zwischen Sarkasmus und Gefühl, Melancholie, Witz und Lachen blitzartig abwechselnden, aber immer ungehemmt intensiven, nervös angespannten Wesen. Her hair parted in the middle, and a girlish simplicity in her round face, she had a whit which enabled her to use to the full the charms of her temperament and person. Her eyes were languishing, and her upper lip the bow of Cupid, her arched eyebrows meeting above the nose of a child with nostrils dilating to air.496
So Sencourts erste Beschreibung der etwas gewittrig-schwülen Ausstrahlung der Mary Nicolls, wie Meredith sie kennenlernte; doch das Gefährliche, Labile der jungen Frau prononciert der Biograph nur wenige Seiten später verstärkt, wenn er nun psychologisiert: „The fascinating young widow lived too much in the deliciousness of her own feelings and the tension of her nerves for which she sought relaxation, now in sentimental outpourings, now in sharp flashes of wit.”497 Im Anschluß an Sencourt gesagt, wäre die geistige Stärke Marys dem entsprungen, was zugleich ihre mentale Schwäche gewesen wäre: Nicht nur ihr im Gespräch ausbrechender schlagfertiger Witz, ihre dichterische Inspiration überhaupt hätte in einer außergewöhnlichen Hypersensibilität gewurzelt, in einer dauernd nach Entlastung suchenden „tension of her nerves“. Und auch wenn Sencourt, aus Gründen, die noch zu nennen sein werden, Marys psychische Labilität überbetonte: ihr leidenschaftliches und spannungsgeladenes Wesen geht auch aus Johnsons mit der Frau Partei ergreifender True Story of the First Mrs. Meredith hervor. Diese Hyperintensität ihres Geistes, ob sie nun bis zur 494 495 496 497
––––––––––––––––––– Siehe zu Merediths Empfänglichkeit für die Anreize schöner oder faszinierender Frauen ebd., S. 60. Kelly: The Marvellous Boy, S. 106. Sencourt: The Life of George Meredith, S. 29. Ebd., S. 32.
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Grenze zwischen Genialität und Wahnsinn gesteigert war oder nicht,498 mußte sich aber körpersprachlich in Mary ausdrücken; dieses muß es gewesen sein, was sie auf ähnliche Weise anziehend machte wie ihr Mann es war, den Sencourt wie folgt portraitiert: His vitality […] was electrical in every movement, his features were handsome, his expression tense, and his thick red-brown hair gave a hint of the health and strength and youth which were then wedded to the intensity of his nature.499
Horcht man auf die Beschreibungen, die Sencourt von den beiden Teilen des künftigen Ehepaars Meredith gibt, kann man sich vorstellen, daß es im buchstäblichen Sinne „gefunkt“ haben muß im Aufeinandertreffen zweier so elektrisierender Persönlichkeiten, die dementsprechend hyperempfänglich auch für den Anreiz des anderen waren. Doch ebenso nachvollziehbar ist es, daß eine solche, auf gegenseitiger Enthusiasmierung und Faszination gründende Beziehung zweier ebenso inspirierter wie labiler Charaktere hart auf die Probe gestellt sein mußte durch das ständige Zusammenseinmüssen im prosaischen und desillusionierenden Alltagsleben. It needs a heroism all its own [...], to live in cheap lodgings, and diet cheerfully on the coarse cuisine of poverty, which could drop down to a mere plate of porridge for the day. And it would have been much to ask of intense natures like those of George and Mary Meredith. Each was highly strung, each was imaginative, each emotional: but more than this, each was quick to anger and cuttingly satirical in dispute. The cuts of the rapier of ridicule are not worth making, and fencers so skillful had not learned the skill of living that demands suppression of skill in satire. These two were witty enough to be such fools as to enjoy quarrelling; flashes of amazing brilliance shot from their altercations, and their rages would be interrupted by his roars of laughter. But at the basis of their relation was disillusionment.500
So erzählt Sencourt, wie die hohen Erwartungen aneinander, an die Liebe, an das Leben überhaupt, an den praktischen Lebensanforderungen an zwei nervösinspirierten Charakteren scheiterte und wie die Enttäuschung nicht abzuwenden war von der Ehe der Merediths. Unaufhaltsam kam die Entfremdung – die nicht verhinderte, daß der eine oder andere Ehepartner dennoch die demütigenden Qualen der Eifersucht erlitt, wenn Gatte oder Gattin einmal mehr zumindest geistigen Ehebruch beging. Denn wie gesagt, George und Mary Meredith waren und blieben lebenslang fatal empfänglich für das Anziehende faszinierender Persönlichkeiten – welche die voneinander Enttäuschten bald wieder außerhalb ihres Hauses suchten und zuweilen fanden. 498
499 500
––––––––––––––––––– Sencourt meint, Mary Meredith habe ihre sich später bestätigende „tendency towards insanity“ von ihrer Mutter geerbt (siehe ebd., S. 60). Tatsächlich war Mrs. Peacock infolge des Todes eines Kindes wahnsinnig geworden; doch ob auch Mary Meredith in Wahnsinn starb, bleibe vorerst dahingestellt. Ebd., S. 29. Ebd., S. 53.
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Daß 1853 ein Kind geboren wurde, Arthur Meredith,501 konnte den Ruin einer Ehe nicht rückgängig machen, der längst unaufhaltsam war und sich infolge der Geburt des Kindes erst recht beschleunigte. Damit verstärkte sich nämlich ein konkreter Konflikt, an dem sich die beiden Gemüter, die sich ständig als „too similar in a nervous tensity“502 erwiesen, definitiv aufrieben. Dieser Konflikt wurde dabei noch verschärft durch das, was ungleich an George und Mary Meredith war: Mary war sechseinhalb Jahre älter als ihr Mann; als Witwe eines Marineoffiziers stand sie auch sozial über dem Sohn des Schneiders (auch wenn sie dieses womöglich nicht wußte503); nicht zuletzt aber lebte die Ehe finanziell hauptsächlich von dem, was Mary darein mitgebracht hatte und von der Unterstützung durch Peacock, Merediths Schwiegervater. Mary Meredith sah sich, ihrem eigenen poetischen Geiste zum Trotz, in die Rolle der Verantwortlichen und Hausfrau gedrängt, die konkret rechnen mußte. Im Gegenzug nutzte sie ihre Vorteile gegenüber George Meredith aus, um Druck auf ihn auszuüben. Mary verlangte, George solle – wie ihr Vater, der es schließlich fertig gebracht hatte, als „a famous writer“ und „a lord of commerce“504 erfolgreich und wohlhabend zu werden –, Mary verlangte, ihr Mann solle eine Arbeit mit regelmäßigem Einkommen annehmen und nur in seiner Freizeit für sich selber schreiben. She went so far towards this end as to make an appointment in London for him. But he forgot on his way to the station, and spent the day in one of his long crosscountry walks. […] From that day on, she had to realize that a man of genius will nurse his genius as a mother sacrifices her own welfare to that of her child. Anything which threatens its life or success will awaken his ferocity. And while he devoted himself more and more to his art, she become more the housekeeper and the mother.505
Als George Meredith 1855/56 für seinen Freund Henry Wallis in die Rolle des verblassenden Chatterton schlüpfte, nagte die Existenznot an ihm wie noch nie: weil er nicht nur sich selbst, sondern auch eine Frau und ein Kind, bzw. phasenweise zwei Kinder (den kleinen Arthur und Marys Tochter aus erster Ehe506), zu ernähren hatte. Und dennoch verweigerte er sich der Annahme einer Brotarbeit 501
502 503
504 505 506
––––––––––––––––––– Arthur Meredith starb 1890; zu den hauptsächlichen Informanten Sencourts zählt daher nicht er, sondern Merediths Sohn aus seiner zweiten Ehe, der 1865 geborene William (siehe Sencourts Einleitung ebd.., S. ix-xiv). Ebd., S. 60. Gestützt auf die Aufzeichnungen einer Mrs. Bennett, Freundin von Mary Meredith, vertritt Jankovsky die These, Mary habe ihren Mann anläßlich einer Entlarvung verlassen: Meredith, von Minderwertigkeitskomplexen bezüglich seiner Herkunft besessen, habe seiner Frau vorgemacht, er entstamme hohen Verhältnissen; erst 1857/58 habe Mary Ellen schockiert diesen Betrug und Vertrauensmangel durchschaut, der das Maß ihrer ehelichen Uneinigkeiten zum Überlaufen gebracht habe (siehe Janukovsky: According to Mrs. Bennett). Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 18. Sencourt: The Life of George Meredith, S. 59. Edith, Marys Tochter aus erster Ehe, wuchs bei ihren Großeltern väterlicherseits auf, war aber oft bei ihrer Mutter zu Besuch.
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erst recht trotzig – da es seine Frau war, von der der unmittelbare Druck dazu kam. Die Kluft zwischen George und Mary Meredith war zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr zu überbrücken; die Ehe war insgeheim ruiniert, noch bevor Mary den definitiven Bruch realisierte und skandalös aller Welt sichtbar machte. Es ist merkwürdig; doch obwohl der Biograph Sencourt vorgibt, gerade in den authentisch-intimen, pikanten Details des Lebens seines Sujets bewandert zu sein, weiß er doch anscheinend nichts davon, daß Meredith 1855/56 als Chatterton posierte; in seinen persönlichen Papieren ließ der Dichter davon allem Anschein nach keine Spur zurück. Und da Sencourt sich beim Schreiben seiner Biographie grundsätzlich auf die überlieferten Notizen und Aussagen George Merediths verläßt, so berichtet er nur, die unglückliche Ehe der Merediths hätte sieben Jahre, bis zum Winter 1856, fortgedauert; erst zu Weihnachten dieses Jahrs hätten die Eheleute sich entschieden, sich zu trennen – allerdings vorerst nur für die Festtage. Aber dann (von Sencourt noch unerzählt, doch inzwischen bekannt,) im Sommer 1857 erst der Fortzug Mary Ellens nach Seaford, dann die Zeit mit dem heimlichen Geliebten Wallis507 in den einsam-wilden Landstrichen von Wales;508 und dann, zwei Jahre später, the tragedy reached its height. Mary was now in love with Henry Wallis, a young painter whose work in the Academy had shown some promise of greatness, who had been urging her to elope with him. She had spoken of her intention to her husband. He remonstrated. He admitted that for their lack of unity he had been partly to blame: he recognized the tragic situation: he told her he knew already of her relations with Wallis. “But if you leave our roof,” he said, “you commit an intolerable wrong to yourself and our child: you make yourself an outcast: you are bound to stay.” But she paid no heed.509
Nachdem Mary Meredith ihrem Mann pflichtschuldig ihre Absicht mitgeteilt hatte, ihn zu verlassen; nachdem sie ihm damit zu verstehen geben hatte, sie setze auch ihn frei, sich eine andere Frau zu suchen; nachdem sie schließlich (auch wenn Sencourt das unter den Tisch fallen läßt) von Wallis ein Kind erwartet und im April 1848 geboren hatte – nach alledem konnte nichts mehr sie aufhalten, ihre außereheliche Liebe nun in aller Öffentlichkeit zu leben und Henry Wallis im Winter 1848 nach Capri zu folgen. – Doch ist zu erinnern, daß die Reise nach Capri, anders als es Sencourt und Generationen von MeredithBiographen nach ihm behaupteten, eben kein Akt der kopflosen und unlauteren Leidenschaft war. Wallis „entführte“ Mary Meredith nicht zu ihrer „Ruinierung“, die ja längst geschehen war. Das Paar reiste vielmehr mitsamt seinem 507
508 509
––––––––––––––––––– Man vermutet heute, Wallis sei schon seit „sometime between August 1856 and July 1857“ Mary Merediths heimlicher Geliebter gewesen (siehe Damm: The forgotten Pre-Raphaelite, S. 34). Siehe „The author’s first wife...“. Sencourt: The Life of George Meredith, S. 61-62.
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Kind, der Frucht der „Ruinierung“ Marys, zu ihrer Erholung gen Süden.510 Ein einschneidender Akt in beider Leben, in Mary Ellens und in Wallis’, bleibt die Reise nach Capri gleichwohl. Aber wenn sich die Erholungsreise doch weniger dramatisch-romantisch als die Flucht anhört, ist dieses der rechte Vorverweis darauf, daß das Ende der umruchten Liebesgeschichte – wie so oft bei solchen Legenden – in zwei Varianten zu erzählen ist. Das Ende der Geschichte ist indessen in jedem Fall ein tragisches. Aus Capri kehrte Mary Meredith Anfang 1859 mit ihrem Kind nach England zurück, jedoch ohne Wallis. Die alte Skandalversion der Geschichte will es freilich, daß die kopflose Ehebrecherin von ihrem Verführer nach ihrer Ruinierung fallengelassen worden sei. Fraglos in diese Richtung kreisten die Gerüchte, die fortan durch die Londoner Welt kursierten, Mary zur gefallenen Frau und Henry zum skrupellosen Verführer brandmarkten – vermutlich zu Unrecht: By the time the couple returned from Capri, separately, early in 1859 the scandalous affair – for so it was regarded – was such common knowledge that even Dickens felt it worthy of comment. There were rumours that she and Henry had quarreled and parted, that she had been deserted, but this was not actually the case. They simply opted to live separate but inter-connected lives, in search of a scandal-free future. That this was so is testified too by the lifelong cordial relations between Henry and the Peacock family. Mary Ellen’s few meager possessions were given to him when she died.511
Wallis, nicht Meredith oder Peacock erhielt die wenigen Dinge, die Mary Ellen nach ihrem Tod hinterließ. Denn daß Mary Meredith bald sterben mußte: das ist das unleugbar tragische Ende ihrer Geschichte. Nur wird dieses Ende bei Sencourt so erzählt. Mary sei, von Wallis verlassen, nach England zurückgekommen und habe reuig eine Wiederannäherung an ihren Mann und ihren Sohn Arthur gesucht. Aber mitnichten fand die gesellschaftlich Gebrandmarkte ein Verzeihen oder gar eine Wiederaufnahme im Haus ihres Gatten. Die einzige Unterstützung, die die Ehebrecherin fand, wurde ihr durch ihren Bruder zuteil; dessen Zuwendung genügte indessen nicht, ein ruiniertes Leben vor dem letzten Verfall zu bewahren, und bald nach ihrer Rückkehr nach England erlag Mary Meredith, wie man es damals nannte, dem Wahnsinn.
510
511
––––––––––––––––––– „During the winter of that memorable year [1848] Wallis took Mary Ellen to Capri so that she could regain her failing health“, so Damm: The forgotten Pre-Raphaelite, S. 34. Wallis sollte auch fernerhin an Capri als einem Ort der Erholung festhalten. Nach dem Tod Mary Ellens reiste er mit dem kleinen, kränklichen Sohn Felix, den er fortan aufzog, erneut dorthin; freilich mag ihm Capri auch als Ort des Andenkens an die Verlorene bleibend teuer gewesen sein. Damm: The forgotten Pre-Raphaelite, S. 34. Damm wiederholt damit im Wesentlichen die Argumentation in Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 133; nur fügt Johnson hier noch an, daß Wallis nachweislich nach seiner Rückkehr von Capri eine Wohnung mietete, die als ein „Love Nest“ (ebd.) für ihn, Mary und Felix zu vermuten sei.
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Die andere, heute wahrscheinliche Version ist allerdings die, daß Mary Meredith 1861, mit nur vierzig Jahren, an einem Nierenversagen starb.512 Eine psychische Zerrüttung, die schon bei der Rückkehr von Capri eingesetzt haben könnte, müßte das nicht ausschließen. Doch das fatale Wort des „Wahnsinns“, das die Nachwelt lange Zeit unhinterfragt mit dem Namen „Mary Meredith“ verknüpfen sollte, sprach zuerst George Meredith aus. Meredith, für sein Leben traumatisiert von seinem Verlassen- und Verratenwerden durch Frau und Freund, versuchte die alte Unglücksaffaire um seine erste Ehe nach Kräften totzuschweigen. Als man ihn, den mittlerweile alten Mann, trotz allem einmal darauf ansprach, verbreitete er, Meredith, die Geschichte von Mary Ellens Enden im Wahnsinn. Johnson sieht den Entstehungsaugenblick dieser falschen Geschichte im Gespräch Merediths mit seinem ersten Biographen, dem jungen Cousin S. M. Ellis, wurzeln.513 Auch der Amerikaner Sencourt wiederholt, zehn Jahre nach Ellis, die von Meredith begründete Legende um den Wahnsinn seiner Frau. Nur wundert man sich doch ein wenig, Sencourts Meredith-Biohgraphie lesend, wie klar die Wahnsinnige bei alledem im Kopf gewesen sein muß. Als George Meredith seinem Sohn Arthur erst in den allerletzten Tagen von Marys zerrüttetem Leben erlaubte, die Mutter noch einmal zu sehen, war diese noch so klar im Geiste, daß sie im Sterben das Gedicht aufgesagt haben soll, das sie sich als Inschrift auf ihrem Grabstein wünschte. Freilich stammen die Zeilen nicht von George Meredith, wiewohl sie nicht zuletzt an ihn adressiert gewesen sein mögen; vielleicht stammen sie von Mary selbst: Come not, when I am dead, To drop thy foolish tears upon my grave, To trample round my fallen head, And vex the unhappy dust thou would’st not save. There let the wind sweep, and the plover cry; But thou, go by.514
Die historische Wahrheit, die nun von allen Seiten akzeptiert ist, ist aber, daß Meredith weder von diesen Zeilen, noch vom letzten Wunsch der Frau etwas wissen wollte, die ihn verriet und der er nicht verzeihen konnte. These words were not written above her grave. No words were written. No tombstone marks it. There the power her husband hymned spread undisturbed its incessant vicissitudes of warmth and chill, of bloom and decay. His record of her death was one convulsion of grief, and one shocking cynicism. But her monument will live forever in […] his masterpieces.515 512 513 514 515
––––––––––––––––––– So Damm: The forgotten Pre-Raphaelite, S. 34, sowie Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 145-146. Siehe Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 96-97. Siehe zum Zitat dieses Gedichts Sencourt: The Life of George Meredith, S. 75. Ebd.
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Mit diesen letzten Worten eines traurigen Kapitels will Sencourt ein wenig darüber hinwegtrösten, daß der „Held“ seiner Biographie seiner Frau nicht nur die gewünschte Grab-Inschrift, sondern den Grabstein überhaupt verweigerte. Denn tröstlich sei doch: daß Meredith seine Frau anderweitig verewigt habe, in den Ersatz-Monumenten seiner „Meisterwerke“. Und dieses ist freilich die letzte Pointe, mit der die Skandalgeschichte, die sich um die Entstehung von Wallis’ Chatterton rankt, schließt. Während Mary Meredith 1861 vermutlich an Nierenversagen, doch gewiß allein und geächtet durch die moralische Welt starb; während Henry Wallis für Mary Meredith seinen Ruf und seine Malerkarriere aufgab, nach dem frühen Tod der „Entführten“ ein Leben halb auf Reisen und halb im Sammeln antiker Liebhaberstücke verbrachte, in einer Truhe seines Hauses aber Andenken an Mary Ellen bewahrte516 und seine letzte Publikation dem literarischen Wirken ihres Vaters widmete517; während die Namen „Mary Meredith“ und auch „Henry Wallis“ heute im Grunde vergessen sind – währenddessen wurde George Meredith berühmt. „The nineteenth century draws to a close. George Meredith has become the most famous author of his day.“518 – Wie konnte das geschehen? Eine Ironie des Schicksals wollte es so, daß Meredith sich zuerst als Romanschriftsteller einen Namen, und damit sein Geld mache sollte; der erste Roman, den er schrieb und verkaufte, war aber The Ordeal of Richard Feverel. Dieses Buch schrieb Meredith noch zu Lebzeiten seiner Frau, als diese allerdings bereits mental erkrankt war und der Verbitterte weder sich selbst, noch dem gemeinsamen Sohn erlauben wollte, die „Verräterin“ zu sehen. In dem zeitgleich geschriebenen Roman entladen sich, Sencourt zufolge, Merediths Schuldgefühle und Ängste. Denn es ist die Geschichte, und es ist die Verurteilung der katastrophalen Folgen der fal-
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––––––––––––––––––– Siehe zu dieser Andenkentruhe Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 179; siehe zur Auflistung der überlieferten Andenken ebd., S. 12: „Mary Ellen Peacock Nicolls Meredith [...] survives materially in a lock of hair, a book she owned (The Arabian Nights), a green satin dress, another of ecru embroidery, two parasols to match, a dozen letters, a few articles and poems she wrote, and a book of Extracts in which she copied out things that struck her as she read.“ Ergänzen läßt sich diese Liste noch mit Wallis’ selbstgemachten Andenken, Marys Portrait: „As testament of his love, Wallis kept certain of her [Mary Ellen’s] possessions such as her green gown, matching parasols, some of her writings as well as the present drawing [das 1858 gezeichnete Portrait, siehe Abb. 21] which he left to their son, Felix.“ (Siehe „The author’s first wife...“.) „His [Wallis’s] last publication was apparently the pamphlet ‘Thomas Love Peacock on the portraits of Shelley’. London (Quaritch), 1911.” So Albert van de Put: Henry Wallis, S. 38, nachdem er eine Bibliographie der vordem ausnahmslos kunsthistorischen Schriften Wallis’ vorgelegt hat und ohne eine Annäherung der Namen „Wallis“ und „Peacock“ über Mary Ellen Meredith, geborene Peacock, herzustellen. Johnson: The True Story of the First Mrs. Meredith, S. 184.
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schen Erziehung eines jungen Mannes, den sein Vater, verbittert durch eine böse Lebenserfahrung, zum Frauenfeind machen wollte.519 Aber nicht dieses war das aufsehenerregendste Werk George Merediths. Eine wahre Sensation erregte sein revolutionärstes, sein großes lyrisches Werk: der Sonettzyklus Modern Love, publiziert 1862 und geschrieben im Jahr zuvor, unmittelbar beginnend mit dem Zeitpunkt des Todes Mary Ellens. In Modern Love enthüllt Meredith auf eine den prüden Viktorianismus schockierende Weise die intimen, häßlichen, unmoralischen Hintergründe des Ruins einer Ehe. Es ist der Versuch einer Annäherung an die Position der Frau durch eine Identifikation mit ihr und eine Kritik des Mannes, gemacht aus ihrer Perspektive. Und ein ähnliches Rollenspiel nimmt Meredith noch einmal ein in seinem berühmtesten Reife-Roman, The Egoist von 1879, der in Wahrheit gar nicht den titelgebenden „Egoisten“ Willoughby Patterne zum Protagonisten hat. Eigentliche Protagonistin ist die junge Clara Middleton, die gegen das Dilemma anringt, mit dem zu spät als Egoisten durchschauten und verabscheuten Patterne verlobt zu sein und nun vor der erschreckend lebensbedeutsamen Entscheidung steht, entweder die undenkbare Ehe einzugehen und ihr Leben auf diese Weise zu ruinieren – oder ihr Verlöbnis zu brechen, was für eine Frau ihrer Zeit der Ruinierung ihres „Charakters“, ihres Rufes, gleichkäme. Und in ihrer Bedrängnis keimt in Clara eine paradoxe, da wiederum katastrophal verführerische Hoffnung auf: die Hoffnung auf eine Entführung durch irgendeinen anderen Mann, der auf diese Weise den ersehnten Befreiungsakt für sie, die in ihrer Angst vor dem Ruin Gelähmte, übernehmen würde. – Doch Meredith verarbeitete im Grunde nicht nur in The Ordeal of Richard Feveral, Modern Love und The Egoist seinen eigenen traumatischen Lebenseinschnitt, die Flucht seiner Frau mit seinem Freund Wallis 1858. Bedrohte, wenn nicht ruinöse Liebesbeziehungen zwischen egozentrischen männlichen Figuren und um ihre Seelenfreiheit ringende Frauen ziehen sich als Leitmotiv durch sämtliche von Merediths Werken. Und George Meredith wurde berühmt mit diesen Werken, die aufgrund der Konzentration des Schriftstellers nicht auf die äußere, sondern die psychische Handlung auch als Vorwegnahmen der Erzähltechniken Henry James’ und des modernen Bewußtseinsromanes gelten. So schaffte sich Meredith auch in den USA einen dauerhaft „großen“ Namen;520 Und hier, im Lande der von den Bostoner Roberts Brothers in den 1890er Jahren publizierten „Author’s Edition“ von „George Meredith’s Works“, wird 519 520
––––––––––––––––––– Siehe zu Sencourts Interpretation des autobiographischen Anteils an The Ordeal of Richard Feverel Sencourt: The Life of George Meredith, S. 70-74. Eine Werbung für die Bostoner „Author’s Edition“ der Meredith-Werke (von der gleich oben die Rede sein wird) verdeutlicht die Wertschätzung, die das einstige Modell des Chatterton in den Vereinigten Staaten genoß: „Mr. George Meredith is the greatest English novelist living; he is probably the greatest novelist of our time. He is a man of genius, a literary artist, and truly a great writer.“ (Siehe den Werbeanhang in Meredith: The Adventures of Harry Richmond, S. 546.)
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beim Stichwort „Meredith“ nicht das Bild des verblassenden jungen Chatterton aufgeglommen sein – sondern das goldgeprägte Portrait des gereiften Schriftstellers (Farbabb. 8); oder eines der anderen Meredith-Bildnisse aus anderen Werkausgaben; oder ab 1929 dann das farbige Altersbildnis – eine Kopie einer Andenkenminiatur – aus Sencourts Meredith-Biographie The Life of George Meredith (Farbabb. 9). * Man hätte es den Zeitgenossen Henry Wallis’, George und Mary Ellen Merediths kaum übel nehmen können, wenn sie, dem betonten Moralismus und nüchternen Zweckrationalismus ihrer viktorianischen Epoche zum Trotz, aufgrund eines Wissens um seine unmoralische, leidenschaftliche Entstehungsgeschichte einen besonderen Reiz am Ölbild Chatterton gefunden hätten: Es ist schließlich (und das, ob nun Mary Meredith in Wahnsinn starb oder nicht) eine unglaublich romanhaft wirkende Tragödie, und trotz allem damals wirklich geschehen. Nur konnte 1856 in London oder 1857 in Manchester noch kein Betrachter der Intérieur-Szene mit verblassendem Poeten wissen, daß der Macher des Werks mit der Frau des Modells 1858 nach Capri „ausbrechen“ würde, was den Skandal erst in aller Öffentlichkeit ruchbar machte. 1856/57 konnte noch niemand auch nur erahnen, was zwischen Henry Wallis, Mary Meredith und George Meredith in der Entstehungszeit von Chatterton vorgefallen und noch immer am Schwelen war. Dabei wäre das für den einst wie auch für den jetzt von dem Gemälde Gefesselten der interessanteste Teil der ganzen Skandalgeschichte. Eben dieser intime, geheime Anfangs-Teil aber ging der überlieferten Geschichte eines sich später daraus manifestierenden Ehebruchs und Freundesverrates verloren. Es ist das, was Sencourt, seiner Vorliebe für die Unterbreitung pikanter, intim-authentischer Details zum Trotz, nicht in The Life of George Meredith rekonstruieren konnte, weil ihm jegliche Materialien dazu fehlten; und auch keinem späteren Biographen oder Kunsthistoriker gelang es. So übernahm es Peter Ackroyd, das „schwarze Loch“ im Gewebe des überlieferten historischen Geschehens zu stopfen, mit den Mitteln des Romanciers. Ackroyds drei Zeitebenen verwebender Roman Chatterton spielt in der Gegenwart (des Buchs, um 1987), in der Lebens-, bzw. Sterbenszeit Chattertons 1770 und schließlich in der Zwischen-Zeit 1855/56, der Zeit der Entstehung von Wallis’ Ölbild Chatterton. Und ohne näher auf die Romanhandlungen und ihre Vernetzungen einzugehen, genügt es, den sie verbindenden roten Faden aufzuzeigen: Unter dem Stichwort „Chatterton“ thematisiert der Romanschriftsteller die unklare Grenzlinie zwischen unmoralischer, teuflisch überzeugender, genialer – und, natürlich, zum Geldgewinn hervorgebrachter „Fälschung“ auf der einen Seite, gegenüber moralisch einwandfreier, inspirierend-erhebender – und freilich nicht (primär) zum Verkauf erschaffener „Kunst“ oder „Dichtung“ auf der anderen. Wobei es Ackroyd nicht nur um die „kreative Fälschung“ oder „wahre Kreation“ von Werken der Kunst oder Dichtung geht. Es geht ihm auch um die Fälschung wahrer Erinnerung und Geschichte. Chatterton „fäl-
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schte“ die Poesie, bzw. die pergamentenen Reststücke eines „authentischen“ verlorenen Mittelalters – Wallis aber „fälschte“ seinerseits ein Stück „authentische“ verlorene Vorgeschichte. Wallis „fälschte“ die Vision des Sterbemomentes Chattertons. Und wenn Ackroyd, um die Geschichte dieser „malerischen Fälschung“ zu erzählen, selbst ein Stück „authentische“ verlorene Vorgeschichte „fälscht“; wenn Ackroyd nämlich das fehlende Stück in der alten Skandalgeschichte, den Anfangsteil der ersten amourösen, bzw. konfligierenden Spannungen innerhalb des Dreiecksverhältnisses Wallis - Mary Meredith - George Meredith nachreicht: so tut er also nichts weiter, als sich in seinem Vorhaben vom „Fälscher“ Wallis inspirieren zu lassen – der sich inspirieren ließ vom „Fälscher“ Chatterton. Und damit zur Sache, zum Bild. (Farbabb. 10)
5 Wallis’ Chatterton: Bild des Paradoxen, Spannungsgeladenen Für Eva Badowska ist das mittige 19. Jahrhundert die Zeit einer neuen „commodity culture“521 und eines daran gebundenen Warenfetischismus. Für Christopher Wood ist es die Zeit der Präraphaelitischen Künstlerbewegung; und nicht allein, weil diese jungen Künstler-Rebellen sich nur für die tiefsinnigen, nicht die oberflächlich repräsentativen Dinge interessierten, sieht Wood ihre Kunst, ihrem gewollten Aufbegehren zum Trotz, dennoch als „typisch viktorianisch“: The Pre-Raphaelite movement is a blend of romantic idealism, scientific rationalism and morality. This typically mid-Victorian mixture is, like so much in the Victorian age, full of paradox. How else can one explain a group of artists and intellectuals whose idea of modernity was to paint the Middle Ages? The Pre-Raphaelites were modern and medieval at the same time, and to understand them is to understand the Victorians.522
Henry Wallis malte nicht „the Middle-Ages“. Mit Chatterton malte er eine Szene, datiert auf 1770. Trotzdem schöpft auch Wallis seine „Modernität“ aus seiner „Rückbesinnlichkeit“ – wie auf seine Weise und lange vor Wallis schon Thomas Chatterton. Doch wenn Wallis mit seinem Chatterton nichtsdestotrotz anders als Thomas Chatterton „modern“ ist, nämlich auf eine gegen den Viktorianismus anrebellierende und doch typisch viktorianische Weise: so verdankt sich das nicht zuletzt dem Widersprüchlichen, Paradoxen seines Werkes. Paradox ist Wallis’ Portrait Chattertons in jeglicher Hinsicht. Das Paradox ist das ästheti521 522
––––––––––––––––––– Badowska: Choseville, S. 1512. Wood: The Pre-Raphaelites, S. 12.
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sche Grundprinzip des Werks und der Zündpunkt seines Atmosphärischen, Spannungsgeladenen. * Das erste Paradoxe von Wallis’ Chatterton ist seine Spannung zwischen sakral und profan. Das Paradoxe und somit Spannungsvolle des Bildes beginnt nämlich mit seinem Format, und damit mit der Form und Machart seines Rahmens. Daß dieser hölzerne, mit ornamentalen Schnitzereien verzierte, eigens für das Gemälde angefertigte Rahmen goldfarben ist, betont noch die sakrale Anmutung eines Werkes, das ähnlich einem Altarbild, einer Pietà oder Grablegung Christi mit seinen zur Bogenform abgerundeten Oberkanten und in seinem breiten Format auf die Überwölbung eines liegenden Körpers abgestimmt ist. (Dabei zeigt das Gemälde Chatterton allerdings nicht in Lebensgröße, sondern mißt ohne Rahmen nur 62,2 x 93,3 cm.) Tatsächlich ist die Komposition des Werkes um die Andeutung eines tragenden Kreuzes aufgespannt. Seine Vertikale liegt auf der Mittelsenkrechten des Bildes. In seinem oberen Drittel ist der Kreuzpfeiler gleichsam verkörpert im Mittelstück des zweiflügeligen Fensterrahmens. Das ganze Fenster, sowie der Dachstuhl dieses Intérieurs überhaupt, in dessen Schräge der Fenstervorbau eingelassen ist, ruhen aber wiederum auf einem massiven Holzbalken: ein tragendes Stück der Konstruktion des Hauses, hier aber außerdem ein tragendes Stück der Bildkomposition. Der tragende Balken verkörpert den Horizontalteil des Kreuzes, der diese Komposition aufspannt. Nur daß das besagte Kompositionskreuz noch einmal erweitert ist; denn der Querbalken hat ein „Echo“, eine Doppelung in Form der parallel darunter liegenden Kantenlinie des Bettes, das wiederum etwas trägt: den Körper der Zentralfigur. Daß hier aber von einem Bett die Rede ist und nicht vom Schoße Marias, einer Totenbahre oder einem Altar; daß hier von einer Dachbodenkammer die Rede ist und nicht von einem Kirchen- oder anderweitigen Sakralraum: das läßt das Format des Bildes auch anders erklären. Dieses Werk ist in seiner Breite nicht nur abgestimmt auf den christusähnlich daliegenden Körper in seinem Zentrum. Dieses Werk ist auch abgestimmt auf das Format eines Zimmers, welches gerade so lang ist, daß ein Bett nebst einem runden Tischchen an seinem Fußende hineinpaßt. Und die altarbildähnlich abgerundeten Oberkanten von Chatterton könnten auch ein Echo auf die Dachschrägen des beengten Kämmerchens sein. Nicht nur an ein Sakralbild erinnert Wallis’ Werk inhaltlich und in seinem Format: sondern auch an die „alltagsheilige“, „profan-sakrale“ Bildgattung der Intérieur-Darstellung – die Fixierung des intimen Wohn-Zimmers, in dem der Mensch des 19. Jahrhunderts auch seine teuren Andenken bewahrte. Und diese Intérieur-Portraits sollten selbst dem Zweck des Andenkens dienen, allerdings nicht nur des Zimmers an sich, sondern zudem seines Einwohners,
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dessen Charakterstisches sich hier, in den Dingen des Raumes, gleichsam nach außen vorgestülpt findet.523 Eine Spannung zwischen Andachts- und Andenkenraum, Andachts- und Andenkenbild drängt sich auf – und wird noch durch eine dritte Reminiszenz an eine dritte Bildgattung angereichert, die das Format von Chatterton auch noch suggeriert: Seine Breite, optisch durch den langen, den Dachstuhl tragenden Querbalken betont, erinnert auch daran, daß das Panorama, das man ausschnittsweise durch den Fensterdurchbruch der Dachschräge hindurch sieht, dennoch unsichtbar weitergeht, links und rechts vom Fensterausschnitt. Auch als panoramatische Breite läßt sich das gestreckte Querformat von Chatterton erklären; denn durch das Fenster der Kammer hindurch eröffnet sich die Aussicht auf ein Panorama, das aufgrund der prägnanten Kuppel der St. Paul-Kathedrale unverkennbar ist als die Silhouette des westlichen Holborn – ein Teil von London, der hier, getaucht in verklärendes Morgenlicht, wie ein London-Souvenir anmutet, ein käufliches Reise-Andenken für Touristen. – Allein auf den ersten, entfernten, oberflächlichen Blick auf sein Format und seine groben Kompositionszüge erinnert Wallis’ Chatterton an die drei Bildgattungen des sakralen Andachtsbildes, des „alltags-sakralen“ Intérieur-Andenkenbilds und zuletzt an das profanisierte Andenkenbild, die touristisch käufliche Souvenir-Vedute, hier von einem Stück London. Irgendwo dazwischen scheint sich Wallis’ Werk anzusiedeln – welches allein aufgrund seines Formats und seiner goldenen Rahmung also gemischte und spannungsvolle Erwartungshaltungen in seinem Betrachter hervorruft. Doch tritt dieser näher an das Bild heran: wohin fällt dann zuerst sein Auge? * Das zweite Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Intérieur und Extérieur. “There it is.”[…] He pointed at the title beneath the canvas, “Chatterton. By Henry Wallis. 1856.” But Charles himself did not want to look at the actual body, not yet. Instead he looked out of the window of the garret in Brooke Street, towards the smoking rooftops of London; he examined the small plant upon the sill, with its thin translucent leaves curling slightly in the cold air; he saw the burnt-out candle on the table, and his eye traveled upward along the path of its fading smoke.524
Es ist im Nachhinein schwer rekonstruierbar, welchen Weg das eigene Auge als erstes ging, sich Wallis’ Chatterton annähernd. Wenn Ackroyd indessen in seinem Chatterton-Roman den Betrachter des Ölbildes Charles Wychwood zuerst das 523
524
––––––––––––––––––– Noch einmal sei auf Mario Praz: La Philosophie de L’Ameublement verwiesen, wo der erste Theoretiker des Intérieurs den intimen Wohnraum des späten 18. und vor allem 19. Jahrhunderts als solchen „Spiegelsaal“ der Seele (siehe ebd., S. 19) ergründete; im Rückblick auf Praz, doch mit Blick insbesondere auf die Rolle der Andenken untersuchte ich das Intérieur in: Geraubte Augenblicke, besonders S. 103-225. Ackroyd: Chatterton, S. 132.
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Zentralstück des Körpers „übersehen“ läßt, um tatsächlich darüber hinweg zu sehen – hinaus durch das Fenster auf das morgenlichtene Panorama von Holborn –, so ist diese Verführung des Auges zur Abschweifung in der Tat kompositorisch angelegt. Wallis’ Chatterton suggeriert ein Hinter- oder Ineinander von drei Räumen, von denen die Dachbodenkammer zwar der „zentrale“, zugleich aber auch ein „Durchgangsraum“ ist. Einen zweiten Raum, wie bereits beschrieben, eröffnet dem Betrachter der Blick aus dem Fenster auf das morgendliche Holborn. Der abgeflachte Fußboden und die seitliche Begrenzung des Gemäldes hingegen lassen vermuten, daß der Einblick in das Zimmer durch eine dritte räumliche Öffnung erfolgt, die der Fensterseite gegenüber liegt. Der Bildlogik zufolge, könnte es sich um die Tür-Öffnung des Zimmers handeln, wie Ackroyd vermutet (dazu gleich mehr). Konkreter ist es aber nicht der unsichtbare Rahmen einer fiktiven Tür, sondern der tatsächliche Rahmen des Gemäldes, durch den der Betrachter Einblick in den Bildraum nimmt. So steht er, auf seiner Seite des gemalten Intérieurs, in einem zweiten, anderen Extérieur als dem gemalten des morgenlichtenen Holborn der Fensterseite. Der Betrachter blickt aus dem Extérieur des Kunstwerkes, dem realen Hier und Jetzt als dem Standort seiner Betrachtung hervor. Dabei ist es allerdings augenfällig, daß sein Standpunkt, als der eine Außenraum des gemalten Intérieurs, exakt mit dem anderen, gemalten Außenraum eines Holborn konfrontiert ist, das ewig ein von Morgenlicht beschienenes und zudem historisches Holborn ist. Doch ehe mehr zu dieser Konfrontation von zwei Außenräumen, sowie von zwei verschiedenen historischen Situationen die Rede sein soll, ist zunächst festzustellen, daß das Auge des Betrachters, das durch den Bilderrahmen Einblick in die gemalte Dachbodenkammer nimmt, nicht darin verweilen darf: sondern unverzüglich angezogen wird vom Fenster und hinausgeleitet wird in das „andere“, das gemalte Extérieur von Holborn. Weil das Fenster auf der exakten Bildmitte liegt, dem Betrachter-Standpunkt geradewegs gegenüber; weil zudem das Fenster die Quelle des Lichts ist, wird der erste Blick des Auges zentralperspektivisch auf den oberen Teil der Mittelsenkrechten des Bildes, den Mittelteil des Fensterrahmens, hingeführt und dann daran vorbei, durch die Fensteröffnung nach „draußen“. Denn hier, im oberen, dem Dachstuhl-Drittel des Gemäldes, ist das Fenster das Zentralstück, dem alle Aufmerksamkeit zustreben muß; hier, etwas oberhalb des Betrachter-Blickpunktes, ist alles bestimmt von einer Bewegung: nach draußen, gen Licht. Nicht nur die perspektivisch auf den Fluchtpunkt zulaufenden Linienführungen der Fensternische und des geöffneten Fensterflügels ziehen den Blick mit sich hinaus; auch die welkende Zimmerpflanze, die Rose in ihrem Topf auf der rechten Seite der Fensterbank (als die der das Dach tragende Balken auch fungiert), neigt sich dem Licht zu und so der Öffnung des Fensters; und ein drittes Bilddetail, das die Bewegung nach draußen, empor, gen Licht anzeigt, ist der filigra-
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ne Rauchfaden einer anscheinend soeben erloschenen Kerze, stehend auf der rechten Seite des Zimmers, auf dem runden Tisch am Fußende des Bettes. So strebt alles in diesem oberen Bilddrittel einhellig hinaus, gen Morgenlicht und Panorama von Holborn, das Augen des Betrachters mitziehen wollend – während unterhalb des Querbalkens, der den Dachstuhl und das KompositionsKreuz des Werkes trägt, innerhalb der unteren zwei Bilddrittel und im eigentlichen Intérieur das doch zentrale „Objekt“ liegt: Chatterton. Und dieser Körper, über den das Auge zuerst hinwegsehen möchte, der jedoch barrierenhaft den Großteil der Bildbreite einnimmt, sperrt sich gegen diesen angeleiteten „Fluchtversuch“. Dieser Körper, der etwas unterhalb des Betrachter-Blickpunktes liegt, zu dem man sich folglich in den halbdunklen Raum hinabbeugen muß, anstatt gen Licht und Draußen das Auge zu heben, will und kann dennoch nicht dauerhaft übersehen sein. – * Das dritte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. So lädt Wallis ein zu einer Zeitreise. Denn das Panorama von Holborn, das man durch das Fenster seines Bildes sieht, existierte zu der Zeit von Wallis’ Arbeit an Chatterton 1855/56 noch ebenso wie es schon 1770 existierte (und wie es in seinen wesentlichen Wiedererkennungsmerkmalen, allen voran die Kuppel des St. Pauls-Doms, auch heute noch existiert). Und ob nun der portraitierte Raum tatsächlich Chattertons letzte Wohnung in der Brooke Street 39 war, wie die Legende es behauptet, oder ob Wallis lediglich eine ähnlich alte, als Chattertons Sterbezimmer plausible Dachbodenkammer fand, spielt insofern keine Rolle, als auch diese Innenarchitektur, so wie die Außenarchitektur der Kulisse von Holborn, zu Wallis’ Zeit also noch existierte, ein Teil seiner Gegenwart war, wenn auch zugleich ein Reststück aus vergangenen Zeiten. Das Extérieur von Holborn und der architektonische Rahmen des Bild-Intérieurs, die Wallis malte, konnte er nach präraphaelitischer Manier detailrealistisch „vor Ort kopieren“, weil der konkrete Innen- wie der Außenraum noch gegenwärtig waren. Nicht mehr gegenwärtig hingegen war die Szene, die einst innerhalb des davon übriggebliebenen Rahmens spielte. Hätte der Bildbetrachter von 1856 allein auf das Panorama von London oder die Architektur des Innenraumes von Chatterton geblickt: er hätte glauben können, der Inhalt oder die „Geschichte“ des Bilds sei in seiner eigenen Gegenwart angesiedelt. Was diesem Eindruck widerspricht, sind dann jedoch zwei Dinge: erstens die veraltete Mode, und zwar weniger der grundeinfachen Möbel als vor allem der Kleidung der zentralen Figur; zweitens aber eine relativ exakte, wenn auch halb versteckte Datierung der dargestellten Szene. In der unteren linken Bildecke, just neben einer geöffneten Truhe und halb von Papierschnipseln überdeckt, liegt eine Zeitung; zwischen den Schnipseln bleibt indessen lesbar: „MIDDLEESSEX OR. CHRONICLE“, und dann ein Stück weiter daneben „1770“. –
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Die Bildsignatur des Malers findet sich in der rechten unteren Bildecke: „HWallis, 1856“525. 1856 vollendete Wallis das Werk, das zu malen er eine Zeitreise unternahm. Denn er ließ sich von der „alten Bühne“ eines vergangenen Geschehens (oder zumindest von einer der „Originalbühne“ ähnlichen Kammer) dazu inspirieren, diesen alten Schauplatz mit seinem verlorenen Drama imaginativ wiederzubesetzen. Wallis’ „ergänzte“ malerisch die Bühne eines Dramas von 1770, die 1855/56 noch immer stand (oder zumindest stand noch eine ähnliche) um die ihr verlorengegangenen szenischen Details. Und so wird dem Betrachter der wiederheraufbeschworenen Szene, deren Datum auf der halb verborgenen Zeitung steht, klar, daß das „Draußen“ mit seinem ihm vertrauten Panorama von Holborn zwar seine eigenen Außenwelt sein könnte, es aber nicht ist, sondern ein „anderes“ Extérieur: von 1770. Es ist ein Morgen, der noch nichts davon weiß, daß Chatterton vergiftet ist. Es ist eine Außenwelt, die noch nichts davon weiß, daß ein Dichter sich das Leben nahm – und die historische Wahrheit ist ja, daß auch das Wissen darum diese Welt von 1770 noch nicht sonderlich bewegte. Das aber ist der Unterschied zwischen der einen, der alten Außenwelt, die sich dem Intérieur des Bilds auf seiner Fensterseite anschließt, und dem Extérieur der anderen Seite, der Seite des Einblickes in die Szene durch den Bildrahmen und vom Standpunkt der Gegenwart des Betrachters aus. Wallis läßt diesen Betrachter die Zeitreise unternehmen, zurück in einen Augenblick des Jahrs 1770, den in Wahrheit niemand miterlebte und zur Kenntnis nahm: den Augenblick des Sterbens Chattertons – den Augenblick der Vervollkommnung des Ruins seines Dichterlebens. Doch obwohl Wallis diesen verlorenen historischen Augenblick vergegenwärtigt und den Betrachter von Chatterton dazu einlädt, einen geradezu voyeuristisch-intimen Einblick in die alte Szene zu nehmen – will er doch nicht darüber die eigene Verortung in der Gegenwart von 1856 vergessen lassen. Diese im Verhältnis zu 1770 „zu späte“ Gegenwart muß bald irritierend gegenwärtig bleiben: Sie wird erinnert durch das Signatur-Datum 1856 – sie wird erinnert durch das noch immer aktuelle Panorama von Holborn – und sie wird erinnert durch eine Innenraum-Architektur, die zu Wallis’ Zeiten noch immer existierte. Diese Erinnerungen der Gegenwart, welche die vollkommene Versenkung in die historische Szene stören mußten, mußten aber sein: um die Aktualität der „alten Geschichte“ zu signalisieren. Wäre die altmodische Kostümierung der Hauptfigur nicht, diese Geschichte, die Wallis’ Bild erzählt, könnte eingedenk der „aktuellen“ Aussicht auf das Panorama von Holborn auch 1856 spielen. Und das ist entscheidend: Denn Wallis zeigt in Chatterton also das in seiner Zeit mittlerweile als unglaublich und empörend erachtete Ereignis: daß der junge Poet Chatterton, von seiner Welt verkannt und unbeachtet, Selbstmord begehen konnte, wenn nicht sogar mußte, 525
––––––––––––––––––– „HWallis“ schrieb der Maler in hier nicht nachzuahmender Wahrheit persönlicher: indem er das „H“ mit dem „W“ in ein Zeichen zusammenzog.
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aus lauter Ruin und Verzweiflung. Nur will Wallis diese, freilich etwas besserwisserische, „moderne“ Empörung über eine alte Unrechts- und Opfergeschichte nicht heraufbeschwören: ohne den Hinweis darauf, daß eine ebensolche Empörung 1770 – wie 1856 angemessen wäre: in Bezug auf die noch immer, wenn nicht jetzt erst recht denkbaren Chattertons der materialistischen Welt. * Das vierte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Nähe und Ferne. So lädt Wallis zum unmittelbaren Einblick, ja gleichsam zum Eintreten in die Schlußszene eines ruinierten Dichterlebens von 1770 ein – und verwehrt zugleich den Eintritt. Eine Annäherung an Chatterton soll sein, doch eine Annäherung nur bis zu einem gewissen Grade. Eine Vergegenwärtigung des Sterbemomentes von 1770 soll sein, aber nicht, ohne sich so gänzlich darein zu vertiefen, daß darüber der eigene Standpunkt einer Betrachter-Gegenwart, damals von 1856, restlos in Vergessenheit geriete. Konkret ist es der Rahmen des Werkes, der die Möglichkeit eines blicklichen und imaginativen Eintretens in eine Szene der Vergangenheit eröffnet und zugleich daran erinnert, daß das vergegenwärtigte Intérieur trotz allem ein „anderer“, ein Bildraum ist; doch nicht nur der Rahmen lädt zur Annäherung ein und hält zugleich auf Distanz. Die zentrale Figur der Intérieur-Szene, Chatterton, hat innerhalb ihres Bilds noch einen zweiten Rahmen. Wo mag der fiktive Betrachter-Standpunkt angesiedelt sein, aus dessen Perspektive sich die Aussicht auf Chatterton eröffnet? Ackroyds Interpretation ist die, daß man als Betrachter des Gemäldes in die Rolle eines ersten Entdeckers des Körpers schlüpfe und ihn von dessen Standpunkt aus, vom Türrahmen der soeben geöffneten Kammer, erblicke. Seinem Roman-Wallis schwebt, Chatterton malend, die Einnahme eben dieses Betrachterstandpunktes vor: Wallis was now [in Gedanken] entering the room with the others and at once he could see how the slanting rays of the early sun brushed the body of Chatterton, how the guttering candle had been snuffed out by their entrance and how, in the sudden draught, the scattered papers drifted uneasily across the floor.526
Doch in welcher fiktiven Betrachterposition auch immer man sich befinden soll: von hier aus sind es nur noch wenige Schritte bis ans Bett mit dem bleichen Körper, ein Weg, der zwingend vor einem liegt, da jeder Schritt nach vorn geradewegs auf Chatterton zuführen müßte, das zentrale Objekt des Zimmers und so auch des Interesses. Ein unwiderstehlicher Sog nach vorn, zu Chatter526
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 156. Obwohl Wallis’ Chatterton in eine Reihe von Kunstbänden aufgenommen ist, reduzieren sich die Analysen des Werks stets auf nur wenige oberflächlich bleibende Sätze. So ist es tatsächlich alleine Ackroyd, der im Gewand eines Roman-Geschehens eine ausführliche und tiefergehende Interpretation des Bildes anbietet, die dementsprechend von der Kunsthistorikerin Prettejohn wissenschaftlich ernst genommen und rezipiert wurde (siehe Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 195).
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ton, wird hier suggeriert – und zugleich ein Zwang zum Innehalten: Obwohl der Weg zum Dichterbett offen vor einem liegt, ist er schließlich andeutungsweise verstellt – durch die schräg gen Laufweg gestellte geöffnete Truhe der linken unteren Bildecke gegenüber dem Stuhl, der auf der rechten Seite gleichfalls abweisend, mit seiner Rückenseite zum Betrachter dasteht, während die darauf getürmte rote Jacke die Barriere noch massiver, voluminöser und augenfälliger macht. Die Truhe, der Stuhl, aber noch einige andere, kleinere Dinge, die auf dem Boden vor dem Bett liegen, versperren den direkten leibhaftigen Zugang, stehen dieser körperlichen Annäherung im Wege – den zu beschreiten doch vorerst nur dem Auge alleine verbleibt. Aber auch dieses Auge ist damit dazu aufgefordert, seinen Weg durch dieses Intérieur des Bildes tastend vorzugehen, tastend wie die Füße eines körperlichen Eindringlings in den Raum es tun müßten, um nicht über die auf dem Boden verstreuten Dinge zu stolpern: Denn diese liegen teilweise halb verborgen, schlecht sichtbar im Schatten. Und da, wo der Schatten im Intérieur, auf seinen Dingen und auf seiner zentralen Figur liegt, verschwimmen die Konturen und Details der Objekte, die dem Auge im Gegenteil dort übermäßig plastisch greifbar sind, wo das gelbliche Licht des Morgens, wie Ackroyd es sagt, über sie hinweg „bürstet“ („at once he could see how the slanting rays of the early sun brushed the body of Chatterton”). Anders als die Begründer der Präraphaelitischen Brüderschaft, konfrontiert Wallis nämlich nicht mit einem Bild des Lichts und der dadurch hervorgehobenen, fast über-realistischen Überfülle allerorts gleich scharf hervorstechender Details. Chatterton ist zwar auf der präraphaelitischen weißen Grundierung gemalt, und noch hier leuchten die daraufgesetzten Objekte gleichsam von innen heraus. Aber dieser Effekt ist hier um so frappierender, als der Bildraum zum größeren Teil beschattet und dunkel ist. Es ist eine finstere Dachbodenkammer, wenn auch ein Strahl schrägen, gelblichen Morgenlichts durch die noch gelblicheren Fensterscheiben und den einen Spalt ungefilterter Fensteröffnung hindurch in die Kammer hinein und hinterrücks über sein zentrales Objekt, den daliegenden Körper, streift. Ausgerechnet dessen Gesicht ist jedoch dem Morgenlicht abgewandt – und obwohl man die Antlitzzüge im Schatten noch sieht, sieht man sie nur unscharf, verschwommen. Diese weiche Unschärfe ist in ihrem Effekt „schön“, wenn nicht beschönigend – und doch will man im Unscharfen genauer sehen; und da sind noch mehr Dinge, die in Schatten und Unschärfe liegen und die man gerne genauer erforschen würde. – Bis in das letzte Bilddetail spielt Wallis damit, Dinge im Licht zu enthüllen oder von Schatten zu verhüllen – Objekte und Details plastisch greifbar zu machen oder selbst dem behutsam tastenden Auge noch in letzter Konsequenz entgleiten zu lassen. Wallis spielt damit, Dinge und Sachverhalte zu vergegenwärtigen, erinnern, zu klären – oder sie, sie erinnernd, als Unschärfen der Vision vorzuenthalten. Wallis präsentiert Chatterton – und verhindert die volle Annäherung auf aufreizende Weise. Man kommt an seinen Chatterton, bei aller Einladung, es zu
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tun, dennoch nicht bis in unmittelbarste Nähe heran. Denn nicht nur von seinem Bildrahmen ist Chatterton umringt und damit zugleich ausgeliefert und vorenthalten. Innerhalb des Bild-Intérieurs liegt erstens der Schatten wie ein schützender Schleier auf dem halb dunkel und ungeklärt bleibenden Geschehen. Außerdem aber ist der offen daliegende Körper noch einmal von einem Binnenbereich des Intérieurs eingefaßt: dem Raum, der durch die geöffnete Truhe, den Stuhl und weitere, kleinere, zwischen Bett und unterem Bildrand verstreute Objekte von seinem Eingangsbereich abgegrenzt ist. Der Zugang zu Chatterton steht einladend offen – und ist doch aufreizend versperrt; das tastende Ansehen ist erlaubt, ja angeregt – aber die leibhaftige Annäherung, die Berührung durch die Hand, ist innerhalb der Logik oder „Geschichte“, in die der Betrachter als Finder Chattertons, hineinschlüpft, verboten. Und so ist das von Wallis gemalte Intérieur noch einmal Erinnerung an einen Sakralraum und Wallfahrtsort, der Körper ist noch einmal Erinnerung an einen aufgebahrten Christus oder eine Heiligenreliquie. Das besondere an der Innenraumarchitektur von Sakralgebäuden, die berühmte Reliquien von Heiligen bewahren, ist nämlich, daß sich in ihnen der Wallfahrtsweg des Pilgers noch einmal symbolisch verdichtet wiederholt. Der Wallfahrer muß noch einmal durch das Innere des Kirchenraums pilgern, er muß hier noch einmal Umwege machen, die ihn zwar zuletzt an das Heiligtum heranführen – es ihn jedoch niemals unmittelbar haptisch berühren lassen. Wiewohl die Mühe des Wegemachens das Bedürfnis des Pilgers nach der letzten Belohnung, der Annäherung an die Reliquie, nur mehr und mehr steigern muß, ist es Teil ihrer Aufbewahrung, Präsentation und Logik, am Ende nicht unmittelbar berührbar zu sein, sondern vor der profanisierenden Anrührung tabuisiert zu bleiben. [D]ie Pilger, die nach der offensichtlichen ‚Therapie der Distanz’ einer lange Reise am Ziel ankamen, fanden sich der gleichen Therapie durch das Wesen der Kultstätte selbst nochmals unterworfen. Der Effekt der ‚umgekehrten Größen’ schärfte das Gefühl der Distanz und des Verlangens, indem er die langen Verzögerungen der Wallfahrt im kleinen nochmals zur Geltung brachte. Denn die Kunst der Heiligtümer [...] ist eine Kunst geschlossener Oberflächen. Hinter diesen Oberflächen lag das Heilige, entweder völlig verborgen oder nur durch Öffnungen zu erblicken. Die Undurchsichtigkeit der Oberflächen erhöhte das Bewußtsein einer – in diesem Leben – letzten Unerreichbarkeit jenes Menschen, den zu berühren man über so weite Strecken gepilgert war.527
So beschreibt Peter Brown eine „Kunst der Heiligtümer“, die im 19. Jahrhundert aus dem Bereich des sakralen Wallfahrtsorts in den eines modernen, profanen Wallfahrtsorts eingewandert war: in das in England seit der Romantik so beliebte Dichterwohnhaus-Museum – „Schrein“ der Reliquien oder Andenken
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––––––––––––––––––– Brown: Die Heiligenverehrung, S. 87-88.
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des darin gelebt habenden oder gar darin gestorbenen Genies.528 Und wenn Chattertons Sterbezimmer zu der Zeit, in der Wallis seine Vision davon malte, mitnichten zum Museum geworden war, ja noch nicht einmal in seiner konkreten Verortung in Holborn definitiv rekonstruiert war, rechnete Wallis doch darauf, daß seine Zeitgenossen die Reize eines solchen musealen Andenkenraumes „verstehen“ würden. Nur konfrontiert er nicht mit einer Vision des Zimmers, wie es als Museum von 1856 hätte aussehen können. Wallis reist in der Zeit zurück – und hält seinem Bildbetrachter mit dem Sterbezimmer von 1770 einige „Reliquien“, oder genauer die Reststücke einer ruinierten Dichterexistenz vor, die 1856 nicht mehr existieren – und darum, als „heute“ verlorene Reststücke, nur um so fesselnder sind. Allen anderen voran natürlich das hauptsächliche Reststück, der Körper des Ruinierten – zur Annäherung verlockend und doch unerreichbar fern. Die sich abweisend dem Eindringling in den Wege stellende Truhe, der dem Bettbereich auf der anderen Seite schützend vorgelagerte, flankierende Stuhl – sie halten dem Dichter seinen fiktiven Betrachter, der gleichsam im Türrahmen der Kammer steht, vom Leibe. Und auch bildkompositorisch rahmen Truhe und Stuhl (und einige weitere kleine Dinge) den Körper des Poeten schützend, als Rahmen innerhalb des Bildrahmens: eine Funktion, die dadurch noch einmal betont ist, daß die schräg in die unteren Bildecken gestellten Möbelstücke diese Kanten kompositorisch abrunden, entsprechend zur tatsächlichen Abrundung der oberen Bildecken. So aber liegt Chatterton in einer Art ellipsenförmiger Blase – oder auch wie unter einer jener konservierenden Glasglocken, unter denen die Viktorianer so gerne ausgestopfte bunte Vögel, getrocknete Blumen oder andere mit Erinnerungen aufgeladene Reststücke aufzubewahren pflegten.
6 Bild der aufgeladenen Dinge oder Bruchstücke des Ruins Das fünfte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie. But Charles himself did not want to look at the actual body, not yet. Instead he looked out of the window of the garret in Brooke Street, towards the smoking rooftops of London; he examined the small plant upon the sill, with its thin translucent leaves curling slightly in the cold air; he saw the burnt-out candle on the table, and his eye traveled upward along the path of its fading smoke; he turned his head slightly towards the wooden chest, lying open, and then he started to count the torn
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––––––––––––––––––– Siehe zur Idee und zum Geburtsmoment der Dichterwohnhäuser-Museen noch einmal Holmes: The Romantic Poets and Their Circle, S. 14.
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pieces of paper which lay scattered across the boards of the floor. And, at last, he looked at Thomas Chatterton.529
Wenn Charles Wychwood aus Ackroyds Chatterton-Roman nicht sofort auf Chatterton sehen will – der doch das zentrale „Objekt“ des nach ihm benannten Gemäldes von Wallis ist –, so gibt Ackroyd seiner Figur zwar auch einen persönlichen Grund für seine Scheu: Der verkannte junge Dichter weiß insgeheim um sein Kranksein und fürchtet deshalb, sich selbst im verblassenden Chatterton gespiegelt zu sehen. Aber hier fällt die persönlich gewollte Verzögerung des Augenkontaktes zu Chatterton „zufällig“ mit den Verzögerungen zusammen, die Wallis selbst in seinem Bild anlegte. Denn der erste Blick auf Chatterton würde bestrebt sein, aus dem zentralen Kammerfenster im oberen Bilddrittel hinauszusehen und emporzusehen auf das morgenlichte Holborn. Dieser erste Blick wäre bestrebt, über den zentralen Körper hinwegzusehen, der auch zu weit unten liegt, unterhalb der BetrachterBlickhöhe und hier außerdem großteils im Schatten. – Und trotz allem ist der zentrale Körper nun einmal eben das: das zentrale Objekt des Bildes, das sich als solches dem Übersehenwerden auf lange Sicht sperrt. Nur wird der Betrachter, der einmal in die Fiktion des Bilds eingestiegen ist und sich im Eingang zur Kammer wiederfindet, sein Auge dann aber wiederum nicht ungehemmt auf das Bett und das darauf Liegende lenken. Er wird nach unten blicken, zum Boden, wo seine Füße ihren Weg finden müßten, um zum Objekt der Anziehung und doch auch der Abstoßung, zum schrecklich blassen Poeten zu gehen. Verdächtig schwer hängt zudem dessen Arm herab, vom Bett mit der Faust bis auf die Dielen des Zimmers; und auch dieser mit dem Auge freilich bereits gestreifte Arm sorgt dafür, den Blick erst recht nach unten zu ziehen zu dem, was zwischen dem Betrachterstandort im Türrahmen und dem Raumzentrum des beengten Kämmerchens liegt. Und das sind einige Dinge, die um Chatterton herum auf dem Boden liegen – und die es verhindern, das Chatterton zum zentralen Ruhepunkt des Auges würde. Denn während das zuerst anziehende Fenster im oberen Bilddrittel das eine Ziel aller hiesigen Bewegungen ist – die welkende Blume neigt sich diesem Fluchtpunkt zu, der Rauch der Kerze, der Fensteraufsatz der Dachschräge selbst reckt sich nach draußen; während der erste Blick auf das Bild dazu angeregt ist, diesen sich in einer Ausrichtung konzentrierenden Bewegungen zu folgen: so muß er, wenn er sich dann doch dem darunterliegenden, eigentlich Zentralen zuneigt, zum zerstreuten Blick werden. Das Auge muß hier, in den zwei unteren Bilddritteln, springen. Es muß hin und her springen zwischen dem, was im mittleren Bilddrittel liegt, oberhalb der Kante des Bettes, auf dessen Oberfläche, und dem, was darunter liegt, im Bodenbereich des Intérieurs. Derart abschweifen, wieder und wieder vom Zentrum zur Peripherie, vom zentralen Ding zu den dezentrierten Objekten des Raumes, muß das Auge erstens, weil es 529
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 132.
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durch sichtbare und angedeutete Kompositionslinien dazu verführt ist, zweitens, weil die Farben echohaft aufeinander Bezug nehmen, und drittens, weil sich der Betrachter einem detektivischen Abtasten der verstreuten Dinge widmen muß: Denn sie sind ihm die einzigen Hilfsmittel oder Schlüssel, um sich Klarheit über den Zustand dieses Intérieurs und insbesondere seines Einwohners zu verschaffen. * Das sechste Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Ordnung und Unordnung. – Der erste Blick auf Chatterton mag, kompositorisch dazu verleitet, nach draußen streben, durch das geöffnete Fenster – und doch spürt er zugleich den Widerstand des Körpers, der ihn einer Barriere gleich wieder in das untere Zimmer zurückzieht. Der zweite Blick mag auf den Boden gehen, den Bereich der Schrittdistanz, die noch zwischen Chatterton und Betrachter liegt – und doch erhöht das nur noch mehr die Spannung auf den hauptsächlich anziehenden, vielleicht noch immer flüchtig aus dem Auge, doch nie gänzlich aus dem Bewußtsein verlorenen Verblassenden. Und daß dieser junge Mann derart bleich ist, derart verdächtig entspannt in eigentlich ungemütlicher Lage daliegt – mit Kopf, Schulter und einem schweren Arm hinuntergerutscht von der Bettkante –, das mag wohl den argen Verdacht schüren, daß die Ruhe dieses Menschen nicht bloß die Ruhe des Schlafs ist – ? Aber was ihm geschehen ist: mehr davon zu erfahren, versprechen einem die Dinge. Was mit diesem Chatterton in Ordnung oder eben nicht in Ordnung ist, spricht aus der Ordnung, bzw. Unordnung des Raumes; in dieser Unordnung der Dinge des Raums steckt nämlich eine vergangene Handlung, eine Geschichte. Die Dinge des Raumes sind, weil sie in Unordnung liegen, aufgeladen mit dieser Geschichte, welche die Geschichte Chattertons sein muß, der selbst unordentlich liegt, halb von seinem Bett hinabgeglitten. * Das siebte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Kreuz und Ellipse. Denn wo beginnt diese Geschichte, die Wallis’ Ölbild Chatterton erzählt? – Im Grunde beginnt sie damit, daß die Komposition des Gemäldes einerseits durch eine erweiterte Kreuzfigur aufgespannt ist. Sein Vertikalpfeiler wird ein Stück weit verkörpert durch den Mittelteil des Fensterrahmens auf der Mittelsenkrechten des Bildes, die gesamte Vertikale wird aber durchkreuzt von einer verdoppelten Horizontalen, dem tragenden Dachbalken sowie der parallelen Bettkante des den Körper tragenden Bettes. Andererseits ist die zweite kompositorische Grundfigur, die die erste des erweiterten Kreuzes überlagert, jedoch die Ellipse. So ist das Zentralstück des Werkes, Chatterton, von der Bildoberkante mit ihren abgerundeten Ecken halbbogenförmig überspannt, nach unten hin aber in dem Halbbogen umschlossen, den die Truhe und der Stuhl dem Bild selbst als Abrundungen seiner unteren Kanten einzeichnen. Doch Chatterton liegt nicht nur wie elliptisch umschlossen – Chatterton selbst figuriert diese
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Form: und figuriert somit eine Zentralfigur, die nicht zentral sein will, sondern die Umschließung einer „leeren Mitte“. Chatterton selbst liegt da als Verkörperung der Ellipse: Sein Leib beschreibt, von seinem Haupt, das links vom Bett hinabgerutscht ist bis zu seiner Fußspitze, die rechts die Matratze um weniges überragt, eine zur Hüfte aufsteigende, dann wieder abfallende Bogenlinie. Sie korrespondiert mit der Linie der Bildoberkante, die den gebogenen Körper überwölbt. Nach unten hin aber hängt der von seinem Lager herabgefallene Arm wiederum in sanftem Bogen, parallel zur Linienführung der geöffneten Kiste, die kompositorisch die linke untere Bildkante abrundet. Aber weil Chattertons schwerer Arm nur der Bogenansatz zu einer unteren Halbellipse des Körpers ist, öffnet er dem Auge, das an ihm hinabgleitet, den Blick für die Dinge, die rechts von der zusammengeballten Faust auf dem Boden liegen: etwas unterhalb dieser Faust, beschienen von Licht, eine Phiole; dann, noch weiter rechts davon, im tiefsten Schatten des Bettes, ein Schuh. Von diesen beiden Dingen ist der Körper nach unten hin umringt und damit andeutungsweise zur Ellipsenform ergänzt; ehe er weiter außen noch einmal umlagert ist (von links nach rechts) von der Truhe, der dabei liegenden, von Schnipseln bedeckten Zeitung und dann von dem Stuhl und seiner daraufgetürmten roten Jacke. Von hier aus geht der „Ring der Dinge“ um Chatterton indessen noch weiter: Er führt, gegen den Uhrzeigersinn, über den runden Tisch am Fußende des Bettes mit seiner erloschenen Kerze (und weiteren Dingen) entlang des Kerzenrauchs bogenförmig zurück zur Topfpflanze im Fenster: zurück zu dem Fenster also, mit dem der erste Blick, das erste „Anlesen“ des Bildes, begann. Doch obwohl die Dinge des Bild-Intérieurs im Bogen um den selbst elliptisch gebogenen Körper Chattertons angeordnet sind und eine rotierende „Lesebewegung“ gegen den Uhrzeigersinn suggerieren, verhindert etwas das ungestört Dahinfließen dieser „Leserichtung“: und das ist die Farbe. * Das achte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Licht und Schatten, warm und kalt. But as he watched that absolute white drying slowly on the canvas he could already see ‘Chatterton’ as a final union of light and shadow: the dawn sky at the top of the painting, softening down the light to a half-tint with the leaves of the rose plant unturned to reflect its grey and pink tones; the body of Chatterton in the middle of the painting, loaded with thicker colour to receive the impact of that light; and then the coat of Chatterton, thrown across the chair, and that he would need Tyrian Purple for the string colour of the breeches. But these powerful shades would stay in delicate contrast to the cool colours beside them – the grey blouse, the pale yellow stockings, the white of the flesh and the pinkish white of the sky. These cooler colours would then be revived by the warm brown of the floor and the darker brown of the shadows across it; and they, in turn, would be balanced by the subdued
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tints of the early morning light. So everything moved towards the centre, towards Thomas Chatterton.530
So beschreibt Ackroyd – in Form einer Vision seines Roman-Wallis, was einmal auf dem „absoluten Weiß“ seiner Bildgrundierung erscheinen werde – eine Symphonie der Farben des Bildes: wo Licht- und Schatten-, warme und kalte Töne subtil aufeinander abgestimmt sind, wo diese Farben durch das Ganze des Bildes pulsieren, über den zentralen Körper hinaus- und von ihm fortwellen und dennoch am Ende wieder zu ihm zurückführen. In der Tat ist das Spiel der Farben, des spannungsvollen Kontrasts zwischen Licht und Schatten, warmen und kalten Tönen in delikaten Abstufungen schon für sich alleine genommen ein wesentlicher Träger der Atmosphäre des Bildes; aber daß die Farben innerhalb des Werks Verbindungen schaffen, Kompositionsfiguren, die die Grundformen des erweiterten Kreuzes und der Ellipse noch einmal überlagern: dieses reichert das Spannungsvolle von Chatterton noch einmal auf andere Weise an. Chatterton ist mit einer einerseits reduzierten Farbpalette gemalt, sehr nahe an der Konzentration auf die reinen Grundfarben Rot, Blau und Gelb. Reich ist das Bild aber an Abstufungen der verwendeten Rot-, Blau und Gelbtöne, die nur noch um die Mischtöne Braun und Grün sowie ein wenig Schwarz ergänzt sind. Diese machen die kälteren wie die wärmeren Farben in sich noch einmal blasser oder kräftiger, kälter oder wärmer. Im Ganzen überwiegt jedoch das Kühle der Farben, ein wiederholter Kontrast von mattem Gelb und einem ins Violett gehenden Blau – welches bereits dem Rosa-Rot verwandt ist, das trotzdem warm aus dem Kühlen hervorsticht; der hervorglühendste Farbton ist aber das Rot von Chattertons Haar. Um nämlich auf die dinglichen Träger der Farben zu kommen, und zuerst mit Chatterton selbst: Dieser liegende Chatterton ist in seiner Haltung, wie schon gesagt, der Christusfigur einer Pietà ähnlich. Das bedeutet allerdings, daß das Interessanteste, Charakteristischste der Figur – ihr Antlitz – nicht auf der Mittelsenkrechten und auf Augenhöhe des Betrachters zu sehen ist. Chattertons interessantes Gesicht ist dezentriert, zu weit links und zu weit unten. Weil das Gesicht trotz allem der interessanteste Blickpunkt des Chatterton-Portraits sein muß, wird das Zuviel an Gewicht, das zu sehr nach links unten gerutscht ist, indessen durch zwei weitere stark augenfällige Punkte ausbalanciert: Die Topfpflanze am Fester markiert den obersten, die auf dem Stuhl aufgetürmte Jacke den untersten Punkt einer Dreieckskomposition, deren Spitze links – auf mittlerer Höhe zwischen Topfpflanze und Jacke gelegen – Chattertons Gesicht und Haar ist. Denn was Topfpflanze, Jacke und Gesicht verbindet, ist die Farbe Rot. Doch wenn man genauer hinsieht, ist es gar nicht ein Farbton, der drei Partien des Bilds miteinander korrespondieren läßt, über jegliche Kreuz- oder Ellipsenlinien der Komposition hinweg. Innerhalb des Dreiecks der roten Dinge kann man wiederum zwei Querverbindungen ausdifferenzieren. Das 530
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 164.
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wärmste, glühendste Rot entströmt Chattertons Haaren und findet sich in bräunlicherer Abmilderung im irdenen Topf der Zimmerpflanze wieder. Diese welkende Rose indessen ist rot mit einer Beimengung von blau, ein kälteres Rosa – wie die Jacke, unten auf dem Stuhl, deren im Schatten liegende Partien noch stärker in das kältere Violett hinübergehen. – In den Farbton von Chattertons Hose, in deren vom Morgenlicht beschienenen Falten scheinen wiederum das Rosa der Jacke und der Blume auf. Und noch mehr ist in diesem Bild rosa, und exakt im Farbton der Blume, nur blasser: Das glühende Rot von Chattertons Haaren wirkt noch kräftiger durch den Kontrast zu Chattertons bleicher, mit bläulichem Schatten überzogener Gesichtsfarbe – die dennoch nicht gänzlich „erkaltet“ ist. Eine Spur von Inkarnat findet sich noch, und gerade aufgrund der Sensibilisierung für die Rosafarbe der Blume und der Jacke, auf Chattertons Lippen und Wangen.531 * Das neunte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung von Wachsen und Welken. – Die Topfpflanze am Fenster ist das einzige „lebendige Ding“ um Chatterton; alle weiteren Objekte dieses Intérieurs sind „tot“, leblose Gebrauchsgegenstände. Die Pflanze jedoch lebt, sie strebt aus ihrem irden-rötlichen Topf empor gen Licht, ist vielleicht auf ihrer Suche nach Licht mit der einen Blüte so gestreckt nach oben gewachsen. Nun allerdings welkt sie. Vier Blütenblätter hat sie schon verloren; drei davon liegen flach auf dem als Fensterbank fungierenden, den Dachstuhl tragenden Balken; ein einzelnes Blütenblatt hält sich, ein wenig oberhalb der anderen, auf der schmalen Liegefläche der hölzernen Einfassung des Fensterglases. Die Rose welkt – während das rosenrote Inkarnat Chattertons hinschwindet, dieses sichtlich jungen, kaum zum Mannsein erblühten Knaben. Doch wenn Chatterton im Zuge seines Welkens freilich nicht „blumenähnlich“ seine Haare verliert – die hier vielmehr, in glühendem Rot und reicher lockiger Fülle, der Inbegriff einer restweisen geistigen Energie zu sein scheinen, eines etwas dämonisch-unbändigen Innenlebens –, so entflossen diesem Innenleben die Schriften, die nun zerfetzt sind. Chattertons Haare fließen förmlich in den Erguß seiner Geistesenergie hinüber, hinein in jenen reichen Schatz der Schnipsel, welche die geöffnete Truhe am Kopfende des Bettes beinahe füllen. Nur hat der Wind, der vielleicht als morgendliche Brise durch das geöffnete Fenster eindringt oder vielleicht der Durchzug ist, der sich dem Öffnen der Zimmertüre verdankt, einen Teil dieser zerrissenen Handschriften aus der Truhe hinaus geweht. Nun liegen sie, korrespondierend zu den Blättern der 531
––––––––––––––––––– Am Rande muß ich an dieser Stelle auf ein Problem hinweisen. Chatterton ist in seiner Farbgebung derart delikat, daß eine hundertprozentige Bildreproduktion nicht möglich ist. In jedem Katalog sieht Chatterton farblich anders aus, und auch die in diesem Buch vorliegende Reproduktion kann nicht authentischer sein als andere. So entlehne ich meine Betrachtungen zur Farbe dem Studium des Originalbildes in der Tate Gallery selbst – anhand dessen das, was aus der vorliegenden Reproduktion vielleicht schwerlich ersichtlich ist, zu überprüfen wäre...
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welkenden Rose auf ihrem Fenstersims, auf dem Boden am Fuße der Truhe, wo die Manuskriptblättchen eine Zeitung zum Teil überdecken. Der „MIDDLEESSEX OR. CHRONICLE“ von „1770“ – Eingeweihte in Chattertons Geschichte mochten wissen, daß der Jungdichter in dieser Zeitung publiziert hatte. Denn Chatterton hatte einmal etwas von seinen Manuskripten verkauft – er hatte einmal Geld dafür erhalten; und wer es nicht aus dem Kenner-Hinweis der Zeitung erlesen konnte, die Chatterton einmal für seine Beiträge bezahlte, konnte es erschließen aus des Dichters Kleidung; begonnen mit seiner kräftig rosenroten Jacke. * Das zehnte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen reich und arm. – Das Rosarot seiner Jacke „beißt“ sich nämlich dezidiert mit Chattertons Haarfarbe: Chatterton ist, wie es scheint, eine schillernde Persönlichkeit – oder ist es gewesen. Das Rosarot der Jacke hat aber auch etwas Nobles an sich, Könige kleideten sich einst in kostspielig-purpurroter Farbe, und in der Tat ist, bzw. war auch des Jungdichters Jacke ein teures repräsentatives Kleidungsstück. Sie war es – denn nun ist diese Jacke mit dem fast golden glänzenden Innenfutter in ihrer samtähnlichen Außentextur sichtlich verschlissen. Die drei großen metallischen Knöpfe am Umschlag des Ärmels verraten ihrerseits noch das Stattliche des Kleidungsstücks – dem nun der Faden unterhalb des rechtesten Kopfes, da, wo sich die Naht des Ärmelumschlags auflöst, widerspricht. Diese Jacke war einmal ein glänzendes Kleidungsstück – nun ist sie weitgehend ruiniert. Und ein ähnlicher Zustand, eine ähnliche Geschichte des Verschleißes und Ruins, spricht auch aus den weiteren Kleidungsstücken eines offenbar eitlen, extravagant-pompösen und stolzen, doch verarmten Eigners. Ob das fein-gefältelte graue Hemd Chattertons noch ganz sauber ist, ist in seiner „Befleckung“ durch gelbliches Morgenlicht und bläuliche Schatten nicht deutlich erkennbar; jedenfalls wurde es anscheinend gewaltsam aufgerissen. Die purpurblaue, glattschimmernde Hose hingegen sieht noch intakt aus – wenn auch faltengefurcht, infolge ihres Getragenseins auf einem Lager, das hier allerdings kein Lager einer nächtlichen Ruhe gewesen zu sein scheint. Mit den gelblichen, vielleicht seidenen Strümpfen des jungen Mannes ist es entsprechend, auch sie sitzen nicht tadellos, sondern verrutscht an den Beinen; der Schuh, den der Dichter am linken Fuß noch trägt, ist aber seinerseits ein schnallengezierter, feiner Schuh gewesen – aber nun ist er gezeichnet von den tief in das Leder eingegrabenen Kerb- und Wölbspuren einer langen und intensiven Abnutzung. Der zweite Schuh hingegen ist schwerlich in seiner Beschaffenheit zu untersuchen. Er ist überhaupt erst zu suchen, da er dem Liegenden nicht mehr am rechten Fuß steckt: Der zweite Schuh liegt am Boden, nur matt glänzt seine ornamental verzierte Silberschnalle aus dem Dunkel des Schlagschattens des Bettes hervor. – Und gerade dieser Schuh ist seltsam. So schnell rutscht doch kein Schuh von einem Fuß? Der andere, beleuchtete Schuh am linken Fuß des liegenden Körpers ist mit seinen Abnutzungsspuren Hinweis auf die vergangene
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Lauf- und Lebensbewegung seines Trägers; doch der gefallene rechte Schuh ist Hinweis auf eine Bewegung, die mit Laufen nichts mehr zu tun hatte. * Das elfte Paradoxe von Chatterton ist die Spannung zwischen Ruhe und Unruhe. Denn liegt der rechte Schuh nun ganz ruhig im Schatten vor dem Bett, ist er eben trotzdem Hinweis auf eine Bewegung, eine gewesene Unruhe. Und wenn überhaupt alle reglosen Dinge dieses Intérieurs in ihrem Ausdruck mehr Unruhe als Ruhe stiften; wenn sie nämlich alle mit der Geschichte eines Geschehens aufgeladen sind, die das Bild erzählt und die die Geschichte des Geschehens eines Ruins ist: so sind diese Bruchstücke, die vom Ruingeschehen übrig blieben, also durch die Behandlung aufgeladen, die sie erfuhren. Die Objekte des Bilds wurden benutzt und bewegt durch Chatterton; und diese Bewegung und das, was sie bedeutete, ist zwar vergangen; doch ist sie aus der Beschaffenheit und Position der Dinge noch abzulesen. Denn diese Position der Dinge im Raum ist unordentlich – also außer-ordentlich; und aus jeder Unordnung spricht die Bewegung einer Benutzungsgeste, deren Spur nicht rückgängig gemacht wurde. So erzählt die rosarot-prächtige, aber ruinierte Jacke des Jungdichters nicht nur die Geschichte ihrer kontinuierlichen Abnutzung durch die Lebensbewegungen ihres Trägers. Die Jacke ist außerdem unordentlich auf den einzigen Stuhl des Zimmers hingeknäult – vermutlich wurde sie in Eile, Gleichgültigkeit oder Ungeduld hingeworfen, jedenfalls mit einer vehementen Handbewegung auf dem Stuhl plaziert. Die Papierschnipsel auf der anderen Bildseite waren ihrerseits einmal beschriebene Seiten, Papier bedeckt mit der Tintenspur der schöpferischen Schreiberhand – doch wurden sie von derselben Hand zerstört, zerrissen, sind nur noch ruinierte Manuskripte: Reststücke der Bewegung einer Selbstzerstörung des Schreibers in seinen Schriftstücken. Und insofern darf es nicht erstaunen, wenn außer den Papierschnipseln, die jetzt nur noch vom eindringenden Luftzug bewegt werden, noch anderes auf dem Boden liegt. Da liegen auch noch eine leere, unverpfropfte Phiole; weiter rechts daneben ein Schuh; und diese Dinge sind Hinweise auf die Bewegung, die oben, auf dem Bett, stattfand. Chatterton liegt, nun in Entspannung – aber offenbar ist die Pose das Endresultat einer Anspannung, einer Art Kampf. Denn in diesem Bett schlief Chatterton in der vergangenen Nacht nicht. Unbenutzt, ohne Abdruckspur des Kopfs ist das Kissen, und der Angekleidete liegt auf, nicht unter dem Deckbett. Die auf dem Bett ausgebreitete Tagesdecke, auf der der Körper aufliegt, ist jedoch ihrerseits, wie Chattertons Kleidung, unordentlich verschoben. So daß es so aussieht, als wären das übrigens unbequem anmutende532 Knotenmuster des 532
––––––––––––––––––– Chattertons Aufliegen auf der mit Knötchen verzierten Tagesdecke mutet unbequem an: und auch Ackroyd mag daran gedacht haben, als er seinen Roman-Meredith beim Einnehmen seiner Chatterton-Pose auf einen Störfaktor, einen drückenden roten Kopf, stoßen ließ; man denke zurück an Ackroyd: Chatterton, S. 138: „Meredith settled more deliberately on the bed,
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festgewobenen Stoffes, sowie das Spiel der Falten, zu denen die Decke aufgeworfen ist, Hervorbringungen eines Körpers, der sich hin und her wälzte auf dieser Tagesdecke, die er damit verzog. Um aber endlich von den peripheren Dingen auf diesen Körper selber zu kommen, der nun so still dazuliegen scheint wie seine leblosen Dinge und in dessen Ruhe doch wiederum die Spuren der vergangenen Unruhe aufscheinen: Nicht nur hat dieser nun so schön ruhig Daliegende vordem, in heftiger Bewegung, einen Schuh verloren; auch sind die Finger seiner linken Hand noch immer in den Stoff des Hemdes gekrallt, das sie offenbar aufrissen – wie um seinem Träger Luft zu schaffen. Wie gewaltsam dieses Aufreißen war, verraten noch die Kratzspuren, die sich von dort, wo das Hemd einmal geschlossen war, dunkel über die bläulich beschattete weiße Haut der Brust ziehen, bis dorthin, wo noch immer die Nägel der zusammengekrampften Finger aufliegen. Die andere Hand aber, die Hand, die fiel, liegt nun ihrerseits still, wenn auch noch immer zur Faust zusammengeballt auf dem Boden. Und das Seltsame an dieser geballten Faust ist: Da sie im tiefsten Schlagschatten des Bettes liegt, ist sie in eine bräunliche Färbung getaucht, die dem warmen Braunton des Bodens ähnelt. So wirkt diese rechte, in den Schatten hinabhängende Hand folglich – obwohl sie ebenso in Krampfhaltung erstarrt zu sein scheint wie die linke, in das Hemd gekrallte – trotzdem anders. Die Hand, die das Hemd aufriß, liegt nun marmorweiß-erstarrt da, vom Morgenlicht grell beschienen. Die Hand, die sich im Schatten zusammenballt, überzogen mit einer Farbtönung von warmem Braun, wirkt dagegen weder marmorhaft, noch kalt – und wirkt daher so, als ob sie gar nicht auf Dauer erstarrt wäre: Die Wärme ihres Farbtons will beinahe eine Wärme dieser Hand suggerieren – und damit die Möglichkeit, daß sich diese Hand noch immer energisch zusammenballt, nicht in Zusammenballung erstarrt ist und schon erkaltet – ? Doch ob sie noch aktiv ist oder nicht mehr – eine knappe Schuhlänge von der braunrötlich-geballten Faust entfernt liegt, dieser arbeitenden oder gearbeitet habenden Hand entglitten und im Schwung ihrer Bewegung beiseitegerollt, jenes Fläschchen, das die Lösung dieser Frage auf Leben und Tod enthält, die Lösung auf diese Rätselfrage, ob Chatterton lebend oder tot ist: Denn dieses Fläschchen enthielt das Gift, das Chatterton, wie jeder, der die Legende kennt, wissen muß, zu sich nahm; dieses Fläschchen ist bereits leer, und deshalb kamen die Giftkrämpfe. * Das zwölfte Paradoxe von Chatterton ist schließlich die Spannung zwischen Leben und Tod und Nachleben. – Denn Chatterton starb in der Nacht des 24. August 1770 an Arsen und Opium. An diesem historischen Sachverhalt kann kein Zweifel bestehen. Doch selbst, wüßte man dieses Datum, wüßte man sogar ––––––––––––––––––– and at once felt something digging into his back. ‘Did you ever read,’ he asked, ‘the story of the princess and the pea?’ He got up for a moment, and found a small red button lying on the sheet beneath him.”
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die Legende Chattertons nicht – von Beginn an müßte man angesichts von Wallis’ Ölbild eines allzu bleich und unbequem daliegenden Chatterton doch den schrecklichen Verdacht hegen, daß dieser junge Mensch nicht nur in einem tiefen Schlaf versunken ist. Und wirklich verrät sich seine Befindlichkeit – und das heißt seine Geschichte, die ihn bis zum Schlußpunkt der präsenten Befindlichkeit brachte – aus den Dingen dieses Intérieurs; und diese Dinge verraten also, daß Chattertons Geschichte die eines Ruins ist, der zuletzt in einem Todeskampf gipfelte, einer körperlichen Verkrampfung, die etwas zu tun haben mag mit der kleinen, bräunlichen, leeren Phiole am Boden, nahe der noch zur Faust geballten rechten Hand. Chatterton starb in der Nacht des 24. August 1770 an Arsen und Opium; an diesem historischen Sachverhalt kann kein Zweifel bestehen, und Wallis zeigt Chatterton also in dem Moment – in dem er soeben gestorben ist. Denn auf dieses „soeben“ verweist nicht nur die schon leere Phiole. Auf dieses „soeben“ verweist auch, und vielleicht gar vor allem, die erloschene Kerze. Die Rede ist von dem ersten der bislang vernachlässigten Dinge, die auf dem runden Tischchen am Fußende des Bettes stehen, würde man dieses Bild wie ein Buch lesen, also ganz klar am Ende der Geschichte: am rechtesten Bildrand. Und wiewohl das Auge des Betrachters von Chatterton die Geschichte, die dieses Gemälde erzählt, nicht so einfach gleitend von links nach rechts durchliest, sondern das Auge auf den Spuren farbiger Verbindungen springt oder an diversen elliptischen Kompositionslinien entlanggleitet, konzentriert sich trotzdem auf dem runden Tisch tatsächlich noch einmal das letzte Fazit, die letzte Pointe des Gesamtwerkes. Denn hier steht also die Kerze, die erloschen ist; es kann nicht lange her sein, ein schwacher Rauchfaden zieht noch nach oben, gen Fenster. Und freilich gibt Ackroyd dem Ausgehen der Kerze einen kausalen Grund: ein Luftzug habe sie gelöscht, entstanden in dem Augenblick, in dem ein erster Finder – in dessen Rolle und Blickperspektive der Betrachter von Chatterton schlüpft – auf den vergifteten Poeten stößt.533 Aber diese Begründung für das Ausgehen der Kerze, die ohnehin heruntergebrannt war und bald ausgebrannt wäre, sperrt sich nicht der parallelen Lektüre, die erloschene Kerze auch als ein altvertrautes Symbol für das Erlöschen des Lebens zu sehen. Die nicht mehr brennende, nur noch einen gen Fenster strebenden Rauchfaden entströmende Kerze – die wiederum gen Licht und Höhe gestreckte, doch welkende Rose – die leere Phiole auf dem Grunde des Bodens – schließlich die unbequeme, unnatürlich entspannte, halb vom Bett geglittene Haltung des daliegenden Körpers, sein blasses und bläulich umschattetes Gesicht, seine zerkratzte Brust, sein verlorener Schuh, seine wie noch immer im Krampf erstarrten Hände: aus alledem spricht der letzte Ruin 533
––––––––––––––––––– Man denke zurück an Ackroyd: Chatterton, S. 156: „Wallis was now [in Gedanken] entering the room […] and at once he could see how the slanting rays of the early sun brushed the body of Chatterton, how the guttering candle had been snuffed out by their entrance and how, in the sudden draught, the scattered papers drifted uneasily across the floor.“
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des Dichters, Chattertons anscheinend erst soeben erfolgter und trotzdem vom Entdecker der Leiche nicht mehr rückgängig zu machender Tod. Und so konzentriert sich die volle Tragik des Bildes noch einmal mit Blick auf den fast schwarzen Tisch und die Dinge, die beinahe unsichtbar darauf liegen, weil sie in ihrem Schwarz von dem Dunkel der Tischplatte so gut wie verschluckt sind. Es sind ein Tintenfaß und eine Feder. Vignys Chatterton hatte keinen anderen Arbeitsplatz als seine Knie, sein Bett; Wallis’ Chatterton aber verfügte über die, wenn auch bescheidene, Arbeitsfläche seines runden Tischchens. Daher steht hier der Kerzenhalter: weil der Poet sein einziges Licht zum Schreiben brauchte. Arbeitend saß er auf dem Stuhl, auf dem nun die daraufgeworfene Jacke liegt. So finden sich auf diesem Tischchen auch die einzigen Blätter, die Chatterton nicht zerfetzte: weil es blanke, weiße Bögen sind. Zwei Stück sind es; der eine liegt noch ordentlich neben der Feder, der zweite scheint von der Zugluft bewegt worden zu sein und ist halb heruntergeglitten von der Tischplatte, auf der er jedoch immer noch liegt, noch nicht zu Boden gefallen ist. In der Tat scheint der Luftzug der einzige Unruhestifter gewesen zu sein, der die Dinge auf dem Tischchen nur ein wenig in Unordnung brachte; denn die Feder liegt ganz ordentlich direkt neben dem Tintenfaß, zwischen Schreibpapier und Kerzenhalter; dieses Schreibzeug liegt so ordentlich da: als würde es jetzt noch seine Wiederbenutzung erwarten. Und das ist die letzte Tragik, der schmerzlichste Gedanke des Bildes: dieses Schreibzeug, das innerhalb der sonstigen Unordnung des Zimmers so seltsam ordentlich und wie erwartend da liegt, wartet umsonst. Dieses weiße Papier wird nicht mehr mit schwarzer Handschrift überzogen werden, diese Feder rührt keine der Hände mehr an, die im Krampfe erstarrt sind. „[N]ever was the moral of a wasted life better pointed in painting“534, so schrieb nicht umsonst der Kunstkritiker Taylor im Jahr 1857, anläßlich des Sensationserfolges von Chatterton und vielleicht eingedenk von Ruskins kunstökonomischer Idee: daß künstlerische Talente zu entdecken und staatlich zu fördern seien, um nicht verschwendet zu werden.535 Denn die Verschwendung eines Lebens wird hier in der Tat zelebriert und angeprangert: wo der Verlust Chattertons nicht nur als der Verlust dessen vergegenwärtigt wird, was der Poet bereits geschrieben hatte, jedoch selber zerstörte. Noch schmerzlicher ist der Verlust, die Verschwendung eines zu jung gekappten Dichterlebens eingedenk dessen, was Chatterton nicht mehr schrieb, aber hätte schreiben können. So wäre dieses, wie Taylor es sagt, die letzte Moral des Gemäldes: die „Moral eines verschwendeten Lebens“? Doch ist die schmerzliche Vergegenwärti534 535
––––––––––––––––––– Siehe Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144, wo die Verfasserin zitiert aus Taylors Handbook to the Gallery of British Paintings, London 1857, S. 112. 1857 hielt Ruskin die Vorlesungen, in denen er seine kunstökonomischen Gedanken entwickelte, die er anschließend publizierte unter dem Titel: The Political Economy of Art, being the Substance (with Additions) of Two Lectures delivered in Manchester July 10th and 13th, 1857.
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gung des verschwendeten und verlorenen Dichterlebens tatsächlich schon die Moral? Oder ist es nicht vielmehr das letzte Fazit der Geschichte, die die Dinge des Bildes erzählen, während die Moral aus diesem Fazit noch zu erschließen bleibt? – Ehe zu erörtern ist, was diese Moral hinter dem Fazit der Geschichte eines ruinierten und verschwendeten Dichterlebens konkret wäre, ist allerdings noch etwas anderes zu bedenken: Die letzte Pointe ist nicht das vergebliche Warten des Schreibzeugs auf seinen toten, der Welt verlorenen Benutzer, sondern die, daß dieser für tot zu haltende Benutzer, trotz allem, so befremdend untot erscheint. Die Rose im Fenster ist zwar am Welken, und doch noch am Leben. Das eine Blütenblatt, das sie verlor, liegt noch auf der hölzernen Umfassung der Fensterscheiben, ist noch nicht ganz hinuntergefallen auf das Fenstersims, wo schon drei weitere Blütenblätter liegen. Der eine der zwei blanken Schreibbögen auf dem runden Tisch ist nur halb davon hinabgeweht, noch hält er sich. Chatterton ist halb von seinem Bett gerutscht, nicht ganz, nur eine seiner Hände berührt den Boden – und ist dort, in ihrem durch den Schlagschatten bedingten warm-bräunlichen Farbton, merkwürdig lebendig zusammengeballt, nicht marmorweiß wie die andere, beleuchtete, das Hemd zweifellos reglos umkrampfende Hand. – Die entleerte Phiole am Boden, die erloschene Kerze: sie deuten wohl darauf hin, daß Chattertons Sterben „soeben“ geschah. Und doch spricht ein „noch nicht“ aus dem nur halb gefallenen Blüten- und dem in entsprechender fragiler Schwebe hängenden Papierblatt; ein „noch nicht“ spricht auch aus der merkwürdig energetischen Rotbrauntönung der Faust am Boden; ein „noch nicht“ – oder ein „noch immer“? – Ist Wallis’ Chatterton noch restweise am Leben? Ist er soeben am Sterben? Verblaßt er noch, starb aber im just vergangenen Augenblick? – Daß der Tod im Intérieur des Poeten präsent ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Trotzdem merkwürdig ist das Nachleben Chattertons, das Wallis suggeriert. Denn selbst, wenn der Dichter soeben erloschen sein sollte, mit seiner Kerze: so wäre sein Geist vielleicht seinem Körper entwichen, nicht aber dem Raum. It is a new day that Chatterton will never see, his brief life embodied in a single rose that already sheds its petals on the window sill. From a dying candle set on a table in the corner, a fine wisp of smoke floats towards the open air, a symbol of the young man’s departing spirit.536
Julia Thomas sieht Chattertons entweichende Seele mit dem Rauchfaden der Kerze gen Licht und Draußen entschweben, doch noch immer auf dem Wege dorthin, weshalb sie noch immer in Chattertons Intérieur restweise präsent sein muß. Und in der Tat lebt in diesem architektonischen Innenraum (und so vielleicht auch im mentalen Innenraum des Dichters, noch etwas von Chattertons Geiste ?): in der Unordnung der Dinge lebt Chattertons vergangene Bewegung 536
––––––––––––––––––– Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 85.
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und Geschichte echohaft nach; was aber zudem noch immer lebendig pulsiert, ist die Farbe. Von der an sich reduzierten Palette der Farben, die jedoch in sich subtil abgestuft ist und mal ins Wärmere, mal ins Kältere geht, war bereits weiter oben die Rede. Tatsächlich ist es so, daß etwa das Purpurblau von Chattertons Hose verblaßt wiederzufinden ist im Ton der Silhouette von Holborn, in den beschatteten Partien der rosaroten Jacke, in den Schattenflecken auf jeglichen Dingen des Bildes überhaupt. Das Gelb des Morgenlichts tönt oder verstärkt wiederum die grau-gelbliche Farbe des Hemds des Poeten, seiner Strümpfe, der Tagesdecke seines Bettes, vertieft sich im warmen Braun des Holzbodens; lichtgrün sind die Blätter des Rosenstocks, dunkler grünlich die Gardine, die links neben dem Fenster hängt; rosa sind die Blütenblätter der Rose, wie die Jacke auf dem Stuhl, wie das verblassende Inkarnat des Dichters, wie noch das schmale Stoffband, das den Deckel der Truhe mit den zerrissenen Papieren offen hält – wärmer rötlich ist schließlich der irdene Blumentopf, eine gemilderte Abwandlung des glühendsten Farbton des Bildes: dem Farbton von Chattertons Haaren. Die Grundfarbtöne von Wallis’ Gemälde, die nicht einmal, sondern wieder und wieder in diversen Schattierungen an verschiedenen Stellen der Leinwand auftauchen, pulsieren rhythmisch durch das Bild, das gerade darum, aufgrund des Eigenlebens seiner Farbgebung, ein unruhiges, ein lebendiges Bild Chattertons ist. Und in diesem lebendigen Pulsieren der Farben des Bildes erkennt Ackroyd wiederum eine tendenzielle Ausrichtungsbewegung, auf den Punkt des Gemäldes zu, „loaded with thicker colour to receive the impact of that light“:537 So everything moved towards the centre, towards Thomas Chatterton. Here, at the still point of the composition, the rich glow of the poet’s clothes and the brightness of his hair would be the emblem of a soul that had not yet left the body; that had not yet fled, through the open window of the garret, into the cool distance of the painted sky.538
Alles farbige Pulsieren führt zuletzt auf die Mitte des Bildes zu und auf den Körper Thomas Chattertons, seine „reich glühende“ Kleidung – und „the brightness of his hair“. Und in der Tat scheint sich gerade in diesem Haar alles Nachleben Chattertons zu konzentrieren, scheint daraus auch mitnichten zu entweichen wie der Rauch der Kerze aus dem Zimmer: denn das Haar bleibt. Das Haar bleibt, das heißt: es behält seine Farbe und verfällt nicht, schneidet man es ab und konserviert es, wie es in der Zeit des Viktorianismus gang und gäbe war. Schmuck aus Haaren, Bilder aus gemahlenem, geflochtenem, gewobenem, gedrehtem Haar oder, ganz einfach, die abgeschnittene Locke: Das menschliche Haar schien zum Andenken prädestiniert, nicht nur, weil es nicht verging, sondern auch, 537 538
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 164. Ebd.
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weil das Haupt-Haar dem Kopfe entsproß, wie die Gedanken, so daß man ihm eine charakteristische, geradezu spirituelle Qualität anhaftend glaubte.539 Gerade im Haar schien das Wesentliche, die geistige Essenz des Menschen wie in keinem anderen Teil seines Körpers materialisiert und enthüllt; und auch Chattertons Haupthaar meint man, über das Erlöschen der Kerze hinaus, ein eigentümliches Nach- oder Eigenleben von Chattertons Geiste „abzulauschen“. Denn Chattertons Haar lebt: nicht nur aufgrund seiner fast unheimlich lebendig aus dem dämmrigen Zimmer aufglühenden rostroten Farbe. Es lebt auch, weil es wild ist, gelockt und lang und reich in seiner unfrisierten, ungebändigten Masse. Und wenn auch eine Strähne vor das linke Ohr des allzu blassen Gesichtes gefallen ist, wo sie zu kleben scheint im kalten Schweiß des Todeskrampfs, trotzdem scheint sich alle Farbe und alles Leben, das Chatterton noch in sich hat, in seinem ein wenig dämonisch aufleuchtenden roten Haar zu konzentrieren und mit diesem Haar nachzuglühen im Raume.
7 Bruchstück und Andenken der alten Ruingeschichte, aufgeladen mit der Seele Chattertons – und mit einer doppelten Moral Chatterton, die zentrale Figur des gleichnamigen Bildes von Wallis, liegt in seinem ihn nach oben hin bogenförmig umschließenden Rahmen, in seinem den Körper präsentierenden und abschirmenden Intérieur, ähnlich da wie unter einer jener Glashauben, unter denen die Viktorianer ausgestopfte Tiere, getrocknete Blumen oder andere Überbleibsel und Reliquien mit Andenkenwert zu konservieren pflegten. Diese Erinnerungsstücke muteten dann zugleich tot und lebendig an; es waren tote Dinge, denen ihre „spirituelle Aura“ oder Andenkenanmutung ein etwas unheimliches Nach-Leben oder Eigenleben verliehen. In Wallis’ Gemälde ist es nun mit Chatterton genauso: und in diesem Intérieur – von dem die Legende besagte, Wallis habe es vor Ort gemalt, in Chattertons Sterbezimmer und wohl inspiriert vom Geiste des Jungdichters, der diesem Memorialraum nie ganz entwich –, in diesem authentischen oder authentisch wirkenden letzten Intérieur Chattertons liegt ein vom Tode gezeichneter und doch noch nicht vom Tode entstellter Körper, von dem man sich niemals sicher sein kann, ob er noch restweise lebt oder soeben gestorben ist oder gestorben ist und dennoch nachlebt.
539
––––––––––––––––––– Siehe zu den Haar-Andenken des 19. Jahrhunderts etwa Holm: Intime Erinnerungsgeflechte; Ananieva und Holm: Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit, besonders S. 170-172, Richter: Trauer verkörpern; sowie Tiedemann: Haar-Kunst.
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„‘Forgive me, my dear, but I cannot move. I am the dead or dying poet.’“540 – Nicht zufällig stellt sich Ackroyds Roman-Meredith, der soeben für seinen Freund Wallis posiert, seiner Frau vor als „der tote oder sterbende Poet“. Ackroyds Wallis selber favorisiert aber den Glauben an das Nachleben des soeben gestorbenen Chatterton. Für ihn ist sein Gemälde „mit Chattertons Seele“ „aufgeladen“, die nun zu ihrem Andenken darin fortpulsiere: And Wallis knew then that it [das Werk] had indeed been infused with the soul of Chatterton – a soul not trapped but joyful in its commemoration, lingering here among the colours and forms before escaping through the window which Wallis had left open for it.541
Und mag dieser Glaube an Chattertons Nachleben im Gemälde Chatterton, den Ackroyd Wallis selbst zuschreibt, sich auch nach einem mystischen Aberglauben anhören –die Schürung eben dieses Glaubens oder Aberglaubens ist von Wallis’ Werk selbst durchdacht angelegt. So gibt der Maler nicht nur Detail-Verweise auf das Gestorbensein und auf das trotzige Lebendigsein des Jungpoeten, so daß die Rätselfrage nach seinem Lebendigkeitsgrad unlösbar bleibt. Außerdem ist das irritierend uneindeutige Werk noch einmal zusätzlich als Andenken, Auffangbecken und Motivator eines Nachlebens Chattertons ausgezeichnet, durch seinen Rahmen. „Cut is the branch that might have grown full straight / And burned is Apollo’s laurel bough.“ Dieses Zitat aus Marlowes Dr. Faustus ist dem goldenen Rahmen von Chatterton auf seiner Unterkante eingeschrieben. Die Präraphaeliten pflegten des öfteren, ihre Werke auf literarische Zitate zu beziehen. Diese Zitate sollten dann gerade nicht die Moral in Klartext übersetzen, die „nur“ die Ding- und Farbdetails des Bildes „erzählten“. Die Zitate sollten das An-denken der nonverbal suggerierten Moral noch intensivieren durch Zugabe eines „Rätselspruchs“, der auf die Botschaft der Dinge abzustimmen war. So sollten die präraphaelitischen Œuvres stets in den gehobenen, bewegten, romantisierten Gemütszustand des An-denkens eines verborgenen Tiefsinns versetzen – nicht aber in das Andenken im Sinne des Wiedervergegenwärtigens einer vergangenen Kultfigur, mochte dieser und ihrer Geschichte auch wiederum eine moralische Botschaft abzugewinnen sein. Doch eben diesen „Umweg“ des Andenkenlassens einer Moral über das Andenkenlassen der Kultfigur Chatterton und ihrer Geschichte geht Wallis und markiert sein Werk also zum Gedenkbild, indem er ihm die Bildunterschrift oder Memorialinschrift gibt: „Zerschnitten ist der Zweig, der hätte wachsen können in voller Geradheit / Und verbrannt ist Apollos Lorbeerkranz.“ Dieses Zitat wiederholt in anderer Ausdrucksweise das eine Fazit des Bildes, das aus der verwaisten Dichterfeder nebst dem blanken Schreibpapier spricht: Der Verlust Chattertons ist nicht nur der Verlust dessen, was Chatterton bereits 540 541
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 140. Ebd., S. 170.
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geschrieben hatte, aber eigenhändig zerriß; der Verlust Chattertons ist auch der Verlust dessen, was Chatterton noch hätte schreiben können – wäre sein eben erblühtes Dichterleben nicht zerschnitten. Und daß der verblassende Chatterton im welkenden Rosenstock widergespiegelt ist, macht die Verbindung zum zerschnittenen Zweig des Zitates, der nicht mehr „full straight“ emporwachsen wird, noch manifester. Auf der anderen Seite wiederholt das Zitat des Bildrahmens aber auch das letzte Fazit des Bildes: daß Chatterton, obwohl er tot oder so gut wie tot sein muß, trotzdem merkwürdig nachlebt. Denn mit dem Zweig aus Marlowes Vers, sowie mit Apollos Lorbeerkranz ist es doch genauso: Wäre der Zweig nicht zerschnitten, der Kranz nicht verbrannt – es hätte keinen Grund gegeben zur elegischen Klage. Es hätte keinen Grund gegeben, an den Zweig und den Kranz zu erinnern. Erst mit der Zerstörung, dem Schnitt oder dem Verbrennen, setzt ein merkwürdiges Nachleben ein: das Nachleben des Verlorenen in seinem Andenken. Mit Marlowes Zitat als Motto seines Bildes erinnert Wallis nicht nur dessen schmerzlichste Botschaft: Chatterton ist tot, zu früh in seinem Dichterleben gekappt. Mit Marlowes Verszeilen erinnert Wallis auch an die Zerstörung, die für den Beginn einer Produktion von Erinnerung steht. Die zweite, tröstliche und trotzige Botschaft seines Werkes ist mithin: Weil Chatterton zu früh starb, lebte und lebt er noch immer fort in seinem Andenken. Und freilich ist es so, daß dieses Andenken nicht nur eine, sondern gar zwei moralische Botschaften hat. * Daß Chatterton zu früh starb, ist schließlich Endresultat der Geschichte seiner Ruinierung. Es ist wahr, daß die Schuld an diesem Ruin von Wallis mitnichten so klar und anklagend ausgesprochen wird wie von Vigny in seinem Drama Chatterton. Dennoch spricht die pietà-ähnliche Pose von Wallis’ Chatterton für sich und verbietet es, dem Poeten selbst die Schuld an seinem „Wahnsinnsakt“ zu geben, wie manche gegen den unmoralischen Selbstmörder und seinen unmoralischen Maler aneifernde Kunstkritiker es seinerzeit tun wollten.542 Wallis’ Chatterton ist christus-, ist somit märtyrer- und sündenbockähnlich; und das weist seiner Außenwelt die Schuld an der Verzweiflungstat des Selbstmordes zu – jener Außenwelt, die den Poeten offenbar verkannte und verhungern ließ und die zum Zeitpunkt seines unbemerkten Sterbens unbeteiligt im kühlen Morgenlicht daliegt. Aus diesem Grund geht Ackroyd so weit, mit seinem Roman-Wallis dessen gemalte Poetenkammer als Symbol oder „Emblem“ seiner Welt zu interpretieren, also einer Welt, die zwar im Gewande von Chattertons alter Zeit gezeigt ist, die jedoch Wallis’ eigene gegenwärtige Welt versinnbildlicht: „This garret he had painted had become an emblem of the world – a world of darkness, the 542
––––––––––––––––––– Siehe noch einmal die Bild-Kritiken, die Parris zusammenstellte in: The Pre-Raphaelites, S. 144.
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papers scattered across the floor its literature, the dying flower its perfume, the extinguished candle its source of light and heat.”543 Es wäre eine „Welt der Dunkelheit“ und des Verfalles, eine dekadente und ruinierte Welt, die das Intérieur um Chatterton symbolisieren würde: eine Welt der verloren in ihren Fragmenten über den Boden hinwehenden Literatur, des Duftes einer sterbenden Blume, der erloschenen Licht- und Wärmequelle einer Kerze. Es wäre eine Welt der ruinierten Dinge – aber eine Welt der Dinge, des Materiellen, trotzdem: denn sollte Wallis in der Sterbekammer seines materiell und seelisch ruinierten Chatterton seine eigene gegenwärtige Welt portraitiert haben, wäre es eine zu materialistisch und deshalb dem Poeten feindlich gewordene Welt gewesen. So würde in dieser Vision der dunklen, ruinösen, materiellen, den Opfertod des Poeten heraufbeschwörenden Welt durchaus eine Sozialkritik schlummern – nur eine Sozialkritik, die nun gänzlich auf den Entwurf eines Gegenbildes, eines Konzeptes, wie es besser zu machen wäre, verzichten würde. Thomas Chatterton selbst bot noch ein solches Restaurierungskonzept seiner schon von ihm als ruinös und poetenfeindlich erachteten Merkantilwelt von 1768/69 an; Vigny konzentrierte sich 1834/35 darauf, zuerst die Gemüter und von dort die Gesellschaft der John Bells zu bewegen – wenn er dem auch nur einen einzigen konkreten Vorschlag zur Vorbeugung des Ruins gegenwärtiger und künftiger Dichter anfügte: den Vorschlag eines staatlich geförderten Dichterstipendiums. Wallis jedoch verzichtet 1855/56 ganz auf konkrete verbale Aufforderungen oder aus seinem Bild resultierende Entwürfe, wie seine ruinös-materialistische Welt, die vielleicht im ruinierten Intérieur symbolisiert ist, zu verändern wäre; innerlich anrühren will er den Betrachter seines Chatterton gleichwohl – doch auch nicht mehr wie noch Vigny zu einer Selbstkritik und einer weniger passiven Einstellung zum materialistisch geprägten Leben bewegen. Wallis will vielmehr mit Chatterton das Gemüt bewegen und geistig erheben: indem er der schmerzlichen Botschaft seines Werkes noch eine zweite, trotzige und tröstliche – eine im Keim resignierte Moral anfügt. Man mag Chattertons dunkles, verfallendes Intérieur als das latent kritische Symbolportrait einer Welt der ruinösen Dinge lesen – oder man mag das Andenkenzimmer Chattertons lesen als eine Utopie. Denn die Welt dieses Zimmers, in der der Dichter Chatterton ruiniert stirbt aus lauter Verzweiflung, ist bedrückend-düster – und erhebend, da subversiv-trotzig zugleich. Es ist eine Welt, in der der Poet aufgrund seines Märtyrertods weiterlebt, seltsam nachlebt, über das Hinsterben seines Körpers hinaus. Es ist eine Welt, in der die unsterbliche, etwas dämonisch untote Dichterseele des rothaarigen Genius triumphiert über den Verfall des Dinglich-Materiellen. Es ist eine Welt, in der Chatterton aufgrund seines Todes lebendig wiederaufersteht: aufgrund seines Angedachtwerdens durch den Bildbetrachter.
543
––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 170.
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Chatterton ist ein Märtyrer, Opfer, Sündenbock einer materialistischen Welt, die den Poeten als solchen verkannte und in der Verkanntheit sterben ließ; dieses ist die erste, nur wortlos angedeutete, halb an Vignys Dramen- und halb an den Legenden-Chatterton der englischen Romantik erinnernde Moral von Wallis’ Chatterton. Doch der Chatterton des Bildes selbst, sowie sein „verständiger“ Betrachter, widersetzen sich zuletzt doch dem materialistischen Zeitgeist: über den sie den Dichtergeist, fortgesetzt und wiederauferstanden in seinem Andenken, postum triumphieren lassen. Und dieses ist die zweite, letzte und allerdings ureigene, eine weniger sozialkritische als spirituelle und beinah ein wenig spiritualistische, morbide Moral von Wallis’ Chatterton. * Und doch haftet diesem doppelt moralischen Bildwerk auch etwas Unmoralisches an; erstens, weil es ein „gefälschtes authentisches Andenken“ ist, und das heißt auch: ein gefälschtes letztes Bruchstück von Chattertons Ruin. Denn keines der Dinge, die in Wallis’ Bild von der Ruingeschichte aufgeladen sind, die sie „erzählen“ – so daß diese Bruchstücke seines Ruins auch seine letzten Hinterlassenschaften und Andenken wären – sind in der Nachwelt gegenwärtig. Kein Wunder; denn erstens starb der historische Chatterton ja verkannt, so daß allein schon deshalb keiner seiner Zeitgenossen auf die Idee gekommen wäre, seine Schreibfeder oder gar seine fatale Phiole als teure Dichterreliquien aufzubewahren. Zweitens aber ist ohnehin nicht überliefert, was wirklich zur Sterbestunde des Poeten an Dingen in seinem Intérieur war; denn schließlich ist Wallis’ Vision dieses Intérieurs eine künstlerische Neuerschaffung, eine Phantasie. Eine Phantasie allerdings, die vorgibt, das einzige Reststück, das einzige Bildsouvenir zu sein, beinahe so etwas wie eine photographische Festhaltung des Todesaugenblicks Chattertons, das von allen anderen dinglichen Zeugen der imaginierten Sterbeszene gleichsam übrig blieb. Wallis’ Gemälde, dem freilich aus seiner Signatur und präraphaelitischen Manier abzulesen ist, daß es von 1855/56 stammt, kokettiert trotzdem mit dem Charme eines Mitbringsels und dinglichen Bewahrers eines historischen Augenblicks von 1770. Und der eigentliche Witz daran ist, daß Wallis’ Pseudo-Andenken tatsächlich als Andenken funktioniert, daß es sich in das kollektive Gedächtnis und in die populäre Imagination eingeschmuggelt hat als das Andenkenportrait Chattertons. Selbst wenn man weiß, daß Meredith und nicht Chatterton als Chatterton zu sehen ist, taucht dennoch unweigerlich Wallis’ verblassender Poet vor dem inneren Auge desjenigen wieder auf, der das Bild einmal sah und später das Stichwort „Chatterton“ hört. – Der Name „Meredith“ ist verschluckt von der Maske des Chatterton – wohingegen dem von Meredith verkörperten Erinnerungsbild Chattertons eine eigentümliche „Realität“ anhaftet. „The invention is always more real“544; so nämlich die These, die Ackroyd in seinem Roman Chatterton verfolgt und die die 544
––––––––––––––––––– Ebd., S. 157.
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Grenzziehungen zwischen dem „Fälscher“, dem poetischen Erfinder und dem Historiker-Rekonstrukteur von Geschichte und Erinnerung unterminiert. Die bildkünstlerische oder poetische „Erfindung“ einer „authentischen“ alten Welt oder Erinnerung sieht Ackroyd aber deshalb als „always more real“: weil insbesondere der Poet oder Künstler einer Vergangenheit Gegenwärtigkeit, Leben und Körper gebe: ein materialisiertes Dasein in Form eines lebendig ansprechenden Werkes der Dichtung oder Kunst.545 Je detailreicher und lebendiger aber diese Vergegenwärtigungsleistung ist, die gerade dem Werk des imaginativen Poeten oder Künstler eigen ist, desto einprägsamer ist das von ihm geschaffene Bild, desto plastischer und „realer“ ist es im Gedächtnis der Welt – selbst wenn diese weiß, daß das Bild ein erfundenes ist und kein wirklich authentisches. [I]n the absence of surviving portraits of the historical Chatterton, Wallis’s memorable image has become a convincing substitute, so much so that it has inspired a best-seller novel by Peter Ackroyd (1987). That is certainly a triumph of PreRaphaelite realism. The historical event of Chatterton’s tragic suicide has become more vivid – indeed real – to later generations than it possibly could have done without Wallis’s picture.546
So stimmt auch Elizabeth Prettejohn Ackroyds These der „Lebendigkeit“, also „Realität“ von Wallis’ „gefälschtem authentischen Erinnerungsbild“ Chattertons zu: Das Bild des verblassenden Poeten, das „historische Ereignis des tragischen Selbstmordes Chattertons“ sei „späteren Generationen lebendiger – tatsächlich realer – geworden, als es möglicherweise ohne das Bild Wallis’“ der Fall gewesen wäre. Doch was Wallis’ Bild so besonders anrührend-lebendig macht, ist nicht nur seine bewegende Geschichte und Doppelmoral: diese Geschichte und Moral des von der materialistischen Welt verschuldeten Ruins des Poeten – dessen Geist dennoch, dem materiellen Verfall trotzend, im Andenken wiederaufersteht. Was Wallis’ Chatterton so irritierend lebendig und geradezu unmoralisch ansprechend macht, ist noch etwas anderes, für das Prettejohn das Werk als „symptomatic“547 erachtet.
8 Das unmoralisch Aufgeladene von Wallis’ Chatterton Prettejohn gibt drei Gründe an, die den ersten Sensationserfolg von Wallis’ Chatterton sowie das Nachleben des Ruhmes des Werkes bis in die Gegenwart hinein erklären könnten. Erstens erinnert sie daran, daß kein authentisches Ge545 546 547
––––––––––––––––––– Siehe insbesondere ebd., S. 164. Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 195. Ebd.
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sichtsbild Chattertons existierte, so daß Wallis’ ein „convincing substitute“548 dafür schuf. Als solcher „überzeugender Ersatz“ für das fehlende authentische Portrait wirkte Wallis’ Gemälde aber deshalb, weil es zweitens Chatterton und die Geschichte seines Ruins und Selbstmordes in präraphaelitischem Detailrealismus lebendig vergegenwärtigte, der alten Figur und Geschichte damit neue „Realität“, sowie in Form eines Kunstwerks auch materielle Präsenz gab. Drittens aber sei dem Werk noch etwas von der Atmosphäre seiner Entstehung abzuspüren – denn diese sei, aus bestimmten Gründen, „highly charged“549 gewesen. Das heißt aber: Wallis’ Chatterton wurde nicht als Konfrontation mit einem toten Dichter zum Sensationserfolg, sondern als Konfrontation mit einem verblassendem Dichter, der irritierend schön ist. Und obwohl Wallis’ Chatterton das Chatterton-Bild ist, das im Gedächtnis der Nachwelt von 1856 dominant ist: trotzdem ist diese Lebendigkeit des Chatterton-Bildes nicht nur Wallis, sondern auch Meredith zu verdanken – und dem, was zwischen ihnen war. * „No portrait of Chatterton was known, so Wallis was free to invent a physical appearance for him.“550 „Kein Portrait Chattertons war bekannt“, so vergegenwärtigt Prettejohn zurecht, denn auch Richard Holmes erinnert mit dem akribischen Chatterton-Forscher und -Biographen Meyerstein: „The great scholar E. H. W. Meyerstein closed this subject definitely in his biography of 1930: ‘It cannot be repeated too emphatically that there is no authentic portrait of Chatterton.’“551 Nur fährt Holmes im nächsten Atemzug fort: „But of course an inauthentic portrait of Chatterton might still tell us something very interesting about the poet.”552 „Chatterton first forged himself and was then posthumously forged by others“553: So nämlich die Pointe, die Richard Holmes seiner Vorstellung dreier „unauthentischer“ Portraits Chattertons voranstellt, nach denen offenbar ein Bedürfnis der am Jungdichter interessierten Nachwelt bestand, und das lange bevor Wallis sein „languid masterpiece“554 produzierte, welches sich dann als das Erinnerungsbild Chattertons durchsetzen sollte. So fand das erste unauthentische Bildnis des armen Dichters seine Verbreitung als Abdruck auf dem Chatterton-Taschentuch: jenem Andenkentüchlein, das 1782 seine Besitzer zum gemeinsamen Beweinen Chattertons auffordern wollte (Abb. 8). „Hard indeed was his fate, born to adorn the times in which he lived, yet compelled to fall a
548 549 550 551 552 553 554
––––––––––––––––––– Ebd. Ebd. Ebd., S. 192. Holmes: Forging the Poet, S. 253. Ebd. Ebd. Ebd., S. 254.
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victim to his pride and poverty!“555 Dieses ist die „moral“556, die das Tüchlein in Revanche für die entlockten Tränen infiltrieren will und die diesen Chatterton, der doch zur Zierde seiner Zeit geboren wäre, reduziert auf ein Opfer „seines Stolzes und seiner Armut“ (und noch nicht ausdrücklich auf ein Opfer seiner materiellen Welt). Diese Moral wird unterbreitet aus dem Prosatext auf dem Tüchlein, der nebst einem denselben Inhalt poetisierenden Gedicht das zentrale Bild kommentiert, welches folglich den armen Dichter in seinem entsprechend ruinierten Intérieur zeigt, dieses aber schematisch und bar jeglicher individueller Züge: „It conforms to a popular eighteenth-century image of the Grub Street poet, though the face is almost schematic, and his ‘distress’ is shown by traditional emblematic means in the furnishing of his garret.“557 Das zweite (allerdings chronologisch dritte) unauthentische Portrait Chattertons erschien 1837 als Frontispiz „to John Dix’s immensely popular and notoriously unreliable Life of Chatterton”558 (Abb. 15). Dieses Bild, das unterschrieben war mit „‘THE MARVELLOUS BOY WHO PERISHED IN HIS PRIDE’ SOUTHEY“, ist das entsprechend verniedlichte, romantisierte Portrait eines Wunder-Knaben: Hier wird in der Tat ein Kind gezeigt, das Holmes identifiziert als „a Bristol bluecoat-boy, rather clever and intense, apparently aged about 14“.559 Doch dieser so konzentriert-intensiv dreinblickende, mit einer Fülle langer, dunkler, lockiger Haare bedachte, pausbäckige Chatterton könnte auch noch jünger als vierzehn sein. Schließlich soll das Bildnis Chattertons als Wunderkind wohl den Kontrast zwischen diesem Juniorpoeten und dem alter ego seines reifen Werkes, dem so weisen wie scharfsinnigen mittelalterlichen Dichter-Mönch Rowley, noch frappierender machen. Als ein „ingenious fake“ entlarvt wurde das Bild des Wunderkinds Chatterton denn auch erst 1891; hier stellte es sich heraus, daß ihm einerseits „an eighteenth-century oil portrait“ zugrunde liegt, „the original of which still hangs in the Bristol Museum. It is dated 1762, signed Morris, and is actually a portrait of the artist’s son.“560 Andererseits haftet dem gefälschten Bild des Wunderknaben aber noch immer „some resemblance“ an „to a softened version of the ‘goggle-ey’d’ portrait, turned in right profile“.561 Dieses unter dem Namen „goggle-ey’d portrait“ bekannte Bildnis aber, dem der niedliche Wunderknabe Chatterton von 1837 trotz aller Beschönigung noch immer ein wenig ähnele, ist das dritte, oder chronologisch zweite, jedenfalls zentrale pseudo-authentische Portrait, das Holmes vorstellt. Es ist dieses Bildnis, das er als „shocking and me-
555 556 557 558 559 560 561
––––––––––––––––––– Diese Textzeile des Chatterton-Taschentuchs ist zitiert nach ebd., S. 155. Ebd. Ebd. Ebd., S. 156. Ebd. Ebd. Ebd.
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morable“ bezeichnet und beeindruckend-glaubhaft findet – aufgrund seiner expressiven Häßlichkeit (Abb. 16): The second picture is something of a shock. It is both strikingly individualized and hauntingly ugly. It appeared in The Monthly Visitor magazine for January 1797. […] It shows Chatterton like a prematurely aged child, dressed in ragged adult clothes, with long shaggy unkempt hair, dark frowning brows, and huge hungry eyes. What is shocking and memorable about the portrait is the grotesque rendering of mental suffering: here is genius on the very edge of madness. The very crudeness of the image gives it force and conviction.562
Es ist besonders eingedenk dieses eindrücklich-häßlichen „goggle ey’d portraits“, in dessen groteskem Gesichts- und Körperbild sich das leibliche und mentale Leiden des körperlich und geistig vorzeitig gealterten Dichterknaben ausdrückt, daß Holmes das Resümee zieht, es habe ein vor-viktorianisches Einverständnis darüber geherrscht, wie Chatterton ausgesehen habe „in the flesh, and one might add, in the spirit.“563 Diese vor-viktorianische Vision Chattertons, die in einer Art „folk-memory“564 herumgespukt habe, schwang zwar noch restweise in Wallis’ Chatterton hinein – wurde jedoch von dem, was an dieser Intérieurszene mit verblassendem Poeten so neuartig frappant und unwiderstehlich einprägsam war, überblendet. Das präviktorianische, also prä-Wallissche Bild Chattertons sei nämlich dieses gewesen: „an image of extreme youth, extreme poverty, and extreme instability. It was not in the least sentimental. It was a tough, pre-Victorian idea of genius, as something uncanny, solitary, and even savage.“565 * Das präviktorianische Vorstellungsbild Chattertons, exemplarisch verkörpert im „goggle-ey’d portrait“, war „not in the least sentimental“ – es war nicht im geringsten sentimental und das heißt, es war nicht im geringsten sentimentalisiert, romantisiert. Vielmehr betonte das alte Chatterton-Bild nebst der krassen Jugend und Armut des Dichterknaben auch eine extreme mentale „Instabilität“, eine psychische Labilität, die zwar einerseits Teil des Genies des Poeten war, andererseits aber an das Krankhafte, an den Wahnsinn grenzte. Dieses Labile, krankhaft Geniale Chattertons aber fand in einem wiederum krankhaften Körper- und Gesichtsbild Ausdruck, in einem Erscheinungsbild, das daher schokkierend häßlich war, weil es das mentale und körperliche Leiden des hungernden und bald wahnsinnigen Heranwachsenden übersetzte in die Vision eines „prematurely aged child, dressed in ragged adult clothes, with long shaggy un-
562 563 564 565
––––––––––––––––––– Ebd. Ebd., S. 257. Ebd. Ebd.
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kempt hair, dark frowning brows, and huge hungry eyes […]: here is genius on the very edge of madness.”566 Und auch Wallis’ Chatterton mag noch immer die Attribute „arm“ und „jung“ für sich beanspruchen; auch er mag „krank“ anmuten augrund seiner auffallenden Blässe, der merkwürdig unbequemen, auf eine vergangene Verkrampfung verweisenden Liegeposition, aufgrund der Präsenz einer Phiole, die wohl nur aus einer Apotheke stammen kann. Auch Wallis’ Chatterton mag „krank“ anmuten – oder sterbend, wenn nicht tot; denn dieses ist ja der schreckliche Verdacht, den Wallis dem Betrachter seines Bildes aufdrängt, um ihn dazu zu veranlassen, den Gesundheits- oder Lebendigkeitsgrad des Liegenden aus der Unordnung der um ihn verstreuten Dinge herausfinden zu wollen. Was aber den Schock oder „Horror“ dieses aufflatternden Eindrucks, Chatterton sei tot, noch eindringlicher macht, ist mit Julia Thomas gesagt dieses: daß „the ashen skin of the young man contrasts horribly with his strong and supple limbs.“567 Die mit bläulichen Schatten überzogene Weiße der Haut Chattertons kontrastiert nicht nur mit dem glühenden Rot seiner Haare, in denen sich alle entweichende Vitalität des Daliegenden zu konzentrieren scheint. Die „aschweiße Haut des jungen Mannes kontrastiert“ auch „schrecklich mit seinen kräftigen und biegsamen Gliedern“, denen also wiederum etwas restweise Energetisches anhaftet, so daß sie, ihrer gegenwärtigen Reglosigkeit zum Trotz, eine Beschaffenheit zu nervöser Bewegtheit ausdrücken. Denn seine gegenwärtige Fahlheit ausgenommen, ist der Körper von Wallis’ Chatterton weder kränklich-schwächlich noch grotesk-häßlich. Dieser Körper – der ja der von Wallis’ Freund und Modell George Meredith ist – ist zwar knabenhaft-feingliedrig genug gewesen, um als der Leib eines Siebzehnjährigen glaubhaft zu erscheinen. Dieser Zartheit des siebenundzwanzigjährigen Meredith verdankt es sich, daß Holmes Wallis’ Chatterton bezeichnet als „a beautiful, rather androgynous prototype of the doomed Romantic“568. Aber bei aller Knabenhaftigkeit oder gar Androgynität ist die Feingliedrigkeit dieses Meredith-Chatterton eben dennoch nervös, im alten Doppelsinne des Wortes: in dem „nervös“ zunächst, auf den Körper bezogen, „sehnig-muskulös“ meint – und dann allerdings auch mental nervös, reizbar, empfindlich, verletzlich-sensibel, insofern grenzend an labil. At some level the assumption must have been that the inward qualities, intellectual or spiritual, that made Meredith a poet were somehow visible outwardly; in short, that his being a poet meant he looked like a poet. However mystical this belief, it produced one of the most compelling fusions of model and imagined character in the Pre-Raphaelite painting.569
566 567 568 569
––––––––––––––––––– Ebd. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 84. Holmes: Forging the Poet, S. 254. Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 193-194.
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So Prettejohn; doch wie schon weiter oben gesagt, war es so „mystical“ wiederum nicht, angesichts von George Meredith daran zu glauben, daß das, was ihn zum Poeten mache, in seinem körperlichen Erscheinungsbild ausgedrückt sei. „His vitality […] was electrical in every movement, his features were handsome, his expression tense, and his thick red-brown hair gave a hint of the health and strength and youth which were then wedded to the intensity of his nature.”570 So beschreibt Sencourt die Wirkung, die der junge Meredith auf seine Mitmenschen ausgeübt habe: Denn Merediths „Gesundheit“, „Kraft“ und „Jugend“, seine „intensive Natur“ und „Vitalität“ habe sich ausgedrückt in dem „gespannten Ausdruck“ seines Gesichtes, in der Masse seines „dicken rot-braunen Haares“, schließlich in den Bewegungen seines Körpers – Meredith war, so sein erster autoritativer Biograph, „electrical in every movement“. Meredith scheint seine geistige Vitalität buchstäblich inkarniert zu haben, im Erscheinungsbild seiner Gestalt und deren Körpersprache. In der Tat war Meredith ein Mensch mit einem dauernden Bedürfnis danach, sich körperlich zu bewegen: um die Anspannung seiner unermüdlichen inneren Aktivität auszuagieren. Meredith war geistig nervös, hypersensibel und ständig angespannt, wie elektrisch geladen – daher seine „elektrisierende“ Wirkung, die sich über die nervösen Bewegungen seiner ihrerseits nervösen, athletisch trainierten Glieder auf seine Mitmenschen übertrug. Denn Meredith sei „no less a sportsmen than a poet“ gewesen, und: „To one of his own sons his keenness for sport seemed the key to his mystery.“571 Das „Geheimnis“ des Dichterseins Merediths sah einer seiner Söhne572 verschränkt mit dem Sportlersein des Poeten, wohl weil beides auf derselben Vitalität und Anspannung beruhte, die sich ausdrücken mußte im Schreiben oder im Sporttreiben. Und konkreter war es so, daß Meredith, weil er ein unermüdlicher Schreiber war, deshalb auch zeitlebens den Sport brauchte; daß er seine Tage mit Schwimmern begann, bis ins hohe Alter hinein gerne boxte, daß er vor allem aber täglich lief – unermüdlich und weniger, um auf seinen endlosen Fußmärschen Inspirationen zu gewinnen als um den Überschuß seiner im Schreiben aufgepeitschten inneren Anspannung in körperlicher Erschöpfung abzubauen.573 Mit seiner lebenslangen disziplinierten Einhaltung eines Tages-Rhythmus aus angespanntem exzessivem Arbeiten, gefolgt von entspannendem exzessivem Marschieren, ähnelt George Meredith übrigens Charles Dickens, der 570 571 572 573
––––––––––––––––––– Sencourt: The Life of George Meredith, S. 29. Ebd., S. 45. Meredith heiratete nach dem Tod Mary Ellens, mit der er einen Sohn hatte, noch ein zweites Mal und sorgte für weiteren Nachwuchs. Siehe zu Merediths Leidenschaft für Sport Sencourt: The Life of George Meredith, besonders S. 45-52; eine Idee von dem, was Merediths so anstrengende wie entspannende Fußmärsche sein konnten, gibt übrigens eine Bemerkung, die Sencourt zu Merediths Verhältnis zu seiner Stieftochter, Mary Ellens Tochter Edith, macht: „Meredith loved his wife’s little daughter, Edith, then five years old, and would carry her about on his shoulders for miles, telling her wonderful stories.“ (Ebd., S. 35.)
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es ebenso machte.574 Und es mag sein, daß die Zeitgenossen Dickens und Meredith damit den Prototyp eines neuen Dichters der verwirtschaftlichten Zeit darstellen: den Prototyp des gehetzten Dichters, der nicht nur durch die Notwendigkeit zum Arbeiten angetrieben wird, schreibend sein Brot zu verdienen, sondern auch durch den eigenen inneren Drang dazu angestachelt wird, keine Zeit zu verschwenden, sondern sich unermüdlich zu eilen mit dem rasenden Schreiben – ausgenommen in den Phasen des Abarbeitens der mentalen Hyperaktivität im rasenden Spaziergang: „He never sauntered, never lounged: an old friend noted, he strode with the stride of a giant“575, so Sencourt zur „Gangart“ Merediths. * „He seemed to generate electricity from the air he breathed, and it flashed from him in unending sparks and lightnings.“576 – Diese naturgewalthafte, geradezu übernatürlich elektrisierende Ausstrahlung Merediths wird also erklärlicher eingedenk der „nervösen“ Körpersprache des Sportler-Dichters, die diesen Körper trainierte und modellierte und die ihm deshalb auch in Momenten der Ruhe noch restweise „abzulesen“ war. „[...] the ashen skin of the young man contrasts horribly with his strong and supple limbs“577, so Thomas zum schrecklichen Kontrast zwischen der aschfahlen, den Tod aussprechenden Hautfarbe von Wallis’ Chatterton und seinen kräftigen, nervösen und biegsamen, sogar in der Ruhehaltung noch Vitalität ausdrückenden Gliedmaßen. Zugleich tödlichen Verfall und untote Vitalität mit Chattertons Körperbild auszudrücken – dieses war Wallis’ Idee gewesen, die ihm vielleicht gekommen war dank seiner Bekanntschaft mit dem elektrisierenden, doch armen Poeten Meredith. – Prettejohn charakterisiert die Atmosphäre des präraphaelitisch-detailverliebten Malens nach dem konkreten Modell grundlegend als „highly charged“578. „Hochgradig aufgeladen“ waren diese Maler-Modell-Konfrontationen erstens, weil sich der präraphaelitische Künstler mit besonderer Intensität, Leidenschaft und Hingabe für das noch so kleinste Detail den dinglichen wie auch den menschlichen „Objekten“ seines Werkes annäherte. Zweitens erinnert Prettejohn aber daran, daß die Präraphaeliten außerdem bewußt an die „mythische“ Rolle und alte „Atelier-Praxis“ großer Meister der Vergangenheit anknüpften: sich also wie diese ihre Geliebten oder Ehefrauen zu Modellen nahmen (was zu574
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––––––––––––––––––– Siehe Ackroyd: Dickens, besonders S. 246: „‘I am in regular, ferocious excitement with the Chimes; get up at seven; have a cold bath before breakfast; and blaze away, wrathful and red hot…’ There could not be a better description of Dickens when ‘taken by the throat’ by a conception. He could not rest until he had got it down on paper. He blazed away through the whole of October, having to take violent exercise to still his beating mind. One day he walked twelve miles in mountain rain; another day he walked six miles under the hottest sun of the day; another day he walked fifteen miles.” Sencourt: The Life of George Meredith, S. 51. Ebd., S. 22. Thomas: Victorian Narrative Painting, S. 84. Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 195.
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weilen, ließ sich ein Präraphaelitischer Bruder von der Geliebten oder Frau eines anderen inspirieren, zu skandalösen Geschichten des Bruderverrates und Ehebruchs führen konnte).579 Aber nicht nur zwischen Künstler und weiblichem Modell gestalteten sich die Portraitsitzungen der detailverliebten Präraphaeliten als „highly charged“. The intensity of involvement, when models were also friends and professional colleagues, was perhaps a crucial factor in the collaborate evolution of the PreRaphaelite style. Some form of homoerotic engagement might be ascribed to the modeling habits of the Pre-Raphaelite Brothers.580
So Prettejohn, die damit den Präraphaelitischen Brüdern keinesfalls das Ausüben von „homosexual activities“581 unterstellen will, sondern ausdrücklich zwischen diesen und einem auf Sublimierung basierenden „eroticism“ unterscheidet. Mit diesem „Erotizismus“ meint Prettejohn also eine durchaus vorhandene erotische Spannung zwischen Maler und Modell, welchen Geschlechtes auch immer; eine erotische Spannung, die sich, wie ich ergänzen würde, an dem leidenschaftlichen Interesse an den Details des zu malenden Gegenstandes oder eben auch Körpers hochschürte – und die wiederum Ausdruck fand in der lebendigen, de facto detailverliebten Darstellung des nur mit dem Auge abzutastenden Gegenübers. Oder mit Prettejohn resümiert: Indeed, the erotic may be an important element in the obtrusiveness of the PreRaphaelite model, and in the vividness of the Pre-Raphaelite style. The bond among the Brothers and their near associates comprised an intoxicating combination not only of political and social radicalism and rebellion against the artistic ‘establishment’, but of erotic energy.582
Wallis und Meredith gehörten nicht zum Zirkel der ersten, eigentlichen Präraphaelitischen Brüder; doch waren der präraphaelitisch inspirierte Maler und der ihm zeitgenössische Poet befreundet, weil beide auf ihrem jeweiligen künstlerischen Gebiet aufbegehrten gegen präfigurierte Formen der Kunst und Dichtung. Wallis und Meredith erwiesen sich als Brüder im Geiste, wenn sie beide den prüden viktorianischen Moralismus schockierten: Meredith mit seinem innovativen Vorstoß einer Thematisierung und Poetisierung der sinnlich-körperlichen Liebe, Erotik und erotischen Ausstrahlung583 – Wallis aber schuf, indem er 579 580 581 582 583
––––––––––––––––––– Siehe noch einmal ebd., besonders S. 197. Ebd., S. 196-197. Ebd., S. 197. Ebd. Es war nicht erst und nicht nur in Modern Love, daß Meredith die körperliche Liebe schockierend offen thematisierte (siehe Sencourt: The Life of George Meredith, besonders S. 55-56). Evan Harrington, Protagonist des gleichnamigen Romans, wird von zwei adeligen Frauen geliebt: von der einen um seiner edlen Seele, von der anderen um seines schönen Körpers willen; und wiewohl Evan die Liebe der ersteren Frau vorzieht, bezeichnet Meredith doch eben beide Formen der Zuneigung, die man seinem seelisch und körperlich anziehenden
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den geistig wie körperlich faszinierenden Meredith in präraphaelitischer Liebe zum Detail portraitierte, das Bild eines subtil erotisch ansprechenden, unmoralisch elektrisierenden Verblassenden. * Wallis’ Chatterton ist nicht auf eine akademische, der antiken Statue anverwandte, sondern auf eine regelwidrig-romantische Weise „schön“. Es ist eine etwas androgyne, nervös-feingliedrige Schönheit – eine Schönheit, morbid und zugleich elektrisierend-lebendig. Anders als in den Werken der Präraphaelitischen Ur-Brüderschaft üblich, besticht Wallis’ Chatterton nicht mit einer bald hyper-realistischen Überfülle an jeder Stelle des Bildes haarklein wiedergegebener Details. Wallis spielt aufreizend damit, Details zu enthüllen und Details zu entziehen. In voller Schärfe und plastischer Anmutung sind die Dinge gemalt, über die das Schlaglicht der Morgensonne hinstreift; schummrig-unscharf ist das, was beschattet liegt. So sind die Gesichtszüge von Chattertons dem Licht abgewandtem Antlitz um Stirn und Augen herum delikat verschwommen, ungreifbar, unnahbar, entrückt – während der Mund- und Kinnbereich in aller Klarheit hervorsticht. (Farbabb. 11) Es ist ein etwas breiter, doch schön geschnittener, ein in weichen Grübchen auslaufender und daher bald lächelnd anmutender Mund, die Lippen sind überzogen von einem Resthauch rosenrosafarbenen Inkarnates. Es ist ein so verführerischer wie schweigender Mund – dieser Mund wird sich nicht mehr öffnen, Geistreiches lautbar zu machen. Verführerisch ist er trotzdem (und ein bißchen läßt er an das Märchen von Dornröschen denken, das geküßt sein wollte, um aus seinem Totenschlaf wiederaufzustehen); aber vielleicht ist es auch das Erotische der gesamten Figur, das auf die Wirkung ihres Gesichtes zurückstrahlt und das Verführerische ihres Mundes erst recht verstärkt. Denn ist Chatterton nicht als Akt dargestellt, entblößt er sich dennoch vor seinem Betrachter. Das Hemd ist aufgerissen von der darin noch festgekrallten linken Hand; eine erstarrte Geste, die zwar einen Todeskrampf, ein Ringen um letzten Atem „erzählt“ – die es jedoch außerdem dem Maler erlaubte, der sinnlichen Bogenlinie des freiliegenden, zurückgedehnten Halses zu folgen, der glatten Spannung, bzw. sachten Zusammenfaltung der zarten Haut an der Kehle, der weichen Einbuchtung zwischen Kehle und Brustbein. Eine ––––––––––––––––––– Helden entgegenbringt, als „Liebe“ und gesteht beiden eine ähnliche Intensität zu. Konkurrenz und/oder Zusammenspiel von seelischer und sinnlicher Liebe: Das ist eines der Grundthemen des Romanschriftstellers und Dichters Meredith. Um aber eine Kostprobe einer Poesie zu geben, die nicht erst in Modern Love Augenblicke im intimen Schlafzimmer enthüllte, hier ein frühes Gedicht Merediths auf seine ihm noch nicht lange angetraute Mary: „When at dawn she wakens, and her fair face gazes / Out on the weather thro’ the window panes, / Beauteous she looks! like a white water-lily / Bursting out of bud on the rippled river plains. / When from bed she rises, clothed from neck to ankle / In her long nightgown, sweet as boughs of May, / Beauteous she looks! like a tall garden lily / Pure from the night and perfect for the day!” (Das Gedicht ist zitiert nach Sencourt: The Life of George Meredith, S. 41.)
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durchaus taktile Anmutung geht von der Art und Weise aus, wie Wallis diese Haut in ihrer Beschaffenheit und Struktur als ein geradezu fühlbares Organ vergegenwärtigt; und in der Tat läßt die Kratzspur der Hand über die damit entblößte Brust des Poeten eine, wenn auch gewaltsame, Selbstberührung Chattertons im Geiste nachvollziehen. – Der unverschämteste und subtilste Witz dieses Bildes eines unerhört sinnlich-erotisch ansprechenden blaßhäutigen Chatterton ist aber, daß das Unmoralisch-Morbid-Erotische das Moralische des Bildes nicht unterminiert, sondern verstärkt. Denn die letzte Moral von Chatterton konzentriert sich gleichsam, wie noch einmal zu erinnern, in der Feder des Poeten: die auf dem runden Tisch am Fußende des Bettes ruht – wie in vergeblicher Erwartung, noch einmal benutzt zu werden. Chattertons Leben ist gekappt, das, was der Dichter noch hätte hervorbringen können, ist verloren, verschwendet (auch wenn etwas von Chatterton trotzig nachlebt in seinem Bild-Intérieur). – So liegt die Feder umsonst erwartend da, zwischen der abgebrannten Kerze und dem Tintenfaß auf der einen Seite, auf der anderen das weiße Schreibpapier. Sie liegt da, parallel zu den großen kompositionellen Horizontalen des Bildes: dem das Dach des Hauses tragenden Balken; der Kante des Bettes. So daß die Feder, in dem Winkel, in dem sie ruht, durch eine gewisse rhythmische Korrespondenz mit sämtlichen weiteren Objekten des Bildes verbunden ist, die gleichfalls waagrecht liegen. Es ist eine jener formalen Korrespondenzen, wie sie auch unter den elliptischen Grundlinien des Werkes besteht, die die Kreuzkomposition (bestehend aus den Horizontalen des Dachbalkens und der Bettkante und der Vertikalen, die durch den Fensterrahmen angezeigt ist) spannungsvoll überlagern. So hängt etwa Chattertons rechter Arm parallel zur Linie der schräggestellten Kiste zu Boden, welche die untere linke Bildkante abrundet und der oberen, tatsächlich abgerundeten, spiegelbildlich angleicht. Denn Chatterton liegt in einem geradezu elliptischen Kompositions-Rahmen – in dem sein Körper selbst noch einmal eine Ellipse figuriert: Und darin gründet das Dezentrierte dieses Bildes, das zu einer zerstreuten Leseweise des Peripheren auffordert, weil es keinen zentralen Ruhepunkt hat. Außer man akzeptiert, daß es diesen Punkt in der exakten Mitte des Bildes, an der Stelle, wo sich Mittelsenkrechte und Mittel-Horizontale kreuzen, doch gibt, nur handelt es sich dabei eben nicht um des Poeten Antlitz – das doch Interessanteste an einem Portrait –, sondern um des Dichters Schoß. All the time she [Mary Ellen Meredith] had been conscious only of Wallis’s presence, and now she moved behind the screen as if she were shielding herself from a source of heat. She picked up one of the abandoned paintings stored there, and saw a female nude, the upturned breasts pink and glowing. “These breeches are too tight,” she could hear her husband saying. “Too much Nature and not enough Art.” Very deliberately she put down the painting, and came out from behind the screen. “Be thankful, Georges,” she said, “that Mr. Wallis is not painting you
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without breeches.” She saw the surprise on the painter’s face, and she faltered slightly.584
Mit diesen Worten, die er Mary und George Meredith in den Mund legte, versucht Ackroyd etwas von der spannungsgeladenen Atmosphäre zu vergegenwärtigen, in der Chatterton entstand. Und freilich war diese Atmosphäre besonders „highly charged“585: Denn erstens lag sehr wahrscheinlich eine sublimiert erotische Spannung in der Luft, ein Knistern zwischen dem elektrisierenden George Meredith und Henry Wallis, der den Freund mit präraphaelitischer Liebe zum Detail als sinnlich- und etwas dämonisch-schönen, knabenhaft-androgynen Chatterton portraitierte. Aber diese Spannung zwischen Maler und Modell wird zweitens noch angereichert gewesen sein durch die zeitweilige körperliche Präsenz der Ehefrau des Modelles, die, glaubt man Sencourt und auch Ackroyd, nicht weniger auratisch-anziehend wirkte als ihr Mann.586 So daß Henry Wallis auch von Mary Merediths Reizen gefangen war, während sie wiederum den Maler-Freund anziehend fand, beide, allerdings erst zwei aufreizend lange Jahre später, dem viktorianisch-moralistischen Zeitgeist offen trotzten und England und Meredith gemeinsam verließen. Es ist eine alte, intime und geheime Skandalgeschichte, die 1856/57, zur Zeit der ersten Ausstellungen von Chatterton, noch nicht publik geworden war, was erst 1858 geschah, infolge der Flucht Wallis’ und Mary Merediths nach Capri. So ist der Sensationserfolg des Werkes nicht aus einem Wissen um die romanhaft-skandalträchtige Geschichte seiner Entstehung zu erklären. Und doch gründet dieser Erfolg in etwas, was schwer zu fassen und zu sezieren ist: in der Atmosphäre des Werkes. In seinem Spannungsgeladenen, das sich zwar einerseits aus seiner Komposition und Farbgebung erklären läßt; aber das genügt nicht. Das eigentümlich Elektrisierende von Chatterton ergibt sich zudem aus dem subtil Erotischen dieses Portraits eines morbid-schönen Poeten. Der Reiz des Gesamtbildes Chatterton resultiert nicht zuletzt aus dem Reiz seiner zentralen Figur, und deren Attraktivität beruht wohl auf der des Modells Meredith. Aber da Chatterton eben keine Photographie oder Daguerreotypie ist, sondern ein Portrait in Öl, verdankt sich die irritierende Anziehungskraft dieses morbid-schönen Chatterton auch der Art und Weise, dem Duktus, in dem Wallis Meredith malte und dabei verwandelte in seine Vision Chattertons: intensiv und hingebungsvoll, detailrealistisch und detailverliebt. 584
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––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 154. Wenn Mary Meredith die Aktstudie im selben Raum findet, in dem soeben ihr Mann als Chatterton Modell liegt, heißt das, daß (wie Ackroyd recherchierte) nur die ersten Skizzen zu Chatterton im (möglichen) letzten Intérieur des Jungdichters stattfanden; die Ausarbeitung in Farbe fand in Wallis’ Atelier statt. Prettejohn: The Art of the Pre-Raphaelites, S. 195. Siehe noch einmal das Portrait der faszinierenden Mary Merediths in Sencourt: The Life of George Meredith, besonders S. 29; dem Wallis in Ackroyds Chatterton erscheint Mary Ellen bei seiner ersten Begegnung mit ihr als rätselhafte Verkörperung einer Figur Giottos, wenn nicht mehr sogar Runges (siehe Ackroyd: Chatterton, S. 133).
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Denn Wallis malte wohl inspiriert und sensibilisiert für die Reize seines Modells und seines Sujets, des verblassenden Chatterton – er malte inspiriert durch die mit konträren Spannungen überladene Atmosphäre der Portraitsitzungen. Es muß Wallis ein abgründig bewegendes Vergnügen gewesen sein, den Freund und Ehemann der Frau, die zu verehren und begehren er begann – oder die er schon ein Jahr zuvor zu verehren und begehren begonnen hatte, als er sie zu seinem Modell nahm, um sein heute verschollenes Gemälde Fireside Reverie587 anzufertigen –, es muß Wallis ein abgründiges Vergnügen gewesen sein, Meredith als einen sterbenden oder toten Poeten zu malen. Die stets aufgeladene und daher inspirierende Atmosphäre der präraphaelitischen Portraitsitzung wird in diesem Falle noch prickelnder aufreizend gewesen sein durch die ungesagten Zuneigungen und Abneigungen zwischen den drei darin involvierten Personen. – Ob und was sich von dieser spannungsgeladenen Stimmung im Bild Chatterton wiederfindet, ist freilich schwer zu sagen und noch weniger zu beweisen; denn unsichtbar und insofern spurlos hätte sich die Atmosphäre der Portraitsitzungen in die Atmosphäre des darin wurzelnden Werkes verwandelt. Oder anders gesagt, scheint in Chatterton nichts von seiner alten, skandalösen Entstehungsgeschichte unmittelbar auf, die wenn, dann nur mittelbar, aus seinem subtil und morbid Erotischen, nachhallt. An diesem Erotischen des Bildes an sich ist aber nicht zu zweifeln und ebenso wenig daran, daß es ausgerechnet dieses unmoralisch Anziehende des verblassenden Chatterton ist, das die Moral seines Bildnisses verstärkt. Nicht umsonst läßt Ackroyd schließlich seinen Meredith, der sich soeben im Beisein seines Freundes und seiner Frau umzieht, um in das Kostüm und die Haut Chattertons zu schlüpfen, über die zu engen Hosen klagen: “These breeches are too tight,” she [Mary Meredith] could hear her husband saying. “Too much Nature and not enough Art.” Very deliberately she put down the painting, and came out from behind the screen. “Be thankful, Georges,” she said, “that Mr. Wallis is not painting you without breeches.”588
Doch durfte Meredith als Chatterton durchaus Hosen tragen, waren diese blauen Hosen, der Mode der Chatterton-Zeit entsprechend, körperbetont und recht eng anliegend geschnitten. Und klagt Ackroyds Meredith darüber, daß im Bereich einer gewissen Körperpartie „zu wenig Kunst“ „zu viel Natur“ zu wenig Raum lasse, wird die besagte Körperpartie in Wallis Gemälde tatsächlich durch den Faltenwurf der blauen Hose dezent verhüllt – und doch in ihrer Verhüllung unweigerlich angedeutet.
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––––––––––––––––––– „Mary Ellen posed for Wallis’s Fireside Reverie, shown at the Academy in 1855. The same year Wallis asked George to model for the figure of Chatterton.“ So die exakte Reihenfolge der Geschehnisse nach „The author’s wife...“. Ackroyd: Chatterton, S. 154.
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Am zentralsten Punkt, in der exakten Mitte des Bildes, liegt dieses angedeutete Körperstück vermutlich in ähnlichem Neigungswinkel und ähnlich ruhend da – wie am rechten Bildrand, um nur weniges nach oben verschoben, parallel dazu – die Feder. Auch dem britischen Cartoonisten „Larry“ fiel der betonte Schoßbereich, wenn auch nicht seine Korrespondenz zur Feder, auf (Abb. 17); und ohne sich in Freudsche Interpretationsmöglichkeiten vertiefen zu wollen, ist die Parallele zwischen dem „moralischsten“ Ding des Bildes, der vergeblich auf die Wiederbenutzung durch den verlorenen Poeten wartenden Feder, und dessen „unmoralischstem“ Körperglied doch einleuchtend: Die Feder wie auch das damit korrespondierende Körperstück be-deuten die Zeugungskraft des Dichters – eine Schöpfungskraft, die am Hinsterben, wenn nicht schon gestorben ist. – Und doch ist eben noch etwas davon restweise und aufreizend präsent in Wallis’ Chatterton. Denn die Seele dieses feingliedrigen, androgynen Chatterton welkt, noch immer nicht vollends entschwunden, dahin – wie die Rose im Fenster. Aber dieses Noch-Blühen des rosenhaft welkenden Knaben ist im selben Atemzuge noch einmal anders, weniger zart-poetisch als sinnlich-anzüglich und erotisch-elektrisierend ausgedrückt: und die Zeugungskraft dieses Dichters, der bei aller Feingliedrigkeit doch auch athletisch und maskulin-nervös ist, ruht zudem mit seiner Schreibfeder und dem, was im Zentrum des Bildes damit korrespondiert. Und obwohl es implizit feststehen muß, daß die Feder und das damit korrespondierende Körperstück dazu verdammt sind, sich nicht mehr zu rühren – denn die Phiole am Boden ist bereits leer, die Kerze ist schon erloschen –, trotzdem suggeriert die Feder den Eindruck, sie liege wie erwartend da; trotzdem suggeriert der (ganze) nervös-feingliedrige Körper des Poeten beinahe, er könnte sich im nächsten Augenblick doch noch einmal regen; so seltsam energetisch und erotisch-elektrisierend will dieser Chatterton, der Blässe seines Hauttons zum Trotz, doch im Einklang mit dem intensiven Rot seines reichen, langen, ungebändigten Haares, erscheinen.
9 Chatterton – vom aufrührerischen Inbegriff einer Sozialkritik zur morbidreizvollen Verkörperung einer „luxury of death“ Thomas Chatterton bot den Käufern seiner pseudo-mittelalterlichen Manuskripte Rowleys mehr als eine Gewinnmöglichkeit an. Freilich konnten sie, wie es die englischen Romantiker sofort begriffen und einseitig begreifen wollten, abtauchen in die verlorene Welt eines Mittelalters, die als solche anders, besser und poetischer sein mußte als die eigene, unpoetisch gewordene, da frühindustrialisierte Gesellschaft. Daß Chattertons Rowley-Zeit allerdings auch schon merkantil-ruinös gedacht war, daß Chatterton also eine zeitsatirisch untermi-
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nierte Mittelalterutopie erfand: dieses Unromantische übersahen die Romantiker geflissentlich. Erst recht aber übersahen sie den anderen, konträren Gewinn, den aus Rowleys Manuskripten zu ziehen Chatterton auch anbot: den Gewinn einer Inspiration durch das Vorbild zweier Gegenkultur-Stifter, eines kaufmännisch begabten Dichters und eines poetisch gesonnenen Kaufmanns, und ihrer Art und Weise, ihre bereits merkantil-ruinöse alte Epoche zu „restaurieren“: inspiriert durch das ihnen vorzeitige, noch merkantil unkontaminierte Kulturgut der gemeinsam gesammelten sächsischen Manuskripte. Ob dieses Konzept eines Fortschritts durch Restaurierung, einer Besserung der Gegenwart durch einen so imaginativen wie zweckrationalen Rückgriff auf das Alte ernst gemeint war oder nur als vielsagendes Gedankenspiel – fest steht, daß Chatterton dieses Konzept einer Entmerkantilisierung der Welt überhaupt unterbreitete. Alfred de Vigny hingegen benutzte zwar 1834/35 den Namen und die legendär gewordene Geschichte Chattertons ausdrücklich: um in diesem Namen die Zuschauer seines Dramas zu bewegen. Vigny intendierte explizit, die bereits wirtschaftlich-kalt und gleichgültig gewordenen Herzen seiner Zeitgenossen zu erweichen durch die Konfrontation mit dem Martyrium Chattertons, dem Opfer einer durch und durch maschinisierten Welt: die auch ihn, den vergeistigten Dichter, praktisch benutzbar zu machen trachtet – letztlich als Lakai im Hause des obersten Geld- und Machtmenschen von London, Lord Beckford. Doch dieser Abtötung seines Poetseins entzieht Chatterton sich am Ende durch den Freikauf seiner selbst mit Gift, und der Tilgung seiner Mietschulden mit dem postumen Verkauf seiner Leiche. Eine unerhörte, empörende, aufwühlende Geschichte, die Vigny da als die Ruingeschichte Chattertons erzählte – noch bewegender durch die wiederum ruinierte Liebesgeschichte, die mit ins Drama eingewoben ist; denn Chatterton muß die unglücklich verheiratete Frau, die er insgeheim liebte so wie sie ihn, in seinen Ruin mitreißen. Doch alles zusammen – Chattertons verzweifelter Freikauf seiner Seele, Kitty Bells Sturz von der Treppe als Echo auf den Zusammenbruch des Geliebten, schließlich das Schlußtableau mit versammelten Bruchstücken der Ruingeschichte, inklusive der zwei Leichen und dem Quäker, der um die Aufnahme der beiden Märtyrer in die unverhärtete Brust Gottes betet: Das gebündelte Pathos von Vignys Chatterton sollte die Zuschauer des Dramas derart bestürzen und entflammen, daß die Empörung bleiben würde, über den Moment und Ort des Theater-Erlebnisses hinaus. Denn die Idee war es, über die Herzen der Einzelnen die ganze Gesellschaft zu romantisieren, sie zu einem Gesinnungswandel zu bewegen – darüber hinaus aber zu konkreten Maßnahmen, dem Martyrium des Poeten ein Ende zu bereiten. Nur daß Vigny, dem erfinderischen Schreiber des Dramas Chatterton, lediglich ein Vorschlag einfiel, wie den Poeten des wirklichen Lebens zu helfen wäre: durch Einführung eines staatlich geförderten Dichterstipendiums. Doch sollte es, Vignys persönlichem politischen Einsatz zum Trotz, niemals dazu kommen. Und damit schienen die Möglichkeiten des Dramas Chatterton, auch nur eine tat-
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sächliche Änderung der Gesellschaft zu bewirken, erschöpft. Die Idee, mit einem romantisierendem Drama unmittelbar auf die Realwelt einzuwirken – selbst wenn deren Besserung durch die Einführung eines Dichterstipendiums nicht großartig gewesen wäre – war gescheitert; dieses aber, wie Vigny es sich selber erklärte, weil diejenigen, die über seinen Antrag auf staatliche Autorenförderung entschieden, eben solche Geld- und Macht-Menschen waren, wie Vigny sie mit seinem John Bell böse kritisiert hatte. Und insofern erscheint es nur folgerichtig, wenn Henry Wallis mit seinem Ölbild Chatterton von 1855/56 erst gar nicht mehr versucht, eine aktive soziale Veränderung seiner definitiv materialistisch gewordenen Zeit zu bewirken oder auch nur zu suggerieren. Freilich schlummert auch in seiner Vision des ruinierten Poeten eine zart anstachelnde Sozialkritik: Der Chatterton seines Bildes liegt in christusähnlicher Märtyrerpose da; daß der Ruin die Vorgeschichte dieser Sterbepose ist, ist aus den Dingen des armseligen, finsteren Intérieurs abzulesen, aus denen zudem eine verdächtige vergangene Krampfbewegung des Verblassenden spricht. Aber während das Innere dieses Intérieurs erfüllt ist von einer merkwürdigen Unruhe in der Ruhe, liegt die Außenwelt tatsächlich in ungestörter Ruhe und Gleichgültigkeit im Licht des Morgens da, der auch ohne Chatterton, wie stets, beginnt. Chatterton stirbt unbeachtet, isoliert in seiner armseligen Dachbodenkammer: darin steckt durchaus eine Anklage an diejenigen, die die Isolation, den Ruin und das Sterben zuließen – und die ein ähnliches Sterben auch „heute“ übersehen würden, geschähe es in einem Holborn, das 1855/56 dem des Bildes noch immer glich. So ist denn durchaus eine Sozialkritik Wallis’ Chatterton zu entziehen, oder eine „Moral“, wie die Kritiker der Jahrhundertmitte sagten. Auch wurde von den einen eine „Moral“ in Chatterton vermutet – das Werk von anderen aber aufgrund seiner „Unmoral“ verschrieen. Unmoralisch sei das Bild aber gewesen als Beschönigung des Selbstmordes, vielleicht gar als Verführung. Und verführerisch-schön ist Wallis’ Chatterton auch; und diese Schönheit des Bildes konzentriert sich freilich in der Schönheit ihres Zentralstücks, der Figur des verblassenden Poeten. Es ist eine Figur, die irritierend und folglich fesselnd ist: weil man nicht weiß, ist sie tot – oder noch lebendig – oder merkwürdig lebendig trotz des erfolgten Todes? – Chatterton liegt in einem Zwischen-Zustand, in dem er schon von den Spuren des Todes gezeichnet ist – die Blässe, die unbequem entspannte Haltung –, ohne vom Tod entstellt zu sein. Und der Anreiz des Bildes speist sich zweifelsohne aus dem, was noch einmal resümiert zum Ausdruck kommt in einer vom Künstler insinuierten Dreieckskomposition: der Dreieckskomposition zwischen dem verblassenden erblühenden Dichter – seiner welkenden Rose – und seiner ruhenden, abgelegten, doch noch immer wie erwartend daliegenden Feder (korrespondierend mit dem zweiten, die dichterische Zeugungskraft symbolisierenden Körperdetail in der Mitte des Bildes). Jenes eigentümliche Gemisch aus Eros und Morbidität, Sinnlichkeit und Tiefsinn, Moral und Unmoral, das aus besagter Dreieckskomposition noch ein-
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mal konzentriert wortlos (an)spricht: das ist es wohl, was das Verstörende, Elektrisierende, das Eindrückliche und letztlich Unvergeßliche von Wallis’ Chatterton ausmacht. Aber vielleicht ist eben deshalb doch etwas an dem Vorwurf der Beschönigung des Selbstmordes dran. Nur wäre es mehr der Tod als der Selbstmord, der hier verführerisch gemacht wäre, oder genauer gesagt: die Vision einer „luxury of death“. “Now move your head towards me. So.” He turned his own head so that he was staring down at the floor. “No, you look as if you are about to fall asleep. Allow yourself the luxury of death. Go on.” Meredith settled more deliberately on the bed, and at once felt something digging into his back. “Did you ever read,” he asked, “the story of the princess and the pea?” He got up for a moment, and found a small red button lying on the sheet beneath him. He put it into his trouser pocket and then lay back again. “I can endure death,” he said into the air. “It is the representation of death I cannot bear.”589
In Ackroyds Roman Chatterton fällt es dem (auch in historischer Wirklichkeit stets energiegeladenen und unruhigen) Meredith schwer, die „representation of death“ zu ertragen – sich der „luxury of death“ hinzugeben, so wie Wallis es ihm abverlangt. Aber letztlich muß es dem historischen Meredith doch geglückt sein, mit dem „richtigen“ Ausdruck Modell zu liegen; zumindest drückt der Chatterton des Gemäldes eben dieses aus: eine totale Hingabe zur Entspannung; ein absolutes Sichgehenlassen in das Daliegen, halb hinabgeglitten von dem Bett, ohne daß auch nur aus einer verdächtig-lebendigen Verspannung des Körpers ein Verhindern des Fallens abzulesen wäre. Und nun ist zu erinnern, daß dieser Chatterton eine bewegte Geschichte hinter sich hat: ein Ankämpfen gegen den Ruin (der seiner Kammer abzulesen ist aus jedem ihrer armseligen, heruntergekommenen Dinge), gipfelnd in einem Ankämpfen gegen den Tod, der Resultat eines Selbstmordes ist, mit dem der Poet sein letztes Scheitern an der ihm feindlich gesonnenen Welt des Merkantilen, Materiellen, zugab und selber vorweggriff. Chatterton hat einen Kampf hinter sich, der nicht in seiner letzten Konsequenz, aber in seinem Anfang jedem Betrachter von 1855/56 allzu vertraut gewesen ist. „[E]verything must be kept within the bounds of what is charming, temperate and prosperous, without in any degree suggesting the struggle for existence”590 – so charakterisierte der Schriftsteller Richard Muther Ende des 19. Jahrhunderts das Gemälde, das der viktorianische Mensch sich am liebsten in sein Intérieur hängte. Und nichts durfte darin an den „Kampf um die Existenz“ erinnern – dem jeder sich im Alltag einer Zeit des „ungeregelten Kapitalismus“ ausgesetzt fühlte, die eine „stän-
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––––––––––––––––––– Ackroyd: Chatterton, S. 138. Muther: A History of Modern Painting, Bd. 3, 1896, S. 114; zit. n. Treuherz: Hard Times, S. 9.
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dig sich rührende Angst um die Erhaltung des Lebens“591 aus sich hervorbrachte. Eine gewisse Unruhe und Gehetztheit, ein Gefühl der Atem- und ewigen Zeitnot kannte nicht nur Mörikes Mozart in der Novelle desselben Jahrs 1856, in dem Wallis Chatterton vollendete, und der auf seiner Reise nach Prag von der dringlichen Notwendigkeit getrieben wird, einige fehlende Stücke von Don Giovanni zu komponieren, um damit sein Brot zu verdienen.592 Auch Dickens, Kind einer ruinierten Familie, dem es im Laufe seines Arbeitslebens materiell immer besser ging, arbeitete trotzdem in stetem, selbstauferlegten Zeitdruck gegen die Uhr, die Phasen des rasenden Schreibens nur abgelöst von denen des wiederum rasenden Spaziergangs zur Entspannung und Regenerierung. Und wenn Mörike in seiner Novelle nahelegt, daß Mozart sich zu Tode gehetzt und förmlich erschöpft habe, ist eben das Ackroyds Finalthese seiner Dickens-Biographie: Auch Dickens habe sich am Ende zu Tode gearbeitet oder zumindest seinen Tod durch rastlose Überarbeitung verfrüht.593 George Meredith starb seinerseits zwar erst im gesegneten Alter von einundachtzig Jahren (zuletzt war er allerdings taub gewesen und infolge einer Krankheit „so crippled that at times he“, daß der große Motoriker, „could not stand up“594); aber auch Meredith hatte im selben Rhythmus wie Dickens und Mörikes Mozart gearbeitet; und zahlreiche andere Schriftsteller des 19. Jahrhunderts sind für ähnliches berüchtigt – wie Honoré de Balzac, der sich schreibend aufrieb und dennoch nur in Räumen mit Hintertüren arbeiten konnte, ewig auf der Flucht vor den Gläubigern; wie George Sand, die ihre Nächte bis zur Erschöpfung, bis zum Zusammenbrechen über dem jeweiligen Manuskript unter ihrer Hand durchmachte; wie Alexandre Dumas (der Ältere), der dauernd derart überbrodelnd war von einer unmäßigen Ideenproduktion, daß er einen Stab von helfenden Dichterhände gleich mitversorgte mit der Ausarbeitung; wie Alfred de Vigny, der sein Drama Chatterton in nur siebzehn Nächten niederschrieb, von wiederholten Ohnmachtsanfällen unterbrochen infolge der übermäßigen Anspannung... So scheinen alle diese Berufsschriftsteller des mittigen 19. Jahrhunderts durchaus vom Geist ihrer Zeit kontaminiert gewesen zu sein: der nach einem rasend-schreibenden Anringen gegen den ewig gefürchteten Ruin verlangte und es nicht zuließ, Zeit unproduktiv zu verschwenden. Und es ist diese Zeit, in der Ruskin dem Betrachter von Wallis’ Chatterton rät: „Give it much time.“595 591 592
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––––––––––––––––––– Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 100. „Allmittelst geht und rennt und saust das Leben hin – Herr Gott! Bedenkt man’s recht, es möcht’ einem der Angstschweiß ausbrechen!“ In diesem Ausruf bündelt sich die Lebens- und Zeiterfahrung des Mozart aus Mörikes Novelle von 1856, siehe Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 9. Diese These verdichtet sich allmählich durch die letzten Kapitel von Ackroyds Dickens hindurch; vor allem ab S. 507-508. Siehe den Absatz Success and Old Age (1885-1909) in: „George Meredith…” [Biographie], o. S. Das berühmte Zitat aus Ruskins Academy Notes ist, noch einmal, wiedergegeben nach Parris: The Pre-Raphaelites, S. 144.
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„Viel Zeit“ solle der Betrachter der „Lektüre“ des Bildes eines nicht länger rasenden, sondern sich der „luxury of death“ hingebenden Poeten zuteil werden lassen. „Viel Zeit“ fordert das Bildnis dieses nicht mehr um seine Existenz ringenden Dichters ein – dessen schön und hingebungsvoll darniedergesunkene Pose vielleicht gerade auf denjenigen einen morbid-anziehenden Reiz ausübt, der sich im Alltag auf Dauer gehetzt fühlt vom Ringen um die eigene Existenz. Daß dieser Chatterton nämlich nichts mehr aus sich hervorbringen kann, das ist die tragische Moral des Bildes. Daß dieser Chatterton nichts mehr aus sich hervorbringen muß: das jedoch mag die geheimste, verlockendste Unmoral daran sein. „Give it much time“ – das heißt umgekehrt, daß Chatterton seinem Betrachter Zeit gewährt, beziehungsweise einen Moment der Zeitlosigkeit. Es ist die Zeitlosigkeit der Versunkenheit in das Bild des schönen, verblassenden, reglosen und sich gar nicht mehr regen müssenden Poeten, die – bei aller leise pulsierenden Unruhe des Bildes, welche ein tröstlich-trotziges Nachleben des Chattertonschen Geists und seinen über den Verfall des Materiellen suggeriert – dennoch weniger empört und sozialkritisch aufstachelt als in den Zustand einer lethargisch-resignierten Romantisierung versetzt, eines Sich-Gehen-Lassens im morbid-schönen Anblick des zu betrauernden – aber vielleicht auch ein wenig zu beneidenden Poeten. Vielleicht ist es dieser Reiz, der auch heute noch, in einer Zeit, die sich seit 1856 nicht eben entwirtschaftlicht und verlangsamt hat, zum Nachleben des Ruhmes ausgerechnet von Wallis’ Chatterton beiträgt, nicht vom Chatterton-Drama Vignys und schon gar nicht vom bis heute ungewürdigten (Selbst-)Bild des ruinierten Poeten, das Thomas Chatterton einst selber erdachte, in einer satirisch-modernen und einer mittelalterlich verkappten Spielart. Auch keine spätere Thematisierung Chattertons durch Kunst oder Literatur, Oper oder Theater ist so nachhaltig berühmt geworden wie der verblassende Poet Henry Wallis’. Und natürlich könnte man sich jedesmal wieder fragen: warum?, und etwa Ernst Penzoldts Roman Der arme Chatterton (von 1928) oder Hans Henny Jahnns Drama Thomas Chatterton (von 1955) untersuchen, als die deutschen Fortsetzungen der Legende Chatterton. Doch wiewohl es mit dem Mythos Chatterton alles andere als zu Ende war nach 1856596 und es insofern noch viel zu erforschen gäbe, will ich es an dieser Stelle wie Wallis tun und zitieren: „Cut is the branch that might have grown full straight / And burned is Apollo’s laurel bough.“ – Wohlwissend, daß erst der Schnitt, das abrupte Ende, der Beginn des Andenkens und Nachdenkens über das ist, was war (und bis hierher genug war). 596
––––––––––––––––––– Noch einmal sei am Rande an Goodriges „Checkliste“ von 1999 erinnert (siehe Goodrigde: Rowley’s Ghost), jene Kompilation sämtlicher zu Chatterton produzierter Werke, unterteilt nach „Poetry“, „Fiction“, „Dramatic and Musical Works“ und „Visual Representations“. Eine Checkliste, die 247 Titel zählt – 247 Rezeptionen und Fortsetzungen des Mythos Chatterton, von 1770 bis 1999.
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10 Dernière journée de travail, le 14 novembre oder Nachwort Dieses Buch ist Thomas Chatterton gewidmet, seinem Werk und seinem Wirken: Denn das Problem, das Chatterton verkörpert, ist schließlich nach wie vor, wenn nicht sogar heute erst recht aktuell. Es ist das Problem einer Welt, die sich noch immer weiter verwirtschaftlicht. Dieser Prozeß hat aber eine lange Vorgeschichte, denn schon Thomas Chatterton störte sich in den 1760er Jahren daran. Freilich, der ambitionierte Jungdichter lebte in der Handelsstadt Bristol, und da war der moderne Merkantilgeist, der erst das 19. Jahrhundert definitiv prägen und damit die Folgezeit vorprägen würde, bereits spürbarer als anderswo. Trotzdem, auch außerhalb von Bristol war Chatterton nicht der einzige, der am neuerdings lebensbestimmenden Streben nach Nutzen und Gewinn litt ‒ und der sich im Gegenzug von dem Romantisch-Mittelalterlichen begeistern ließ, das er in seiner einseitig kaufmännisch orientierten Umgebung vermißte. Ein liebhaberisches Bedürfnis nach den „Kuriositäten“ oder „Reliquien“ einer „guten alten Zeit“ hatte gegriffen: denn diese alten Dinge schienen jene unverwirtschaftlichte, moralisch gute, stabile und warmherzige Vorzeit zu verbürgen, die einem fehlte. Diese materiell wertlosen, jedoch emotional unsagbar teuren alten Dinge ‒ die allerdings oft genug Produkte geschickter „Altertumsfälscher“ waren ‒ waren Projektionsflächen der Sehnsüchte ihrer Käufer und Sammler und deshalb so beliebt. Was Chatterton also tat, war verwegen und genial in einem. Er bediente seinerseits einen Bristoler Zirkel von Kuriositätenliebhabern mit gefälschten Mittelalterfragmenten. Das brachte ihm etwas Geld ein, und der vaterlose Notarslehrling dachte notgedrungen an das Geldverdienen und war ohnehin selbst, gleichsam widerwillig, vom Bristoler Streben nach Gewinn infiziert. Wenn es ihm jedoch um Geld allein gegangen wäre, hätte er seinen Abnehmern auch irgendwelche pseudomittelalterlichen Schriften verkaufen können, und das tat er nicht. Inspiriert durch seinen Konflikt, als Dichter in einer Welt der Kaufleute zu leben, darüber hinaus aber selber Kaufmann genug zu sein, verkäufliche „Ware“ anstatt von „wahrer Poesie“ zu produzieren, schrieb er Intrest thou universal God of Men; aber nicht nur diese Satire. Chattertons ganzes pseudomittelalterliches Rowley-Werk wurde aus demselben rebellischen Feuer heraus „gefälscht“. Aus diesem Grund ist es seinerseits durchweht vom Geist des Satirikers, der im Gewande von Rowleys alter Welt der neuen einen Spiegel vorhält. Nur das ist eben der Unterschied: Eine Zeit lang hatte, so Chattertons Mittelaltergeschichte, der kaufmännisch gewitzte Dichter-Mönch Rowley das Glück gehabt, erfolgreich mit einem kulturliebenden Freund und Kaufmann zusammenzuwirken, Wyllyam Canynge. Der war sogar mehr als Kaufmann und Mäzen gewesen, nämlich fünfmaliger Bürgermeister von Bristol, also ein großer Geld- und Machthaber seiner Zeit. Diese Position hatte er indessen genutzt, um mit seinem Dichter-
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freund Rowley gemeinsam Kultur zu stiften ‒ was wiederum der Wirtschaft des alten Bristol förderlich gewesen war, sowie auch ihm und Rowley persönlichen Gewinn eingebracht hatte. Canynge hatte praktische und ästhetische, wohltätige und religiöse Bauwerke errichten lassen, u.a. die Kathedrale St. Mary Redcliffe ‒ zu deren Architektur ihn alte Zeichnungen angeregt hatten. Denn das war Canynges geniale Idee gewesen: Rowley auf die Jagd nach Zeichnungen und Manuskripten alter Vorzeiten zu schicken, um sie zu sammeln und sich daran zu inspirieren, um eigene, sinnvolle Neuerungen zu erschaffen. Die Umgebung Canynges und Rowleys mochte nur nach wirtschaftlichem Gewinn allein streben, denn sie war bereits allzu verwirtschaftlicht, so Chatterton; aber Canynge und Rowley zeigten, wie es „richtig“ zu machen war. Sie zeigten, wie kultureller und wirtschaftlicher Fortschritt Hand in Hand gehen sollten und wie die einseitige Verwirtschaftlichung ihres Spätmittelalters zu korrigieren wäre, im Rückgriff auf die Relikte alter Vorzeiten und auf die innovative Phantasie. Was Canynge und Rowley in ihren alten Manuskripten sammelten, sowie in Form eigener neuer Ideenmanuskripte produzierten, waren Dokumente mit dem Wert von Papiergeld, Aktien des künftigen Fortschritts. Hätten die Käufer, die Chatterton für seine Rowley-„Kuriositäten“ fand, diesen Hintersinn darin gesehen, sie hätten sich ihrerseits am Vorbild der Gegenkulturstifter Canynge und Rowley inspirieren können. Ob es Chatterton damit ernst war oder ob mehr satirischer Witz dahinter steckte ‒ jedenfalls bot er seiner Welt „alte Manuskripte“ an, die noch immer den Geldwert der Inspirationsmittel zukünftigen Weltverbessern hätten enthalten können ‒ man hätte sie nur als solche durchschauen und sie entsprechend nutzen müssen… Freilich, eine konkrete Gebrauchsanweisung steckte nicht in ihnen. Doch immerhin eine Moral oder Leitidee: daß der Wirtschaftsmensch den Poeten nicht verachten und absondern, sondern daß er ihn würdigen und nutzen sollte, um eine Welt zu gestalten, in der kultureller und wirtschaftlicher Fortschritt sich gegenseitig bedingten. * Sollte Chatterton selbst ein wenig an die Möglichkeit dieser besseren Welt geglaubt haben, es wäre auch in ihm keine blinde Hoffnung gewesen. Daß er vielmehr seine Machtlosigkeit erkannte, als Dichter gegen die Welt der Kaufleute anzukommen oder darin einen „modernen“ Canynge zu finden, dieses steckt in der zweiten Bedeutung, die er seinen „Mittelalterfragmenten“ gab ‒ und die sie, epochengeschichtlich zu früh, geradezu „romantisch“ machten. Da Canynge und Rowley in der zweiten Hälfte ihrer Existenz am Wirtschaftsgeist ihrer Zeit scheitern und folglich als Weltrestauratoren ruiniert sind, verlieren ihre Manuskripte ihren Geldwert: Sie sind nicht mehr zur Kulturstiftung verwendbar. Anstattdessen fungieren sie jetzt nur noch als gedankliche Fluchttore ‒ in eine bessere alte Zeit, der Sachsen. ‒ Nach dem Tod der mittelalterlichen Gegenkulturstifter bleibt ihre Manuskriptsammlung dann allein von ihrem Werk und ihrer Sammelleidenschaft übrig. Die entwerteten Aktien künftigen Fortschritts
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und/oder Fluchttore in die gute alte Zeit der Sachsen sind nunmehr die Bruchstücke des Ruins Canynges und Rowleys geworden. Damit aber hätte sich der desillusionierte und nach Romantik bedürftige Altertumssammler der Chattertonzeit, der diese Bedeutung herausgefunden hätte, seinerseits wehmütig in das Andenken der guten alten Vorzeit Canynges und Rowleys versenken können ‒ in der die beiden erst zum Schluß Gescheiterten zumindest eine Weile lang in ihrem vorbildlichen Tun erfolgreich gewesen waren… Auch diese zweite Lesart steckte in den vermeintlichen „alten Kuriositäten“, deren Authentizität Chatterton seinen Zeitgenossen für bare Münze verkaufen wollte. Damit hätte man sie also, optimistisch gestimmt, als Inspirationsquellen mit Papiergeldwert erachten können oder, pessimistisch gestimmt, als Bruchstücke eines historischen Ruins. Im erstgenannten Sinn wären Chattertons Rowley-Dokumente die Aufforderung zu einem „unromantischen“ Handeln gegen die einseitige Verwirtschaftlichung seiner Welt gewesen, im zweiten die Einladung zu einer „romantischen“ Weltflucht. Denn die Bewegung der Romantik an sich stellte eine Rebellion der Desillusionierten dar. Die Zeit des aufklärerischen Zukunftsoptimismus und Fortschrittsglaubens war vorbei; geblieben war die Zweckratio einer Gesellschaft, die sich, übrigens im Ganzen recht ungestört durch die zunächst auf die Französische Revolution und dann auf Napoleon zurückzuführenden politischen Unruhen Europas, kontinuierlich weiter industrialisierte. Gegen diese Welt der „Philister“ oder „Bourgeois“ oder eben Kaufleute bäumten sich die jungen Romantiker auf ‒ aber nicht, indem sie sie revolutionär aus den Angeln gehoben hätten. Die Rebellion derer, die sich als machtlos erkannten, ihre Welt zu verändern, d.h. sie „poetischer“ zu machen, bestand in der demonstrativen Einnahme einer weltabgekehrten Protesthaltung.597 Diese Haltung des „romantischen Genius“ machte freilich Furore. Nicht jeder Alltagsmensch fühlte sich zum Poeten und damit zum „geborenen Romantiker“ berufen; aber auch der Alltagsmensch war bedürftig genug nach dem Romantischen, das seinem Realleben fehlte, um sich gern mit dem Wunschbild des rebellischen Genies zu identifizieren, oder genauer: mit einer seiner zahlreichen Spielformen. Denn zahllose wirkliche Künstler und Poeten schlüpften in die Rolle des romantisch-rebellischen Genies oder wurden, meistens postum, zu solchen Vorbildfiguren erhoben. So geschah es auch mit Chatterton; und das hatte zur Folge, daß man nicht nur seine Person und Biographie, sondern auch sein Werk einseitig romantisch sah. Deshalb waren die englischen Romantiker speziell von Chattertons Rowley-Werk fasziniert, das sie als Utopie schätzten, als geniale Erfindung einer mittelalterlichen Gegenwelt zur unpoetischen Realwelt. Es fand sich niemand, der die Fragmente, die ja auch nur gesammelt ihre Botschaft preisgegeben hätten, zusammengeführt und dann auch noch aus jenem schwierigen „Altenglisch“ übersetzt hätte, das Chatterton erfand; ganz zu 597
––––––––––––––––––– Siehe zur Romantik als Rebellion „nur“ auf dem Felde der Ästhetik, Kunst und Literatur noch einmal Wilson: Rebels and Martyrs, S. 10, sowie Kelly: The Marvellous Boy, S. 104.
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schweigen davon, daß seine Manuskripte mit Staub, Kerzenrauch, Ocker, etc. bis zu ihrer tendenziellen Unleserlichkeit nachgealtert waren. Und sollten etwa Southey und Keats, die großen Chatterton-Liebhaber, die selbst einen praktischmerkantilen Charakterzug hatten, Entsprechendes in den Werken ihres Idols entdeckt haben ‒ sie hätten den Teufel getan, den schönen romantischen Mythos Chatterton durch die Aufdeckung seiner unschön-unromantischen Seiten zu entweihen. Im Gegenteil trug Southey mit seiner Chatterton-Werkausgabe, Keats mit seinen lyrischen Chatterton-Bildern zur Romantisierung des verwegenen Fälscher-Dichters maßgeblich bei. * Aber dann kam Alfred de Vigny, und der war auf seine Weise 1834/35 nicht weniger verwegen als Chatterton. Er benutzte dessen Namen ‒ wobei es wohl ausgeschlossen ist, daß er Chattertons Werk tiefgründig genug studiert hatte, um entdeckt zu haben, was an Unromantisch-Sozialkritischem darin steckte. So kommt es einem kuriosen historischen Zufall gleich, daß Vigny Chattertons Namen benutzte, um mit ihm ähnlich zu verfahren wie Chatterton mit den Namen Canynge und Rowley. Im Namen Chattertons erzählte Vigny eine Ruingeschichte, die allerdings ungemein bewegend sein sollte. Um diesen Effekt zu erreichen, ließ Vigny seinerseits jene „anderen“ Dinge reden ‒ nicht die materiell wertvollen, sondern die armen, alten, dafür aber mit intimen Gefühlen und uneingestandenen Sehnsüchten befrachteten. Über solche Dinge kommunizieren die gefühlvollen Individuen seines Dramas, die in der Welt des kalten Geschäftslebens nichts zu sagen haben und daher zugleich fehl am Platz und wie eingekerkert sind. So läuft alles auf den Ruin dieser beiden Existenzen hinaus, die sich hier unheilbringend als Gegenüber finden: der arme Poet Chatterton und die sensible, ja fragile Kitty, Gattin des brutalen Kaufmannes John Bell. Am Ende sind Chatterton und Kitty dann selbst zu „toten Dingen“ reduziert: zu entseelten Leichnamen. Sie bleiben auf der Bühne, dem Schlachtfeld des Ruins, mit allen weiteren Objekten zurück, die das Drama des Ruins antrieben und nun seine Bruchstücke sind. Der Appell, der von ihnen ausging, brachte die Gemüter der Zuschauer von 1835 zum Rasen: sprachen die Bruchstücke des Ruins doch die himmelschreiende Ungerechtigkeit aus, die das Martyrium des Dichters und seiner armen Muse verursacht hatten! ‒ Die Bruchstücke des Ruins, inklusive der beiden Leichen, klagten stumm, aber ungemein effektiv John Bell, Lord Beckford und die anderen Geld- und Machthaber an, die schuldig am Niedergang der beiden Dramencharaktere waren, die am Unmenschlichen einer Welt zugrundegegangen waren, die bis zur Maschinisierung ihrer menschlichen Repräsentanten „materialisiert“ und verhärtet war. Mit dieser Botschaft wollte Vigny gezielt sein Publikum auf die Barrikaden bringen. Das war in gewisser Hinsicht unverschämt von ihm: Denn im Theater dieser Zeit der französischen Romantik suchte der Alltagsmensch eher ein erholsames Abtauchen in die romantisch-gefühlsgeladenen Dramenwelten, die erfüllend anders als die Arbeitstage seiner Realexistenz waren. Der Dramenbesu-
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cher suchte im Theater gerade nicht danach, zu einer aktiven Bewegung und Parteinahme motiviert zu werden, zu irgendeiner manifesten Auflehnung gegen die unromantische Verwirtschaftlichung der Gesellschaft, die hier im Namen Chattertons angeprangert wurde. Vigny selbst, der weltscheue und sensible Dichter, überwand sich allerdings dazu, wiederholt in politischen Kreisen nach einem staatlichen Stipendium für arme Poeten zu fordern, nach Abhilfe für ihre Misere zu verlangen. Doch vergeblich. Er mußte erkennen, daß diejenigen, die er in der Gestalt des Kaufmannes Bell und des Bürgermeisters Beckford angeprangert hatte, bereits zu sehr die Machthaber der Gesellschaft geworden waren, um sich auf seine humanitären Forderungen einzulassen. * Vignys Chatterton-Drama war in dem, was es thematisierte, zu aktuell, um seinen Zweck zu erfüllen und die Gesellschaft wachzurütteln, anstatt nur die nach Romantik bedürftigen Herzen zu ihrem Selbstgenuß anzurühren. Das war auch 1857 der Fall, in den erst recht materialistischen Jahren des Second Empire. In den gesellschaftlichen Strukturen bewegte Chatterton wiederum nichts; aber trotz allem bewegte das Drama des ruinierten Poeten am Ende erneut die Gemüter seines Publikums ‒ obwohl dieses mittlerweile selbst weit weniger romantisch gestimmt war als wirtschaftlich-zweckrational vorgeprägt. Gerade deshalb ist der Bühnenerfolg des wiederaufgeführten Dramas allerdings wiederum nicht so erstaunlich: Je verwirtschaftlichter die Gesellschaft, desto aktueller ihre Opferfigur, der ruinierte Poet. Aus diesem Grund ist es auch kein Zufall, daß Wallis etwa zur selben Zeit, 1855/56, sein Ölbild des ruinierten und verblassenden Poeten malte. Nur war er in seinem Stil nicht zufällig von den Präraphaeliten inspiriert. Diese galten als Nachfolger der Romantiker, insofern sie Rebellen „nur“ auf dem Felde des Ästhetischen waren ‒ nicht auf dem des Gesellschaftlich-Politischen. Ihre Art, gegen eine zu materialistisch gewordene, zu einseitig an den Warendingen interessierte Welt auf die Barrikaden zu gehen, bestand in der Produktion eines neuen Kunststils. Die Präraphaeliten waren, auf ihrem Felde der bildenden Kunst, eine revolutionäre Geheimbrüderschaft, deren Waffe es war, die detailrealistisch gemalten Dinge zu vergeistigten Symbolen zu überhöhen, welche in ihrer Summe eine Bild-Geschichte „erzählten“, die mit viel Zeit und Sensibilität zu enträtseln war, um am Ende auf eine „Moral“ zu kommen. Diese Moral implizierte dann eine Gesellschaftskritik, manchmal verkappt im Gewand eines „mittelalterlichen“ Bildthemas, manchmal offenkundig und zeitgenössisch sozialkritisch. Da Wallis seinerseits inspiriert von der präraphaelitischen Manier malte, lag es nahe, auch eine sozialkritische Moral hinter seinem Chatterton zu vermuten. Nur das ist es eben: Daß man die besagte Moral vermuten muß, anstatt sie eindeutig im Werk zu finden, das macht sie etwas suspekt. In der Tat könnte die traurige Moral des Gemäldes darin bestehen, daß der verblassende Chatterton in seiner ruinierten Dachbodenkammer am Sterben ist, während oder weil draußen die kalt beschiene City von London, das Wirt-
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schaftsviertel der Metropole, gänzlich unberührt davon daliegt. Diese Moral des Ruins oder Martyriums oder vergeblichen Existenzkampfs des isolierten Dichters in der Welt des Materiellen könnte der Bildbetrachter auch den Bruchstücken des Dichterruins entnehmen, die einmal mehr auf ihre stumm-appellierende Weise Chattertons Geschichte erzählen. Nur erzählen oder bewegen diese Dinge, von der leeren Phiole über die verwaiste Schreibfeder bis zur welkenden Rose auf dem Fenstersims, zugleich noch anders. Mindestens ebenso wichtig wie die Motive, die dazu führten, daß ein junger Poet sich tötete, ist in Wallis’ Bild die Frage: ob er wirklich tot ist ‒ ? Und da das Bild merkwürdig lebendig pulsiert mit seinem Spiel der echohaft sich wiederholenden Grundfarbtöne; da alle Dinge hier, inklusive des Chatterton-Körpers mit seinen lebendig roten Haaren, ebenso von einem „noch nicht“ wie von einem „nicht mehr“ erzählen ‒ aus diesem Grunde verweigert sich das Bild dem Schluß, daß Chatterton tot sei. Er ist am Verblassen; doch am Verblassen wird er ewig sein, so fixiert in diesem Bilde. Solange das Bild des Verblassenden existiert, wird er niemals tot ‒ und niemals vergessen sein: weil dieses Bild selbst etwas von seinem pulsierenden Geist lebendig bewahrt. So daß das Bild seiner ruinierten Dachbodenkammer und seines verblassenden Körpers zugleich ein Bild des letzten Triumphes Chattertons ist: des letzten Triumphs des Poeten in seinem unsterblichen Andenken. Weil die Welt ihn hungern und sich aus Verzweiflung töten ließ, deshalb wurde er moderne Märtyrer Chatterton in seinem Nachleben, in seinem Andenken, unsterblich: So könnte man die emphatische Moral auf den Punkt bringen, die in Wallis’ Chatterton steckt. Aber eben diese Moral wird noch verstärkt durch die Unmoral des Bildes: Chatterton wird ewig lebendig im Andenken seines Betrachters bleiben, weil er beunruhigend lebendig und leichenblaß ist ‒ und weil er dabei beunruhigend lebendig-schön ist. Es ist seine vitale, sinnliche, subtil erotische Ausstrahlung, die das „Untote“, lebendig Anrührende des Poeten auf die Spitze treibt ‒ und beunruhigend schön ist dabei nicht bloß sein Antlitz oder Körper. Der androgyne Jüngling ist gerade als Sterbender schön, in seiner letzten, nun entspannten Pose, der man jedoch ansieht, daß sie Folge einer heftigen Bewegung ist, eines krampfhaften Ankämpfens gegen den Gifttod. Doch diese letzte Ruhe nach dem traurigen Finale eines vergeblichen Existenzkampfs, den Chatterton beispielhaft vorführte ‒ den aber jeder Mensch des verwirtschaftlichten und sozial unsicheren 19. Jahrhunderts kannte; diese letzte Ruhe nach dem gescheiterten Existenzkampf war beunruhigend schön, wenn nicht verlockend. ‒ Wollte Wallis wirklich, so wie man es ihm und vorher Vigny vorgeworfen hatte, zum Selbstmord verführen? Das ist nicht anzunehmen. Wallis wollte zwar auch nicht mehr ernsthaft die Gemüter dazu bewegen, aktiv gegen eine materialistische Welt aufzubegehren, gegen die nicht mehr aufzubegehren war; dazu war die Verwirtschaftlichung viel zu fest verankert, viel zu weit fortgeschritten, viel zu „normal“ geworden. Zum
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Selbstmord animieren wollte Wallis jedoch auch nicht. Er wollte eine merkwürdige „nach-romantische“ Gemütsbewegung ansprechen. Er wollte diese morbide Sehnsucht stillen und zugleich nähren, die Mitte des 19. Jahrhunderts von seinen Zeitgenossen Besitz ergriff. Ab dieser Zeit wurde die Männermode zusehends schwarz – die Farbe, die vordem der Trauer reserviert war. Die Frauenmode sollte sich bis Ende des Jahrhunderts ihrerseits zusehends einschwärzen. Es war, als läge eine undefinierte Trauer auf allen Gemütern, und konkret geschürt wurde sie in England durch das Vorbild der Königin Viktoria, die seit dem Tod ihres Gatten, des Prinzgemahls Albert, im Dezember 1861 bis zu ihrem eigenen Sterben 1901 ihr Leben lang Trauer trug. Damit wurde die Trauer zu einer Art Mode. In Wahrheit war sie jedoch mehr ein Symbol, ein Ausdruck des schwermütigen Geists der Epoche. Man vermutet, daß die Menschen mehr und mehr Schwarz anlegten, mehr und mehr Geld in die „echte“ Trauerkleidung und ihre Accessoires steckten, sowie mehr und mehr Geschmack an morbiden Schmuckstücken, Kunstwerken und Romanen fanden, weil die sozialen Mißstände um sie herum immer schwärzere, bedrückendere Dimensionen annahmen. Die Angst vor der sozialen Misere wurde immer größer ‒ die schwarze Trauer- und Ruinstimmung immer belastender.598 Doch wie gesagt, führte diese wachsende Angst vor der sozialen Misere und die daran gebundene Verdüsterung der Epochenstimmung im Gegenzug zu einem grenzwertigen Genußmoment, zu einem eigenartigen „Friedhofsgeschmack der Zeit“599, der in künstlerischen, literarischen und ästhetischen Hervorbringungen zunehmenden Ausdruck fand. Wallis’ Chatterton ist nicht die einzige schöne Leiche in Kunst oder Literatur der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Fin de siècle gewesen. Aber er ist wohl die einzige schöne Leiche gewesen, die gleich drei mehr oder minder moralische oder unmoralische Botschaften „aussprach“, auf ihre stumm-anklagende, nur den armen, alten, in ihrem Nutzgewinn entwerteten Dingen eigene Weise. Wallis’ Chatterton wollte durchaus dem neuen, nach-romantischen Schwelgen in den morbiden Dingen und in einer verdüsterten „Endzeitstimmung“ Nahrung geben. Aber er wollte trotz allem noch daran festhalten, daß dieses unmoralisch-selbstgenüßliche Schwelgen im morbid-schönen Anblick des jungen Verblassenden, dessen Ruin durch eine Welt des Materiellen sich soeben vollzogen hat, doch dessen letzter Triumph sei: der Triumph des unsterblich gemachten Märtyrer-Poeten in seinem Andenken. Das Andenken Chattertons zu wahren, hieß aber auch, am Mythos des ruinierten Poeten festzuhalten, oder vielmehr ihn absichtlich zu reaktualisieren. Und dieses Bild des beispielhaft fühlenden und phantasievollen Menschen, der an seiner materiellen Welt zugrunde ging, ist, seinem gezielt Übertriebenen,
598 599
––––––––––––––––––– Siehe Hoefer: Schwermut und Schönheit, Kapitel III.8.: Viktoria. Diese treffende Bezeichnung fand Giuseppe Tomasi die Lampedusa in seinem 19.-Jahrhundert-Roman Der Gattopardo, S. 165.
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Schablonenhaften und Pathetisch-Empörenden zum Trotz, im Kern stets ernsthaft sozialkritisch gemeint. Wallis bewegte mit seinem morbid-schönen und doch restweise sozialkritischen Ölbild zwar niemanden dazu, die Welt aktiv zu „restaurieren“, die Mißstände, welche die Verwirtschaftlichung nach sich gezogen hatte, zu beheben; und vermutlich reichte keines der 247 Werke, die in den letzten zweihundert Jahren zu Chatterton entstanden,600 in seiner Wirkung jemals tatsächlich aus dem Bereich des Ästhetischen hinaus. Trotzdem ist das, was man mit der Figur des ruinierten Poeten ausdrücken wollte, heute unbestreitbar aktuell. Chatterton, der einst ein wenig unromantisch, weil sozialkritisch gewordene Mythos eines ruinierten Poeten, mag zu pathetisch und insofern noch immer viel zu „romantisch“ für den Geschmack manches heutigen Menschen sein. Doch das, was Thomas Chatterton, Alfred de Vigny, Henry Wallis und einige andere im Namen des ruinierten Poeten zu bedenken geben wollten, ist auch heute noch ‒ in Zeiten der wachsenden sozialen „Eigenverantwortung“, der steigenden Ansprüche an die „Flexibilität“ und „Mobilität“ der Arbeitnehmer und schließlich der Angstgröße „Wirtschaftskrise“ ‒ bedenklich genug.
600
––––––––––––––––––– Siehe Goodrigde: Rowley’s Ghost.
Verzeichnis der Literatur und Abbildungen
1 Verzeichnis der verwendeten Literatur Chattertons Werke The Complete Works of Thomas Chatterton. A Bicentenary Edition. Edited by Donald S. Taylor in Association with Benjamin B. Hoover. Oxford 1971. The Rowley Poems by Thomas Chatterton. Reprinted from [Thomas] Tyrwhitts’s third edition. Edited, with an introduction, by Maurice Evan Hare. Oxford 1911. The Works of Thomas Chatterton. Containing his Life, by G[eorge] Gregory, D. D. and Miscellaneous Poems. [Edited by Robert Southey and Joseph Cottle.] London 1803.
Die englischen Romantiker zu Chatterton (eine Auswahl) Coleridge, Samuel Taylor: Monody on the Death of Chatterton. In: Ders.: Gedichte. Englisch und deutsch. Übersetzt und mit einer Einleitung hg. v. Edgar Mertner. Stuttgart 1973. (Universal-Bibliothek; 9484-86). S. 26-37. Keats, John: Endymion. A Poetic Romance. London 1947. Shelley, Percy Bysshe: Adonais. In: Ders.: Selected Poems. Hg. v. Wolfgang Clemen. Augsburg 1949. (Englische Meistertexte; 6). S. 89- 106. Wordsworth, William: Resolution and Independence. In: Ders.: Selected Poems and Prefaces. Edited with an introduction and notes by Jack Stillinger. Boston 1965. S. 165-169.
Alfred de Vigny zu Chatterton Vigny, Alfred de: Chatterton. Édition présentée, établie et annotée par Pierre-Louis Rey. Paris 2001. Vigny, Alfred de: Chatterton. Quitte pour la peur. Chronologie et introduction par François Germain. Paris 1968. Vigny, Alfred de: Sur les Œuvres de Chatterton. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. V. Théâtre. La Maréchale D’Ancre, Drame en 5 Actes, représenté sur le Théâtre Royal de L’Odéon le 23 Juin 1831. Chatterton, Drame en 3 Actes, représenté à la Comédie Française le 12 Février 1835. Quitte pour la Peur, Comédie en un Acte, représenté à L’Opéra le 30 Mai 1833. Paris 1838. S. 393-417.
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Verzeichnis der Literatur und Abbildungen
Sonstige Primärliteratur zu Chatterton Ackroyd, Peter: Chatterton. London 1987. Bell, Neill: Cover his Face. A Novel of the Life and Times of Thomas Chatterton, the Marvellous Boy of Bristol. London 1943. Croft, Herbert: Love and Madness, A Story Too True; in a Series of Letters between Parties, whose Names would perhaps be mentioned, were they less known, or less lamented. London 1809. [Erstausgabe: 1780]. S. 99-133. Jahnn, Hans Henny: Thomas Chatterton. Eine Tragödie von Hans Henny Jahnn. Frankfurt a. M. 1955. Penzoldt, Ernst: Der arme Chatterton. Geschichte eines Wunderkindes. Leipzig 1928. Rossetti, Dante Gabriel: Five Poets. In: The Collected Works of Dante Gabriel Rossetti. Edited with a Preface and Notes by William Rossetti. Bd. 1. Poems, Prose-Tales and Literary Papers. London 1890. S. 337-339.
Primärliteratur von Henry Wallis, George Meredith und Mary Ellen Meredith (eine Auswahl) Meredith, George: Evan Harrington. A Novel. Revised Edition. Westminster 1901. Meredith, George: Modern Love. London 1892. Meredith, George: The Adventures of Harry Richmond. Author’s Edition. [In der Reihe: George Meredith’s Works.] Boston 1893. Meredith, George: The Egoist. A Comedy in Narrative. Revised Edition. Westminster 1897. Meredith, Mary Ellen: Gastronomy and Civilization. In: Fraser’s Magazine, December 1851. Meredith, Mary Ellen: Soyer’s Modern Housewife, or Menagere. In: Fraser’s Magazine 44 (August 1851). S. 199-209. Wallis, Henry: Egyptian ceramic art: The Macgregor collection. A contribution towards the history of Egyptian pottery. With illustrations by the author. London 1898. Wallis, Henry: Italian ceramic art. Figure design and other forms of ornamentation in XV century Italian majolika. With Illustrations by Henry Wallis. London 1905. Wallis, Henry: Notes on some examples of early Persian pottery. No. 2. With Illustrations. London 1887. Wallis, Henry: Oak-leaf-jars: A fifteenth century Italian ware showing Moresco influence. With Illustrations by Henry Wallis. London 1903. Wallis, Henry: The Oriental influence on the ceramic art of the Italian Renaissance, with illustrations by Henry Wallis. London 1900.
Verzeichnis der Literatur und Abbildungen
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Farbabb. 8: Unbekannter Künstler, Portrait (mit Autogramm-Faksimile) von George Meredith. Goldprägedruck auf dem Titel der „Author’s Edition” der Bostoner „Roberts Brothers”, hier des Bands: The Adventures of Harry Richmond. By George Meredith. Boston 1893. Farbabb. 9: Unbekannter Künstler, George Meredith. From a Miniature in the Possession of Mrs. Sturgis. Frontispiz in: Sencourt: The Life of George Meredith. New York 1929. Farbabb. 10: Henry Wallis, Chatterton, 1855-56, Öl auf Leinwand, 62,2 x 93,3 cm., Tate Gallery, London. Abb nach Thomas: Victorian Narrative Painting [s.o.], S. 85. Farbabb. 11: Henry Wallis, Chatterton (Detail), 1855-56, Öl auf Leinwand, 62,2 x 93,3 cm., Tate Gallery London. Abb nach Thomas: Victorian Narrative Painting [s.o.], S. 82.
Abbildungen Abb. 1: Edward Matthew Ward, The South-Sea Bubble, A Scene in ‘Change Alley in 1720, 1847, Öl auf Leinwand, 129,5 x 188 cm, Tate Gallery, London. Abb. nach Julia Thomas: Victorian Narrative Painting. London 2000, S. 22. Abb. 2: H. K. Browne, Dealings with the Firm of Dombey and Son, 1848. Titelillustration in: Charles Dickens: Dealings with the Firm of Dombey and Son. London 1848. Abb. 3: Unbekannter Stahlstecher nach unbekanntem Künstler, View of Bristol with Saint Mary Redcliffe, o. J., Radio Times Hulton Picture Library, London. Abb. nach Linda Kelly: The Marvellous Boy. The Life and Myth of Thomas Chatterton. London 1971, Bildtafel gegenüber S. 28. Abb. 4: W. Hawkins nach G. Holmes, The Base of the Tower of Redcliff Church, with a view of the Muniment Room over the North Porch. Published by Longman & Rees, Dec. 13. 1802. Frontispiz in: The Works of Thomas Chatterton. Containing his Life, by G[eorge] Gregory, D. D. and Miscellaneous Poems. [Edited by Robert Southey and Joseph Cottle.] London 1803. Vol. I. Abb. 5: Storer nach King, Interior of the Room in Redcliff Church where Rowleys Manuscripts were said to have been deposited. Published by Longman & Rees, Dec. 13. 1802. Frontispiz in: The Works of Thomas Chatterton [s.o.], Vol. II. Abb. 6: Neele, Fac simile of Rowley’s Hand Writing / Fac-silime of Chatterton’s Hand Writing. Published by Longman & Rees Paternoster Row, Jan. 1. 1803. Frontispiz in: The Works of Thomas Chatterton [s.o.], Vol. III. Abb. 7: Bye & Smith nach Thomas Chatterton, The De Bergham Arms. From a Drawing by Chatterton, in the Possession of Mr. Cottle. Published for Longman & Rees, Dec. 13. 1802. Abb. nach: The Works of Thomas Chatterton [s.o.], Vol. II, Bildtafel folgend auf S. 452. Abb. 8: Unbekannter Hersteller, The Chatterton Handkerchief, 1782, rot und blau bedrucktes Taschentuch, British Museum, London. Abb. nach Kelly: The Marvellous Boy [s.o.], Bildtafel gegenüber S. 29.
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Abb. 9: Unbekannter Künstler, Chatterton (M. Geffroy), 1835. Maquette de costume pour la création de Chatterton, Bibliothèque de la Comédie Française, Paris. Abb. nach Vigny: Chatterton. Quitte pour la Peur. Chronologie et introduction par François Germain. Paris 1968, Titelbild. Abb. 10: Morin: Comédie Française. – Chatterton, par M. Alfred de Vigny (acte III, scène VI.), 1858, Holzschnitt, 180 x 230 cm, Privatbesitz. Abb. 11: Titelseite aus: Répertoire du Théâtre français à Berlin. N[umér]o 145. Chatterton, Drame en trois Actes par le Comte Alfred de Vigny. Berlin 1835. Abb. 12: Unbekannter Künstler, Le Comte Alfred de Vigny, d’après une photographie de M. Adrien Tournachon, um 1860, altkolorierter Holzschnitt, 20 x 16 cm. Abb. 13: Frontispiz zu: Alfred de Vigny: Chatterton, 1835, Bibliothèque Nationale, Paris. Abb. nach Kelly: The Marvellous Boy [s.o.], Bildtafel gegenüber S. 93. Abb. 14: Henry Wallis, Mary Ellen Meredith, 1858, Bleistift auf Papier, 10,2 x 8,3 cm. Privatbesitz. Abb. nach: www.victorianweb.org/painting/wallis/drawings/1.html. Abb. 15: Alais nach Branwhite, Chatterton. Frontispiz zu John Dix: Life of Chatterton. London 1837. Abb. nach Nick Groom (Hg.): Thomas Chatterton and Romantic Culture. New York 1999, Abb. 5 der Bildtafeln zwischen S. 150 und 151. Abb. 16: Unbekannter Stahlstecher nach unbekanntem Künstler, The ‘goggle-ey’d portrait’, publiziert von Baldwyn 1797. Abb. nach Groom (Hg.): Thomas Chatterton and Romantic Culture (s.o.), Abb. 4 der Bildtafeln zwischen S. 150 und 151. Abb. 17: Larry nach Wallis, aus Punch (Juni 1987), S. 25. Abb. nach Groom (Hg.): Thomas Chatterton and Romantic Culture (s.o.), Abb. 7 der Bildtafeln zwischen S. 150 und 151.
Anhang
1 Thomas Chatterton: The Art of Puffing by a Bookseller’s Journeyman (22. Juli 1770) VERSED by Experience in the subtle Art, The mysteries of a Title I impart: Teach the young Author how to please the Town, Ad make the heavy drug of Rhime go down. Since Curl, immortal, never dying name! A Double Pica in the Book of Fame, By various arts did various Dunces prop, And tickled every fancy to his Shop: Who can like Pottinger ensure a Book? Who judges with the solid taste of Cooke? Villains exalted in the midway Sky, Shall live again to drain your Purses dry: Nor yet unrivalled they: see Baldwin comes, Rich in Inventions, Patents, Cuts and hums: The honorable Boswell writes, ‘tis true, What else can Paoli’s supporter do. The trading Wits endavor to attain, Like Booksellers, the Worlds first Idol Gain: For this they puff the heavy Goldsmiths Line. And hail his Sentiment tho’ trite, divine; For this, the patriotic bard complains, And Bingley binds poor Liberty in Chains: For this was every reader’s faith deceiv’d, And Edmunds swore what nobody believ’d: For this the Wits in close Disguises fight; For this the varying Politicians write: For this each Month new Magazine are sold, With Dullness fill’d and transcripts of the Old. The Tow and Country struck a lucky hit, Was novel, sentimental, full of Wit: Aping her Walk the same Success to find, The Court and City hobbles far behind: Sons of Apollo learn; Merits’s no more, Than a good Frontispiece to grace the door.
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382 The Author who invents a title well, Will always find his cover’d Dullness sell; Flexney and every Bookseller will buy, Bound in neat Calf, the Work will never die.601
2 Thomas Chatterton: ‘Intrest thou universal God of Men’ (27. Oktober 1769) INTREST thou universal God of Men Wait on the Couplet and reprove the Pen If aught unwelcome to thy Ears shall rise Hold Jayl and Famine to the Poets Eyes Bid Satyre sheathe her sharp avenging Steel And lose Number rather than a meal Nay, prethee Honor, do not make me mad When I am hungry something must be had Can honest Consciousness of doing Right Provide a Dinner or a Girl at Night What tho’ Astrea decks my Soul in Gold My mortal Lumber trembles with the Cold Then curst Tormentor of my Peace begone Flattery’s a Cloak and I will put it on In a low Cottage shaking with the Wind A Door in front a Span of Light behind Tervono’s Lungs their mystic play began And Nature in the Infant mark’d the Man Six times the Youth of Morn the golden Sun Thro’ the twelve Stages of his Course had run Tervono rose the Merchant of the Plain His Soul was Traffic his Elysium Gain The ragged Chapmen found his Word a Law And lost in Barter evry fav’rite Taw. Thro’ various Scenes Tervono still ascends And still is making, still forgetting Friends Full of this Maxim often heard in Trade Friendship with Equals only can be made His Soul is all the Merchant, none can find The shadow of a Virtue in his Mind Nor are his Vices reason misapplied 601
––––––––––––––––––– Zitiert nach: Taylor (Hg.): The Complete Works of Thomas Chatterton, S. 650-651.
Anhang
383 Mean as his Spirit sneaking as his Pride, At City Dinner or a Turtle Feast As expeditious as a hungry Priest No foe to Bacchanalian brutal Rites In vile confusion dozing off the Nights Tervono would be flatter’d, shall I then In stigmatizing Satyre shake the Pen Muse for his Brow the Laurel Wreath prepare Tho’ soon ‘twill wither when tis planted there Come Panegyric, Adulation haste And sing this Wonder of Mercantile Taste And whilst his Virtue rises in my Lines The Patrons happy and the Poet dines Some philosophically cas’d in Steel Can neither Poverty or Hunger feel But this is not my Case: the Muses know What Water Gruel Stuff from Phoebus flow Then if the rage of Satire seize my brain May none but brother Poets meet the Strain May bulky Aldermen nor Vicars rise Hung in terrorem to their Brethrens Eyes When lost in trance by Gospel or by Law Into their inward Room the Senses draw There as they snore in Consultation deep Are by the Vulgar reckoned fast asleep602
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––––––––––––––––––– Zitiert nach ebd., S. 277-279.