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German Pages 387 [388] Year 2005
Wissenschaftler im George-Kreis
Wissenschaftler im George-Kreis Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft
Herausgegeben von Bernhard Böschenstein · Jürgen Egyptien Bertram Schefold · Wolfgang Graf Vitzthum
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Einbandabbildung: Pfingsttreffen von Mitgliedern des George-Kreises
1919 in der
V i l l a L o b s t e i n i n H e i d e l b e r g : S t e f a n G e o r g e (links); E r n s t G u n d o l f , W o l d e m a r U e x küll, E r i c h B o e h r i n g e r , E r n s t M o r w i t z , P e r c y G o t h e i n , L u d w i g T h o r m a e h l c n ( s t e h e n d ) ; Friedrich G u n d o l f , E r n s t G l ö c k n e r , B e r t h o l d Vallentin (sitzend)
® G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S T - N o r m ü b e r Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13:
978-3-11-018304-7
ISBN-10: 3-11-018304-8 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek D i e D e u t s c h e Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der D e u t s c h e n Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D a t e n sind im I n t e r n e t ü b e r h t t p : / / d n b . d d b . d e a b r u f b a r .
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Copyright 2005 by Walter de G r u y t e r G m b H & Co. K G , D - 1 0 7 8 5 Berlin
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Inhalt Vorwort der Herausgeber: Wissenschaftler im George-Kreis Siglenverzeichnis
VII XII
BERTRAM SCHEFOLD
Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft
1
RAINER KOLK
Kritik der Oberfläche. Zur Position des George-Kreises in kulturellen Debatten 1890-1930
35
DIRK VON PETERSDORFF
Stefan George - ein ästhetischer Fundamentalist?
49
ROBERT E . NORTON
Das Geheime Deutschland und die Wissenschaft
59
R A Y OCKENDEN
Der wissenschaftliche Beitrag des Castrum Peregrini
67
WOLFGANG G R A F VITZTHUM
Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges? Über Johann Anton, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Karl Josef Partsch
83
B R U N O PIEGER
Norbert von Hellingraths Hölderlin
115
MATTHIAS WEICHELT
Ergänzung und Distanz. Max Kommereil und das Phänomen George
137
JÜRGEN EGYPTIEN
Die Apotheose der heroischen Schöpferkraft. Shakespeare im George-Kreis
159
VI
Inhalt
B E R N H A R D BÖSCHENSTEIN
Ernst Bertram
187
JEFFREY D . T O D D
Die Stimme, die nie verklingt. Ernst Robert Curtius' abgebrochenes und fortwährendes Verhältnis zum George-Kreis
195
W O L F G A N G SCHULLER
Altertumswissenschaftler im George-Kreis: Albrecht von Blumenthal, Alexander von Staufenberg, Woldemar von Uxkull
209
ERNST OSTERKAMP
Wilhelm Stein (1886-1970)
225
A D O L F HEINRICH B O R B E I N
Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie
239
VOLKER KRUSE
Die Heidelberger Soziologie und der Stefan George-Kreis
259
G E R T MATTENKLOTT
Walter Benjamin und Theodor W. Adorno über George
277
STEFAN B R E U E R
Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt
291
CAROLA GROPPE
Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik
311
W O L F G A N G CHRISTIAN SCHNEIDER
Geschichtswissenschaft im Banne Stefan Georges. Wolfram von den Steinen im Ringen um die gestalthafte ,Schau' der Vergangenheit
329
WOLFGANG OSTHOFF
Musikwissenschaft und George-Kreis (1908-1946)
357
Wissenschaftler im George-Kreis Vorwort der Herausgeber Die deutschsprachige Welt staunte in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg über den zunehmenden Einfluß eines Dichters auf die Universitäten. Herausragende Werke erschienen mit besonderem Signet des Kreises, jüngere Wissenschaftler schlossen sich in Sprache und Weltsicht den Vorbildern an. Eine Erneuerung vor allem der Geisteswissenschaften durch Anregungen Stefan Georges, umstritten zwar und keineswegs allgemein, schien sich anzubahnen. Nationalsozialismus und Krieg setzten dieser Bewegung ein Ende. Während der Zeit des Wiederaufbaus und der Modernisierung verblaßte die Erinnerung daran außer bei wenigen Beteiligten; bei den zur Emigration Gezwungenen überlagerten sich andere Kulturerlebnisse. Die Zeitgenossen konnten nur eine vage Vorstellung von dem gewinnen, was da eigentlich geschah. George verbarg sich auf seiner Wanderschaft vor der Öffentlichkeit; die persönlichen Beziehungen zwischen den Wissenschaftlern, die für die Orientierung am Anfang einer Universitätslaufbahn oft so wesentlich sind, entwickelten sich spontan. Georges Einfluß auf die Wissenschaft ist daher erst Jahrzehnte später in Büchern beschrieben worden, in denen Erinnerungen und Fachbezüge, Erlebnisse und wissenschaftliche Ergebnisse sich vorerst vermengten. Die nachfolgenden Aufsätze beziehen sich auf diese Zeugnisse und nennen sie unter den Quellen. Aber erst jetzt vermögen wir, aus wissenschaftlichem Abstand und im Überblick, die geistige Bestrebung, die gesellschaftliche Bewegung und ihre Hervorbringungen vor dem geschichtlichen Hintergrund zu würdigen: im Versuch, das Ganze auch dann im Auge zu behalten, wenn viele Einzelbeiträge aus sehr verschiedenen Disziplinen zu ordnen sind. Die Wissenschaftsgeschichte sieht sich dabei in die Verlegenheit versetzt, dem Charakter und der Kunst eines Dichters über den Einfluß auf persönliche Eigenschaften der Wissenschaftler - in erster Linie seiner Freunde - überhaupt eine Wirkung auf objektivierende Wissenschaft zugestehen zu sollen. Schon Piaton war es ein Problem, Homers Macht über die Griechen durch die Gestaltung ihres Weltbilds anzuerkennen. Spätestens seit der Aufklärung scheint der Anspruch eines Dichters, die Welt des Wissens zu beeinflussen, unmöglich. Und doch schrieb noch der sehr lebenspraktische und in der Wirtschaftspolitik
VIII
Vorwort
erfolgreiche Nationalökonom Schmoller 1863 über die Wirkung Goethes und Schillers: Sie waren j a in eminentem Sinne nicht bloß die Dichter, sondern die Lehrer und Erzieher ihrer Zeit. Es ist nicht umsonst, daß der eine zugleich Philosoph und Historiker, der andere in ebenso bedeutender Weise Staatsmann, Psycholog und Naturforscher war. Sie trugen die großen Aufgaben ihrer Zeit in der Brust, und wenn sie für sich und in ihrem Kreise mehr nach einer ästhetischen Kultur strebten, so haben sie mit den unendlichen Wirkungen, welche unser ganzes heutiges deutsches Leben durchziehen, noch viel mehr sittliche und politische als ästhetische Kultur geschaffen. 1
Ein Vierteljahrhundert später, als Schmoller den Aufsatz über Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt in einer Sammlung nochmals veröffentlichte, fügte er in der an Wilhelm Roscher, den Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie, gerichteten Vorrede im Dreikaiserjahr hinzu: Heute stehen unsere Techniker und Naturforscher, unsere Historiker und Philologen, unsere Nationalökonomen und Sozialpolitiker fast ebenso an der Spitze der wissenschaftlichen Bewegung der Welt wie unsere Staatsmänner und Generale unbestritten als die ersten anerkannt sind. Das Geschlecht von Männern, welches uns auf diese Höhe geführt hat, wird für immer als eines der geistes- und willensstärksten gepriesen werden, das die deutsche Erde geboren. Noch getragen von dem schwungvollen Idealismus unserer großen Philosophen und Dichter ging es rüstig auf allen Bahnen des Lebens und der Wissenschaften zu männlichem realistischen Thun über, mit entschlossenem Geiste die Früchte pflückend, die energischem Handeln sich erschließen. 2
Zwar verdient es auch Schmoller nicht, nur im Vorausblick auf zurechenbare negative geschichtliche Folgen gesehen zu werden, aber man kann diese Zeilen als eine Wendung zu veräußerlichter Sittlichkeit, zur technischen Veränderung der Umwelt und zu einem imperialen Machtanspruch lesen, und dagegen wandte sich nun seinerseits George, wenn er, mit Hilfe seines Kreises, wieder zu einer Wirkung im Sinne der ästhetischen Kultur' zurückzukehren hoffte. Und tatsächlich bildeten sich an alten Universitäten wie Heidelberg und Marburg Freundeskreise von Wissenschaftlern, die sich von dem Neuen ergreifen ließen. An der erst 1914 gegründeten Universität Frankfurt hat der
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Gustav Schmoller: Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt. In: Gustav Schmoller: Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, Leipzig 1888, S. 26. Ebd., S. VIII.
Vorwort
IX
Kanzler Riezler' Georges Geisteswelt verbundene Wissenschaftler bewußt zu gewinnen versucht und zu Gesprächen zusammengeführt (sein wichtigster Berufungserfolg war Kantorowicz, aber auch ζ. B. der Religionswissenschaftler Otto gehörte zu Riezlers ,Kränzchen' und wurde zu den ,Georginen' gezählt). Riezler wünschte, den Ruf der philosophischen Fakultät und der Nachbarbereiche damit zu mehren und durch den Wettbewerb mit anderen Strömungen (wie dem bürgerlichen Marxismus des Instituts für Sozialforschung und dem religiösen Sozialismus) eine Diskussion über die Möglichkeiten der kulturellen Entwicklung zu entfachen, die dann weit in die Öffentlichkeit ausstrahlte. Als Kommereil sich habilitieren sollte und das Gerücht umging, daß er sich von George lossage, lief die Stadt zusammen, und die Antrittsvorlesung mußte in der überfüllten Aula stattfinden. 4 Zur Aufarbeitung dieser heute wenig bekannten Zusammenhänge - in Frankfurt beispielsweise hat sich im Bewußtsein der breiteren Öffentlichkeit nur noch die Erinnerung an die Frankfurter Schule erhalten und ,Georginen' und religiöse Sozialisten sind vergessen - fand vom 13.-15. Februar 2004 in Bingen eine Tagung zum Thema , Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft' statt, an der 23 Vorträge gehalten wurden. Fast alle Referate konnten hier veröffentlicht werden; sie sind im Licht ausführlicher und kontroverser Diskussionen an der Tagung, gefolgt von brieflichem Austausch, überarbeitet worden. Es mag den Leser erstaunen, für welche fachliche Breite solche Einflüsse dokumentiert sind; hier werden Germanistik und Anglistik, Philosophie, Pädagogik, Geschichte, Altertumswissenschaften und Archäologie, Kunst- und Musikwissenschaft, Soziologie, Ökonomie und Jurisprudenz berücksichtigt. Dennoch fehlen noch vereinzelt Themen und Gebiete; vor allem die Piatonforschung des Kreises wird hier kaum besprochen, und auch die Romanistik und Wirkungen von Georges Übersetzungstätigkeit blieben ausgespart. Das Thema ist also noch längst nicht erschöpft, obwohl, was wir nun vorlegen, als das bisher unfassendste Werk dazu gelten kann. Die Ergebnisse lassen sich nicht zu einer knappen Formel zusammenfassen - hier ergab sich ein mit Händen zu greifender Einfluß des Dichters und ein ausdrückliches Bekenntnis zu seiner Person, dort wurden nur Anklänge festgestellt, die auch dem Zeitgeist zugeschrieben werden können. Wir wollen
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Notker Hammerstein: Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. I, 1914-1950, Neuwied und Frankfurt a. M. 1989, S. 78-95, S. 100-139. Max Kommereil: Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede, Frankfurt a. M. 1930.
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Vorwort
daher an dieser Stelle keine weitergehenden Schlußfolgerungen ziehen, als in den folgenden drei Abschnitten zum Ausdruck kommt. 1. In der Wirkung Georges auf die Wissenschaft spiegelt sich auch Georges Eindringen in die betreffende Disziplin, das natürlich unterschiedlich tief reichte. Er verfügte über ein starkes Rechtsempfinden, interessierte sich jedoch kaum für das formale Recht der Juristen, und er war in seinen eigenen wirtschaftlichen Belangen geschickt, mißachtete aber die Technik und war nur gelegentlich bereit, sich auf wirtschaftspolitische Tagesfragen gesprächsweise einzulassen, so daß er in diesen Disziplinen den Freunden nur von einem Vorwissen und einer Lebenserfahrung her raten konnte, während ihm in der Kunstwissenschaft und Archäologie eine reiche Anschauung zur Verfügung stand. In der Geschichte besaß er ein ausgeprägtes historisches Bewußtsein und trat in der Germanistik nicht bei allen, aber den als wesentlich angesehenen Texten als überlegener Leser auf. Auch in der Philosophie verfügte er über erstaunliche Intuitionen. Im Pädagogischen suchten viele seinen Rat. 2. So konnte er, aber in verschiedener Weise, in jeder der genannten Wissenschaften auf einzelne Persönlichkeiten einen starken Einfluß ausüben, der sich auch auf deren wissenschaftliche Orientierung auswirkte, Werte setzend, von denen aus Ziele für die wissenschaftliche Arbeit gefunden wurden und sich neue Bewertungen ergaben. Aber die vermittelten Intuitionen, die Hinweise auf Forschungsideen, die Wertsetzungen waren unterschiedlich fruchtbar und unterschiedlich stark, so daß die Wirkung manchmal nur eine individuelle blieb - der Meister hatte dem Schüler einen Weg gewiesen. Manchmal konnte das Gelernte von Kreismitgliedern an deren Schüler, an im Denken Verwandte und wiederum an deren Schüler weitergegeben werden. 3. Betrachtet man allerdings nicht die Wirkung auf Personen, sondern auf die Fächer selbst - zweifellos die für die Wissenschaft bedeutendere und für die meisten Referate zentrale Fragestellung - bleibt in einigen Fächern wie der Jurisprudenz nur ein kaum merklicher, in der Ökonomie ein auf die Nachfolge weniger Personen beschränkter Einfluß übrig, während in anderen Bereichen sich der Zeitgeist mit Anregungen Georges verband, so daß eine besondere Strömung dieser Wissenschaft entstand. In der Archäologie, in der Germanistik, am deutlichsten vielleicht in der Geschichte wirkt sie noch nach und strahlt, meist unerkannt, ins Ausland. Soweit sich diese Einflüsse verfolgen lassen, sind sie in den nachfolgenden Aufsätzen untersucht. Am Ende freilich vermengt sich jede einzelne wissenschaftliche Strömung mit der allgemeinen, und es ist kein Mangel, wenn - soweit heute beispielsweise noch eine morphologische Betrachtungsweise gepflegt wird - von dieser nicht eindeutig gesagt werden kann, ob sie auf Goethes Wirken zurückzuführen sei, ob eine besondere Zuspitzung mit dem Namen Georges verbunden werden dürfe oder ob sie von allgemeineren Traditionen herstamme.
Vorwort
XI
Dem Projekt gingen längere Vorarbeiten voraus. Der Gedanke, die Untersuchung von Georges Wirkung auf die Wissenschaften einmal nicht auf Literatur, Kunst und vielleicht noch Philosophie zu beschränken, sondern auch die Staatswissenschaften einzubeziehen, entstand im Zusammenhang mit Bertram Schefolds Arbeiten über die Nationalökonomen des George-Kreises. Wolfgang Graf Vitzthum übernahm die Organisation der Tagung. Er bestimmte über die Reihenfolge der Vorträge, und es gelang ihm, mehrere Finanzierungsquellen zu erschließen, die es ermöglichten, sie in einem schönen Rahmen reibungslos ablaufen zu lassen. Die umfassende Kenntnis der George-Forschung seitens der Germanisten Bernhard Böschenstein und Jürgen Egyptien machte es möglich, eine ausgezeichnete Gruppe von Vortragenden zur Diskussion zusammenzufuhren. In der Hand des letzteren lagen die redaktionelle Überarbeitung der Texte und die Herstellung der Druckvorlage. Im übrigen halfen sich die Herausgeber bei der Erfüllung ihrer Aufgaben gegenseitig. Für die Finanzierung der Tagung, einschließlich der Herausgabe dieses Buchs, danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Robert Bosch Stiftung, Humanitas Heute, der Rentenbank, dem Sparkassenverband BadenWürttemberg, der Alfred Töpfer Stiftung F. V. S., der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankflirt am Main e. V. und der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund) e. V. Wir danken der Stadt Bingen für gewährte Gastfreundschaft, und wir danken Frau Gisela Eidemüller, Geschäftsführerin der George-Gesellschaft, Frau Erna Jeganathan in Frankfurt, Frau Julia Wagner in Tübingen und weiteren Helferinnen und Helfern für ihre Unterstützung bei der Organisation der Tagung und später bei den Vorarbeiten zur Abfassung dieses Buchs. Möge es eine freundliche Aufnahme finden.
Bernhard Böschenstein Jürgen Egyptien Bertram Schefold Wolfgang Graf Vitzthum
Siglenverzeichnis DLA: Deutsches Literaturarchiv, Marbach. GA: Stefan George. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1927-34. SW: Stefan George. Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1982ff. ZT: H.-J. Seekamp/R.C. Ockenden/M. Keilson: Stefan George. Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam 1972. CP: Castrum Peregrini Jb I, II, III: Jahrbuch für die geistige Bewegung I (1910), II (1911), III (1912) BfdK: Blätter für die Kunst SGA: Stefan-George-Archiv, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
Bertram Schefold
Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft 1. Das Problem In seiner in Amerika enthusiastisch, in Europa zurückhaltender aufgenommenen George-Biographie schreibt Robert Norton: "After his recovery from his illness in the summer of 1924 and until his death, George wrote virtually no more poetry, putting the major portion of his energy into the works of his closest followers and into the maintenance of his friendships."1 Die Beobachtung entspricht den Tatsachen. Doch was war der Sinn dieser Wende? Norton deutet sie politisch. Andere gaben sich überzeugt, George sei vor allem Künstler geblieben, der an den wissenschaftlichen Arbeiten der jüngeren Freunde Anteil nahm, sich aber vor allem freute, wenn ihnen schöne Gedichte oder wenigstens Interpretationen gelangen. Und immerhin schuf George nach Morwitz 2 und Georg Peter Landmann 3 kurz vor Drucklegung des das Werk abschließenden Bandes Das neue Reich im Oktober 1928 noch mehrere Gedichte, darunter das folgende, Ausdruck einer im Alter hervorbrechenden Leidenschaft: In stillste ruh Besonnenen tags Bricht jäh ein blick Der unerahnten schrecks Die sichre seele stört So wie auf höhn Der feste stamm Stolz reglos ragt Und dann noch spät ein stürm Ihn bis zum boden beugt: 1 2 3
Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and His Circle, Ithaka and London 2002, S. 653. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf und München 1969 2 , S. 481-483. Ihm diktierte George 1927 Zweifel der Jünger für eine noch leere Seite des Buchmanuskripts. Georg Peter Landmann: Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk, Düsseldorf und München 1974, S. 216.
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Bertram Schefold
So wie das meer Mit gellem laut Mit wildem prall Noch einmal in die lang Verlassne muschel stösst. ( S W IX 110)
Viel über den späten George lässt sich aus der Architektur seiner Werkausgabe erschließen. Sie zeigt, worin er seine wesentliche Leistung sah. Im übrigen sind wir für seine Deutung im letzten Lebensjahrzehnt allerdings auf die weniger eindeutigen Zeugnisse der Freunde angewiesen; er schrieb j a auch kaum selbst Briefe. Es gilt das Phänomen zu verstehen, dass ein Dichter einen den Zeitgenossen auffälligen Einfluss auf eine Reihe begabter, mit den Jahren auch namhafter Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ausübte, und dieser war so intensiv und so vielfältig, dass er nicht als ein beiläufiges Ergebnis der Dichtergespräche aufgefasst werden kann — ebenso wenig war er der Ausfluss eines einheitlich konzipierten Programms. Wir möchten in diesem auf dem Symposion , Wissenschaftler im GeorgeKreis' beruhenden Buch den Gegensatz zwischen der Lebenswelt des Dichters und der vorherrschenden akademischen Auffassung von Wissenschaft herausarbeiten, den so mancher Beteiligter empfand: manchmal schmerzhaft hin- und hergerissen, manchmal im stolzen Gefühl der Unabhängigkeit, mit der man sich zwischen gegensätzlichen Milieus bewegt. Ein berühmtes, allerdings nicht ausschließlich den Georgeanern zuzurechnendes Ergebnis war, dass sie Max Weber zu seinem Aufsatz über den Beruf der Wissenschaft 4 veranlassten, der auch heute noch bei seinen Lesern einen starken Eindruck hinterlässt. Wir wollten in den Vorträgen sodann den Einfluss auf die einzelnen Wissenschaften, der sich durch George ergab, zu identifizieren versuchen - und leicht ist es nicht, die besonderen Wirkungen Georges aus den Zeitströmungen herauszulösen - und schließlich von den Spannungen sprechen, die daraus den beteiligten Wissenschaftlern erwuchsen. Wir hofften, an den Anfang ein Referat zu stellen, das demgegenüber ganz von der Vorstellungswelt des Dichters ausgehen sollte. Da die Aufgabe schließlich bei mir verblieb, mußte sich die Ausführung verändern. Ich bin nicht Literaturwissenschaftler, sondern Nationalökonom. So werde ich mich in 4
Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988 [1922], S. 582-613. Die Vermutung, Weber habe auch den George-Kreis im Auge gehabt, wird durch Edgar Salin nahegelegt: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. Zweite, neugestaltete und wesentlich erweiterte Auflage, München und Düsseldorf 1954. S. 110. Herr R. M. Lepsius, dem ich fur ein Gespräch zum Thema danke, betont demgegenüber die größere Bedeutung der zeitgenössischen politischen Situation für die Entstehung des Aufsatzes.
Die Welt des Dichters
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dieser Einleitung, die aus dem Vortrag hervorging, nach knapper Evokation der Georgeschen Lebenswelt und möglicher Implikationen der im Spätwerk sichtbaren Entgegenstellung verworfener Entwicklungen der Moderne und Visionen eines anderen Lebens zur Darstellung hinbewegen, wie Wissenschaft und Politik im Kreis bedeutsam wurden. Ich will dazu anhand einfacher Beispiele und einer grundsätzlichen Überlegung zur Begriffsbildung zu zeigen versuchen, wie die Wissenschaft im George-Kreis sich - gegen Max Weber in der Richtung einer Steigerung von der Zeit eigentümlichen geisteswissenschaftlichen Ansätzen entwickelte, und ich will zuletzt einige Ergebnisse meiner Fachaufgabe mitteilen - freilich nur kurz, da am Symposion Fachkollegen fehlten und der Stoff in einer Dissertation5 behandelt werden soll. Es wird sich ergeben, dass von einer georgeanischen Wendung der Ökonomie nicht gesprochen werden kann und die älteren Ökonomen im Kreis recht unterschiedliche Wege gingen. Eine jüngere Generation allerdings brachte die besonderen Akzentuierungen geisteswissenschaftlicher Forschung im George-Kreis in wichtigen ökonomischen Arbeiten zur Geltung. So wurde die Spannung zwischen der Welt des Dichters und dem Beruf der Wissenschaft individuell verschieden gelöst, aber vorbildliche Einzelwerke lassen unaufdringlich einen über mehrere Stufen vermittelten Einfluss Georges erkennen.
2. Die Welt des Dichters Wir kennen manches berühmte Sinnbild der Einsamkeit des Dichters unter seinen Mitmenschen, die ihm in seine Welt nicht folgen können oder mögen. Eines ist Der Albatros, „Der lüfte könig", im Gedicht Baudelaires, das George übersetzt hat: Doch hindern drunten zwischen frechem volke Die riesenhaften flügel ihn am gang. 6
Ein bescheidenes Gleichnis finden wir in Das Lied1, das George erst in seinem letzten großen Werk veröffentlichte. Sehen wir von anderen Schichten der Interpretation ab, setzt es den Dichter einem armen wirren Knecht gleich, dessen Gesang nur von Kindern verstanden und bewahrt wird.
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Im Sonderforschungsbereich .Wissenskultur und gesellschaftliche Entwicklung' an der J. W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Banden, 2. Bd., Düsseldorf und München 1958, S. 238. SWIXlOOf.
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Bertram Schefold
Die Wissenschaft im George-Kreis hat dieser Bedeutung der Legende in der Geschichte wieder zu ihrem Recht verholfen, und wir haben es, wenn wir uns mit des Dichters Welt beschäftigen, mit der besonderen Wahrheit seiner Legenden zu tun. Der junge George war, fast wie der junge Goethe, von überströmender Produktivität. Der Historiker Breysig, für George einer der ersten Wissenschaftler, mit denen er sich persönlich intensiv auseinandersetzte, berichtet, wie der Dichter mit hundert Gedichtanfängen auf den Lippen sinnend ging.8 Die erste tiefe, nicht wirklich erwiderte Freundschaft traf den gleichrangigen Hugo von Hofmannsthal: für George der Anlass, auf eine große Allianz zu hoffen, um die deutsche Kultur aus der Enge der wilhelminischen Epoche, des Naturalismus und des Epigonentums herauszuführen. Zwar hielt das Bündnis nicht, aber über die Jahre entstand der Kreis, der ein Vorbild wurde ftir einen neuen Umgang mit Sprache und Dichtung, für eine auf Freundschaft gegründete Lebensform, eine religiös gesteigerte Hinwendung zur Göttlichkeit großer Erscheinungen in diesem Leben, und der Kreis wirkte hinaus, bewundert, umstritten oder doch wenigstens herausfordernd, als Maßstab der Kunst und für eine dem Leben dienende Wissenschaft. Die Grundgedanken waren alt - man kann nur staunen, wie das Alte in manchen Epochen für kurze Zeit wieder neu und mächtig erscheint. In einer anderen Moderne9 sollte das Zweckdenken der Schönheit wieder Raum gewähren, ein einfacheres Leben der Natur ihr Recht lassen, und so stark war dieses Wollen, das vom jungen bis zum alten George fortwährend sichtbar bleibt, dass noch im zornigsten Gedicht die Schönheit der Sprache die Möglichkeit einer Gegenwelt beweisen sollte. In der Verbindung aufrührerischer Prophetie und demütig, inbrünstig vorgetragener Hinweise auf die Weihe, die Heiligkeit des Schönen, wechselte er zwischen dem höchsten Anspruch des Ich und seiner völligen Verneinung und machte es ebenso schwierig, ihn auf ein bestimmtes politisches Programm festzulegen wie seine Religiosität in den Begriffen einer die historischen Religionen ordnenden Religionssoziologie zu fassen.10 Kaum ein Gesprächspartner, für den nach dem Eindruck einer berauschenden, den Alltag verdrängenden Dichtung es nicht eine Überraschung gewesen wäre, einem heiteren, geistreichen und schlichten Menschen George zu begegnen, der vor allem Künstler war. Davon zwei Zeugnisse von Künstlern. Die Malerin und Musikerin Sabine Lepsius erinnerte sich: 8
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Kurt Breysig: Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus dem Nachlass hrsg. von Gertrud Breysig und Michael Landmann, Berlin 1962, S. 69. Bertram Schefold: Stefan George: Dichter einer anderen Moderne. In: CP 49 (1999) Η. 237238, S. 15-21. Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Hrsg. von Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 225-239.
Die Welt des Dichters
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Anders kann ich es nicht ausdrücken, was ich empfand, als George und ich beieinander auf dem großen Diwan saßen. Ein wenig spotterfüllt waren wir alle beide über die unendlich klugen Reden, die Georg Simmel, Gertrud Ka. und Reinhold Lepsius schwangen. Wir hörten lächelnd zu und hin und wieder entwischte mir eine kleine Bosheit, an der George seine Freude hatte [...] Irgend etwas verband uns an jenem Abend stärker als je, etwas, was uns gemeinsam war, aber den andern fremd und ihrem Wesen nach nicht beschieden. George und ich standen in einer anderen Welt. Wo standen wir? Im Bereich der geheimnisvoll wirkenden Naturkräfte. Und die Welt der anderen? Die Welt der Ewig-Intellektuellen [...] Wir konnten nur ein Lächeln aufbringen, denn wir wussten uns als die beiden einzig Dionysischen. 11
George erinnerte sich: AN SABINE Das farbenlaub umschlang die sage Von manchem weh des sommerbrands Als eine reife süsse klage . . Und unsre wünsche pochten minder Bei glück und träne schöner kinder So waren alle diese tage Von blum und frucht ein duftiger kränz. (SW VI/VII 168)
Was uns an der Begegnung zwischen Sabine Lepsius und dem jungen George das Wesentliche war, schien ebenso auf noch in der Begegnung des jungen Michael Stettier12 mit dem alten George - von Stettier hieß es: Endlich wieder eine dichterische Begabung! Sehr schön, in die sachliche Aufgabe der Künstler umgesetzt, schildert der Bildhauer Alexander Zschokke, der seiner ersten Vorstellung bei dem Meister beklommen entgegengesehen hatte, dieses Entstehen eines Einklangs unter von ihrer Muse Erwählten.13 [D]ann passierte das Seltsamste. Plötzlich schwand alle Unsicherheit und ein Gefühl der wohligen Geborgenheit, der Heimat, der Unverletzbarkeit überkam mich [...] War das jener Mann, von dem viele nur leise sprachen? [...] ein Gesicht, das alles enthielt, was mich all die Jahre gequält und fast zerstört hatte: Leidenschaft, Größe, Schmerz und Schönheit, Hass und unbegreifliche Güte. Ich hatte das Gefühl, dies ist der erste wirkliche Künstler, den ich treffe. Da konnte mir nichts mehr passieren. 11 12 13
Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Michael Stettier: George-Triptychon, Düsseldorf Erinnerungen Alexander Zschokkes. In: Robert Zweite ergänzte Aufl. Düsseldorf und München was ausführlicher in der ersten Auflage.
Freundschaft, Berlin 1935, S. 82. und München 1972. Boehringer: Mein Bild von Stefan George. 1967, S. 163ff. Der Erinnerungstext ist et-
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Bertram Schefold
So erlebte Zschokke den Dichter mitten in den Jahren, von denen es heißt, dass George sie vor allem der Politik gewidmet habe. Er schildert dann die Zusammenkünfte im Achilleion: [Es wurden] Manuskripte gelesen und korrigiert, [...] Druckbogen durchgesehen [...]. Es wurden Gedichte gelesen [...]. Und nach ein bis zwei Stunden war alles vorbei. Es wurde fast nie über Gedichte gesprochen, wie überhaupt nie schöngeistige Reden und Gespräche stattfanden in diesem Umkreis. Es ging um Tatsachen. Korrekturen, Werke und Arbeit, alles aber in heiterem Licht, manchmal von bissigem Humor und schallendem, erbarmungslosem Gelächter begleitet. Manchmal mit einem fast überzarten, versteckten Lob bedacht. Da saßen oft die zwölf bis vierzehn Männer verschiedensten Alters, alle tüchtig an ihrem Platze, alle bereit, dem Manne zu helfen, dem sie so viel zu verdanken hatten, dem sie aber doch nicht viel mehr sein konnten als der Hintergrund, auf dem sich sein künstlerischer Dämon abzeichnen musste.
Zschokke deutet den um Kommereil entstandenen Konflikt an und fahrt fort: „In diesen Situationen zeigte sich der greise Dichter von einer nur von wenigen erkannten Seite: Es war der Künstler, der fast ratlos vor der Grausamkeit der Wirklichkeit stand". Das Unheil des Bruches abzuwenden, las George zwei Gedichte, Burg Falkenstein und Das Geheime Deutschland. Seine Stimme war dunkel und tief erregt. Die Worte standen wie Steinblöcke gereiht im Raum. Der Sinn der Gedichte lag offen und wie ein heller Tag, und das Gesicht des Dichters war gespannt und verletzbar wie eine Glaskugel [...] Die letzte beschwörende Zuflucht an das Verwandelnde, das dem Kunstwerk innewohnt, die Ehrfurcht vor dem Geist und nicht vor der Person, alles hat versagt. In der Erinnerung aber bleibt mir die Stimme und das Gesicht eines Menschen, der versuchte, seinen Genius anzurufen und einmal noch um seine Hilfe zu flehen. Es war im Jahr 1930.
Nun werden einige mir entgegenhalten, Zschokke sei mit seinem Verweis auf das künstlerische Wesen von Georges Persönlichkeit der Benennung der politischen Tendenz der da um den Tisch an ihren Manuskripten arbeitenden Gefolgsleute Georges aus dem Weg gegangen. Ich könnte erwidern, dass Zschokke, der während zwei Kriegen als Offizier an der Schweizer Grenze lag und deutsche Angriffe erwartete, solche Rücksicht nicht nötig gehabt hätte. Doch ist richtig, dass George seine Weise hatte, auf die politischen Zeitläufte aufmerksam zu sein. Bei meinem Rundgang unter den Anekdoten eine letzte: Landmann 14 erzählt, wie Wolters versuchte, im Landmannschen Hause Robert Boehringer die Relativitätstheorie auseinanderzusetzen. George ging hinaus, fragte, als er wiederkam, ob das nun fertig sei, und richtete an Robert Boehrin14
Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 107.
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ger unvermittelt die Frage, wie er über Italien denke, ob man noch hingehen dürfe und müsse. Robert Boehringer habe lebhaft erwidert: „Nein! Ubi ille ibi Graecia!". Darauf George: „Mit Leichtigkeit, scherzend, lösest Du eine Frage, die uns viel Nachdenken und sogar schwere innere Erschütterungen verursacht hat." Ich deute die Szene so: George, dem moderne Physik verdrießlich war und der - wohl auch nicht zu Unrecht - nicht ausgerechnet von Wolters eine Aufklärung darüber erwartete, vermied das fehlgehende Gespräch und riss die Kontrahenten aus einer Aktualität in eine andere, indem er nach Italien fragte, das dem Faschismus entgegen trieb. George hatte damals das Seelied gedichtet, das in der Revolutionsperiode ein ursprüngliches Bild einfachen Lebens beschwor 15 . Der Dichter versetzte sich darin in eine einsame Fischersfrau, deren einziger freudiger Trost das Auftauchen eines heiteren hübschen Kindes ist. Boehringer fand auf die Frage nach der Krise in Italien die dieser Seite Georges gemäße Antwort, wenn er das „Ubi bene ibi patria" so abwandelte, dass es nun heißen konnte: „Wo George ist, da ist Griechenland" - er musste nicht reisen. Georges Antwort allerdings lässt erkennen, dass ihn die Frage der richtigen Beurteilung des Faschismus quälte, bevor dieser an die Macht gekommen war und sein wirkliches Gesicht zeigte, so wie ihn später der Nationalsozialismus ängstete und doch auch anzog. Wie Robert Boehringer in einem einzigen, bisher nicht umgestoßenen Satz16 feststellt, konnte und kann keine Seite, weder die Befürworter noch die Gegner des Nationalsozialismus, George für sich in Anspruch nehmen. Abschließung gegen die Moderne auch in ihrer interessantesten wissenschaftlichen Ausprägung (Relativitätstheorie) verband sich mit Skepsis gegenüber der Ambivalenz politischer Bewegungen, die in einigen Bereichen eine gewalttätige Reaktion betrieben, in anderen - offenkundig in der Dienstbarmachung der Technik zur Erlangung mit militärischer Macht - die Möglichkeiten der Moderne rücksichtslos nutzten, die es aber verstanden, die Massen zu begeistern. Die Aufgabe des Dichters war nicht, zu lenken, sondern verborgene Zusammenhänge und unerkannte Möglichkeiten, zuallererst in der Führung eines Lebens unter Gleichgesinnten, sichtbar zu machen. Die einzelne Begebenheit ist damit vielleicht überinterpretiert; die Schlussfolgerung gründet sich natürlich nicht auf sie allein. Es wäre ein anderer Vortrag, unter den jüngeren Freunden Georges herumzugehen und sie bei ihrer Ablehnung oder Annahme der braunen Bewegung in ihren Anfangen, bis zur Machtübernahme und bis zu Georges Tod noch im Jahre 1933 zu beobachten - Materialien im Archiv er-
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Bertram Schefold: Seelied. Gedanken zu einem als spät anzusehenden Gedicht von Stefan George. In: CP 51 (2001) Η. 250, S. 105-117. Boehringer (Anm. 13), S. 182.
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möglichen dies. Er neigte bald dem einen, bald dem anderen zu. Er lobte ein Engagement, tadelte Fehlurteile, und hing bis zuletzt an Kempner, seinem jüdischen Arzt, dem sein Vertrauen und eine besondere Freundschaft galten. Einige, die sich schon vor der Machtergreifung von der braunen Bewegung anziehen ließen, nahmen an deren Verbrechen nicht teil, verurteilten sie sogar, aber wollten selbst nach dem Krieg nicht einsehen, was sie mit ihrer Abwendung von den jüdischen Freunden diesen angetan hatten. Karl Wolfskehl rief ihnen aus Neuseeland nach: „Was war dabei? Man hatte sich verrannt Im Rausch, was dann geschah, wer könnt es hindern?" Schweigt! Wer die Ernste, Gundolf, mich gekannt. Und über lief zu unsern Schändern, Schindern, Dem wirds gedacht bei Kind und Kindeskindern!' 7
Das wesentliche Ideal des Kreises hatte Hugo von Hofmannsthal im Tod des Tizian formuliert, bevor es ihn gab:18 Die aber wie der Meister sind, die gehen. Und Schönheit wird und Sinn, wohin sie sehen.
Es ging um eine Weise des Erlebens, eine Weltsicht und schließlich auch um Wissenschaft. Die Heterogenität der Sphären musste zu Konflikten fuhren, die manchmal als fruchtbar, manchmal als quälend empfunden wurden. Ein persönliches Beispiel: Ich habe meinem Vater, wie mancher Sohn, manches zugemutet, aber glücklicherweise nie so weit den Takt verloren, dass ich ihn etwa triumphierend mit Georges Wort: „Denken Sie ja nicht, dass Homer nicht einer war!" konfrontiert hätte. Als jüngerer Freund des Gräzisten Von der Mühll in Basel suchte Karl Schefold dessen Homeranalyse archäologisch zu stützen, worüber die Vorstellung des einheitlichen Homer verloren ging: Die homerischen Dichungen wurden verschiedenen Sängern zugeschrieben. Renata von Scheliha, die den schönen Gedanken verfolgte, das in der griechischen Dichtung, Philosophie und Geschichte so wesentliche Ideal der Freundschaft in Homer anhand des Paars Patroklos-Achill,l> zu vergegenwärtigen, stieß im Basler Exil auf Georgeaner, die Von der Mühlls Homeranalyse übernahmen und überdies sich in jungen Familien zur Führung eines bürgerlichen Lebens
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Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Erster Band. Hrsg. von Margot Ruben und Claus Victor Bock, Hamburg 1960, S. 280. Hugo von Hofmannsthal: Gedichte und lyrische Dramen, Frankfurt a. M. 1952, S. 198. Renata von Scheliha: Patroklos. Gedanken über Homers Dichtung und Gestalten Basel 1943.
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anschickten ... Der Schock, den Scheliha erfuhr, lässt sich aus ihren jüngst veröffentlichten Briefen herauslesen.20 Die moderne Homerforschung ist wieder „unitarisch" geworden und gibt insofern George recht, aber nicht solche Einzelfragen sind das Wesentliche und auch nicht die individuelle Wahl des Lebensstils, sondern wir haben zu überlegen, was es überhaupt heißt, wenn Wissenschaftler sich zum Einfluss eines Dichters bekennen. Die unbürgerliche Lebensform des Kreises konnte dem Einzelnen als Vorbild oder Schreckbild erscheinen; sie wirkte auf die Biographie der Einzelnen, aber nicht auf die Wissenschaft. Es gab auch keine gemeinsame wissenschaftliche Methode - nicht einmal eine Gemeinsamkeit einer wissenschaftlichen Erfahrung. Über der platonischen Akademie stand der Spruch μηδείς άγεωμέτρητος είσίτω. Keiner, der nichts von Geometrie versteht, darf hinein.21 Das verwies auf eine Erziehung. Renata von Scheliha hat in ihrem Platon-Buch22 daran erinnert, dass der Weise den jungen, unbändigen, zu Trunksucht und Jähzorn neigenden Tyrannen von Syrakus hatte zähmen wollen, indem er ein Zimmer des Palasts mit Sand bestreuen ließ, damit man dort mit Übungen in Geometrie Geist und Charakter festigen konnte. Bei aller Bewunderung für Piaton war das nicht Georges Weg; gewiss aber wollte er keine undichterischen Menschen bei sich haben; μηδεΐς άποιητικός είσίτω hätte es also bei ihm heißen können. Elemente des Weltanschaulichen, wie wir sie beim späten George finden und wie sie Gegenstand der letzten großen Binger Tagung über George waren23, vergegenwärtigen wir uns am ehesten durch eine knappe Rückerinnerung an die Zeitgedichte aus dem Siebenten Ring. Die Ausbreitung des Weltanschaulichen in den Jahrbüchern durch die wie Aufklärer vorausgeschickten Jünger ist nicht nur wegen der größeren Authentizität der Verse des Meisters von geringerem Interesse, sondern auch, weil, wie ich meine, das Allgemeine, die in Georges Dichtung ausgedrückte Haltung, später in der Wissenschaft wirksam wurde, nicht das Besondere und Einzelne, das die Jahrbücher programmatisch erfassen wollten. Im ersten Zeitgedicht heißt es: Ihr sehet Wechsel · doch ich tat das gleiche.
Und der heut eifernde posaune bläst Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen Leicht alle Schönheit kraft und grosse steigt Aus eines knaben stillem flötenlied. (SW VI/VII 7)
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Wolfgang Frommel - Renata von Scheliha: Briefwechsel 1930-1967. In: CP 52 (2002) Η. 251-252, S. 28f. Des. Erasm: Adagiorum etc., Sumptibus haeredum Andreae Wecheli etc., 1599, Spalte 1818. Renata von Scheliha: Dion. Die platonische Staatsgründung in Sizilien, Leipzig 1934, S. 29. Braungart/Oe!mann/Boeschenstein(Anm. 10).
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Es ist nicht eine schlaue Relativierung der Botschaft, sondern diese selbst nicht Rollenspiel, sondern Wesenssuche würde ich es hier zumindest nennen wenn der Prophet hinter dem Dichter, die Reflexion hinter dem Gedicht zurücktritt und das Schöpferische, nicht das Geschaffene gefeiert wird. Im nachfolgenden, Dante gewidmeten, Zeitgedicht gilt die Preisung nicht irdischem Streit, sondern dem göttlichen Glanz: Ich nahm aus meinem herd ein scheit und blies So ward die hölle · doch des vollen feuers Bedurft ich zur bestrahlung höchster liebe Und zur Verkündigung von sonn und stern. (SW VI/VII 9)
Die Gedichte an Goethe und Nietzsche stehen danach beisammen, Umwertungen gleichen Sinnes, und wieder folgt beim Lob Böcklins das seiner Schöpfergabe: Ja wirklicher als jene knechtesweit Erschufst du die der freien warmen leiber Mit gierden süss und heiss · mit klaren freuden. (SW VI/VII 14)
Verwandt mit der Vergegenwärtigung antiker Leiblichkeit bei Böcklin, vorausweisend auf die Sinnlichkeit Frankreichs und die Verfuhrung des Verruchten, bildet Porta Nigra den Übergang zu Georges Erinnerung an Paris: Und in der heitren anmut Stadt · der gärten Wehmütigem reiz · bei nachtbestrahlten türmen Verzauberten gewölbs umgab mich jugend Im taumel aller dinge die mir teuer - (SW VI/VII 18)
Erstaunen und Verwunderung erregt die nachfolgende Erhöhung einiger der eigenen Zeit zugerechneter Gestalten in Verbindung mit geschichtlichen Visionen: zuerst des Papstes Leo XIII., dessen lateinische Mariendichtung George bekannt geworden war. Der eben noch heidnischen Bildern und diesseitigen Freuden zugeneigte Dichter sieht sich vor dem Petersdom Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge Die schön wird wenn das wunder sie ergreift. (SW VI/VII 21)
Es ist, als ob sich alle diese Welten überschnitten im Leben Friedrichs II., seinen Taten und Festen, die George in Die Gräber in Speier in großer Form erscheinen lässt; Kantorowicz hat diese Skizze zum Monumentalgemälde vergrößert.
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Pente Pigadia und Die Schwestern stehen fiir die Möglichkeiten des Opfermutes und eines höheren Lebens in der eigenen Zeit. So schritten sie in adel Und stolz und trugen herrlicher als Andre Bescholtne kronen ihr erlauchtes haar. (SW VI/VII 26)
Auf die hochberühmten Frauen folgt der still-bescheidene und treue Freund, der dem jungen George dazu verholfen hatte, sich aufzurichten. Mit der Untergangsvision Die tote Stadt, die an Masse und Reichtum zugrunde geht, und dem zweiten Zeitgedicht schließt sich der Kreis mit dem Trost der Erneuerung: Ich sah die nun jahrtausendalten äugen Der könige aus stein von unsren träumen Von unsren tränen schwer . . sie wie wir wussten: Mit wüsten wechseln gärten · frost mit glut · Nacht kommt für helle - busse für das glück. Und schlingt das dunkel uns und unsre trauer: Eins das von je war (keiner kennt es) währet Und blum und jugend lacht und sang erklingt. (SW VI/VII 33)
Von George, der fast keine Fragmente (die es gewiss gab) hinterlassen hat, existieren einige Zeilen eines Gedichts Der Preuße, das Bismarck galt. Aurnhammer hat es rekonstruiert und die Schlussfolgerung gezogen: „Als in den , Zeitgedichten' zunehmend eine monumentalische Geschichtsauffassung vorherrschend wurde, war neben den großen überzeitlichen Gestalten für Bismarck - dem Inbegriff des wilhelminischen Zeitgeistes - kein Platz mehr."24 Nicht die Zeitkritik wird weiter ausgesponnen, sondern es folgen die Gestalten, Schicksalsbilder also, und die Gezeiten: Bilder seelischer Schwankungen, die aus persönlichem Erlebnis hervorwuchsen, bis der Dichter zur höchsten Steigerung seiner Vision gelangt, der Maximindichtung, die mit den Versen beginnt: Dem bist du kind • dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt. (SW VI/VII 90)
Deutlicher konnte George nicht zum Ausdruck bringen, dass jedem seine Weise des Sehens, des Erlebens gegeben ist, und so glaubte er auch an Stufen der Erkenntnis. Vielleicht ist es meine Weise des Sehens und der Erkenntnis seines
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Achim Aurnhammer: Der Preuße. In: Braungart/Oelmann/Boeschenstein (Anm. 10), S. 173196, h i e r S . 196.
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Werks, wenn ich daraus kein System der Philosophie oder eine abgestufte Theologie zu machen versuche, sondern diesen Teil meines Referats über die Welt des Dichters, Gadamer folgend, mit dem Gedicht schließe, das wie kein anderes mit den Systemen abrechnet: Horch was die dumpfe erde spricht: Du frei wie vogel oder fisch Worin du hängst · das weisst du nicht. Vielleicht entdeckt ein spätrer mund: Du sassest mit an unsrem tisch Du zehrtest mit von unsrem pfund. Dir kam ein schön und neu gesicht Doch zeit ward alt · heut lebt kein mann Ob er j e kommt das weisst du nicht Der dies gesicht noch sehen kann. (SW IX 103)
3. Doch ein Weg zur Wissenschaft? Carola Groppe hat den Auseinandersetzungen um den George-Kreis als Provokation des Bürgerlichen unnötige Schärfen genommen und die Programmatik der Jahrbücher umgangen, indem sie den von Kreismitgliedern verwirklichten Bildungsidealen nachging. Der in der Forschung häufig vermerkte Widerspruch zwischen dem schönen Leben im Zeichen der Kunst und der beruflichen Realisierung vieler Georgeaner als Hochschullehrer und der damit verbundenen Profanierung des Lebens im ,hohen Augenblick' (Kairos) durch die Zugeständnisse an den Alltag löst sich daher weitgehend auf, wenn die Bestrebungen des George-Kreises als Versuch einer Rekonstitution der Bildung begriffen werden. 25
Die klassische deutsche, an die Antike anknüpfende Bildungsidee wurde fortgesetzt, die selbst in ihrem Sich-Messen an der Antike nicht neu war, denn es wurde auf andere Weise aufgenommen, „was seit der berühmten ,Querelle des Anciens et des Modernes' unter Ludwig XIV., ja seit der italienischen Hochrenaissance das vornehmste Thema der kulturellen Selbstreflexion Europas gewesen war."26 Salin meinte, die Nachfahren seien geneigt, „im gemeinsamen 25
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Carola Groppe: Widerstand oder Anpassung? Der George-Kreis und das Entscheidungsjahr 1933. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDRSozialismus. Hrsg. von Gunther Röther, Paderborn u.a. 1997, S.59-92, hier S. 69. Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, Stuttgart 2002, S. 51.
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Leben eines Meisters mit seinen Jüngern die Bedeutung der sachlichen Bindung zu überschätzen und darob den lebendigen Strom von Mensch zu Mensch [...] zu verkennen oder zu unterwerten."27 Salin verwies auf den Vergleich des Kreises mit der Jüngergemeinde, der als Leitgedanke hinter seinem Buch über die Civitas Dei des Augustin stand, mit der Frage, wie ein geistiges Reich zu einer irdischen Wirklichkeit werde.28 Salin hat wie kein anderer der Beteiligten mit Georges Haltung zur Wissenschaft gerungen und Georges Herabsetzung des Nur-Wissenschaftlichen gegenüber dem Künstlerischen, die im bekannten Vierzeiler an Gundolf so deutlich ausgesprochen wird, als Infragestellung seiner eigenen Existenz empfunden, obwohl die Verse an Gundolf auf die Anfänge der Freundschaft zwischen dem Meister und seinem Gundel zurückgehen und Salins Freundschaft mit dem Meister in die Jahre fallt, als die wissenschaftliche Tätigkeit im Kreis sich schon verbreitert hatte: AN G U N D O L F Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen Wenn selber du ein wort erfinden kannst dass einst es heisse: Auf kurzem pfad bin ich dir dies und du mir so gewesen! Ist das nicht licht und lösung über allem fleisse? 2 9
Die Forderungen, die George an die Wissenschaft gestellt habe, sind nach Salin wenige und einfach: Die Haltung des Gelehrten sei nicht kritisch zersetzend, sondern sie hebe das Wertvolle; der Stoff sei nicht beliebig, sondern es sei das Große, das Bedeutende zu suchen, und man müsse sich um die Schönheit der Darstellung bemühen. Salin hat geschildert, wie George mit diesen einfachen Regeln umging, wenn er die jungen Freunde bei ihrer Arbeit beriet, wie er einerseits für Gründlichkeit und Sorgfalt eintrat, andererseits es ungern sah, wenn mindere Autoren viel Aufmerksamkeit erfuhren - um ein Examen zu erlangen, mochte solche Wissenschaft noch gerade hingehen. Auf der Suche nach dem Bedeutenden ließ er ungewöhnliche Beweisverfahren zu. Man kennt die Anekdote, wie Salin die Hypothese wagte, der junge Aristoteles habe für den alten Piaton das Material für den Dialog Die Gesetze gesammelt und ge-
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Edgar Salin (Anm. 4), S. 238. Bertram Schefold: Edgar Salins Deutung der Civitas Dei. In: Geschichtsbilder im GeorgeKreis. Wege zur Wissenschaft. Hrsg. von Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer, Göttingen 2004, S. 209-247. Der Leitgedanke wurde von den zeitgenössischen Rezensionen aufgegriffen, vgl. S. 213-215. SW VI/V1I 165. Die Verse stammen aus dem Jahr 1899; Salin sandte seine Civitas Dei dem Meister in der (vergeblichen) Hoffnung, durch diesen Versuch einer George gemäßen Wissenschaft wieder in die Gunst zu gelangen (Vgl. Salins Brief an George in Schefold (Anm. 28), S. 239).
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sichtet, wie George dieser Gedanke überaus gefiel, wie Salin selbst zweifelte, weil er keinen Beleg besaß und George dann einfach meinte: „Nehmen Sie meine Gewissheit für Ihre Vermutung". Aber das war eine Ausnahme. Weder in Georges Regeln, noch in deren Anwendung wurden die Maßstäbe guter Wissenschaft ernstlich in Frage gestellt oder überschritten; freilich geschah grundsätzlich genau das, wenn George von Stufen der Erkenntnis sprach daraufkommen wir zurück. Auch Rainer Kolk gelangt in seinem Werk über literarische Gruppenbildung in einer umfassenden Untersuchung vor allem der Entwicklung germanistischer Wissenschaft unter dem Einfluss des Kreises zum Schluss, es sei die fachgeschichtliche Kontinuität nicht durchbrochen worden. Die Erbschaft der Philologie blieb bewahrt - in Georges Strenge lag etwas ihrer Methode Analoges; allerdings beförderte der Kreis den Übergang von der philologischen Einzelforschung zur Geistesgeschichte. Gundolf hat in einem Brief an Wolfskehl 1907 die Zusammenarbeit mit George so geschildert: Die gemeinsame Arbeit am Shakespeare hat mir George wieder und eindringlicher von dieser - ich meide das Wort nicht und spreche es mit einem dichteren Sinn aus - S I T T L I C H E N Seite so gezeigt, wie man ihn aus seinen Werken zwar ahnt, aber nicht begreift: E i n e erhabene, unbarmherzige und hingegebene Sachlichkeit, ein Überschauen und nimmermüdes Ergründen aller Details, ein K a m p f mit allen Engeln und mit allen Teufeln, den Tücken des Objekts, eine enorme Akribie und ein verzehrender Fleiß, eine Allgegenwart der Realien, eine solche rührende Ehrfurcht vor j e d e m positiv Geleisteten, auch dem kleinsten Philologenstückchen, kurz, bei dieser leidenschaftlichen Tiefe des Wesens eine Treue und Exaktheit 3 0 .
So scheint es in der Tat vor allem auf die Haltung anzukommen. „Das Erkenntnismäßige liegt mir von Natur fern. Ihr Jungen habt mich dazu gezwungen [...] Nur durch ein Menschliches vermittelt, hat Wissen Wert und Fruchtbarkeit".31 Auch der Band der Heidelberger Akademie der Wissenschaften über Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaff2 bringt eigentlich wenig zur Analyse der Wirkung Georges auf Methode und Inhalte der Wissenschaft, aber viel zu diesem Menschlichen. Gadamer sah seine Aufgabe vor allem darin, ein Zeugnis für Georges Einfluss abzulegen.33 Immerhin geht Gadamer dann auf
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Karl und Hanna Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1905-1931. Hrsg. von Karlhans Kluncker. In: CP 27 (1977) Η. 126-128. S. 66f. Stefan George zu Ernst Robert Curtius, zitiert bei Michael Stettier: Der Dichter Stefan George. Geschrieben zum 12. Juli 1968, Aarau, S. 15. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Hrsg. von H. J. Zimmermann, Heidelberg 1985. Ebd.. S. 39-49.
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zwei Begriffe ein, deren Verständnis sich ihm durch die Auseinandersetzung mit George vertiefte: ,der historische Sinn' und das , Vorbild'. Der historische Sinn verlangt den Blick für das Einmalige in der Überlieferung, ein SichEindenken in das, was über den eigenen Horizont hinausgeht; er erlaubt eine Ausweitung des Lebens, das es seiner Auflösung nahebringt. Das Vorbild läßt umgekehrt ein Allgemeines im Einzelnen erscheinen und weist insofern eine Richtung. Gadamer fällt ein günstiges fachliches Urteil über die PiatonForschung des Kreises, die beispielsweise eine Anregung war für Reinhardts „hinreißendes kleines Buch über Piatons Mythen".34 Die Arbeiten des Kreises riefen in Erinnerung, dass die sokratische Dialektik nicht nur eine Prüfung von Sätzen, sondern auch von Seelen ist. Es zeigen sich Meinungsunterschiede in Einzelfragen; so widerspricht Hölscher Gadamer, indem er Reinhardt von George absetzt35, und Georg Peter Landmann erzählt, wie George schon 1927 die Arbeit für die Wissenschaft wieder aufkündete - ohne dass freilich sogleich die Konsequenz gezogen worden wäre: Aber wie er (George) 1912 keine ,Jahrbücher', nach 1919 keine ,Blätter für die Kunst' mehr erscheinen ließ, weil ihm eine Fortsetzung nicht mehr fruchtbar schien, so mag er Mitte der zwanziger Jahre gefunden haben, dass die .Geistbücher' ihre belebende Wirkung getan hätten, und sah die Zukunft in den jungen Menschen, die sich unter seinen Augen ausbildeten als Plastiker, Diplomaten, Soldaten, Juristen. 36
Schon 1960, 25 Jahre vor der Publikation der Heidelberger Akademie, veröffentlichte Michael Landmann einen wichtigen Aufsatz über George und die Wissenschaft.37 Er trägt, mit Nietzsches Kritik und Kritik an Nietzsche beginnend, Georges Urteile über Wissenschaft zusammen und stellt auch das Gedicht Der Mensch und der Drud in diesen Zusammenhang, indem er dem Menschen die Wissenschaft, dem Drud aber die Dichtung zuordnet, das Gedicht also weniger wörtlich nimmt, als wir zu tun pflegen, wenn wir es auf ein Motiv der erst nach 1960 politisch mächtig gewordenen Umweltbewegung beziehen. George habe eine Weile darauf vertraut, die Wissenschaft ändern und ihr eine würdigere Form geben zu können.38 Was ihm zugehörig schien, ließ er unter seinem Zeichen erscheinen, um es von der sonstigen Wissenschaft abzuheben. Breysigs Kampf mit George nahm spätere Auseinandersetzungen vorweg - ein Kampf, an dem die Freundschaft nie ganz zerbrach, der sich aber
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Ebd., S. 48. Ebd., S. 97. Ebd., S. 95. Vgl. auch G. P. Landmann (Anm. 3), S. 219. Michael Landmann: Um die Wissenschaft. In: CP 20 (1960) Η. 42, S. 65-90. Ebd., S. 67.
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wiederholt daran entzündete, daß George die von Breysig hochgehaltene Wissenschaft herabsetzte, indem er ihr die schöpferische Macht absprach, die von Breysig leidenschaftlich behauptet wurde. Dem Streit um den Anspruch der Wissenschaft folgte der über die Möglichkeiten und Pflichten des Wissenschaftlers. Als George durch Salin Kahlers Kritik an Weber zurückgewiesen hatte, wollte Salz - ohne den erweiterten Anspruch der Wissenschaft der Georgeaner preiszugeben - den Fehler Kahlers näher bestimmen, der mit seiner Forderung, Fühlen, Wissen und Handeln zu verbinden, dem Dilettantismus und Journalismus die Bahn geöffnet hatte. Edith Landmanns Transcendenz sollte durch die Einfuhrung von Stufen des Wissens eine philosophische Klärung bringen. Michael Landmann schloss, der Lärm sei nun verklungen und die Geisteswissenschaft arbeite nach der ihr gemäßen Methode. Was es mit Edith Landmanns ,Stufen' auf sich habe, ließ Michael Landmann offen. Wir wollen hier nicht versuchen, die erkenntnistheoretische Differenz zwischen der nach ihrer eigenen Aussage auf Stefan George fußenden Philosophie Edith Landmanns und der modernen Wissenschaftstheorie auszuloten, aber wir können den schon aufgenommenen Hinweisen Groppes, Salins, Gadamers und Michael Landmanns zu Unterschieden zwischen Georgescher und akademischer Wissenschaft noch einen hinzufügen, der sich auf die Begriffsbildung bezieht, der sich von Georges Heidelberger Gegenpol Max Weber her entwickeln lässt und der auf einer niedrigeren als der von Edith Landmann gemeinten Ebene im Bereich der Geisteswissenschaften bereits auf Stufen des Erkennens verweist. Er betrifft einen Unterschied von anschaulicher' und nationaler' Wissenschaft, ist der von Salin getroffenen Unterscheidung vorgelagert und scheint mir zumindest insofern von paradigmatischer Bedeutung zu sein, als wir ihn zum besseren Verständnis der spezifischen Leistung der jüngeren Ökonomen des George-Kreises im letzten Teil dieser Untersuchung heranziehen werden. Dem Pathos, mit dem Dilthey die Geisteswissenschaften auf eine gleich hohe Stufe wie die Naturwissenschaften rücken wollte und Deutschland als Schauplatz „eines zweiten Zusammenhangs von Wissenschaften" erklärte39, stand Max Webers empirische Soziologie einschränkend gegenüber. Er verwarf nicht nur die materialistische Geschichtsauffassung, die der Geschichte ein eindeutiges Ziel setzte, sondern auch metaphysische Begriffe wie den Volksgeist und ließ Schlüsselbegriffe der Geschichtstheorien des Marxismus und der historischen Schule nur als Idealtypen gelten.
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Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Die Philosophie des Lebens. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hrsg. von Hermann Nohl, Stuttgart 1961, S. 330-339, hier S. 246.
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Das empirisch Wirkliche muss bestimmt nachweisbar sein: Es ist im menschlichen Handeln nur der vom Menschen gemeinte Sinn (im Unterschied von einem unterlegten objektiven, von den Handelnden nicht gewussten Sinn der Geschichte), es ist ferner der von einzelnen und vielen einzelnen Menschen gemeinte Sinn (während Ganzheiten von Menschengruppen, die unbewusst wirken, als solche nicht empirisch feststellbar sind).40
Dies richtete sich insbesondere gegen Roscher und seine Auffassung der Volkswirtschaft als eines Ganzen, als eines organischen Gebildes, ohne Reduktion auf die Einzelinteressen, die Roscher doch für die Erklärung der Vorgänge in Privatwirtschaften als legitim anerkannte.41 Max Weber ersetzt daher die ganzheitlichen Gebilde unter Gegenüberstellung der abstrakt theoretischen Methode der Volkswirtschaftslehre - also, heute, der Modellbildung - und der empirisch historischen Forschung - wie sie von der historischen Schule betrieben wurde - durch den Gedanken idealtypischer Konstruktion.42 Er meint, es werde ζ. B. die ,Idee' der modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft „nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt", wie man die Idee der Stadtwirtschaft des Mittelalters „als genetischen Begriff konstruiert" habe43 (wobei ein genetischer Begriff nach dem damals gängigen Wortgebrauch sich aus einer Definition ergibt, welche „die Vorstellung ihres Objects aus ihren Elementen entstehen" lässt44). Denn die abstrakt theoretische Methode sei nicht eine Deduktion aus universalgültigen Prämissen, sondern der Spezialfall einer Idealtypenbildung, die durch die gedankliche Steigerung bestimmter Typen der Wirklichkeit gewonnen wird. So konzentriert sich die Grenznutzenschule, von Weber als ein ,Beispiel' herangezogen, auf die Konsequenzen der Annahme, das Handeln beruhe auf Nutzenmaximierung, und ebenso spricht Weber von einem Idealtyp, wenn er eine Handwerkerkultur der kapitalistischen Kultur gegenüberstellt. „Solche Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt."45 40 41 42 43 44 45
Karl Jaspers: Max Weber: Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958, S. 56. Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. In: Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 4), S. 33. Max Weber: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 4), S. 146-214. Ebd., S. 191. Christoph Sigwart: Logik. Erster Band: Die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schluss, Tübingen 1873, S. 327. Weber (Anm. 4), S. 194. Demnach konstruieren wir mit den Bildern der an der Wirtschaftsgeschichte geschulten Phantasie gedanklich eine Handwerkerkultur, deren Tauschbedingungen Weber sich unausgesprochen nach dem Vorbild der „einfachen Warenproduktion" von Engels vorzustellen scheint. (Zur Fragwürdigkeit des Begriffs der „Einfachen Warenproduktion" bei Marx und Engels vgl. Bertram Schefold: Value and Price in a
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Es folgt ein noch deutlicheres Bekenntnis zu Kant: „Die objektive Gültigkeit des Erfahrungswissens" beruht auf der Ordnung der Wirklichkeit nach Kategorien, welche „die Voraussetzung unserer Erkenntnis" darstellen.46 Mit diesem Anspruch auf objektive Erkenntnis ist dann der bekannte Verzicht des Intellektuellen auf eine wissenschaftliche Begründung seiner Werturteile verbunden (es bleibt der Wissenschaft möglich, Werturteile aufeinander zu beziehen); in Wissenschaft als Beruf wird die Konsequenz dieser Beschränkung der Wissenschaft für ihre Institutionen und ihre Träger, die Wissenschaftler selbst, mit eindringlicher Kraft dargestellt. Der George-Kreis hat sich gegen Webers Programm, das er als Einschnürung empfand, gewehrt. Der mir wichtige Aspekt ist nicht der Werturteilstreit, der oft nur in zwar sinnvolle, aber etwas banale Maximen mündet, sondern ich setze an bei der erstaunlichen Gleichsetzung von Idealtypen in der Wirtschafts-, Sozial- und Geistesgeschichte mit den Modellen der Nationalökonomie, die sich in Webers Aufsatz findet (wenn es denn richtig ist, das, was Weber als abstrakt theoretische Methode bezeichnet, mit der Modellbildung zu identifizieren). Salin hat dagegen kurz und kategorisch behauptet, ein Modell könne nie ein Idealtyp sein. Meine Begründung für seine Auffassung lautet, dass Modelle mit der Sprache der Mathematik konstruiert werden - mathematische Modelle meine ich jetzt jedenfalls , so dass ihre Begriffe und Deduktionen eine Ausdrucksweise verwenden, die vor der zu diskutierenden empirischen Wirklichkeit (hier die Wirtschaft eines bestimmten Raumes, einer Nation, der Welt) da ist und die keine Widersprüche kennt. Die logische Gültigkeit der Aussagen kann, gegeben die Prämissen, daher von einem der Mathematik, aber nicht der Ökonomie Kundigen überprüft werden, wie dies in der Praxis übrigens oft geschieht, wenn ein Ökonom, der über eine gute Intuition des zu Beweisenden von seinem Fach her verfugt, sich von einem Mathematiker bestätigen lässt,
tion" bei Marx und Engels vgl. Bertram Schefold: Value and Price in a Historical Context. Hanshin Journal of Economics 2 (1995), pp. 1-37 bzw. pp. 93-125). Denn er fügt die Annahme hinzu, es könne in dieser Wirtschaft das Kapital nur aus der Grundrente akkumuliert werden (da es keinen Gewinn gibt), und so entstehe bei begrenztem Boden, steigender Volkszahl, Edelmetallzufluss, Rationalität der Lebensführung ein „bedingtes" Idealbild, das „eine Umbildung der handwerksmäßigen in die kapitalistische Wirtschaftsform" nachzuvollziehen erlaube (auch wenn die wirkliche Geschichte sich anders vollzog und das Kapital der Handelstätigkeit entstammte - Weber (Anm. 4), S. 203.) Solche Idealtypen seien daher nicht Abbilder der Wirklichkeit wie die historische Schule für ihre Begriffe naiv annehme; sie seien, wie man seit Kant wisse, nicht das Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis. Tauglich sind sie bei sauberer Abgrenzung. „Gerade weil die Inhalte der historischen Begriffe notwendig wandelbar sind, müssen sie jeweils notwendig scharf formuliert werden." (Ebd., S. 209.) Und sie stellen nicht unmittelbar Realität dar. So hätten die Begriffe der Volkswirtschaftslehre wie der Wertbegriff nur idealtypisch einen Sinn, während Kollektivbegriffe wie die „Interessen der Landwirtschaft" (ebd., S. 210) nur „Unsegen" stifteten. 46
Ebd., S. 213.
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dass seine Annahmen seine Schlussfolgerungen tatsächlich rechtfertigen. Viel mag erfordert sein, um das Modell zu entwerfen, aber wenig um es zu kontrollieren, wie es auch in der Mathematik darauf ankommt, die Idee zu einem Beweis zu finden, was Genie erfordern mag, während der Nachvollzug keine besondere Verstandesleistung voraussetzt, wenn nur alle Schritte ausfuhrlich genug erklärt werden (was freilich oft unterbleibt: teils der Kürze wegen, teils, um den Schüler zu einem schöpferischen Nachvollzug zu zwingen).47 Soweit zur Überprüfung der logischen Konsistenz der Modelle nur mathematische und zur Überprüfung ihrer Geltung nur einfache Kenntnisse über die Wirklichkeit (etwa mechanischer Experimente oder der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) erfordert werden, ist diese Wissenschaft auf einer Stufe der Erkenntnis angesiedelt, die jedem Menschen durchschnittlicher geistiger Begabung zugänglich ist. Webers Anknüpfung an Kant fordert die Erstreckung dieses Programms über die Naturwissenschaft hinaus auf Ökonomie und Soziologie, insofern die Idealtypen wie Modelle - zwar nicht vor jeder Erfahrung, aber vor der Schlussfolgerung - durch genetische Begriffsbildung nachvollziehbar aus Elementen konstruiert werden, so dass die Idealtypen
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Dieses Bild wissenschaftlicher Analyse lässt sich noch in einer anderen als der von Weber dargestellten Weise mit demjenigen Kants vergleichen, der gehofft hatte, aus den Bedingungen der Erkenntnis: den Möglichkeiten unserer Anschauung und der Syntheseleistung des Verstandes, für die Naturwissenschaft inhaltlich bedeutungsvolle Sätze zu gewinnen, [n seinem Aufsatz Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (Immanuel Kants Sämtliche Werke in 6 Bänden. 4. Bd., Leipzig 1921, S. 545-672) versuchte er, die allgemeinen Grundgesetze der Physik, also ihre Axiome, die er bei Newton schon formuliert vorfand, aus den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung abzuleiten. So ist es eine Voraussetzung der Erfahrung, Ereignisse durch Beobachtungen fixieren zu können. Kants Analyse der Gleichzeitigkeit von Ereignissen lief implizit auf die Vorstellung einer unendlich schnellen Übertragung von Informationen, also auf die Verneinung der Lichtgeschwindigkeit als einer oberen Grenze der Signalübertragungsgeschwindigkeit hinaus. Kants Beweis der Newtonschen Axiome scheiterte aus heutiger Sicht an der Vielzahl der möglichen Welten, deren Grundgesetze sich mathematisch konstruieren lassen. Er meinte, nur eine könne zugleich möglich und wirklich sein, und da sein hauptsächliches Beweismittel in der Verwendung einer bestimmten mathematischen Theorie, nämlich der euklidischen Geometrie, bestand, die er für die einzig mögliche hielt, und da er eine unendliche Übertragungsgeschwindigkeit zuließ, gelangte er über Newton nicht hinaus und konnte nicht zum Entdecker der Relativitätstheorie werden. (Carl Friedrich von Weizsäcker: Kants Theorie der Naturwissenschaft nach P. Piaass. In: Die Einheit der Natur. Studien von Carl Friedrich von Weizsäcker, München 19712, S. 405-427.) Kant durfte von seinem Verständnis her behaupten, „dass in jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist." (S. 550.) Denn mit Hilfe der Mathematik als Bedingung möglicher Erfahrung sollten Inhalte über erfahrbare Naturwissenschaft vor der Erfahrung selbst als „eigentliche Wissenschaft" abgeleitet werden. Es gibt nun freilich mehrere Modelle, die mögliche physikalische, und auch mehrere, die mögliche ökonomische Zusammenhänge beschreiben; welche Modelle empirische Geltung besitzen, muss empirisch festgestellt werden. Insofern scheiterte Kants Programm.
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objektiviert zur Zusammenfügung von Behauptungen über die Wirklichkeit, die erst verbunden auf ihre Geltung überprüft werden, zur Verfügung stehen. Gilt dies auch für die Geisteswissenschaften? Sie gehen oft mit Begriffen um, die ich Bildungsbegriffe nennen möchte, weil sie nur in einem langen Bildungsgang ihre ungefähre Bedeutung annehmen und ihre Bedeutung für verschiedene Personen unterschiedlichen Bildungsstandes, angesichts der Verschiedenheiten der Bildungsgänge und der Personen, überhaupt nie völlig derselbe ist und sich langsam wandelt. Lexikale Definitionen (Nominaldefinitionen) von Begriffen wie ,Manierismus' oder, uns näher, , Maximindichtung' lassen sich wohl geben, aber was meinen wir mit ihrem Gehalt, d. h. wie sind sie zu explizieren? Die Explikation findet keinen Abschluss, weil durch ihr Fortschreiten der Begriff sich durch einen Bildungsprozess ständig anreichert.48 Der Einwand trifft auch Webers Idealtypen, denn soweit es sich nicht um mathematisch formulierte Modelle handelt, lassen sie sich ohne einen anschaulichen Gehalt nicht darstellen, und so werden zwei, die sich über Handwerkerökonomien unterhalten, doch nie ganz dieselben Vorstellungen damit verbinden. Bedeutungsunterschiede, die sich in der Interpretation ohne Verwendung der Mathematik konstruierter Begriffe ergeben, mögen bei den meisten Idealtypen, mit denen Webers Soziologie wirklich arbeitet, im normalen wissenschaftlichen Diskurs dennoch auf ein Niveau reduzierbar sein, das eine sichere Verständigung ermöglicht. Für die Ökonomen um 1900 boten die biologische Morphologie und die Jurisprudenz Vorbilder solcher Begriffsbildung.49 Es könnte sein, dass der Reiz und die Schwierigkeiten der Geisteswissenschaften dagegen darauf beruhen, dass der Verständigungsprozess oft nicht in nützlicher Frist abgeschlossen werden kann, so dass man dem Urteil eines bedeutenden Wissenschaftlers ein Vertrauen entgegenbringen muss, ohne alle Begründungen selbst nachvollziehen zu können, selbst wo es sich um Wirklichkeit, nicht um ihre weltanschauliche Bewertung handelt, wenn nämlich vielfältiges historisches Wissen, Anschauung und Einfühlungsvermögen, gegründet auf Lebenserfahrung, nicht nur beim Erfassen, sondern auch in der Darlegung eines nicht experimentell wiederholbaren Wirklichkeitszusammenhangs erfor-
48
Zum Zusammenhang von Nominal-, Realdefinition und Explikation vgl. W. Stegmüller: Wissenschaftstheorie. In: Fischer Lexikon Philosophie. Hrsg. von A. Diemer und I. Frenzel, Frankfurt 1965 [1958], S. 327ff„ insb. S. 328-335. Auch die Explikation naturwissenschaftlicher Begriffe findet formal keinen Abschluss, wenn sich auf sie Theorien gründen lassen. Stegmüller nennt als Beispiel den Wahrscheinlichkeitsbegriff mit der Wahrscheinlichkeitstheorie als Explikation (S. 333). Aber in der formalisierten Theorie sind, anders als bei Bildungsbegriffen, der Reichtum des Erlebens der sie nachvollziehenden Person und ihre Anschauung gleichgültig. Dagegen bleibt bei einem Bildungsbegriff kaum etwas übrig jedenfalls keine strukturierte Theorie wenn man die Bildung, der die Anschauung zum Begriff verdankt wird, wegnimmt.
49
Auf diese Vorbilder beruft sich Sigwart (Anm. 44).
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dert werden. Es ist ferner kaum nötig zu betonen, dass in den Geisteswissenschaften Bewertungen hinzutreten müssen und dass die Kunst der Interpretation in Bewertung mündet und dem Kunstwerk einen Rang zuweist. Die Beschreibung eines Kunstwerks kann selbst zum Kunstwerk werden oder aber auf der Ebene eines einfachen Nachvollzugs verbleiben. Für das szientistische Verständnis hört Wissenschaft an dieser Grenze auf, für manche Geisteswissenschaftler erhebt sie sich jenseits derselben, ohne Religion zu sein, überhaupt erst zum Anspruch auf Erkenntnis des Wesentlichen.50 Aber sobald die Möglichkeit, innerhalb dieser Grenze zu verharren oder die Grenzziehung selbst bestritten wird, scheint es mir schwierig, Stufen der Wissenschaft ganz zu leugnen. Lothar van Laak hat Georges Position mit der Diltheys verglichen, für den die Erfahrung vom Erleben ausgeht; Gundolf steigert den Gedanken zum Ausruf, es sei der Gegensatz zwischen Denken und Leben „recht eigentlich der geistige fluch der epoche"." So kann kein Zweifel bestehen, dass einige - nicht alle - Wissenschaftler im George-Kreis ihre höchste Aufgabe darin sahen, ihre Schüler über Stufen des Lebens, der Bildung und der Erkenntnis in die Höhe zu fuhren, wo aus einer tieferen Schicht der Erfahrung orientierende Werte beschworen und Anschauungen kunstvoll dem inneren Auge vorgeführt werden, ohne an die Möglichkeit eines allgemeinen Nachvollzugs - gar more geometrico - zu glauben, während Weber eine nüchternere Auffassung des Berufs der Wissenschaft um den Preis inhaltlicher Beschränkung (und natürlich nicht ohne seine guten Gründe) mit der ganzen Kraft seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit vertrat.
50
Vgl. auch Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Zweite neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1913. Zu Weber S. 322f. Rickert, obwohl mit dem Kreis nicht verbunden - er war aber Abonnent der Blätter für die Kunst (vgl. Stefan George - Dokumente seiner Wirkung, Amsterdam 1974 2 , S. 297) - stand in der Sache zwischen Max Weber und George. Er meinte, durch geisteswissenschaftliche Begriffe werde „das Wesentliche aus der Wirklichkeit herausgehoben und zusammengefasst" (Rickert, S. 293), obwohl sie auf Individuelles verwiesen, auf Wirklichkeit im Sinne Simmeis (S. 222), nicht auf Allgemeines, wie Naturgesetze oder, können wir hinzufugen, die Idealtypen, die erst in vielfacher Verbindung gestatten, ein Individuelles angenähert zu charakterisieren. Das Individuelle wieder werde auf Werte, genauer Kulturwerte bezogen, das Individuell-psychologische überschreitend: „Der Geist eines Volkes ist uns, soweit er wirklich ist, die Kultur eines Volkes." (S. 514.) Die so gebildeten Begriffe enthielten schon Urteile (S. 56), doch sollte der Wissenschaftler, wie bei Weber, sich selbst des Wertens enthalten und nur die Wertbezüge aufzeigen. Die Berufung auf die Anschauung sei in den Geisteswissenschaften nur ein Mittel, nicht ein Ziel der Darstellung. (S. 349.)
51
Lothar van Laak: Dichterisches Gebilde und Erlebnis. Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Wilhelm Dilthey und dem George-Kreis. In: George-Jahrbuch 5 (2004), S. 63-81; Gundolf-Zitat S. 72.
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4. Die Ökonomie im George-Kreis Sollte der Wissenschaftler also höhere Ansprüche erheben, als ihm bisher erlaubt schienen? Unter den Ökonomen des George-Kreises war Edgar Salin zwar Promovent von Alfred, nicht von Max Weber, und Assistent Eberhard Gotheins, doch fühlte er sich vor allem durch Max Weber herausgefordert. Ich behaupte, dass seine Trennung von nationaler' und anschaulicher' Theorie wobei die ,anschauliche' die ,rationale' umfasst - im Wesentlichen den hier skizzierten Unterschied zwischen einer modellmäßigen und einer geisteswissenschaftlich weiter ausgreifenden Theoriebildung meint. Er fühlte sich berechtigt und zögerte nicht, Bildungsbegriffe zu verwenden. Er hat seine schon in den zwanziger Jahren entwickelte Unterscheidung, von der ich vermute, dass sie von Gundolf angeregt wurde, 1967 in der letzten und sehr erweiterten Auflage seiner Geschichte der Volkswirtschaftslehre nochmals aufgegriffen und erläutert.52 Seine Anwendung der Begriffe auf die Geschichte der Volkswirtschaftslehre zeigt allerdings, dass er die Grenzen nicht ganz so zieht, wie ich es hier, vom gegenwärtigen Stand der Wissenschaft beeinflusst, getan habe. Die rationale Theorie ist Theorie more geometrico gebildet, aber nicht unbedingt explizit formalisiert; die anschauliche Theorie mag mit einfachen Typologien arbeiten. Salin stützt sich aber noch 1967 ausdrücklich auf Edith Landmann und weist andere Zweiteilungen zur Einordnung der volkswirtschaftlichen Theorien zurück, insbesondere Othmar Spanns Unterscheidung von Universalismus und Individualismus, denn alle Theorien enthielten beide Elemente, und auch der Gegensatz von Kultur- und Naturwissenschaften scheint ihm nicht dienlich, weil eine beschreibende Methode nicht den Kulturwissenschaften vorbehalten bleibe und Morphologie für die Naturwissenschaft wesentlich sei. Es komme eben darauf an, den nationalen' und den anschaulichen' Standpunkt zu verbinden, und da die anschauliche' Theorie die nationale' umfasse, sei die Verbindung zur ,Gesamterkenntnis' möglich, aber schwierig. Die anschauliche Theorie soll die ,Teilerkenntnis' der rationalen Theorie überschreiten und eine Darstellung der Gestalt, beispielsweise des ,modernen Kapitalismus' erstreben. Über die anschauliche' Theorie ließe sich noch vieles sagen.53 Wer die ökonomischen Anwendungen des auf Goethe verweisenden Begriffs nicht kennt, wird vielleicht erstaunt sein zu vernehmen, dass Salin Marx und Keynes
52
53
Edgar Salin: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Piaton bis zur Gegenwart. 5. erweiterte Auflage der Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Tübingen 1967. Die methodologische Auseinandersetzung erfolgt im Anhang. Bertram Schefold: Edgar Salin and his concept of 'Anschauliche Theorie' ("Intuitive Theory') during the interwar period. In: Annals of the Society for the History of Economic Thought (Japan) (46) 2004, S. 1-16.
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für gelungene Verbindungen nationaler' und anschaulicher' Theorie besonders lobte. Weder Salin noch, soweit ich bisher sehe, die anderen Ökonomen haben sonst methodologische Überlegungen darüber angestellt, wie für den GeorgeKreis charakteristische Wissenschaftsförmen in der eigenen Wissenschaft anzuwenden wären. Aber natürlich hat es solche Anwendungen ohne ein ausdrückliches Überdenken der Methode gegeben. Ich habe an der Tagung ,Secret Germany' in Cambridge eine erste Untersuchung des Vorgehens der Ökonomen vorgelegt; eine größere soll folgen, hier müssen Stichworte zur biographischen Charakterisierung genügen.54 Sie sollen zeigen, daß die Spannung zwischen der Welt des Dichters und beruflichen Anforderungen bei allen bestanden, aber unterschiedlich gelöst wurden. Man konnte versuchen, die Spannung in der Wissenschaft aufzunehmen oder die Sphären zu trennen, und auch im ersteren Fall ergeben sich Unterschiede in der Übernahme von Georges Anforderungen für die Wissenschaft in eigene wissenschaftliche Tätigkeit. Eberhard Gothein darf vielleicht als erster genannt werden, obwohl sein Sohn Percy, nicht er selbst dem Kreis zugehörte.55 Immerhin können wir den Erinnerungen Marie Luise Gotheins56 entnehmen, wie dieser große Gelehrte und Kenner der Wirtschafts- und Kulturgeschichte sich in ergreifender Weise vor der dichterischen Begabung Georges verneigte und das Frühwerk des viel jüngeren Gundolf anerkannte und bewunderte. Er hat Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in monumentalen Werken57 miteinander verbunden, und er verfugte über eine solche Arbeitskraft, daß er zugleich der Wirtschaftspraxis, beispielsweise bei seiner tatkräftigen Förderung von Handelshochschulen (Köln, Mannheim)58, zu dienen vermochte.
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Bertram Sehefold: Political Economy as 'Geisteswissenschaft'. Edgar Salin and Other Economists around George. Conference on "In Search of the Secret Germany: Stefan George, His Circle and the Weimarer Republic". Für die zahlreichen Literaturangaben, die im Folgenden eigentlich notwendig wären, verweise ich auf diesen ausfuhrlichen Aufsatz, der sehr bald im Tagungsband erscheinen soll. Edgar Salin: Eberhard Gothein. In: Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1963, S. 3-15. Marie Luise Gothein: Eberhard Gothein. Ein Lebensbild. Seinen Briefen nacherzählt, Stuttgart 1931. Er schrieb die Wirtschaftsgeschichte einer Region (des Schwarzwalds), einer Stadt (Köln), das Hauptwerk über Loyola aus protestantischer Sicht und über die Renaissance in Süditalien - ein zweiter Band zu Burckhardts Klassiker. Die Gründer der Handelshochschulen versprachen in später enttäuschtem Optimismus, den Unterricht des ökonomischen Rüstzeugs mit dem der Inhalte der geisteswissenschaftlichen Bildung verbinden zu können. Vgl. Bertram Sehefold: Der Geist der Gründer - eine Herausforderung ftir die Gegenwart. In: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in Frankfurt am Main. Erweiterte Neuauflage, Marburg 2004, S. 326-333.
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Julius Landmann'", dessen Freundschaft zu George stetig dauerte und unerschüttert blieb, glich Gothein in seiner Verbindung rastloser sachlicher Arbeit als wirtschaftspolitischer Berater (hauptsächlich in der Schweiz) in Verbindung mit einem akademischen Unterricht, in dem auf Faktenkunde großes Gewicht gelegt wurde. Seltener, aber auch bestechend durch ihre Brillanz, waren seine Arbeiten, die, wie die umfangreicheren Gotheins, Verbindungen zwischen der Wirtschaftsgeschichte oder der Geschichte des ökonomischen Denkens mit der Kulturgeschichte herstellten. Seine Wirtschaftspolitik könnte man konservativ-liberal nennen, doch war ihm von frühen Sympathien für die Arbeiterbewegung ein gewisser Radikalismus geblieben. Er wollte nicht als jüdischer Verfechter des Finanzkapitals gelten. So führte seine Rentiereinkommen kritisierende Begründung für eine Besteuerung zinstragender Wertpapiere zu Vorwürfen der Presse, er zeige bolschewistische Neigungen. Sein Minister ließ den Experten fallen, von anderen Ämtern trat er zurück, und es begann trotz einer ehrenvollen Berufung nach Kiel ein beruflicher Abstieg. Nach schweren Verlusten in der Familie und von Freunden, unter dem Eindruck des herannahenden Unheils, nahm Landmann sich am 8. November 1931 das Leben. - George scheint in Julius Landmanns beruflicher Tätigkeit keine Rolle gespielt zu haben. Wenn er etwa - wie eine nachgelassene Schrift belegt - des Abbe Galiani Schrift über den Getreidehandel mit wunderbarer Eleganz in eine Schilderung der Zustände des Ancien Regime vor der Revolution einzubetten wusste60, zeigte er eine Begabung, die mehr eine Voraussetzung als eine Folge seiner Beziehung zum Kreis war. Noch strenger blieben die Sphären bei Robert Boehringer geschieden. Als er alt war, wollte es scheinen, als habe es einen Geschäftsmann, einen Dichter, einen Nachlaßverwalter (als Erben Georges) und noch einige andere Personen dieses Namens gegeben, die denselben starken Willen, dieselbe Leistungskraft ausstrahlten und sich vor aller Augen durch ein Wechseln des Gesprächsthemas unter Veränderung der Körperhaltung und der Stimme ineinander verwandeln konnten. Sein Blick auf Jugendbildern lässt große Leidenschaften ahnen61, und George hat ihm Zeilen gewidmet, die von einer Macht des viel Jüngeren über den Dichter sprechen:
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Vgl. Edgar Salin: Julius Landmann, (Anm. 55), S. 16-29. Annette Baudraz: Julius Landmann (1877-1930). Legislateur du Prince. Memoire de licence. Unpubl., Lausanne 1997. Julius Landmann: Des Abbe Galiani Dialoge über den Getreidehandel und der Methodenstreit in der heutigen Wirtschaftswissenschaft. In: Ders.: Vorträge aus dem Nachlass, Basel 1933. Wie jeder ihn erlebte. Zum Gedenken an Robert Boehringer. Hrsg. von Georg Peter Landmann, Basel 1977.
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So hat das schimmern eines augenpaares Als ziel bei jeder Wanderung geglimmt. So ward dein sanfter sang der sang des jahres Und alles kam weil du es so bestimmt. (SW VI/VII 84)
Boehringer aber glaubte, seine Stärke dem Älteren zu verdanken.62 Als Sang der Jahre erschien 1944 eine privat gedruckte63 Auswahl von Boehringers Gedichten. Er las am besten und erwog den Versuch, aus dem Lesen von Gedichten seinen Beruf zu machen. George widerriet in einem Brief:64 Bingen sept 1906 mein lieber Robert: [...] Was so verwahrlost ist wie die heutige kunst der Hersagung kann nicht auf einmal und nicht von Einem wieder geordnet werden. Wir haben seit jähren niemals versuche ausserhalb des Kreises gemacht · es bot sich auch keine möglichkeit. Du bist wol auf dem besten · dem mir einzigen · weg aber um weiter zu dringen braucht es weitere beflissenheiten [...] Das schwerste ist auch gar nicht seiner art selber sicher zu werden und andre mit seiner art zu überzeugen - sondern: das brett zu finden von wo aus man abspringt, f...] Sag mir noch mehr von Deinen plänen und verlier nicht die geduld. In herzlichem gedenken Dein St. George
In derselben Zeit hatte Boehringer sich mit der Arbeiterfrage befasst. 1911 erschien seine Dissertation Die Lohnämter in Victoria, also über die Schlichtung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Streitfall über Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen: akkurat, gescheit, mit Sinn für die unterschiedlichen Arbeitshaltungen unterschiedlicher Einwanderer in Australien (wie Chinesen, Araber, Südeuropäer) je nach den Familienstrukturen, ein Buch mit viel ökonomischer Vernunft und ganz ohne Theorie im modernen Sinn. Boehringer 62
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Auf das letzte Blatt seines Taschenkalenders für das Jahr 1933 schrieb er, datiert „Silvester" (ich zitiere mit Erlaubnis der Enkelin Franziska Winters, der ich die Mitteilung verdanke): „Das Jahr 1933 nahm mir meinen leiblichen und meinen geistigen Vater. Beide hab ich sterben sehen. Mein leiblicher Vater war für mich Herkunft Heimat Natur. Durch ihn war Schwaben für mich auch in Basel. Echt · schlicht · sorgsam · ritterlich · eigen · zäh · mit liebe zum fernen und kühnen. Ich liebte ihn und könnt es ihm auch zeigen seit ich den eigenen Weg ging. Mein Weg folgte dem Meister. Trotz abirren und beharren kam alles durch ihn • war alles für ihn. Was ich sah • liebte • hasste • suchte • ergriff und hielt: Alles kam von ihm. Mein Glaube · meine Behauptung in der Welt • was ich andern gebe: Alles stammt von ihm. Auch der rest meines lebens ist sein." Robert Boehringer: Sang der Jahre, Privatdruck 1944. Aus SGA. bezeichnet George II, 169. Leipzig 1911. Die Festschrift für Robert Boehringer (Robert Boehringer: Eine Freundesgabe hrsg. von Erich Boehringer und Wilhelm Hoffmann, Tübingen 1957) enthält eine Bibliographie.
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wollte im Folgenden nicht die Wirtschaftswissenschaft, sondern die wirtschaftliche Praxis. Er erwarb ein großes Vermögen und gewann Respekt in einer anderen Wissenschaft, der Archäologie, doch gehört dies nicht hierher. Auch Friedrich Wolters zählt als Schüler Schmollers, des bedeutendsten Vertreters der sog. Jüngeren Historischen Schule, und als Wirtschaftshistoriker zu den Ökonomen um George. Die moderne Georgeforschung, die sich viel mit ihm beschäftigt, hat von seiner professionellen Arbeit kaum Notiz genommen, obwohl schon seine Dissertation über die Agrarprobleme in Frankreich im 18. Jahrhundert 66 durch ihre Verbindung der realen mit der Ideengeschichte, der Geschichte der Politik und der Institutionen im Facettenreichtum der Darstellung jeden beeindrucken muss, der sie mit neueren einseitigeren Herangehensweisen vergleicht. Auch scheint mir bemerkenswert, dass der Autor des im Kreis berühmt-berüchtigten Herrschaft und Dienst in einer Schmollerfestschrift 67 eine Soziologie der Herrschaftsform vorgelegt hat, die den aufgeklärten Despotismus als Übergang zu den „demokratischen Staatsformen unserer Zeit" deutet. In seinem von George besonders gelobten Aufsatz über Colbert 68 hat Wolters den Merkantilismus als einen Staatskapitalismus aufgefasst, der - wie moderne totalitäre Staaten, auf die Wolters anspielt - den Reichtum im Zentrum versammeln, die anderen Länder wirtschaftlich abhängig, das eigene unabhängig machen will, um darauf eine politische Macht zu gründen, welche die ökonomische dann weiter steigern soll. Die selbstverstärkenden Kräfte dieses Systems, die Unterschiede zum liberalen Kapitalismus werden nicht theoretisch, sondern in den handelnden Personen der Geschichte repräsentiert. Später nutzte Wolters die Freiheit seiner universitären Stellung, um sich weiter von seinem Fach zu entfernen. In der Wahl selbstgestellter Aufgaben kann man ein Bedürfiiis erkennen, zwischen dem Fach und der Vorstellungswelt des Kreises Verbindungen zu finden; in den Wirtschaftswissenschaften hat er damit nur eine flüchtige Spur hinterlassen. Wesentlicher, und damit für das Verständnis der Ökonomie und ihrer Methoden, für Politik und auch für das persönliche Schicksal brisant wird die Spannung zwischen Georges Welt und dem Beruf der Wissenschaft erst bei den nachfolgenden Ökonomen des Kreises; die folgenden vier möchte ich hier dazu rechnen:
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Fritz Wolters: Studien über Agrarzustände und Agrarprobleme in Frankreich von 1700 bis 1790, Leipzig 1905. Ober die theoretische Begründung des Absolutismus im siebzehnten Jahrhundert. In: Grundrisse und Bausteine zur Staats- und Geschichtslehre. Zusammengetragen zu Ehren Gustav Schmollers von Kurt Breysig u. a., Berlin 1908, S. 201-222. Friedrich Wolters: Colbert. In: Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen. Hrsg. von Erich Mareks und Karl Alexander von Müller, Bd. 2, Stuttgart und Berlin 1922, S. 1-38.
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Zuerst Arthur Salz69, den Freund Gundolfs, der dessen Schicksal im Verhältnis zu George teilte, eine außerordentliche, schillernde Persönlichkeit. Schon von der Herkunft war er schwer zu fassen. Gehörte er nach Prag, nach Österreich, nach Deutschland? Gewiss bekannte er sich auch zum Judentum, aber für oder gegen den Zionismus? Wie weit neigte er, der bei einer Gelegenheit auch als Unternehmer tätig wurde, zu Marx, wie weit zum Liberalismus? Einmal mit akademischen Ehren versehen, war er dann wieder so gut wie stellenlos. Vor der Emigration publizierte er viel, hatte seine Bewunderer in Heidelberg und suchte in schwärmerischen Worten die Vermittlung zwischen strenger Wissenschaft im Sinne Max Webers und ihrer Überschreitung zur Schau, an der der Gelehrte, geleitet vom Dichter, teil hat.70 Nach der Emigration, in Ohio, besaß er zwar eine feste Stelle, aber es kam an wissenschaftlichen Publikationen so gut wie nichts mehr. Wie die Ökonomie Theorie und Geschichte verbinden könne, war ihm als Gegensatz von Macht und Wirtschaftsgesetz71 ein echtes Problem; was er darüber schrieb, scheint manchmal genial, manchmal konfus. Hier war ein Freund Georges, der sich überlegte, wie geistige Kräfte neben den wirtschaftlichen in der modernen Welt bestehen könnten. Zeitkritisch zeigte er, „wie stark die Märkte und der Staat von ihrem Idealtypus" (ihrer Idee) abweichen, wie der Staat durch Machtentfaltung in der Wirtschaft in der Wirklichkeit infolge Profanierung eine Machteinbuße erleidet und welche gesellschaftlichen Folgen aus einer „überspannten Staatsgläubigkeit resultieren".72 Das Beispiel Salz belegt, dass von George in seiner späten Dichtung gesehene Mächte: Volk, Nation, Reichsgedanke, im Kreis mit Schumpeters Imperialismustheorie in Verbindung gebracht werden konnten. Schumpeter bestritt, dass das Bürgertum aus sich heraus expansiv sei; der Drang, Imperien zu bilden, nähre sich aus älteren Schichten. Salz fügte dem hinzu73, auf Smith zurückgreifend, daß das Bürgertum allerdings imperiale Bestrebungen unterstützen werde, wenn dadurch die Absatzmärkte vergrößert würden. Salz hoffte, der imperiale Wettstreit werde durch ein Zusammenwachsen des Weltmarkts überwunden. Unter den Ökonomen im Kreis hat es, so weit ich sehe, keinen Nationalsozialisten gegeben. Wilhelm Andreae, der George nach der Zeittafel nur we69
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Zu ihm neu: Johannes Fried: Zwischen ,Geheimem Deutschland' und ,geheimer Akademie der Arbeit'. Der Wirtschaftswissenschaftler Arthur Salz. In: Geschichtsbilder im GeorgeKreis (Anm. 28), S. 249-302. Vgl. ebd., S. 271-274. Arthur Salz: Macht und Wirtschaftsgesetz. Ein Beitrag zur Erkenntnis des Wesens der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung, Leipzig und Berlin 1930. Reinhart Blomert: Salz, Arthur. In Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933. Hrsg. von Harald Hagemann und ClausDieter Krohn, München 1999. 2 Bde., Band 2, S. 600-603, hier S. 602. Arthur Salz: Das Wesen des Imperialismus. Umrisse einer Theorie, Leipzig und Berlin 1931.
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nige Male begegnete, stand einer politisch auf der rechten Seite einzuordnenden Ideologie zeitweilig am nächsten, insofern er, wie andere mit Wurzeln in der Altphilologie versehen und ausgewiesen durch Piatonforschungen, sich beim Universalisten Othmar Spann habilitierte und in den Dreißiger Jahren die Lehre vom Ständestaat vertrat. Aber Spann wurde 1938 von den Nationalsozialisten verfolgt und Andreae verlor 1942 seinen Lehrstuhl als „politisch unzuverlässig".74 So sehr es ungerecht wäre, sein Lebenswerk auf dieses Buch zu reduzieren, muß erwähnt werden, dass er 1933 mit einem während der Depression geschriebenen Werk Kapitalismus, Bolschewismus, Faschismus75 ein gewisses Aufsehen erregte. Der Liberalismus war diskreditiert. Das Bruttosozialprodukt fiel in Österreich nach moderner Schätzung76 von 1928 bis 1935 um 22,5%, in Deutschland um 16%, in Italien aber nur um 6,1%, so dass Italien zu den Ländern gehörte, die den geringsten Einkommensverlust hinzunehmen hatten, und der Faschismus besaß außerdem besondere Möglichkeiten, entlassenen Arbeitern Beschäftigung zu verschaffen. So ergibt sich folgende Tendenz. In allgemeiner Zeitkritik heißt es: „Es ist nicht mehr die Kultur, der geistig-sinnliche Inhalt des gesellschaftlichen Lebens, der die wirtschaftliche Erzeugung bestimmt, sondern die wirtschaftlich-technischen Möglichkeiten bestimmen den kulturlos gewordenen Verbrauch".77 Die liberale Theorietradition wird nicht vollständig verworfen, sondern es werden ihr schädliche Auswirkungen in bestimmten, auch heute umstrittenen Bereichen, wie Freihandel, Raubbau an Natur und Kultur, angekreidet. Der despotische und ineffiziente Bolschewismus ist trotz einiger richtiger Einsichten von Marx weder politisch noch ökonomisch eine Alternative. Übrig bleibt der Faschismus. Mussolini wird bewundert, mit Einschränkungen: Die ökonomisch wichtigste neue Institution, die Carta del Lavoro von 1927, hat zwar den Vorzug, die Grundlage zu korporativer Organisation zu liefern, birgt aber die Gefahr zu großer Zentralisierung; die Staatsintervention ufert aus und Andreae sorgt sich wegen der fortschreitenden Technisierung - immerhin fördere Mussolini die Rückkehr zur Landwirtschaft. Die spezifisch ökonomischen Argumente gegen den Ständestaat (weitgehend dieselben wie gegen Kartellierung) zieht Andreae nicht in Betracht (die politischen können wir hier nicht behandeln). Obwohl auch sie unter dem Einfluss der Zeitkrisen und in Treue zu Georges , Staat' als einem sich kritisch vom Staat im großen absetzenden Freundeskreis Anfechtungen liberaler Grundpositionen erfuhren, haben sich
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Hellmuth Stefan Seidenfus: Wilhelm Andreae, 1888-1962, Nationalökonom. In: Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von H. G. Gundel/P. Morau/V Press, Bd. I, Marburg 1982 (Veröffentl. der historischen Kommission für Hessen, Bd. 35), S. 1-5. Jena 1933. Fontana Economic History of Europe, 20th Century, Part II (Collins 1976), S. 458. Andreae (Aran. 75), S. 22.
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Salin und Singer, so weit ich ihre Schriften lesen konnte, nie zu einem Totalitarismus bekannt, und ein freies Unternehmertum musste die wirtschaftliche Basis des Staates bleiben - Ordoliberale waren sie freilich auch nicht. Zu Salin verweise ich auf meine anderen Schriften über ihn78 und begnüge mich hier mit einigen Bemerkungen zu Singer, die uns zuletzt zur Weite der Georgeschen Welt zurückfuhren mögen. Singer, ein Schüler von Georg Friedrich Knapp, informell auch von Simmel, lehrte in Hamburg und war ein einflussreicher Wirtschaftsjournalist79. Er schrieb hauptsächlich über monetäre Fragen80, aber auch zwei Bücher über Piaton, er schrieb über jüdische Fragen und blieb ein Freund Martin Bubers. Aufsätze über George und publizierte Erinnerungen an ihn81 berechtigen dazu, Singer zum Kreis zu rechnen82. Aber sein schönstes Buch ist ein Werk der Kultursoziologie über Japan83, entstanden aufgrund der „hundert Monate", die er dort verbrachte, erst eingeladen, dann nur geduldet, schließlich vertrieben, als das Bündnis zwischen dem Hitlerregime und dem Kaiserreich sich fester schloss. Singer baute sich nochmals eine Existenz in Australien auf, bis er Ende der Fünfziger Jahre sich mit Wiedergutmachungszahlungen in Athen zur Ruhe setzen konnte. Das Buch über die japanischen Denkweisen und Lebensformen gilt als eines der besten und geistreichsten über den Gegenstand überhaupt und wirkt besonders durch Vergleiche zwischen dem alten Japan und der europäischen Antike. In Melbourne entstand The Idea of Conflict, eine höchst originelle Reflexion auf die mythischen, sozialen, tiefenpsychologischen Ursprünge von Kampf und Wetteifer, von zerstörerischer Gewalt und schöpferischem Wettbewerb, die so oft
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Schefold: (Anm. 28) und ders.: Nationalökonomie als Geisteswissenschaft - Edgar Salins Konzept einer Anschaulichen Theorie. [Gekürzte Fassung eines Festvortrages an der Universität Basel zur hundertsten Wiederkehr des Geburtstags von Edgar Salin am 10.2. 1992.] In: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 18 (1992) H. 4, S. 303-324, ferner ders.: Edgar Salin and his Concept of'Anschauliche Theorie', (Anm. 53). Nicht nur wirtschaftsgeschichtlich, sondern auch zeitgeschichtlich interessant bleibt die Sammlung Kurt Singer: Staat und Wirtschaft seit dem Waffenstillstand, Jena 1924. Insbes. Kurt Singer: Das Geld als Zeichen, Jena 1920. Kurt Singer: Aus den Erinnerungen an Stefan George. In: Neue Rundschau 68 (1957), S. 298-310. George scheint mit Singer über Wirtschaftsfragen eingehend gesprochen zu haben: über Walter Rathenau und dessen Konzept einer Rationalisierung der Wirtschaft, über die wirtschaftliche Lage Hamburgs, über die Erfolgsaussichten einzelner Anleihen. Demnach „schien dem Dichter ... jede bezeichnende Einzelheit des Oberflächengeschehens wissenswert." (ebd., S. 304). Vgl. die Aufsatzsammlung und die Bibliographie der Schriften Singers in Kurt Singer: The Idea of Conflict. Vermehrt um ausgewählte Schriften zu Wirtschaft und Staat, Tübingen 1973. Kurt Singer: Spiegel, Schwert und Edelstein. Strukturen des japanischen Lebens. Hrsg. u. aus dem Englischen übersetzt und mit einer Einführung versehen von Wolfgang Wilhelm, Frankfurt a. M. 1996 [1991, 1939], Erstausgabe, Martin Buber gewidmet "after forty years of concord and conflict", 1949.
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verhängnisvoll ineinander übergehen. Die Fragestellung war der von Salz nach den Ursprüngen des Imperialismus im Wettstreit der Nationen verwandt, der Bruch mit den überkommenen Untersuchungsgegenständen und -verfahren des Fachs jedoch weit radikaler. Singer trat in den Zwanziger Jahren für den Standpunkt der verstehenden Nationalökonomie der Jüngsten Historischen Schule ein, die der Wandelbarkeit und Vielfalt der ökonomischen Motive und der auf die Wirtschaft wirkenden Wertordnungen nachgehen wollte; wie kaum einer nahm er später die daraus erwachsende Aufgabe ernst, kultureller Vielfalt gerecht zu werden und Bilder fremder Wirtschafts- und Gesellschaftsformen nachzugestalten. Dazu bedurfte er einer Einfühlung und eines Kunstsinns, wie sie in seinen Gedichten hervortreten. Übersetzungen von zwei Uta, zwei japanischen Kurzgedichten, veröffentlicht von der Stefan-George-Stiftung in der Sammlung der Gedichte von Kurt Singer und Hans Brasch85, möchte ich dazu zitieren. Beim ersten mag er an George, beim zweiten an den Exilgefährten gedacht haben. Der hohen wölken Nahem blitzflammen gleichst du Des Donnergottes! Seh ich dich · füllt mich furchten • Seh ich dich nicht · die trauer.
Bei sonnenaufgangs Hohem Schimmer · wenn lichter Morgen herannaht · Einander in die gewänder Zu helfen - welche Schwermut!
Was haben die Ökonomen des Kreises schließlich gemeinsam? Ich unterscheide drei Ebenen: Auf der inhaltlichen Ebene bestätigt sich, dass aus dem Georgekreis keine wirtschafts- oder gesellschaftspolitisch relevante Lehre hervorwuchs. Die behandelten Ökonomen zeichnen sich nicht nur untereinander durch unterschiedliche Interpretationen des Wirtschaftslebens und seiner Zielsetzungen aus, sondern sie änderten ihre Positionen auch ζ. T. beträchtlich innerhalb der Jahre, in denen sie sich George verbunden fühlten. Gemeinsam sind nur allgemeine Grundmuster: Aufgrund einer Identifikation mit dem deutschen Schicksal im ersten Weltkrieg empfanden sie den Versailler Vertrag als Kränkung und übten fachliche Kritik an seinen ökonomischen Folgen. Alle wurzelten in der
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Kurt Singer und Hans Brasch: Antithule. Deutsche Gedichte aus Australien, Düsseldorf und München 1969, S. 11 f.
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Historischen Schule der Nationalökonomie, kannten (freilich verschieden gut) die klassische Schule und den Marxismus; nur die jüngeren befaßten sich auch mit der österreichischen Schule, aber selbst Singer oder Salin scheinen bis in ihre späten Jahre von der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie nur ungenaue Vorstellungen gehabt zu haben, die zur Grundlage der modernen ökonomischen Theorie geworden ist. Ihre im internationalen Vergleich ungewöhnliche Verbindung von Kompetenzen war für deutsche Ökonomen als ,Staatswissenschaftler' damals charakteristisch und stellt keinesfalls eine Prägung durch George dar. Georges Welt strahlt in den Schriften einiger unserer Ökonomen dennoch auf, wenn Gegenbilder zum modernen Wirtschaftsleben zu gestalten waren. Dem Anderen sein Recht zu geben, also beispielsweise (Salin) den Athener des 5. Jahrhunderts vor Christus auch als wirtschaftenden Menschen von dem Römer der Spätantike abzusetzen, sie nicht der modernen Wirtschaftstheorie zu subsumieren, oder (Singer) Japan zu erfassen, war zwar ein Anliegen bereits der historischen Schule, aber im Georgekreis war das Verlangen, die Wirkung der kulturellen Einbettung auf die Wirtschaft zu verstehen, noch ausgeprägter, und darin spiegelt sich Georges Ambivalenz gegenüber der bürgerlichen Kultur, der er, indem er sie durch Gegenwelten herausforderte, nur zubilligte, daß sie - auch wenn sie sich im Großen kaum beeinflussen ließ doch in der Nische des Kreises ein wahres Leben im falschen ermöglichen könne. Alles Bestreben lief darauf hinaus, dies durch die Tat86 zu beweisen. Aber gab es je wesentlich andere Lebensformen als die des Bürgertums? Da die meisten Ökonomen glauben, das wirtschaftliche Leben sei im wesentlichen immer und überall denselben Gesetzen unterworfen, kam es - etwa im Vergleich zu Max Weber - unter unseren Ökonomen zu Radikalisierungen der Position der historischen Schule, im Bestreben, der Vielfalt der verwirklichten Wirtschafts- und Lebensformen gerecht zu werden. Andererseits fand sich in der Gegenwart doch keine Alternative im Großen: die Versuchung durch Mussolini zeigte den Einsichtigen — und einsichtig waren diese Ökonomen fast alle fast immer wie schnell der Versuch, aus der liberalen Ordnung auszubrechen, Fehlentwicklungen einleitete, die schlimmer waren als das Übel, von dem man loszukommen trachtete. Also wurden Kompromisse gesucht, die notwendig in verschiedene Richtungen wiesen. Einheit ist daher eher in der allgemeinen Orientierung, in den Methoden und in der Form als in den Inhalten zu finden, in der Bemühung, jede Darstellung zu gestalten und nachzuweisen, wie geistige Bewegungen sich vor, neben, über den materiellen Entwicklungen entfalten. Am deutlichsten tritt diese Tendenz in Salins Civitas Dei hervor, die den Bereich des Ökonomischen im
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Näherer Verweise auf Adorno bedarf es hier nicht. Zur Spannweite der Tatvorstellung vgl. den Beitrag von Graf Vitzthum in diesem Band.
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Bestreben zu zeigen, wie ein geistiges Reich irdische Wirklichkeit werden könne, weit hinter sich lässt. Aber allgemein war die Tendenz, dem Fach eine stärker geisteswissenschaftliche Richtung zu geben, und so wagte man, in was Wissenschaft genannt werden wollte, auch mit Hinweisen und Assoziationen, wenn mein paradoxer Ausdruck akzeptiert wird (denn eigentlich gilt sonst Spinozas ,determinatio est negatio'), mit Bildungsbegriffen zu arbeiten, die aus der Anschauung gewonnen wurden und im Gebrauch Anschauung wieder erzeugten. Mit der Übernahme von Edith Landmanns Postulat einer „Gesamterkenntnis" als Ziel der „anschaulichen Theorie" ging Salin über die einzelnen Bildungsbegriffe hinaus und forderte, zur Erfassung der Gestalteinheit vorzudringen, wie sie, so fugen wir interpretierend hinzu, Gundolf in seiner Darstellung von Goethes Werk versucht hatte. Aber ist ein Gebilde wie der Kapitalismus, aufgefaßt als Totalität, tatsächlich eine Gestalteinheit? Was Salin von anderen forderte, die Darstellung dieser Gestalteinheit, leistete er selbst nicht, teils wegen der Vielfalt der Dimensionen (von der Technik, dem Fortschritt' bis zum Wirtschaftsgeist, der ,Entzauberung' und Rationalisierung'), teils wegen seines unvermeidlichen Schwankens zwischen einer liberalen Auffassung vom Marktgeschehen und seiner Denunziation der zerstörerischen Autonomie des Wirtschaftsprozesses. Es scheint mir aber gewiss (auch wenn zum Beleg noch mehr Nachweise erbracht werden müssen), daß der Kreis durch sein Bestreben, sich wechselseitig zu bilden und insbesondere durch seine Hinwendung zur Anschaulichkeit seine Mitglieder in die Höhe trug: sie lernten neue historische Verbindungen, sie wagten freiere Darstellungen. Wenn der Meister in seinen Visionen entwarf, malten sie den wissenschaftlichen Hintergrund. Seine Strenge hielt sie zurück, ins bloß Literarische abzugleiten. In diesem Sinn wirkte er, wie Gadamer es formulierte, als Vorbild. Die Haltungen der Einzelnen (dies ist die dritte und letzte Ebene meines Vergleichs) mussten in solcher Lage notwendig verschieden sein - je nach Charakter. Julius Landmann und Salin waren, um nur diese zu nennen, gewiss Freunde, und es galt Salin (wenn auch nicht mit vollem formalem Recht) als Landmanns auserwählter Nachfolger. Für seinen prophetischen Gestus wurde Salin häufig verspottet. Gleichwohl hat er dank seiner freieren Bereitschaft, seinen Geist redend und schreibend zu verbreiten, eine tiefere Spur hinterlassen.87 Wenngleich jeder seine Aufgabe anders auffaßte, sprühten dionysische Funken doch auch bei diesen Intellektuellen, wenn sie beieinander saßen, und
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Dass sich Salin ohne den Einfluss des Kreises und insbesondere Gundolfs und Georges vielleicht ganz anders entwickelt, dass er möglicherweise die Wirtschaftspraxis der Wissenschaft vorgezogen hatte, scheint mir sein jüngst gefundenes Tagebuch von einer mit achtzehn Jahren unternommenen Reise nach den Vereinigten Staaten und Alaska zu zeigen (E. Salin: Im Sonderzug nach Alaska. Tagebuch einer amerikanischen Reise 1910, Zürich 2004).
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sie verstanden sich sofort, wenn sie George-Gedichte wie Losungen zitierten: „Und was ihr heut nicht leben könnt wird nie." Die Frage ist, ob wir uns in unserer Gegenwart noch so verstehen können.
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Kritik der Oberfläche Zur Position des George-Kreises in kulturellen Debatten 1890-1930 „In ganz Deutschland ist um 1890 nicht nur politisch, sondern auch geistig etwas Neues zu spüren, und zwar beides zueinander in umgekehrter Kurve", so Friedrich Meinecke in seinen Lebenserinnerungen: Politisch ging es abwärts, geistig wieder aufwärts.[...] Und wie es auch mit dem positiven Werte dessen, was seit 1890 voran in Kunst und Dichtung und dann auch in den Geisteswissenschaften geleistet wurde, stehen mag - das eine ist sicher, dass eine neue tiefere Sehnsucht nach dem Echten und Wahren, aber auch ein neuer Sinn für die zerrissene Problematik des modernen Lebens erwachte und von einer zivilisierten Oberfläche wieder in die bald unheimliche, bald lockende Tiefe zu tauchen versuchte. 1
Meineckes Diktum ist schon in der binär strukturierten Begrifflichkeit vielen kulturellen Debatten der Wende zum 20. Jahrhundert verpflichtet: Tiefe wird gegen Oberfläche ausgespielt, Kunst steht gegen Politik, die der Suche nach Wahrheit nicht genügen kann, die Erkenntnis der Moderne steht gegen die Hoffnung auf Heilung jener Zerrissenheit', die schon Heinrich Heine beklagte; allerdings mit dem Hinweis darauf, dass der Künstler ihr - eben als Signatur der Zeit - notwendig ausgeliefert sei. Und der Historiker Meinecke rechnet nur die Geisteswissenschaften unter die „positiven Werte": Ihre Trennung von den Naturwissenschaften ist dem nachmaligen Betrachter selbstverständlich geworden, die ehemalige Einheit der Philosophischen Fakultät ist allenfalls Erinnerung an neuhumanistische Reform des Erziehungssystems im Zeichen von ,Bildung'. Ich möchte im Folgenden drei Brennpunkte der kulturellen Debatten zwischen 1890 und 1930 skizzieren, an denen der George-Kreis sich beteiligte: zunächst die Umstrukturierung besonders der philologisch-historischen Disziplinen (I, II), denen mit Gundolf, Bertram und später Kommerell und Kantoro1
Friedrich Meinecke: Autobiographische Schriften. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Eberhard Kessel, Bd. VIII, Stuttgart 1969, S. 101.
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wicz die bekanntesten Wissenschaftler im Umkreis Georges angehörten. 2 Diese Umstrukturierung allerdings ist keine nur wissenschaftsinterne, sondern verweist auf übergreifende Prozesse gesellschaftlichen Wandels, die durch veränderte Generationenverhältnisse (III) ebenso bezeichnet sind wie durch massenmediale Kommunikation (IV).
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Die vom Neuhumanismus geförderten Reformen des Erziehungssystems nach 1800 verschaffen zumal der Altertumswissenschaft singulare Reputation als einer akademischen Disziplin, der es gelingt, in der neuen Institutionalisierungsform des Seminars wissenschaftliche Forschung und Lehre zu integrieren.3 Als Leitdisziplin der Philosophischen Fakultät, die sich von der ihr bis dahin obliegenden propädeutischen Leistung emanzipiert und in eine Vielzahl von Disziplinen im 19. Jahrhundert ausdifferenziert, prägt die Altphilologie die Neuorganisation des Lehrerstudiums und platziert sich mit ihrer Bildungsprogrammatik auf einem zentralen Feld kultureller Selbstthematisierung.4 In den Deutschen Studien setzt sich sehr bald die philologische Option gegenüber popularisierenden, antiquarischen und primär nationalerzieherischen Konzeptionen durch.5 Die Deutsche Philologie orientiert sich an den Problemstellungen und methodischen Verfahren der Mutterdisziplin und partizipiert damit an ihrem Renommee in Institutionen und staatlichen Aufsichtsbehörden. Den basalen Konsens, der über die fundamentale Bedeutung philologischer Arbeit und ihre berufsethischen Implikationen herrscht, können auch die teilweise erbittert geführten Kontroversen germanistischer ,Schulen' nicht grundsätzlich gefährden. Liegt in der Disziplin der Akzent zunächst noch auf der Beschäftigung mit den älteren Sprachstufen, so kann sich seit den siebziger Jahren auch die Neuere deutsche Literaturgeschichte durchsetzen, die den Verdacht dilettantischer Liebhaberei durch Übertragung philologischer Programmatik auch auf ihr
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Ich greife zurück auf: George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910-1930. Eine Skizze. In: George-Jahrbuch 1 (1996/1997), S. 107-123. Zur Geschichte der Klassischen Philologie vgl. die Beiträge des Bandes Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Hrsg. von Hellmut Flashar/Karlfried Gründer/Axel Horstmann, Göttingen 1979. Vgl. insgesamt Manfred Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988. Vgl. umfassend Klaus Weimar: Geschichte der Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989; Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, München 1991.
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Gebiet zu zerstreuen sucht. Die Weimarer Klassik wird zum zentralen Forschungsfeld einer nationalerzieherisch ambitionierten Germanistik im Kaiserreich. Die Weimarer Ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Goethes, von 1887 bis 1919 in 133 Bänden (in 143) erschienen, ist das monumentale Editionsprojekt der Neugermanistik, gleichermaßen Legitimation fachlicher Leistung 6 wie Gegenstand der Kritik an der angeblich monströsen Selbstdarstellung monomaner Spezialforschung. Bereits vor der Jahrhundertwende begegnen zugleich massive Einwände gegen die philologische Ausrichtung, die auch von Vertretern der Disziplinen selbst, von der Klassischen Altertumswissenschaft über die Neuphilologien bis zur Geschichtswissenschaft, gelegentlich bekräftigt werden. In die Kritik geraten die mikrologischen Untersuchungen zu biographischen und werkgeschichtlichen Details auch zweitrangiger Autoren, die selbstzufriedenen, arbeitsteiligen Forschungen als bislang unbefragte Grundlage. Weder die institutionell aufstrebenden Naturwissenschaften mit ihrem materialistischen' Wissenschaftsbegriff noch die unbestreitbare Fülle und Disparatheit historischen Wissens, dies das Argument, dürften zu einer Distanzierung der Geisteswissenschaften, um die zeitgenössische Begriffsbildung Wilhelm Diltheys aufzunehmen, vom ,Leben' fuhren. 7 Diese Infragestellung überkommener Fachinhalte und Selbstdefinitionen in den Philologien ebenso wie in der Geschichtswissenschaft findet in einer Expansionsphase des deutschen Bildungswesens statt, die Adolf von Harnack 1905 vom „Großbetrieb der Wissenschaft" sprechen läßt. Im Kaiserreich werden die Hochschulen ausgebaut, die Kooperation der Industrie mit Universitätsinstituten und Technischen Hochschulen bekommt wissenschaftspolitische Unterstützung. 8 In der Philosophischen Fakultät steigt die Zahl der Immatrikulierten deutlich, die Kulturwissenschaften können ihre Stellenausstattung insgesamt weiter verbessern. 9 In den intensiven Debatten um die Wiederbesetzung prominenter germanistischer Lehrstühle, etwa Erich Schmidts in Berlin oder später Franz Munckers in München, zeigt sich die Diskrepanz von disziplinarem Selbstverständnis und Leistungserwartungen von Seiten der kulturellen Öffentlichkeit; ihre Forderungen richten sich auf
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Hierzu ausführlich Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I: 1773-1918, München 1980, S. 220ff. Vgl. Holger Dainat: Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung 1890 bis 1913/14. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Vosskamp, Stuttgart und Weimar 1994, S. 494-537. Vgl.: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter: Das „System Althoff" in historischer Perspektive. Hrsg. von Bernhard vom Brocke, Hildesheim 1991; Timothy Lenoir: Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. und New York 1992. Vgl. Christian von Ferber: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954, Göttingen 1956, S. 206.
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philosophisch-ästhetische Kompetenzen des Literaturhistorikers, der über philologisches Handwerk hinaus die Interpretation herausragender Werke und ihre Einbettung in historische wie gegenwärtige intellektuelle Kontexte fördern soll.10 Die Dauerreflexion auf Ziele und Aufgaben der Literaturwissenschaft steht im Zusammenhang der immer wieder als ,Krise' gedeuteten Grundlagendebatte in den Kulturwissenschaften insgesamt. Zu erinnern ist hier an die prinzipiellen Einwände Friedrich Nietzsches und Jacob Burckhardts gegen einen Relativismus der Werte und den Verlust von Orientierungswissen, erzeugt durch die überzogenen historischen Objektivitätsansprüche einer ,kranken', eben ,lebensfeindlichen' Geschichtswissenschaft 11 - öffentlichkeitswirksam trivialisiert zumal in einem Bestseller wie Langbehns Rembrandt als Erzieher mit der massiven Polemik gegen blutleeren Intellektualismus. Die von Dilthey und den Neukantianern betonte kategoriale Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften gehört ebenso hierher wie die Konflikte in der Nationalökonomie um deskriptive Verfahren; Friedrich Wolters' Lehrer Gustav Schmoller ist daran beteiligt.12 In der Geschichtswissenschaft eskaliert vor der Jahrhundertwende der sog. ,Methodenstreit'. Zwischen dem Berliner Historiker Dietrich Schäfer und dem Heidelberger Kulturhistoriker Eberhard Gothein, der 1910/11 Gundolfs Habilitation nachdrücklich fördern wird, entsteht ein Disput über die Berechtigung sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Fragen in der Geschichtswissenschaft. Die einige Jahre später einsetzende Kontroverse Karl Lamprechts mit der institutionell dominanten Ranke-Schule setzt diese Grundsatzdiskussion bis zur persönlichen Verunglimpfung fort. 13 Erwähnt sei schließlich noch der , Werturteilsstreit' um die Zulässigkeit von Wertaussagen in sozialwissenschaftlicher Argumentation, in dem sich Max Weber um 1910 exponiert. 14
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Die institutionellen Kontroversen, in deren Verlauf auch Gundolf 1920 für die Nachfolge ins Gespräch kommt, den durch C.H. Becker ausgesprochenen Ruf aber schließlich ablehnt, zeichnet Wolfgang Höppner nach: Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt/M. 1993, S. 362-380. Vgl. Andrea Germer: Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 105), S. 2061. Vgl. Volker Kruse: Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie. Ein Paradigmenwechsel in den deutschen Sozialwissenschaften um 1900. In: Zeitschrift für Soziologie 9 (1990), S. 149-165. Vgl. Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 (Fundamenta Historica 3), S. 389-456. Vgl. ausfuhrlich Edith Weiller: Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart und Weimar 1994, S. 90-131; Gerhard Lauer: Die verspätete Revolution: Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer
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II. Die von Ernst Troeltsch so genannte ,Krisis des Historismus' reicht über die Konfrontation wissenschaftlicher Gruppierungen, die Reflexion von Arbeitsformen und methodologischen Prämissen oder die Neubewertung geschichtlichen Wissens weit hinaus. In den facettenreichen Diskussionen zwischen 1890 und 1930 geht es grundsätzlich um die Bedeutung der Wissenschaft für individuelle Lebensformen und ihr Verhältnis zu Institutionen und sozialen Formationen. Auch die Philologien partizipieren an diesen Debatten. Die Misere einer rein fachlich ausgerichteten akademischen Ausbildung im allgemeinen und die bornierte Verselbständigung der literaturwissenschaftlichen Verfahren im besonderen werden prägnant von den Vertretern der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft kritisiert, die sich um 1910 zu Wort meldet und mit Rudolf Ungers Hamann und die Aufklärung sowie Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist, beide 1911 publiziert, zwei beeindruckende Ergebnisse ihrer alternativen Forschungskonzeption vorstellen kann. Die oft komparatistisch angelegten Varianten der Geistesgeschichte konzentrieren sich auf,Stile', der Barock-Begriff bekommt Konjunktur, Probleme', wie Liebe und Tod, oder ,Ideen', rekonstruieren also Formen von Weltdeutung. Grundsätzlich überein kommen diese Strömungen in der Distanz zum materialistischen Fortschrittsdenken, in der Betonung schöpferischer Momente und der Auffassung philosophischer, religiöser oder künstlerischer Strömungen als Elemente eines nationalen oder epochalen „Gesamtgeistes" (Unger).' 5 Und damit wird die Dimension der Debatte deutlich: Nicht um die Berücksichtigung zusätzlicher methodischer Optionen in der Wissenschaft geht es, sondern um die deutsche Literatur als wichtiges Element nationaler kultureller ,Identität'. Jenseits konzeptioneller Varianten profiliert sich die Geistesgeschichte mit der scharfen Polemik gegen den sog. ,Positivismus' des 19. Jahrhunderts, der die philologische Tätigkeit von den Interessen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit und der studierenden Jugend abgeschnitten habe. Zwar sei von der Philologie der entscheidende Impuls zur Verwissenschaftlichung des Fachs ausgegangen, so eine typische Argumentation, allen „tieferen und schwierigeren Problemen" aber stehe sie fremd gegenüber 16 , philosophisch-ästhetische
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Revolution und Exil, Berlin und New York 1995 (Philosophie und Wissenschaft. Transdisziplinäre Studien 6), insbes. S. 181-262. Vgl. Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 1981, S. 182-237. Rudolf Unger: Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft. In: Ders.: Gesammelte Studien. Bd. 1: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1929, S. 1-31, hier S. 5. Vgl. Gundolfs Einleitung zum Goethe 1916.
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Fragestellungen seien vom Dilettantismusverdacht überzogen. Die Literaturforschung habe den Charakter eines mechanischen Handwerks angenommen, verkomme zu „mikrologischer Nichtigkeitskrämerei", 17 bleibe - um in Meineckes Worten zu sprechen - pure Oberfläche. 18 Diese Konzentration auf wissenschaftsimmanente Problemstellungen will die Geistesgeschichte zumindest ergänzen. Die Reflexion auf Reichweite und Leistungsvermögen jeder in der Literaturwissenschaft praktizierten Methode soll ihren Status im Fach definieren, auch die empirisch-induktiven Verfahren müssen sich dieser Anforderung beugen, auch ihnen kommt Wissenschaftlichkeit nicht unbefragt zu. Die Kritik an der traditionellen Philologie will in ein insgesamt komplexeres Verständnis methodologischer Prämissen münden, das Geltungsfragen kontinuierlich auf die Tagesordnung der Disziplin setzt. Die Bedeutung der Textphilologie als einer unverzichtbaren Subdisziplin wird damit nur relativiert, aber nicht aufgehoben. Die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, mit der ab 1923 die geistesgeschichtliche Literaturforschung ein über die Fachgrenzen hinaus angesehenes Publikationsorgan zur Verfügung hat, bekräftigt wiederholt die Unverzichtbarkeit philologischer Arbeitstechniken. 19 Ende der zwanziger Jahre werden in den Kontroversen um Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, Kantorowiczs Kaiser Friedrich der Zweite und Werner Jaegers Klassikbegriff ähnliche Argumentationen zu beobachten sein.20 Anlage und Diktion der Kreis-Monographien sind zugleich Ansatzpunkt der Kritik an handwerklicher Ausführung wie Hinweis auf Nähe zum Lesepublikum. Das Jahrbuch für die geistige Bewegung, 1910/11 in drei Bänden vorgelegt, zielt auf ein derart sensibilisiertes Intellektuellenpublikum, das die zivilisationskritischen Ausfälle gegen Fortschrittsdenken und demokratische Staatsformen oder die geschichts- und kunstphilosophischen Alternativen als Beiträge zur ,Überwindung des Historismus' identifizieren kann. 21 Die Polemik des Kreises richtet sich gegen den eingeschliffenen Wissenschaftsbetrieb: „Die disziplinen haben sich selbständig gemacht, die methode ist wichtiger als die
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Ebd., S. 8. Der Vortrag wurde zuerst 1908 publiziert. Vgl. den Lehrer Norbert von Hellingraths, Friedrich von der Leyen: Deutsche Universität und deutsche Zukunft. Betrachtungen, Jena 1906. Vgl. Holger Dainat und Rainer Kolk: Das Forum der Geistesgeschichte. Die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1923-1944). In: Beiträge zur Problemgeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages. Hrsg. von Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen 1995, S. 111-134. Vgl. Rainer Kolk: Von Gundolf zu Kantorowicz. Eine Fallstudie zum disziplinaren Umgang mit Innovation. In: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Hrsg. von Jörg Schönen, Stuttgart und Weimar 2000 (Germanistische Symposien. Berichtsbde. XXI), S. 195-208. Vgl. schon Claude David: Le Jahrbuch für die geistige Bewegung (1910-1911). In: Etudes Germaniques 10 (1955), S. 276-299.
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resultate: der blosse stoff und die blosse ftmktion sind die öden götzen." 22 Diese Aversion greift die erwähnten Diagnosen der Lagarde und Langbehn auf: Die Reputation der zur Wertsetzung unfähigen Wissenschaft indiziert die Dekadenz einer Gesellschaft, der Rangunterschiede, unbefragte Normen und stabile Verhaltensmuster verloren gegangen sind. Max Weber ist demgegenüber der zeitgenössische Protagonist wissenschaftstheoretischer Ernüchterung: Den sich über begrenzte Problemstellungen und selbstreflexiv formulierte Standards für die Ermittlung und Zulassung von Wissensbeständen definierenden Disziplinen ist generalisierende Weltdeutung kategorial unmöglich. 2 '
III. Wie die Rede über die Lebensfeindlichkeit der philologisch-historischen Arbeit über innerwissenschaftliche Revision weit hinausgeht, so die Beschwörung der Jugend über die Interessen erziehungswissenschaftlicher Experten. Beide Diskurse kreisen um Lebensformen jenseits der durch systemische Differenzierung entstandenen Rollenzumutungen, deren hektische Oberflächlichkeit auch dem George-Kreis als Entstellung wahrer ,Bildung' gilt. 24 Als kulturelles Konstrukt ist Jugend' nicht in bestehenden sozialen Hierarchien verortet, verspricht - jenseits der Klassen - die Auflösung solcher Fixierung durch andauernde Bewegung und ein auf Zukunft ausgerichtetes Leben. Die Autoren des Sturm und Drang, des Jungen Deutschland oder des Expressionismus inszenieren ihre Literaturrevolutionen im Medium solcher Semantik der Jugend, die sich dem ,Alten' (als Erstarrtem und borniert Regelhaftem) rigoros verweigert, durch die Kompromißlosigkeit des Neubeginns kulturelle Legitimität beansprucht. Die Entwicklungspotentiale der Jugend verweisen auf die der Kultur. Ernst Troeltsch und Siegfried Kracauer werden noch in den zwanziger Jahren die ,Krise' der Wissenschaft mit dem Protest der jungen Generation und ihrer Suche nach Orientierung jenseits pedantischer Methodenlehre in Verbindung bringen. 25 Diesem emphatischen Jugendkonzept steht eines gegenüber, das in Werthers schwermütigen Ausfallen gegen die Philisterwelt und den oft sexuell 22
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Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. In: Ders.: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte. Ausgewählt und hrsg. von Victor A. Schmitz und Fritz Martini, Heidelberg 1980, S. 150-175, S. 157 (zuerst 1911). Vgl. zu Konstitutionsprinzipien moderner Wissenschaft allgemein Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt/M. 1994. Vgl. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/M. und New York 1993 (Edition Pandora 14); Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln, Weimar, Wien 1997 (Bochumer Schriften zur Bildungsforschung 3). Vgl. Lauer (Anm. 14), S. 240, 256.
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motivierten Verirrungen romantischer Literaturhelden schon anklingt: Jugend ist ein Stadium des Risikos. Als eine Phase der Labilität meint Jugend auch hier das Noch-Nicht-Festgestellte, aber diese Instabilität indiziert weniger ungeahnte Möglichkeiten als vielmehr Gefahrdung - für das einzelne Individuum und seinen sozialen Verband. Der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommende Begriff des Jugendlichen' steht für diese Sorge der Autoritäten, die zumal Heranwachsende aus kleinbürgerlichen und Arbeitermilieus des Verlusts sozialer Verantwortung, der Gleichgültigkeit gegenüber tradierten Normen bis hin zur Verwahrlosung bezichtigen. 26 Wo weder christliche Demut noch patriotischer Enthusiasmus sichtbar sind, werden staatliche Institutionen tätig; Jugendstrafrecht, Jugendpsychiatrie und Jugendfürsorge nehmen sich sozialer Devianz systematisch an. Aber auch abseits solcher Drastik des sozialdisziplinierenden Zugriffs zeigt sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine forcierte Reflexion auf die Differenzen von Altersphasen und mögliche bildungspolitische Konsequenzen. Das Genre der , Schulgeschichte' konstituiert sich über die Konfrontation von institutioneller Erwartung und individueller Disposition. 27 Texte der Jahrhundertwende wie Wedekinds Frühlings Erwachen, Strauß' Freund Hein, Hesses Unterm Rad, Musils Törleß und noch Torbergs Schüler Gerber von 1930 demonstrieren die strukturelle Misere der Obrigkeitsschule wie das Unverständnis beamteter Pädagogen und Eltern für den Adoleszenten. Postulate der Reformpädagogik, die auf dem Eigenrecht der Jugend gegenüber institutionalisierten Anforderungen besteht, werden in narrative Form gebracht, im Gegenzug verweisen Schulkritiker auf die Dignität literarischer Einwände gegen deutsche Bildungsdefizite und weiten die Schulreformdebatten zu zivilisationskritischen Grundsatzdiskussionen. Zwar sind die literarischen Darstellungen selbstmordgefährdeter Jugendlicher nicht ohne Sensationswert für die öffentliche Wahrnehmung, quantitativ bedeutsamer aber sind die Organisationen deutsche Jugendlicher seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner stellt 1913 den Höhepunkt dieser Sammlungsbewegungen im Zeichen jugendlichen Selbstbewußtseins dar, das mit eigener Kleidung, neuartigen Freizeitangeboten und eigenen Publikationen eine Alternative zu her-
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Vgl. Ulrich Herrmann: Der „Jüngling" und der „Jugendliche". Männliche Jugend im Spiegel polarisierender Wahrnehmungsmuster an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 205-216. Vgl. grundsätzlich Jugend - ein romantisches Konzept? Hrsg. von Günter Oesterle, Würzburg 1997; zum Folgenden ausführlicher Rainer Kolk: „Dieses junge siegreiche Deutschland." Traditionen und Aspekte des nationalsozialistischen Jugendkonzepts. In: Der Deutschunterricht 55 (2003) H. 4. S. 27-36. Vgl. York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart und Weimar 1995; Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.
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kömmlichen Sozialformen wie dem bürgerlichen Verein propagiert. 28 Der programmatischen Orientierung an Gleichaltrigen entspricht die Absage an die wilhelminischen Sozialisationsinstanzen, von der Familie über die Schule bis hin zu studentischen Verbindungen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs allerdings marginalisiert die Betonung jugendlicher Eigenverantwortung; auch zahlreiche Jugendbewegte sind unter den Kriegsfreiwilligen, integrieren sich den patriotischen Erwartungen. Während der Weimarer Republik erhalten sich die schon immer vorhandenen Differenzen innerhalb der Jugendbewegung, nun zusätzlich verschärft durch das Auftreten der Bünde, die im äußeren Erscheinungsbild wie in ihrem Selbstverständnis und ihren politischen Absichten durchaus konträre Positionen einnehmen und mit völkischen bis hin zu sozialistischen Ideologemen die Bandbreite der Weimarer politischen Debatten spiegeln. 29 Nicht zuletzt die Jugendbewegung forciert die Ablösung des Begriffs der ,Jugend' von biologisch und kulturell im 19. Jahrhundert relativ präzisen Kriterien für die Lebensphase zwischen Schulentlassung/Konfirmation und Wehrdienst/Gründung eines eigenen Hausstandes. Jugend (als ,Jungsein') wird im 20. Jahrhundert „auch zum Etikett für einen Lebensstil, der vom Alter tendenziell unabhängig" ist, und zugleich zu einer vielfaltig verwendbaren, überwiegend positiv konnotierten Chiffre in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Debatten. 30 Jugend avanciert zum Mythos, dessen Facetten in literarischen Texten narrativiert werden. Der Wanderer zwischen beiden Welten (1917) verbindet jugendbewegte Lebensform mit patriotischer Emphase im Bericht über soldatische Kameradschaft an der Ostfront, beglaubigt durch den Kriegstod seines Verfassers Walter Flex. Diese Verwendung als Kampfbegriff in gesellschaftspolitischen Kontroversen der zwanziger Jahre zeigt sich besonders prägnant in der Verknüpfung von ,Jugend' mit der Mythisierung Langemarcks, eines kleinen flandrischen Orts, in dessen Nähe im November 1914 neugebildete Freiwilligenregimenter unter hohen Verlusten gegen die westalliierten Stellungen gestürmt waren. Diese Operation ohne strategischen Nutzen wird seit den zwanziger Jahren „zum Symbol verselbständigt". 31 Heldenmut und Opferbereitschaft der Jugend für Volk und Vaterland, so der Tenor kei-
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Vgl. Winfried Mogge: Wandervogel, Freideutsche Jugend und Bünde. Zum Jugendbild der bürgerlichen Jugendbewegung. In: „Mit uns zieht die neue Zeit". Der Mythos Jugend. Hrsg. von Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler. Frankfiirt/M. 1985, S. 174-198. Vgl. Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, 2. Aufl., Köln 1983, S. 113ff. Vgl. die Obersicht von Jürgen Reulecke: Jugend und „Junge Generation" in der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. Hrsg. von Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth, München 1989, S. 86-110, das Zitat S. 87. Uwe-K. Ketelsen: „Die Jugend von Langemarck." Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit. In: Koebner/Janz/Trommler (Anm. 28), S. 68-96. S. 73.
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neswegs nur im völkischen und konservativen Lager, seien hier eine Verbindung eingegangen, die zur Grundlage politischen und kulturellen Aufschwungs für das gedemütigte Deutschland werden müsse. Anschließen können diese vielfach bildungsbürgerlichen Versuche einer Geschichtsmythologie an geläufige Attribute der Rede über Jugend: ihre Verortung jenseits sozialer Differenzierung, ihre altruistische Begeisterungsfähigkeit, ihre Empfänglichkeit für ,tiefe' Gefühle. Aus dem Impuls der angeblich das Deutschland-Lied singenden Freiwilligentruppen wird so auf eine kommende soziale Formation geschlossen: die Gemeinschaft der Frontsoldaten bildet den Kern einer zukünftigen Volksgemeinschaft der Deutschen. 32 Das Jugendkonzept des George-Kreises lässt sich vor diesem Hintergrund als eine markante Verknüpfung der Futurisierung mit Disziplinierungsgeboten beschreiben, deren Telos allerdings nicht im Sinne tagespolitischer Agitation verengt wird. Schon die Blätter für die Kunst der neunziger Jahre appellieren wiederholt an die deutsche Jugend, besonders die jungen Dichter', sich nicht dem Markt auszuliefern, sondern in den Dienst an erkannter Größe einzutreten. Die Freundesgruppe mit ihrer Zentrierung um George folgt diesem Gebot, versteht sich als ,Geheimes Deutschland', das die grundlegende Erneuerung der europäischen Kultur zu gestalten vermag. Sein idealer Habitus verbindet physiognomische Vorbildlichkeit mit Tugenden wie Ehrfurcht und Bereitschaft auch zu alltäglicher Bewährung im Beruf; gerade die akademischen Laufbahnen vieler Freunde Georges zeigen das. Das Zentrum des Siebenten Rings konzentriert die Attribute, wenn die Vorrede zu Maximin ihn als „herrschet' und „erlöser" bezeichnet, der „uns mit dem lichte neuer verheissungen erfüllte. [...] Wir erkannten in ihm den darsteiler einer allmächtigen jugend wie wir sie erträumt hatten [...] - einer jugend die unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte." 3j
IV. Nicht zufallig geht diesem Optimismus die Gegenwartsdiagnose voraus, um die erhoffte Wende um so prägnanter hervortreten zu lassen: „Massen schufen gebot und regel und erstickten mit dem lug flacher auslegung die zungen der Rufer die ehmals der mord gelinder beseitigte: unreine hände wühlten in einem häufen von flitterstücken worin die wahren edelsteine wahllos geworfen wur-
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Vgl. grundsätzlich zu solchen Debatten Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M. 1996; Barbara Beßlich: Wege in den .Kulturkrieg'. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Darmstadt 2000; Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit - die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen, Darmstadt 2001. Alle Zitate Stefan George: Vorrede zu Maximin. In: SW XVII 61-66.
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den".34 Es ist diese strikte Opposition zum Zeitalter der „Massen", die dem Kreis bei vielen zeitgenössischen Beobachtern ein eigenes Profil verschafft. Noch in den ausgedehnten Diskussionen über die Bedeutung der neuen Medien, so des Rundfunks in den zwanziger Jahren, wird auf die Kunst der Hölderlin und George als eines Gegenmittels zu Nivellierung und Zerstreuung verwiesen.35 Für den Kreis selbst zeigt sich die Verflachung des intellektuellen Niveaus besonders in der Presse, gegen die Berthold Vallentin im zweiten Jahrbuch für die geistige Bewegung Stellung bezieht. Zeitungen und Zeitschriften künden von einer „oberflächenweit", der die „abgezognen eignungen" und „stellvertretenden bedeutungen" genügen, so pointiert Vallentin: „Nur anknüpfungs-, assoziationsmittel für andere gleich blutentleerte geistigkeiten und so der ausgangspunkt ewig unbegrenzter ins unendliche verlaufender beziehungen" sei die Presse „und damit vollkommen das, was die bürgerliche Welt, die ja nach ihrem eigenen willen weniger ein Leben als ein , verkehr' ist, braucht: [...] ein Verkehrsmittel".36 Nicht allein die Polemik gegen die zerstreute Lektüre des Straßenbahnfahrers, die Vallentin an anderer Stelle vorträgt, diktiert hier das Vokabular, sondern eine verbreitete Metaphorik der Zirkulation, mit der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts über Öffentlichkeit gesprochen wird.37 Das Räsonnement des Bürgers ist gekennzeichnet durch ein formales Kriterium, es ist den Geboten der Vernunft verpflichtet, ein okkasionelles, es orientiert sich an den Erfordernissen des Tages, der Aktualität, und ein mediales, es setzt auf Massenkommunikation mit eigenen Medien und Schreibweisen. Agenten dieser Zirkulation sind der Journalist, der Intellektuelle, der Literat. j8 Ihnen eignet dem Habitus wie dem praktischen Handeln, ihrem Schreiben, nach jene Oberflächlichkeit, die Gundolf an Kleist moniert. Schätzt er zunächst die „tiefe Ungebärdigkeit" des Dramatikers und Erzählers, so lautet das Urteil weiter: „Fast überall wo Kleist, durch seine Journal=tätigkeit zu unzeitigen Beiträgen gezwungen, ohne Drang und Traum, invita Minerva, dichtete, ist er platter, geistverlassener
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Ebd., S. 61. Vgl. Arno Schirokauer: Ethos des Hörspiels. In: Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare. Hrsg. von Albert Kümmel und Petra Löffler, Frankfurt/M. 2002. S. 238-241 Auf Marktstrategien des Kreises macht Cornelia Blasberg aufmerksam: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 111-145; vgl. auch Martin Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000. Berthold Vallentin: Zur Kritik von Theater und Presse. In: Jb Π 36-76, hier S. 42-44. Vgl. im Blick auf den Vormärz Jürgen Fohrmann: Die Erfindung des Intellektuellen. In: 1848 und das Versprechen der Moderne. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Helmut Schneider, Würzburg 2003, S. 113-127. Vgl. umfassend: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Hrsg. von Jutta Schlich, Tübingen 2000 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11. Sonderheft).
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als mancher mittelmäßige Skribent." 39 Das gegebene Milieu solchen Literatentums, das der wahren Kunst abträglich wird, ist die Großstadt, der Georg Simmel im Hinblick auf die Genese des modernen Intellektuellen die Diagnose stellt: Die Überreizung des psychischen Haushalts resultiert aus der Dominanz des ökonomischen Prinzips und der Beschleunigung der Alltagserfahrung, die keine Individualität im herkömmlichen Verständnis mehr zulassen. 40 Gundolf bemerkt entsprechend, dass „die widersinnige Beschleunigung eine sünde am menschlichen körper ist, ja vielleicht selbst schon eine geisteskrankheit [...]. Die kultur ist längst durch den verkehr oder vielmehr die Schnelligkeit, ein souveränes accidens des Verkehrs, nicht mehr gefordert, sondern gehindert." 41 Dem entsprechen die Formen der massenmedialen Kommunikation bis hin zur technischen Modifizierung des Schreibprozesses, der - durch die Schreibmaschine mechanisiert - seine individuellen Züge einbüßt. 42 Gegen den „verkehr", die bloße Zirkulation als nicht mehr sistierbare Bewegung, gegen den von Massenmedien beherrschten Markt setzt der GeorgeKreis ,Haltungen' des Körpers wie des Geistes. Nicht um das geschäftige ,Talent' soll es gehen, sondern um den gefestigten ,Charakter', um eine Opposition der Intellektuellenkritik seit dem Vormärz zu bemühen. Das Selbstverständnis des George-Kreises gründet deshalb in Kommunikationsformen, die dezidiert auf Mündlichkeit und Gedächtnis setzen. Der Gruppenzusammenhang selbst als auf dem persönlich adressierten Wort beruhende Interaktion und ,Bindung' wie das Beharren auf der Autorität ausgewählter Texte sind Gegenentwürfe zum tendenziell grenzenlosen Umlauf der Informationen und der Orientierung an marktkonformen Quantitäten. Das Auswendiglernen und laute Lesen bedeutender Texte, ihre sorgfältige Abschrift von eigener Hand, die als , Dienst am Wort' verstandene philologische Arbeit an Übersetzungen sind Elemente eines Lebensstils, der die Massenproduktion von Printmedien ebenso ablehnt wie die politische Partizipation von ,Massen'; ihnen wird durchaus in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Gesellschaftstheoretikern - allenfalls als straff geführten ein Existenzrecht zugesprochen. 43
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Friedrich Gundolf: Kleist, 2. Aufl., Berlin 1924, S. 7, 169. Vgl. Gangolf Hübinger: Die Intellektuellen im wilhelminischen Deutschland. Zum Forschungsstand. In: Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich. Hrsg. von Gangolf Hübinger und Wolfgang J. Mommsen, Frankfurt/M. 1993, S. 198-210, hier S. 201. Gundolf (Anm. 22), S. 154. Vgl. Fohrmann (Anm. 37), S. 125. Vgl. Helmuth Berking: Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984, S. 179ff. zu Robert Michels und Max Adler; vgl. schon die Ausführungen zu Alfred Weber und Karl Jaspers; S. 55-63.
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V. Die Annahme einer , Wirkung' des George-Kreises auf die zeitgenössischen kulturellen Debatten und das Wissenschaftssystem im besonderen bedarf der Differenzierung. Die prominenten Wissenschaftler um George sind keinesfalls Pioniere der Kritik an überkommenen Formen des Wissenschaftsbetriebes, wohl aber fordern sie die Grundlagenreflexion zumal der philologischhistorischen Disziplinen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Dies durch die Markierung ihrer Grenzen: Gegen die Überbewertung methodologischer Seriosität wird die ihr eigentlich zugrundeliegende geschichtsphilosophische Hoffnung auf geistige Formung betont. Ausschlaggebend für die Wahrnehmung des Kreises ist seine transdisziplinäre Ausrichtung, die sich nicht nur fach-, sondern wissenschaftsübergreifenden Fragestellungen zuwendet. 44 Die von den Zeitgenossen beschworene ,Krise' der Wissenschaften wird als günstige Konstellation offensiv aufgegriffen: als einer der Einsatzpunkte für ein Lebensreform-Projekt, das sich auch der Wissenschaft zuwendet, um die mit ihr verbundenen Ziele durch Revision ihrer Prinzipien zu erreichen. Disziplinarität, Effekt der Ausdifferenzierung des modernen Wissenschaftssystems seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, wird als Fehlentwicklung behandelt, die eigentlich relevante Problemstellungen durch bornierten Selbstbezug verdeckt. Der massenmedial genährten Hoffnung auf umfassende Information durch eine Vielzahl der Daten antwortet die Konzentration auf Werte, Normen und Kanon nicht Kriterien für möglichst umfassende Speicherung von Wissen, sondern für Vergessen und Nicht-Beachten. Nicht zuletzt den Erwartungen eines nicht fachlich ausgebildeten Publikums wird damit entsprochen, das von Wissenschaft als prominenter Form von Weltdeutung in der Moderne Orientierungswissen fordert. Die Resonanzen des Kreises sind ein Effekt der Verknüpfung des Konventionellen mit dem Exzentrischen einer Gruppe, die als kommunikative Einheit wahrgenommen werden konnte und damit als Realisierung der eigenen Visionen. Eine neue Lebensform durch Erziehung zur Gemeinschaft' erreichen zu wollen, gehört zu den zeitgenössisch durchaus vertrauten Denkmustern wie auch die Betonung von Kunst für Lebensführung. Der George-Kreis erzeugte nicht nur Irritationen, sondern war in zentralen Aspekten seines Selbstverständnisses, insbesondere seinen Werten, sehr wohl konsensfähig, die deutschnationalen Bekenntnisse Gundolfs und Wolfskehls am Beginn des Ersten
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Vgl. eingehender im Kontext aktueller Reformdiskussionen Rainer Kolk: Spielräume fur Alternativen. Zur Organisation von Wissenschaft - am Beispiel der Germanistik. In: Ideale Akademie: vergangene Zukunft oder konkrete Utopie? Hrsg. von Wilhelm Vosskamp, Berlin 2002 (Forschungsberichte der Interdisziplinären Arbeitsgruppen der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften 11), S. 81-93.
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Weltkrieges45 gehören dazu wie die - in den zwanziger Jahren oft resignative46 - Polemik gegen das Zeitalter der Mechanisierung und Entzauberung. Exzentrisch verfährt der Kreis in seiner gegen-institutionellen Zielrichtung. Die Gruppe selbst als überschaubarer und eben nicht beliebig ausdehnbarer Kommunikationsraum mit expliziten Hierarchien und Normen bildete die Grundlage für die Formulierung provokanter ästhetischer, wissenschaftlicher, politischer Positionen.
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Vgl. Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Hrsg. von Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 197-212. Vgl. Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin". Stefan Georges poetische Rollenspiele, München 2002, S. 44.
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Stefan George - ein ästhetischer Fundamentalist? In der gegenwärtigen, 20. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie finden sich am Ende des Stefan-George-Eintrags einige Literaturangaben. Als neuestes Buch wird dort genannt: „Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995." Man wird der Lexikonredaktion ohne weiteres zustimmen, denn in der Tat hatte und hat dieses Buch eine erhebliche Wirkung auf eine George-Forschung, die in den letzten zehn Jahren mit neuen Perspektiven und Fragestellungen das Werk auch in neuer Weise zum Sprechen gebracht hat. Aber die Bedeutung des Buches von Stefan Breuer geht über die Beschäftigung mit George hinaus, denn das, was er als ästhetischen Fundamentalismus oder Antimodernismus bezeichnet, ist ein Phänomen, das nicht nur im George-Kreis aufgetreten ist, sondern die deutsche Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert begleitet; seit es nämlich eine moderne Gesellschaft gibt, mit der sich die Literatur auseinandersetzt. Eine der Formen dieser Auseinandersetzung aber ist die grundsätzliche Ablehnung der gesellschaftlichen Moderne, ist der Versuch, in der Kunst eine ganz anders strukturierte Ordnung, eine Gegenwelt zu begründen. Solche Versuche findet man schon bei Friedrich Schiller, wenn er der Kunst die Aufgabe zuspricht, den modernen Menschen, der in verschiedene Ansprüche und Normen zerteilt ist, in der Kunst wiederzuvereinen; hier erfahrt er sich noch als ,ganzer Mensch'. Entsprechende Versuche finden sich in der Romantik, wenn die Vorstellung einer ,Neuen Mythologie' entwickelt wird: Darunter wird ein ästhetischer Zeichenkomplex verstanden, in dem sich die differenzierte Gesellschaft als zusammengehörig erfahren kann. Man erkennt an diesen Beispielen, dass Moderne-Kritik keineswegs mit ästhetischer Rückständigkeit einhergehen muss. Ganz im Gegenteil: Es sind die literarisch avanciertesten Positionen, die entsprechende Einheitsphantasien hervorbringen. Ebenso wäre es falsch, diese Moderne-Kritik als politisch ,restaurativ' oder mit einem vagen Psychologismus als ,regressiv' zu bezeichnen, denn sie entwirft eine zukünftige Welt nach der Moderne, eine Ordnung, die noch nicht existiert. Dazu bietet sie die gesamte Formensprache einer autonom gewordenen, nicht mehr auf Mimesis und Repräsentation festgelegten Kunst auf. Aber, und damit ist der entscheidende Einwand gegen diese Tradition formuliert, die Freiheit des Individuums, das Recht, anders zu sein, wird hier gering geachtet.
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Sie wird als scheinhaft heruntergespielt oder mit Hinweis auf ein wahres Allgemeines, eine überindividuelle Notwendigkeit sogar negiert. Es sind solche Entwicklungen, über die Breuers Buch zum Nachdenken anregt. Seine Perspektive, nach dem Verhältnis von Literatur, gesellschaftlicher und wissensgeschichtlicher Moderne zu fragen und dabei nicht die Behauptungen und Diagnosen der Literatur von vorneherein als wahr anzusehen, sie gegenüber ihrer Umwelt automatisch ins Recht zu setzen, kann weit über das eigentliche Untersuchungsfeld hinaus neue Ergebnisse hervorbringen. Wie alle wichtigen wissenschaftlichen Bücher regt dieses Buch aber auch an, mit ihm in einen Dialog zu treten, Fragen zu stellen. Dies soll in Abgrenzung von einem Gestus geschehen, wie er in einigen literaturwissenschaftlichen Rezensionen des Buches von Breuer zu finden war, wo bemängelt wurde, dass sich der „erzählerisch so begabte" Soziologe leider nicht auf das Feld des Ästhetischen begeben habe. 1 Es ist, glaube ich, nicht gut möglich, dass sich die Literaturwissenschaft wegweisende Bücher von Gesellschaftswissenschaftlern schreiben lässt, um diese dann aufzufordern, doch bitte auch noch die Gedichte zu interpretieren. Die folgenden Nachfragen betreffen die beiden Teile des Begriffes ästhetischer Fundamentalismus': Zunächst soll gefragt werden, wie hier eigentlich das Adjektiv ,ästhetisch' zu verstehen ist, um sodann, vom Allgemeinen auf George kommend, zu fragen, ob die Diagnose des ,Fundamentalismus' das Gesamtwerk des Autors trifft. Die Bezeichnung ,ästhetisch' bedeutet zunächst, dass es sich um einen Fundamentalismus handelt, der sich im Medium der Kunst äußert. Diese Bezeichnung sollte aber nicht so verstanden werden, als würde der Fundamentalismus, als würde der Versuch, eine überindividuelle Notwendigkeit herzustellen, das Ich wieder zum Sonderfall einer Substanz zu erklären, RelativitätsErfahrungen zu beseitigen - als würde dies alles in einem abgekapselten Raum namens Kunst stattfinden, der mit der übrigen Gesellschaft wenig bis gar nichts zu tun hätte. Die Literaturwissenschaft der letzten zwanzig Jahre hat ja, unter dem Einfluss von Dekonstruktion und Systemtheorie, dazu geneigt, Literatur überwiegend intern zu betrachten: Texte unterlaufen sich selbst, reflektieren ihre Medialität, sind Effekte von Diskursformationen, nehmen Recodierungen vor - und was der spannenden Dinge mehr sind. Dabei wurde Literatur zu einem System, in dem etwas stattfand, das mit der Welt vor dem Fenster kaum noch vermittelbar war. Ergiebig ist die Beschäftigung mit einer der anspruchsvollsten Positionen des strikten Autonomie-Denkens, nämlich mit Luhmann selbst. Bei ihm heißt es, dass das Kunstwerk eine eigene Realität etabliere, die sich von der gewohn-
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So die Rezension von Manfred Koch. In: George-Jahrbuch 1 (1996/97), S. 171 -174.
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ten unterscheide. 2 Dagegen würde man zunächst einwenden, dass dies in der Literatur schon deshalb schwer denkbar sei, weil sie ihr Material, die Sprache, nicht selber erfindet, sondern auf Zeichen zurückgreift, die gesellschaftlich konventionalisiert, also bereits mit Bedeutung versehen sind. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn die Literatur neue Lautketten, eine ganz neue Sprache erfindet. In einer radikalen Variante des Modernismus ist dies bekanntlich in der Tat erprobt worden, und auch George hat sich kurzzeitig mit einer solchen Option beschäftigt, wie das Gedicht Ursprünge zeigt (SW VI/VI1, 116 f.). Damit wäre die Dichtung tatsächlich von allen Schlacken der abgelehnten Umwelt befreit, aber sie muss damit auch auf vieles andere verzichten; so zum Beispiel auf Verständlichkeit im diskursiven Sinn, was sich womöglich verschmerzen ließe, aber auch auf die Gestaltung von Räumen, Handlungen, ja auf Menschen, an denen sie zeigen könnte, wie ein Leben aussehen würde, das nicht mehr den Bedingungen der Moderne unterliegt. Auf den Einwand, dass die Literatur ihr Material nicht selbst hervorbringt, geht Luhmann natürlich ein und behauptet, dass die Sprache, wenn sie in das Kunstsystem hinübergezogen wird, einer „Verwendungsdifferenz" unterläge, dass ihre üblichen Wertungen „neutralisiert" würden. 3 Diese Behauptung, dass wir ein Wort, das wir aus dem üblichen Alltagsgebrauch kennen, mit einer anderen oder gar keiner Bedeutung versehen, wenn wir es in der Literatur wiedertreffen, die übliche Wortbedeutung also ausgeschaltet wird, dürfte empirisch schwer zu verifizieren sein. Wenn die Sammlung Das neue Reich ein Gedicht mit dem Titel Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg enthält (SW IX, 31 ff.), dann ist damit jener Krieg bezeichnet, der auch im politischgesellschaftlichen Diskurs unter diesem Namen firmiert. Sicher handelt es sich hier um ein extremes Beispiel, dem auch eine Poetik zugrunde liegt, die sich von der Autonomie verabschiedet hat. Aber auch wenn im früheren Werk, etwa im Jahr der Seele, ein Wort wie ,park' auftritt, lässt sich nicht erkennen, dass die übliche Bedeutung dieses Wortes durch den Kontext des Gedichtes „neutralisiert" würde. Zwar ist dieser ,park' nicht der gleiche wie der Park des Stadtplans, aber wie groß die Differenz der Wortbedeutungen ist, lässt sich nur durch die Analyse einzelner Werke, nicht aber mit generalisierenden Thesen klären. Das Problem wird noch größer, wenn Luhmann aus den Überlegungen zur Semantik weitgehende Folgerungen zieht wie jene, dass die moderne Kunst in „operativer Geschlossenheit" existiere, dass ihr Schwerpunkt auf Selbstreferenz liege und dass sie anders als die vormoderne Kunst nicht mehr an der Suche nach einem höheren Sinn beteiligt sei.4 Dass diese starken Behauptun-
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Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 229. Ebd., S. 251, S. 232. Ebd., S. 241, S. 240, S. 257.
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gen nicht greifen, wird deutlich, wenn man den Blick vom System auf die beteiligten Individuen lenkt. Damit sind weniger die Künstler gemeint. Denn ein Autor wie George kann zwar behaupten, dass er die Absicht hat, Symbole zu erzeugen, die auf ein , Wesen der Dinge' verweisen, dass er also keineswegs gedenkt, in einem ästhetischen Teilsystem zu operieren. Das ist aber nur die Aussage eines einzelnen Menschen, und ein Vertreter der Systemtheorie könnte einwenden, dass es sich bei dieser Behauptung um einen besonders wirkungsvollen ästhetischen Effekt zur Aufmerksamkeitssteigerung handelt. Wichtiger sind die Leser, und hier ist die Frage zu stellen: Kann man sich den George-Leser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts so vorstellen, dass er dort, wo er Gedichte liest, eine Haltung einnimmt, die von jenen Haltungen, die er in anderen gesellschaftlichen und privaten Verrichtungen einnimmt, grundsätzlich verschieden ist? Wird er in der Kunst nach einem überindividuellen, der Kritik entzogenen Gesetz suchen und in der Politik Entwicklungen begrüßen, die auf eine dialogisch organisierte Gesellschaft hinauslaufen? Wird er wirklich, so wie es die Systemtheorie behauptet, das Wahr-falsch-Schema verlassen, wenn er in das Kunstsystem eintritt, 5 oder wird er nicht doch jene Literatur besonders gern lesen, die auch seinen sonstigen Dispositionen entspricht? Die Systemtheorie stellt sich das moderne Individuum gerne so vor, dass es aus verschiedenen Ichs besteht: einem für den Beruf, einem für die Religion, einem für die Kunst, einem für die Familie. Aber ist es nicht plausibler, von einem auch in der Moderne vorhandenen einheitlichen Ich auszugehen? Dieses Ich hat dann eine bestimmte Disposition, hat Einstellungen, Vorlieben, Urteile, Gefühle. Insgesamt kann man von einer Mentalität sprechen. Diese Mentalität wird unter anderem durch die Erfahrung von Kunstwerken bestimmt. Dabei kommt der Kunst zwar eine eigene und spezifische Stellung zu. So kann der ästhetische Bereich Erfahrungen ermöglichen, die mit der Gesetzlichkeit anderer Systeme nicht zu vereinbaren sind, diese überwinden. Kunst kann der Kompensation dienen, kann als eigene Welt verstanden werden, die Leiderfahrungen in anderen Welten erträglich macht. Aber selbst dann ist womöglich doch ein Streben nach Vereinheitlichung vorhanden, wünscht sich das Ich ein Leben, in dem nicht verschiedene Praktiken miteinander kollidieren, eine Umwelt, in der nicht heterogene Leitbegriffe gelten. Ein ästhetischer Fundamentalismus fließt also, um zu diesem Begriff zurückzukommen, in eine Gesamtmentalität ein. Er kann sich hier mit moderneskeptischen Haltungen treffen, die aus anderen Bereichen ebenfalls in die Mentalität einfließen; so zum Beispiel aus dem Bereich der Politik. Beide moderne-kritischen Haltungen können sich dann gegenseitig verstärken. Wenn man sich die Geschichte Deutschlands im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
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Ebd.. S. 277.
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ansieht, spricht vieles dafür, dass es eine größere Zahl von Individuen gegeben hat, bei denen genau dies der Fall war: dass ein ästhetischer Fundamentalismus Teil einer insgesamt moderne-kritischen Haltung gewesen ist. Man hat es hier also mit Fragen zu tun, die eine gesamtgesellschaftliche Dynamik besitzen. Die Kunst trägt eben ihren Teil zur Bildung kollektiver Mentalitäten bei, und wenn sich, wie zum Beispiel in den zwanziger Jahren in Deutschland geschehen, innerhalb des Kunstsystems fast einheitlich eine Position entwickelt, die sich eine stabile Gesellschaft nur als Glaubensgemeinschaft oder als großen Körper denken kann, dann stellt dies auch für den Bereich der Politik ein Problem dar. Ebenso trifft der Begriff des ästhetischen Fundamentalismus Fragen des Selbstverständnisses von Individuen, die ihr Ich als Teil eines übergeordneten Ganzen, als Teil eines großen Allgemeinen verstehen möchten, weil sie nicht glauben, dass eine sich selbst regulierende Mischexistenz auf Dauer lebensfähig ist. Entsprechende Fragen werden in der Kunst gestellt, aber von den Antworten erhofft man sich eine Orientierung, die die gesamte Lebenspraxis betrifft, rezipiert sie eben nicht rein ästhetisch. Die Lebenszeugnisse von GeorgeLesern bestätigen diese Hoffnung, die sie auf Literatur richteten. Wenn etwa Klaus Mann George als „Überwinder der subjektivistischen Entwurzelung" bezeichnet, 6 dann handelt es sich nicht um ein ästhetisches Urteil. Dass diese Entwurzelung, die man auch als Möglichkeit zur Selbstgestaltung bezeichnen kann, nicht zu überwinden war, dass das erhoffte Ganze nicht existierte und schließlich als politische Katastrophe eintrat, ändert nichts an dem entsprechenden Verlangen. Dieses artikulierte sich literarisch, ist aber nicht zu trennen von Wertungen und Handlungsweisen in anderen Bereichen der Gesellschaft. Das Ergebnis der Überlegungen zu diesem ersten Punkt ist also ein Plädoyer dafür, den ästhetischen Fundamentalismus im Rahmen allgemeinhistorischer, eben auch konkret politischer Entwicklungen zu betrachten. Das bedeutet nicht, dass hier einfache Gleichsetzungen vorzunehmen sind. Einerseits haben Georges Schriften ihren Beitrag dazu geleistet, eine Mentalität zu verstärken, die die Lösung gesellschaftlicher Probleme in einer Monopolisierung des öffentlichen Willens und einer Überwindung der diskutierenden Klasse sah. Gleichzeitig hat George sich von konkreten politischen Anschlussmöglichkeiten ferngehalten; seine Gegenstellung zur Zeit war so stark, dass sie sich mit dem für politische Parteien immer auch notwendigen Pragmatismus nicht vereinbaren ließ.
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Klaus Mann: Stefan George. Führer der Jugend. In: Stefan George in seiner Zeit. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Bd. 1. Hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart 1980, S. 231237.
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Damit ist die zweite der angekündigten Fragen zu stellen, nämlich die nach dem Fundamentalismus Georges. Lässt er sich mit diesem Begriff charakterisieren? Zur Beantwortung muss man den Kern des Werkes heranziehen, also die Gedichte. Es gibt solche, die sich mit dem Instrumentarium, das Breuer vorstellt, erfassen lassen. Ein Beispiel dafür ist das folgende aus dem Stern des Bundes'. Wer j e die flamme umschritt Bleibe der flamme trabant! Wie er auch wandert und kreist: Wo noch ihr schein ihn erreicht Irrt er zu weit nie vom ziel. Nur wenn sein blick sie verlor Eigener Schimmer ihn trügt: Fehlt ihm der mitte gesetz Treibt er zerstiebend ins all. (SW VIII, 84)
Dieses Gedicht behauptet, dass es Identität nur dort geben kann, wo sich eine Person an einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zentrum orientiert. Argumentiert wird mit dem Bild eines Kreises: So wie ein Trabant einen Planeten umrundet und von seiner Anziehungskraft gehalten wird, soll sich auch ein Subjekt auf ein Zentrum beziehen. Seine Bewegung, seine Lebensgestaltung geschieht als Kreisen, orientiert an einem Mittelpunkt, der Normen setzt und Ziele vorgibt. Erst dort, wo ein solcher Trabant meint, aus sich selbst heraus leuchten zu können, wo er Individualität, Besonderheit entwickelt, wo er sein Lebensziel selber bestimmt, verliert er seine Identität, die Wiedererkennbarkeit seiner Person im zeitlichen und räumlichen Wandel. Die Folge ist nicht nur Orientierungslosigkeit, weil das Ich aus sich selbst keine verbindlichen Gesetze hervorbringen kann, sondern sogar die Zerstörung des Individuums. Es kann seine Antriebskräfte und Wünsche nicht koordinieren. Die Vorstellung, dass der moderne, notwendig heterogene Mensch in sich selbst einen Ausgleich finden kann, wird negiert. Bekanntlich ist dieses Gedicht in der Jugendbewegung verwendet worden, was noch einmal die oben erläuterte These stärkt, dass solche Gedichte nicht auf einen ästhetischen Binnenraum eingrenzbar sind. 7 Wer so ein Gedicht bei einer Sonnenwendfeier gesprochen hat, hat dies nicht als ästhetischen Akt verstanden, sondern den Inhalt auf seine gesamte Lebenspraxis bezogen. Die Versuchung liegt dann nahe, im politischen Bereich für Kräfte zu optieren, die mit vergleichbaren Modellen arbeiten.
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Wer sich im Internet umsieht, findet dort Gruppen und Stellen, wo dieses Gedicht noch heute Teil praktischer, in weitem Sinn ritueller Handlungen ist; es handelt sich zum Beispiel um Pfadfinder, aber auch um direkt politische und wenig sympathische Kreise.
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Dieses Gedicht stellt nur ein Beispiel für eine größere Zahl von Texten dar, die man mit dem Begriffsinstrumentarium des Antimodernismus charakterisieren kann. Es gibt hier eine Linie, die sich durch Georges Werk zieht. Sie ist sicher nicht unerheblich, aber sie dominiert auch nicht das Werk. Daneben existiert nämlich erstens eine Fülle von Gedichten, die mit der Frage ,Fundamentalismus oder nicht' schlichtweg nichts zu tun haben, weil sie sich einer solchen Kategorie entziehen. Dazu gehören zum Beispiel Liebesgedichte, wie sie in besonders schöner Form Der Siebente Ring enthält.8 Selbst dort, wo einige dieser Liebesgedichte Asymmetrien oder Abhängigkeiten beschreiben, wird man zur Charakterisierung ein Vokabular verwenden, das dieser Gattung angemessen ist. Zweitens gibt es, und das ist nun von großer Bedeutung, Gedichte, die jenen Gestus, der sich mit dem Begriff des Fundamentalismus verbindet - den Gestus von Wahrheitsbesitz, Deutungsmacht, Selbstsicherheit einer Reflexion unterziehen. Diese Gedichte entwerfen Gegenmodelle zum Wahrheitsbesitz, unterlaufen die Selbstsicherheit und sagen einem Kampf gegen die Moderne zuletzt sogar ab. Es handelt sich hierbei nicht um Einzelgedichte, sondern ebenfalls um eine Linie, die sich durch das gesamte Werk zieht, das dadurch eine erstaunliche Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit bekommt. Womöglich liegt darin, neben der nie zu bezweifelnden ästhetischen Qualität des Werkes, ein Grund für das wiederaufgeflammte Interesse an George: Dieser Autor ist zu einer erheblichen Reflexivität in der Lage, kann zu sich selber Distanz einnehmen, ist zu Selbstwidersprüchen bereit. Diese Linie kann nur chronologisch kurz skizziert werden, um dann wenigstens eines jener Gedichte, die sich kritisch mit einer fundamentalistischen Position auseinandersetzen, näher zu betrachten.9 In der Sammlung Algabal erfindet George ein Rollen-Ich, dem unumschränkte Macht zukommt, ein Ich, das die Welt nach seinen Vorstellungen gestaltet. Aber dieser antike Kaiser ist gleichzeitig ein moderner Mensch, der durch die Erkenntniskritik hindurchgegangen ist und weiß, dass es sich bei Göttern, an die er glaubt, womöglich nur um seine Götter handelt. Er fragt nach der Genese seines ästhetischen Reiches, er weiß um den Konstruktcharakter des Heiligen, um die Begrenztheit eigener Ansprüche. So kommt es schon im Frühwerk, im Algabal, in den Hymnen und Pilgerfahrten, neben dem Ausdruck von Herrscherphantasien auch zum Entwurf von Minderheitenmodellen: Am Rand der Gesellschaft wird ein Sinn verwirklicht, der nur wenigen eigen ist. Probeweise begibt sich der Autor auch in die Position von Verlierern, die von der Mehrheit ausgestoßen werden. Es gibt die
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Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im Siebenten Ring. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Hrsg. von Wolfgang Braungart u. a., Tübingen 2001, S. 69-86. Im Folgenden greife ich auf Ergebnisse meiner Habilitationsschrift zurück: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005.
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die von der Mehrheit ausgestoßen werden. Es gibt die Macht, aber es gibt auch die Einsamkeit und das Scheitern. Im Jahr der Seele werden Bilder einer glücklichen Vergangenheit aufgerufen, einer sinnlich und ideell erfüllten Zeit. Reste dieser Zeit sollen in die Zukunft hinübergerettet und dort aufbewahrt werden. Aber es wird auch offen die kompensatorische Funktion solcher ästhetischen Akte thematisiert. Ausdrücklich heißt es, dass der Bezug auf Normen der Vormoderne keine prägende Kraft fur die Gesellschaft der Gegenwart besitzt. Man befindet sich in einer Position des ,Noch', im Herbst einer Epoche. Die Bestände der Vergangenheit dienen nur noch dazu, wie es einmal heißt, die „öde ganzer Lebensräume" zu „heizen" (SW IV, 77). Im Siebenten Ring wird der Göttersohn, die Inkarnation Maximin präsentiert. Damit erhofft sich George einen Statuswandel der Dichtung, die nun Zeugnis von einem realen Ereignis ablegt, dem eine heilsgeschichtliche Dimension zukommt. Dichtung hat eine Aufgabe, spricht von der Ankunft des Absoluten in der Gegenwart. Der neue Gott überwindet die Vervielfältigung des Sinns in der Moderne, bündelt ihn wieder zusammen, beendet die „unzahl" des Geredes (SW VIII, 36). Aber gleichzeitig werden subjektive Anteile an diesem Gott thematisiert, wird offen ausgesprochen, dass das lyrische Ich für die Bedeutungszuschreibung des Absoluten mit verantwortlich ist. Einerseits ist es ergriffen (SW VIII, 11), wird angesprochen und entkommt damit der Selbstbezüglichkeit. Andererseits wird das Verhältnis von Ich und Gott mit Paradoxien formuliert, und so wird auch hier ein Tor für Zweifel und Reflexivität geöffnet, wird der Versuch, einen Punkt außerhalb der Perspektivität und Begrenztheit zu finden, unterlaufen. Im Neuen Reich schließlich wird einerseits die Linie der kämpfenden Poesie fortgesetzt, geht es um die Erziehung einer gegen-modernen Kerntruppe. Hier nähert sich George in einigen Gedichten der Führerhoffnung der politischen Rechten weit an. Weiterhin wird eine prophetische Sprechhaltung eingenommen, besitzt die Vorstellung von Herrschaft eine große Bedeutung. Aber auch in diesem Buch werden eigene Ansprüche revidiert. Ausgesprochen wird die Ortlosigkeit des Anti-Modernismus, der in der Gegenwart keine Ansatzpunkte zur Realisierung seiner Vorstellungen findet. Auch sagt George der Geschichtsphilosophie ab, denn die Zukunft wird sich so erheblich von der Gegenwart unterscheiden, dass sie mit deren Kategorien nicht zu deuten ist. Eine Überwindung der Moderne ist nur in weiter und unbestimmter Ferne denkbar, aber sie ist nicht prognostizierbar und nicht aktiv herbeizuführen. Im Schlusskapitel Das Lied schließlich wird ein Leben ohne Sicherheit, ohne Bezug auf ein Gestalt gewordenes Absolutes geschildert. Ausgedrückt werden Erfahrungen der Unsicherheit, die aber gleichzeitig als Verlebendigung begriffen werden. Aus der vorher so gefürchteten Kontingenz geht nun Schönheit hervor.
Stefan George - ein ästhetischer Fundamentalist?
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Dieser kurze Überblick soll durch die Analyse eines Gedichtes aus dem Jahr der Seele präzisiert werden; man kann es als Absage an die Grundlagen des ästhetischen Fundamentalismus verstehen: Ihr tratet zu dem herde, W o alle glut verstarb Licht war nur an der erde V o m m o n d e leichenfarb. Ihr tauchtet in die aschen Die bleichen finger ein Mit suchen tasten haschen Wird es noch einmal schein! Seht was mit trostgebärde Der m o n d euch rät: Tretet w e g vom herde ·
Es ist worden spät. (SW VI, 114) Interessanterweise hat Adorno von diesem Gedicht behauptet, dass es aus reinem Klang bestehe und keine analysierbare Semantik besitze. 10 Die Verweigerung einer inhaltlichen Lesart kann ihren Grund darin haben, dass sich auch Adorno von diesem Gedicht getroffen fühlen musste. Denn offensichtlich handelt es sich doch um eine Allegorie im klassischen Sinn, also ein nach einem abstrakten Konzept, einer vorgängigen Idee konstruiertes Bild. Diese Allegorie fällt nicht besonders hermetisch aus. Angesprochen wird eine Gruppe von Menschen, die zu einem heiligen Platz oder Kultort tritt. Der dort praktizierte Glaube und die damit einhergehende Sinnstiftung gehören der Vergangenheit an und werden nicht mehr ausgeübt. Die offenbar kleine Gruppe versucht nun, noch Glutreste zu finden, durch ein Umwenden der Asche den Herd und das Feuer noch einmal in Betrieb zu setzen. Dieser Versuch, einen vergangenen Glauben zu revitalisieren, scheitert aber, und dieses Scheitern wird mit dem Fortgang der Geschichte begründet: „Es ist worden spät." Der lyrische Sprecher, der das Geschehen beobachtet und also Distanz dazu besitzt, fordert deshalb die Konservativen auf, sich von der Fixierung auf vergangene Heiligtümer zu lösen. Stattdessen verweist er sie, und erst an dieser Stelle entstehen Deutungsprobleme, auf einen Trost, der vom „mond" ausgehen soll. Mit dem Mond wird auf die Zyklik von Naturbewegungen verwiesen, die offenbar fur ein historisches Verlaufsgesetz steht: So wie der Mond abnimmt, um doch wiederzukehren, kommt es auch in der historischen Zukunft zu neuen Phasen von Erfüllung. Diese aber werden nicht durch hilflose 10
Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. XI, Frankfurt a. M., 1974, S. 529.
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Erinnerungsakte befördert, sondern unterliegen in ihrer Entstehung nicht steuerbaren, übermenschlichen Gesetzen, denen man sich überlassen muss. Der behauptete Trost liegt darin, dass man nicht an eine lineare Verfallsgeschichte glauben muss und dass auch die Vertreter der Gegenpartei, also die Exponenten der Moderne, die Geschichte nicht in der Hand haben. Der Rat, der hier den Fundamentalisten, den eigenen Anhängern und auch sich selbst gegeben wird, heißt also, sich nicht auf Bestände der Vergangenheit zu fixieren, nicht in Trauer zu verharren, sondern den unbegreiflichen Zeitenwandel hinzunehmen; dabei soll man die immer vorhandene Schönheit nicht übersehen.
Robert Ε. Norton
Das Geheime Deutschland und die Wissenschaft Bis ungefähr zur Jahrhundertwende begnügte sich George damit, Dichter zu sein. Aber er gab sich nicht lange mit der Herrschaft über die Sprache allein zufrieden. Im Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg hat er konsequent den Umkreis seiner schöpferischen Tätigkeit auf seine Mitmenschen ausgeweitet: er wollte nicht nur eine neue Dichtung, sondern auch einen neuen Menschen schaffen. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges aber hat sein Ehrgeiz eine weitere Steigerung erfahren: jetzt wollte er Politik machen, einen Staat gründen, in dem der neue Mensch residieren konnte. Zwar blieb diese Politik zu der Zeit noch in der Sphäre des Geistes - es war der ,geistige Staat', über den George und seine Jünger die Führung innezuhaben glaubten, das ,geheime Deutschland' und nicht das allzu vertraute, realexistierende Deutschland, das sie als das ihrige in Anspruch nahmen - aber es war dafür nicht weniger Politik, die sie betrieben. Und das offizielle Organ dieser Politik in diesen entscheidenden Jahren hieß das Jahrbuch für die geistige Bewegung, das 1909 gegründet und in dem das ,geheime Deutschland' selber nicht zufälligerweise getauft wurde. Heute werde ich mich auf einen bedeutenden, aber bis jetzt wenig beachteten Aspekt dieser geistigen Politik beschränken. Ich rede von dem ausführlichen Aufsatz mit dem Titel Die Philosophie Henri Bergsons in der dritten und letzten Ausgabe des Jahrbuchs von 1912. Er stammt von Ernst Gundolf, dem Bruder des Mitherausgebers des Jahrbuchs, Friedrich Gundolf. Es mag vielleicht anfänglich befremdend anmuten, dass ein Aufsatz über einen Philosophen, das heißt über einen Vertreter der Wissenschaft, überhaupt in dem Jahrbuch steht, ein Aufsatz, der noch dazu durchaus positiv, ja geradezu schwärmerisch über seinen Gegenstand referiert. Wie viele andere damals setzte auch George die Wissenschaft den vermeintlich zerstörerischen Kräften gleich, die die Welt aus ihrer Sicht progressiv zunichte machten. Die Wissenschaft, gleich welchen Zweigs, galt als die instrumentalisierte Vernunft, das Werkzeug, oder besser die Waffe, womit der Mensch die Natur entzauberte und sie sich unterwarf. Diese Wissenschaftsskepsis, ja -feindlichkeit aber bildete nur einen, obwohl wichtigen Teil eines tiefgreifenden und breit angelegten Anti-Modernismus, der sich gegen
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jegliche Form des sozialen, politischen oder auch ökonomischen Liberalismus oder Fortschritts stellte, ja den Begriff des Fortschritts selber systematisch in Frage stellte. Wiederholt hat George sich zu diesem Thema geäußert, wie zum Beispiel in einem Gespräch mit seinem Freund Ludwig Thormaehlen, das sie im Jahre 1911 führten, also zu dem Zeitpunkt des Entstehens des Bergson-Essays von Ernst Gundolf. George, so Thormaehlen, habe zu der Zeit oft gesagt: daß der sogenannte Zeitgeist, etwa die Ideen des Pazifismus, der Emanzipation, der Weltbeherrschung und solche der wissenschaftlichen und technischen Vervollkommnung, des sozialen Fortschritts, die Strebungen jedes Einzelnen, der sich darauf einlässt, besonders die Gedanken und Kräfte der Heranwachsenden derart binde, dass ein naturhaftes In-sich-Ausreifen nicht mehr möglich sei. Wenn es gelänge, die unheilvollen, Kraft, Seele und Geist zehrenden Ideen oder kurzen rauschhaften Ziele der Zeit aus den Gedanken, den Herzen, den Sinnen der Jugend auszuschalten oder als bedingt und von untergeordneter Art abzudrängen, wäre viel gewonnen. Es würden dann Kräfte frei, die zum Aufbau und Ausreifen eines vernünftigen Lebens dienen könnten. Es sei dringend notwendig, die vordergründigen und abwegigen Zeitideen zurückzuweisen und dafür das Auge und den Bedacht auf Bereiche und Lebensbezirke zu richten, an die kaum mehr geglaubt werde, auf denen aber die Tragfähigkeit aller menschlichen Existenz beruhe: Ehrfurcht vor Lebensgesetzen und Kräften müsse unbedingt gefordert, diese Kräfte müssten heilig gehalten werden.1 Dies waren, wie gesagt, keine vereinzelten Meinungen, sondern war Ausdruck einer weitverbreiteten Überzeugung, dass die moderne Welt ständig und immer rapider das einbüßte, was das Leben lebenswert machte, und dass die Hauptschuld an dieser Aushöhlung und Verflachung des Lebens der zunehmenden Rationalisierung aller seiner Bereiche zugewiesen werden musste. Aber, obwohl viele sich darüber einig waren, dass die Ratio und deren Instrumente uns ein entstelltes oder bestenfalls einseitiges Bild der wirklichen Welt lieferten, hatten die wenigsten eine tragfähige Idee dessen, was an deren Stelle zu setzen war. Es war der geniale Streich Bergsons, das überkommene Verhältnis zwischen Ratio und Materie, zwischen Geist und Körper, wörtlich auf den Kopf zu stellen. In seinen drei Hauptwerken, die bis dahin erschienen waren - dem Essai sur les donnees immediates de la conscience von 1889, Matiere et memoire von 1896 und dem Buch, das Bergson zu dem meist gelesenen Philosophen seiner Zeit machte, L 'Evolution crdatrice von 1907 - entwickelte Bergson eine philosophische Theorie, die, obgleich sie in allen ihren Einzelheiten nicht durchweg originell war,
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Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg 1962, S. 65-68.
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nichtsdestoweniger wie ein frischer Wind die Gemüter in ganz Europa anfachte und vielen die H o f f n u n g verlieh, dass es doch eine ernsthafte Alternative zu der vorherrschenden und als erdrückend empfundenen w i s s e n s c h a f t l i c h e n ' Auffassung der Welt gab oder wenigstens geben konnte. Es kann nicht Aufgabe dieses kurzen Diskurses sein, Bergsons ganze Philosophie eingehend darzustellen. Hier kann ich nur stichwortartig diejenigen Eigenschaften umreißen, die für die oben skizzierte Diskussion relevant sind und von besonderer Bedeutung für den George-Kreis waren. Vielleicht das hervorstechendste Merkmal von Bergsons Metaphysik ist seine Verlagerung der zentralen Frage nach der Beschaffenheit des Seins von dem Raum auf die Zeit. Das heißt, nach Bergson hat alle bisherige Philosophie und noch mehr die Wissenschaft - es ist nicht unwichtig, daran zu erinnern, dass Bergson unter dem W o r t , s c i e n c e ' , wie es j a im Französischen üblich ist, immer nur die Naturwissenschaft meint - die Welt nach räumlichen Kriterien zu verstehen versucht, anstatt sie in ihrem wahren temporalen Charakter zu erfassen. Die Wissenschaft interessiere sich für das Statische, Wiederholbare, Identische, Bestimmbare, damit sie das Brauchbare von dem Nutzlosen unterscheiden, d. h. den größtmöglichen praktischen Gewinn erzielen könne. Aber f ü r Bergson ist dies schon eine Verfälschung der eigentlichen Natur der Wirklichkeit, die in einem sich ständig erneuernden zeitlichen Ablauf besteht, in dem j e d e r Moment notwendigerweise etwas vollkommen Neues darstellt gegenüber allen vorangegangenen Momenten. Die Realität ist somit ein unauflösbares, kontinuierliches Werden in der Zeit; sobald wir versuchen, einen Augenblick festzuhalten oder einen Gegenstand aus diesem andauernden Fluss herauszureißen, hört es auf im tatsächlichen Sinne zu leben: es wird zur bloßen, toten Materie. Die Wissenschaft, in ihrem Versuch, die Welt zu regularisieren und sie ihren eigenen mechanistischen Kategorien anzupassen, erklärt nicht die Welt, wie sie wirklich ist, sondern beschreibt nur deren erstarrte, j a tote Abfälle. Es ist dieses Phänomen des unaufhörlichen, immer Neues und völlig Einmaliges aus sich selbst heraus gebärenden Werdens, das Bergson ,1a duree' nennt. Das Organ, das uns erlaubt, diese ,duree' zu erfassen, ist demnach nicht der Verstand denn er würde sie nur aufteilen, in vereinzelte Stücke zerschneiden, um sie verstandesmäßig ,begreiflich' zu machen — sondern das, was Bergson als die I n t u i t i o n ' bezeichnet. Die Aufgabe der Philosophie ist also, nicht das Wesen der ,duree' zu beschreiben, denn das hieße Wissenschaft betreiben, sondern sie hat in einer Art Einweisung in die Praxis, oder besser in den Seins-Modus, der Intuition zu bestehen. Georg Simmel, der eine der frühesten und immer noch gescheitesten Würdigungen von Bergson schrieb, hat diese Philosophie-Konzeption treffend formuliert. Das, was wir nach Bergson anstreben sollten, sei „ein metaphysisches Ergreifen,
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kein wissenschaftliches, das von Bedingungen abhängt. Es ist das Wissen, das im Miterleben besteht, darin, daß wir uns aus der gewohnten Schematik des Denkens in die Strömung des Lebens selbst hineinsetzen, die das reale Werden der Dinge ist - und es gibt nur werdende Dinge." Man könnte, so Simmel weiter, dieses Wissen eher als eine Art kognitive Sympathie bezeichnen, als eine „Mitwissenschaft, die eigentlich eine metaphysische Mitseinsschaft ist."2 Bergson lieferte also nicht nur eine berauschende, anscheinend völlig neue Anschauung des Lebens, sondern, wenn auch nur implizit, eine neue Weise des Lebens, eine Technik zu leben. Wenn man sich nur dem reinen, begriffslosen Augenblick restlos hingeben könnte, wenn man sozusagen aus sich selbst heraustreten und in den fließenden, alles umfassenden Strom der Zeit hineintreten könnte, hätte man die Fesseln des eigenen Körpers praktisch abgestreift und würde des unsterblichen Kontinuums schon teilhaftig werden. Es ist und war eine verlockende Vorstellung, und viele erlagen ihr. Denn Bergsons Theorien gewannen noch mehr an Überzeugungskraft durch seinen glänzenden Stil, der sowohl in seinen Schriften wie auch in seinen Vorträgen zur Geltung kam, eine Tatsache, die nicht unwesentlich dazu beitrug, daß er 1927 den Nobel-Preis für Literatur erhielt (es existiert bekanntlich kein Preis für Philosophie, und Bergson gehört zu den wenigen Philosophen, die einen Nobel-Preis bekamen). So erstaunt es nicht, wenn Friedrich Gundolf im August 1909 enthusiastisch an seinen Freund Ernst Robert Curtius schrieb: Wenn Sie wieder nach Paris gehen, so haben Sie vielleicht Gelegenheit an der Sorbonne eine philosophische Vorlesung von Henri Bergson zu hören, dessen Werke einen der tiefsten Denker aller Zeiten verraten und dessen philosophische Gedanken heute die einzigen nicht retrospektiven und historischen sind, sondern einer werdenden und umgewälzten Welt angehören.3 In seinem Antwortschreiben erwiderte Curtius auf bemerkenswert gelassene, ja distanzierte Weise, dass er bereits bei seinem letzten Pariser Aufenthalt Bergson erlebt habe und von ihm beeindruckt, aber nicht, wie die Franzosen selber, hingerissen worden sei. Curtius schrieb, dass er Bergsons
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Georg Simmel: Henri Bergson. In: Ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und Kunstphilosophische Aufsätze. Hrsg. von Gertrud Simmel, Potsdam 1922, S. 142f. Friedrich Gundolf: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius. Hrsg. und eingel. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock, Amsterdam 1963, S. 134.
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wundervolle Vorträge im College de France gehört, wo sich jeden Freitag um 5 ein dichtgedrängtes Publikum um ihn versammelte: Damen die draussen ihr Automobil warten liessen, Priester, Studenten, Gelehrte. Bergson war diesen Winter le dernier cri. Es gehörte zum guten Ton ihn zu hören. Man konnte keine Zeitung aufmachen ohne seinen Namen zu lesen. Ich habe einen tiefen Eindruck von ihm bekommen. Es ist sehr merkwürdig zu sehn wie die verschiedensten Richtungen des geistigen Frankreich sich auf ihn berufen. Die Symbolisten erklären ihn fur den philsophischen Interpreten ihrer Kunstanschauung, die modernen Katholiken gründen auf ihn eine neue Apologetik, die Syndikalisten leiten aus seinen Gedanken ,le droit ä la violence' ab.4 Gundolfs Reaktion auf diesen eher nüchternen Bericht ist ebenfalls bemerkenswert. Curtius für die Information dankend gelang es Gundolf, sowohl den Franzosen j e d w e d e s Urteil über die Bedeutung ihres eigenen Landsmanns abzusprechen als auch Bergson für die eigenen, will sagen ,geheim'-deutschen Zwecke zu vereinnahmen: „Je mehr ich mich mit seinem Werk befasse," schrieb Gundolf, desto erstaunlicher und beglückender ist mir die Existenz dieses Denkers in unsrer Zeit - und in Frankreich. Die Franzosen können ihn wie immer, echt weibsmässig, nicht anders als momentan, aktuell-praktisch nehmen, aber in Deutschland muss er einen wahren Geisterkrieg entzünden, wenn das erstemal begriffen wird was er alles in Frage stellt und was er aufreisst. Er ist den gegenwärtigen 'Geglaubtheiten' und Tournüren viel gefährlicher als Nietzsche... 5 Das ist, wie gesagt, 1909 gewesen. Im Zuge seiner Begeisterung forderte Gundolf seinen Bruder Ernst auf, den schon erwähnten umfassenden, erläuternden Beitrag dem Jahrbuch für die geistige Bewegung f ü r das Jahr 1912 beizusteuern. George selber war offensichtlich zufrieden mit dem fertigen Aufsatz - sonst wäre er j a dort überhaupt nicht erschienen - und schrieb Gundolf, die Arbeit seines Bruders sei „von ganz schlagender Sicherheit und richtigkeit und hat fast nur den nachteil dass jezt j e d e r um zu wissen was in Bergson 'drinsteht' ihn nicht mehr selber zu lesen braucht." 6 Der Aufsatz hat aber den von Gundolf erwünschten ,Geisterkrieg' nicht, oder nicht sofort, entzündet, aber dafür entschädigte zwei Jahre später ein allzu konkreter Krieg, der Gundolf und unzählige andere, anfanglich zumindest, sowieso noch mehr entflammte, als ein geistiger es vermutlich j e m a l s hätte zustande bringen
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Ebd., S. 135. Ebd., S. 136. Stefan George - Friedrich Gundolf. Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München und Düsseldorf 1962, S. 226.
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können. Allerdings zeitigte der Krieg auch einen vorzeitigen Einschnitt in der Aufnahme Bergsons in Deutschland, bevor sie richtig beginnen konnte. Denn nicht nur war Bergson ab August 1914 gewissermaßen naturgemäß als Feind zu betrachten, er hat auch Ende des Jahres eine Rede vor der Academie Frangaisc gehalten mit dem Titel La Signification de la Guerre, in der Bergson die .Bedeutung' des Krieges aus der mechanistischen, j a maschinellen Natur des angeblich von Preußen abgerichteten deutschen Volkes abgeleitet hat. Zur Strafe wurde Bergson danach, wie später alles Französische, mit dem Bann belegt. Ende Juni 1916 beispielsweise kam ein Gespräch mit Edith Landmann auf das leidige Thema: „Empörung erregte das Verhalten von Bergson," notierte Frau Landmann; „so, meinte [George], hasst kein Deutscher; die Franzosen hassen so, und sie hassen wie die Frauen: c'est une haine de femme." 7 Trotzdem aber brach der Einfluss Bergsons in Deutschland und besonders auf die Ideologie des George-Kreises nach dem Kriege nicht ab. Als nur ein einziges äußeres Anzeichen dieser fortwährenden Wirkung sei an dieser Stelle erwähnt, dass noch 1921 die dritte Ausgabe der deutschen Übersetzung von L'Evolution creatrice veröffentlicht wurde, die von keiner anderen als Gertrud Kantorowicz ins Deutsche übertragen worden war. Aber auf einer tieferen Ebene sind es Bergsons Ideen eines nie innehaltenden Zeitflusses, in dem das Einmalige und Sich-NichtWiederholende das Ausschlaggebende war, worin die Bedeutung, j a die Integrität der individuellen Persönlichkeit aufgelöst wird in einer uferlosen gefühlsmäßigen Erfahrung, die jeden Bezug auf eine grössere Gemeinschaft, sei es politischer oder irgendeiner anderen Art, ausschloss, und vor allem die Vorstellung, dass eine irrationalistische, intuitive ,Schau' besser geeignet sei, die Fülle des Lebens zu erfassen, als der angeblich zersetzende und tötende Verstand - es sind diese Ideen, die die Werke des George-Kreises zutiefst kennzeichnen, die zwischen 1916 und dem Jahre von Georges Tod, 1933, veröffentlicht wurden - welche George nicht ohne ironischen Unterton ,Geistbücher' zu nennen beliebte. Alle diese ,Geistbücher', aber vor allem das Nietzsche-Buch von Ernst Bertram aus dem Jahre 1918, die Biographie Friedrichs II. von Ernst Kantorowicz von 1927 und Max Kommereils Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik ein Jahr später, sind getragen von dem Willen, ihre Leser mitzureißen in eine vorbegriffliche ,Anschauung' ihrer Gegenstände. Es sind Bücher, die sich bewusst gegen die äußeren Formen der Wissenschaft richteten und fast pedantisch alles vermieden, was an die traditionelle Wissenschaft erinnern konnte: obwohl faktisch solide fundiert, weisen die wenigsten Bücher aus dem George-Kreis Fußnoten, eine Bibliographie oder auch nur ein
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Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 30.
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Verzeichnis auf. Sie sollten, auch ihrem äußeren Erscheinen nach, etwas anderes als Vermittler von bloßem Wissen darstellen: sie waren gewissermaßen als Wiederbelebungsversuche konzipiert, die ein intuitives Miterleben der großen Schicksale ermöglichen sollten, die sie zur Schau stellten. Nicht nur denken, sondern auch fühlen, sollen ihre Leser, sich selbst vergessend und verlierend in ihren einnebelnden rhetorischen Fluss. Mit anderen Worten stellen die Bücher des George-Kreises unter anderem den Versuch dar, ein rauschhaftes Erlebnis der darin evozierten Welten und großen Persönlichkeiten zu vermitteln, das den Anschauungen Bergsons über unser eigentliches Erlebnis der Zeit und der Wirklichkeit nicht zufällig sehr nahe kommt. Als eine Gruppe und in ihrem gemeinsamen Ziel übten die Bücher, die unter dem Signet der ,Blätter für die K u n s t ' bei Georg Bondi erschienen, einen Einfluss aus, der weit über die Würdigung der individuellen Gestalten, die sie behandelten, hinausging, und hinterließen tiefe Spuren in der Art und Weise, wie die Kulturgeschichte aufgefasst und geschrieben wurde in Deutschland. Dass diese geistes- und kulturgeschichtliche Methode durchaus politische Implikationen einschloss, hat man auch früh eingesehen. Schon am Anfang der zwanziger Jahre hatte Ernst Troeltsch sowohl die anhaltende Wirkung Bergsons auf diese Gedankenkonstellation wie auch deren ideologische Verflechtung klar erkannt. „Bei uns", schrieb Troeltsch in seinem großen Buch über den Historismus und seine Probleme, „hat Bergson einen starken Widerhall in den literarhistorischen Forschungen der George-Schule gefunden." Ebenfalls stellte Troeltsch fest, dass die „intuitive Methode" eine zeitkritische Komponente beinhaltete und „im Anschluss an Georges Prophetentum fest und polemisch gegenüber allem bloßen Fluss und aller demokratischen und sozialistischen Moderne aufgerichtet" sei. 8 Diesen letzten B e f u n d führte Troeltsch dann noch detaillierter aus in seinem 1921 erschienenen Aufsatz Die Revolution der Wissenschaft, der sich hauptsächlich mit der zentralen Rolle befasst, die der George-Kreis beim Anfachen dieser, wie Troeltsch sie nennt, „geistigen Revolution", spielte. In seinem Aufsatz bemerkt Troeltsch scharfsinnig, dass es etwas Paradoxes, j a sogar Widersprüchliches in der ganzen Bewegung um George gab. „Denn", erklärt Troeltsch, „die ,Revolution der Wissenschaft' ist in Wahrheit der Beginn der großen Weltreaktion gegen die demokratische und sozialistische Aufklärung, gegen die rationale Selbstherrlichkeit der das Dasein hemmungslos organisierenden Vernunft und das dabei vorausgesetzte D o g m a der Gleichheit und Verständigkeit der
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Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 64849.
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Menschen." Diese ,geistige' Revolution war also unter anderem derjenigen völlig entgegengesetzt, die sich in den Jahren nach dem Krieg auf den Straßen deutscher Großstädte austrug, und sie verfolgte andere Ziele. Um es anders auszudrücken, resümierte Troeltsch, „diese Bücher alle sind im Grunde ^evolutionäre Bücher gegen die Revolution'." Parallel dazu, und im gleichen Sinne, könnte man die Georgeschen ,Geistbücher' als wissenschaftliche Bücher gegen die Wissenschaft bezeichnen. 1915 hat George Edith Landmann einmal gesagt, „Geist sei ihm Waffe." 9 Im Falle der Geistbücher war das Ziel dieser Waffe die Wissenschaft selber oder vielmehr ihre moderne institutionalisierte Form mitsamt ihrer intellektuellen und ideologischen Träger. In seinem Aufsatz aber fugte Troeltsch gleich hinzu, man solle und dürfe diese ,geistige' Revolution nicht unterschätzen, oder etwa glauben, weil sie ,nur' in gelehrten Büchern sich abspielte und also in einem Reich stattfand, das dem Auge nicht zugänglich war, dass sie deshalb keine Konsequenzen fur die sichtbare Welt hätte. Er wollte also eine explizite Warnung an diejenigen senden, die nichts anderes als harmlose Romantik in den geistigen Umwälzungen sahen, die er beschrieb. Wer nur „die gewaltigen Industriekonzentrationen und Arbeiterorganisationen" ernst nehme, meinte Troeltsch abschließend, „der wird natürlich nur die Ohnmacht einer solchen Romantik sehen. Aber wer die gleichzeitige Bedeutung von Doktrinen und Idealen kennt, der wird den geistigen Umschwung trotzdem für nichts Gleichgültiges und Wirkungsloses ansehen." 10 Eine ähnliche Einsicht, oder vielleicht auch verhaltene Warnung, wurde wenig später, im Jahre 1923, von Alfred Baeumler ausgedrückt in seinem immer noch lesenswerten Erstlingswerk Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. In der Einleitung dazu heißt es: „Man traut es dem ästhetischen Bereich nicht leicht zu, daß sich in ihm weltgeschichtliche Wendungen ankündigen sollen. Aber es sind die am tiefsten und nachhaltigsten wirkenden Revolutionen, die sich in unscheinbarer Stille vorbereiten." 11 Auf vergleichbare Weise ließe sich sagen, dass sich in der relativen Abgeschiedenheit des Geheimen Deutschlands eine, wenn man so will, antirevolutionäre Revolution anbahnte, die sich des Instrumentariums der Wissenschaft bediente in der Absicht, nicht nur die Wissenschaft als Waffe gegen sich selbst zu kehren, sondern auch das gesamte Fundament, worauf sie beruhte, umzuwerfen und einem noch unbekannten Kommenden Platz zu machen.
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Landmann (Anm. 7), S. 29. Troeltsch (Anm. 8), S. 676-77. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1981, S. 1.
Ray Ockenden
Der wissenschaftliche Beitrag des Castrum Peregrini Die Eigenart des Castrum Peregrini bekundet sich schon in seinem Namen. Er steht, wie hier in der Überschrift, für eine Zeitschrift. Er bedeutet aber auch einen realen Ort, das Haus in Amsterdam, wo seit über sechzig Jahren die Schirmherrin des Castrum, Gisele van Waterschoot van der Gracht, lebt.1 Und das Wort ,Castrum' meint gleichzeitig eine Gemeinschaft, die längst über das schmale Grachtenhaus hinausgewachsen ist; und damit eine Idee, die diese Gemeinschaft verkörpern möchte und in der Zeitschrift Gestalt annehmen soll. Der Name deutet in die Vergangenheit zurück, in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, wo diese ,Pilgerburg' Untergetauchten Rettung bot, wird aber weiterhin beibehalten, wohl im Gedanken an die „kleine schar" im Vorspiel-Gedicht Georges. Diese Mehrdeutigkeit ist zweifellos einer der Gründe dafür, dass man bezweifelt hat, dass das Castrum Peregrini überhaupt eine Zeitschrift sei." Eines ist klar: mehr als die meisten Zeitschriften erklärt sich das Wesen des Castrum aus seinen Ursprüngen in einer Gemeinschaft; und wie diese hauptsächlich deutschsprachige Gemeinschaft in Holland zustande kam, erklärt sich einerseits aus dem erzieherischen Willen eines einzelnen Menschen, Wolfgang Frommel, andererseits aus der geschichtlich einmaligen Situation, die NSDogma, Krieg und Besatzung geschaffen hatten. Ein anderes dürfte klar sein: die Zeitschrift Castrum Peregrini verstand sich nicht als Nachfolger der Blätter für die Kunst, wenn auch nach der Gründung Fragen über das Verlagssignet laut wurden, wie vor dem Krieg schon über das Signet des Runde-Verlags, von dem sich das Castrum-Signet ableitete, und wenn darüber hinaus die Patenschaft der neuen Zeitschrift, die Carl August Klein zu übernehmen bereit war, für Frommel ein bedeutendes Bindeglied zur Georgeschen Welt darstellte. Rückblickend erklärt er: „Die von George begründeten und von C. A. Klein herausgegebenen Blätter fortzuset-
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Das Haus und seine Bewohner wurden vor kurzem in einem Artikel von Angelika Overath beschrieben. In: Neue Zürcher Zeitung vom 8./9. Januar 2005, S. 81-83. Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 153), S. 26.
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zen, wurde weder von ihm noch von uns je prätendiert" (100 [1971]: 144)."' Noch ferner lag es Frommel, den Jahrbüchern für die geistige Bewegung oder den so genannten Geistbüchern aus dem Kreise um George nachzueifern. Solche Geistbücher, ich darf an das Wort Georges erinnern, sind Politik; und mit Politik wollte das Castrum nichts zu tun haben - wiewohl der Politiker Carlo Schmid als Dichter auftrat (14 [1953]:34) und seinem Buch Politik und Geist eine längere Besprechung gewidmet wurde (53 [1962]:75-77). Was Frommel vorschwebte, war vielmehr eine geistig rege und offene Publikation: Besonders die Zeitschrift Corona und die Eranos-Jahrbücher scheinen als Vorbilder gedient zu haben. 4 Schon in den dreißiger Jahren hatte er besonders mit Wilhelm Fraenger die Gründung einer Zeitschrift erwogen (191-192 (1990): 158ff). 5 Die Situation war jetzt eine ganz andere, aber konstant blieb die Linie, die die Zeitschrift vertreten wollte. Diese Linie bestand in der Treue dem Georgeschen Ideal gegenüber, wie es vor allem Wolfgang Frommel verstanden hat; und in der Treue gegenüber dem Ideal eines Freundschaftskreises, wie er ihn gebildet hatte und weiterbilden wollte. Die frühen Castrum-Hefte zeigten an, was diese Gemeinschaft für wichtig hielt. Gedichte, auch Gedichte aus anderen Sprachen und Zeiten, die dem Ethos der Zeitschrift entsprachen, wollte man in ein durch Krieg und Terror verarmtes Publikum schicken. An Meditationen über Georges Dichtung aus der Feder Wolfgang Frommeis sollte eine breitere Leserschaft teilhaben (1 [ 1951 ]: 15-25; 6 [1952]:24-38; 10 [1952]:7-29; das ganze Heft 15 [1953]). Diese Meditationen - das Wort wird schon im ersten Heft benutzt (1[1951]:15) - wollten keine ,Interpretationen', keine wissenschaftlichen Studien sein; es ging ihnen nicht um philologische Erkenntnisse. Sie waren eher eine Art von Mit-denken, wie neue Texte zu einer bekannten Melodie. Mit der Veröffentlichung solcher Essays sollte das Erlebnis der Dichtung im kleinen Kreise dem breiteren Publikum vermittelt werden. Man muss allerdings vermerken, dass Georges Dichtung damals sehr wenig Echo in der wissenschaftlichen Welt fand; und wenn Frommel hauptsächlich für Eingeweihte zu sprechen schien, fand seine ungeheure Belesenheit doch breite und dankbare Resonanz. Das Totengedächtnis gehörte zu den ursprünglichen Gebräuchen des Freundeskreises: 1945, lange vor der Gründung der Zeitschrift, erschien in begrenzter Auflage eine Gedenkschrift zu Ehren verstorbener Freunde. 6 „Manche Castrum-Hefte" - so heißt es lapidar in der letzten Positionsbestimmung'
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Hinweise auf Hefte des Castrum Peregrini werden einfach mit Heftnummer, Jahreszahl, Doppelpunkt und Seitenzahl gegeben. Baumann (Anm. 2), S. 28-30. Baumann (Anm. 2), S. 265. Castrum Peregrini Gedenkbuch 1945. Hrsg. von R. van Rossum du Chattel, Amsterdam 1945.
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der Zeitschrift - „sind Stelen" (250 ([2001]: 156). Im vierten Heft stehen Nachrufe auf Edith Landmann und Max Beckmann, und nach einigen Jahren wurde solchen Nachrufen ein regelmäßiger Platz in den Heften beschieden. Sie wollen ein ganzes Bild von der Gemeinschaft bedeutender Menschen geben, aber Vollständigkeit im Detail wird nicht angestrebt. Wichtiger ist darzulegen, welche Eigenschaften diese Menschen zu Leitbildern machen, damit sie selbst gewissermaßen im Tode erzieherisch wirken. Wo im frühen ,Schlusswort des Herausgebers' das Totengedächtnis als „hohes Anliegen" dargestellt wird (4 [1951]:66), steht auch dieses Wort über den Wert der Überlieferung: „Nichts scheint uns wichtiger, als mit der Kraft der Pietät das Geheimnis unsrer Ahnen dem Raube der Vergängnis zu entreissen" (4 [1951]:65). Das Wort „Pietät" ist kennzeichnend für eine Haltung, die von Gegnern als Mangel an kritischer Schärfe verstanden wird. Bereits im zweiten Heft steht Frommeis Gedenkrede für Quirinus Kuhlmann, die auf ein anderes stetes Anliegen des Castrum hinwies, nämlich das Interesse an Outsider-Figuren, und speziell an Mystikern. Von hier aus führte ein Weg in die Wissenschaft, denn die unter einem Decknamen gedruckte Rede war einem jungen Freund zugeeignet, der sich dann in seiner Promotionsarbeit wissenschaftlich mit Kuhlmann befassen sollte. Geben die ersten Hefte des Castrum gelegentlich den Eindruck eines Gesprächs in kleiner Runde, sodass man die Befürchtung des Herausgebers, dieser Schritt in die Öffentlichkeit möchte „ein Wagnis" sein (4 [1951]:59), gut verstehen kann, kamen sie dennoch gut an, vor allem in Deutschland und in Amerika. Zwar wollte man schon im 30. Heft, nach nur fünf Jahrgängen, den Fortbestand des Castrum überprüfen: oft zitiert wird der Satz: „Wir planen nicht die Castrum-Reihe ad infinitum fortzusetzen" (30 [1956]: 12). Aber das Castrum blieb am Leben - und blieb sich treu. Charakteristisch in ihrer Vielfalt sind zum Beispiel die George-Interpretationen, die in den Heften von 1957 und 1958 standen. Neben Auslegungen, die in wissenschaftlichen Büchern wiederabgedruckt werden sollten, wie die feinsinnige Untersuchung des Gedichts Jahrestag durch Claus Victor Bock (35 [1957-8]: 13-20),7 hört man Stimmen, die eher wie ein spontanes Aufnehmen und Begrüßen der Gedichte klingen. Als eindeutig wissenschaftlich' und auch als direkte Verbindung zu den Geistbüchern des George-Kreises wäre der Aufsatz von Ernst Kantorowicz aufzufassen, der schon 1934 im Runde-Verlag hätte erscheinen sollen und im zwölften Heft des Castrum stand (12 [1953]:7-24). Andererseits kann man in den ,Mitteilungen' des gleichen Hefts folgende Meinung des Herausgebers lesen: „eine wissenschaftlich-theologische Diskussion überschreitet den Rahmen unserer Zeitschrift" (12 [1953]:69). Zwei Jahre später erschien das Gedenkheft für Edith Landmann (25 [1955]), das ihr als Wissenschaftlerin hul-
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Interpretationen 1 (Fischer-Bücherei Nr. 695), Frankfurt a. M. 1965, S. 271-276.
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digte und eine Bibliographie ihrer Schriften enthielt. Als (zweites) Doppelheft der Zeitschrift - auch das ein Zeichen für die allmähliche Erweiterung des Horizonts - kam die Sammlung von hundert Berichten, Deutsche erfahren Holland, herausgegeben von C. V. Bock (27/28 [1956]). Ein weiteres Gedenkheft, für Ludwig und Anna Derleth (wiederum mit Bibliographie) (36/37 [1959]) kündigt gewissermaßen einen Neubeginn an: Erinnerungen aus dem Nachlass Percy Gotheins standen schon in frühen Heften des Castrum (Η. 1, 6, 11, 16, 21 und 26/27), aber jetzt wurden Texte von älteren Kreismitgliedern neu- oder erstveröffentlicht, was später ein zentrales Anliegen der Zeitschrift werden sollte. Einen Neuanfang kann man wohl mit dem Jahre 1960 ansetzen. In diesem Jahr erschienen im Castrum in rascher Folge das Wolfskehl-Heft Kalon Bekawod Namir, Aus Schmach wird Ehr (41 [I960]), das Kurt Breysig-Heft (42 [1960]) und das Doppelheft mit den Vallentin-Gesprächen (44/45 [I960]). Frühere Hefte des Castrum waren als Sonderhefte nachgedruckt worden (etwa das Mutter-Henschel-Heft, 5 [1951]) oder erschienen als Buch, wie die deutschen Holland-Erfahrungen. Jetzt aber wurden die Wolfskehl- und BreysigHefte gleichzeitig als Bücher gedruckt. Das Wolfskehl-Heft brachte Dokumente aus dessen Nachlass, Erinnerungen und kommentierende Aufsätze, schließlich auch einen Vorabdruck des Nachworts (von C. V. Bock) zu Wolfskehls Gesammelten Werken im Claassen-Verlag. 8 Hier trafen sich also glücklich ein wissenschaftliches Bestreben und ein frommes Gedenken. Erzielt wurde eine prägnante ,geistige Biographie'. Das nächste Heft fuhrt Kurt Breysig als den Freund und Gesprächspartner Georges vor. Ein Wissenschaftler wird dargestellt; und noch mehr: es geht hier um sein Verständnis von Wissenschaft. In dem Heft kommt ein lebender Wissenschaftler zu Wort, Michael Landmann, der (wenn auch nur als kleiner Junge) George persönlich erlebte; er analysiert einige der Wissenschaftsbegriffe, wie sie von Mitgliedern des George-Kreises geprägt oder verwandt wurden. Aus dem Jahrbuch, aus Aufsätzen von Gundolf und Wolters wird ausführlich zitiert; am Schluss beruft sich der Philosoph auf seine Mutter, Edith Landmann. Es folgten Berthold Vallentins Gespräche mit Stefan George, die 1961 als Buch erschienen. Was in diesem Heft als Neues auffallt, ist der kritische Apparat: die detaillierten Fußnoten, die Genauigkeit der Kreuzverweise, die langen Zitate aus Texten, auf die sich die Gespräche beziehen, und das Namensregister. Ab 1961 stehen Buchbesprechungen in der Zeitschrift unter der Rubrik ,Schriften' (47 [1961]:73), zuerst allerdings oft nur Hinweise auf eingegangene Bücher. Zuvor waren nur wichtige Veröffentlichungen zu Stefan George be-
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Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Hrsg. von Margot Ruben und Claus Victor Bock, Hamburg 1960.
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sprachen worden, so die Erstausgabe von Robert Boehringers Biographie (6 [1952]: 56-60) und (in der Form eines Briefes) die Erinnerungen von Edgar Salin (21 [1955]:57-69). Es sollten nur Bücher behandelt werden, die sich mit George, mit der Achtziger-Bewegung um Verwey und mit Hölderlin befassten: unter den ersten so angezeigten Werken ist Hölderlins Rheinhymne von Bernhard Böschenstein (47 [1961]:74); aber diese Begrenzung wurde immer weniger strikt eingehalten. Eine Zeit lang wurde versucht, die ganze neuerschienene George-Literatur zu rezensieren, das wurde später anderen Publikationen überlassen. In diesem Jahr erschien C. V. Bocks Studie, Pente Pigadia und die Tagebücher des Clement Harris (50 [1961]), die auch als Buch gedruckt wurde. Diese Arbeit, Ergebnis eines langen Forschens nach einem Verschollenen, welche die Aufklärung einer rätselhaften Widmung im Siebenten Ring brachte, war eine typische Leistung der Castrum-Gemeinschaft. Sie wirkt fast als Vorbereitung der Arbeit an dem großen Schatz, der zur gleichen Zeit in England gehoben worden war. Nach dem Tode von Elisabeth Gundolf wurde der Gundolf-Nachlass nach London gebracht, wo C. V. Bock dafür Sorge trug, dass er in das dortige Germanic Institute kam. Dieser Nachlass bedeutete für die Zeitschrift „eine richtige Schatzkammer, oder den großen Topf, aus dem geschöpft werden konnte" (Mitteilung C. V. Bock). Die Zeitschrift brachte zuerst den Briefwechsel Gundolfs mit E. R. Curtius und Herbert Steiner (54/55/56 [1962-3]), zusammen mit einer langen, wohlerwogenen Einführung zu Person und Leben Friedrich Gundolfs von Frommel. Die George-Aufsätze Elisabeth Gundolfs wurden auch mit einer Einleitung Frommeis herausgegeben (69 [1965]), die allgemein als „sehr fair" bezeichnet wurde (Mitteilung M. R. Goldschmidt). Zwei größere Bände folgten: Gundolf, Briefe Neue Folge (66/67/68 [1965]) und Stefan George, Dokumente seiner Wirkung (111/112/113 [1974]); in diesem Band wurden kurze Lebensläufe von über hundert Menschen skizziert, deren Leben durch den Kontakt mit Stefan George bereichert und beeinflusst wurde. Anhand der Briefe im GundolfNachlass wird hier auf eindrucksvolle Weise die ganze Breite der Welt um George erschlossen. Dass die Gundolf-Briefe als Castrum-Hefte erschienen, wurde von einigen Abonnenten als Absage an den ursprünglichen Charakter der Zeitschrift empfunden (Mitteilung M. R. Goldschmidt); damit aber waren neue Weichen gestellt. Eine weitere Zumutung für die langmütigen Abonnenten kam mit dem großen Gundolf/Wolfskehl-Briefwechsel, der nicht weniger als sechs Nummern der Zeitschrift (123 bis 128 [1976 und 1977]) in Anspruch nehmen sollte; aber auch diese Bände, an deren Vorbereitung Frommel intensive Mitarbeit leistete, sind gut aufgenommen worden und hatten Erfolg. Mittlerweile war in der Castrum Peregrini Presse ein wissenschaftliches Werk ganz anderer Art erschienen, nämlich C. V. Bocks Konkordanz zu
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Georges Dichtung.9 Das Buch hatte sein Erscheinen nicht den neueren Erfolgen der Presse zu verdanken, sondern war sehr lang geplant, ja schon im vierten Castrum-Heft angezeigt (4 [1951]:69). Die Arbeit, wie es im Vorwort heißt, reichte bis 1943 in die unfreiwillige Klausur der Kriegszeit zurück, wo die Untergetauchten die innere Konzentration fanden „im Übersetzen und vor allem im Lesen und Interpretieren von Versen". Die Konkordanz entsprang, so Bock, „unseren ganz konkreten Bedürfnissen."10 Das Werk hat allein aus geschichtlicher Perspektive eine besondere Bedeutung: sie ist wohl die letzte Konkordanz von diesem Umfang, die mit der Hand, mittels einer Kartei, verfertigt wurde. Ihr Wert für die George-Forschung braucht nicht unterstrichen zu werden. Die Ursprünge des anderen im Castrum erschienenen Hilfswerks, der Zeittafel zum Leben und Werk Stefan Georges, reichen ebenfalls weit in die Vergangenheit zurück. Der Erfolg der Konkordanz kam ihr zugute, denn den Zuschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft für erstere hatte das Castrum sehr schnell zurückzahlen können [Mitteilung M. R. Goldschmidt]. Diesmal waren nicht Geldprobleme der Grund für das verspätete Erscheinen des Buches, sondern der gemächliche, wenn nicht langsame Schritt der ersten beiden Autoren. Erst als Marita Keilson auf den Plan gerufen wurde, kam richtig Fahrt in die Sache. Der Verzug hatte seine gute Seite, denn in der letzten Phase der Arbeit an der Zeittafel geschah etwas Unerwartetes, Positives und Zukunftsweisendes. Georg Peter Landmann, der seinerseits anhand des archivierten Materials versuchte, eine Zeittafel von Georges Leben zusammenstellen, entschloss sich, anstatt ein rivalisierendes Werk herauszugeben, seine Funde der Amsterdamer Publikation zugute kommen zu lassen, was die Zeittafel in ihrer endgültigen Form entscheidend bereicherte. Diese Freundlichkeit im Interesse der gemeinsamen Sache markierte, meine ich, einen bedeutenden Moment im Leben des Castrum sowie der George-Forschung überhaupt. Diese Erweiterung der Castrum Peregrini Presse stellte einen wichtigen Schritt in die Öffentlichkeit dar. In der Zeitschrift gab es eine entsprechende Erweiterung. Die Mitteilungen, gleichsam Einführung in die Texte und deren Verfasser, für solche notwendig, die nicht zur unmittelbaren Gemeinschaft gehörten, wurden breiter und bedeutender. Es kamen dann, wie bereits erwähnt, die Buchbesprechungen, in denen Auseinandersetzungen mit der etablierten Wissenschaft stattfanden; und ab 1966 die ,Nachrichten', die sich im Laufe der Jahre zu einer Art von Message-Board, wie man heute sagen würde, für Leser entwickelten. Dort wurde man über Ausstellungen und andere Veranstaltungen informiert, die mit der Welt Georges oder des Castrum und mit dessen weit verbreiteten Freundeskreisen zu tun hatten. Es wurden auch dort
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Claus Victor Bock: Wortkonkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964. Bock (Anm. 9), S. xii.
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Todesfälle vermerkt, vornehmlich ferner stehender Freunde, für die kein eigener Nachruf geplant war. In einer anderen Weise schließlich begann das Castrum, wie eine ,normale' Zeitschrift auszusehen: andere Verleger begannen, in seinen Heften für ihre Produkte zu werben. Das Castrum vertrat aber immer noch dieselbe Linie und die Schwerpunkte der Zeitschrift blieben die gleichen. Das 2002 erschienene Gesamtregister zu den ersten fünfzig Jahrgängen fuhrt Stefan George als Kapitel für sich auf, und unter ,Themen' werden Freundschaft, Erziehung und Dichtung, auch Griechenland und Holland als die meisterwähnten verzeichnet. Dennoch ist eine andere Atmosphäre spürbar: Der verhaltene, wenn auch selbstbewusste Ton ist nie ein marktschreierischer geworden, hat aber jetzt die Sicherheit dessen, der überrascht feststellen muss, er sei ein Erfolg. An thematischer Breite hat es dem Castrum nie gefehlt. In einem neueren Heft findet Caravaggios Arbeit eine völlig neue Auslegung (255 [2002]); das Werk dieses Künstlers war dreißig Jahre früher Gegenstand eines Aufsatzes von Christoph Luitpold Frommel gewesen (96 [1971]:21-56). Auch damit wurde an eine Tradition der Zeitschrift angeknüpft, denn kunstgeschichtliche Aufsätze hatten in ihr, dank der Patenschaft Wilhelm Fraengers, von Anfang an ihren Platz. Das Interesse an Mystik und Esoterik, welches Frommel mit Fraenger teilte, zeitigte manchen Aufsatz. Geoffrey of Monmouths Vita Merlini (in deutscher Übersetzung) wurde zu einem Bestseller (62/63 [1964]); ungewöhnlich an diesem Stück war übrigens, dass es nicht,original' war - sonst waren fast alle Beiträge im Castrum Erstveröffentlichungen. Die Faszination unterschwelliger Strömungen im Kulturleben findet wiederholt Ausdruck, so zum Beispiel in der Beschäftigung mit den sogenannten ,Kosmikern', wie in den Aufsätzen von Marita Keilson-Lauritz (121/122 [ 1976]:48-63; 168/169 [1985]:24-41) und im ganzen Doppelheft 242/243 aus dem Jahre 2000. Auch zum Teil aus seiner Beschäftigung mit mystischen Gedanken geboren waren Frommeis Meditationen zu Georges Dichtung. Sollte man sie zu wissenschaftlichen Arbeiten' rechnen? Wie so vieles im Wesen des Castrum passen sie nicht so recht in bequeme Kategorien, wie C. V. Bock in seinem Nachwort zu Frommeis Templer und Rosenkreuz notiert: „Es gibt historisch orientierte Kapitel, und es gibt solche, die meditative sind, und wieder andere, die sich als interpretativ verstehen" (198/199/200 [1991]: 311). Die Editionsarbeiten, die vor allem mit der Hebung der Gundolfschätze begannen, fielen schwer auf die Schultern von Claus Victor Bock; aber Frommel war auch selber intensiv an ihnen beteiligt. Einige Jahre früher, als es darum ging, der Leserschaft eine Arbeit des russischen Symbolisten Iwanow vorzulegen, komponierte Frommel eine Einführung (für die ,Mitteilungen'), die genau so lang ist wie Iwanows Aufsatz und den Leser auf eine rasante und fesselnde Reise durch die russische Geschichte und Kultur und den Symbolismus mitnimmt,
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zu deren flüchtigen Stationen Herders Kulturphilosophie und Byzanz zählen (48 [1971]:73-88). Geschichte und klassisches Altertum, auch die Spätantike, durch die Arbeiten von Wolfgang Schneider, sind immer wiederkehrende Themen im Castrum. Kunsthistoriker und Archäologen kommen häufig zu Wort, wie 1978 in dem Doppelheft 132/133; Anthropologen, Soziologen, Politologen und Philosophen etwas seltener, wenn auch politisch signifikante Literatur wie etwa Ernst Jünger untersucht wird. Die Ethnologie wird durch ältere Forscher wie Reimar Schefold und ganz junge, wie den Austronesisten Christian Oesterheld, vertreten. Wenn die Musik zwar, wie bereits im George-Kreis, eine untergeordnete Rolle spielte, jedenfalls gegenüber den Bildenden Künsten, so findet man doch zum Beispiel in einem Heft aus dem Jahre 2001 wichtige bibliographische Neuigkeiten zu Vertonungen Georgescher Lyrik (247/248/249 [2001]: 191-204). Namhafte Orientalisten wie Hellmut Ritter und Gisela Wendt lieferten wichtige Aufsätze und Übertragungen; es fallt auf, wie im Castrum glücklich und ganz unbetont zwischen jüdischer Welt und Islam balanciert wird. Wenn der Literatur ein Löwenanteil zufiel, dann ging es nicht nur um die Dichtung um oder in der Nachfolge von Stefan George oder um Klassiker wie Goethe und Hölderlin; Erwähnung fanden auch Bachmann, Baermann-Steiner, Benn und Celan, selbst Rilke und Franz Mon. Die Sicht des ja außerhalb des deutschsprachigen Raumes beheimateten Castrum blieb aber keineswegs auf deutsche Literatur beschränkt. Von den frühen Heften an war die Zeitschrift bemüht, ihre Leser mit der Literatur anderer Länder vertraut zu machen, vor allem mit deren Dichtung - was im Falle unbekannter Autoren eine gründliche Einfuhrung in Form einer gut erforschten Vita verlangte. In deutscher Übersetzung erschien immer wieder zeitgenössische holländische Lyrik, aber auch neugriechische Dichtung: wenn schon einige Gedichte von Kavafis anderswo in deutscher Sprache erschienen waren, so war der Großteil von dem, was das Castrum 1962 von ihm brachte, dem nur deutschsprachigen Leser völlig unbekannt (52 [1962]: 102). Italienische Dichtung ist auch gut vertreten, von Michaelangelo und Petrarca zu Emilio Cecchi, Antonia Pozzi und Pavese; französische und englische Dichtung seltener aber immer wieder durch wenig bekannte Figuren oder ,Outsider', wie zum Beispiel Louis Bertrand. In den früheren Heften waren die Beitragenden, auch wenn sie wissenschaftliche' Arbeit lieferten, nicht immer Menschen vom Fach. Ein gutes Beispiel dafür ist der Ingenieur Erd Wallace, der in einem frühen Heft einen Aufsatz über die Günderode und Bettina beisteuerte (13 [1953]:4-31). Auf erstere macht ein Gedicht Georges aufmerksam, trotzdem ist bemerkenswert, dass diese Frauenfreundschaft, die später, nicht zuletzt durch die Arbeiten der Christa Wolf, breite wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregen sollte, hier und schon 1953 einen Nicht-Germanisten inspiriert hat. Diese Tradition
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des Amateurs, im besten Sinne des Liebhabers, hat sich nicht verloren; beinahe vierzig Jahre später bringt ein reiches Doppelheft die gesammelten Sonette Michelangelos in (vollgereimter!) deutscher Übertragung, begleitet von ausfuhrlichen Anmerkungen des Übersetzers, eines Diplomaten im Dienste der Bundesrepublik. Hier kommen, sich gegenseitig bereichernd, (Nach)Dichtung und nachdenkliche Analyse kreativ zusammen. Die Anmerkungen, wie der Autor erklärt, sind keineswegs trockene Fußnoten, sondern wollen „als zusammenhängendes Buch" gelesen werden (203/204 [1992]:144). Wenn mit der Zeit immer mehr Berufswissenschaftler dem Castrum Beiträge lieferten - ich nenne hier unter den Germanisten Momme und Katharina Mommsen, Bernhard und Renate Böschenstein - dann war das nicht mehr nur den denkbar weit verzweigten Kontakten zu verdanken, die Wolfgang Frommel während seines abenteuerlichen Lebens gesponnen hatte und pflegte; viele fanden selber den Weg. Unter ihnen waren zweifellos auch solche, die dem Geist des Hauses skeptisch gegenüberstanden, aber es galt von jeher als Castrum-Losung: „Feinde bitten wir nicht zu Tische, wohl aber Andersdenkende". Darunter sind auch die Germanisten aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland zu nennen wie Jeremy Adler aus England oder der Amerikaner Benjamin Bennett; aus noch größerer Entfernung kam der Japaner Nobutoshi Aoyama, der 1982 von seinen Begegnungen mit Stefan George berichtete. Ein interessanter Vergleich wäre zu ziehen zwischen den Meditationen, die in den zwei Heften 34 und 35 von 1957/1958 durch Gedichte Georges hervorgerufen wurden, und den eher interpretativen Antworten auf andere Gedichte, die 2001 im 250. Heft versammelt sind. Es überwiegen jetzt die fachlich geschulten Stimmen: obwohl nicht alle, die in dem späteren Heft auftreten, deutsche Germanisten sind, so sind es beinahe die Hälfte. Es soll aber betont werden: obwohl auf verschiedene Weise die Wissenschaft ihren Einzug ins Castrum gehalten zu haben scheint, bedeutet diese wohl freundliche Stellungnahme ihr gegenüber keine Aufopferung der Grundüberzeugungen der Gemeinschaft: die Dichtung kommt dadurch nicht zu kurz. Neue Gedichte, deutsche wie aus sehr vielen verschiedenen Sprachen übersetzte, findet man nach wie vor in den Heften. Eine Kontinuität ist dadurch gewährleistet, dass derselbe Claussner (d. i. Manuel R. Goldschmidt), der im ersten Heft als Dichter auftrat, noch im neuen Jahrtausend seine innere Stimme mit unbekannten Lesern zu teilen bereit ist. Auf der anderen Seite erscheinen immer wieder jüngere Dichter wie etwa Thomas Böhme und Christophe Fricker, die frische und originelle Stimmen hören lassen. Zu den unbestreitbaren Verdiensten des Castrum zählen die sorgfaltig edierten Ausgaben wichtiger Korrespondenzen aus dem George-Kreis und die Rettung von manchem Verschollenen. Nicht nur die George-Forschung ist durch Bände wie die Gundolf-Briefe bereichert worden. Auch der Wolfskehl-
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Forschung hat das Castrum gedient, zum Beispiel mit dem frühen Heft aus dem Jahre 1960, und später mit dem Tripelheft, in dem die Dokumente des Bonner Wolfskehl-Kolloquiums vom Jahre 1978 von Paul Gerhard Klussmann herausgegeben wurden (156/157/158 [1983]). Inzwischen erschien der erwähnte umfangreiche Briefwechsel des Ehepaars Wolfskehl mit Friedrich Gundolf. Andere Menschen aus dem George-Kreis konnten in profilierter Form gesehen werden, wie die eher rätselhaften, unbürgerlichen Figuren Lothar Treuge (97/98 [1971]) und Walter Wenghöfer (247/248/249 [2001]:4191). Ein verschollenes Werk des Dichters Leopold Andrian wird durch mühsame editorische Kleinarbeit von Joelle Stoupy ins Leben zurückgerufen (207/208 [1993]). Die Mitteilungen zu diesem Heft, ein Versuch, das Leben und Werk Andrians in bündiger Form wiederzugeben, sind eine wissenschaftliche Leistung für sich. Andere verborgene Ecken der Welt um Stefan George sind neu beleuchtet worden - etwa durch die Veröffentlichung der Briefe von Ida Coblenz an Melchior Lechter (217/218 [1995]:75-91). Auch durch das Erstellen von Bibliographien hat sich die Zeitschrift immer wieder wissenschaftlich verdient gemacht. Eine beinahe konsequente Erweiterung der neuen Verlagstätigkeit war die Gründung einer Schriftenreihe der Figuren um Stefan George - Texte Dokumente Darstellungen. Bereits erschienen ist der Walter-Wenghöfer-Band;11 bald folgt der nächste, dem begabten, so bereitwillig in den Schatten des großen Bruders tretenden Ernst Gundolf gewidmet. Einer aus dem George-Kreis, den man kaum wie diese als Vergessenen oder Stillen bezeichnen könnte und dessen Bild sich so verfestigt hatte, dass man es nicht für korrekturbedürftig hielt, ist Friedrich Wolters, dessen Briefwechsel mit George von Michael Philipp herausgegeben wurde (233/234/235 [1998]). Vorauf ging ein CastrumHeft mit den Aufzeichnungen, die Wolters nach Gesprächen mit George machte, als er die große ,Blättergeschichte' vorbereitete, und die ein neues Licht auf die Entstehung dieses noch immer kontroversen Werkes werfen (225 [1997]). Ein neues Bild von Wolters ergibt sein Briefwechsel mit Friedrich Gundolf, dem Mitherausgeber der Jahrbücher für die geistige Bewegung, dessen Veröffentlichung in der neuen Figurenreihe vorgesehen ist. Wie aber stand das Castrum zur Wissenschaft überhaupt? Vielleicht im Hinblick auf die Überzeugung, die Frommel einmal so formulierte: „Die Absicht, mit der Sonde einer historisch-kritischen Analyse den Zugang (d. i. zur Dichtung Georges) zu erzwingen, bleibt eitles Bemühen" (100 [1971]: 146), ist ihm gelegentlich eine anti-wissenschaftliche Haltung zugemutet worden. Das scheint die Ansicht Günter Baumanns zu sein, wenn er schreibt, das Castrum würde „die Forderung des Wissenschaftsbetriebes nach Scheidung von Litera-
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Walter Wenghöfer: Gedichte, Briefe an Stefan George, Hanna Wolfskehl u. a. Hrsg. von Bruno Pieger, Amsterdam 2002.
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tur und Leben" ignorieren, und dann von einer „wissenschaftsfeindliche Tendenz im CP" spricht, die auf Frommels geistigen Standpunkt in den 30er Jahren zurückzufuhren sei.12 Wenn man die erfolgreiche politische Gleichschaltung der deutschen Universitäten in jener Zeit bedenkt, dann wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn Frommel zur Zeit der Gründung des Castrum den Universitätsprofessoren als Vermittlern humaner Werte und Erweckern einer neuen Jugend skeptisch gegenüberstand. Und wie eine leise Warnung klingt es wohl, wenn Claus Victor Bock, selber seines Zeichens Wissenschaftler, anlässlich des Festakts zum 100. Geburtstag Friedrich Gundolfs Fichte zitiert: „Der Mitteilungsfertigkeit bedarf der Gelehrte immer, denn er besitzt seine Kenntnis nicht fur sich, sondern für die Gesellschaft" (148/149 [1981]: 9). Man kann wohl fragen, inwiefern die Wissenschaft als abstrakter Begriff für das Castrum wichtig war. Im schon erwähnten Gesamt-Register der ersten 250 Hefte findet man den Begriff zwar als Thema aufgeführt - aber mit nur spärlichen Hinweisen. Da sind zwei Aufsätze im Breysig-Heft: Breysig selber über Die schöpferische Macht der Wissenschaft und Michael Landmanns Essay Um die Wissenschaft (42 [1960]:91-105 und 65-90); von Michael Landmann war im voraufgehenden Jahr ein Aufsatz über die ,absolute Poesie' unter dem Titel Zwischen Wissenschaft und Musik erschienen (40 [1959]:5-21). Da ist Klaus Landfrieds wichtiger Aufsatz Stefan George und die Wissenschaft (184/5 [1988]:76-89). Schließlich die kurze Besprechung eines Bandes, in dem die Reden vereinigt sind, die 1983 auf einem Symposion in Heidelberg mit dem Titel Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft gehalten wurden (189-190 [1989]: 165). Unter den Sprechern waren Hans-Georg Gadamer (der das Symposium angeregt hatte), die Germanisten Arthur Henkel und Paul Böckmann, der Anglist Rudolf Sühnel, der Altphilologe Uvo Hölscher - und Georg Peter Landmann. Spärliche Hinweise - und doch gewichtige. Schon in der Gegenüberstellung der Aufsätze von Breysig und Michael Landmann findet man eine Spannung, die für das Wesen der Castrum-Gemeinschaft konstitutiv ist. Meint Breysig: „Spiel, höchstes Spiel der Menschheit spielen sie beide, Kunst wie Forschung; aber da sich Forschung die härteren, strengeren Regeln setzt, so ist ihr Reigen zuletzt der schwerere, also das höhere Können erfordernde", so antwortet gewissermaßen Landmann darauf: „Auch sie [die Wissenschaft] sollte ein Ausdruck des Lebens sein, auch in sie sollte das Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe eingehen und aus ihr fühlbar werden. Daher forderte man von der Wissenschaft, was sie ihrem immanenten Gesetz nach niemals sein kann, und was die Kunst viel besser zu leisten vermag." Zugegeben, Landmann sprach aus der Perspektive eines Philosophen des Jahres 1960 und wollte vor allem die Situation um die vorige Jahrhundertwende, zur Zeit der Begegnung zwischen George und Breysig, beleuchten. Dennoch 12
Baumann (Anm. 2), S. 9 und S. 86.
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kann man hier den Geist des Castrum spüren, noch stärker, wenn Landmann dann Gundolf zitiert: Man soll nichts wissen, was man nicht leben kann (42 [1959]:90). Das Castrum selber ist nur selten Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung geworden. Es ist hier hauptsächlich das 1995 erschienene Buch von Günter Baumann zu nennen: Dichtung als Lebensform,13 Eine frühere, bereits 1963 abgeschlossene Arbeit, die unveröffentlichte Dissertation des Amerikaners Donald White, trägt den Titel Castrum Peregrini and the Heritage of Stefan George. Wie Baumann darlegt, ist diese Dissertation mehr an den Ähnlichkeiten zwischen Castrum-Runde und George-Kreis als an den wichtigen Differenzen zwischen beiden Gruppierungen interessiert. Es ist klar, dass White das Amsterdamer Haus und seine Gemeinschaft nicht leicht verstehen und bewerten konnte. Für ihn war die Gemeinschaft nur eine trübe Nachahmung der Georgeschen Welt. In deren Schrifttum, das er nur mit gut angelsächsischem Commonsense prüfen konnte, vermisste er wohl jede wissenschaftliche Objektivität. Die Dankesbezeigungen am Anfang von Baumanns Buch legen den Verdacht nahe, der Autor habe ursprünglich mehr über die Zeitschrift und die Castrum-Gemeinschaft schreiben wollen, denn er spricht dort von „einer Arbeit über das Castrum Peregrini."u Andererseits reflektiert der Titel des Buches genau seinen Inhalt. Es geht dem Forscher schließlich viel mehr um die Persönlichkeit und die (im breiten Sinne politischen) Bestrebungen Frommeis als um das Castrum als Zeitschrift. Es ist, als ob die Faszination, die die Person Frommeis auch posthum ausstrahlte, dem Buch eine andere Richtung gegeben hätte. Nicht, dass der Autor in ihren Bann gerät: die Urteile fallen ja zumeist negativ aus, wie der Autor es besonders mit Bezug auf Frommeis Verhalten in den 30er Jahren offen zugibt.15 Die Arbeit beschäftigt sich weitgehend mit Vorgeschichte und Vorfeld der Zeitschrift (dabei wird Wilhelm Fraenger eine besonders wichtige Rolle zugesprochen). Speziell richtet sich ihr Augenmerk auf Frommeis Lebensreise, seine Überzeugungen und seine Pläne während der dreißiger Jahre, aber auch in den letzten Abschnitten überwiegt das Biographische. Was öfter aus diesem sehr gründlich recherchierten Buche spricht, ist die Frustration eines Forschers, der wohl glaubt, es mit wissenschaftlich betreuten und ohne weiteres zugänglichen Beständen zu tun zu haben, der sich nunmehr mit einem Familienarchiv konfrontiert sieht, und obendrein noch mit Familienmitgliedern, für die die betreffenden Papiere eine grundlegende Lebensbedeutung haben. Es ist ein nicht selten gegen das Castrum Peregrini erhobener Vorwurf, dass es einerseits ein anscheinend öffentliches Gesicht zur Außen13 14 15
Baumann (Anm. 2). Ebd., S. 6. Ebd., S. 411-412.
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weit kehrt, sich dann jedoch zur Privatsphäre erklärt, die vor allen Eingriffen der Welt abgeschirmt werden soll. Diese Schwierigkeit liegt bereits an der Zwitterhaftigkeit der Sache, auf die ich eingangs hinwies: Zeitschrift und Gemeinschaft, öffentliches Organ und Familienbesitz. Es scheint, dass das von Frommel zusammengetragene und aufgebaute Privatarchiv demnächst nach Den Haag in eine Bibliothek kommt, wo der Zugang zu privaten Papieren, Korrespondenz u.s.f. noch eine Zeit lang beschränkt sein wird. Wir sollten vielleicht getrost einer späteren Generation das Glück gönnen, hier wie auch in den hochinteressanten, ebenfalls in Privatbesitz befindlichen Georgebriefen an Ernst Morwitz, weitere und schöne Entdeckungen zu machen. In seiner Geburtstagsrede 1980 sagte Frommel über die Frühzeit des Castrum: „Wir hatten jahrelang eine schmale Gratwanderung zwischen Esoterik und Exoterik zu bestehen, zwischen dem, was ad fi-atres gesagt ist, und dem, was auch Geistern anderer verwandter Breitengrade bekömmlich ist" (202 [1992]: 5-6). Inzwischen sehen wir, wie mit der Zeit ursprünglich Privates auch im Castrum veröffentlicht wird, wie zum Beispiel jüngst der Briefwechsel zwischen Frommel und der Freundin und Homer-Forscherin Renata von Scheliha (251/252 [2002]). Hier also stößt die Wissenschaft auf Grenzen. In anderer Weise wurde dem Castrum öfter Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen, und zwar im Hinblick auf die Behandlung von Georges Dichtung. Immer wieder wird das Wort Frommeis zitiert: „eine konstitutive Erfahrung stellt man nicht zur Debatte" (99/100 [1971]:147). Das ist, scheint es, kein ganz eindeutiges Urteil; insofern es heißt „in Frage stellen", so mag es seine Richtigkeit haben. Es wäre für „eine Zeitschrift aus der Tradition Stefan Georges" (250 [2001]: 154) sinnwidrig, diese Tradition gründlich anzuzweifeln. Aber das schließt nicht eine im positiven Sinne eingehende Beschäftigung mit dieser Dichtung aus. Die oben zitierte Positionsbestimmung' in dem Heft zum Jahrtausendanfang spricht unmissverständlich von einem „Weiterdenken [...] in der Frage, welche Bedeutung Stefan George etwa für die Dichtung, die Wissenschaft, die Musik oder die Politik hat" (250 [2001]:154). Das Vorwort zu diesem Heft deutet auf eine Wandlung hin: die Kluft „zwischen dem esoterischen und dem öffentlichen George" hat man zu überbrücken begonnen, „der Umgang mit dem Dichter ist entspannter und sachlicher geworden" (250 [2001 ]:5). Gleichzeitig spricht dieses Vorwort davon, ein zentrales Anliegen der Castrum-Zeitschrift sei „die Verknüpfimg von Dichtung und Leben" (250 [2001]:6). Dass jetzt in Amsterdam regelmäßige Vorträge und Lesungen für einen wachsenden Kreis eingeladener Gäste aus Stadt und Umgebung vom Castrum veranstaltet werden, ist ein weiteres Zeichen für die Bereitschaft, der Außenwelt zu begegnen und der Wissenschaft eine Tür freundlich offen zu halten, und dieser Eindruck wird durch die vielen Ausstellungen in verschiedenen Städten Deutschlands verstärkt, die das Castrum organisiert.
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Einige hätten wohl glauben können, der Tod Wolfgang Frommels im Jahre 1986 würde dem Castrum den Todesstoß versetzen. Aber er selber, obwohl er, wie wir sahen, schon 1956 die Frage aufwarf, wie lang die Zeitschrift noch weiter bestehen sollte, dachte nicht so; sonst hätte er ja dem Sinn seines berühmtesten, so vielzitierten Gedichts widersprochen. Und so konnte er, in der bereits angeführten Geburtstagsrede über die Weiterfuhrung der Zeitschrift, von der Zeit sprechen, „wenn mein Leben durch den Tod seinen Abschluss gefunden hätte" (202 [1992]:5). Wenn gewiss in seinem Geiste weitergearbeitet wurde, und wenn nach diesem Tode Dokumente aus seinem Leben in den Cav/rw/wheften veröffentlicht wurden, traten doch langsam Änderungen ein. Die Positionsbestimmung' im 250. Heft deutet auf einige hin, sie weist auf das neugebildete Redaktionsteam (allein das letzte Wort lässt aufhorchen, beziehungsweise die Augenbrauen hochziehen, wenn es auch bereits in einer früheren Besinnung, 100 [1971]:149, vorkommt), von dem die Hälfte Wolfgang Frommel nie begegnet ist, und spricht von Offenheit. Wenn man sich vergegenwärtigt, was das Castrum Peregrini für die nächsten Jahre plant, scheint deutlich daraus hervorzugehen, dass die leise Wendung zur Wissenschaft hin sich weiter behaupten und immer mehr durchsetzen wird. Davon zeugt in jüngster Vergangenheit das Hölderlin-Heft (266/267 [2005]). Die im Falle des Wenghöfer-Buches mit Erfolg und einem Preis gekrönte Reihe Figuren um Stefan George wird fortgesetzt; in Vorbereitung ist der erwähnte Band über Ernst Gundolf, an dem Michael Thimann (der die Friedrich-Gundolf-Bibliothek rekonstruiert hat) mitarbeitet. Eine Art ,Biedermann' zu Stefan George wird erstellt, das heißt, alle erhaltenen GeorgeGespräche werden gesammelt und kommentiert herausgegeben von Jürgen Egyptien in Zusammenarbeit mit Dietrich Hofmann und Bruno Pieger. Aber das weitaus kühnste Projekt ist der Plan, das gesamte zur Zeit verfügbare Forschungsmaterial über Stefan George auf CD-ROM zusammenzubringen. Somit wären George-Konkordanz und George-Zeittafel, zusammen mit den bald erscheinenden George-Gesprächen, eventuell auch George-Briefe und -Bibliographie, gleichermaßen und unmittelbar der Forschung zugänglich. Das alles geschieht im Zeichen der neuen Offenheit. Was man merkt und was man auch als Zeichen der Zeit verstehen soll: das Castrum denkt zunehmend an Zusammenarbeit mit anderen Instituten, in erster Linie natürlich mit der StefanGeorge-Gesellschaft. Die Mitarbeiter in Amsterdam stehen in regem Austausch mit der Leiterin des George-Archivs und Mitherausgeberin des (unstreitig wissenschaftlichen) George-Jahrbuchs, Ute Oelmann. Das Castrum stand immer bewusst am Rande der Agora. Es wollte aber keine Exilzeitschrift sein, sondern verstand sich als archimedischer Punkt außerhalb Deutschlands. Charakteristisch für das Castrum scheint seine proteische Natur zu sein, durch die es jeder zu engen Definition spottet; nicht zuletzt eine heilsame Verquickung von Wissenschaft und Liebhaberei, die in ihm wal-
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tet. Auch die größeren Werke, die ich erwähnt habe, weisen diese schöne Zwitterhaftigkeit auf. Man denke an die Konkordanz: ein Werk der Liebe, als Hilfsmittel für eine kleine Gemeinschaft gedacht, die auf eine heute fast unvorstellbare Weise zustandekam. Oder die Zeittafel, die ebenfalls als Liebhaberarbeit begann, eine Sammlung von Daten, die Hans-Jürgen Seekamp sich auf Anraten Wolfgang Frommeis anlegte - bevor ihr dann die Wissenschaft zu Leibe rückte. Ein ähnliches Charakteristikum ist die zitierte Balance zwischen Esoterik und Exoterik, die nicht immer zugunsten wissenschaftlicher Bestrebungen ausfiel. Wir leben in einer Welt der größeren Offenheit, und dieser Tatsache wird auch das Castrum Rechnung tragen müssen; aber dabei wird es wohl der Mahnung Georges eingedenk bleiben: „Nur heimlich sind dem zarten keime Wächter". Dass sich das Persönliche und Private und das Öffentliche nicht gegenseitig ausschließen, würde ich gerne glauben; so wie ich auch glauben möchte, dass wissenschaftliche Analyse und lebendige Literatur nicht zwangsläufig verfeindet sind. Das, denk ich, müssen schließlich alle wissen, die Gedichte schreiben und Gedichte lesen; denn durch das Gedicht will sich auch Intimes und Verborgenes mitteilen, und das Leben der Gedichte wird getragen sowohl von dem Lesen der Gedichte als auch von den Meditationen über sie, schließlich von den Versuchen, sie besser zu verstehen. Dichtung stand immer im Mittelpunkt der Botschaft und der Bestrebungen des Castrum Peregrini; wir wollen hoffen, dass es in der zweifellos anderen Zukunft der Zeitschrift auch so bleibt. Und wenn es den Anschein haben kann, als habe letzthin in ihr die Wissenschaft überhand genommen, dann ist die Frage wohl berechtigt, ob das nicht gleichzeitig bedeutet, das Schöne und Geistige kehre immer merklicher in die Akademie ein.
Wolfgang Graf Vitzthum
Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges? Über Johann Anton, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Karl Josef Partsch Eine riesige Explosion erschütterte den Hafen von Genua. Das britische Schiff war auf eine Mine gelaufen. Es gab keine Überlebenden. Zeuge der Tragödie war ein junger Deutscher. Jahrelang im operativen Stab des deutschen Marinekommandos Italien als Dolmetscher eingesetzt, war der Berliner Professorensohn gegen Kriegsende in die Hände der Briten gefallen. Nun hatte die Royal Navy den „Dottore", wie ihn die Italiener respektvoll nannten, zum Minenräumen eingeteilt. Die hochexplosiven Grundminen, die die deutschen Matrosen kurz vor dem Waffenstillstand in das Hafenbecken geworfen hatten, sollten unschädlich gemacht werden. So forderte der englische Kommandant den Gefangenen auf, mit an Bord zu gehen. Dem Deutschen schien das Minensuchboot für die Räumaktion im engen Hafen aber viel zu groß. „Wir [Kriegsgefangenen] sind nicht verpflichtet", protestierte er, „Selbstmord zu begehen!" Er berief sich mit Nachdruck auf das Rot-Kreuz-Abkommen von 1929 - und überlebte. Der Zeitpunkt des Geschehens: Sommer 1945. Der Name des sprach- und rechtskundigen Kriegsgefangenen: Dr. jur. Karl Josef Partsch.1 „Cajo", wie Stefan George diesen letzten, jüngsten Freund nannte, hatte sein wissenschaftliches Lebensthema gefunden: die universellen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht. Ein Thema, eine Wissenschaft aus dem Geiste des Dichters?
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Karl Josef Partsch: Hoffen auf Menschenrechte, Zürich 1994 (Texte + Thesen 253), S. 15 schildert vorstehendes Erlebnis. In diesem Spätwerk resümiert er die Menschenrechtsentwicklung sowie seine eigene Zeugen- und Helferrolle. Vgl. auch ders.: Einfiihrung. In: Recht auf Arbeit. Vortrage anlässlich des Symposions zum 70. Geburtstag von Karl Josef Partsch. Hrsg. von Jost Pietzcker u.a., Bonn 1984 (Politeia 13), S. 9-14.
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I Eine glänzende juristische Nachkriegskarriere führte Partsch an die Spitze zahlreicher nationaler und internationaler Fachgremien. Er war Ordinarius, Dekan, Rektor, ein gesuchter Lehrer, Autor, Berater und Gutachter. Als Landesbeamter, verheiratet, ein Kind, mag der künstlerisch aufgeschlossene Partsch zwar nicht ein Leben wie auf der Rasierklinge gefuhrt haben; aber von stumpfer Eindimensionalität oder mausgrauer Unauffalligkeit war er nie. Auch nicht im unruhigen Jahr 1968. Da wandelte er, einem Kollegen-on-dit zufolge, unter den dunkel gewandeten Mitgliedern der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer auf ihrer Jahrestagung als Bonner Magnifizenz, die goldene Amtskette (oder war es ein Amulett?) kombiniert mit Schillerkragen und Kniebundhose, an der Hand ein Ring mit einem Stein, wie von Canova geschnitten. Die Präferenzen, die Partsch damit womöglich signalisierte, sind so wenig bekannt wie die meisten seiner persönlichen oder politischen Prägungen.2 Nicht um sie geht es nachfolgend freilich. Zu beantworten ist vielmehr die Frage, inwieweit die pädagogische Provinz Stefan George (1868-1933) die ihm befreundeten Rechts- und Staatswissenschaftler, darunter den kräftigen Eigenwuchs Partsch, in ihren jeweiligen Werken beeinflusst hat. Im Unterschied zu Johann Anton (1900-1931) und Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905-1944), die nachfolgend hinsichtlich der etwaigen Inspiration ihrer juristischen Arbeiten durch den Dichter und seinen Kreis ebenfalls zu untersuchen sind, hat Partsch (1914-1996) im Werk Georges selbst keine Spur hinterlassen. Anton dagegen und Stauffenberg, beide ein Jahrzehnt älter und entsprechend früher (1922 bzw. 1923) als Partsch (1928) zu dem Dichter gekommen (George untersagte dem Gymnasiasten sogleich das Führen eines Tagebuches)3, wurden von diesem besungen - nicht als Wissenschaftler, die sie damals, in den zwanziger Jahren, als ganz junge Männer ja auch noch gar nicht sein konnten (und, was Anton betraf, auch gar nicht werden wollten), sondern als werdender Dichter (Anton) beziehungsweise als Verkörperung der Anmut (Stauffenberg). [...] Was dient, sei sie auch mehr als frommer wahn, Gleichheit von allen und ihr breitstes glück! Wenn uns die anmut stirbt!
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Erwähnt sei immerhin seine Freundschaft mit dem spateren Verleger Helmut Küpper, der den Vierzehnjährigen zu Stefan George brachte, sowie mit dem Berner Michael Stettier (19132003), der, wie nahezu alle Freunde des Dichters, auch selbst Verse schrieb. Partschs berufliche Prägungen (und Leistungen) skizzieren Wolfgang Löwer und Rüdiger Wolfhim: In memoriam Karl Josef Partsch, Bonn 1998 (Alma Mater 86). Eine lange Seite ist im Stefan George-Archiv, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart, erhalten. Dort befindet sich auch der Nachlass Partsch.
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Die verwehende, nur noch Spezialisten erkennbare poetische Spur dieser beiden Bewidmeten, die den Dichter als Mitte ihres Lebens ansahen, ist nicht unser Thema. Auch ist dies weder das „anmutig" - ein im George-Kreis gerne gebrauchtes Wort - in der Vorrede zu Maximin (GA XVII, 76) noch die staatspolitische „Anmut" in Bertolt Brechts Kinderhymne (1950) 4 : A n m u t sparet nicht n o c h M ü h e Leidenschaft nicht noch Verstand Dass ein gutes Deutschland blühe W i e ein a n d r e s g u t e s L a n d .
Die Fragestellung lautet vielmehr: Inwieweit hat sich Stefan George, haben sich seine Gedichte, seine Lebens- und Vorstellungswelt in den drei Juristen und damit, cum grano salis, in den Wissenschaften von Recht und Staat niedergeschlagen? Gab es Verbindungen zwischen der künstlerischen Welt des Dichters und dem bürgerlichen Beruf der Wissenschaft, 5 gar eine Integration von Dichtung und Rechtswissenschaft? Oder handelte es sich bei „law and literature im George-Kreis" um „zwei Kulturen", die sich nicht berührten? 6 Diese Fragen werden nachfolgend auf drei Feldern untersucht.
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Für den Staat des Bonner Grundgesetzes wurde der Begriff (1999, von Hans Maier) ebenfalls verwendet: „er bewegte sich anmutig nach Rechtsfiguren." Vom engen wilhelminischen Kaiserreich, gar von der labilen Weimarer Republik hat das niemand gesagt. Erich von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920 (die Gegenposition zu Max Weber: Wissenschaft als Beruf, München und Leipzig 1919). Kahler kämpfte (S. 15ff.) gegen „die reine substanzlose Ratio", die „unendliche Zerspaltung und Spezialisierung", die „Intellektualisierung des Lebensstoffes", fur (S. 18ff.) „die antike Generalisierung", den „Weg zum wahren Leben", die „Lebendigkeiten" (verkörpert in den hellenischen Göttern), „das Leben", „die wirkliche Vielfalt des Lebendigen". Dazu Gerhard Lauer: Die verspätete Revolution: Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, Berlin 1994, S. 181ff., S. 218ff., S. 438ff.; Ulrich Raulff: Die amerikanischen Freunde: Erich von Kahler, Ernst Kantorowiez und Ernst Morwitz. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Hrsg. von Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer, Göttingen 2004, S. 365ff. Auch von Friedrich Gundolf: Cäsar im 19. Jahrhundert, Berlin 1926, werden „der nur kritischen Wissenschaft" und dem bloßen „Vernunftstreben" als konkurrierender Anspruch der „Lebensglauben" und die „Zeichendeutung" gegenübergestellt. In diesem Sinne Friedrich Wolters in: Stefan George/Friedrich Wolters: Briefwechsel 19041930. Mit einer Einleitung hrsg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998, S. 157: „das einzige Ziel der [Kahler-]Schrift [sei], eine neue Wissenschaft an die stelle der alten zu setzen [...] was geht uns überhaupt die alte oder neue Wissenschaft an, weder die eine noch die andere wird jemals zum Urbild und Kahler fängt sich wieder im netz der begrifflichkeit, das er mit herrischer gebärde zu zerreissen scheint". Der Kahler des Kriegsausbruchs sprach zwar nicht dunkel vom „Urbild"; er war freilich hymnisch nationalistisch, vgl. ders.: Der vorige, der heutige und der künftige Feind, Heidelberg 1914, S. 22: „Sei froh, Deutschland, in Deinem Herzen, Gott ist mit Dir! [...] Sei großmütig gen Westen [...]. Sei unerbittlich gen Osten: lasse
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Gibt es, erste Frage, juristische Themen, deren Wahl und Bearbeitung auf den Dichter zurückzufuhren sind? War das etwa beim seinerzeit neuartigen Menschenrechtsthema der Fall, einem Thema, das womöglich dem persönlichen Autonomieanspruch Georges nahe war („MenschenrechtsPartsch" war „Cajos" Spitzname im Kollegenkreis) (unten III)? Existieren, zweitens, inhaltliche Aussagen, die vom Dichter und seinem Freundeskreis beeinflusst waren? Galt dies etwa bezüglich Berthold von Stauffenbergs Kritik an Teilen der Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und damit indirekt am Völkerbund und an der von den j a in der Tat problematischen Pariser Vorortverträgen von 1919-1920 geprägten europäischen Nachkriegsordnung (unten IV)? Finden sich, drittes Untersuchungsfeld, im Stil, Ausdruck, Duktus, also in der Methode und Form der Erarbeitung und Begründung jener Themen und Thesen Anklänge an George? Bereicherte etwa die geistes- und sozialwissenschaftlich ansetzende Polemik Antons, bezogen auf die Weimarer Reichsverfassung, die Rechts- und Staatswissenschaften um einen neuen Ton (unten V)? Eine Bemerkung zur Auswahl der drei juristischen „freunde des engern bezirks". George befreundete sich bekanntlich durchaus auch mit Juristen, trotz deren sprichwörtlicher Unbeliebtheit. Rechtsanwalt Berthold Vallentin (18771933) 7 etwa und Kammergerichtsrat Ernst Morwitz (1887-1971), 8 die beide auch selbst Verse machten, gehörten wie die Nichtjuristen Karl Wolfskehl, Friedrich Gundolf und Melchior Lechter zu Georges ältesten Freunden. Vallentin 9 und Morwitz sind freilich nicht mit rechtswissenschaftlichen Schriften hervorgetreten. 10 Ein jüngerer Wissenschaftler demgegenüber, am stilprägen-
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nicht ab, bis Du diese aus Europa gedrängt hast von Deinem Boden weit fort, von Deinen Meeren fort." In Georges großer Ode Geheimes Deutschland werde u.a. Vallentin („hundertäugig allkunde Gerücht") umschrieben: Sein „alles erforschender, logischer Spürsinn wird [...] als zum Mythos der Zeit gehörend gefeiert" (Morwitz). Eigene Gedichte hat Vallentin, bei dem in Berlin der Dichter öfters wohnte, unter dem Titel Heroische Masken, Berlin 1927, veröffentlicht. Ernst Morwitz: Gedichte, Amsterdam 1974. Bereits 1911 hatte Morwitz im Verlag der Blätter für die Kunst (Berlin) den Band Gedichte veröffentlicht. In den Blättern für die Kunst von 1909-1919 ist er mit Versen vertreten. In Georges Stern des Bundes (Berlin 1914) finden sich 15 an Morwitz gerichtete Gedichte. Berthold Vallentin: Napoleon, Berlin 1922 (S. 449ff.: „Dichtung und Politik" [Dichtung sei für staatliche Zwecke verwendet worden, S. 466; Napoleon habe sie „zum Dienst für seine aktuelle Politik" gepresst, S. 489]); Napoleon und die Deutschen, Berlin 1926; Winckelmann, Berlin 1931; Gespräche mit Stefan George 1902-1931, Amsterdam 1961. Ernst Morwitz: Kommentar zur Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934; Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, 2. Aufl. Düsseldorf und München 1969; The Works of Stefan George, New York 1966; 2. Aufl. 1974 (= Übersetzung). Vgl. auch Lothar Helbing: Stefan George und Ernst Morwitz. Die Dichtung und der Kommentar, Amsterdam 1968 (S. 14: Im Berlin der Zwanziger Jahre sei Morwitz, später als Senatspräsident pensioniert, ein Richter gewesen,
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den Berliner Kaiser Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Kollege Berthold von Staufifenbergs, war Helmut Strebel (19181980). Er war ein Neffe des George bis 1929 eng befreundeten Literaturwissenschaftlers Max Kommereil. „Im" George-Kreis im engeren, freilich schwer bestimmbaren Sinn war Strebel indes nicht, trotz persönlicher Begegnungen (seit 1927) mit dem Dichter. 11 Hinsichtlich Antons besteht die Schwierigkeit, dass er zunächst Geschichte und dann Jura studierte, freilich nicht um Wissenschaftler, sondern um Diplomat zu werden und politisch wirken zu können. Wegen seines frühen Todes (Februar 1931) — der junge Historiker, Jurist, Dichter und Attache setzte seinem Leben durch einen Revolverschuss ein Ende - hat Anton als potentieller Rechtswissenschaftler neben Prüfungsarbeiten, die freilich seine professionelle Herangehensweise belegen, nur Entwürfe, sprechende allerdings, hinterlassen. Berthold von Stauffenberg seinerseits hat zwar etwas länger leben dürfen als Anton, 12 dessen Leben nur in Fragmenten überliefert und selbst Fragment geblieben ist. Aber auch Stauffenberg konnte natürlich nur einen Bruchteil des Oeuvre vorlegen, auf das wir angesichts einer langen Gelehrtenexistenz bei Partsch, der 82-jährig lebenssatt und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte verstarb, zurückgreifen können. Allenfalls Partsch wird deshalb in die Gelehrtengeschichte eingehen. Nur bei ihm stellt sich die Frage nach einem Nachleben als Wissenschaftler. lj Andererseits beschränkte sich das persönliche George-Erlebnis von Partsch (1928 bis 1933) auf seine letzten Gymnasial- und des Dichters letzte Lebensjahre; es war also von kürzerer Dauer und womöglich weniger „reif als das der (etwas) älteren Freunde, die er beide noch persönlich kennengelernt hatte.
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„dessen Urteile man aufmerksam verfolgte und in Fachzeitschriften zitierte. Doch der Schwerpunkt seines Lebens lag im Bereich dichterischen und künstlerischen Schaffens"). Strebel überlieferte Staufenbergs Bemerkung, zu Hause habe er kein einziges juristisches Buch: fn Memoriam: Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905-1944). In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Band ΧΙΠ (1950/51), S. 14-16. Auch Partsch „ließ erkennen, dass Recht wichtig ist, aber auch nicht das einzig Interessante", Löwer (Anm. 2), S. 13. Partsch und Strebel waren zeitlebens miteinander befreundet. Vgl. auch Karl Josef Partsch: Stauffenberg - Das Bild des Täters. In: Europa Archiv (1950), S. 3196ff. - Wenn Anton nicht in den diplomatischen Dienst aufgenommen worden wäre, wäre er vielleicht Staatswissenschaftler geworden (vgl. unten Anm. 17). Im Unterschied zu diesem heiratete Stauffenberg im Juni 1936 seine Verlobte Maria Classen. George hatte sich offenbar gegen diese Verbindung ausgesprochen. Aus der Ehe gingen ein Sohn und eine Tochter hervor. Sie lässt sich bis auf weiteres, trotz der Vergänglichkeit rechtswissenschaftlicher Werke, positiv beantworten. So wird Partsch etwa im Lehrbuch Völkerrecht. Hrsg. von Wolfgang Graf Vitzthum, 3. Aufl. Berlin 2004, in den Grundlagen-, Menschenrechts- und Kriegsrechtskapiteln verschiedener Autoren mehrfach zitiert.
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„Von mir zur Wissenschaft fuhrt kein Weg", hat der Dichter angeblich gesagt. 14 Trog ihn da, blickt man auf die Zahl der Hochschullehrer in seinem Kreis, deren zentrale Inspiration er war und auch nach seinem Tode blieb, sein bekannter Realitätssinn? Oder hatte George insofern jedenfalls für die Rechtsund Staatswissenschaften Recht? Bevor die Frage anhand der Werke der drei beantwortet wird, seien diese in ihren Viten kurz in Erinnerung gerufen.
II Johann Anton (17.8.1900-27.2.1931) war seit seiner Schulzeit in Halle - dorthin war sein Vater aus Graz als Leiter einer Universitätsklinik berufen worden - mit dem späteren Weltkriegsteilnehmer und Professor für Kriegsgeschichte Walter Elze (1891-1980) befreundet. Durch Elze lernte Anton nach dem Krieg einen anderen Veteran des Weltkriegs, Friedrich Wolters (1876-1930), 13 kennen. In dessen Marburger Haus begegnete er (zusammen mit Kommerell) im Jahr 1922 George. Wolters war seinerseits relativ spät (1905) zu George gekommen; auf den Dichter hatte er Elze schon während des Krieges hingewiesen. Als Kriegsfreiwilliger hatte Johann Anton seinen Zwillingsbruder Karl
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Das bekannte Zitat, das zu viel in einem einzigen Satz zu erledigen scheint, darf nicht überstrapaziert werden. Worin der Gegensatz Georges zur Wissenschaft, wie ihn George selbst sieht, wirklich besteht, ist viel weniger klar, als dieser Satz unterstellt. Vieles schwingt da mit: Nietzsche, Ablehnung einer bloß historisch-antiquarischen Bildung, Positivismuskritik usw., also auch ein anderes, ein konkurrierendes Verständnis von Bildung und Wissenschaft. Zur Charakterisierung des so vielseitigen wie umstrittenen Historikers mag folgende Auswahl seiner Schriften beitragen: Herrschaft und Dienst, Berlin 1909; Friedrich Wolters und Carl Petersen: Die Heldensagen der germanischen Frühzeit, Breslau 1921; Friedrich Wolters und Walter Elze: Stimmen des Rheines. Ein Lesebuch für die Deutschen, Breslau 1923 (veröffentlicht „während des Ruhr-Widerstandes", behandelt u.a. die „Geburt des Staates aus dem Geiste der Dichtung" sowie „die Neuerschaffung des staatlichen Menschen"); Friedrich Wolters: Der Donauübergang und der Einbruch in Serbien durch das IV. Reservekorps im Herbst 1915, Breslau 1925; Der Deutsche. Ein Lesebuch in 5 Bänden, Breslau 1925-27; Vier Reden über das Vaterland, Breslau 1927; Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930. - Walter Elze sei vorerst durch folgende seiner (ζ. T. knappen) Schriften umrissen: Der Streit um Tauroggen, Breslau 1926; Tannenberg. Das Deutsche Heer von 1914. Seine Grundzüge und deren Auswirkung im Sieg an der Ostfront, Breslau 1928 („Dem Andenken des Fahnenjunkers Karl Anton. Geboren am 17. August 1900 in Graz. Gefallen am 12. Sept. 1918 bei Cambrai"); Graf Schlieffen, Breslau 1928; Der strategische Aufbau des Weltkrieges 1914-1918. Betrachtungen und Anregungen, Berlin 1933; Clausewitz, Berlin 1934; Friedrich der Große. Geistige Welt, Schicksal, Taten, Berlin 1936; Krieg und Politik von Deutschen in früher Zeit, Berlin 1938; Deutsche Geschichte und Deutsche Freiheit. Briefe eines Hochschullehrers an seine Schüler im Feld, Potsdam 1940; Der Prinz Eugen. Sein Weg, sein Werk und Englands Verrat, Berlin 1940; Potsdamer Rede über Friedrich den Großen, Potsdam 1940; Rede über die Schöpfung des Reiches, Potsdam 1941; Erinnerungen meines Volkes. Vom Ursprung bis zur Prägung Europas durch Karl den Großen geschichtlich erzählt, Freiburg 1971 (ein umfangreicher Privatdruck).
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kurz vor Kriegsende neben sich fallen sehen - im Nahkampf von einer Handgranate zerrissen, gerade erst 18 Jahre alt geworden. Unter den Sprüchen im Neuen Reich (1928) gilt folgender Johann Anton: J: D u u n v e r s e h r t e n l e i b s t r a n k s t bei m i r m u t D a s s n i c h t d e r g e i s t z e r b r ä c h in d u n s t u n d flut.. N u n halt ich d i c h g e l ä u t e r t u n d g e s u n d U n d n e h m e kraft mir auf aus deinem grund.
Nach Bernhard von Uxkulls Tod - er und sein Freund Adalbert Cohrs, der „an der Zukunft Deutschlands und am eigenen Schicksal verzweifelte" (Robert Boehringer), setzten ihrem Leben im Juli 1918 ein Ende - war Anton Georges dichterische und später Wolters' und Elzes politische Hoffnung (und politisch aktiv wollte Anton werden, das rechtswissenschaftliche Studium war ihm Mittel zu diesem Zweck). Er war mit Kommereil, der dem „Freunde Johann Anton" sein Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik: Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin (Berlin 1928) widmete, eng befreundet. Dessen Trennung vom Dichter ab Spätherbst 1929 traf ihn aufs Schwerste. Vergeblich versuchte er, den Freund von diesem Schritt zurückzuhalten. So schied Anton, erst 30-jährig, aus dem Leben (auf dem Schauinsland bei Freiburg). Auf Veranlassung Stefan Georges stellten der Bildhauer Frank Mehnert (Victor Frank) und der gleichaltrige, ebenfalls mit Anton befreundete Berthold von Stauffenberg 1934 eine Sammlung seiner Dichtungen zusammen. Plan und Auswahl waren George vorgelegt worden. Der Band erschien 1935, mehr als ein Jahr nach dem Tod Georges (4. Dezember 1933), mehr als vier Jahre nach Antons Freitod. Das großformatige Buch, das mit Antons vaterländischer Dichtung endet,16 enthält einige Stellen (etwa Verse aus dem Munde
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Johann Anton: Dichtungen, Berlin 1935 (Blätter für die Kunst); ebd., S. 75 das Gedicht Vaterland, das in den Handschriften noch Ardennenwald hieß. Vgl. auch Walter Elze: Stefan George, Friedrich Wolters, Johann Anton, Freiburg i.Br. 1959 (Privatdruck); ders.: Marburg. Bemerkungen zu dem einstigen Kreis dort, Freiburg i.Br. 1961 (Privatdruck). Wolters (Anm. 6), S. 159 berichtete George schon im Jahr 1920, bei seinem Vortrag vor 4-500 Studenten über den „Sinn" der „neuen dichtung" habe er „vor allem einen ausschnitt nach dem heldischen und vaterländischen hin [gegeben]." - In seiner Rede Die Bedingungen des Versailler Vertrages und ihre Begründung (Kiel 1929, S. 12) geißelte Wolters dann den angeblichen Willen der Siegermächte, das deutsche Volk „materiell und seelisch zu vernichten". Notwendig sei (S. 27), „kein Staat und kein Volk zweiter Klasse [zu] bleiben." - Zu Kommerells Ablösungsprozess Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodemismus, Darmstadt 1995, S. 91ff. (ebd., S. 233 ff., zum „ambivalenten" Verhältnis Georges und seiner Freunde zum Nationalsozialismus [in der „Revitalisierung des Charismas in der modernen Gesellschaft", S. 240, sieht Breuer gewisse Parallelen]).
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des „Gefangenen" in den ,,Napoleon"-Szenen), die für Antons politisches Denken sprechend sind. Anton hatte zunächst Geschichte und Nationalökonomie belegt und 1925 bei Wolters promoviert. Anschließend hatte er Rechts- und Staatswissenschaften studiert und bereits nach fünf Semestern das Erste juristische Staatsexamen abgelegt. 1928 war er ins Auswärtige Amt eingetreten. In den 29 Briefen Antons an George ist von manchem die Rede, von den Freunden im Kreis, von eigenen Gedichten, von der öffentlichen Wirkung des „Meisters" - nicht von der Wissenschaft (einmal nur erwähnt er die Promotion). 17 Wissenschaft wird auch bei Anton gleichgesetzt mit dem positivistischen Ansatz des 19. Jahrhunderts, mit zweckfreier Faktenvermittlung. Die Schau des „Schönen" und die Förderung des „Lebendigen" erscheinen als alternativer Erkenntnis- und Bildungsanspruch. 18 Berthold von Stauffenberg (15.3.1905-10.8.1944) war der älteste von drei Brüdern. Von ihnen überlebte nur sein Zwillingsbruder, der in die Staatsstreichpläne nicht eingeweihte Althistoriker Alexander, den heldenhaften Versuch, „das Unheil, das die Verbrecher über Europa gebracht" hatten, „abzuwenden". 19 Über den Altphilologen Albrecht von Blumenthal (1889-1945) waren die Brüder Stauffenberg im Frühjahr 1923 zu George gekommen, erst 18- bzw. (Claus) 16-jährig. 20 Berthold wird als schweigsam und souverän
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Brief vom 8. Juli 1924: „von einer gefährdung meiner prüfungsabsichten [durch die zeitweise Erkrankung von Wolters] kann nicht mehr die rede sein... Die Schule der ,schau und forschung' lässt den wünsch einer ausser-wissenschaftlichen Lebensgestaltung erstarken." Anders in den Briefen Antons an Wolters (vom 13. Januar bzw. 15. Mai 1925: „Ich lese die völkerrechtlichen und staatsrechtlichen werke mit einer gewissen leidenschaft (so entschied ich rechtlich den Kölner streit zu gunsten der entente) und mit der haupterkenntnis: dass recht im völkerleben die wichtigste Ideologie ist"; oder „Mit grösstem vergnügen vertiefe ich mich in das Völkerrecht: die praxis zu erfassen, mit der von Genf aus [dem Sitz des Völkerbundes] diese sätze als machtmittel benutzt werden, war mir schon früher interessant [...]. Sehr kommt mir zustatten, dass ich ohne polemik und ohne eingehen auf alles rechtsphilosophische an diese dinge herangehe. Der erhabene realismus Napoleons (das wesen der dinge gegen alle Ideologie) und D.M.s [des Meisters] schweben mir vor."
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Nach Eintritt ins Auswärtige Amt (Attacheausbildung) „gelobt" Anton dem Dichter, dass dieser neue Status „nichts am bisherigen ändere noch ändern könne...: wer verliesse eine blühende insel um ins Tollhaus zu gehen?" Vom Amt ist im gleichen Brief wegwerfend als der „V.O.H. (= Vereinigung organisierter Hochverräter)" die Rede; „geht hier noch ein weg in's freie", fragt Anton, „ist dort noch was am leben"? Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, 2. und erg. Aufl. Düsseldorf und München 1967, S. 178. Vgl. auch Christian Müller: Stauffenberg. Eine Biographie, Düsseldorf 2003, S. 41 ff. Der Korrespondenz Stauffenberg/Blumenthal ist eine intensive Diskussion um Blumenthal: Sophokles. Entstehung und Vollendung der griechischen Tragödie, Stuttgart 1936, zu entnehmen. Mehrfach arbeitete der Philologe auf Einwände des Juristen hin Partien um. Ihm („Berthold") widmete er das Werk. Dieser beteiligte sich seinerseits auch an der Schlussredaktion von Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927.
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beschrieben. Er studierte Jura, machte mit 22 Jahren in Tübingen das Erste Staatsexamen (Note: „ausgezeichnet") und ging auf vielmonatige Sprachreisen nach England, Irland und, im Februar 1928 mit Anton, nach Südfrankreich (später versuchte Stauffenberg, ohne Erfolg, in den auswärtigen Dienst des außenpolitisch isolierten Reiches einzutreten; er sah sich damals also - wie ja auch Anton - nicht als Wissenschaftler). 24-jährig in Tübingen mit der Arbeit Die Rechtsstellung der russischen Handelsvertretungen (Berlin/Leipzig 1930) promoviert, wurde Stauffenberg noch im gleichen Jahr, 1929, Referent am Kaiser Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin. Von 1931 bis Ende 1933 wurde er zur praktischen Mitarbeit an der Völkerrechtsordnung herangezogen: als redigierender Sekretär des Greffiers des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Haag. Als Deutschland im Oktober 1933 den Völkerbund verließ (1935 bzw. 1937 folgten die beiden anderen Achsenmächte), sah Stauffenberg dort keine Wirkungsmöglichkeit mehr für sich (dem bedeutenden deutschen Richter Walther Schücking hielt der kritische, innerlich unabhängige Stauffenberg die Treue, als jener als Jude 1933 unter Druck aus Berlin kam). Über die Verfahrensordnung des Weltgerichtshofs, der in Stauffenbergs Briefen an George wenig Lob erhielt,21 verfasste er den offiziösen, ausschließlich auf amtliche Materialien gestützten Kommentar: Statut et Reglement de la Cour Permanente de Justice International - Eliments d'Interpretation (Berlin 1934).22 Es ist dies die erste, noch heute beachtete Gesamtdarstellung des internationalen Prozessrechts überhaupt. Wieder am Berliner Institut - ab 1935 dann als Wissenschaftliches Mitglied, also im Rang eines Professors, und als Mitherausgeber der auch heute noch führenden Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht - lehnte Stauffenberg, nun schon ein Mann mit großer internationaler Erfahrung, offenbar einen Ruf auf den Münchener Lehrstuhl für Völkerrecht ab. Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs als Marineintendaturrat bzw. Marineoberstabsrichter zum Oberkommando der Marine eingezogen, kam Stauffenberg u.a. mit dem Kreisauer Kreis in Berührung. Diese Widerstandsgruppe hatte sich um den Rechtsanwalt Helmuth James Graf von Moltke (aus Kreisau in Schlesien) und den Stauffenberg-Vetter Peter Yorck Graf von Wartenburg
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Der Nachlass Stauffenbergs, darunter der Abschiedsbrief von Anfang August 1944 an seine Kinder („seid immer dessen eingedenk, dass ihr adelig zu Leben habt, in Treue zu eurem geborenen Sein"), befindet sich im Stefan George-Archiv. - Soweit Völkerbund und Haager Gerichtshof scheiterten, lag das weniger an ihren jeweiligen rechtlichen Grundlagen. Entscheidend war der mangelnde Willen der beteiligten Staaten, ihre nationalen Interessen hintanzustellen zu Gunsten der internationalen Friedensordnung und des Fortschritts des Rechtsgedankens in der Welt.
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Stauffenbergs Großkommentar ist bei aller verdeckten Kritik am Gerichtshof insgesamt eine bedeutende wissenschaftliche Förderung der internationalen Gerichtsbarkeit.
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gebildet; Adam von Trott zu Solz, den Stauffenberg schon 1938/39 getroffen hatte, war einer ihrer außenpolitischen Experten. Als Kenner des Völkerrechts zum Oberkommando der Wehrmacht eingezogen, stieß Moltke oft zu den Beratungen der kleinen verschworenen Institutsgemeinschaft. Die Treffen der Kreisauer, an denen Stauffenberg seit Ende der dreißiger Jahre mindestens viermal teilnahm, waren ihm, dem handlungswilligen Positivisten, allerdings „zu theoretisch". Die Staatsstreichpläne seines Bruders Claus sowie der keineswegs homogenen Beck-Goerdeler-Tresckow-Gruppe insgesamt unterstützte Berthold von Stauffenberg frühzeitig und intensiv, ja „am Eintritt des Bruders in die Verschwörung" hat er nachweislich „mitgewirkt" (Peter Hoffmann). 2, Berthold von Stauffenberg war davon überzeugt, dass sich der Rechtsgedanke auch im Krieg behaupten müsste, dass der Krieg, wie schon Hugo Grotius in De Iure Belli ac Pacis Libri Tres (Paris 1625) gefordert hatte, juristisch gesehen ein geregelter Kampf sei. So erschütterte ihn die immer rechtlosere Kriegsfuhrung Hitlers. Nicht anders als sein Bruder Claus verurteilte Berthold von Stauffenberg vor allem die ΝS-Vernichtungspolitik gegen Juden und Kriegsgefangene, das Morden hinter der Front. Durch abgestimmtes Vorgehen bei ihrer dienstlichen Arbeit konnten Moltke und Stauffenberg, die selbst keine Weisungsbefugnisse besaßen, in Kriegsgefangenen-, Geisel- und Prisenfragen manche illegale Anordnung deutscher Stellen abschwächen, teilweise sogar (vor allem mit Hilfe des Arguments der Reziprozität) Rechtsverstöße verhindern. An der Versorgung der hungernden griechischen Bevölkerung über neutrale Häfen und an den dafür zwischen den Kriegsfuhrenden festzulegenden (und dann in der Tat eingehaltenen) Routen durch das Operationsgebiet war, nicht nur bezüglich der völkerrechtlichen Absicherung, Berthold von Stauffenberg im Jahr 1942 maßgeblich beteiligt. Nach dem 20. Juli 1944 verhört und gefoltert, ohne etwas preiszugeben, wurde Stauffenberg nach 21-tägiger Leidenszeit auf die vom Diktator befohlene bestialische Weise hingerichtet. George hatte ihn, dem er den Übernamen „Adjib", der Wunderbare (ein Prinz aus „1001 Nacht") gegeben hatte, als
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Vgl. Alexander Meyer: Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905-1944). Völkerrecht im Widerstand, Berlin 2001, S. 90: Beide Brüder waren „auf Grund ihrer beruflichen Positionen selbständig zur konsequenten Ablehnung des Nazi-Regimes und Beseitigung durch Attentat gekommen. Bei dieser konsequenten Beschreitung des Weges in den Widerstand war Berthold [...] seinem Bruder stets der engste Vertraute auf allen Stufen - menschlich, politisch und militärisch. 'Claus [...] tat nichts, was sein Bruder nicht wusste und billigte.' Berthold [...] war das 'verkörperte Gewissen seines Bruders' [Marion Yorck von Wartenburg]. So schloss sich in den Unterredungen [der beiden Brüder, abends in ihrer Wohnung in BerlinWannsee] am 19. Juli 1944 der Kreis, in den die beiden [...] selbständig, aber stets mit Unterstützung des anderen, eingetreten waren." - Zu politischen Grundüberzeugungen vgl. Hans Mommsen: Die künftige Neuordnung Deutschlands und Europas aus der Sicht des Kreisauer Kreises. In: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Hrsg. von Peter Steinbach und Johannes Tuchel, Bonn 1994, S. 246ff.
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Erben bestimmt. Frank war als Nacherbe geplant. Als dieser im Frühjahr 1943 gefallen war - „matte erben" hatte der Dichter wahrlich nicht gewählt! - , hatte Berthold von Stauffenberg „vorgesehen, dass Claus ihm nachfolgen sollte. Da sie sich selbst zum Opfer brachten, haben sie für des Dichters Erbe das Größte getan." 24 Karl Josef Partsch (24.6.1914-30.12.1996) durfte seine schmale, scharfsinnige zivilrechtliche Doktorarbeit (1937 von der Freiburger Fakultät akzeptiert) nur verspätet und abgelegen veröffentlichen; er hatte jüdische Autoren angeführt 23 . Wegen seines jüdischen Großvaters mütterlicherseits konnte er die Staatsexamen nicht im „Dritten Reich", sondern, aus der Gefangenschaft entlassen, erst 1946 beziehungsweise 1948 absolvieren. Nach Funktionen im kommunalpolitischen Bereich, beim Deutschen Städtetag, wechselte er 1949 als Mitarbeiter des bedeutenden Staatsrechtslehrers Erich Kaufmann, des Rechtsberaters des Bundeskanzleramtes für völkerrechtliche Angelegenheiten, in das wiedererrichtete Auswärtige Amt. Drei Jahre als Konsul in Neapel (1955-1957) krönten diese Etappe seines Lebensweges. Ihr verdanken wir die juristisch dichte, auch kunst- und kulturgeschichtlich anschauliche 360-SeitenStudie Die Zoologische Station in Neapel. Modell internationaler Wissenschaftszusammenarbeit (Göttingen 1980).26 Mit einer aktuellen, noch heute wichtigen Arbeit zu den „Europäischen Grundrechten", also zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, im Jahre 1953 in Bonn habilitiert und 1957 nach Kiel berufen, wechselte Partsch 1960 ins „römische" Mainz und 1966 nach Bonn. Seine dortige An-
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Boehringer (Anm. 19), S. 179; dort auch Bilder von Berthold und Claus von Stauffenberg. George hatte Berthold von Stauffenberg die Verfügungsgewalt über das „offizielle Zeichen" von Veröffentlichungen aus dem George-Kreis, die Swastika der Blätter, übertragen. Zu Frank vgl. ders.: Agis und Kleomenes. Nach dem Plutarch, München 1944. - Die Attentäter waren sich bewusst, dass das Gros der Deutschen den Sinn der Tat damals nicht verstehen würde, dass der aktive Widerstand also zunächst notwendig „undemokratisch" war. Auch insofern sahen sich Claus und Berthold von Stauffenberg aber nicht in einem Loyalitätskonflikt zum Dichter und zu seiner Schau des Reiches. - George hat Gedichte auf eine ganze Reihe von Männern und Frauen gemacht, die er ihres Selbstopfers wegen preist, gipfelnd im Gesang Geheimes Deutschland (GAIX, 59). Dass seine Erziehung eine solche zur Tat war, wird man nicht sagen können. Das Verschränken des Geistigen und Konzeptionellen mit dem Heldischen und Tathaften allerdings war den ungewöhnlich gebildeten Brüdern Stauffenberg aus der Dichtung Georges und dem von Elternhaus und Schule geforderten humanistischen Ethos her vertraut. „Wir müssen handeln", rief Claus von Stauffenberg Mitte Juli 1944 seinen Mitverschworenen zu, „um Deutschlands und des Abendlandes willen." - Die GriechenlandHilfsaktion schildert erstmals Heft 1/1963, S. 49ff. der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte.
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Bereits in Anm. 1 zitierte er Rene Cassin, den späteren Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (und späteren Friedensnobelpreisträger). Nach der finanziell und diplomatisch aufwändigen Restaurierung der arkadisch goldbraunen Marees-Fresken in der Station, die ihm als Konsul ein besonderes Anliegen gewesen war. publizierte Partsch in Die Welt vom 19.4.1959 den Artikel: Die neapolitanischen Fresken sind gerettet.
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trittsvorlesung 27 trug, ohne dass er sich mit den Ambivalenzen des deutschen (und des Dichters) „Reichsdenkens" befasste, die Widmung „Zur Erinnerung an Ernst Kantorowicz (1895-1963)". Auf der „Diplomatischen Konferenz zu der Bestätigung und Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten" (1974 bis 1977) vertrat Partsch die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsberater mit besonderem Geschick 28 . Trotz des vom Dichter von seinen Freunden ganz allgemein geforderten Erfolgs im „bürgerlichen B e r u f - nur, wenn man aus sich selbst etwas mache, hieß es, könne man ihm, George, etwas bedeuten - erlag Partsch nicht der von George dem Jüngling gegenüber, wie berichtet wird, lächelnd apostrophierten Gefahr, ein „Bönzchen", also ein kleiner lebensferner Professor, zu werden. Jahrzehntelang betreute Partsch etwa Stipendiaten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes sowie der Studienstiftung des deutschen Volkes. Eine Errungenschaft der pointiert egalitären Ersten Republik war die demokratisch kontrollierte Förderung einer Leistungselite in der Zweiten Republik geradezu die Konsequenz der von Partsch und allen Menschenrechtsverträgen stets verfochtenen Rechtsgleichheit der Menschen. Diese hindert j a nicht (sondern ermöglicht erst), denkt man etwa an Aristoteles' Flötengleichnis, dass dem besten Flötenspieler die beste Flöte gegeben wird. Für die Studienstiftler und seine Schüler 29 nahm sich der Vielbeschäftigte alle Zeit. Sah er in ihnen den „neuen adel", den der Dichter besungen hatte?
III Welche Themen, Aussagen und Methoden lassen sich für die wissenschaftlichen Werke von Anton, Stauffenberg und Partsch ausmachen, bezogen auf unsere Leitfrage nach etwaigen Einstrahlungen der George-Welt? Kam es zu einer Prägung, gar zur Erneuerung der Rechts- und Staatswissenschaften aus „Georgeschem Geiste"? Ich beginne mit den jeweils primär gewählten The-
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Karl Josef Partsch. Von der Wurde des Staates, Tübingen 1967, 32 S. Zum Resultat dieser bedeutsamen Verhandlungen, den beiden Zusatzprotokollen von 1977 zu den vier Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949, veröffentlichten Partsch/Michael Bothe/Waldemar A. Solf den „heilig nüchternen" Standardkommentar (auf Englisch) - so wie Berthold von Stauffenberg vier Jahrzehnte zuvor den zur Verfahrensordnung des Weltgerichtshofs (auf Französisch) verfasst hatte. Rüdiger Wolfrum, Schüler von Partsch, jetzt Direktor des Heidelberger Max Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, in dessen Eingangshalle eine Büste Berthold von Stauffenbergs steht, berichtete mir anschaulich von den allmonatlichen Lehrstuhl- und Studienstiftlertreffen im Bonner Hause Partsch.
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Für Johann Anton sind das Sujet „Rückblick auf die deutsche Reichsverfassung von 1919 aus dem Jahr 1926" und dessen Behandlung bezeichnend. Das 12-seitige Typoskript 30 ist ein so selbstbewusst wie unversöhnlich scharf formulierter Entwurf. Unüberhörbar sind Anklänge an George, etwa an sein 1917 veröffentlichtes hellsichtiges, auch gegenüber den vielen bei Kriegsbeginn nationalbegeisterten Freunden kritisches Gedicht „Der Krieg" („Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil")/ 1 Einen nur negativen „Rundumschlag" hatte der Dichter seinerzeit freilich ausdrücklich abgelehnt: [...] D o c h endet nicht mit fluch der sang. M a n c h ohr V e r s t a n d s c h o n m e i n e n p r e i s a u f Stoff u n d s t a m m " A u f k e r n u n d k e i m ... [ . . . ] [ . . . ] L a n d d e m viel v e r h e i s s u n g N o c h innewohnt - das drum nicht untergeht! D i e j u g e n d r u f t d i e G ö t t e r auf.. [ . . . ]
Wahrscheinlich wurde Antons Themenwahl durch Elze oder Wolters^2 angeregt. Die kompromisslose, keinen einzigen Positivaspekt anfuhrende Bearbeitung stand wohl auch im Zusammenhang mit Antons letztlich erfolgloser Suche nach einem Ansatzpunkt - für ihn als potentiellen Seiteneinsteiger - in politicis.
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Es befindet sich im Stefan George-Archiv. Vom Verhältnis von Krieg, Staat und Religion zur Kunst handelt ein dreiseitiges bruchstückhaftes Typoskript Antons, in dem auch von der „Wiedergeburt des Griechentums im deutschen geist" die Rede ist; dem „mönch von Wittenberg" wirft er vor, „keine Form geschaffen zu haben". Aus dem Jahr 1927 stammt das 57-seitige Typoskript „Darstellung und Kritik der Paneuropabewegung nach der wirtschaftlichen Seite", eine skeptisch-realistische, eher deskriptive Skizze im Rahmen der konsularischen Staatsprüfung. Die Dissertation Die Wandlung des Napoleonbildes in den deutschen Biographien, 148 S. (Maschinenschrift), Diss, phil. Kiel v. 27.3.1925, ist nicht mehr auffindbar (Kriegsverlust?). Es findet sich nur eine fünfseitige Zusammenfassung, aus der hier zitiert wird. Offenbar wird Napoleon als „der große Einzelne" und „erhabene Realist" gesehen. Vallentins erstes Napoleon-Buch wird gerühmt.
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Elze berichtet zugespitzt vom „deutschen" Kreis um Wolters in Marburg (Anm. 16): George „war für uns innerst und gegenwärtig der gestaltete und gestaltende Geist Deutschlands. [...] Wir nahmen von ihm und seinem Werk das grosse, Vergangenheit wie Gegenwart, Abendland wie Orient erfassende Geschichtserbe und Sein unseres Volkes. Wir waren [...] im Meister und mit dem Meister durchglutet: deutsch! Dies betone ich, weil mir später einer der älteren Berliner Freunde sagte 'Deutsch, was ist das? Das Deutsche gibt es nicht'! [...] Johann Anton, der [...] Österreicher, lebte ganz in hoher Einheit alles Deutschen." George (Nachweis in Anm. 6, S. 199) sah bezüglich Elze „die gefahr dass er in den kreis des willensmässigen auch das ziehn will was nie und nimmer darin sich fangen lässt." Mit dem Realitätssinn und der Konkretheit Georges (siehe unten VI) hat Elzes „Geist Deutschlands" weniger zu tun als mit Antons Entwurf zum angeblichen (Un-)Geist der Weimarer Verfassung (Anm. 30).
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George selbst dichtete zwar (und im jeweiligen, hier freilich nicht vertiefbaren Kontext wäre das für unser Thema ebenfalls interessant): „gesetz und staat/Verachtet"; „Ich bin nur frei weil ein gesetz mich engt"; „Der Staat ward faul"; „So wills das recht"; „'O Herr wie stritte ich mit euch um recht!/Doch hoheit hat ein himmlisches geschenk/Wenn alles andre auch verwirkt ist: gnade!" bzw. das „ewige recht" (ging es hier um archaisch-religiöse Rechts Vorstellungen?); „geisselt die verlaufnen wieder heim/Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist"; „und nie verfuhr nach ihrem rechte"; „Finstren gesetzen [am barbarenhof]"; „bürgern gesetze geschrieben"; „das unbeugbare gesetz"; „durch diese hoheit/Bestätigst du uns unser recht auf hoheit"; „Wo du dein herrenrecht an uns geübt"; „lenker in staates gefahr". „Recht" und „Staat", „Gesetz" und „Gnade" waren aber keine Schlüsselworte des Dichters. Ebenso wenig waren Verfassungs- und Völkerrecht oder Naturrecht und Rechtsphilosophie als solche Gegenstände des Diskurses im Kreis, so facettenreich auch der Begriff des „Staates", aus platonischer Wurzel stammend, und von Wolters in Herrschaft und Dienst für den Kreis entwickelt, verwendet wurde. JJ Antons Radikalkritik der nur „erdachten", also nicht: „organischen" Ordnung Weimars war, obwohl diese in der deutschen Geschichte nun wirklich etwas „Neues", etwas höchst „Lebendiges" darstellte, übertrieben und unoriginell. Eine „geradezu unsittliche Leere des Verfassungswerkes" lautete seinerzeit, ohne dass Anton freilich von einem der damaligen politischen Lager vereinnehmbar war, der Dauervorwurf der Rechten wie der Linken; nicht allerdings von George selbst: die Weimarer Republik, mit all ihren Mängeln, hätte im Vergleich zum Kaiserreich auch für ihn „die Luft freier gemacht". Nur drei deutsche Staatsrechtslehrer wählten, ohne Bezug zur ohnehin schwierig zu bestimmenden „meisterlichen weit", als vorbehaltslose Demokraten die entgegengesetzte Themenstellung:34 die Verteidigung der Weimarer Verfassung, die
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Z u m Anspruch auf eine geistige Erneuerung des Reiches vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. A m Beispiel des George-Kreises 1890-1945, Tübingen 1998, S. 312ff., S. 425ff. Von „staatsgedanken", „zukünftigem Staat", „staatenrest", von der Befähigung „zur staatsbildung", dem „neuen gesetze", dem „deutsche(n) s t a a t s s c h i f f ' und seiner Steuerbarkeit, schreibt Wolters dem Dichter (Anm. 6, S. 95, S. 122, S. 137, S. 180). Nicht selten klingt der „Staat" Piatons an, einschließlich der wächterlichen Haltung der Bürger. Nachweise auch bei Claus Victor Bock: Wortkonkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964, S. 217 (Gesetz), S. 463 (Recht), S. 577 (Staat) sowie bei Morwitz: Kommentar zu dem Werk (Anm. 10), S. 351 „Unter Staat versteht der Dichter [jedenfalls im sechsten Gedicht des Ersten B u c h s des Stern] nicht äußere Staatenbildung, sondern das Verhalten von Mensch zu Mensch, eine neue Gemeinschaftsbildung, zu der wenige von Geburt aus, wie er glaubte, befähigt sind, eine größere Zahl aber durch Erziehung geeignet gemacht werden kann. Für die neue Daseinsführung formt der Dichter das Gesetz und den Bewertungsstab".
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Vgl. Horst Dreier: Gerhard Anschütz (1867-1948). Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs. In: Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren. Heidelberger Impulse. Hrsg. von Peter Ulmer, Heidelberg 1998, S. 89ff. - Die Vereinbarkeit von Reichsmythos, „starkem Staat" und Legalität mit individuell-freiheitlicher Demokratie, Parlamentarismus
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Bejahung ihrer integrationspolitisch unentbehrlichen Flexibilität, die Rechtfertigung der ohnehin nur vermeintlichen Grenzenlosigkeit ihres Relativismus. Der maßvolle Umgang mit Instituten, Regeln und Institutionen sowie das Wissen um die Verantwortung des Juristen standen für Anton, der bewusst keine staats- oder völkerrechtlichen Werke verfasste, jedenfalls nicht im Vordergrund. Berthold von Stauffenbergs thematische Schwerpunkte waren die internationale Schiedsgerichtsbarkeit und die internationale Gerichtsbarkeit, die er im Haag als Insider in ihren damaligen Stärken und Schwächen kennen gelernt hatte, sowie, seit seiner Rückkehr nach Berlin, das Seekriegsrecht. Diesbezüglich arbeitete er führend in gesetzesvorbereitenden Kommissionen mit, gipfelnd in der Prisenordnung und der Prisengerichtsordnung (1939), sowie, nach Kriegsbeginn, im Ausschuss Kriegsrecht/Seekriegsrecht, der dem Oberkommando der Wehrmacht (Amt Ausland/Abwehr) zugeordnet war. j5 Die Rechtsfragen der Handelskriegsfuhrung zur See (Blockieren, Beschlagnahmen, Beutemachen) okkupierten ihn dann vollständig - neben der Mitarbeit an den Staatsstreichplänen Henning von Tresckows und Claus von Stauffenbergs/ 6
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und Völkerrechtsordnung stellt für Deutsche ein größeres Problem dar als für viele andere Europäer. Bis zum Jahre 1806 hatten die Deutschen das „Reich", wenn auch zuletzt in einer nur noch formalen Hülle, gehütet, ein Gebilde (angeblich durch die französische Revolution und Napoleon, also vom „Westen" zerschlagen), das auf einer menschheitlichen Idee, dem Römischen, später Heiligen Römischen Reich beruhte. Insofern war Deutschland „von allem Anfang an in ein Gerüst von universalem Ausmaß eingespannt", eine Lage, der später auch der Gegensatz „zwischen politischer und geistiger Führerschaft" entsprang, zumal „die tief eingewurzelte Geistfeindlichkeit der herrschenden Klassen und die Verständnislosigkeit für die Realitäten des politischen Lebens auf Seiten des Bürgertums und der Intelligenz", Erich Kahler: Das Problem Deutschland. In: Ders.: Die Verantwortung des Geistes. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/M. 1952, S. 92ff. (S. 98, S. 100). Vgl. auch Raulff (Anm. 5), S. 370ff. Vgl. Meyer (Anm. 23), S. 63ff., S. 70ff., S. 168ff., S. 213ff„ S. 253ff.; Wolfgang Graf Vitzthum: Berthold Schenk Graf von Stauffenberg. In: Zeugen des Widerstands. Hrsg. von Joachim Mehlhausen, 2. Aufl. Tübingen 2001, S. Iff. (S. 15ff.); The Gladisch Committee on the Law of Naval Warfare. Hrsg. von Dieter Fleck, Bochum 1990, S. 7ff. - Die beiden Ordnungen (= Reichsgesetze) hielten sich, trotz anders lautender politischer Vorgaben, im Rahmen der kriegsvölkerrechtlichen Regeln. Sie wahrten die Rechte der Privaten und Neutralen (was mittelbar auch der Landmacht Deutschland nützte, die, weit stärker als etwa Großbritannien, auf Nachschub über See angewiesen war). Das nicht nationalsozialistische Regelwerk bewährte sich: im Bereich der Prisenkriegsführung kam es auf deutscher Seite zu keinen gravierenden Völkerrechtsverletzungen, vgl. Joe Heydecker und Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozeß, Köln 1985, S. 538ff., S. 550ff.; Gerald Kretschmer: Die deutsche Prisenrechtsprechung im Zweiten Weltkrieg, Bonn 1967, S. 142ff. Vgl. Rudolf Fahrner: Erinnerungen 1903-1945. Aus dem Nachlass hrsg. von Stefano Bianca, Genf 1998 (Privatdruck), S. 237ff. („Geschehnisse um den 20. Juli [1944-1945]"); hierzu und zum Folgenden auch Meyer (Anm. 23), S. 50ff, S. 58ff., S. 75ff. Zu Fahrner vgl. auch ders.: Arndt - Geistiges und politisches Verhalten, Stuttgart 1937; Gneisenau, München 1942; West-östliches Rittertum: das ritterliche Menschenbild in der Dichtung des europäischen Mittelalters und der islamischen Welt. Hrsg. von Stefano Bianca, Graz 1994.
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Insofern klaffen Biographie und Bibliographie bei Berthold von Stauffenberg auseinander. Der angesehene Institutsdirektor Viktor Bruns, der seinen jungen Adlatus an den Weltgerichtshof delegiert hatte, Bruns' ebenfalls menschlich so untadeliger wie fachlich kompetenter Stellvertreter Ernst Schmitz/ 7 das Trauma von Versailles, die wissenschaftlichen und rechtspolitischen Aufgaben der Zwischenkriegszeit, dann die juristischen und ethischen Probleme des sich rasch verschärfenden Wirtschaftskrieges zur See, das Kenntniserlangen von der Ungeheuerlichkeit der NS-Staatsverbrechen und der Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg sowie der feurige Wirkungswille (fur Deutschland, das Abendland und die Ehre) und persönliche Mut seines Bruders Claus - dies alles war für die Wahl der Themen, Aktionsfelder und Vorgehensweisen Berthold von Stauffenbergs mindestens so wichtig wie der ja schon Ende des Krisenjahres 1933 gestorbene Dichter und sein Freundeskreis. Letztere waren für Stauffenbergs Aktivwerden im Widerstand freilich zumindest mittelbar bedeutsam: für die Ausrichtung des Positivisten auf ein überpositives Recht, für das Einhegen der Staatsräson - auch in Kriegszeiten - in den Grenzen des Rechts, für das heldenhafte Durchhalten im Widerstand und schließlich für die entschlossene, geradlinig und klaglos bis zum Selbstopfer durchgeführte befreiende Tat. 38 Womöglich hätte auch Anton als Diplomat in Ansehung der Katastrophen- und Verbrecherpolitik eine ähnliche Entwicklung wie Claus und Berthold von Stauffenberg genommen und über seine Kanäle am Staatsstreich mitgewirkt. 39 Die von Karl Josef Partsch aufgegriffenen Themen hingen primär wohl mit Persönlichem und Zeitbedingtem zusammen: mit der Diskriminierung, die er als „Vierteljude" im „Dritten Reich" erlebt hatte, mit der normativen Kraftlosigkeit des Völkerrechts in Krieg und Besatzungszeit, sowie mit der Zeugenschaft bei der Geburt des modernen Systems der Grundfreiheiten, die auf personale Würde gestützt sind. Letztere „creation" in der UNO (Universelle Erklärung der Menschenrechte von 1948, seitens der UN-Generalversammlung)
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Der erste Band der Quellensammlung Fontes juris gentium, Serie A, Sectio I, Tomus I, 19221930, Handbuch der Entscheidungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, Berlin 1931, wurde gemeinsam von Schmitz und Stauffenberg (sowie Α. H. Feller) herausgegeben. Schmitz war am Institut u.a. die Ausbildung der jüngeren Mitarbeiter anvertraut. Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln, Weimar, Wien 1997, S. 657; Theodore S. Hamerow: Die Attentäter - Der 20. Juli. Von der Kollaboration zum Widerstand, München 1999, S. 323ff. Meier (Anm. 23). S. 75ff. schildert Stauffenbergs „Weg vom staatstreuen Diener zum staatsfeindlichen Verschwörer" (S. 79). Eberhard Zeller: Geist der Freiheit - Der zwanzigste Juli, 5. Aufl. München 1965, S. 459 resümiert: „untadelige Größe menschlichen Verhaltens, das aus den tiefsten religiösen und künstlerischen Wurzeln entsprang". Anton dachte schon frühzeitig daran, „wie unser aspekt der weltordnung einmal proklamatorisch wirksam werden" könnte (Brief an Wolters vom 15. Mai 1925); er war längst tot, als die Brüder Stauffenberg später auf diese Weise handelten.
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verdankte sich dem Ungeist des Krieges und der politischen Lobbyarbeit Eleanor Roosevelts gewiss eher als der Tat von Claus und Berthold von Stauffenberg und pneumatologischen Bezügen zu Stefan George. Dieser Schritt zu einem gänzlichen Neuanfang, kulminierend im 20. Juli 1944, gehört freilich durchaus in den Menschenrechtskontext des 20. Jahrhunderts: der Widerstand gegen das NS-Regime war „eine Form der modernen Menschenrechtsbewegung". 40 Anders als jenes „vaterländische" und wissenschaftskritische Ringen Antons mit der angeblichen „Leere" der Weimarer Verfassung und anders als jenes zunehmend nationale, freilich distanziert sachlich formulierte Aufbegehren Berthold von Stauffenbergs gegen Teile der Rechtsprechung des Weltgerichtshofs waren die Sujets von Partsch europäisch und universell (mit den Rechtsfragen der Wiedervereinigung Deutschlands etwa oder denen der wirtschaftlichen Integration Westeuropas befasste sich Partsch nicht).41 Aber vor einem halben Jahrhundert wollte ja auch Ernst Kantorowicz im fernen Berkeley nichts mehr davon wissen, dass, wie er in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung am 14. November 1933 - von „Versailles" verletzt, von „Weimar" enttäuscht, von George, so wie er ihn sah, inspiriert - noch formuliert hatte, das „geheime Deutschland" (aus dem Geiste Georges) „nicht die einheitliche Kultur der universalen Menschheitsgemeinde" „zu wirken" habe, sondern das „geheime Reich". 42 Nun war, nach „tausend Jahren", das Deutsche Reich (nicht, jedenfalls bei staats- und völkerrechtlicher Betrachtung: Deutschland!) so gründlich untergegangen, dass eine radikale Umkehr erfolgen und eine wirklich „neue Ordnung", wie in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 verheißen, aufgebaut werden konnte. Hatte Anton bezüglich „Weimar" zeittypisch überkritisch noch vom bloßen „Schein eines 'Wiederaufbaues'" geschrieben, und hatte Berthold von Stauffenberg die Neuordnung nach einem Ende des „Dritten Reiches" nur denken und in Aufrufen und Erklärungen partiell vorbereiten können, engagierte sich Partsch nun, ab den späten vierziger Jahren, mit Aufsätzen zu menschenrechtlichen Fragen, mit Gutachten zum parlamentarischen Geschäftsgang und mit Berichten zum Verhältnis von Völ-
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Peter Steinbach: Einfuhrung. In: Eberhard Zeller: Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild, Paderborn u.a. 1994, S. XV. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker etwa, nicht nur fur die Beantwortung der „deutschen Frage" ein potentiell wichtiger Ansatz, qualifizierte Partsch zeitlebens (und zunehmend gegen die sich festigende herrschende Meinung und die überwiegende Praxis) als ein nur „politisches Prinzip" ab. Ein Rückblick auf die Kaiserherrlichkeit des Mittelalters, „in kaiserloser Zeit", findet sich schon bei Schiller und Hölderlin. Auch bei ihnen war von einem geheimen geistigen Reich die Rede, einschließlich einer „Zuständigkeit" des Dichters für den „Geist" der entsprechenden Verfassung. Freunde Georges sahen sich als die Träger eines verheißenen zukünftigen Reiches. Georges „reich" freilich war ganz utopisch, im wörtlichen Sinn: [... ] ihr tragt das reich / So ganz wie ungewusst auf andrem stern.
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kerrecht und Landesrecht43 beim Aufbau der Zweiten Republik. Er tat dies konstruktiv-helfend, als streitbarer Debattenredner, sich vielerorts engagierend, vielgestaltig publizierend, mit langem Atem, dem „angloamerikanischen Prinzip" gegenüber offen - Staats- und Völkerrechtswissenschaft als Beitrag zur Sicherung der deutschen, europäischen und internationalen Nachkriegsordnung.
IV Beeinflusste der Dichter, ist nun zu fragen, inhaltliche Aussagen der drei Rechts- und Staatswissenschaftler? Johann Anton sezierte 1926 die Weimarer Nachkriegslage, desillusionierend, radikal: M a n sprach vom Wiederaufbau und meinte nur die Wirtschaft.. M a n redete von innerer Einkehr aber nur um die leeren Kirchen zu füllen.. Vaterlandsfreunde träumten von deutscher Zukunft., sie glich in allem der unwiederbringlichen fehlerhaften Vergangenheit.
Etwas Besonderes war dieses Entlarven nicht. Zu derartigen Thesen bedurften andere nicht poetischer Inspiration. Alle, Nationalisten wie Kommunisten, „sahen rechts" - um ein Bild aus dem Stern des Bundes (Berlin 1914) aufzugreifen , nur eine Handvoll Vernunftrepublikaner „sah links". Dass Walter Anton, auch „der Löwe" genannt,44 sich sechs Jahre später vom „heroischen Vitalismus" der braunen Revolution faszinieren ließ - wie so viele, auch von den späteren Empörern, sah er in der NS-Bewegung anfangs gewisse Potenzen - , darf man dem älteren Bruder und seinem Dekonstruktivismus so wenig anlasten wie dem von beiden bis in ihren Tod hinein verehrten Dichter. Ein „Hacken zusammennehmen, auch im Kopfbereich!" waren weder Motto noch Komment des vielstimmigen Chores um George. Seit längerem bereits bestand
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Grundfreiheiten und Besatzungsrecht, in: Ordo, Bd. I (1948), S. 214ff; Internationale Menschenrechte? In: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 74 (1948), S. 158ff.; Die verfassungsmäßige Sicherung von Wirtschaftsprinzipien, in: Ordo, Bd. VI (1954), S. 19ff; Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht. Überprüfung der Translbrmationslehre. Bericht von Karl Josef Partsch, Thesen der 1. Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Karlsruhe 1964, 179 S.; Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern? Gutachten zum 45. Deutschen Juristentag, München/Berlin 1965. Elze (Anm. 15) berichtet in seiner Skizze Marburg: „Walter Anton, immer nah und getreu, war ein sehr begabter, sehr eigenwilliger Mensch mit einem jean-paulischen Einschlag. [...] Er liebte besondere Aussprüche und sagte einmal an einem der glückerfiillten Vormittage: 'Man kann doch alle Gedichtbücher verbrennen, denn was sind selbst die Gedichte gegen das, was wir gegenwärtig leben!', worauf der Meister ihm nur lächelnd zurief: Löwe!"
101
Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Georges
dieser Kreis
aus zumindest
zwei
Gruppierungen45
Gundolf/Wolfskehl auf der einen und
-
personifiziert etwa
Wolters/Hildebrandt
auf der
in
anderen
Seite - , die geistig-politisch miteinander (und u m den Dichter bzw. später dann u m sein „Vermächtnis") rangen.46 Auch Johann Antons durchgängige Polemik gegen Professoren und
Wis-
senschaft, gegen Naturrecht und Entscheidungsschwäche, formuliert unter dem Eindruck einer alles erschütternden Instabilität der W e i m a r e r Republik, dankte sich m e h r d e m Zeitgeist als d e m Dichter. D e r
ver-
Nationalversammlung
v o n 1919 wirft A n t o n vor allem ihre „Wissenschaftlichkeit" vor; der (Staats-) W i s s e n s c h a f t bestritt er die Zuständigkeit für die Neukonstitution des Reiches:
M a n g r i f f bei j e d e r G e l e g e n h e i t n a c h F o r s c h u n g s e r g e b n i s s e n w o s t a a t s m ä n n i s c h e Entscheidungen nötig waren [...] M a n vergaß sowohl den hochverräterischen Char a k t e r aller W i s s e n s c h a f t [ . . . ] als [ a u c h ] d i e z u g e g e b e n e S t ü m p e r e i a u s d e r sich die v e r s c h i e d e n e n L e h r e n z u s a m m e n s e t z t e n , d i e ihren B l i c k a u f d a s S t a a t s w e s e n r i c h ten: G e s c h i c h t e . . V o l k s w i r t s c h a f t . . M a s s e n - u n d R a s s e n f o r s c h u n g etc. [ D i e W e i marer Verfassung: ein] verbesserungswürdiges Bruchstück wie der babylonische T u r m b a u d e r W i s s e n s c h a f t , [die P r o f e s s o r e n : ] G e i s t e s a r m u t , [die V e r f a s s u n g s g r u n d l a g e n : ] n a t u r r e c h t l i c h e I r r t ü m e r [ . . . ] , seit 1 8 4 8 u n d B i s m a r c k , m i t d e m F l u che professorenhafter Lächerlichkeit behaftet.
S o undifferenziert, j a fast denunziatorisch („hochverräterischer C h a r a k t e r aller Wissenschaft")
erfolgte
Wissenschafts-
und
„Bonzenkritik"
(seitens
eines
Ordinariensohnes und -freundes!) sonst nicht im George-Kreis,47 mochte
dort
die Distanz zu Rationalismus, Künstlichkeit und Positivismusgläubigkeit
auch
betont werden. Z u m a l Wolters und G u n d o l f z o g e n im „Jahrbuch fur die geisti-
45 46
47
So antwortete dem „deutsch-völkischen" „Löwenskript" postwendend ein „universalistisches", verfassungsstaatliches Zirkular, beide im Stefan George-Archiv, Stuttgart. George selbst hatte wohl „zwei Seelen" in seiner Brust; er ließ jedenfalls gewähren beziehungsweise nahm seinen Freunden in politicis die Entscheidung nicht ab. Vgl. ZT 380 („es könne eines Tages so kommen", meinte George 1931, „dass nicht mehr in Deutschland zu leben sei"); S. 384 (George habe bei Manuskriptkorrekturen im Januar 1933 geraten, „nichts für 'die [NS-]Partei' nichts gegen sie zu sagen"); S. 387 (George erklärte im August 1933, als das Schiff, das ihn aus Deutschland in die Schweiz brachte, mitten auf dem Bodensee gewesen sei, habe er freier geatmet). Vgl. auch Wolfgang Graf Vitzthum: „Die Gesetze des Geistigen und des Politischen". Stefan George, Hermann Broch, Günter Grass: Dichter und Staat in Deutschland. In: Dichter, Denker und der Staat. Hrsg. von Michael Kilian, Tübingen 1993, S. 23ff. (28f.). - Zu Kurt Hildebrandt, der früh in die NSDAP eintrat, ders.: Staat und Rasse. Drei Vorträge, Breslau 1928; Piaton. Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933 (2. Aufl. 1959); Piatons vaterländische Reden, Leipzig 1936; Hölderlin, Stuttgart 1939 (3. Aufl. 1943); Goethe, Leipzig 1941; Leibniz und das Reich der Gnade, Den Haag 1953. „Der universitäre s u m p f ist freilich auch ein herber Begriff, enthalten in einem Brief Fahrners vom 10. Juli 1933 an George, in: Erinnerungen (Anm. 36), S. 3f. Wolters (Anm. 6), S. 200 klagt (aus Kiel, nach dem Tod seiner ersten Frau): „drei dinge" seien ihm leid: „die Wissenschaft, der norden und das allein hausen."
102
Wolfgang Graf Vitzthum
ge Bewegung" gegen die „universitäter", denen sie sich selbst nicht zurechneten, vom Leder. Nicht nur Jugendbewegte und der Jugend Zugewandte hatten seit der Jahrhundertwende, „deutscher Ideologie" und einer Begeisterung für alles „Junge", „Jugendliche", „Vitale" entsprechend, zum „Leben" gestrebt, zur „Sinnlichkeit", zum „neuen Menschen". An diesen Maßstäben sollte sich vielmehr auch die Wissenschaft messen lassen. Verlangt wurde ein Erfassen der Wirklichkeit in künstlerischer Intuition („Schau"), nicht im wissenschaftlichen Spezialistentum. Abgelehnt wurden „bürgerliche" Enge, „kalte" Massendemokratie, grassierende „Verameisung" (Gundolf), „unsinnliche" Verstandespolitik, alles „Gewollte", „Konstruierte". Kritisiert wurden Parteien und „Bonzen" (auch in ihren für die Habilitations- und Berufungschancen mancher Wissenschaftler im George-Kreis ungünstigen Einflussnahmen), „Bürger" und Parlamente, „Verstädterung", Sozialismus, Historismus, Utilitarismus, „Naturwissenschaftstrunkenheit". 48 Weder Moskau noch Washington, weder 1789 noch 1848/49 wurden als staats- und verfassungspolitische Modelle anerkannt. Insoweit war Anton, indem er in seiner Wissenschafts- und Verfassungskritik auf das Gewordene, Gewachsene, Ursprüngliche setzte, in verunsicherter Zeit weniger ein wissenschaftspolitischer, gar ein staatswissenschaftlicher „Trendsetter" als ein „deutsch-kultureller", wenn auch nicht „völkischer" Nachläufer. 49 Berthold von Stauffenbergs Kritik an der angeblichen „Einäugigkeit" mancher Deutschland-bezogener Urteile des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, obwohl professioneller vorgetragen als Antons Weimar-Philippika, war in der Sache selten berechtigt. Aus heutiger Sicht war sie auch wenig weitblickend. Natürlich traf der junge Völkerrechtler mit seinen Forderungen nach möglichster Entpolitisierung der Richterwahl, 50 nach Einhaltung des
48
49
50
Vgl. etwa Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. II. Hrsg. von Kai Buchholz u.a., Darmstadt 2001; Kahler (Anm. 5); Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München und Wien 1985, S. 245ff. („Wissenschaftsfeindschaft und Dichtungsglaube als deutsche Ideologie"), S. 31 Iff. („Gesellschaftsferne und Soziologie-Feindschaft im Kreis um Stefan George"), S. 355ff. („Stefan George, Georg Simmel, Max Weber"). Bei aller Ausdrucksfertigkeit - die etwaige Erfahrung, „dass leben ein fest sei" (Blätter für die Kunst. Folge VII [1904], S. 5), die Vision der ersehnten schöneren Gegenwelt, konkretisierte Anton an keiner Stelle. Andererseits fällt bei der Kritik des 26-Jährigen (Anm. 30) auf, dass er zwar viel Kreis- und manches Zeittypische enthält, aber nichts zu Dolchstoß-Legende, Revanche-Gefiihlen, Antisemitismus oder dem Ruf nach einem Führer. Vgl. seinen Beitrag: Die Richterwahl zum Ständigen Internationalen Gerichtshof. In: Zeitschrift ftir ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. VII (1937), S. 146-148. Schon in seinem mit Ernst Schmitz verfassten Beitrag Internationale Schiedsgerichtbarke it (In: Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung. Hrsg. von Hans Frank, München 1935, S. 307-327) engagierte sich Stauffenberg in gleichem Sinne. Ein Beispiel: die europäischen Staaten besaßen bei der Besetzung des Gerichtshofes ein deutliches, seine Objektivität potentiell schwächendes Obergewicht.
Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Georges
103
Grundsatzes, dass niemand Richter in eigener Sache sein soll, nach Nichtanwendung politischer Maßstäbe in der Urteilsfmdung und nach Diskriminierungsfreiheit der Entscheidungspraxis - „gleiche Maßstäbe für gleiche Sachverhalte!" - Schwachpunkte in der Architektur und Arbeit dieses ersten Weltgerichtshofes. 51 Aber wollte Stauffenberg hier nicht einfach „too much too soon"? Der Haager Gerichtshof, dem im Bereich der zwischenstaatlichen Streitbeilegung die zentrale Rolle zugewiesen war, und der präzedenzlose Völkerbund insgesamt suchten doch ihre ganz neuartigen, fortschrittlichen Rollen professionell auszufüllen; alles in allem gelang das „learning by doing" jedenfalls dem Gerichtshof durchaus. Aber auch der Völkerbund war partiell recht erfolgreich, etwa beim ansatzweisen Schutz der Menschenrechte und der Minderheiten sowie im sozialen Bereich. In der Geschichte des Rechts der Internationalen Organisationen jedenfalls erweist sich die Gründung des Völkerbundes als der entscheidende Durchbruch. Hier wurden die bis heute geltenden institutionellen Grundgefüge (Organe, Willensbildung, Mitgliedschaft) erstmals festgelegt und in einem extrem schwierigen Umfeld erprobt. Die Idee einer „Organisation der Welt" (Schücking), also der Schaffung einer Institution mit allgemeinpolitischem Aufgabenbereich (internationale Zusammenarbeit und Friedenswahrung), setzte sich allen Rückschlägen zum Trotz so eindeutig durch, dass an einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg ohne eine entsprechende Organisation, nun also als „Vereinte Nationen" firmierend, nicht zu denken war. Auch der Internationale Gerichtshof knüpft hinsichtlich der Objektivität und Normativität seiner Entscheidungsgrundlagen und der Justizförmigkeit seines Verfahrens an die Vorläuferinstitution an. Wie unsensibel reagierte Stauffenberg auch noch 1934 auf das Rassenproblem! 52 Wie erstaunlich loyal war er gegenüber dem eigenen Vaterland, auch noch nach dessen Boykott der internationalen Organe (seit 1933) und dem Absturz in die Rechtlosigkeit! Andererseits: in welche Abgründe von Illegalität muss Stauffenberg, persönlich offensichtlich von der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit allen staatlichen Handelns als solchem überzeugt, geblickt haben, „ehe er sich dazu entschied, der Staatsorganisation Widerstand zu
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52
Stauffenberg befürchtete offenbar auch eine Benachteiligung kleinerer und schwächerer Staaten (vgl. etwa seinen Beitrag: Die Zuständigkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofes für die sogenannten politischen Streitigkeiten. In: Deutsche Juristen Zeitung 39 (1934), Sp. 1325-1330) - zu Unrecht, betrachtet man die 18-jährige insoweit ausgewogene Tätigkeit des Gerichtshofes näher. Die Entziehung der Staatsangehörigkeit und das Völkerrecht. Eine Entgegnung. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. IV (1934), S. 261-276 (S. 262f. verteidigte Stauffenberg die „Reinheit der Nation" als Prinzip des [neuen] deutschen Staatsangehörigkeitsrechts).
104
Wolfgang Graf Vitzthum
leisten, der er eigentlich dienen wollte"!50 Seit 1943 arbeitete Stauffenberg an den Befehlen, Aufrufen und Denkschriften mit, die nach einem erfolgreichen Attentat über die Medien verbreitet werden bzw. die Neuordnung Deutschlands kartieren sollten.54 Sie spiegeln seine stupenden Rechtskenntnisse wider, vor allem sein unverfälscht bewahrtes „Rechtsgefiihl" (ein zeitgenössischer Ausdruck, den er auch selbst bei seinem Verhör durch die Gestapo benutzte). Gewiss, hier im Widerstand, in existentieller Lage entstanden keine wissenschaftlichen Texte. Sie handeln aber von Kernfragen der Völkerrechts-, Verfassungs- und Verwaltungspolitik. Insofern gehört auch diese wissenschaftsgestützte, konzeptionelle, praktisch-politische Arbeit Stauffenbergs, geleistet im Zentrum des „nationalkonservativen" Verschwörerkreises und in der ihm aus dem George-Kreis vertrauten Sympoiese (mit seinem Bruder Claus, mit dem Germanisten Rudolf Fahrner usw.), in unseren Kontext.55 Mit George, seinem Kreis von Freunden und der Idee eines „Geheimen Deutschland" mochten Claus und Berthold von Stauffenberg56 auf einen „geistesaristokratischen" Sonderweg geraten sein; dieses Patrimonium drängte sie
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Hans von Mangoldt in einem Brief an mich vom 1.8.1994, zitiert in Graf Vitzthum (Anm. 35), S. 14 Fn. 22. Meyer (Anm. 23), S. 173 resümiert: Stauffenbergs Haltung gegenüber dem Gerichtshof, ohnehin „nicht eindeutig", sei „zunehmend kritisch" geworden; die Gründe dafür seien freilich „wohl ausschließlich struktureller und rechtsdogmatischer Natur im Einzelfall, nicht dagegen nationalistischer oder gar nationalsozialistischer Natur im Generellen" gewesen. Die von den Verschwörern vorbereitete Regierungserklärung erhob die „Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts" zur ersten Aufgabe, ganz im Sinne von Stauffenbergs Vorstellungen, vgl. Wolfgang Graf Vitzthum: Eher Rechtsstaat als Demokratie. In: Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Joachim Burmeister, München 1997, S. 97-114. Aussagekräftig ist auch der Schwur („Eid"), den Claus und Berthold von Stauffenberg zusammen mit dem Germanisten Rudolf Fahrner (1903-1988) im Juli 1944 als ein Symbol der Verschwörung formulierten; abgedruckt in: Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992: „Wir wollen eine Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staats macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen. Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt, den natürlichen Mächten nahe bleibt, das im Wirken in den gegebenen Lebenskreisen sein Glück und sein Genügen findet und in freiem Stolze die niederen Triebe des Neids und der Missgunst überwindet. Wir wollen Führende, die aus allen Schichten des Volkes wachsend, verbunden den göttlichen Mächten, durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorausgehen." Auf die Zusammenarbeit mit Fahrner 1943/44 wurde bereits hingewiesen. Die Begegnung mit Gundolf und Wolters sowie mit der Dichtung Georges waren Anstoß für Fahrners Vorstellung der Erneuerung einer staatlichen Gemeinschaft J e n s e i t s aller Ideologie, durch das einfache Dasein eines Vorbildes von Rang" (Bianca [Anm. 36]). Auch Fahrner veröffentlichte eigene Dichtung. An wissenschaftlichen Werken (vgl. Anm. 36) sind in unserem Kontext vor allem Arndt - an der Schlussfassung hatte Berthold von Stauffenberg mitgewirkt - zu nennen, sowie Gneisenau; von Claus von Stauffenbergs intensiver „Teilnahme" an dieser Schrift berichtet Fahrner (Anm. 36), S. 237. Die Brüder Stauffenberg waren mütterlicherseits Nachfahren Gneisenaus.
Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Georges
105
freilich „stärker zur Tat als die Strömungen, denen ihre Freunde [...] angehörten".57 Andere wagten ähnlich viel wie Claus und Berthold von Staufenberg. Diese aber taten die entscheidende Tat, von der Notwendigkeit, ja der Pflicht überzeugt, den Führer des verbrecherischen Krieges, den Verderber des deutschen Volkes, den Mörder der Juden, den Tyrannen zu beseitigen. George dürfte hier, im Prozess der Entscheidungsfindung und -durchsetzung, „wie ein Verstärker" gewirkt haben.58 Was der Staatsstreich inhaltlich anstreben sollte, war aus der George-Welt freilich nicht direkt ableitbar. Der Anspruch des Geistes auf seine Autonomie und der Anspruch der Kunst, von politischer Indienstnahme frei zu sein, stellte allerdings eine wichtige Dimension der Welt des Dichters und seines Kreises dar, ebenso das Verlangen nach Erneuerung (auch des „Reiches"), nach einer Neuschöpfung geistiger Natur. Das war dann, im Unterschied zu manchen christlich-autoritären, ständestaatlichnichtparlamentarischen oder personalistisch-sozialistischen Konzepten in diversen Lagern des Widerstandes (Musterdemokraten waren die wenigsten), anschlussfähig nach dem Ende der Gewaltherrschaft, als die „neue Ordnung" des Grundgesetzes insbesondere zur Beendigung der Unterordnung der Menschen unter eine menschenverachtende, gleichmacherische Ideologie errichtet wurde, also zur Sicherung persönlicher Freiheit. Wie steht es mit den Schriften von Karl Josef Partsch? Spielt die „GeorgeWelt" in sie direkter und deutlicher hinein, obwohl „Cajo" bereits zur (Halb-) Generation nach der Antons und „Adjibs" gehörte? Beschränkt man sich auf die wichtigsten staats- und völkerrechtlichen Arbeiten von Partsch, sind inhaltliche Einflüsse des Dichters und seiner Freunde nur mit der Lupe zu entdecken. Nie bediente sich Partsch aus dem nationalkonservativen Arsenal: kein „Dogma von der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre", kein „Eindeutschen" der „Genien anderer Rassen" (so aber Kantorowicz, 1933)59. Die alten Reichsträume ersetzte er auch nicht durch neue Großraum-Visionen, den „deutschen Raum" nicht durch ein Europa „vom Atlantik bis zum Ural", das „deutsche Vaterland" nicht durch ein „Vaterland Europa". Partsch verkörperte von Anfang an vielmehr jene universalistische und humanistische Gesinnung,
57 58
Hoffmann (Anm. 55), S. 453. Meyer (Anm. 23), S. 101. Vgl. auch Peter Hoffmann: Stauffenberg und der 20. Juli 1944, München 1998, S. 1 4 f f - Nicht der Umstand, dass ehemals George Verbundene sein Neues Reich (Berlin 1928) auf das „Dritte Reich" hin deuteten, ist wesentlich. Jede Werkrezeption ist ein offener Vorgang, von den Intentionen des Autors nur bedingt steuerbar. Entscheidend ist die Tat von Claus und Berthold von Stauffenberg, dies Zeugnis für die Existenz eines „anderen": eines „geheimen" oder „heiligen Deutschlands" (es ist unklar, was exakt die Worte Claus von Stauffenbergs waren, die er in die Salve des Erschießungskommandos hineinrief, kurz nach Mitternacht am 21. Juli 1944) - diese Tat im Geiste (auch) des „Geheimen Deutschlands" Georges gibt auch dem Dichter eine zusätzliche Dimension, eine besondere Beglaubigung.
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Vgl. Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George, Wiesbaden 1982.
106
Wolfgang Graf Vitzthum
die etwa für „Die Stimmen des Rheines", soweit diese zur Zeit der RuhrBesetzung revanchistisch klangen, 60 taub gewesen wäre. Die seinerzeitige Wende gegen , j e n e moderne Literaten, die [...] sich 'europäischweltbürgerlich' [...] heißen" (Kantorowicz, 1933), wird in dem in der Nachkriegszeit einsetzenden Werk des weltbürgerlichen Europäers nicht aufgenommen. In den Mittelpunkt des Werkes von Partsch trat vielmehr, konkret und praktisch (für das besetzte und geteilte Deutschland zudem argumentativ hilfreich), der Schutz der Menschenrechte auf nationaler, regionaleuropäischer und universeller Ebene, in materieller, prozeduraler und institutioneller Hinsicht 61 - ein Hebel, der dazu beitragen konnte, die Selbstisolation Deutschlands in der Völkergemeinschaft, eingetreten spätestens seit den „Ideen von 1914", zu beenden. So machte Partsch auf den engen geistigen und rechtlichen Zusammenhang aufmerksam, aus dem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes (1949) und die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte (1950) erwuchsen. Ohne „eurozentristisch" die Universalität der Menschenrechte in Frage zu stellen, waren Bürger- und Menschenrechte für den Urbanen Partsch doch vor allem „ein Teil der europäischen Rechtskultur" (Wolfram), also wohl auch der, wie neuere Texte formulieren, „Identität Europas". 62 Das war nahe bei der Bedeutung Europas für George. Dessen Europa umfasste all die Länder, die der „römische hauch", von dem eines seiner „Rhein"-Gedichte spricht, gestreift hatte. Dazu
60
Elze (Anm. 16) beschreibt den Mitautor in seinem (nicht nur sprachlich undeutlichen) Dreierportrait: „Wolters war [...] ein sehr bewusster Sohn des Rheines, begabt mit allen heidnischen wie christlichen Oberlieferungen des ihm geheiligten Stromes und begabt mit all dessen uralten und wechselnden Schicksalen. Er war ein Franke, in dessen tatgewillte Seele das 'regnum f'rancorum' als Kraft und als Inbild eingeboren war. [...] Als Wolters in schon fortgeschrittenen Jahren Stefan George begegnete, geriet [...] sein Seelenkern des regnum francorum in Glut. Er erlebte George als Herrscher des Geistigen Reiches und nichts was er sann, tat, schrieb oder dichtete, war ohne Bezug auf seinen Dienst in diesem Erleben. [... Wolters wurde im George-Kreis vorgeworfen, er] sei 'zu deutsch', als ob gelebte Einheit von Land, Volk und Eigenem in diesem schöpferischen Volke ein Hassgrund aller Widerwirkenden sei."
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Von daher ein lebenslanges Interesse von Partsch an den Vereinten Nationen, vgl. etwa ders.: Belgrads leerer Stuhl im Glaspalast. In: Vereinte Nationen (1992), S. 181ff. Nachweise: Wolfgang Graf Vitzthum: Die Identität Europas. In: Europarecht (2002), S. 1-16; „römischer hauch" - Stefan Georges staatspoetisches Europabild. In: Festschrift für Erik Jayme, Bd. II, München 2004, S. 1763-1778. - Die Europäische Union konnte bis heute ihre Identität nicht finden. Die Begeisterung der frühen Zeit und die großen Gewinne für Frieden und auch Wohlstand werden zwar immer wieder beschworen. „Gegen die Blutleere der Brüsseler exekutivischen Entscheidungen [...] scheinen sie aber nicht (mehr) zu genügen [...]. Vielleicht hätten die Brüder Stauffenberg eher noch mehr an der Kappung der [geistigreligiösen] Quellen gelitten, die in dem Verfassungsvertrag von 2004 zum Ausdruck kommt, der nicht mehr wagt, diese deutlich und bestimmt zu benennen" (Heinhard Steiger in einem Schreiben an mich).
62
Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Georges
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gehörte zumal der gesamte griechisch-römische und jüdisch-christlich geprägte Mittelmeerraum, den auch Anton und Stauffenberg bereist hatten. Der Osten, ohne römisches Erbe, war nicht eingeschlossen. Jenes mediterrane Europa faszinierte dann Partsch, der auch italienisch parlierte und publizierte, ein Leben lang, während seine Bedeutung fur George nach der Jahrhundertwende, jedenfalls als Reiseziel, nachließ. Das Interesse des Dichters am klassischen Griechenland freilich, an den griechischen Tragödien, an Piaton, an Hölderlins Sicht, an der Baukunst und den Bildnissen, blieb bis zuletzt wach. So stand Partsch mit jenem inhaltlichen Akzent - dem griechisch-römischen Erbe Europas, dem Menschen als Mittelpunkt auch des Rechts, des Staates und der Staatengemeinschaft - in einer der Traditionslinien des Abendlandes und des George-Kreises. Partsch' Bonner Antrittsvorlesung versuchte dann, „in Zeiten der Wirren", als die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zunehmend herausgefordert wurde, den Staat weniger als Gegner, denn als Garanten der Freiheit zu sehen, ihm insofern eine Art „institutionelle Würde" zu sichern. Bei Kollegen stieß dies, wie von Partsch wohl nicht anders erwartet, auf Misstrauen. Hegelianismus hatte man vielleicht Lorenz von Stein oder Ferdinand Lassalle „vorwerfen" können, nicht aber war das bei ihm möglich, mochten jene letzten Hegelianer des 19. und dieser frühe Menschenrechtsdenker des 20. Jahrhunderts auch den sozialen Ausgangspunkt gemeinsam haben. Aus den Werken von Partsch wird deutlich: er dachte vom Menschen, von der Zivil-, Staats- und Weltbürgergesellschaft her, nicht vom Staat her, von dessen Institutionen, Ämtern und Gewalten.*" Das Verdikt: „der verruchte Gedanke [...] der Staat sei für das Wohlergehen der Einzelnen da", stammt aus der Feder von Anton (1926). Dass „der Staat um des Menschen willen da ist" (Carlo Schmid, der, ebenfalls aus dem Berliner Institut stammend, seinerseits der Welt des Dichters nicht fern stand),64 war demgegenüber das Credo von Partsch. Es ist zugleich das Leitmotiv des modernen Verfassungsstaates, zumal das des Staates des Grundgesetzes, mit der Garantie der Menschenwürde als seinem Grund.65 Als von George inhaltlich programmiert wird man diese Position zwar nicht bezeichnen können. Partsch' eindringliche Warnungen vor einer Gefährdung erreichter Standards freilich sie dürften wirkungsgeschichtlich am längsten gehört werden - hätten, neben anderen Aussagen, auch vom Dichter
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64 65
So spricht Partsch (Anm. 27, S. 7f.) selbst davon, „dass er sich jahrelang mit den Rechten des Individuums gegen den Staat, mit den Rechten des Parlaments gegen die Exekutive und schließlich mit der Unterwerfung des Staates unter die Völkerrechtsordnung beschäftigt und ,nur wenig' unternommen habe, ,den Staat zu preisen'." Bei ihm verband sich die Prägung durch George mit den ihm am Herzen liegenden Themen, vgl. sein Römisches Tagebuch, Tübingen 1946. Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum: Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff. In: Juristenzeitung (1985), S. 201-209.
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selbst stammen können. Dieser soll, als die Jüngeren in den späteren zwanziger Jahren einmal allzu sehr über die „könige mit bühnenkronen" im wilhelminischen Deutschland herzogen, eingeworfen haben: „Ihr wisst ja gar nicht, wie klein der Hund ist, auf den man kommen kann." Eigenständigkeit bewies Partsch auch bei seinem frühen, dann lebenslang durchgehaltenen Widerspruch gegen die seinerzeit vielerorts propagierten „Sozialrechte" (Recht auf Arbeit etc.) bzw. gegen die später so genannten „Menschenrechte der dritten Generation" (Rechte auf Entwicklung, Frieden, Ernährung, Umweltschutz). Den liberal-rechtsstaatlichen Habeas Corpus-Kera der Menschenrechte und die humanitäre Substanz des Kriegsvölkerrechts von kodifikatorischen Verwässerungen wie einem „Menschenrecht auf Wasser" freizuhalten, ist in der Tat ebenso wichtig wie das Verhindern gut gemeinter, aber kontraproduktiver Übertreibungen. Partsch hatte, als „Nichtarier" gemäß NS-Diktion, und später dann als Kriegsgefangener, die seinerzeitige „Relativität" der Grund- und Menschenrechte am eigenen Leib erfahren, kannte also ihre normative Schwäche. So kam es ihm zeitlebens auf die Freiheitssicherung an, etwa auf die klassischen Rechte auf Freizügigkeit und freie Arbeitsplatzwahl. In diese Abwehrrechte dürfe nicht durch neumodische „soziale Rechte" bzw. Staatszielbestimmungen (Arbeit, Vollbeschäftigung etc.) eingegriffen werden, erst recht nicht durch einen unfreiheitlichen sozialistischen Ammen-Staat.
V Damit sind wir bei der dritten, abschließenden Frage. Sie zielt auf den etwaigen Einfluss Georges auf Stil und Methode der Arbeiten der drei Rechts- und Staatswissenschaftler. Während Anton, von den Geschichts- und Staatswissenschaften her kommend, geistes- und rechtswissenschaftliche Ansätze kombinierte, also soziologische und politische Gesichtspunkte nicht ausblendete, sondern in einem Metaphernfeuerwerk von „erhabenem realismus" miteinander verschmolz, und während Stauffenberg streng normativ, geradezu positivistisch, argumentierte (auch eine rein formal-juristische Vorgehensweise schließt freilich Interessenjurisprudenz im Ergebnis nicht aus), setzten viele Arbeiten von Partsch jeweils mit einer ausgiebigen empirischen Befiindnahme ein. Das gilt etwa von seinem wirklichkeitsgesättigten Mitbericht auf der Staatsrechtslehrertagung - im Jargon der Zunft: die zweite Habilitation - über „Parlament und Regierung im modernen Staat". Partsch bezog, von seinen methodenkonservativen, damals meinungsführenden Kollegen in der Diskussion dafür sogleich gerügt, rechtsvergleichende, ja selbst sozialwissenschaftliche Erkenntnisse mit ein. Bezeichnend bereits sein Eröffnungszug: „Jeder moderne Staat hat mit den tatsächlichen Entwicklungen der Gegenwart fertig zu werden." Aus dieser spannungsreichen Verbindung von Theorie und Praxis, aus
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dieser demonstrativen Wende gegen Realitätsferne und rechtswissenschaftliches Glasperlenspiel zog Partsch einen Teil seiner schöpferischen Kraft. Ein weiteres Beispiel ist das wirklichkeitsbezogene Juristentags-Gutachten aus dem Jahr 1964 zum Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse: vier Fünftel des Textes widmete Partsch allein dem Befund. In engem Anschluss daran entwickelte er dann die Antwort auf die gestellten rechtsdogmatischen und -politischen Fragen. In seiner Dissertation, dreißig Jahre zuvor, hatte er diesen methodischen Ansatz, der in anderen Rechtsordnungen verbreiteter ist als bei uns, bereits vorbereitet. Besonders anschaulich, weil persönlich-narrativ gehalten, war auch das letzte Buch von Partsch: Hoffen auf Menschenrechte. Mit ihm, keineswegs die Summe eines Lebenswerkes, kehrte er zu seinem lebensbestimmenden Thema zurück. Sein Bewegtsein durch George 66 legte er freilich auch hier nicht offen. Partsch' Wissenschaft wurde durch seine intensive Mitwirkung in internationalen Gremien und die dadurch bedingte Auseinandersetzung mit praktischen Fragen des Rechts geprägt. Allein dem UNO-Ausschuss für die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung gehörte er seit 1970 mehr als ein Vierteljahrhundert lang an, vorantreibend, Maßstäbe setzend. Dabei haben „weder die Politik noch das Gebot der Praktikabilität seine wissenschaftliche Aussage j e bestimmt. Als politischer Berater hat er an seinen für richtig erkannten Ansätzen keine Abstriche gemacht". 67 Die Parallele zu Georges Wirklichkeitsnahe liegt bei diesem engen Bezug zur Praxis auf der Hand. Des Dichters Realitätssinn ist vielfach bezeugt, ob er nun Bücher selbst einband, Fässer öffnete oder Gardinen befestigte. George liebte das Einzelne, das Konkrete. Erbost wandte er sich gegen die Auflöser, die nur noch „Relationen" sahen, 68 denen alles abstrakt wurde. Vom Dichter war, das bezeugen auch Anton, Stauffenberg und Partsch, Realismus zu lernen.
66 67 68
Ersichtlich etwa aus seiner Korrespondenz mit Stettier (vgl. Anm. 2), auch sie im Stefan George-Archiv. Rüdiger Wolfrum, in: Löwer und Wolfrum (Anm. 2), S. 16ff. (17). Als geistig lebhafter, „frühreifer" Professorensohn war Partsch wohl ein solcherart gefährdeter Jüngling. Sein väterlicher Freund Küpper (Anm. 2) begann eine gegenteilige Erziehung, die George fortsetzte. Küpper hat Partsch später auch zum Studium des Rechts im Ausland geraten. Bald schon hatte dieser an wissenschaftlicher Auslandserfahrung Anton und Stauffenberg, die er beide noch persönlich kennen gelernt hatte, übertroffen. - Wenn Wolters bei der Fertigstellung der ß/äiter-Geschichte „große Zusammenhänge habe darstellen wollen," habe George „immer 'eine Realität' hineingeworfen, die Wolters gezwungen habe, die Sache noch einmal gegenständlich umzuarbeiten", ZT 366.
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Zusammenfassend: 1. Die Wahl rechts- und staatswissenschaftlicher Themen (Weimarer Reichsverfassung; Internationale Gerichtsbarkeit; Menschenrechte) durch Johann Anton, Berthold von Stauffenberg und Karl Josef Partsch war jeweils weniger durch Stefan George und die Zugehörigkeit zu seinem Kreis bedingt als durch andere Einflüsse (Wunsch nach politischem Wirken; Orientierung an juristischer Professionalität; Diskriminierungs- und Kriegserlebnisse). Mit dem Freiheits- und Menschenrechtsgegenstand war Partsch zwar Zeuge, Kommentator und partiell auch Mitgestalter einer Neuorientierung im Völker- und Staatsrecht; auch dies war freilich, nicht anders als die Wahl des Diplomatenberufs durch Anton und die Widerstandstat von Stauffenberg, nur indirekt vom Dichter inspiriert. 2.
Die Inhalte der Arbeiten der Rechts- und Staatswissenschaftler zeigen kaum Spuren ihrer Zugehörigkeit zum Kreis um George. Die Drei respektierten vielmehr die Grundspannung zwischen der Welt des Dichters und dem Beruf der Wissenschaft. Sie schieden zwischen ihrem („schönen") Leben mit George einerseits (mit seinem Kreis, in der gemeinsamen künstlerischen Vorstellungswelt, im Sich-über-den-Alltag-Erheben) und ihrem („bürgerlichen") wissenschaftlichen Leben andererseits (mit seinen Prüflings- und Professionalisierungszwängen, Methoden- und Verlagsproblemen sowie Lehrer- und Laufbahnabhängigkeiten). Da das Völkerrechtsund dann vor allem das Widerstandsengagement von Stauffenberg69 die Fundierung einer neuen, rechtsstaatlichen, die Rechte und Freiheiten des Individuums sichernde Ordnung einleiten sollte,70 verschränkte dieser
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Sein Denken und Tun war wie das seines Bruders Claus von einer spezifischen Konzeption von Gemeinwohlverantwortung geprägt: Widerstand kein allgemeines Bürgerrecht, sondern, unter Zurückstellung der eigenen Person, besondere Ephorenpflicht. Da die Generäle versagten, müssten nun, so Claus von Stauffenberg 1942, „die Obersten handeln". Die Aktivlegitimation zur Erhebung wanderte in der als hierarchisch aufgefassten politischgesellschaftlichen Ordnung (vgl. den „Schwur", Anm. 55) insoweit ein Stück weit nach unten. Diese elitäre Stufung, diese Überzeugung auch von einer besonderen Verantwortung des Offiziers „im Volk" (Gneisenau) und des Adels „vor dem Volk", deutet ihrerseits an, welche Schwierigkeiten (auch) die Brüder Stauffenberg mit dem egalitär verstandenen Demokratieprinzip hatten.
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Berthold von Stauffenberg war überzeugt, dass auch die Kriegsfuhrung durch Recht gebändigt werden könnte. Klare, faire Regeln sollten den friedlichen Seehandel möglichst schonen - nicht zuletzt (Gegenseitigkeitsprinzip) im deutschen Interesse. So dokumentierte Stauffenberg Fälle von Völkerrechtsverletzungen durch die eigenen Streitkräfte, auch im Hinblick auf
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konsequent verfolgte Ansatz beide Sphären zumindest partiell. Das Europäische und ganz auf den Menschen Bezogene an George und das (auch) „Anarchische", Freiheitsfordernde des Künstlers fanden in dem Hoffen auf Menschenrechte von Partsch ein lebenslanges, weithin gehörtes Echo. Des Dichters relative Distanz zum realen Staat71 wurde von Anton nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg vergrößert und in wissenschaftskritischer Absicht vergröbert. „Apollinisches" zeigte sich hier nicht, auch nicht ein neues Bild des Menschen oder des Reiches, wohl aber, auch in Antons eigener Dichtung, der Drang sowohl zu „neuem Leben" und sinngebundenem Tun als auch zur Suche nach dem Geist der Reichsverfassung und Festigung der nationalen Identität. 3.
In methodischer Hinsicht schlug Georges Vorliebe für das Konkrete, das Einzelne, das Lebendige bei Arbeiten von Partsch am stärksten durch. Die Befundnahme, also das Prägnante, der Bezug zur Praxis, werden hier akzentuiert, gestützt auch durch die jahrzehntelange engagierte Mitarbeit des Völkerrechts- und Staatsrechtslehrers in nationalen Berater- und internationalen Verhandlungsgremien. Eine derartige Realitätsnähe konnten die zornig sezierenden Arbeiten des früh aus dem Leben geschiedenen Anton bei all ihrer Lebensgläubigkeit und Entscheidungs- und Veränderungsforderung und bei aller Verwurzelung des Autors in Dichtung und Geschichte nicht aufweisen. In seinen kühlen, fast abrupt knappen Veröffentlichungen, hinter denen nicht weniger handwerkliche Knochenarbeit steckte als hinter den meist stärker ausgreifenden von Partsch, ging Stauffenberg demgegenüber streng normativ vor, getragen von dem Glauben an das Recht als zentraler Faktor in den internationalen Beziehungen.72 In seiner staats- und verfassungspolitischen Widerstandsarbeit bewies er dann die schon von Gundolf an George so gerühmte „Allgegenwart des Realen".
„Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges"73 hat es demnach nicht gegeben. Es gibt sie auch heute nicht. Die drei skizzierten Juris-
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eine spätere gerichtliche Abrechnung (durch die Deutschen selbst) mit den Kriegsverbrechern. Vgl. aber etwa den Entwurf eines Dankschreibens an Reichspräsident Hindenburg, „den Mann der aus den ungeheuren weit-wirren unserer zeit als einzige sinnbildliche gestalt hervorragt", ZT 357. - Für die Neuartigkeit und Fortschrittlichkeit der Weimarer Reichsverfassung zeigte Anton kein Verständnis. Er betonte nur die (Entscheidungs-)Schwächen der Verfassung und die zunehmende Verdunkelung der Verfassungswirklichkeit. Im Ergebnis stützten und untermauerten seine Aufsätze, ohne den Boden wissenschaftlicher Argumentation zu verlassen, jeweils den Standpunkt der Reichsregierung, ab 1933 letztlich also den des NS-Regimes. Der „Geist Georges" ist freilich seinerseits, wie vorstehend verdeutlicht, eine äußerst ungefähre, selbst j a regelmäßig nur abgeleitete Größe. Das, wovon sie abgeleitet wird: die Erinne-
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ten haben, bei all ihrer Unterschiedlichkeit im Einzelnen, ihren wissenschaftlichen Beruf und die Welt des Dichters prinzipiell nicht miteinander verquickt. Partsch' Menschenrechtsdenken etwa ist eine Geburt aus dem Ungeist des Krieges, nicht aus dem Geiste Georges. Freilich finden sich auch Querverbindungen, vor allem in methodischer Hinsicht. Hinsichtlich des Wie, der Art des Erkennens, Auswählens, Ableitens, war die Zugehörigkeit zum Kreis um den Dichter offenbar prägender als hinsichtlich des Was, des Gewichtens und Entscheidens. In der Unterschiedlichkeit ihrer Positionen bezeugen Anton, S t a u fenberg und Partsch zudem die Weite und Vielgestaltigkeit der Welt des Dichters. Keiner der drei Wissenschaftler war undichterisch oder eindimensional. Georges Welt fur den Beruf der Wissenschaft aufzugeben, schien ihnen undenkbar. George war ihr Erweckungserlebnis, nicht Grotius; Stefan George begeisterte sie, nicht Otto von Gierke oder das Bürgerliche Gesetzbuch. Insofern geben die wissenschaftlichen Werke der drei Männer über ihr eigentliches Wesen nicht erschöpfend Auskunft. Jeder von ihnen, Anton am stärksten, Partsch am schwächsten, führte eine Art Doppelleben. Ihnen war gemeinsam, dass sie ihr Dasein als durch die Freundschaft des Dichters erhöht auffassten. Bei ihrem „Hoffen a u f die Leistungsfähigkeit des Rechts griffen sie über die Grenzen ihres Fachs hinaus. Ein Beispiel ist das 1941 in Berlin publizierte, nach wenigen Wochen bereits vergriffene Buch von Francesco Guicciardini: Vom politischen und bürgerlichen Leben. „Ricordi", neu geordnet und eingeleitet von Ernesto Grassi, übertragen und mit einem Anhang versehen von Partsch. Es handelt vom „Umsturz" gegen „die Gewaltherrscher" und „Von der Würde und den Werten des Menschen". 74 Die drei Rechts- und Staatswissenschaftler engagierten sich in öffentlichen Ämtern (im Auswärtigen Amt; in der internationalen Gerichtsbarkeit; in Internationalen Organisationen). Stauffenberg und Partsch stellten sich nationalen und internationalen Beraterstäben jähre- bzw. jahrzehntelang zur Verfügung. Sie übernahmen Verantwortung. 75 Sie packten in den jeweiligen - labilen -
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rungsbücher, Briefe, sonstigen Zeugnisse, ist immer schon Interpretation, und das muss deshalb seinerseits stets reflektiert werden. Vgl. S. 61ff bzw. 93. Der Band erlebte 1946 in Bonn eine 2. Auflage. Partsch' Bonner Vorlesung (Anm. 27) war dann eine Art Parallelstück in der Sphäre des Institutionellen (der Welt des Dichters keineswegs gänzlich entrückt): es sei „ein wesentliches Element des Staates [...], dass dieser Gerechtigkeit und Ordnung in einer konkreten Gemeinschaft von Menschen zu verwirklichen strebt. Wer davon ausgeht, vermag auch die Würde dieses Staates als einen geistigen Wert zu sehen" (S. 9). Wenn George seinen jüngeren Freunden diesen Weg wies, „hoffte er, dass sie tun würden, was nicht seines Amtes war; dichterische Visionen wie die vom 'Neuen Reich' [sind] nie Programm. Er konnte nur ein Leben aus dem Geist bilden und damit zu einer Umkehr mahnen", Karl Schefold: Schreiben an mich, vom 11.6.1994, zitiert in Graf Vitzthum (Anm. 35), S. 8. - Im 29. Gedicht im Stern werden die Gründer - „ihr tragt das reich" - „vom Dichter in ihre eigenen Lebensbereiche gesandt [...] Jeder von ihnen nimmt seinen besonderen Weg, sie
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Nachkriegsordnungen an. Alle drei suchten, ohne sich in irgendwelche Zukünfte hineinzuträumen, nach Alternativen zur jeweils vorgefundenen Lage. Die drei Juristen dachten überwiegend umkehrbezogen: eine Arbeit gegen die Not der Zeit, so wie sie sie sahen - nach dem Ersten Weltkrieg (gegen die „ungeistige Leere" der Weimarer Verfassung), im Dritten Reich (gegen die Vernichtungspolitik des „Widerchrist"), nach dem Zweiten Weltkrieg (gegen die Leugnung der Subjektstellung des Menschen im Völkerrecht). Insofern wollten sie auch politisch wirken. Sie verfolgten alters- und lagebedingt unterschiedliche Ziele, und sie hatten ganz verschiedenartige Wirkungen und Schicksale.76 Stauffenberg und Partsch haben durch ihr Widerstands- bzw. Menschenrechtsengagement, das mit dem pädagogischen Eros des Dichters wie gezeigt in Verbindung gebracht werden kann, dem deutschen Namen was auch das Streben Antons war - wieder Anerkennung verschafft. Die Rückkehr der Deutschen in den Kreis der zivilisierten Nationen haben sie erleichtert.77 Sie haben damit zur Sicherung der „neuen Ordnung" des Grundgesetzes beigetragen. Die Brücke zwischen den Rechts- und Staatswissenschaften und der Welt des Dichters zu schlagen, ist, wie gesehen, nicht leicht. Eine direkte Verbindung zwischen der Zugehörigkeit zur engsten Gruppe der Freunde von George einerseits und der rechts- und staatswissenschaftlichen Tätigkeit andererseits lässt sich nicht nachweisen. Für die aktuellen Problemkreise „law and literature"78, Verfassungs- und Europapoetik sowie Dichter-Staat als Lebensform79 bleiben Georges Freundeskreis, die geistige Leuchtkraft des Dichters,80 sowie vor allem: seine Dichtung ein fruchtbares, faszinierendes Forschungsfeld.
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sind und bleiben im Gang getrennt, aber das Endziel, die Erhöhung des Daseins, ist fur alle das gleiche", Ernst Morwitz, Kommentar, Bd. II (Anm. 10), S. 399f. „Allgemeinheiten bestehen heute [...] durch zufällige Übereinkünfte und wirtschaftliche bedürfhisse. Der [...] allein, der sich von diesen allgemeinheiten unabhängig hält, hat noch die möglichkeit in einem Reiche zu leben wo der Geist das oberste gesetz gibt". In: Blätter für die Kunst VIII. 1909, S. 2. Die Staatsstreichpläne zielten j a weiter als „nur" auf Befreiung und „Reinigung" Deutschlands. Henning von Tresckow etwa erklärte noch am 21.7.1944 (unmittelbar vor seinem nach dem Fehlschlag des Staatsstreiches unumgänglichen Freitod): „ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern für den Erzfeind der ganzen Welt", zitiert bei Meyer (Anm. 23), S. 84f. Umfangreiche Nachweise in Christine Alice Corcos: An International Guide to Law and Literature Studies. 2 Bände, Buffalo, N.Y. 2000. Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum: Staatsdichtung und Staatslehre. Das Beispiel Stefan George. In: Recht, Staat und Politik in Bild und Dichtung. Hrsg. von Hermann Weber, Berlin 2003 (Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift 4), S. 103-126. Auch die Tat der Brüder Stauffenberg sowie, in anderer Weise, die Schriften von Partsch haben nicht an Wirkkraft verloren. So zitiert der Beschluss des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts am 26.10.2004 („Alteigentümer") in Abs. 104 den frühen Menschenrechtsaufsatz von Partsch (Anm. 43) zustimmend, mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen.
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Norbert von Hellingraths Hölderlin Norbert von Hellingrath zählt zu den Frühverstorbenen des George-Kreises. Sein Leben, seine wissenschaftliche Arbeit, die Hölderlin-Edition stehen weniger für die Sicherheit eines abgeklärten und ergebnisreichen Schaffens als unter dem Vorzeichen des Entdeckens, des Anfangs und der Möglichkeit einer von daher inspirierten Lebensgestaltung. Nicht Vollendung, aber etwas von der Aura des Frühvollendeten, an dessen Endlichkeit eine ganze Welt aufleuchtet, liegt darin. Hellingrath notiert einmal: „Ich habe immer die blüten am meisten geliebt die zu früh kommen und in deren ganzem wesen es liegt zu früh zu kommen" (HN). 1 Dem George-Kreis zugehörig hat seine Lebensgestalt keine entscheidende Prägung aus der persönlichen Begegnung mit dem Meister erfahren, ja von einem Meister-Jünger-Verhältnis kann trotz des Altersunterschiedes von zwanzig Jahren nicht gesprochen werden. Anders als Gundolf, Morwitz und Kommereil hat Hellingrath George nie länger begleitet, anders als bei Boehringer, Morwitz oder Thormaehlen gab es nicht Wochen der Kür oder nur des intensiven Zusammenseins. Selbst eine Einladung an George, wie sie Wenghöfer im Sommer 1907 ausgesprochen hat, um mit dem Meister die alten Städte Flanderns zu besuchen, wäre bei Hellingrath unvorstellbar. Der persönliche Kontakt blieb von seiner Seite her durch Scheu und Ungeschicklichkeit verstellt. Zu sehr fühlte er eine angeborene Schwere, die ihn nicht leicht aus sich herausfinden ließ und ihm der machtvollen Erscheinung Georges gegenüber die freie Begegnung und Hingabe versagte. Doch berichtet er Imma von Ehrenfels, seiner Verlobten, mehrfach, wie liebevoll ihm der Dichter begegnet sei und wie genau er sich zu seinen Entzifferungen später Hölderlin-Gedichte geäußert habe. In der einen scharfen Zurechtweisung, die Salin überliefert, 2 hat er - so ist einem weiteren Brief an die Verlobte zu entnehmen - auf dem eige-
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HN = Hellingrath-Nachlaß, im Besitz der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Der Beitrag zitiert aus Aufzeichnungen Hellingraths, seinen Briefen an Imma von Ehrenfels und seinem Briefwechsel mit Friedrich von der Leyen und Hermann Hergt. Einem Brief v. d. Leyens war ein Thesenpapier der Münchner Dozentenschaft zum ersten Jahrbuch für die geistige Bewegung (1910) beigelegt. Eingesehen wurden ferner die Tagebücher und das Studienbuch Hellingraths. Edgar Salin: Um Stefan George, 2.Aufl. München und Düsseldorf 1954, S. 18ff
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nen philologischen Urteil bestanden und sich von einer - bis in ihre Widerständigkeit erfahrenen - Zusammenschau Hölderlins und Georges auf höherer geschichtlicher Ebene nicht abbringen lassen. Daß ihn George trotz der habituell bedingten Distanz anerkannte und ehrte, spricht sich in seinem Gedicht an den am 14. Dezember 1916 vor Verdun Gefallenen aus. An Hand von Hellingraths Tagebüchern und Briefen lassen sich ein Dutzend Begegnungen nachweisen. Sechsmal kommen sie zwischen dem 26. November 1909 und dem 17. Februar 1910 im Hause des mit Hellingrath befreundeten Karl Wolfskehl zusammen. Jedesmal stehen die Hölderlin-Funde und besonders die Entdeckung der Pindarübertragungen im Mittelpunkt. Dabei liest Hellingrath dem Dichter aus den poetologischen Entwürfen Hölderlins vor. Außer einem weiteren Treffen Anfang 1912 wiederum bei Wolfskehl sind zwischen dem 18. Dezember 1913 und Mitte Mai 1914 vier weitere Begegnungen verbürgt. Sie fallen in Hellingraths Heidelberger Zeit und gelten dem vierten Band seiner Hölderlin-Ausgabe, in dem er die Spätdichtung - gleichsam unter den Augen Georges - zu einer in sich gültigen Werkstufe mit eigenem Wahrheitsanspruch zusammenfugt. Schließlich besucht George um den 20. Januar 1915 den beim Reiten in der Kaserne verunfallten Hellingrath zuhause in München-Sendling: „Am mittwoch war Karl [Wolfskehl]" - so Hellingrath an Imma von Ehrenfels - „zum thee erwartet, auf einmal [...] tritt hinter ihm George ins zimmer. war sehr lieb, hat mich viel geneckt, dann über Hölder[lin]" (HN). Weit umfassender, als diese auf den Zeitraum weniger Monate konzentrierten, in ihrer geschichtlichen Bedeutung kaum zu ermessenden Begegnungen ahnen lassen, ist die Präsenz der geistigen Welt, für die George steht und für die - sich wechselseitig fordernd und ergänzend - immer stärker Hölderlin eintreten wird. Bei Hellingrath erscheint an der Stelle des Vorbilds Welt und die in ihr waltenden Bezüge, der große Mensch wird aus seinem Fürsichsein um eine Nuance ver-rückt, damit sich an ihm zeigen kann, wofür er steht und dies an seiner höchsten Möglichkeit sichtbar wird. In seinem Verhältnis zu George spielen von daher Vergötzung einer Person, hierarchische Gefalle, Machtpolitik oder Strategien, den Kreis zu stabilisieren und das öffentliche Feld zu besetzen, keine oder eine nur sehr nachgeordnete Rolle. Das heißt nicht, Wirkung wäre verpönt und Auseinandersetzung würde gescheut, ganz im Gegenteil, wie sich zeigen wird, aber es geht um die zu erringende Welt, um den dafür zu wagenden Wettstreit, nicht um Positionskämpfe. Erst von da aus versteht sich das Glück, ,an einem mitlebenden menschen grosse zu erleben und sich davon getragen zu wissen' (HN). Diese Welt entspringt keinem Eskapismus, sie ist mehr auch als eine Gegenwelt. Sie manifestiert sich in ihrer geschichtlichen Dimension als Stiftung eines Lebenszusammenhangs mit lebensgeschichtlicher und epochaler Bedeutung. Die wenigen Begegnungen Hellingraths mit dem Meister sind vielleicht
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durch ihren geschichtlichen Gehalt wichtiger als manche allzu bekennerhafte lebenslange Treue. Daß bei dieser Begegnung ,nur' die Dichtung im Mittelpunkt steht, schmälert den geschichtlichen Sinn nicht. Vielmehr wäre erst zu lernen, wie Dichtung und Geschichte einander gehören. Holmannsthals ,vierter Brief an die amerikanische Zeitschrift The Dial (1923) hat exemplarisch vorgeführt, wie in den Jahren um den Ersten Weltkrieg die suchende Gestik der jungen Generation an Hölderlins Vision eines „alle Gewalten der Welt umfassenden und miteinander versöhnenden" Lebenszusammenhangs Anhalt fand. 3
2 Hellingraths Weg in die Wissenschaft läßt sich an Hand seines Studienbuches einigermaßen genau rekonstruieren. Er betritt die Münchner Universität zum Wintersemester 1906/07 und belegt von Anfang an germanistische Veranstaltungen bei Friedrich von der Leyen. Ab dem zweiten Semester kommt als weiterer Schwerpunkt die Altphilologie hinzu, die ihm von Otto Crusius nahegebracht wird. Er ist derjenige Münchner Universitätslehrer, den Hellingrath am meisten verehrte und dessen Votum 1910 erst die Annahme von Hellingraths Dissertation möglich machen wird. Wie das Studienbuch dokumentiert, besaß Hellingrath auch einen Sinn für die Naturwissenschaften und Psychologie, vor allem aber für philosophische Fragestellungen. Hier ist er mit der Münchner Phänomenologie in Berührung gekommen, einem Kreis junger Philosophen, darunter Alexander Pfänder und Moritz Geiger, die Schüler von Theodor Lipps waren und sich von Husserls Logischen Untersuchungen (1900/1901) nachhaltig angeregt wußten. Bei Lipps und Geiger hat Hellingrath selbst gehört. Zu den Münchner Phänomenologen stieß im Dezember 1906 Max Scheler, der fur Hellingrath schnell zu einer Leitfigur werden sollte und zu dem er bald in ein freundschaftliches Verhältnis trat. Scheler, der wohl erst mit Beginn seiner Münchner Jahre die Phänomenologie im Akademischen Psychologischen Verein kennengelernt hat, interessierte sich weniger für die streng durchgeführte „Zergliederung und Sonderung der Gegebenheiten", sondern verstand die Phänomenologie als „ausgebaute Methode der Intuition" und als „Erkenntnis allgemeiner Wesensgesetze, allgemein gültiger Strukturen" und ergänzte sie um den weltanschaulichen Hintergrund des Katholizismus. „Der Eindruck, den diese zugleich weltanschaulich und historisch orientierte Phänomenologie auf einen Kreis intellektuell gerichteter junger Leute machte", so Moritz Geiger, „war 3
Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen. Hrsg. von Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1959 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 305-315, hier S. 314.
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gewaltig."4 Daß Stefan George darin eine gewisse Konkurrenz erblickte, läßt sich einer Gesprächsaufzeichnung Edith Landmanns entnehmen.' Hellingrath hörte bei Scheler im Sommersemester 1907 vierstündig ,Geschichte der neuern Philosophie' und eine Übung zur Kritik der reinen Vernunft, ferner im Sommersemester 1909 die Vorlesung Grundlagen der Geschichtswissenschaft,6 wozu sich auch Aufzeichnungen Hellingraths erhalten haben. Wichtiger dürften die persönlichen Begegnungen gewesen sein. Hellingrath gab Märit Furtwängler, der Tochter des Archäologen, Privatstunden in Griechisch und das genau zu der Zeit, als sie sich mit Scheler verband. Als dieser im Frühjahr 1910 aufgrund privater Verwicklungen seine Münchner Dozentur verlor, hielt Hellingrath strikt zu dem von ihm verehrten Universitätslehrer und bekennt sich in einem Brief vom 7.5.1910 Friedrich von der Leyen gegenüber ausdrücklich als Freund Schelers. Noch im ,Curriculum Vitä' seiner Dissertation dankt er den Professoren und setzt in Parenthese: „nicht zulezt den unerwartet und schmerzlich der Universität entrissenen",7 womit nicht nur die Verstorbenen gemeint waren. In einem weiteren Brief an v. d. Leyen hatte er mit skeptischem Blick auf die eigene Zukunft und die Rolle eines vielleicht nur reproduzierenden Literarhistorikers geschrieben: „so glaube ich hier wieder einen der vielen falle zu sehen wo eigenschaften die mit den produktiven eigenschaften des betreffenden unlösbar verwickelt sind den mehr oder minder perniciösen conflict mit der gesellschaft bewirken" (HN). Was zwischen Scheler und Hellingrath gesprochen wurde, läßt sich schwer sagen, hat Scheler seine eigenen phänomenologischen Arbeiten doch erst nach seinem Weggang aus München verfaßt, auch wenn er vorher schon vieles mündlich dargelegt haben wird. Aufhorchen läßt eine 1911 begonnene umfangreiche, erst aus dem Nachlaß herausgegebene Arbeit über Vorbilder und Führer.8 Scheler unterscheidet darin zwischen dem herrschaftsbezogenen Führer und dem eher machtfernen Vorbild, dessen seelengestaltende Kraft er herausarbeitet - eine Antwort sicher auch auf Wolters Herrschaft und Dienst (1909) und Gundolfs Gefolgschaft undJüngertum (1909). Aber auch Schelers Definition des Erkennens als „liebesbestimmter Actus der Teilnahme des Kerns einer endlichen Menschenperson am Wesenhaften aller möglichen Din-
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Zitiert nach Wilhelm Mader: Max Scheler, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 36. Zur Münchner Phänomenologie vgl. die Arbeiten von Eberhard Ave-Lallemant, etwa die Einleitung zu seinem Verzeichnis: Die Nachlässe der Münchener Phänomenologen in der Bayerischen Staatsbibliothek. Wiesbaden 1975, S. IX-XVII; ferner ders.: Schelers Phänomenbegriff und die Idee der phänomenologischen Erfahrung. In: Neuere Entwicklungen des Phänomenbegriffs. Hrsg. von Ernst Wolfgang Orth, Freiburg und München 1980, S. 90-123.
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Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 110. Vgl. Max Scheler: Schriften aus dem Nachlaß. Bd. IV, Bonn 1990, S. 167-238. Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin, Jena 1911, S. 84. Vgl. Max Scheler: Schriften aus dem Nachlaß. Bd. 1, Berlin 1933, S. 149-224.
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ge"9 dürfte Hellingrath schon bekannt gewesen sein. Scheler sieht in der das eigene Sein transzendierenden Teilnahme die Voraussetzung für alle reflexiven Bewußtseinsakte, die sich wiederum auf Teilhabe hin öffnen müssen. Der daraus hervorgehende Kosmos, den Scheler später als ,ordo amoris', als Wechsel von Werten und wertnehmenden Handlungen oder auch als Rangordnung von Vorbildern bestimmt, ist nicht so weit von Georges - ein Wort aus Hölderlins Hyperion aufgreifender - dichterischer Maxime entfernt: „Liebe / Gebar die Welt, Liebe gebiert sie neu".10 Es ist ein Wechsel- und Widerspiel von Geiststruktur und Weltstruktur, woran Mensch und Epoche ihr Profil gewinnen. Die Gültigkeit der einzelnen Wertschöpfungen hat Scheler später auf Sphären, etwa eine Lebens- oder Glaubensgemeinschaft, eingegrenzt. Daß Scheler auf diesem Hintergrund eine Philosophie der Wissensformen entwirft und eine Kritik der nur Sachverhalte konstruierenden Wissenschaft vornimmt, sei wenigstens erwähnt. Als Gustav Hübener, ein der Phänomenologie nahestehender Studienkollege Hellingraths, Scheler 1912 in Göttingen erlebt, schreibt er an Hellingrath: „Sie wissen ja wie unglaublich viel er schaut und können begreifen, dass einem durch ihn die Welt viel reicher wurde. Mir war eigen ihn nun in ganzer Grösse zu erleben, von dem sie mir viel erzählt hatten, was ich nun alles durchaus begriff'. 11 Parallel zu seinem Universitätsstudium ist Hellingrath durch die Schule Ludwig Klages' gegangen, der in dem um 1905 von ihm gegründeten ,Psychodiagnostischen Seminar' in München graphologische, charakterologische und philosophisch-weltanschauliche Veranstaltungen abhielt. Diese haben damals neben anderen auch Ernst Bertram und Ernst Glöckner, Karl Jaspers und Walter F. Otto besucht.12 Durch Klages' Werk geht ebenfalls ein phänomenologischer Grundzug, der in der Abhebung einer Erscheinungswelt von einer Sachwelt gipfelt und sich kritisch zur akademischen Phänomenologie stellt. Hellingrath, der bald „in eine enge persönliche Verbindung" mit Klages trat,13 die sich neben der Hinwendung zu Stefan George bis in Hellingraths Heidelberger Aufenthalt (1914) hinein erhielt, interessierte sich weniger für die weltanschauliche Konstruktion Klages', die später zu dem provokanten Titel Der Geist als Widersacher der Seele (1929-1932) führte, als für seine ausdruckskundlichen Forschungen und Einsichten. Hellingrath war darin so bewandert, daß er 1912 Klages' Probleme der Graphologie. Entwurf einer Psychodiagnostik (1910) im Archiv für die gesamte Psychologie rezensieren 9 10 11
Zitiert nach Mader: Scheler (Anm. 4), S. 51. GA IX 17 bzw. SW IX 14. Bruno Pieger: Unbekanntes aus dem Nachlaß Norbert von Hellingraths. In: JDSG 36 (1992), S. 3-38, hier S. 27. 12 Vgl. Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Zweiter Teil, Bonn 1972, S. 427. 13 Vgl. ebd., ferner Hellingraths Tagebücher und seinen Briefwechsel mit Klages. der im HN bzw. im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegt.
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konnte. Dezidiert ablehnend äußert er sich zu der darin vertretenen Theorie der Hysterie, die als Überspielen innerer Erlebnisarmut gefaßt war und von Klages schon seit etwa 1904 als pseudowissenschaftliches Argument für Antisemitismus und George-Feindschaft benutzt wurde. Aber Klages war trotz aller Entgleisungen ein Meister der Sprache, der mit einem besonderen Sensorium für das in den Worten Aufbewahrte ausgestattet war und die ,Methode des Wörtlichnehmens der Namen' für Philosophie und Seelenkunde fruchtbar machte. Damit verband sich ein Sinn für das Dichterische, über dessen spezifische Art schon sein George-Buch (1903) Auskunft gibt. Er hat sich zu Hölderlin geäußert, der ihm „unter deutschen Dichtern [...] das seherische Pathos am stärksten" zu treffen 14 und durch eine besondere ,Ätherverwandtschaft' ausgezeichnet schien. Das alles mußte Hellingrath angehen, aber auch eine gehörige Antwort herausfordern. Wir verschmähen den Nachweis, dass alle lebendige Kunst religiös ist, aber wir fügen hinzu: das Leben selbst ist religiös [...]. Der tief Gläubige lebt Umlauf der Gestirne, Schimmerfeuchte der Augen. Er nur -weiss um den Sinn des Geschehens. [...] [Georges] Dichtungen sind die sprachlich-bildnerische Verwirklichung eines religiös gestimmten Grundzustandes, der die Jahreszeiten, Schicksale, Tiefen seines vielspältigen und gebirgigen Charakters durchschreitet. [...] Dichterische Sprache ist das natürliche Ausdrucksmittel religiösen Menschentums,
so Klages in seinem George-Buch15 - Formulierungen, die Hellingrath aufgreifen und von Hölderlin her auf ein anderes Niveau heben wird. Für Klages ist das Maß der Teilhabe am Rhythmus des kosmischen Lebens ausschlaggebend für ,Formgehalt' und ,Formniveau' in Dichtung und Kunst, aber auch in Handwerk und gesellschaftlichem Verkehr, in Sitte und Brauch. Sprache, d. h. die Worte geben ,Fingerzeige' für diesen allem Begrifflichen vorausliegenden universalen Zusammenhang und bergen die Bedeutung erscheinender Charaktere und empfangener Anschauungsbilder. 16 Entsprechend rezipiert Klages fast ausschließlich den Hölderlin der Hyperion-Stufe, auf den er schon im GeorgeBuch am Übergang vom allgemeinen Teil zu den Werkinterpretationen hinweist 17 und aus dem er 1917 Sätze anführt, um die , Schranken des Goetheschen Menschen' zu kennzeichnen. 18 Es fasziniert ihn Hyperions Vermählung mit den Elementen und wie dieser am „Eintritt in die wahre Wirklichkeit' ,verblutet'. So kann Klages den von Hölderlin gestalteten Sturz des Empedokles in den Ätna gelten lassen, „wo, wieder entledigt der Gesetze des Geistes 14 Ludwig Klages: Rhythmen und Runen, Leipzig 1944, S. 376. Das Zitat ist dem Hestia-Entwurf von 1903 entnommen. 15 Ludwig Klages: Stefan George, Berlin 1902, S. 12ff. 16 Vgl. Ludwig Klages: Die Sprache als Quell der Seelenkunde, Zürich 1948, S. 27. 17 Klages (Anm. 15), S. 24. 18 Ludwig Klages: Mensch und Erde, München 1920, S. 107ff.
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und nurmehr von ihrem ,Dämon' getrieben, die Seele dem Rufe der kosmischen Mächte folgt". 19 Bei Klages findet sich dagegen keine wirkliche Anerkennung, kein entscheidendes Beeinflußtsein durch die von Hellingrath entdeckte Spätdichtung Hölderlins. Im Dankesbrief für den , Sonderdruck' aus dem vierten Band (Juni 1914) heißt es denn auch, es werde sich „bei so mancher dichterisch schwächeren zweiten und dritten Fassung [...] immer darüber streiten lassen, ob sie nicht besser in ihrem Dunkel verblieben wäre". Hellingrath antwortete darauf ziemlich knapp: „Meine Hauptfreude in dem band ist immer wieder S. 134, S. 151166, S. 238-246 wo doch von spätzeit niedergang und abschwächen keine rede sein kann". 20 Gemeint sind die Ode Rousseau, die Hymnen Wie wenn am Feiertage, Der Mutter Erde, Am Quell der Donau, Versöhnender, der du nimmer geglaubt (die Vorstufe zur damals noch nicht bekannten Friedensfeier) und einige ,Entwürfe und Bruchstücke'. Klages widersetzt sich einem gewissen an der Sprache der Spätdichtung hervortretenden Abstraktionsvorgang, der sich etwa an den verschiedenen Fassungen der Nachtgesänge studieren läßt und bezeichnenderweise mit einer starken Versinnlichung der Sprache Hand in Hand geht. Genau hier wird Hellingraths Überwindung von Klages' Wirklichkeitserfahrung einsetzen. Hellingrath teilt mit Klages die Auffassung, daß Gedanke und Wort nicht voneinander geschieden werden dürfen. Er weiß sich mit ihm eins in der Kritik einer nur begrifflichen Sprache, und doch ist ihm Sprache nicht einfach magisches Medium für das Erscheinen beseelter Wirklichkeit, „Ausdruck erlebter Bilder im Medium menschlicher Laute oder lautliche Darstellung von Bildcharakteren" - so die Formulierungen im Widersacher -, 2 1 sondern von geistigerem Rang, an dem sich das offenbarende, erneuende und prägende Wesen der Sprache kundtut. Zwar kennt auch Klages „die hervorrufende und verwandelnde Kraft des Wortes", 22 wie sie vor allem den Namen und dem Nennen eigen ist. Doch liegt darin mehr, als daß Sprache über rhythmische Ähnlichkeit ein aufbewahrender, wieder-holender und fortpflanzender Spiegel der Erscheinungscharaktere wäre. Schon 1907 bemerkt Hellingrath einmal: „mythisches denken bedeutet einen höheren Grad an ,abstraktion' als ,abstraktes' denken" (HN). Für Hellingrath lichten sich die hier in Frage stehenden Verhältnisse erst, als er 1911 während seines Pariser Aufenthalts die Vorlesungen Henri Bergsons besucht. Dabei interessieren ihn weniger die lebensphilosophischen Kategorien wie ,elan vital' oder ,duree' und schwerlich hätte er jenem Satz aus Involution creatrice zugestimmt, mit dem Bergson die Überwindung der
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Ebd. S. 106, S. 108u. S. 114. Pieger (Anm. 11), S. 33f. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele. 3. Band, Leipzig 1932, S. 1146 Ebd. S. 1148.
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menschlichen Endlichkeit in Aussicht stellte und der George so sehr empörte.2' Aber Hellingrath faszinierten neben Bergsons Vortragskunst die Reflexionen zur Sprache, die der ursprünglich als Professor für griechische und lateinische Philosophie ans College de France Berufene damals exkursartig vorgestellt hat. Hellingrath berichtet davon in Briefen an seinen Kommilitonen Hermann Hergt, der zur selben Zeit ein Dissertationsprojekt zum Thema Der Vergleich bei Piaton konzipiert. Dafür scheint es nun Hellingrath unerläßlich, zwischen einer „abstraction durch begrifflichkeit" und einer „abstraction durch das bild" zu unterscheiden. Begriffe sind für Hellingrath abstrakt, sofern sie erst im Reich der Definitionen und d. h. fern der Worte und der Phänomene existieren, aber mit dem Anspruch, den ganzen Gegenstand oder Sachverhalt zu erfassen. Die Abstraktion oder auch der Logos der Bildlichkeit ist von anderer Art. Bildhafte Worte geben von dem Begegnenden „nur einen teil nur eine seite ein bezeichnendes", sie abstrahieren von seinem konkreten Vorhandensein, um an ihm etwas „für lebendige anschauung daran auffalliges merkwürdiges" zu gewinnen. Hellingrath zieht die Parallele zur Malerei, wo „schlechte maier gegenstände malen gute nur etwas von den gegenständen eben das den maier angehende". Begriff und bildhaftes Wort stünden wie Photographie und „die in ein paar strichen die seele fangende meisterskizze" zur Wirklichkeit. Das bildhaft Gegebene bleibe an eine rhythmisch notwendige Wortfolge gebunden, während sich der Begriff davon löse und über die Wirklichkeit erhebe. Die Griechen fanden sich durch die verschlungene Anordnung ihrer Perioden, weil ihnen die Flexionsendungen ihrer Sprache Anhalt für das Fort- und Zusammentönen mehrerer im Hören aufgenommener Worte boten. So wurden sie vom Wort und seiner bindenden Macht ergriffen. Die heutigen Leser dagegen würden das Wort vernachlässigen und gleich den Gedanken, den Sinn, den Begriff, die Kategorie suchen und allein diese behalten, so daß eine gestaltlose Vernunft' das ,lebendige' überwuchere. Piatons Mythen stünden zwischen beiden Extremen. Oft werde von ihm ein Mythos erfunden, um einen begrifflich bereits erfaßten Sachverhalt zu illustrieren. Denkt er aber auf dieser Vergleichsebene weiter, kann es vorkommen - wie etwa beim Mythos vom Seelenwagen im
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Vgl. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Übersetzt von Gertrud Kantorowicz, Jena 1912, S. 275: „die gesamte Menschheit in Raum und Zeit wird zum ungeheueren, neben jedem von uns galoppierenden Heere; vor uns und hinter uns in hinreissendem Vorstoss, fähig alle Hindernisse zu überreiten, und die grössten Widerstände zu überwinden - vielleicht selbst den Tod." - Georges Kritik überliefert Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 72: „Das sei übersteigerter Fortschritt, vor dem also auch Bergson nicht schütze." Vgl. auch E. Landmann (Anm. 5), S. 200, ferner ebd. S. 35: „Bergsons ,Werden' sei ihm verdachtig, weil er nicht den Augenblick im antiken Sinne verstehe, keine Unterschiede mache und das Werden als einen gleichmässigen Fluss betrachte." - Deutlicher kann die Abgrenzung von allen fortschrittsgläubigen bzw. einseitig vitalistischen Spielarten des Bergsonismus nicht ausfallen.
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Phaidros „dass im verlaufe das bild die leitung übernimmt, die willkür wegstösst, organisch mit dem Sachverhalt verschmilzt mythus wird", „mythisches denken" - ein Wort, das in der Vorrede zum vierten Band der HölderlinAusgabe wiederkehrt - zeichnet für Hellingrath den wahren Künstler aus: wo ein künstler denkt, das ist wo neues bisher unsagbares gesagt oder seit je gekanntes neu gesagt wird, wo das denken auf das leben hinüberwirken soll [...], da herrscht das wort da wird mythisch gedacht da ist die spräche wieder flüssig die worte bildhaft und unbestimmt, oder besser, nicht begrifflich und gegenständlich sondern irgend wie organisch und rhythmisch bestimmt und bereit neue deutungen und prägungen zu empfangen (HN).24 Damit dokumentieren die zitierten Briefe in bedeutsamer Weise den Übergang von einem lebensphilosophisch fundierten Sprachverständnis zu einem sich der Sprache subordinierenden Weltverhältnis, bei dem der Mensch als Hörender von der Sprache ergriffen wird und erst unter dieser Vorgabe selbst angemessen zu sprechen vermag. Anders als bei Klages löst sich für Hellingrath Sprache vom nur Elementaren, wird beweglicher, anfanglicher, eröffnender, befreiender und zugleich machtvoller, prangender, ergreifender, bindender. Hellingrath nähert sich hierin George, der gegenüber Edith Landmann im Blick auf Hölderlin feststellt, „dass Dichtung nicht Erlebnisausdruck ist, sondern Spracherlebnis" und auch von daher „bei Hölderlin die Ursprünge liegen". 25 Genauso entstehen daraus für die Sprache im Bereich der Wissenschaft Konsequenzen. In Paris hatte Hellingrath Bergson die Metapher in der Philosophie verteidigen hören. Nur so könne etwas wirklich Neues, nicht nur durch Differenzierung Neues gesagt werden, anders als mit Begriffen, „die sich aus dem schon vorhandnen zusammensetzen" (an H. Hergt, HN). Bergson, der Feinsinnigste aller Lebensphilosophen und weit entfernt vom nur Rauschhaften, weist damit in den Bereich, wo sich das Verhältnis von Dichtung und Wissenschaft zu lichten vermag. Er fragt nach der Art und Weise, wie Sprache zum Sprechen gebracht wird, und zeigt auf die Tatsache, daß lebendige Wissenschaft selbst auf das poetische Potential der Sprache angewiesen bleibt. Auf sein eigenes wissenschaftliches Tun bezogen notiert Hellingrath zurück- und vorausblickend am 11. Juli 1915: „aber ich will nicht erkenntnis nicht Wissenschaft [im überkommenen Sinn], ich will mit der kraft die ich habe ein bild aufrufen das schwindende sich entziehende greifen wie ichs dann kann, stelle mich mehr unter die unreinem gesetze des handelns des tuns als des reinen ordnenden erkennens" (HN).
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Einer der zentralen Pariser Briefe Hellingraths an Hermann Hergt auch bei Pieger (Anm. 11), S. 19ff. E. Landmann (Anm. 5), S. 87.
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3 Als Hellingrath im Frühjahr 1910 mit der Arbeit an der Dissertation zu den Pindarübertragungen von Hölderlin in die entscheidende Phase seiner wissenschaftlichen Ausbildung trat, war eben das erste Jahrbuch für die geistige Bewegung erschienen. Die darin vorgetragene Wissenschafts- und Fortschrittskritik und die damit einhergehenden Selbstverständigungen und Gegenentwürfe des Kreises forderten nicht nur durch Kurt Hildebrandts Angriff auf Wilamowitz Reaktionen der institutionalisierten Wissenschaft heraus. Auch an der Münchner Universität wurde das Jahrbuch diskutiert. Friedrich v. d. Leyen sah sich genötigt, seinem davon infizierten Doktoranden Hellingrath einige Gegenthesen zu dieser Art von geistiger Bewegung vorzulegen. Mit Brief vom 1.5.1910 überreicht er ihm ein entsprechendes Thesenpapier. Es wird nicht direkt aus der germanistischen Mittwochsgesellschaft hervorgegangen sein, in der v. d. Leyen seit 1907 jüngere Dozenten und Vertreter der germanistischen Philologie um sich scharte und an der auch Hellingrath teilnahm. Eher dürfte es sich um einen exklusiveren Kreis besorgter Hochschullehrer gehandelt haben, der sich bewußt nicht zu erkennen gab, aber einer Gefährdung des von ihnen gepflegten Wissenschaftsideals entgegenwirken wollte. Immerhin hat v. d. Leyen rückblickend bekannt, ursprünglich selbst zur Mitarbeit am Jahrbuch eingeladen gewesen zu sein, aber wegen der Fixierung der Publikation auf George abgelehnt zu haben. So war es über dem Jahrbuch zwischen v. d. Leyen und Gundolf zum Bruch gekommen. Zu berücksichtigen ist auch, daß v. d. Leyen selbst unter erheblichem Druck stand, nachdem seine 1907 veröffentlichte Einführung in das Gothische von einem etablierten Fachkollegen vernichtend rezensiert worden war.26 Auch Einflüsse der Münchner Phänomenologie lassen sich ausmachen, wenn etwa dieses Wissenschaftsideal antirationalistisch als „schauende erfassung des gegebenen" formuliert wird. Überhaupt wird man den Thesen gegen das Jahrbuch nicht leicht etwas entgegenhalten können. Auf den ersten Blick erscheinen Hellingraths Anmerkungen dazu wie eine schlechte Polemik, die das Niveau der Thesen keineswegs erreicht. Diese versuchen eine Idee von Wissenschaft zu skizzieren, welche die Beiträger des Jahrbuchs nicht zu kennen scheinen. Sie setzten sich nämlich mit einer defizitären Form der Wissenschaft auseinander, die nur das Ordnen des Wissens betreibt, und mäßen fälschlicherweise deren fragwürdige Vertreter an den höchsten Repräsentanten und Erscheinungen der Kunst. Nicht um Ordnung des Stoffes, nicht um Funktionen und Relationen von Oberflächenerscheinungen gehe es und nicht um ihre Erfassung in einem System der Erklärung, sondern um „die reine schau" des Gegebenen in Anerkennung seiner
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Vgl. Friedrich von der Leyen: Leben und Freiheit der Hochschule. Erinnerungen, Köln 1960, S. 107ff.
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Zugehörigkeit zu dem ihm originären Seinsbereich. Solchem auf ein Ursprunghaftes, Absolutes, Allgemeines, Überpersönliches ausgerichteten und darüber Wert setzenden Wissenschaftsideal hätten sich damals - auch wenn sie auf ganz unterschiedlichen Wegen dahin gelangen - weder eine von Kant herkommende Erkenntnistheorie noch das in der Strukturbildung des Lebens gründende Verstehen Diltheys und erst recht nicht die phänomenologische Eidetik Husserls versagt.27 Dabei betonen die Thesen Differenz, Verflochtenheit und Ebenbürtigkeit der Seinsbereiche, die vielleicht der Historiker am ehesten zu integrieren vermag, ohne sich deshalb überheben zu dürfen. Sie scheiden ihr Wissenschaftsideal von einer auf Kenntnisse ausgehenden Bildung und bezeugen der Arbeit früherer Generationen Respekt. Insbesondere die Leistungen des 19. Jahrhunderts werden dankbar verzeichnet. Demgegenüber erscheint der Angriff des Jahrbuchs schematisch, dünn und trivial, wie eine Ausgeburt bloßen Literatentums, das von den Thesen entschieden gebrandmarkt wird. ,Leben nicht anders als literarisch fassen zu können' und ,allein den Dichter als Träger des Lebens zu sehen' wird zum Hauptvorwurf der Münchner Dozenten. Es sei in der Konsequenz so „verheerend" wie „staatliche Omnipotenz oder durchtränkung mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen" (HN, Kleinschreibung in der Abschrift Hellingraths). Der Vorwurf der Literarisierung, den George selbst gegenüber der zeitgenössischen Literatur und dem Feuilleton erhoben hat und dem er sein eigenes Anliegen völlig zu entziehen suchte, erweist sich freilich als diejenige Überhebung der Thesenschreiber, an der ihre Auffassungen zum Scheitern kommen. Innerhalb der Thesen beißt sich der genannte Vorwurf mit der ebenso ausgesprochenen Kritik, höchste Kunst mit schlechter Wissenschaft zu vergleichen. Statt Literarisierung führt Hellingrath in dem nun einsetzenden Briefwechsel mit v. d. Leyen den Ernst des Lebens an, dessen Faktizität sich nicht durch allgemeine Aussagen - via Idee, Kategorie, Ideal - einklammern läßt. Von hier aus gelingt es Hellingrath, wie sich an diesen Briefen und der zeitgleich entstehenden Hölderlin-Dissertation zeigen läßt, das Thesenpapier der Dozentenschaft in vierfacher Wendung hinter sich zu lassen und nun seinerseits die Schwerpunkte neu zu verteilen. Stefan George und der Kreis haben sich darin wiedererkannt und bezogen daraus Anregung. Als erstes wendet Hellingrath die Diskussion ums Jahrbuch ins Persönliche. Sein Briefpartner, also von der Leyen, habe ihm dazu die Erlaubnis gegeben, indem er selbst bei aller Kritik sehr persönlich geschrieben habe. Ihrer beider „briefwechsel wird keine objective und absolute Wahrheit feststellen", aber er könne die persönlichen Bezüge, quasi die personal verankerte ,ordo amoris', um mit Scheler zu sprechen, „klar und sauber machen" und so zu echter Verständigung beitragen (HN). Wie wichtig Hellingrath diese Ebene ist, 27
Vgl. Arnold Metzger: Phänomenologie und Metaphysik, Pfullingen 1966 (Erstausgabe 1933).
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zeigt sich auch daran, daß er das Jahrbuch zu einer „editio minor" zusammenstreicht. Die Beiträge von Wolters und Vallentin läßt er beiseite, weil er deren persönliche Integrität zu diesem Zeitpunkt noch nicht einzuschätzen weiß. Ins Grundsätzliche führend heißt es dann in den Prolegomena zu den Pindarübertragungen, Hölderlin habe von früher Jugend an, aus natürlichem Verlangen heraus, „das persönliche Verhältnis zu den dingen erfasst" und sie in der Zeit des Reifens immer mehr von Konvention und Fremdem befreit und in eigene Form gegossen. Zu den Griechen sei er in persönlichem Verhältnis' gestanden. Es war „ein erfassen von leben zu leben". Er wurde „hingerissen vom genius der Alten". 28 Eine Aufzeichnung Hellingraths findet für die Wendung ins Persönliche die Worte: „Wir sind gewohnt unsre denk kategorien als das primäre zu erleben, und daher ist uns immer wo die dinge uns zu primärem erfassen ihrer selbst zwingen schmelzendes wunder" (HN). Der Vorrang des Persönlichen ist nun keineswegs mit etwas Ichhaftem oder Subjektivem zu verwechseln. Mit ihm wird zum zweiten eine Wendung ins Überpersönliche vollzogen. An diese reichen weder bloßes Einfühlungsvermögen noch - wie die Verfasser der Thesen vorgeben - kategorial oder geschichtsphilosophisch gewonnene und sich jeweils historisch konkretisierende objektive Bildungen wie Religion, Wissenschaft, Staat. Hellingrath nennt es gegenüber v. d. Leyen ein ,ausser-sich-setzen' dessen, wofür einer zu stehen sich genötigt fühlt und worüber das Persönliche den Charakter des NurPersönlichen und Privaten und damit alles ,anmaszliche, pfuscherische' verliert. Hellingrath formuliert noch genauer und sagt, „dass der aus religiösem bewusstsein redende", also der in einem religiösen Verhältnis zur Welt Stehende, „seine meinung", d. h. sein Vernehmen der Dinge, „als göttlich ausser sich sezt" (HN). Was in den Briefen an v. d. Leyen mehr wie ein Bekenntnis klingt, ,dass alle tiefern kräfte und alles eigentliche interesse in ihm dem religiösen gelte', vermag Hellingrath in seiner Dissertation von Hölderlin her weiter zu erhellen. Er liest dessen poetologische Aufsätze als Versuch, das eigene Erleben über sich selbst hinauszufuhren und als „gesetzlich und notwendig" zu erfassen. 29 Es ist zugleich die Frage, wie sich der Dichter gültig zur Welt verhalten kann. Hölderlin sagt im Grund zum Empedokles: um etwas ,verstehen' und ,beleben' zu können, müssen wir „das eigene Gemüth und die eigene Erfahrung in einen fremden analogischen Stoff übertragen". Der Dichter muß seine „Totalempfindung" in „fremde Personalität, in fremde Objectivität" transformieren, wenn sein Werk Wahrheit beanspruchen will. 30 Erst wenn das Eigene in dieser Weise aus sich herausgesetzt wird, kann es als Welt begegnen und als 28 29 30
Hellingrath (Anm. 7), S. 27ff. Ebd. S. 39. Friedrich Hölderlin: Samtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Michael Knaupp, Bd. I, München und Wien 1992, S. 866f.
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gültig erfahren werden. Dies ist keine Projektion, sondern weist in grundlegende Austauschverhältnisse und - um es mit einem Wort Stefan Georges zu sagen - in „das geheimnis des Übergangs"...31 Jeder kann das für sich überprüfen. Schon die Anerkennung eines mitgeteilten Erlebnisses durch einen Gesprächspartner wirkt befreiend. Das Erlebte verliert von seinem Schrecken oder wächst in seinem Glück, wenn es nicht länger als Ausbund meines Befindens, sondern als zur Welt gehörig erkannt ist. Diese Bestätigung potenziert sich, wenn ich das Eigene im Schicksal meiner Generation, im Leben eines bedeutenden Menschen, an einer geschichtlichen Gestalt oder in der Darstellungsform eines Kunstwerks wiedererkenne. Genauso kann es mir widerfahren, daß von diesen Objektivationen her mein eigenes Fühlen und Denken betroffen und auf ein neues Niveau gehoben wird. Es läßt sich erahnen, wie daraus die Kohärenz der Welt gewoben ist und sich das geschichtlich Bedeutsame fortpflanzt. So wie sich Hölderlin in die Empedokles-Gestalt hineinträgt und von ihr her sein Schicksal gegründet sieht, so versucht Hellingrath an Hölderlin sein Dasein zu erringen, braucht George Hölderlin, um sich der eigenen Welterfahrung zu vergewissern. Im höchsten Moment geschieht Unerwartetes. Von keinem Willkürakt herbeizuzwingen, kann einen Augenblick lang, wenn ich mit mir ganz bei anderem bin, etwas aufleuchten, dessen unverfügbare Präsenz und Leben verbürgende Gestalt so stark sprechen, daß es mir als göttlich erscheint und Mensch und Natur ihr Gottesantlitz offenbaren. Sich aus sich heraus setzen und in ein Gegenüber tragen, um Welt zu empfangen, diese zentrale, nicht nur für seine Poetologie grundlegende Einsicht Hölderlins wird - vermittelt durch Hellingrath - von Friedrich Wolters leitmotivisch in seinem Geschichtswerk Stefan George und die Blätter für die Kunst mitgeführt. Veranschlagt man die intensive Beteiligung Georges an diesem Buch, wird man ermessen, wie sehr dieser Gedanke in die Mitte von Georges Selbstverständnis und Welterfahrung und ihre dichterische Ausgestaltung führt. Wolters litt darunter, daß man die Vielschichtigkeit seines Buches und die darin gegebene Neugründung sachlicher Probleme nicht sehen wollte.32 Hölderlin wird darin über 50 Mal erwähnt und herangezogen, darunter die ausführliche Würdigung des ,Ahnen'. Gerade poetologische Fragen und Hand in Hand damit — entscheidende Wirklichkeitserfahrungen werden hölderlinnah verhandelt. Schon im Zusammenhang mit Georges Algabal heißt es unter Hervorhebung der „bisher nur von Hölderlin vertretenen Ansicht", daß ,eine Dichtart entstehen musste', „in der das unmittelbare Erlebnis der Seele, ihr Sinnlich-Stoffliches wie Geistig-Besonderes, ganz zurücktrat, in der die Person des Dichters ganz in den Geschöpfen seiner Schöpfung aufging, der
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GA XVII 87 bzw. SW XVII 70. Vgl. Salin (Anm. 2), S. 154f.
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Zeigende nur in seinem Zeichen erschien".31 In der Folge wird die Begegnung mit Maximin, diese „Aufhebung des Solipsismus der Seele", dieses Welt verwandelnde Ereignis durch wechselseitige Ergänzung, unter entsprechendem Vorzeichen gedeutet/ 4 Hölderlin aber, den Wolters als „einen der ihren" begrüßt, nicht „Gegenstand der Forschung sondern einer begeisterten Liebe", habe mit seiner Weltschau erst „die ganze aufblühende Wirklichkeit" Stefan Georges als in sich gerundete Sphäre erscheinen lassen und „ihr lebendiges Wachstum" bestätigt. Durch die „Spiegelung" der Wahrnehmungsweisen habe die hervortretende Welt ihr irdisches Gewicht gewonnen und das „EinmaligFurchtbare" verloren.35 „Ich glaube mit Hölderlin, eine innere Welt, die mindestens zwei Menschen gemeinsam wird, hat ein ganz neues, irgendwie von beiden unabhängiges Dasein in der Zeit erlangt, während ihr, solange sie nur einem gehört, gar nichts vom Dasein innewohnt".36 Mit dem letzten Satz zitiert Wolters Hellingraths Hölderlin-Vorträge vom Februar 1915, deren Grundgedanken Hellingrath bereits Jahre zuvor in einem Brief an Imma von Ehrenfels und in der Dissertation ausgebreitet hatte/ 7 Mit dem Hervortreten zwiefach gehaltener Welt ist nun - dies die dritte Leistung Hellingraths in Abhebung von den Verfassern der Thesen - eine strikte Wendung in die Zeit und zur Geschichtlichkeit des Daseins verbunden. Nicht einfach der Seinsbereich geschichtlichen Lebens steht Hellingrath vor Augen, den Wissenschaft zu klären, zu erforschen und darzustellen weiß, sondern ein daseinsmäßiger Bezug zu dem, was die eigene Zeit fordert. Er möchte sich dem „pandamätor chronos", dem Allbändiger Zeit, unterstellen, denn „dem brennenden der lebenden zeit gegenüber", schreibt er unmißverständlich an v. d. Leyen, „darf man nicht historiker sein" (HN). Hellingraths Hölderlin, ebenso sein Georgeverständnis, steht für den handelnden, vollbringenden Vollzug des geschichtlich Notwendigen und epochal Geforderten. Darin - das spricht er immer wieder aus - ist ihm die geistige Bewegung, „an sich" und soweit sie sich im Jahrbuch manifestiert, Vorbild und Vorreiter zugleich. Der von George und seinem Kreis initiierte Aufbruch habe Vorrang, weil er allein in das religiöse Leben der Zeit eingreifen könne - durch Hingabe. Auch wenn er nicht wisse, wie sich das ausgestalten wird und wie weit die Kraft reicht, wird es „doch den wenigen die es ergreift viel gewesen sein". Jede rein historisierende, intellektualisierende und ästhetisierende Position wird zurückgewiesen: „Sie alle wollen die sache nicht so ernst nehmen nicht
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Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter fiir die Kunst, Berlin 1930, S. 37. Ebd. S. 347 u. S. 313ff. Ebd. S. 420ff. Ebd. S. 426. Vgl. Norbert von Hellingrath: Hölderlin. Zwei Vorträge, München 1921, S. 54; dazu Bruno Pieger: „Uns Erstgebornen der jungen Zeit". Norbert von Hellingrath in seinen Briefen an Imma von Ehrenfels. In: CP 53 (2003) Η. 256-257, S. 60-83.
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über literarisches gebiet hinaus tragen", heißt es im selben Brief. Entsprechend sieht die Dissertation Hölderlin von der „grundform des Empedokleischen schicksals" aus „in einer ganz eigenen und tiefen beziehung [...] zum geist und schicksal seiner zeit": „er war sich bewusst das leiden der zeit am tiefsten gefühlt und gelitten zu haben und glaubte nur ein solcher sei zur rettung berufen".38 Die Hingabe an die Zeit ist frei von Agitation und weltanschaulichem Kampf und fuhrt über die von Nietzsche prognostizierten Auseinandersetzungen zwischen den Ideologien hinaus. Hellingrath formuliert mit Hölderlin den Gedanken der ,grossen Versöhnung', den er in der Spätdichtung beispielhaft mit der Elegie Brod und Wein und ihrem Ausgleich zwischen Tag und Nacht, Antike und Christentum, geschichtlichem Interregnum und erfülltem Göttertag verwirklicht sieht. Damit korrespondiert der von Hölderlin im Aufsatz Über Religion vorgetragene Gedanke der Sphäre, der die wechselseitige Anerkennung unterschiedener, in sich zentrierter Lebenskreise vorsieht, die sich darüber unter Erhalt des Eigenen zu einer umfassenden, aus gemeinsamer Mitte hervorgehenden Sphäre vereinigen können. Mit der Wendung zur Sprache - so der vierte Schritt - vollzieht Hellingrath die endgültige Abkehr vom Münchner Thesenpapier, ohne daß damit eine im engeren Sinn sprachphilosophische oder gar linguistische Umorientierung gemeint wäre. Aber nur von der Sprache her lassen sich die infrage stehenden Zusammenhänge und Übergänge, das Sich-gegenüber-Setzen, das Entstehen einer Sphäre, die Verknüpfung der Seelenkräfte mit den Mächten des Alls, das Auslösen des Gestalthaften aus dem Unfaßlichen, das Gebären neuer Welt hinreichend realisieren. Es ist die Nennkraft der Sprache und ihre formende Gewalt, wie sie Hellingrath am stärksten an der harten Fügung von Hölderlins Spätdichtung, am „zauber und der bindenden macht" altgriechischer Wortperioden (an H. Hergt, HN) und an der ,herben Schönheit' von Georges Dichtersprache erfahren hat. Die Dichtkunst nimmt für ihn die zentrale Stelle ein, „weil sie [...] von allen Organen allein unmittelbarer träger" derjenigen Verhältnisse ist, die Hellingrath als höheren Zusammenhang und das heißt in ihrer religiösen Dimension vernimmt (an v. d. Leyen, HN). Mit Hölderlin ließe sich sagen, daß der Logos von Philosophie und Wissenschaft nur ein Vermögen der Seele behandelt, während der poetische Logos alle Vermögen des Menschen anspricht und miteinander vereinigt. Ausdrücklich bezieht sich Hellingrath gegenüber v. d. Leyen auf die Lesepraxis im George-Kreis.39 Leitend bleibt Hölderlins Konzeption der Sphäre, die er im Aufsatz Über Religion entfaltet hat, ein Titel, der vielleicht von Hellingrath stammt und heute von der Bezeichnung Fragment philosophischer Briefe abgelöst ist. Der Aufsatz wurde erstmals 1911 im dritten Band der zweiten Auflage von Wilhelm
38 39
Hellingrath (Anm. 7), S. 40f. Vgl. Robert Boehringer: Ober Hersagen von Gedichten. In: Jb II 77-88.
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Böhms Hölderlin-Ausgabe veröffentlicht, aber schon 1910 von Hellingrath in der Dissertation zitiert. Wahrscheinlich hat er diesen Text mit anderen Funden an Böhm weitergegeben und betrachtete ihn als ureigenste Entdeckung und wertvollen Besitz. Nach Hölderlin unterscheiden sich religiöse Verhältnisse sowohl von „intellectualen moralischen rechtlichen" als auch von „physischen mechanischen historischen Verhältnissen". Der Unterschied kommt so ins Spiel, daß sich religiöse Verhältnisse „über das physisch und moralisch nothwendige" erheben und eine unzertrennlichere Verbindung eingehen. Hölderlin verweist auf Antigone, die sich, weil sie von der Gestalt des Bruders bewegt ist, dem Gesetz des Staates entgegenstellt. Das von ihr praktizierte liebende Sehen und Handeln wurde von einem konkreten Gegenüber ausgelöst. In der so entstandenen Wechselbeziehung waltet ein innigeres Verhältnis als es aus der rechtlichen und historischen Lage hervorgeht, die schnell in eine griffige Formel gefaßt werden kann. Solch innigere, zartere, höhere oder eben religiöse Verhältnisse können nie durch Vereinseitigung, sondern nur aus dem lebendigen Hin und Her zwischen dem Menschen und dem, was ihm begegnet und ihn umfängt, erfahren werden. Der davon Sprechende muß selbst in diesem Zusammenhang stehen und an seinem Austrag teilnehmen. Indem er sich in die Lage des anderen versetzt, erhebt er sich Uber das nur Notwendige konventioneller Begegnung. Er kehrt zugleich erfahrener zu seinem Eigenen zurück. Erst wenn der Mensch zu dem, was ihn umgibt, in einer lebendigen Beziehung steht, erfährt er, daß ein Geist in der Welt ist, der dieses innigere Verhältnis beseelt, dem er sich öffnen kann, der den Austausch mit dem Gegenüber freigibt und zusammenhält und als Mitte waltet. Wo sich der Mensch zu seiner Umgebung so ins Verhältnis setzt, daß ein freier und einander bindender Austausch, eine geisterfullte Wechselseitigkeit und die Zugehörigkeit zu einer lebendigen Mitte entstehen, bildet sich nach Hölderlin eine Sphäre. Wie jeder zunächst in seiner eigenen Sphäre lebt, kann er sich auch mit einer anderen Sphäre in Verbindung setzen, an ihr wachsen und zusammen mit ihr eine gemeinschaftliche Sphäre bilden. Auch sei es möglich, sich in ein beschränkteres Leben und dessen Vorstellungsarten hineinzuversetzen, bemüht man sich nur um den Geist, aus dem sie betrachtet werden möchten. Unerbittlich bleibt Hölderlin nur in seiner Kritik alles Einseitigen, in sich Befangenen, sei es eine ,arrogante Moral', ,eitle Etiquette', ein falsches Arbeitsethos oder die Herrschaft ,eiserner Begriffe'. 40
40
Die Hölderlin-Zitate nach der Münchner Ausgabe von Michael Knaupp (Anm. 30), Bd. II, S. 5Iff; vgl. Dieter Jähnig: Das „Reich des Gesanges". Hölderlins Aufsatz Ober Religion. In: Tijdschrift voor Philosophie 17 (1955) Nr. 3, S. 409-476, die bis heute eindrucksvollste Auslegung von Hölderlins Gedankengang.
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In der Erfahrung des Sphärischen spielt für Hellingrath das Dichterische, und Dichtung bürgt ihm fur diese Dimension. In einer Bemerkung zum Thesenpapier sagt er, daß die Beiträger des Jahrbuchs gar nicht die alles überblickenden Historiker sein möchten, sondern „zufrieden" sind, „in einem mittelpuncte das wesen erreicht zu haben" (HN). Die Beiträger selbst zeichnet ein Sinn für das Sphärische aus. Wolfskehl eröffnet das Jahrbuch mit einem Satz, der erst in dieser neuen Dimension wirklich zu klingen vermag: „Die Blätter für die Kunst wurden geboren, weil ein dichter in einem anderen dichter eine flamme entzündete, der gleich die in ihm selber brannte, weil ein werk entstand das in sich gefestigt war, weil ein ordnender geist, maass und grenzen findend, hinzutrat". 41 Über Wolters' Herrschaft und Dienst resümiert Gundolf: Vielleicht hat erst Georges spezifische gestalt und haltung jene grosse und schlichte konzeption ermöglicht womit Wolters schauen und tun in eins zusammengreift, scheinbar getrennte geistersphären in eine kugel fasst und durch ein Sinnbild ausdrückt, das zugleich das einfachste an sich, das unerschöpflichste an bezügen und das bezeichnendste im besondren fall ist.42 Hellingrath schließlich, fur den der von Maximin herkommende George diese religiösen Verhältnisse in ausgezeichneter Weise repräsentiert, faßt das zu Lernende in die Worte: „Das zu Daseinerwachen der Welt, Hölderlinisch gesprochen, das ,Entstehen einer gemeinsamen Sphäre' und damit einer g e meinsamen Gottheit', das war das eigentliche Geschehnis." 43
4 Vergegenwärtigt man sich von hier aus Georges Diktum, von ihm führe kein Weg zur Wissenschaft, so entspricht ihm Hellingrath, sofern er in seinen Hölderlin-Arbeiten und im Briefwechsel mit v. d. Leyen weniger einen vorwissenschaftlichen, denn einen strikt metawissenschaftlichen Weltzugang favorisiert. Hellingrath gehört zu denjenigen im Kreis, die sich, infiziert vom Dichterischen, um eine radikal andere Wissenschaft bemühen, die vielleicht anders genannt werden müßte. Aber so wenig Georges Satz bedeutet, man dürfte über die Wissenschaft hinwegsehen oder es bräuchte keine Wissenschaft, so wenig heißt es für Hellingrath, daß in ein metawissenschaftliches Weltverständnis nicht alle Tugenden von Wissenschaft einfließen müßten. Die an Hölderlin und George errungene Dimension zeichnet aus, daß es nicht um einen begrifflichmethodischen Zugriff geht, sondern um ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen, ein 41 42 43
Jbll. Ebd. S. 42. Hellingrath (Anm. 37), S. 55.
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Zur-Welt-Sein, ein Sich-ansprechen-Lassen, aus dem eine Sprache hervorgeht oder das erst durch Sprache gestiftet wird. Darin liegt schon ein Handeln, ein Vollbringen, ein daseinsmäßiger Vollzug, der weit absteht von wissenschaftlicher Neutralität und der von ihr beförderten Kluft zwischen Gesagtem und Gelebtem. Doch hält sich der im Sphärischen wurzelnde Weltzugang frei von Ideologisierung, falscher Applikation und jeder Form von Agitation, weil sie immer Vereinseitigung bedeuten und das Gegenüber abschneiden. Das hier geforderte Verpflichtetsein ist größer, die Teilnahme reicht weiter. Hellingrath kennzeichnet in der Dissertation Hölderlins Aufsatzkonzepte der späteren Zeit einmal als „zugleich construirend und descriptiv". Entsprechend möchte sein eigenes Vorgehen Aufnahmefähigkeit gegenüber dem Erscheinenden und Darstellung des Wesenhaften zusammenbringen. Darin zeige sich der ,hellenikotatos', sein Griechentum, fügt er hinzu. 44 Was kann Hellingrath die Wissenschaft sein? Zunächst zeichnet ihn ein hoher Sinn für echte Forschung aus, die er wiederum in eigentümlicher Weise ausübt. „Er begnügte sich nicht, den Nachlaß Hölderlins in den Archiven und Büchereien zu durchforschen, sondern folgte allen seinen Wegen nach, suchte alle Orte zwischen Jena und Bordeaux, Driburg und Hauptwyl auf, um den Duft der Landschaft zu atmen wo Hölderlin geweilt hatte. Nur so gelang ihm das bisher Unbekannte zu erfassen, das Unlesbare zu entziffern", so schildert Wolters Hellingraths Forscherleistung, 45 und gleiches bestätigt Salin. 46 Von diesem erfahren wir auch, wie sehr sich Hellingrath um Überprüfbarkeit, Intersubjektivität, ja Falsifizierung bemühte, wie sehr dies aber wiederum in höchstpersönliche Verhältnisse eingelassen war. Immer wieder gewährt er George, Wolfskehl, den Heidelberger Freunden und Imma von Ehrenfels Einblick in Funde und frischentzifferte Gedichte. Am sprechendsten vielleicht die Stunden gemeinsamer Arbeit an den Hölderlin-Handschriften, die Salin überliefert: Aber noch die anscheinend best-gesicherte Lupen-Lesung erwies sich vielfach als trügerisch [...]. Die einzig wirkliche Gewähr bot die Bestätigung in wiederholtem, lautem Lesen. Wie oft geschah es, dass einer der Lesenden oder Hörenden plötzlich in einem wohlbekannten Wort einen falschen Ton zu vernehmen glaubte und mit eins blitzartig das richtige Wort wusste und dass dann die Handschrift diesen Fund bestätigte; meistens hatte sich ein Irrtum der Frühdrucke oder eine anfangliche irrige Lesung so fest eingeprägt, dass erst, wenn in der gemeinschaftlichen Weihestunde das Gedicht neu und voll aufblühte, Hölderlin, die Sprache des Dichters, ganz vernommen wurde. 47
44 45 46 47
Hellingrath (Anm. 7), S. 38. Wolters (Anm. 33), S. 420. Salin (Anm. 2), S. 118. Ebd. S. 102.
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Sehr wichtig sind Hellingrath Kriterien wie Genauigkeit, urkundliche Treue, Belegbarkeit, Materialreichtum, eine dem Leser und Hörer den Mitvollzug ermöglichende Darstellungsweise, die Kenntnisnahme der Fachliteratur und das know how der Editionsphilologie. Er hat den Anspruch, die Erneuerung der Wissenschaft durch Lebensphilosophie und Phänomenologie mitzuvollziehen, ohne darin aufzugehen. Seine Arbeiten erhalten darüber einen philosophischen Zug. Vor allem verlangt er von der Wissenschaft, daß sie ihre Grenzen erkennt, die ihr vorbehaltenen Erkenntnisformen reflektiert und sich einer umfassenderen Dimension öffnet. Er überläßt es v. d. Leyen, ob ihn dieser noch als Wissenschaftler ernst nimmt: „Sie können aus diesen geständnissen die folgerung ziehen: eine solche Personalunion mit religiöser tollheit sei nicht gerade eine empfehlung zum eintritt in das reich der Wissenschaft; aus dem oben gesagten ergibt sich dass ich diesen schlusz nicht mitmachen kann aber Ihnen zugestehen muss" (HN). Wenigstens ist er sich mit v. d. Leyen einig, daß es Gelehrte gibt, die sowohl an der wissenschaftlichen als auch an der religiös-dichterischen Weltauffassung Anteil haben. V. d. Leyen hatte sich im Streit um das Jahrbuch auf die Seite der Wissenschaft gestellt und den Beiträgern die Fähigkeit abgesprochen, ins religiöse Leben der Zeit eingreifen zu können. George sei zwar besser als das Jahrbuch, sollte sich aber auf seine Anfange besinnen und die geistige Bewegung auf das rein Künstlerische einschränken. Das persönliche Verständnis für Hellingraths Auffassungen sei da, die Wissenschaft würde sie jedoch kaum honorieren. Am 24.6.1910, also gut einen Monat vor dem tatsächlichen Abschluß der Promotion, rät ihm v. d. Leyen dringend, die Dissertation umzuarbeiten. Die vorgetragenen Ansichten seien zu subjektiv, nicht genügend belegt und begründet, dürften erst gegen Ende der Arbeit kurz skizziert werden. Die streng philologischen Abschnitte sollten voran gestellt werden. V. d. Leyen schwebt eine Arbeit vor, wie sie für die damalige Germanistik typisch war und deren Art Hellingrath wie folgt charakterisiert hat: Die notwendige gesellen wissenschaftlichkeit erreicht der mensch dadurch dass er: primo keine allgemeinen ausblicke anfangt [...], secundo: sehr trocken und logisch schreibt [...], tertio: sich bemüht, in den abstracteren erörterungen bei äuszerster präcision möglichst kurz zu sein, dagegen bei den inductiven Untersuchungen umständlicher und überhaupt viel viel beispiele bringt und diligenter zergliedert (an H. Hergt, HN).
Doch Hellingrath hält an seiner Art fest und ändert nicht, auch wenn er mit dem ihm eigenen Sarkasmus bekennen muss: „meine arbeit ist nunmehr ganz übergeschnappt; wenn sie angenommen wird ists ein Hunneneinbruch in die civilisirte literarhistorie".48 48
An H. Hergt, abgedruckt in Pieger (Anm. 11), S. 14.
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B r u n o Pieger
Ende Juli 1910 ist das ,Gesellenstück' vollbracht. Alle Gutachter hatten die manirierte Sprache der Dissertation gerügt. Hermann Paul monierte: Die Arbeit ist „offenbar durch eine der jüngsten Richtungjen] der Lyrik beeinflusst" und diese „beherrscht auch die ganzen Anschauungen des Verfassers |. Er liebt es, sich in hochtönenden Worten zu berauschen, hinter denen keine klaren Gedanken verborgen liegen. Er bewegt sich deshalb auch zu sehr in Allgemeinheiten. Es fehlt an exakter philologischer Beobachtung. Nur mit einigem Widerstreben kann ich mich noch fur Zulassung aussprechen." Da war es gut, daß Muncker das solide philologische Handwerkszeug Hellingraths hervorhob und Crusius sogar wünschte, „dass uns öfter solche seltsame Hermaia in Dissertationes beschert würden!"49 Wolfskehl gratulierte mit den Worten: „Sie wissen jezt was beachselzuckt wird und auf welchen Schleichwegen solche Gefahrpunkte umgangen werden müssen".50 Gedruckt wird die Dissertation ein Jahr danach - in Kleinschreibung und mit Schrägstrichen anstelle der Kommata - bei Diederichs in Jena. Salin spricht ihr später ob ihres verkauzten Stils jede Wirkung ab,51 was weder für den Bereich der Germanistik noch darüber hinaus zutrifft. Wegweisend blieb die Unterscheidung zwischen harter und glatter Fügung, der Krankheitsvorwurf wurde zugunsten des ,Kunstcharakters' der Spätdichtung überwunden, das ihr Eigentümliche von Pindar und Sophokles her erhellt. Das Jahr 1806 als Zäsur zu begreifen, an der sich unter dem Einfluß der Krankheit und der damit verbundenen Lebensumstellung Hölderlins Dichtart radikal ändert, ist ein Verdienst Hellingraths und aus keiner Hölderlin-Edition wegzudenken. Die von Hellingrath vorgeschlagene Bezeichnung ,Barockstufe' für eine letzte, an den Wahnsinn grenzende, Werkschicht blieb insgeheim der Motor, möglichst späte Werkstufen abzuheben. Überhaupt sind die von Jaspers ausgearbeitete Philosophie der Grenzsituation, ebenso Heideggers Rede von einer wesenhaften Ver-rückung ohne die einschlägigen Formulierungen Hellingraths schwer vorstellbar. Später galt Hellingrath vor allem als der unbestechliche Philologe', um ihn vor den Vorwürfen der Ideologiekritik zu retten. Doch ist er aufgrund neuer Funde, dem Zuwachs an gesicherten Entzifferungen und den Revolutionen in der Editionstechnik gerade, was die philologische Zuverlässigkeit betrifft, historisch geworden. Wenig verstanden ist der spezifische Ansatz der Dissertation, der damit formulierte Weltzugang. An ihm zeigt sich Hellingraths Zu-frühgekommen-Sein, ihn konnte er nicht wirklich im Austausch mit dem zeitgenössischen Denken ausarbeiten, doch bleibt er als Anfang allen weiteren Bemühungen ein leitender Stern.
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G u t a c h t e n zitiert n a c h Hölderlin-Jahrbuch 27 ( 1 9 9 0 / 1 9 9 1 ) , S. 2 0 7 - 2 0 9 Zitiert n a c h Pieger ( A n m . 11), S. 15. Vgl. Salin ( A n m . 2), S. lOOf.
Norbert von Hellingraths Hölderlin
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Einer horchte schon damals auf: Gundolf. Ihm schien aus Hellingraths Doktorarbeit etwas entgegen, das er selbst als Deutungskunst vor Augen hatte. I m Dankesbrief f u r den D r u c k bezeichnet er die Prolegomena als ein reines und gutes paradigma: im grammatisch konkreten, in den Satzgefügen, im greifbarst philologisch sachlichen selber den geistigen impuls, die lebenskraft, das werk- und wesenkonstituierende eines Menschen, einer dichtkunst, einer geistigen gesamtepoche zu packen: symbolisch die organisirende kraft eines umfassenden Ganzen selbst in den kleinsten auswirkungen dieser kraft noch wahrzunehmen [...]. Philologie wird man wieder übersetzen dürfen mit ,Liebe zum geistigen (wirklichen, gewirkten) Worf, zum Logos, nachdem es generationenlang hiess: Beschäftigung mit Wörtern'. 52
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Zitiert nach Ludwig von Pigenot: Briefe aus Norbert von Hellingraths Nachlaß. In: Hölderlin-Jahrbuch 13 (1963/64), S. 116f.
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Ergänzung und Distanz Max Kommerell und das Phänomen George Max Kommerell hat dem George-Kreis fast zehn Jahre lang angehört,1 zehn Jahre, in denen er mit seinem Dichter als Führer in der deutschen Klassik' nicht nur eines der bekanntesten Geist-Bücher aus dem Verlag der Blätter für die Kunst verfaßte, sondern auch zu Georges engsten Vertrauten zählte. Über Kommereils seelische Bewältigung der Trennung von George, den Verlust der Freunde und den ,Bannstrahl' des Meisters ist viel gemutmaßt, gerätselt und spekuliert worden. Aber unabhängig davon, ob man den weiteren Lebensweg und die nun eigentlich erst beginnende wissenschaftliche Karriere als „weitausholende[] Korrekturbewegung"3, „mühevolle Korrektur"4 oder gar „ge-
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Zu Kommereils Stellung im George-Kreis vgl. zusammenfassend Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln, Weimar, Wien 1997 (Bochumer Schriften zur Bildungsforschung 3), S. 369-381. Zur Biographie und den Veröffentlichungen Kommereils siehe Joachim W. Storck: Max Kommerell 1902-1944. Marbach/Neckar 1985 (Marbacher Magazin 34), sowie meinen bio-bibliographischen Artikel Max Kommereil in: Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Hrsg. und eingel. von Christoph König, Berlin und New York 2003, S. 984f. Zum aktuellen Stand der KommerellForschung siehe Max Kommerell. Leben - Werk - Aktualität. Hrsg. von Walter Busch und Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003. Max Kommereil: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock Herder. Goethe. Schiller. Jean Paul. Hölderlin (1928). Mit einem Geleitwort von Eckhard Heftrich, Frankfurt a. M. 31982. Vgl. dazu Gerhard Zöfel: Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt a. M. u. a. 1987 (Europäische Hochschulschriften 1, 986), S. 250-254; Klaus Weimar: Sozialverhalten in literaturwissenschaftlichen Texten. Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik als Beispiel. In: Darstellungsformen der Wissenschaft im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Hrsg. von Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser, Tübingen 1998 (Forum für Fremdsprachenforschung 39), S. 493-508; Maurizio Pirro: „Die entzauberte Tradition". Max Kommerell e il modello ermeneutico georgiano. In: Studi germanici (nuova serie) XL (2002) H l, S. 67-99. Ralf Simon: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell. In: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Hrsg. von Hendrik Birus, Stuttgart und Weimar 1995 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 16), S. 72-91, hier S. 72.
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scheiterte Emanzipation" 5 interpretieren will - die Auseinandersetzung mit dem Kreis, mit den Werken des Meisters und den Büchern der Jünger ging weiter, bis zuletzt. 6 Auf das schwierige Feld der Seelenkunde und Traumdeutung 7 will sich dieser Aufsatz jedoch nicht einlassen, sondern sich vor allem an die kritische Reflexion Kommereils und seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen George halten. Aus dieser Perspektive lassen sich im wesentlichen zwei Verfahren unterscheiden: Nämlich eine explizite und eine implizite Form der Auseinandersetzung, die sich auf unterschiedlichen Ebenen vollziehen, aber miteinander verbunden bleiben.
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Frank Schirrmacher: Die Stunde der Welt. Fünf Dichter - ein Jahrhundert, Berlin 1996, S. 105. Weiter heißt es geheimnisvoll: „Wären da nicht der frühe Tod, die sonderbaren Alpträume der letzten Lebensjahre, man könnte von einem glücklichen Leben sprechen." Stefan Breuer: Das Syndikat der Seelen. Stefan George und sein Kreis. In: Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit" eines Weltdorfes. Hrsg. von Hubert Treiber und Karol Sauerland, Opladen 1995, S. 328-375, hier S. 366. Siehe etwa einen Brief an seine spätere Frau Erika aus dem Jahr 1934: „George war ein König. Das ist die Hauptsache. Und deswegen habe ich gefrevelt an ihm, aus welchem Müssen und Recht es auch immer sei. Mein Freund, sein Leben und sein Tod ist in dieser Mysteriengeschichte des edlen Bluts eine schauerlich verworrene Minute, und auch hier sind meine Hände schuldig geworden." (Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944. Aus dem Nachlaß hrsg. von Inge Jens, Ölten und Freiburg i. Br. 1967, S. 281 f.) Die Kontinuität der Auseinandersetzung betont in seinen Erinnerungen auch Günter Schulz: Stefan George und Max Kommerell. In: Das literarische Deutschland 2 (1951) Nr. 3, S. 3. Zu Kommerell habe George beim letzten Treffen gesagt: „Ich kann mir zehn Jahre lang überlegen, wie ich mich an einem Menschen räche." In einem Brief an Hedwig Kerber-Carossa schreibt Kommerell, sein Kolleg über George und Rilke wirke auf sein „Traumleben [...] eher ungünstig ein; jedesmal wenn ich bös war im Kolleg, zittere ich davor, daß der alte Dämon mich im Traum dafür züchtigt, und die Furcht ist nicht immer unbegründet. Aber die Träume sind meist anders: daß ich immer noch nicht losgekommen bin, daß ich mich wieder bezaubern und einfangen ließ u.s.f. ..." (Kommerell (Anm. 6), Nr. 77, S. 415-420, hier S.415f.) In seiner Deutung dieses Briefes übersieht Stefan Breuer den ironisch-souveränen Umgang Kommereils mit derlei nächtlichen Gesichten, der eine geträumte Kult-Zeremonie im Schwimmbad (!) unter Beteiligung von George, Wolters und eines Drachenpärchens ebenso als „ganz unmöglichen Traum" (S. 416) einleitet wie den anschließend erzählten: „In der selben Nacht träumte ich noch, daß ich einer sehr reizenden, aber etwas gutbürgerlichen Frau mit bitteren Worten ihren Mangel an Extravaganz vorwarf. Sie erwiderte gar nichts, sondern band mir stumm das Geiferlätzchen um, das ihr neben ihr essender kleiner Sohn unter dem Kinn hatte." (Vgl. Breuer (Anm. 5), S. 369-371) In einem Brief an Hans-Georg Gadamer vom 10.7.1943 heißt es: „Meine George-Stunde wäre fiir Sie, lieber Herr Gadamer ... wahrer Gemütspfeffer, mixed pickles. Sie würden stark lächeln!" (Kommereil (Anm. 6), Nr. 78, S. 420-427, hier S. 421 f.).
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1 Am intensivsten wird die explizite Kontroverse mit den Zielen und Veröffentlichungen des Kreises und deren Differenzen zu eigenen Kunst-, Lebens- und Wissenschaftsvorstellungen im privaten und privatesten Bereich gefuhrt, in Briefen und Gesprächen, aber auch auf Notizzetteln, in Tagebucheintragungen oder etwa als geplanter, aber leider nie vollendeter oder gar veröffentlichter George-Essay, der den Titel Indiscrete Bemerkungen zu einem Katalog tragen und von einer Frühstücksrunde handeln sollte, bei der Kommereil mit Hilfe eines zufällig vom Postboten überbrachten Bondi-Kataloges die Mitglieder und das Zusammenleben im Kreis schildern wollte. 8 In den Veröffentlichungen Kommerells hingegen spielt George nur noch in jener kurzen Zeitspanne eine explizite Rolle, die man von der Trennung bis ungefähr zu Georges Tod bzw. dem Erscheinen der Jean Paul-Monographie im Jahr 1933 datieren kann. Diese ist zwar nicht George gewidmet, wie oft behauptet wird, ihr steht aber ein Auszug aus Georges Lobrede auf Jean Paul als Motto voran. Auch die Antrittsrede über Hofmannsthal (1930), der Vortrag Jugend ohne Goethe (1931) 9 und der Aufsatz Das Volkslied und das deutsche Lied (1932/33) 10 nehmen explizit zu George Stellung - und dies fast immer positiv. Selbst in der Hofmannsthal-Rede, deren Gegenstand zu Recht als Zeichen der Distanzierung von George und seinen Ansprüchen gewertet wird, spielt Kommereil diesen gegen Hofmannsthal aus. Denn der Wiener Dichter ist nur „Erbe" und braucht George, den „Eroberer", „viel wesentlicher und verhängnisvoller" als dieser ihn: „nicht so sehr zum Dichten [...] als zu etwas, was vor dem Dichten liegt: zum Leben, in einem ursprünglicheren Sinne, als er es damals kannte." 1 ' Um das Verhältnis von Leben und Dichten geht es auch in der Jean PaulMonographie 12 , die einem der Heroen des Dichter als Führer gewidmet ist und eine Schlüsselstellung einnimmt für Kommereils sich wandelndes Dichtungsund Moderneverständnis. Nicht mehr der Feldzug gegen die Moderne und der magische Bezug von Heros, Natur und Volk stehen nun im Vordergrund, sondern das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Kunst. Und von der
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Max Kommerell: Arbeitsheft 1932-1934, Prosa. Verschiedenes, D 86.484, DLA Marbach
(o.P.). 9 10
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Max Kommereil: Jugend ohne Goethe, Frankflirt a. M. 1931. Max Kommereil: Das Volkslied und das deutsche Lied (1934). In: Ders.: Dame Dichterin und andere Essays. Hrsg. und mit einem Nachwort von Arthur Henkel, München 1967, S. 764. Max Kommerell: Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede, Frankfurt a. M. 1930, S. 8f. Max Kommerell: Jean Paul (1933). Mit einem Vorwort von Helmut Strebel, Frankfurt a. M. 51977 (= JP). Zu Konzeption und Aufbau des Buches vgl. Heinz Schlaffer: Die Methode von Max Kommerells Jean Paul. Mit drei Exkursen zu gegenwärtigen Interpretationstheorien. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 14 (1979), S. 22-50.
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Kunst Jean Pauls ist Kommerell irritiert und fasziniert zugleich. Sie ist für ihn Symptom der Krise der Moderne, die eben auch die Krise einer Kunst ist, die sich in Partikularisierung, Verinnerlichung und Selbstreflexivität geflüchtet hat.13 Das Scheitern der Kunst im Sinne Jean Pauls stellt für Kommereil allerdings nicht die Möglichkeiten und Aufgaben der Kunst selbst in Frage - diese ist notwendiger denn je, wenn es darum geht, den „Riß im neuzeitlichen Menschen" (JP 419) durch die Berufung auf eine nur noch in der Kunst verbürgte Ganzheit des Menschen zu heilen.14 Gerade dies kann der Roman allerdings nicht mehr leisten: Die Auflösung seiner Form, die nicht mehr den „Bezug des Ich auf die Welt" (JP 67) herstellt, sondern radikal verweigert, macht ihn zur paradoxen Gattung, die ihre eigentliche künstlerische Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Statt „eine erreichte Stufe der Menschheit vollständig auszusprechen" (JP 67), wird der Roman Jean Pauls zur humoristischen Reflexion über den Verlust des Weltbezuges und zerfallt in heterogene Fragmente.15 Diese Tendenz zur Autonomisierung und Partikularisierung führe zu freien Gedichten, zu „Prosa-Lyrik" (JP 138) und „Poemes en proses" (JP 142), deren sprachliche Qualität Kommereil als eine „zwischen Vers und Prosa" (JP 33)
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Zur Krisendiagnose der modernen Kunst, die Kommerell in seinem Jean Paul-Buch umtreibt, vgl. Paul Fleming: The Crisis of Art. Max Kommerell and Jean Paul's Gestures. In: MLN 115 (2000), S. 519-543; ders.: Die Moderne ohne Kunst. Max Kommereils Gattungspoetik in Jean Paul. In: Max Kommerell. Leben - Werk - Aktualität (Anm. 1), S. 54-73. In seiner 1934 gehaltenen und 1936 veröffentlichten Rede Schiller als Psychologe ist Modernität für Kommerell „der Gift gewordene Gegensatz zwischen dem Umfang des Selbstbewußtseins und der vollen menschlichen Natur. [...] Was innen da ist und nicht ins Leben darf, wird Gift; es würde zu Leben, wenn Mensch und Welt ihm gewachsen wären! Da hilft die Kunst - sie erlaubt ihm ein Sein, zu wunschlos um Leben zu heißen, zu dämonisch, um für Schein zu gelten; entbehrlich im gemeinen Sinn und doch vielleicht die allerletzte Bedingung für das Atmen der Seele." (Max Kommerell: Schiller als Psychologe (1936). In: Ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin (1940), Frankfiirt a. M. 61991, S. 175-242, hier S. 206f. Vgl. dazu Walter Müller-Seidel: Schiller im Verständnis Max Kommereils. Nachtrag zum Thema „Klassiker in finsteren Zeiten". In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Klassik und Aufklärung. Festschrift für HansJürgen Schings. Hrsg. von Peter-Andre Alt u. a., Würzburg 2002, S. 275-308. Gerade den Humor Jean Pauls hatte Kommereil in seiner George-Zeit noch als marginales Element betrachtet, wie Edith Landmann aus einer Ende 1924 geführten Unterhaltung berichtet: „Von Holbein wendet sich das Gespräch jetzt zu Jean Paul, der ein grosser Liebling des Kleinsten ist, und von dem es die unbekanntesten Sachen kennt. Es behauptet, der Humor sei bei ihm gar nicht so charakteristisch, sein schönstes und reinstes Werk sei der Titan - was ich auch finde." (Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 128) Im gleichen Jahr hatte Kommerell seine Dissertation über Jean Paul abgeschlossen (Max Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau. Nach den Haupt-Romanen dargestellt, Marburg a. d. L. 1925 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 23), Reprint: New York, London 1968). Vgl. außerdem Wulf Koepke: Das Jean-Paul-Bild im GeorgeKreis. In: Akten des V. Internationalen Germanisten Kongresses Cambridge 1975, H. 4. Hrsg. von Leonhard Forster und Hans-Gert Roloff, (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongreßberichte 2), S. 74-83.
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stehende „Über-Prosa" beschreibt.16 Es ist daher nicht wirklich verwunderlich, daß George sich noch auf dem Krankenlager in Kommereils Buch „hineingelesen" haben soll.17 Schließlich hatte er, worauf Kommereil auch hinweist, in seiner Jean Paul-Anthologie die „unvergängliche Schönheit"18 der „gedichte" gepriesen, die Jean Paul „selbständig oder lose angewoben seinen bunten erzählungen mitgegeben" habe, und auch in seiner Lobrede vor allem von den „glühendsten färben" und „tiefsten klänge[n]" dieser poetischen Elemente geschwärmt.19 Entgangen ist George dabei vielleicht, daß Kommerell hier nicht nur die lyrische „Über-Prosa" als eigentlich moderne Komponente der Texte Jean Pauls feiert, sondern seinen literaturwissenschaftlichen Ansatz auch neu bestimmt. Wo Georges Perspektive streng auf das Poetische fokussiert bleibt und vom „erfinden und entwickeln" der „fabeln" ausdrücklich absieht,20 geht Kommerell gerade dem „Gestaltungsvorgang" (JP 6) der Romane nach und will das ihnen zugrunde liegende „Schema" aus den Texten selbst entwickeln.21 An Stelle der synthetischen Betrachtung von Leben und Werk im Zeichen der Gestalt ist ein textorientierter Zugang getreten, der, wie Kommereil in seiner Vorrede schreibt, „alles auf den Lebenslauf Bezügliche, Zeitalter 16
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Dabei bezieht sich Kommereil dezidiert auf Jean Paul: „Manches ist von Jean Paul ausdrücklich als Gedicht bezeichnet, und hat eine Gliederung der Gedanken und Bilderreihen, die an älteste, halb- oder vorrhythmische Dichtung erinnert." (JP 141). Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, Düsseldorf 1951, S. 189. Stefan George und Karl Wolfskehl: Vorrede der ersten Ausgabe. In: Dies.: Deutsche Dichtung. Bd. 1: Jean Paul (1900), Stuttgart 1989, S. 6f„ hier S. 6. Stefan George: [Lobrede auf] Jean Paul (1896). In: Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bearb. von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Bd. XVII: Tage und Taten, Aufzeichnungen und Skizzen (1903), Stuttgart 1998, S. 52-54, hier S. 52, S. 54. Jean Paul ist für George damit „ein vater der ganzen heutigen eindruckskunst", auch wenn dessen „ganze Seiten von wunderlichen Zusammenstellungen und maasslosen abschweifungen uns erschrecken" (S. 52f.). Vgl. dazu Roger Bauer: Stefan Georges Lobreden. Eine Skizze. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel. Hrsg. von Herbert Anton/Bernhard Gajek/Peter Pfaff, Heidelberg 1977, S. 28-38, bes. S. 29f., S. 36f. Bernhard Böschenstein spricht von dem „sehr dezidierten, fast alles Jean-Paulinische weglassenden Ausschnitt, den George uns in seiner .Lobrede', in seinem Gedicht und in seiner Anthologie darbietet [....]. [...] Die Konzentration auf denjenigen Teil, der die größte Intensität des Ton- und Farbwerts enthält, auf Kosten einer gesamthaften Sehweise, ist für George die moderne Seite Jean Paulscher Kunst." (Bernhard Böschenstein: Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls: Büchner - George - Celan (1975). In: Ders.: Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich. Studien, Frankfurt a. M. 1977, S. 147177, hierS. 168, S. 170). Siehe weiter: „Gesucht war ein Schema dessen, was ein Jean Paul-Roman ist, und des Gestaltungsvorgangs - ein Schema nämlich, nach dem ungefähr das Entstehen einer Rede, einer Situation, einer Figur, einer Geschichte und vor allem des einen aus dem anderem zu denken ist. [...] Er [der Verfasser, also Kommerell; M.W.] fand es auf konstruktivem Wege, wie es die psychologische Einsicht in den Dichter und seine Entwicklung, und wie es die Bauart der Dichtungen nahelegte - eine Bauart, die etwas Technisches, j a Mechanisches hat und daher das Warum und Wozu vielfach deutlich anzeigt." (JP 6).
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und Bestrebungen, Einflüsse" (JP 5) ausschließt. Die Vehemenz dieses Verzichts ist ebenso deutlich wie die Abkehr von der national-heroischen Pathetik der Kreis-Bücher, die einer metaphorisch-assoziativen Sprache gewichen ist. Zugleich besteht die Spannung dieser Ablösung darin, daß der durch die Gestaltkonzeption gesicherte ganzheitliche Anspruch der nun verstärkten Hinwendung zur ästhetischen Dimension der Texte nicht entgegengesetzt, sondern integriert wird, und ein aus Texten gewonnenes und im Grunde abstraktes Denkmodell sich von der Referenz des Körperlichen nicht völlig lösen kann und will. Denn die Gefahr einer vergeistigten Kunst' mit reinen, referenzlosen Gebärden22 bleibt für Kommerell akut, daher gilt die Suche einer modernen Kunst, die ihren ganzheitlichen Anspruch weder aufgibt noch ihre körperliche Bindung leugnet.
II Explizit spielt George bei dieser Suche und damit in den Büchern, Essays und Aufsätzen, die ab 1934, also nach Georges Tod erscheinen, keine Rolle m e h r auch nicht in den Arbeiten, in denen Kommereil sich dezidiert mit Lyrik beschäftigt. In den umfassenden und programmatischen Gedanken über Gedichte (1943)23, die auf über 500 Seiten Kommereils Ansichten zum modernen lyrischen Gedicht enthalten, taucht Georges Name nur noch ein Mal auf, in den Aufsätzen und Reden Uber Hölderlin, die 1940 wieder einsetzen, wird er gar nicht mehr genannt. Der Gewährsmann, auf den sich Kommerell inzwischen beruft, ist ein anderer: Goethe. Goethe wird für ihn zum Modell eines integralen Dichtungsund Wissenschaftsverständnisses, das eine ganzheitliche Perspektive stiften soll für eine Moderne, deren „Fluch" das „feindliche Auseinandertreten des Vielen in der Seele"24 sei. Dem Spezialisierungs- und Diversifikationsdruck, 22
Auf den für Kommerell zentralen Begriff der Gebärde kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, vgl. dazu insbesondere Giorgio Agamben: Kommerell, ο del gesto: In: Max Kommereil, II Poeta e l'indicibile. Saggi di letteratura tedesca a cura di Giorgio Agamben, Genova 1991, S. VII-XV; Walter Busch: Das Konzept der Sprachgebärde im Werk Max Kommerells. In: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der klassischen Moderne. Hrsg. von Isolde Schiffermüller, Innsbruck, Wien, München 2001 (Essay & Poesie 12), S. 103-134; Ulrich Port: Die „Sprachgebärde" und der „Umgang mit sich selbst". Literatur als Lebenskunst bei Max Kommerell; Isolde Schiffermüller: Gebärde, Gestikulation und Mimus. Krisengestalten in der Poetik von Max Kommerell; Milena Massalongo: Versuch zu einem kritischen Vergleich zwischen Kommereils und Benjamins Sprachgebärde. In: Max Kommerell. Leben - Werk - Aktualität (Anm. 1), S. 74-97; S. 98-117; S. 118-161.
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Max Kommereil: Gedanken über Gedichte (1943), Frankfurt a. M. 41985. Kommerell (Anm. 14), S. 195. Für Ralf Klausnitzer resultiert dieses Projekt aus Kommerells „Versuch, die in der Moderne separierten und zunehmend spezialisierten Diskurse von Kunst und Wissenschaft, von poetischer Welterschließung und philologisch-historischer Erklä-
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dem Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft ausgesetzt sind, will Kommerell daher mit einer Reaktivierung des synthetischen Potentials begegnen, das er bei Goethe vorfindet 25 und als eine Option begreift, die bislang nicht genutzt wurde, als ,,versäumte[n] Anfang einer nicht realisierten Moderne" (Paul Fleming) 26 . Gemeint ist damit eine durch die Kunst zu sichernde Verbindung von Individualität und Weltbezug, die sich jener Partikularisierung, Verinnerlichung und Selbstreflexivität widersetzen soll, die Kommerell am Beispiel der Romane Jean Pauls untersucht hatte - also jener Moderne, deren Einfluß noch immer prägend sei. Wenn Kommereil ,Goethe' sagt, meint er daher ebensowenig wie etwa Gundolf allein den Weimarer Geheimrat. ,Goethe' ist für ihn das Paradigma des modernen Dichters und Menschen, der nicht historisch oder biographisch rekonstruiert, sondern als Modell-Dichter konstruiert werden soll. Am besten gelingt dies mit Hilfe von Goethes Lyrik. Denn Gedichte sind für Kommerell nicht nur „Symbole der Seele" (GG 16), in denen diese ein letztes Residuum finde, sondern auch „umfängliche[] Sprechakte[]" (GG 41), mit deren Hilfe man sein „Menschsein in neuer Weite erfahren" könne. In ihrer Pluralität und Vielgestaltigkeit ist gerade die Lyrik Goethes prägnanter Ausdruck moderner Heterogenität, die hier jedoch auf einen Fixpunkt bezogen und von diesem aus gedeutet werden kann - Goethes Gedichte lassen sich fur Kommereil „zur lyrisch ausgedrückten Totalität des menschlichen Lebens ergänzen" (GG 120), sie bilden eine „Totalität, die durchaus als das in der Zeit geführte Leben einer symbolischen Person oder als eine symbolisch-lyrische Autobiographie zu betrachten wäre". 27
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rungspraxis im Medium einer ,Wissenschaftskunst' zu vereinigen". (Ralf Klausnitzer: Mit gleichsam chinesischem Pinsel. Max Kommerell zwischen Kunst und Wissenschaft. In: Juni 30/31 (1999), S. 71-104, hier S. 72). Hat denn je, fragt Kommerell am Ende seiner Rede Jugend ohne Goethe, ein „einzelner Mensch sich, das zarteste und höchste Menschliche mit allem Sichtbaren zusammen und nicht durch Denken sondern anschauend unmittelbar in so gestaltenreicher und durchgebildeter Einheit erfahren? Hat j e ein einzelner Mensch inniger an die Schönheit und Ganzheit der Welt geglaubt als dieser?" (Kommereil (Anm. 9), S. 25). Fleming, Moderne ohne Kunst (Anm. 13), S. 71 f.: „Jean Paul - der Vergessene, der selten Gelesene - stellt den geheimen Anfang der Moderne dar; Goethe, besonders der späte Goethe, ist der versäumte Anfang einer nicht realisierten Moderne. Es gibt somit fur Kommerell zwei .Modernen': die eine wurde realisiert und begann mit Jean Paul, die andere, die versäumte Möglichkeit einer besseren, echt künstlerischen Moderne, wurde von Goethe angekündigt, nach ihm aber nicht fortgesetzt." Vgl. dazu auch Eva Geulen: Wiederholte Spiegelungen. Formgeschichte und Moderne bei Kommerell und Preisendanz. In: DVjS 76 (2002) H. 2, S. 271-284, hier S. 280: Goethes „Werk ist für Kommerell ein Vermächtnis, das keine Erben fand, die verschollene Möglichkeit einer Moderne, die nicht wurde". In seinen Notizen zu George und Nietzsche attestiert Kommerell zwar auch George, ein „lyrisches Universum versucht" zu haben, dieses gründe sich aber nicht auf einer symbolischen Durchdringung aller Lebensbereiche, sondern auf einem monomanischen Selbstentwurf, der an Stelle der ,Totalität des menschlichen Lebens' eine individuelle Gegenwelt setzen will. (Max Kommereil: Notizen zu George und Nietzsche. In: Ders.: Essays, Notizen,
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Mit seinem Begriff der Person,28 der als Gegenentwurf zum Gestaltkonzept des George-Kreises verstanden werden kann,29 geht es Kommereil um einen Zugriff auf die dichterische Instanz und damit um das ,,geistige[] Verfahren" (GG 57) eines Autors, das als solches im Gedicht erscheint: Die „Einheit des Gedichts, die Einheit der Gedichte untereinander ist nicht die Sache, sondern die Person, und deren überwiegender, leidend bestimmender Anteil am Erlebnis" (GG 119). Die Unterscheidung zwischen (empirischem) Dichter und (geistiger) Person soll im Konzept der ,Person' Bewußtsein, Verfahren und Reflexion des modernen Autors vereinigen. Schon in seinem Jean Paul-Buch hatte Kommerell zwischen Johann Paul Friedrich Richter und der dichterischen Instanz Jean Paul unterschieden, die als künstlerische Schnittstelle zwischen Autor und Werk bzw. Erlebnis und Kunstprodukt gedacht ist und den Formprozeß strukturiert.30 Dies ist weniger im Sinne eines impliziten Autors oder einer diskursiven Strategie zu verstehen, sondern als Beschreibung einer Art mentaler Struktur oder eines künstlerischen Profils, die Kommereil aus den Werken selbst erschließen will. Am Beispiel des ,geistigen Verfahrens', mit dem Kommerell die Entstehung der besonderen Form der Romane Jean Pauls erklärt, hieße dies: Nach welchem Muster nimmt die Instanz ,Jean Paul' Erlebnisse auf und überführt sie in die Form des Kunstwerks? Damit wäre dieses Muster nicht die Form des Kunstwerks selbst, sondern eben die mentale Struktur, die Erlebnis und Form aufeinander bezieht und die Entscheidungen erklärbar macht, die der Künstler in diesem Prozeß trifft. jl Darüber hinaus ist Goethe auch ,,symbolische[] Person", die als „Person eine Welt ist"32 und den „modernsten Weltzustand"33 vorwegnimmt. Wer auf
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poetische Fragmente. Aus dem Nachlaß hrsg. von Inge Jens, Ölten und Freiburg i. Br. 1969, S. 225-250, hier S. 242). Kommerell verwendet diesen Begriff bereits in seinem Jean Paul-Buch (siehe JP 44, 66, 268, 419 u.ö. ), spezifiziert ihn aber vor allem in seinen Gedanken über Gedichte (siehe GG 4850, 64, 138f„ 206 u. ö.) Vgl. dazu Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 18901945, Tübingen 1998 (Communicatio 17), S. 375-384. Für die Entwicklung des Gestaltbegriffs vgl. die umfassende Untersuchung von Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln, Weimar, Wien 2001 (Kölner germanistische Studien: N. F. 2). Vgl. Schlaffer (Anm. 12), S. 25, bzw. Kommerells Vorrede zur zweiten Auflage des Jean Paul-Buches (JP 5-8). Schlaffer (Anm. 12), S. 32f.: „Demnach sind Kommerells erste, scheinbar pragmatische Recherchen nach der besonderen Bauart von Jean Pauls Werken in einer systematischen Idee über die Arbeitsweise des poetischen Geistes fundiert. Ebenso ist die anfängliche Diskrepanz des doppelten Ansatzes, nämlich nach der Form und nach dem Erlebnis des Dichters zu fragen, in der genauen Bestimmung eines notwendigen Spannungsverhältnisses endgültig aufgehoben." Kommereil (Anm. 10), S. 21.
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eine derart umfassende Synthese aus ist, kann sich nicht auf einen Vers oder ein Gedicht beschränken - für Kommereil ist,Goethe' daher in allen Gedichten präsent und garantiert zugleich ihren Zusammenhalt und ihren Bezug: „Das einzelne Gedicht wird gegenüber dieser Natur, die sich selbst zur bedeutendsten Kultur steigert, sekundär; die Gesamtheit der Gedichte vereint sich zum Zeugnis, das dieser Mensch von sich selber gibt."(GG 45)34 Dabei bürgt das, was Kommereil als die Person ,Goethe' beschreibt, nicht nur für den Zusammenhalt der Gedichte, sondern wird auch durch diese konstituiert: „Es gibt in Goethes Werk mehrere Ordnungen und mehrere Gerichtsbarkeiten. Und nur alle zusammen sind Goethe selbst." (GG 364) Kommereil will also nicht (wie etwa Gundolf, mit dessen Goethe er sich hier implizit auseinandersetzt35), die nur dem auserwählten Deuter zugängliche Gestalt Goethe bewahren,36 sondern die Person ,Goethe' aus den Gedichten entwickeln - und somit anhand von Texten beschreibbar machen, was er unter Ganzheit dichterischer Möglichkeiten und moderner Lebenslagen versteht. Während bei Gundolf mythische Gestaltvorstellung und ans Individuum gebundene „Erlebnisart"37 die Interpretation der Texte dominieren, tritt bei 33 34
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Max Kommereil: Goethe und die europäische Jugend. Vortrag, gehalten am 28.05.1942 am Deutschen Institut in Paris, Prosa, D 86.437, DLA Marbach, S. 17. Und eben diese Konstellation soll auch den Zusammenhalt der großen Gedichtkreise Goethes gewährleisten, die Römischen Elegien und den Westöstlichen Divan verbinden: „Warum heißt der Divan ,westöstlich'? Doch wohl, weil er dichterisch den Westen mit dem Osten verständigt. In welchem Medium aber, wenn nicht in Goethes Geist? Was also verständigt, ist die Person, in höchster Tragweite genommen." (GG 216). Auch nach dem Bruch mit George rekurriert Kommereil in Aufzeichnungen und Notizen kritisch auf den Goethe von Friedrich Gundolf, siehe etwa Max Kommereil: Goe[the] als K. / Lyrik außer G[oethe], Ms.T. (IJ 798-941), Prosa, D 86.550, DLA Marbach, Bl. 876; Goethe und die Antike. Aufzeichnungen (IU 1751-1855), Prosa, D 86.561, DLA Marbach, Bl. 1816. Es ist Gundolfs erklärtes Ziel, eine „Darstellung von Goethes gesamter Gestalt" zu liefern, der „größten Einheit worin deutscher Geist sich verkörpert hat". (Friedrich Gundolf: Goethe (1916), Berlin 111922, S. 1, siehe ferner S. 3f., S. 14f, S. 508, S. 535, S. 655, S. 658 u. ö.). Zu Gundolfs Gestalt-Begriff vgl. Maximilian Nutz: Werte und Wertungen im George-Kreis. Zur Soziologie literarischer Kritik, Bonn 1976, S. 80-101, bes. S. 86f; Zöfel (Anm. 2), S. 114-123. Zu Gundolfs Goethe-Monographie vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 und 1925. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt a. M. 1993, S. 177-198; Ulrich Raulff: Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf In: Friedrich Gundolf: Anfange deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winkelmann (1938). Aufgrund nachgelassener Schriften Friedrich Gundolfs bearb. und hrsg. von Edgar Wind, Frankfurt a. M. 1992, S. 115-154; Kolk (Anm. 29), S. 389398. Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist (1911), Berlin 71923, S. VIII. Auch in Gundolfs Goethe ist die Rede davon, daß man „Goethe als ein Ganzes erlebt haben [muß], eh man es wagen darf seine einzelnen Leistungen einzureihen, zu deuten oder zu benutzen als Formen seines Lebens". (Gundolf (Anm. 36), S. 6). In den Blättern für die Kunst hatte Karl Wolfskehl diese Ansicht bereits am Ende des vorangegangenen Jahrhunderts vertreten: „Dass das kunstwerk - in worten tönen färben - verständlich zu uns redet, eine Spiegelung unseres erlebens zu sein scheint, das widerlegt nicht sein dasein in der Wahrheit. Jedes ding kann nur
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Kommereil die Überprüfbarkeit und Absicherung auf der Textebene in den Vordergrund. Denn Gundolfs dem Klassisch-Einheitlichen verpflichteter Gestaltbegriff, der Mensch, Leben und Werk zur vollständigen Übereinstimmung bringen soll, schließt nicht nur disparate Züge aus, sondern marginalisiert auch alle Abweichungen von dieser Doktrin/ 8 Wo sein Kugel-Modell auf die Darstellung einer möglichst kohärenten und kontinuierlichen Entwicklung angewiesen bleibt, 39 werden bei Kommerell die „einschneidenden Veränderungen seines Wesens" („Sie sind durch ein Aufleben der lyrischen Produktion bezeichnet." (GG 123)) nicht eingeebnet, sondern als Stufen oder Übergänge markiert - als konstituierende Bestandteile der Person und Grundlage ihrer Selbstreflexion und Weltwahrnehmung: „Die Person bedarf eines Einschnitts im Werden, um sich selbst zu fassen." (GG 221) Daher ist die Lektüre Kommerells auch keine selektive (wie die auf Kanonbildung ausgerichtete Gundolfs), sondern eine umfassende, die alle Texte (hier: Gedichte) Goethes braucht, wenn sie diesen paradigmatisch setzen will. Während Gundolf den klassischen Goethe favorisiert und auf das „Unbegreifliche an Goethes Werken" aus ist, „das jenseits unsrer wie seiner Willkür steht", 40 erhalten bei Kommereil auch Gedichte zweiten Ranges künstlerische Dignität durch ihre Teilhabe an der Person ,Goethe', deren unverzichtbarer Bestandteil sie sind: „Was für ihn das Dichten ist, wird auch darin eindringlich, und deswegen würden uns diese Sachen angehen, auch wenn sie dichterisch ganz unbedeutend wären." (GG 186f.)41 Im Gegensatz zur Legendenbil-
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insoweit erkannt werden als es dem erkennenden wesensverwandt ist." (Karl Wolfskehl: Betrachtungen über Kunst. In: BfdK IV 85f., hier S. 85). Rainer Kolk spricht in diesem Zusammenhang von ,,kompromißlose[n] Reduktionsmöglichkeiten": „In Gundolfs Goethe-Buch werden mit Hilfe einer personalistisch modifizierten Gestalt-Kategorie das literarische Material und die literarhistorischen Informationen radikal zugeschnitten, um Leben und Werk als ,die verschiedenen Attribute einer und derselben Substanz, einer geistig leiblichen Einheit' zu erweisen. [...] Dem Anspruch der Einheit von Leben und Werk, Geist und Leib, Kunst und Menschentum, der auch dem emphatischen Kulturbegriff des Kreises zugrunde liegt, kann nur Göttliches genügen: Goethe habe sich deshalb als ,das Zentrum einer überpersönlichen Gewalt' empfunden,,Gottes, des Schicksals oder der Natur'." (Kolk (Anm. 29), S. 379).
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Hans-Martin Kruckis weist auf Gundolfs Schwierigkeit hin, den „Sinn" der einzelnen Entwicklungsstufen Goethes „sowohl zu differenzieren wie zu resynthetisieren". Aufgrund dieser Problematik versuche Gundolf etwa auch, „Goethes Italienaufenthalt nicht als Einschnitt, sondern als ,organische' Verbindung der Elemente des naturalistischen und klassizistischen Goethe aufzufassen". (Hans-Martin Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit". Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf, Heidelberg 1995 (Probleme der Dichtung 24), S. 311).
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Gundolf (Anm. 36), S. 744. Die Legitimation dieses Ansatzes findet Kommerell beim alten Goethe, der ebenfalls Gedichte anerkannt hätte, die in die „Gesundheitslehre des inneren Lebens" (GG 63) gehörten und daher die Überschrift „Goethe im Umgang mit sich selbst" tragen sollten: „Es ist zweifelhaft, wie weit Goethe diese Verse als Dichtung betrachtet wissen will; entstanden sind sie höchst
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dung des Kreises, einer Geschichtsschreibung im Konjunktiv, die das narrative und mythische Potential oft gegen die Realien der Historie ausspielt (und die Kommereil im Dichter als Führer selbst noch betrieben hatte), fasziniert ihn nun gerade die Faktizität der Dinge. Das Korpus der vorhandenen Texte ist bestimmend, nicht das überzeitliche Wirken der göttlichen Gestalt.
III Entscheidend ist für Kommerell dabei Goethes Fähigkeit, das eigene „Ich als Gegenstand" zu sehen und sich selbst „als Person gegenüberzustehen".42 Schließlich sei die Bedingung von Goethes „ganzefr] Dichtkunst" dessen „unvergleichliche Art, sich gegenüberzustehen. Ihre Kennzeichen sind: Distanz und Behagen." (GG 59)*lj Diese Außensicht auf die eigene Person widersetze sich der Innenperspektive Jean Pauls und markiere zugleich die Differenz zu jeder Form von dichterischem Prophetentum. Denn dieses sei „nur durch seine Sache groß", bei Goethe hingegen sei „die Person die Sache" (GG 68). Wen Kommereil hier als Gegenmodell zu Goethe vor Augen hat, ist nicht schwer zu erraten. In einem Manuskript mit dem Titel ,Zwei symbolische Bücher', in dem es um den Stern des Bundes und den Zarathustra geht, wirft Kommerell George vor, sich selbst zur ,,unumschränkte[n] Person"44 bzw. „religiösen Person"45 mit magisch-kultischer Vollmacht geworden zu sein. Diese Aufzeichungen gehören wie auch weitere Notizen46 in den Umkreis eines Seminars, das Kommereil im Sommersemester 1933 über George und
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unliterarisch, aber Goethe hat sie schließlich, da j a sein Werk die Person war und mehr und mehr sich eines als das andere enthüllte, durch Ordnung und Herausgabe großenteils als Werk, mindestens als Dokument anerkannt." (GG 63) Siehe auch GG 102: „Manches, das man bei aller Ehrfurcht ungescheut als mißlungen bezeichnen darf, wird doch in der Absicht des Dichters bedeutend". Max Kommerell: Goethes Gedicht (1936). In: Ders.: Dichterische Welterfahrung. Essays. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 1952, S. 23-52, hier S. 24, siehe auch S. 37. 39. Siehe auch GG 44: „Er besaß eine so große Kunst des Abstands und übte sich so sehr in ihr, daß ihm sein Ich zur Sache wurde, daß er diesen Gegenstand mit dem universalen Menschentum und der universalen Natur verglich und ihn als Abkürzung dieser beiden Ganzheiten behandelte." Max Kommerell: Zwei symbolische Bücher. Über Nietzsche und George, Prosa, D 86.456, DLA Marbach, Bl. 3. Ebd., Bl. 8. In anderem Zusammenhang notiert sich Kommerell: „Alle Magie ist Gefährdung der Person.." (Kommerell, Goethe und die Antike (Anm. 35), Bl. 1836). Max Kommerell: Notizen zu George und Nietzsche. In: Ders.: Essays, Notizen, poetische Fragmente. Aus dem Nachlaß hrsg. von Inge Jens, Ölten, Freiburg i. Br. 1969, S. 225-250 (= GN).
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Nietzsche hält. 47 Hier, im halböffentlichen Raum der Universität, setzt Kommereil jene explizite Auseinandersetzung mit George fort, die er in seinen Publikationen fortan meidet. Sowohl Nietzsche als auch George werden in diesem Kontext als Optionen untersucht, mit dem modernen Ausmaß an individueller Freiheit des Menschen und radikaler Verinnerlichung der Kunst umzugehen. 48 Auf den Zustand jener existentiellen „Horizontlosigkeit" (GN 232), der für Kommerell die „Signatur des modernen Menschen" bestimmt, hätten beide unterschiedlich reagiert: Nietzsche mit der „Sprengung jedes Horizontes" und George mit dem „Willen zur Horizontbildung", so daß „beide in gegensätzlicher Weise den Zeitgeist darstellen". 49 Denn der anarchische ,Wille zur Macht' 50 , die „Unbedingtheit des geistigen Machtwillens" sind für Kommerell „Symptome der entzauberten Tradition", die sich kollektiv in der Absenz des „geselligen Lebens" bzw. der „Gesellschaft" und individuell in der Unmöglichkeit einer verbindlichen Orientierung äußerten (GN 227). 51
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Vgl. dazu den „Anhang I: Max Kommerells Lehrveranstaltungen 1930-1944" in: Helmut Strebel: Max Kommereil (1902-1944). Professor für deutsche Literatur. In: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Ingeborg Schnack, Marburg 1977 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 35), S. 275-287, hier S. 285f.). Zur Rezeption Nietzsches durch George und den Kreis vgl. Heinz Raschel: Das NietzscheBild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, Berlin und New York 1984 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 12), bes. Kap. IV, Nietzsche als Vorläufer (S. 63-91). Peter Trawny, der ebenfalls die Wirkung Nietzsches auf die Georgeaner untersucht, erkennt gerade nicht die Kritik Kommereils an George, wenn dieser George mit Nietzsche vergleicht (Peter Trawny: George dichtet Nietzsche. Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises. In: George-Jahrbuch 3 (2000/2001), S. 34-68, bes. S. 661). Kommerell (Anm. 44), Bl. 1. Siehe ebd., Bl. 1: „Beider Ausgangspunkt ist die Anarchie. Der Geist hat sich aus allen festen Kunst- und Lebensformen zurückgezogen in eine Person, welche die Despotie nicht nur als Recht, sondern als schwere Pflicht an sich nimmt. Auch die weltlichen Masse des geselligen Lebens bezaubern nicht mehr, so wird es denkbar, dass ein Mensch allein sich die Formung des künftigen Menschen anvertraut glaubt. Damit wird alles Wille" (Hervorhebungen im Original). Die Ersetzung des Konzepts der .Gesellschaft' durch das ,Leben' hatte Kommereil schon in seinem Jean Paul beklagt (JP 418f.) und als grundlegende Fehlentwicklung der Moderne diagnostiziert. Wolf Lepenies weist darauf hin, daß im 20. Jahrhundert „das .Leben' die ,Gesellschaft' als kennzeichnender Epochenbegriff' ablöste und mit Georg Simmel, der George zeitweise sehr nahestand und lieber die Geselligkeit als die Gesellschaft untersuchte, auch zu einem „Impressionismus in der Soziologie" gefuhrt habe. (Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft (1985), Reinbek bei Hamburg 1988, S. 290-295, hier S. 290, S. 292, siehe auch S. 335-339). In der Kunst hatte sich das .Leben' in der Nachfolge Nietzsches längst als oberster Maßstab durchgesetzt, dieses wird zum ,,eigentliche[n] Thema und Zentrum der Literatur um 1900". (Helmut Koopmann: Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung, Darmstadt 1997, S. 12-31, hier S. 14, zu George und den Blättern für die Kunst S. 32-43). Dementsprechend sei die „neue Kunst Georges [...] nicht gegen die Gesellschaft gerichtet, sie steht außerhalb der Gesellschaft" (S. 33).
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Die Grundlage jener „gewaltsamefn] Horizontbildungen" (GN 232), die Kommereil an George beobachtet, sei dessen elitäre Form von Geselligkeit, die sich in der Gründung eines eigenen Zirkels manifestiere und in der Ablehnung der Außenwelt offenbare: „Statt der Gesellschaft der Orden, mit seinen hier von einem vornehmen Individuum diktierten Stufungen der nach leiblichen Abzeichen erkannten geistigen Würde."52 Durch diese Negation und Isolation inszeniere sich Georges antimoderner Habitus und erweise sich dabei als moderne Haltung par excellence, als das „Nein des modernen Menschen an sich" (GN 232). Für Kommereil ist dieses „außerhalb der Zeit sein ein Zeitphänomen", zumal in der Georgischen Variante der „archaisierende [n] Gruppenbildung" und des ,,Kult[es]" (GN 231): „Gerade das absolute Nein zur Zeit behagt den müden Zeitkindern. Unter Georges Freunden viele Jünglinge, die sich nur von der Geberde des Täufers bezaubern ließen!" (GN 232)53 Der sich rasant verändernden Moderne werde eine bewußte Reduktion entgegengestellt, die nicht nur all jene Phänomene ausschließe, die nicht der inneren Struktur des Ordens assimiliert werden könnten, sondern die selbst auferlegte Ordensregel auch zum Deutungsmuster der Welt mache54 und dabei Innen- und Außenperspektive vertausche: „Die Gefahr eines streng persönlichen Seins ohne alle Welt droht immerfort! Das Entscheidende ist die Energie der Aneignung und des Umspannens, nicht die Dinglichkeit und Vielheit des in dieser Welt Vorhandenen - Georgische Räume." (GN 242f.) Der Verdacht, daß „das mit allen Mitteln objektivierte Kreiswesen rein persönliche Lebensbedingung Georges" (GN 235) sei, wird für Kommereil zum Schlüssel für die Analyse damit verbundener Machtansprüche und Geltungsbedürfnisse. Ein „Daseinsgesetz", das sich „nur mit Selbstgeprägtem" (GN 243) umgebe und auf jegliche „Ergänzungen" (GN 240) verzichte, vertrete eine autistische Position, die in hermetischer Abgeschlossenheit und narzißtischer Selbstbespiegelung ende und zu einem „Draußen der absoluten Nichtigkeit" (GN 246) führe.
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Kommerell (Anm. 44), Bl. 11). Siehe auch GN 247: „[Sjtatt Gesellschaft Mysterium, aber mit dem Anspruch, Centrum des objektiven Weltgeschehens zu sein. Das Unbehagen wird gemildert durch bedeutende Eroberungen in der ganzen Bildungsbreite, Geschichtsdeutung und so fort: ja politische Versuche." Auch Georges Preisgedichte konstituieren für Kommerell einen .gesellige[n] Raum. [...] strengster Gegensatz zur Gesellschaft, die ein Gegebenes" (GN 245). Die für George konstitutive Verbindung von „Kulturkritik und Kreisbildung" im Zeichen des Rituals untersucht Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997 (Communicatio 17), Kap. II.l., S. 77-117, hier S. 87. Vgl. dazu auch Kolk (Anm. 5), S. 323f.: „Man wird die von George energisch für sich reklamierte Unzeitgemäßheit aber auch als eine Reaktion auf die Moderne verstehen müssen, der er noch im Moment radikaler Opposition verpflichtet bleibt: Exemplarisch können George und sein Kreis für die vielfaltigen Versuche nach der Jahrhundertwende stehen, gegen die Komplexität der modernen Gesellschaft auf Reintegration zu setzen."
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Der „Totalitätsanspruch"55 dieses höchst individuellen Machtwillens endet für Kommereil in einer hermetisch-selbstbezüglichen Position, die das „Neubinden als höchste Hybris des Lösens" (GN 227)56 betreibe, letztlich also die mit Jean Paul beginnende Verinnerlichung der Kunst als realen Machtrieb nach außen richtet. Die Kehrseite dieser hybriden Isolierung und Verweigerung sei ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit und Gruppenbildung, in dem sich die heroische Attitüde als Ängstlichkeit entlarve und in die Abwehr einer modernen Entwicklung flüchte, die sie nicht mehr kontrollieren könne: „Bei George Sicherung eines sich Gestaltenden gegen Chaos ... Seele folgt in der Musik sich selber ... alles Gefahr! als ob man Gefahren zu meiden hätte! Etwas Ängstliches in dieser heroischen Pathetik." (GN 241 )57 Gegenüber einer derart furchtsamen Haltung favorisiert Kommerell dann doch Nietzsches Offenheit für „[ajlle Lebensgebiete" (GN 229) und besteht zugleich auf einer Position, die nicht mehr dem ehernen „Adel [der] Gestalt"58 verpflichtet ist, sondern um deren Fragilität und Biegsamkeit weiß: „Wir aber genießen die Störbarkeit unserer Gestalt, danken uns dem Zufall, und sehen zuletzt die Notwendigkeit ... der Georgeaner weiß sie vorher. Programm." (GN 241) Für die Bildung einer neuen Kultur, in der sich Formen vormoderner Ganzheit unter modernen Bedingungen wiederherstellen lassen, taugen letztlich weder Nietzsche noch George - denn Kultur, dies ist Kommerells Überzeugung, wird durch Kunst gestiftet. Doch während Nietzsche „die Kunst als Rest" (GN 228) ablehne,59 setzte George auf die „archaisierende Tendenz der 55 56
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Kommereil hält diesen für einen „Irrtum: jedem geistigen Suchen begegnet sein Bild, nur erhebt nicht jedes den Georgischen Totalitätsanspruch." (GN 233). Von der „Hybris des Herrschenwollens" spricht auch Hofmannsthal in seiner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation mit Blick auf jene Gestalt, die den „Anspruch auf Lehrerschaft und Führerschaft" erhebt und als „gefährliche hybride Natur" vielleicht „mehr Prophet als Dichter" ist - was sich zwar nicht ausschließlich auf George bezieht, diesen aber doch auch meint. (Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1926). In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889-1929. Hrsg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Berat, mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a. M. 1986, S. 24-41, hier S. 32, 34). Für Giorgio Agamben ist diese ,Ängstlichkeit' und der Versuch ihrer Beherrschung oder Austreibung geradezu ein Charakteristikum des Kreises um George: „Se si volesse caratterizzare in un tratto la fisionomia del circolo di George, si potrebbe dire che esso cercava di esorcizzare la sua piü intima angoscia in un rituale." (Giorgio Agamben (Anm. 22), S. XI). Kommerell (Anm. 2), S. 302. In einem Brief an seine spätere Frau Erika vom 31. Juli 1937 schreibt Kommerell zu den Briefen Nietzsches an Lou Andreas-Salome: „Ich bin weit davon entfernt, mir die Einsicht in die Wichtigkeit und Unausweichlichkeit dieses gigantischen Probiersteins, der sich Nietzsche nennt, dadurch verkümmern zu lassen. Ich stelle nur fest: es interessiert mich nicht mehr. Gottlob habe ich in meiner 8jährigen Freundschaft mit George alles Weltverbessern, das Schnauben und den Schwefelregen aller jüngsten Tage, alle neuen Zeitrechnungen und Um-
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Dichtung" (GN 228) und sei damit „vielleicht der erste, der die Dichtung auf Gewalt gestellt hat" (GN 232). Von der Kunst als „Ergänzerin des Menschen", „des Zeitalters" und „der Lebensläufe", die „verschollene Daseinsstufen des Menschen in uns wiederholt" 60 und damit die potentielle Ganzheit des Menschen in der Moderne bewahren soll, kann bei beiden nicht die Rede sein: Beide erschrecken uns mit der Ungeheuerlichkeit des reinen Individuums: Nietzsches grenzenloses Fragen und Lösen erscheint uns beinahe weniger bedenklich als Georges Versuch, sein eigenes Selbst bedingungslos zur religiösen Mitte einer neuen Gemeinschaft zu machen. Sie drohen uns, weil sie unsere Art und unsere Zeit sind, Figuren trotzigen Urgesteins, Beispiele, [sie] der Selbsthilfe, im sternenlosen Raum. Ihr Atem ist Zeit, ihre Angst ist Augenblick: sie isolieren uns in der Gegenwart und haben, obwohl sie die Bildungsmassen in einer originellen Weise sichten, kein sicheres Verhältnis zu dem fortwirkend Gewesenen. 61
Der Glaube Georges, als Dichter „dem neuen Menschen die grundlegenden Vorstellungen und Daseinsgeberden schenken" zu müssen, ist für Kommereil daher ein Zeichen ,,höchste[r] Prätention", ebenso wie die Instrumentalisierung von Gedichtzyklen als „Lebensdeutung und Gesetzbuch" und die versuchte Bemeisterung des Lebens durch „Magie" (GN 244). 62 Die „gesellige Dichtung" (GN 246) Georges wird so zum Rückzugsbereich einer ästhetischen und sozialen Konzeption, die die kultische Potenz der Dichtung sichern und gegen die Zumutungen des Lebens verteidigen will.
IV Hier hält es Kommereil doch lieber mit Goethe und dessen „Unendlichkeit des Horizonts" 63 , das als integratives Konzept für ihn die Uberzeugende Alternati-
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formungen der menschlichen Art ausgetobt und im Austoben verlernt, und bin der Meinung, daß man der Sphinx ,Menschheit' allenfalls eine Nase abschlagen, aber keine neue ansetzen kann." (Kommerell (Anm. 6), Nr. 57, S. 323-328, hier S. 323f.); siehe auch Brief Nr. 79, S. 431. Kommerell (Anm. 14), S. 207. Kommerell (Anm. 44), Bl. 13. Siehe GN 245: „Endlich im Teppich: der Verworfene. Moderner Artist ä la Jean Paul. Dort auch urbildlich: die Verrufitng. Moderne Stufe der Magie. Was man einem Menschen mit einem Wort tun kann." Siehe dazu auch Georges Äußerung gegenüber Ernst Robert Curtius: „Mich interessiert einzig das Menschlich-Vitale: Nur durch ein Menschliches vermittelt hat Wissen Wert und Fruchtbarkeit. - Es gibt halt Magie!" (Ernst Robert Curtius: Stefan George im Gespräch (1950). In: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur (1950), Bern und München 31963, S. 100-116). Kommerell, Goethe und die Antike (Anm. 35), Bl. 1846.
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ve zu Georges geselliger und dichterischer Exklusivität bietet. 64 Dessen quasireligiöser Ermächtigung und eigenverantwortlicher Autorität hält Kommereil nun entgegen, daß „zwischen schlechter Magie" und „geistig maskiertem Philistertum" zwar „tiefe Unterschiede der Wirkungsmittel" bestünden, aber „keine der Qualität. Hinter beidem steht frecher Unglaube an das Göttliche, das zugleich die Natur und das reine Menschliche ist". 65 Die Formel, in der Kommereil das „Göttliche", die „Natur" und das „reine Menschliche" identifiziert, verweist auf Goethe, in dessen Zeichen sich auch die Trennung von George vollzieht. 66 In seinen letzten Briefen an den Freund Johann Anton, der ihm gegenüber die Position des Kreises vertritt, stellt Kommerell immer wieder das „reine Gedicht" als das „höhere Individuelle" gegen ein poetisches Programm, dem stets „Aufhöhung, Ethos, Pathos, Ritual zu hilfe kommen" müsse. 67 64
Ein entscheidender Grund für Kommerells Lösung aus dem Kreis war die nicht mehr akzeptierte Einfügung in dessen vorgeschriebene Lebensformen. In einer Niederschrift mit dem Titel Tagebuch: Ein Wendepunkt in meinen freundschaftlichen Beziehungen vom Oktober 1930 heißt es dazu: „Das ganze Umeinanderleben wie es sich herausgebildet hatte, beruhte auf einer so vollständigen Aufgabe des persönlichen Selbstgefühls, wie ich sie höchstens für einen Jüngling, niemals für einen Mann angemessen und erträglich nennen kann. [...] Ich war nun 28 Jahre alt und der Entschluß, von niemandem, so groß er sei, meine Selbstachtung antasten zu lassen, wurde aller Hemmungen Herr." (In: Kommerell (Anm. 6), Nr. 26, S. 182-188, hier S. 182). Kommerell weigerte sich, die ihm zugedachte Stelle im Rat der „Stiftung zur Fortsetzung des Werkes von Stefan George" einzunehmen und teilte dies George in einem Brief vom 17. Juni 1930 mit der Begründung mit, daß „ich nicht mehr derselbe bin". Erklärend heißt es weiter: „Vielleicht schon das Persönliche, sicher aber das vom M. mit dem Begriff staatlich' Umschriebene beruht auf gänzlicher Einfügung in die höhere Einsicht und Absicht! Womit ich dies alles bezahle und bezahlen werde, davon rede ich nicht. Ich bin entschlossen, mein Ich dahin wachsen zu lassen, wohin sein Wachstum drängt - redet man doch so gerne vom Entschluß, wo man eigentlich gar keine Wahl hatte." (Ebd., Nr. 23, S. 170-173, hierS. 170f.).
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Abschrift eines Briefes an Johann Anton vom 7. Dezember 1930, in: Kommerell (Anm. 6), Nr. 30, S. 194-202, hier S. 197. Zugleich wendet sich Kommerell damit auch gegen die offizielle Kreis-Legende, wie sie durch die Blätter-Geschichte von Friedrich Wolters installiert wurde. In der Abschrift eines Briefes an George vom 17. Juni 1930. in dem Kommereil seine zunehmende innere Distanzierung beschreibt, heißt es: „Ich will noch hinzufügen, daß das Woltersbuch mir manches (wenn auch nur einen kleinen Teil) zum Bewußtsein gebracht hat: dies bei aller gewaltigen Leistung für mich doch furchtbare Buch!" (Kommereil (Anm. 6), Nr. 23, S. 170-173, hier S. 171). Vgl. dazu das Kapitel Friedrich Wolters - Max Kommerell. Verherrlichung und Abfall, in: Stefan George 1868-1968. Der Dichter und sein Kreis. Im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft hrsg. von Bernhard Zeller, München 1968 (Marbacher Kataloge 19), S. 310-321. Vgl. dazu Adolf Beck: Der „Geist der Reinheit" und die „Idee des Reinen". Deutsches und Frühgriechisches in Goethes Humanitätsideal (1942/43). In: Ders.: Forschung und Deutung. Ausgewählte Aufsätze zur Literatur. Hrsg. von Ulrich Fülleborn, Frankfurt a. M. und Bonn 1966, S. 69-118, bes. S. 82. Kommereil, Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 6), Nr. 30, S. 194-202, hier S. 197. Wie wenig die Vorstellung des ,reinen' Gedichts als des,höheren Individuellen' den Ansprüchen des Kreises entsprach, belegt ein Brief Johann Antons an Kommerell vom Ende November 1930, in dem dieser Kommereils Wunsch kommentiert, bei Bondi Gedichte zu veröffentlichen und sich gleichzeitig aus dem Kreis zurückzuziehen: „Eine Verschiebung auf das
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Gegenüber solchen Formen dichterischer oder interpretierender Vereinnahmung entwickelt Kommereils philologisches Verfahren nicht nur ein profundes Mißtrauen, sondern einen regelrechten Abwehrkomplex, der im offen-assoziativen Deutungsansatz sowie im Konzept der Ergänzung seinen deutlichsten Ausdruck findet. So erwartet Kommereil nicht nur vom „dichterischen Individuum" (GG 44) eine „Fähigkeit zur Ergänzung, die inmitten einseitiger Tätigkeiten und Anlagen die ungeteilte Einfalt des menschlichen Daseins rettet"68, sondern legt auch in der Vorbemerkung seiner Gedanken über Gedichte größten Wert darauf, deren „Auslegungen nicht dogmatisch werden zu lassen, sondern sie beweglich zu halten. Denn wir sind auf Ergänzung angewiesen". (GG 7f.) Daß etwa Martin Heidegger in seinen Hölderlin-Deutungen auf derlei Ergänzungen nicht angewiesen zu sein glaubt, ist denn auch einer der schwersten Einwände Kommereils. In seinem ausführlichen Antwortbrief vom 29. Juli 1942 wirft er diesem deshalb vor, sich seinem Gegenstand ebenso ,gewaltsam', „ausschließlich und dogmatisch"69 genähert zu haben wir vor ihm schon Hellingrath und George.70 Mit dem Ziel, solche Dogmatismen und Ausschließlichkeiten zu vermeiden, bestreitet Kommerell auch eine seiner letzten Lehrveranstaltungen: Im Sommersemester 1943 hält er eine Vorlesung, die George und Rilke gewidmet ist.71 Im Kontext des neuen ästhetischen und poetologischen scheinbar objective (,meine Gedichte sind gut, also...') ist ein menschlich unerlaubtes Ultimatum und Rechtbehalten wollen. Du behauptest damit eine Dimension, die nach meiner Meinung nur im luftleeren Raum existiert. Du weißt, daß ich deine Gedichte sehr gern habe aber (zum Teufel) ich habe es dir immer gesagt: der Staat ist mehr als eine Prüfungsstelle für gute Gedichte. Du solltest doch bemerkt haben, daß die Auseinandersetzung mit dem Meister eine ganz andere Bewährung ist als die Herstellung von Versen! Sans cela - wirst du zum Litteraten - was ich fur meinen liebsten und nächsten nicht wünsche." (in: Kommereil (Anm. 6), Nr. 30, S. 199). 68
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Die unterschiedliche „Fähigkeit zur Ergänzung" ist fur Kommereil auch ein Differenzkriterium zwischen Goethe und Hölderlin - denn „wie dort der innere Gehalt des Menschen ergänzt wurde, wird hier die Gestalt des Lebens ergänzt" (GG 46). Kommereil (Anm. 6), Nr. 74, S. 400: „Ein Beweis für das was ich sage, auf die Gefahr, daß auch durch Sie, gewiß ohne Ihr Wollen, Gewalt geschah: das Bedeutende einer solchen Äußerung liegt darin, daß Sie durch die Dimension des Schicksals - des Ereignisses, des Werdens - an Hölderlin anders heranreicht, als die im reinsten Sinne geübte Wissenschaft." Zum Verhältnis von Kommerell und Heidegger vgl. Walter Busch: Kommerells Hölderlin. Von der Erbschaft Georges zur Kritik an Heidegger. In: Max Kommereil. Leben - Werk Aktualität (Anm. 1), S. 278-299; Joachim W. Storck: Hermeneutischer Disput. Max Kommerells Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Hölderlin-Interpretation. In: Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jons. Hrsg. von Hartmut Laufhütte unter Mitwirk, von Jürgen Landwehr, Tübingen 1993 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 24), S. 319-343. Erhalten sind zwei Mitschriften der Vorlesung, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befinden: Max Kommerell: George und Rilke, SS 1943. Mitschrift von Elfriede Ehl, Prosa. Vorlesungen, D 86.469-470, DLA Marbach (= GR); Max Kommereil: George und Rilke, SS 1943. Mitschrift von Gertrud Tenbrock, Prosa. Vorlesungen, D 86.469-86.470, DLA Marbach. Die Vorlesungen weichen in verschiedenen Punkten voneinander ab und
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Zugangs, der sich an Goethe orientiert, haben die Gedichte des früheren Leitbilds George (wie auch Hölderlins) ihre Normativität verloren und sollen nun, im Zuge dieser Relativierung, wieder von ihrer sprachlichen Besonderheit und formalen Gestaltung aus begriffen werden. Schon 1936 hatte Kommereil in diesem Sinne an seine Schwester geschrieben: S o w e i t d i e W i r k u n g e n G e o r g e s g e s t o r b e n sind, sind sie n i c h t an s e i n e m T o d g e s t o r b e n , s o n d e r n a n ihrer e i g e n e n S t e r b l i c h k e i t . E s ist d i e g r o ß e P r o b e f ü r d e n D ä m o n G e o r g e s , d a ß d i e g a n z e H o f f a h r t a u g e n b l i c k l i c h e r M a c h t f ü l l e statt zu w a c h sen u n g l a u b l i c h s c h n e l l zersplittert, u n d d a ß d i e v o n i h m g e s c h w e l l t e n M e n s c h e n , w a s sie a u c h p r i v a t i m sein u n d b e d e u t e n m ö g e n , z u r N i c h t i g k e i t d e r v ö l l i g e n U n p r o d u k t i v i t ä t z u r ü c k s a n k e n - e s ist d i e P r o b e d i e s e s D ä m o n s , o b er z u g a n z a n d e r n T a t e n a u s h o l e n w i r d als d i e s e n . O d e r zu g a r k e i n e n . A u c h d a s ist m ö g l i c h : u n d d a n n ist G e o r g e n i c h t m e h r u n d n i c h t w e n i g e r b e s c h i e d e n , als d i e s t i l l w i r k e n d e K r a f t d e r D i c h t u n g ; sie w i r d e s ü b e r l e b e n , d a ß d u r c h s o ü b e r l a u t e A n p r e i s u n g u n d V o r w e g n a h m e ihr b e i n a h d i e U n s c h u l d g e n o m m e n w a r . E i n s c h ö n e s
Gedicht
b l e i b t ein s c h ö n e s G e d i c h t , u n d ein g r o ß e r u n d m e r k w ü r d i g e r M e n s c h b l e i b t d i e s e r Mensch.72
Anders als bei Hölderlin7' gelingt dieser Fokus auf die „stillwirkende Kraft der Dichtung" und das ,schöne Gedicht' Georges aber nur bedingt. Dies liegt sowohl an der eigenen Nähe zum Gegenstand, mit der Kommereil sich grundsätzlich schwertut (das „Lesen eines zeitgenössischen Dichters ist etwas ganz anderes als die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Dichter der Vergangenheit" (GR 1)), als auch an den Texten selbst, deren Rezeptionsvorgaben Kommereil als Georges „vorläufige Selbstinterpretation" (GR 3) bezeichnet, das heißt als Versuch, die Deutungsvielfalt der Gedichte von vornherein zu beschränken und zu kontrollieren:
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müssen teilweise mit Vorsicht interpretiert werden, da sie nicht mit einer unmittelbaren Vorlage Kommerells verglichen werden können. Notizen und Exzerpte Kommerells finden sich in der Mappe: Max Kommerell: Rilke George. Ms.T. Aufzeichnungen (IC 194-364), Prosa, D 86.544, DLA Marbach. Brief vom 13. Januar 1936, in: Kommerell (Anm. 6), Nr. 34, S. 315-317, hier S. 316. Die Auseinandersetzung mit Hölderlin, dem eigentlichen Lieblingsdichter, hatte Kommerell nach seiner Trennung von George gemieden, sie beginnt erst wieder im Zuge der Beschäftigung mit den Deutungen Heideggers und fuhrt zu mehreren Aufsätzen und längeren brieflichen Kontroversen zwischen 1940 und 1944. Dorothea Hölscher-Lohmeyer deutet Kommerells zeitweilige Abwendung von Hölderlin als Distanzierung von George (Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Entwürfe einer Jugend. Zu den frühen unveröffentlichten Briefen Max Kommereils. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hans-Henrik Krummacher/Fritz Martini/Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1984, S. 339-362, bes. S. 345-350, hier S. 347). Vgl. auch das Nachwort der Herausgeberin Abstand, nicht Widerstand: Max Kommerell in: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. Schiller, Kleist, Hölderlin. Hrsg. von Claudia Albert, Stuttgart und Weimar 1994, S. 248-253.
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George ist vielleicht der erste große Dichter in der Weltliteratur, der seinen R u h m und seine Wirkung schon selbst mitbesorgt hat. Er hat direkt und indirekt die Art. wie er sich gesehen wissen wollte durch sich selbst und andere mit ganz besonderer Energie vorausbestimmt. Das ist ein Unternehmen, das seine zwei Seiten hat. Es erzwingt bis zu einem gewissen Grade Gehorsam. So zeigt die Herkunft Georges aus einer großen Erneuerung der Lyrik, die von ihm bestimmte und inaugurierte Wirkung ein zeitgenössisches Element an, das nichts aussagt über das letzte Wesen Georges, dem, möchte ich fast sagen, nicht ganz zu trauen ist. Der eigentliche George ist viel mehr als seine Selbstauslegungen ahnen lassen. (GR lf.) 7 4
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Die schwierige Balance zwischen gebotenem Mißtrauen und „bis zu einem gewissen Grade" notwendigem Gehorsam hindert jedenfalls an jenem „unbefangenefn] Befragen des Gegenstandes"75, das Kommerell für seine Beschäftigung mit Goethe, Schiller, Kleist oder Hölderlin in Anspruch nimmt. Die Überschneidung von Person, Werk und Lehre, auf welcher insbesondere der späte George bestanden hatte, kann auch von Kommerell nicht aufgelöst oder rückgängig gemacht werden. Statt des ,reinen Gedichts' geht es hier um Texte, die über sich selbst hinaus auf eine Erlösungsbotschaft und einen Erlöser verweisen und sich gerade nicht darauf beschränken, bloße ,,Akt[e] der Selbsterkenntnis" (GG 23) zu sein, wie Kommerell in seinen Gedanken über Gedichte gefordert hatte.76 Er durchschaut zwar Machtanspruch und Politik des früheren 74
Kommerell (Anm. 6), Nr. 74, S. 396-405, hier S. 396. In seinem Buch über den Ästhetischen Katholizismus untersucht Wolfgang Braungart Georges Selbstinterpretation und Rezeptionskontrolle als Formen des Rituals: „Eine solche Evokation vielfältiger Bedeutungen in einem prinzipiell offenen Bedeutungsraum des Textes wird Georges Werk in seiner Entwicklung immer mehr zu kontrollieren suchen, weil sie den Leser in seiner Bedeutungsfreiheit belassen, ja sie geradezu fördern würde." (Braungart (Anm. 53), S. 15f.) Die Stilisierung Maximins zum Gott ist für Braungart „der stärkste Versuch Georges, die Auslegung zu kontrollieren." (S. 96) Auch Cornelia Blasberg spricht mit Blick auf den Stern des Bundes von einer „Architextur" der Anordnung: „Die Semantik dieser .Architextur' ist den Versen wie einen zweite Haut übergenäht. Sie verpflichtet nicht nur zu bestimmter Lektüreweise, sie deutet zurück auf Georges eigene, reflektierende Gedicht-Lektüre und seine Anstrengung zur Selbstauslegung und ,Zeichen-Deutung'." (Cornelia Blasberg: „Auslegung muß sein". ZeichenVollzug und Zeichen-Deutung in Stefan Georges Spätwerken. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Für die Stefan-George-Gesellschaft hrsg. von Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 17-33, hier S. 26).
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Max Kommereil: Vorbemerkung. In: Ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung (Anm. 14), S. 7. Bernhard Böschenstein beschreibt Georges Anspruch mit Bezug auf den Stern des Bundes: „Das Gedicht stiftet den inneren und äußeren Kreis und erlangt seine Legitimation durch diese Anwendung. [...] Das Gedicht hat seine Ewigkeitsdimension an einen Gott abgetreten, der da war und jetzt, als ein Entrückter, ein Maß und ein Gesetz hinterläßt, das dem des Gedichts in den früheren Bänden entspricht. Darum ist das neue Gedicht in einer dienenden, dem Gott
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Meisters, kann dessen Werk aber nicht unabhängig davon untersuchen - auf die den Texten inhärenten autoritären Strukturen weiß sein auf Offenheit und Ergänzbarkeit abonniertes Modell keine Antwort. Daher schlägt hier auch die an Goethe entwickelte Methode fehl, von Texten ausgehend ein geistiges Schema der Person und damit einen Interpretationsansatz für diese Texte zu entwerfen. Vielmehr geht Kommerell nun den umgekehrten Weg und überträgt die Analyse der Persönlichkeit auf die Texte: Das „Rätsel Georges" (GR 3) sind für Kommerell „nicht seine Gedichte, das ist er selbst". Die dialogische Kommunikationsstruktur ganzer Gedichtzyklen wird daher mit dem Terminus der „Ich-Spaltung" (GR 5) erklärt, der Georges Persönlichkeitsstruktur als schizophren beschreiben und deren Ausprägung im Werk deutlich machen soll - für Kommerell ist diese „ein durchgehendes Gesetz" (GR 8). Aus dieser Perspektive erscheint vor allem die späte Dichtung Georges als Selbstgespräch, als autistischer Akt, dem auch die Inszenierung Maximins als vergöttlichtem alter ego entspricht.77 Dessen Erscheinung sei „kein Ereignis, sondern eine Deutung" (GR 6), das man als persönlich-künstlerischen Entwurf ernst zu nehmen habe, ohne selbst an dieses ,glauben' zu müssen.78 Auch die Selbstdeutungen Georges sind für Kommerell Teil dieses Modells und bezeichnen nicht eigentlich einen Abstand zu sich selbst (wie bei Goethe),
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unterworfenen Situation. Es zwingt den Leser, durch es hindurch auf jenen zu schauen und damit vom Gedicht sich abzuheben. Die Festigkeit und Sicherheit der Verse beruht darauf, daß sie nicht mehr sich selber meinen, sondern den, der alle Bedürfnisse und Nöte der Zeit zu beantworten vermag." (Bernhard Böschenstein: Magie in dürftiger Zeit. Stefan George: Jünger - Dichter - Entdecker. In: George-Jahrbuch 1 (1996/97), S. 7-22, hier S. 14). Ernst Osterkamp untersucht Georges „autopoetisches System" einer sich nur in der Kunst erfüllenden Prophetie am Beispiel des Gedichts Der Gehenkte aus Das Neue Reich (1928) und spricht vor allem in Hinblick auf den Siebenten Ring (1907) und den Stern des Bundes (1914) von einer Entdifferenzierung von Autor und poetischem Ich: „ Mit der Wandlung Georges zum Künder eines neuen Gottes, der der Gott des Neuen Reiches der wiedergewonnenen Ganzheit ist, löst sich die Differenz zwischen Autor-Ich und poetischem Ich auf; das Ich der Maximin-Gedichte ist in einem sehr konkreten Sinne das Ich Georges, denn die Wahrheit des Sehers läßt sich nicht in einem ästhetischen Fiktionsspiel, sondern allein in der persönlichen Gotteserfahrung begründen." (Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin". Stefan Georges poetische Rollenspiele, München 2002 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen 74), S. 31,35). Auf die Deutungsdimension des Maximin-Kultes weist auch Wolfgang Braungart hin: „Maximin soll Georges Ritual fundieren, auch das ästhetische des Textes. Daß George diese Fundierung suchte und für sein Werk brauchte, läßt sich auch daran ablesen, daß die meisten Gedichte des Siebenten Rings vor dem Tod Kronbergers geschrieben und erst im Nachhinein von George als Trauerritual inszeniert wurden. Die kultische Fundierung der Kunst durch Maximin ist also Ergebnis der Kunst selbst." (Wolfgang Braungart: „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen". Stefan Georges poetische Eucharistie. In: George-Jahrbuch 1 (1996/97), S. 53-79, hier S. 64).
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sondern fungieren als mythische Selbstlegitimationen. 79 Der Versuch, mit Hilfe von Psychologie dem „Rätsel der Person" nahezukommen und gleichzeitig deren Aura gerecht zu werden, generiert einen Ansatz, der Faszination und Philologie in Einklang zu bringen versucht und wiederholt dazu fuhrt, daß das Charisma der Erscheinung die Deutung des Textes überlagert. Dabei hatte Kommereil die charismatische Außenwirkung Georges schon in seinen früheren Notizen zu George und Nietzsche, wie bereits zitiert, als „Sicherung eines sich Gestaltenden gegen Chaos" (GN 241) analysiert und der „heroischen Pathetik" dieser Attitüde etwas „Ängstliches" attestiert. Gegenüber einem Habitus, der sich nicht „mischen" (GN 243), sondern nur „spiegeln" will und damit seine Reinheit zu bewahren glaubt, setzt Kommerell nun auf die „Störbarkeit unserer Gestalt" (GN 241), das heißt auf Übergänge, Brüche und die ,Unreinheit' der,Mischung' mit der Welt. Wie sehr sich wissenschaftlicher Zugang und persönliches Betroffensein hier zuweilen überschneiden, zeigt eine unscheinbare Anspielung, bei der es um die Ambivalenz des stark strapazierten Begriffes der Reinheit geht. In dem 1936 veröffentlichten Aufsatz Goethes indische Balladen interpretiert Kommereil Goethes Legende aus der Paria-Trilogie als ein Gedicht, das den „Begriff der Reinheit, wie die Menschen ihn gefaßt haben, [...] berichtigt". 80 Denn die Brahmanin, die nach ihrer Enthauptung mit fremdem Körper und eigenem Kopf wiederbelebt wird, vertrete das Reine im Unreinen, oder des Unreinen Möglichkeit, in Reines überzugehen, weil sie selber dieser Übergang ist. Sie vertritt die Unentbehrlichkeit des Unreinen für das Reine, das nicht rein wäre ohne jenes. Ja: dessen Reinheit ohne das Element des Unreinen, aus dem sie sich erhebt, falsch wird, weil sie die Ganzheit der Natur und die (freilich kaum erträgliche) Wahrheit der Seele verleugnet. 81
Dieses Lob der Mischung und der Unreinheit, die zum Garanten für die umfassende Erfahrung der ,Ganzheit der Natur' und der, Wahrheit der Seele' werden sollen, enthält eine ironisch-persönliche Pointe, die sich erst durch Kenntnis der Lebensumstände erschließt: Wenn Kommerell als Beispiel einer unnatürlichen Trennung von rein und unrein zweimal die Kröte nennt („Die Natur kennt nicht rein und unrein. Erst der Mensch sagt: Die Kröte ist unrein."82), von der in Goethes Gedicht gar nicht die Rede ist, so spielt er an auf jenes selten mit Reinheit assoziierte Tierchen aus der Familie der Froschlurche, als 79 80 81 82
Siehe auch GN 235: „Extremster Verdacht: das mit allen Mitteln objektivierte Kreiswesen rein persönliche Lebensbedingung Georges." Max Kommereil: Goethes indische Balladen. In: Goethe-Kalender auf das Jahr 1937 (1936), S. 158-185, hierS. 175 (vgl. GG 417-429). Ebd., S. 181. Ebd., S. 175. Siehe auch S. 181 f.: „Auch der Stein, auch der Kot, auch die Kröte, ja der Schleim der Kröte ist in ihr [der Brahmahnin; M.W.] und schreit aus ihr".
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das ihn George (mit Anspielung auf Shakespeare) nach der Trennung zu bezeichnen pflegte. Zwar sei Kommerell „eine kröte, aber sie hat einen edelstein im köpf. [...] Schliesslich wird's ihr gehen wie dem frosch, der sich aufbläht bis er platzt. Sie meint alles zu können, weil sie vieles kann, aber sie irrt sich: vom individualen aus lässt sich nicht alles machen." 83 Kommerell, der Georges Abneigung gegen alles allzu Individuelle kannte, 84 ist dann doch nicht geplatzt - vielleicht gerade weil er sich aus dem „Monumental-Max" 85 seiner George-Zeit wieder verwandeln konnte und die Zwischenbereiche und Abstufungen nicht gescheut hat. Das poetologische Modell, das Kommereil dabei entwickelt, opponiert nicht einfach gegen die Wissenschaft und Dichtung des Kreises, sondern setzt sich kritisch mit ihr auseinander und oszilliert dabei zwischen einer ganzheitlichen Kunstvorstellung, die sich an Goethes Totalität orientiert, und einer Faszination für das Krisenhafte und Übergängige in der Kunst, die Kommerell etwa bei Hölderlin, Jean Paul oder Hofmannsthal findet. Es ist gewiß nicht die geringste Leistung dieser engagierten Beschäftigung mit Literatur, dabei passioniertes Dichtungsverständnis und wissenschaftliche Präzision verbunden zu haben. Doch „Genauigkeit und Begeisterung" sind ohnehin, wie Kommereil in einem Manuskript notiert, „nur für zähe Seelen ein Gegensatz!" 86
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Robert Boehringer: Der ewige Augenblick (1945), Düsseldorf und München 1965, S. 50. Walter Anton, der Bruder von Johann, nennt Kommerell nach einem Bericht Ludwig Thormaehlens das „Reptil" (Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George. Aus dem Nachlaß hrsg. von Walther Greischel, Hamburg 1962, S. 258). Berthold von Stauffenberg schreibt dem Meister am 10. Oktober 1933 mit Bezug auf Kommerells Jean Paul: „gestern bekam ich das neue Krötenbuch [...]. Es wird nun wohl auch schon in Deine hände gekommen sein." (Zitiert nach: Groppe (Anm. 1), S. 469). Vorher hörte Kommerell im Kreis auf ,das Kleinste', ,Puck', ,Maxim' (mit Anklang an Maximin) und bildete gemeinsam mit Johann Anton ,die Dioskuren'. Vgl. dazu Landmann (Anm. 15), S. 127-130 u.ö.; Boehringer (Anm. 17), S. 181-190, bes. S. 190. In den Notizen zu Nietzsche und George heißt es: „Das Individuum ist ihm ein Geringes, immerhin, es ist da und er kennt es als Bedingung, damit der Gott leiblich werde." (GN 235). So bezeichnet Kommerell sich rückblickend in einem Brief an seine frühere Freundin Else Eichler vom November 1943, in: Storck (Anm. 1), S. 24. Zu seiner George-Zeit, für die er diese Beziehung aufgab, schreibt Kommereil: „Ich denke dabei weniger an Freude und Leid, als an meine innere Verfassung die mir - und das ist das Bessere! - als Chaos, und dann das ist das Schlimmere - als Verfälschung meiner selbst erscheint. Und doch muss ich mir wieder gestehen: auch eine solche ,Verfälschung', wenn man sie durchstand, kann man nicht rückgängig machen, ja, man muss sich zu seinem eigenen Ich auch in dieser Form widerwillig bekennen - denn, was einen bewog, sich unwissend einer solchen Verfälschung auszusetzen, das muss doch wieder ein eigener Trieb gewesen sein. [...] Ich will das Große jener Zeit nicht verkennen und verleugnen. Und wenn das mühsame Nachholen des Versäumten, das Wegräumen des Verfälschten, und die Einfachheit des Daseins einmal abgeschlossen und gesichert ist, dann kann ich auch gerechter sein und sagen: das, an dem ich beinah zugrunde ging, kann dennoch groß gewesen sein - vielleicht gar: es war mir dennoch zu vielem gut." (S. 24f.). Kommerell, Goethe und die Antike (Anm. 35), Bl. 1831.
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Die Apotheose der heroischen Schöpferkraft Shakespeare im George-Kreis Prolog Shakespeare gehörte zu der kleinen Anzahl von dichterischen Geistesheroen, die die Traditionslinie bilden, der sich Stefan George selbst zurechnete und die von seinem Kreis in Monografien zu einer Monumentenreihe errichtet wurde. Außer Shakespeare zählten dazu Dante, Goethe, Hölderlin und - mit Abstrichen — Nietzsche. Georges Bekanntschaft mit Shakespeares Werken ist bereits für die Mitte der 80er Jahre bezeugt, als er im Grossherzoglichen Hoftheater in Darmstadt den Auffuhrungen der klassischen Repertoirestücke Shakespeares beiwohnte. In seinem ersten Berliner Semester hörte George 1889/90 eine Vorlesung von Zupitza über Hamlet. Seine künstlerischen Anregungen holte George sich allerdings in den 90er Jahren vorwiegend aus dem französischen Symbolismus, zumal sein primäres Interesse der Erneuerung der deutschen Dichtungssprache in der Lyrik galt. Von daher leuchtet es ein, das sich seine nähere Beschäftigung mit Shakespeare über die Lektüre der Sonette entwickelte. Friedrich Gundolf, Georges erster Jünger und Meisterschüler, dürfte bereits vor ihrer ersten persönlichen Begegnung im April 1899 mit der Übersetzung von Shakespeare-Sonetten beschäftigt gewesen sein, da er bereits im Juni 1899 mitteilt, er habe „ungefähr sechzig Sonnette"1 übertragen. Zugleich geht aus demselben Brief hervor, dass George ihm die Fortsetzung der Übersetzung wohl mit Blick auf einen möglichen Druck in den Blättern für die Kunst als „hohe Aufgabe" gestellt hatte. Gundolf gesteht allerdings in einem Brief an George, dass er weder die deutsche noch die englische Sprache
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Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München und Düsseldorf 1962, S. 30. Vgl. auch Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895-1928, Leipzig, Strassburg, Zürich 1936, S. 27, der aber fälschlich die erste Begegnung zwischen Gundolf und George auf den 4. August 1899 datiert.
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so beherrsche, dass er sich eine komplette Übertragung zutraue. 2 Seine Übersetzungsproben sind denn auch nicht in die Blätter aufgenommen worden, wie überhaupt die Arbeit an den Übersetzungen bereits im selben Jahr 1899 zum Erliegen kommt. Vielleicht dass Gundolfs Übersetzungen, so ihr Herausgeber Jürgen Gutsch, „eine bedeutende Anreger-Rolle'" für Georges eigene Umdichtungen der Shakespeare-Sonette spielten und damit ihre Funktion erfüllt hatten. Spätere Textzeugnisse haben sich jedenfalls nicht gefunden, j a es haben sich die erwähnten 60 Sonette nicht einmal vollständig erhalten. Lediglich 49 von Gundolf übertragene Sonette und Sonettfragmente sind im George- und Salin-Nachlass überliefert und anlässlich des Anniversariums publiziert worden. Möglicherweise hat Gundolf die Arbeit an den Sonetten dazu motiviert, Shakespeares Dramen (wieder) zu lesen. Im August berichtet er Karl Wolfskehl begeistert von seiner Lektüre von As you like it. Gestern las ich ganz in einem Zuge Shaksp. As You like it was mich immer in eine fieberhafte Bewunderung treibt und dann in eine grosse zufriedene Ruhe, ein Gefühl grossen unentreissbaren Eigentums, als wenn wir ein Kompendium der Natur mit allen Schätzen, Wälder und Fluren, bei uns trügen zu jeweiligem Ergötzen. [...] Das Stück, ein Minderes des Gottes, gehört übrigens zum Tiefsinnigsten und Witzigsten, was es gibt. 4
Am 21. Dezember 1901 schreibt Gundolf an George, dass er bei Grillparzer auf Äußerungen über Shakespeare gestoßen sei, „die mit Deiner Lehre über den Dramatiker überraschend einstimmen und wie ausser seiner Zeit klingen: dass nur ein Mensch von den wildesten Leidenschaften Dramatiker sein könne und in Sh. die Möglichkeit zum Mörder Dieb und Schurken gewesen sei, beherrscht durch den bildnerischen Trieb oder einen anderen." 5
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Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1) S. 29. Friedrich Gundolfs Shakespeare-Sonetten-Fragmente (1899). Zum Jubiläumsjahr 1999 mitgeteilt von Jürgen Gutsch. München 1999, S. 8. Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899-1931. Hrsg. von Karlhans Kluncker. Bd 1. 1899-1904, Amsterdam 1976 (Publication of the Institute of Germanic Studies. University of London Vol. 24), S. 45f. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel. (Anm. 1) S. 100. Friedrich Gundolf bezieht sich hier offenbar auf folgenden Tagebucheintrag Grillparzers aus dem Jahr 1817: „Ich glaube, daß das Genie nichts geben kann, als was es in sich selbst gefunden, und daß es nie eine Leidenschaft oder Gesinnung schildern wird, als die er [!] selbst, als Mensch, in seinem eigenen Busen trägt. [...] Also sollte Shakespeare ein Mörder, Dieb, Lügner, Verräter, Undankbarer, Wahnsinniger gewesen sein, weil er sie so meisterlich schildert? Ja! Das heißt, er mußte zu dem allen Anlage in sich haben, obschon die vorherrschende Vernunft, das moralische Gefühl nichts davon zum Ausbruch kommen ließ. Nur ein Mensch mit ungeheuren Leidenschaften kann meiner Meinung nach dramatischer Dichter sein, ob sie gleich unter dem Zügel der Vernunft stehen müssen und daher im gemeinen Leben nicht zum Vorschein kommen." Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hrsg. von Peter Frank und
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Anfang 1902 beschäftigte sich Gundolf intensiv mit Shakespeares römischen Dramen, insbesondere mit Antonius und Cleopatra und Coriolan. An Wolfskehl schreibt er, dass deren „erneute und vertiefte lektüre mich immer tiefer schaudern macht." 6 In diesem Zusammenhang fallen bereits die Stichworte ,Schöpfergeist' und ,Kosmos' die die Perspektive seiner ShakespeareDeutungen antizipieren. Gundolf schreibt hier über den Briten: „Er steht einsam jenseits aller Weltlitteratur auch über Dante als Schöpfergeist, [...] allumfassender Reichtum der in jedem Wort den ganzen Kosmos mit allen Elementen heraufhebt. Jeden tag les ich [...] ein Stück eben Coriolan, [...] es ist die einzige Möglichkeit durchs Wort zu Gott zu werden." 7 Am 27. April 1904 schreibt Gundolf George von einem Besuch, den er gemeinsam mit seinem Bruder Ernst im Hause der Darmstädter Familie Becker gemacht habe, in deren Besitz sich seit 1847 eine angebliche Totenmaske Shakespeares befand. Er nennt sie einen „Anblick der allerdings alle Photografie-Vorstellungen weit weit übertrifft! So bald Du wieder nach Darmstadt kommst musst Du sie auch sehen. Es ist der erhabenste und adlichste Kopf den ich kenne. An der Echtheit ist nur für Krämer ein Zweifel." 8 Tatsächlich wird Friedrich Gundolfs Bruder Ernst noch 1928 eine engagierte Verteidigung der Echtheit gegen neuerlich erhobene Zweifel im Shakespeare-Jahrbuch führen, auf die ich später eingehen werde. Ob George Friedrich Gundolfs Empfehlung befolgte und die Darmstädter Totenmaske persönlich in Augenschein nahm, ist nicht bekannt. Jedenfalls findet sich in seinem Gedichtband Der Siebente Ring von 1907 im letzten Teil mit dem Titel Tafeln das Gedicht Heiligtum mit folgendem Wortlaut: Wie tot ist mancher Stadt getümmel und gekling: Nur gilt ein altes bild als einzig lebend ding ... Hier liegt die form des kopfes der wie nie Ein köpf Verachtung auf die menschen spie. 9
Auch Friedrich Gundolf selbst hat sich von der Darmstädter Totenmaske zu einem Gedicht inspirieren lassen. Im Oktober 1910, im selben Brief, in dem er George um Zustimmung zu seinem Plan bittet, seine Habilitationsschrift über Shakespeare bei Bondi zu verlegen, kommt Gundolf noch einmal auf die Totenmaske zu sprechen:
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Karl Pörnbacher. Bd 3. Satiren. Fabeln und Parabeln. Erzählungen und Prosafragmente. Studien und Aufsätze, München 1964, S. 642. Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf (Anm. 4) Bd 1. S. 148. Ebd. S. 148f. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 153. Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Bd. VI/VII. Der Siebente Ring, Berlin 1931, S. 206.
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Shakespeares Totenmaske ergreift mich je länger, je mehr: und ich meine mehr über das innerste dieses Herzens zu wissen, wenn ich dies Antlitz betrachte. War dies der Gott der ruhvoll erden schuf, Der mensch der alle holten leiden musste? Bist du gebannt in diese bleiche kruste Und weckt dich unser scheuer liebesruf? Unfassbares, untragbares gesicht Die ganze weit als träum und qual und wissen Dringt stumm aus deinen kalten finsternissen Nachglanz von tiefster glut und hellstem licht Findst du nicht auch vor allem den Dichter der Sonette wieder in dem magischen Haupt? ... Es ist kein Zweifel dass dies wirklich Shakespeares Gesicht ist und es macht mich, als gebornen Symbolisten, glücklich, dass man die Leibliche Form dieses Weltgeistes besitzt, und dass sie in Darmstadt liegt, als Amulett und Talisman meine Übersetzung schirmend.10
Ganz ähnlich schrieb Gundolf zu gleicher Zeit an Ernst Bertram: Wenn Sie etwas Schönes sehen wollen, so besorgen Sie sich Paul Wislicenus. Shakespeares Totenmaske. ... der ergreifendste Menschenkopf den man erdenken kann und der schwerlich einem andern Mann gehört haben kann als dem Verfasser der Sonette. Den erkennt man wieder, den Weltschöpfer selbst getraut man sich nicht vorzustellen.11
Die Verdeutschung Shakespeares durch George, Gundolf und Wenghöfer Zu dieser Zeit steckten Friedrich Gundolf und Stefan George bereits tief in der Übersetzungsarbeit an Shakespeare. Die Anregung zu einer neuen Verdeutschung von Shakespeare war von Georges Verleger Georg Bondi im Februar 1907 gekommen. George selbst nahm sich zunächst alleine der Sonette an. Sie gehörten in seiner Handbibliothek seit je zu den ,unbedingten' Büchern12 und befanden sich auch in der schmalen Bibliothek im Münchener Kugelzimmer. Im Frühling 1907 begann George die Übersetzung der Sonette und schloss sie im Dezember 1908 ab. Im Jahr darauf erschienen sie in Buchform. Schon zuvor las George aus seiner Übertragung im Januar 1909 im Berliner Freundeskreis. lj Vielleicht bei dieser Gelegenheit, jedenfalls am 25.Januar 1909 nannte 10 11 12 13
Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 208. Ebd. S. 208f. Vgl. Ernst Glöckner: Begegnung mit Stefan George. Auszüge aus Briefen und Tagebüchern 1913-1934. Hrsg. von Friedrich Adam, Heidelberg 1972, S. 219. Vgl. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 38.
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George Vallentin gegenüber Shakespeare als einzigen neben Homer und Dante eine Persönlichkeit, die eine „rein dichterische Prägung ohne Nebenzwecke"14 sei. 1910 sollte George auf Vorschlag von Erich Schmidt anläßlich der Jahrhundertfeier der Berliner Universität die Ehrendoktorwürde für seine Verdienste um die Verdeutschung Shakespeares verliehen werden. Der Plan zerschlug sich. Man verlieh sie stattdessen Wilhelm II. und Cosima Wagner. Die Prinzipien von Georges Sonett-Übersetzung sind von Olga Marx ausführlich beschrieben worden. Sie hebt die Tendenz zu Wortzusammensetzungen, die Wiederbelebung alter Wortformen, die Ersetzung der indirekten durch direkte Rede, Straffung und Verknappung (etwa Verwandlung von Relativsätzen in Ausrufe), Konkretisierung und kommentierende Auslegung hervor.15 Das Shakespeare-Handbuch würdigt seine Übersetzung als einen Paradigmawechsel, da sie „zum erstenmal [...] die [...] Schwierigkeit der Versanglichung bewältigt" habe, zugleich „wörtlich bis in die Nachbildung des Klanges und doch eine eigenständige Eindeutschung von herber, preziöser Schönheit [sei]".16 Bei der Übertragung der Dramen war anfangs noch an die Mitwirkung des Anglisten Wilhelm Wetz gedacht worden, dem Gundolf seine ersten Erfahrungen mit dem Übersetzen in diesem Frühjahr berichtet: Bis jetzt habe ich gefunden, dass das Wörtlichste immer das Dichterischste war, indem Shakespeares Poetentum nicht im vermischenden Schönsehen sondern im dämonisch eindeutigen Umreissen und Herausreissen aller Gestalten, Gefühle und Sätze besteht. Beim Coriolan besonders habe ich ein wahres Entzücken beim Obersetzen gefunden im treuesten Nachfahren dieser energischen Züge, und dies Entzücken verheisst mir, dass es mir gelänge in das dichterische Leben dieses Werks einzutauchen. 17
Schon von Beginn an zeigt sich hier Gundolfs Prinzip der möglichst wörtlichen Übersetzung. Als erstes wendet er sich dann Antonius und Cleopatra zu, während George sich den Sonetten widmet. Ab diesem Zeitpunkt entsteht in enger Kooperation zwischen George und Gundolf, die oft Wochen und Monate am selben Ort verbringen, in den Jahren 1908 bis 1918 eine neu übersetzte zehnbändige Shakespeare-Ausgabe. Neun Stücke übersetzt Gundolf komplett neu, in den anderen Fällen legt er die Schlegel-Tiecksche Übersetzung zu Grunde. Die zweite, 1920 bis 1922 erschienene Ausgabe in sechs Bänden enthält auch Shakespeares Versepen, deren Übersetzung zunächst Walter 14 15 16 17
Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George 1902-1931, Amsterdam 1967, S. 37. Vgl. Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung, Amsterdam 1967, bes. S. 24-32. Günther Erken: Die deutschen Übersetzungen. In: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit. Der Mensch. Das Werk. Die Nachwelt. Hrsg. von Ina Schabert, Stuttgart 1978, S. 908. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 185.
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Wenghöfer, ebenfalls ein Mitglied des George-Kreises, beisteuern sollte. Wenghöfer hat vermutlich im Herbst 1914 von George den Auftrag erhalten, eine Übersetzung der beiden Versepen Venus und Adonis und Lukrezia anzufertigen. George teilt er bald darauf seinen ersten Lektüreeindruck mit. „Die Lektüre der beiden Stücke hat meine Lust sie zu bearbeiten nicht vermindert. Ich sehe deutlich wie etwas Gutes zu erreichen ist, aber die Schwierigkeit diesem Guten nur nahe zu kommen, zeigt sich beim Versuch sehr gross. [...] Es wird also langsam gehen. Können Sie mir nicht den nächsten Monat als Probezeit gewähren." 18 Wenghöfer mühte sich zuerst an der Lukrezia. Seine anfängliche Lust verlor sich bald. Etwa Ende 1914 schickte er George die ersten zehn Stanzen, die wohl als Probestück dienen sollten, mit den begleitenden Worten: Es ist eine fürchterliche Arbeit. Jede Stanze ein Schachproblem für sich, weil der dreimalige Reim die Möglichkeiten ungeheuer beschneidet. Und manches so leer, dass einem in aller Welt nichts dabei einfallen kann. Aber leer oder anmutig, bei Shakespeare ist es immer Shakespeare, übersetzt wird es - ich weiss nicht was, aber kein Shakespeare. Und das soll bei 300 Stanzen und privaten Schicksalen ,überdauert' werden. (WW 101) In einem Brief an Karl Wolfskehl aus derselben Zeit äußerte sich Wenghöfer noch kritischer über seinen Gegenstand und nannte die Lukrezia „feindselig langweilig" und „lauter fortgesetzte Keuschheit" (WW 225). Dennoch nahm Wenghöfer die Arbeit in Angriff und schickte nun an Gundolf jeweils fünfzig Stanzen zur Korrektur. Ende November 1914 kommentiert er seine Anstrengungen so: „Vergleichen Sie bitte mit der Simrockschen Übertragung. Diese ist bei aller Greulichkeit des einzelnen klar und flüssig, meine versteht, glaub ich, kein Mensch. Die Sucht nach Farbe, die hier ganz falsch ist, die ich aber nicht ablegen kann, macht meinen Vers oft geradezu dumm und verschärft die - sit venia - Langweiligkeit des Orginals." (WW 232) Drei Wochen später schreibt Wenghöfer, seine Aufgabe sei ihm nun klarer und damit schwerer geworden, und er dankt für Gundolfs bisherige Zufriedenheit. Aus den folgenden Monaten stammen einige Äußerungen, die sein Ringen mit der Aufgabe in drastische Bilder fassen. Er spricht gegenüber Karl Wolfskehl von der „ShakespeareTretmühle" (WW 225), in der er stecke, berichtet Ludwig Thormaehlen, er müsse Shakespeares Stanzen misshandeln und „habe in einem Monat fünfzig von diesen Ungeheuern in wildem Handgemenge erlegt" (WW 254), könne seiner Einladung nach Berlin aber nicht folgen, ,,[e]h nicht die zweiten fünfzig Stanzen erschlagen sind." (WW 256) Am 14. Februar 1915 schreibt er
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Walter Wenghöfer: Gedichte. Briefe an Stefan George, Hanna Wolfskehl u.a. Hrsg. von Bruno Pieger, Amsterdam 2002, S. 100. Im Folgenden im Text zitiert unter Angabe der Sigle WW und Seitenzahl.
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d e m s e l b e n E m p f ä n g e r : „ S h a k e s p e a r e wird unter b e d e u t e n d e m A u f w a n d von Selbstzucht weiter betrieben. J e d e Stanze ein Sisyphus-Stein, den m a n den steilen H a n g d e u t s c h e n Sprachgefiiges d o r n i g h i n a u f r o l l e n m u s s und der einem dann rettungslos w i e d e r herunterkollert." ( W W 2 5 8 ) A m 4. A u g u s t 1915, W e n g h ö f e r steckt mittlerweile in Venus und Adonis, klagt er H a n n a W o l f s k e h l : „ D e r A d o n i s m a c h t m i r viel m e h r K o p f s c h m e r z e n w i e die Lukretia, ich kriege es sicher nicht heraus. W e n n m a n sich b e i m einzelnen einbildet A b w e c h s l u n g und B e w e g u n g zu bringen, ist das G a n z e n a c h h e r steif u n d ledern. Ein richtiges D ö r r - G e d i c h t . " ( W W 196) In e i n e m B r i e f an G u n d o l f aus d e r s e l b e n Zeit geht W e n g h ö f e r noch n ä h e r auf die G r ü n d e dieses C h a r a k t e r s seiner Ü b e r s e t z u n g ein. Ich bin mit dem Adonis zufriedener wie mit der Lukrezia, er ist genauer und überhaupt als Übersetzungsarbeit anständiger. Ledern bleibt er natürlich und ist von schrecklich monotonem Rhythmus, ebenso wie die Lukrezia. Das liegt daran, dass ich ihn mit ganz wenigen Ausnahmen durchweg männlich gereimt habe. Der Charakter des englischen Verses zwang mich gegen besseres Wissen immer wieder dazu. Die Lektüre wird dadurch natürlich noch mehr erschwert, aber nach der Richtung ist j a überhaupt nichts Gutes zu erhoffen. Ich möchte nichts daran ändern, denn die Sache ist zu verteidigen und hat ihren Grund nicht in Pedanterie, sondern in einem schliesslich anständigen Vers-Instinkt. (WW 233f.) W e n g h ö f e r erkundigt sich in d i e s e m B r i e f n a c h G u n d o l f s M e i n u n g zu d e m Geleisteten u n d geht im f o l g e n d e n - wohl aus d e m D e z e m b e r 1915 - auf d e s s e n Ä n d e r u n g s w ü n s c h e an Venus und Adonis ein. H i e r ist ein prinzipieller V o r b e h a l t g e g e n ü b e r G u n d o l f s Ü b e r s e t z u n g s t e c h n i k spürbar. Übrigens stammt mein Unbehagen nicht aus seinen orginalen Verrenkungen, sondern aus der ästhetischen Methode, nach der ich ihn völlig in Ihrem Sinn nachrenken wollte. Dergleichen ist das Phantastischste was es giebt; artistische Umbildungen haben ihr einziges Kriterium in der jeweiligen Geschmacks-Periode, und noch innerhalb dieser ist es so unsicher und um seiner inneren Gegenstandslosigkeit willen so drehbar, dass man das Rohste für das Feinste ausgeben kann und umgekehrt. Es giebt dabei weder Grenze noch Umriss für die Gestaltungen. [...] Das ist das erste Unbehagliche. Um zum Schluss wenigstens ein sprachlich einheitliches und verantwortbares Werk zu bekommen, wird man sich doch immer mit dem dichterischen Stoff etwas einlassen müssen; als Ding an sich in eine ästhetische Transzendenz gestellt verweigert er alle Funktionen der Anschauung und Darstellung. In unserm Fall ist dieses sich Einlassen allerdings für mich wenigstens - unmöglich, und, was das zweite Unangenehme ist, auch eine grössere artistische Glätte und Einfarbung unmöglich. Meine Sprache, vielmehr mein Vers, ist splitterig, extrem, unausgeglichen und dabei monoton; Fehler, die ich bei diesem inneren Unbeteiligtsein (milde gesagt) mit Politur allein nicht wegschaffen kann. [...] Im Ganzen bleibt mir das Gefühl einer grossen
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Peinlichkeit: mich mit etwas Halb-Gelingendem eingelassen zu haben, und für Halb-Gelungenes haftbar zu sein. ( W W 234f.)
Wenghöfers Beschreibung zeugt von der Qual, seinen eher fließenden und farbigen Tonfall den Vorgaben von Gundolfs Übersetzungsprinzipien anzu19
passen. Als Anfang 1921 - knapp zweieinhalb Jahre nach Wenghöfers Freitod die Frage nach der Aufnahme der Versepen in die zweite Auflage der Shakespeare-Ausgabe anstand, fragte Gundolf George, ob er auf Wenghöfers Übersetzung zurückgreifen solle.20 Die Antwort fiel offenbar negativ aus, denn Gundolf unternahm bald eine Neuübersetzung, die er Anfang 1922 abschloss. Als die Versepen im selben Jahr im sechsten Band erschienen, zeichnete Gundolf die Übersetzung ausschließlich mit seinem Namen. Ein Vergleich seiner Übersetzung mit der im Stuttgarter George-Archiv befindlichen Version von Wenghöfer zeigt, dass Gundolfs Sprache durchgängig mehr Sinnlichkeit und Plastizität besitzt. Berthold Vallentin führte im Januar 1922 mit Stefan George ein Gespräch über den Charakter von Shakespeares Lukrezia. Ich hob hervor, wie barock der Stil sei. Ich wies auf die Einleitungsstanzen hin, in denen der Widerstreit von Schönheit und Tugend im Anblick der Lukretia geschildert wäre und auf die scholastische Ausdeutung. Der Meister pflichtet dem bei und meint: Aber die Breite der Darstellung sei doch auch darauf zurückzuführen, dass dem Menschen damals diese Beobachtungen an der menschlichen Erscheinung neu gewesen seien und sie sich darum so darauf gestürzt und sie so ausführlich behandelt hätten. Es sei j a auch sonst gelegentlich in Shakespeare etwas v o m Zeitstil, aber im Grossen Ganzen sei er ursprünglich und gehöre dem Renaissance-Zeitalter an. 21
Diese Sicht Shakespeares als Renaissance-Genie zu verdeutlichen, war ein wesentliches Motiv für die Neuübersetzung. In einem Gespräch mit Ernst Glöckner am 8. März 1916 betonte George, dass er darin den entscheidenden
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Mir scheint, dass Wenghöfer mit „splitterig, extrem, unausgeglichen und monoton" nicht seine eigene Dichtersprache charakterisieren will, wie es die Darstellung im DokumenteBand nahelegt, sondern das Resultat, zu dem ihn der Charakter der Gundolfschen Shakespeare-Ausgabe nötigte. Vgl. Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock mit Karlhans Kluncker, Amsterdam 1974 (Publication of the Institute of Germanic Studies. University of London Vol. 18), S. 280. Vgl. Stefan George - Friedrich Gundolf, Briefwechsel (Anm. 1), S. 350. Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George (Anm. 14), S. 58, in ähnlichem Sinne äußerte sich George gegenüber Edith Landmann im September 1916: „Über die Epen: sie seien begabte Übungen im Stil der Zeit. Sehr viel Leidenschaft, aber noch nicht gefüllt von Erlebnis." Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Hrsg. von Georg Peter Landmann. Düsseldorf 1963, S. 57.
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Fortschritt gegenüber der Schlegel-Tieckschen Übersetzung erblicke: „Shakespeares Wirkung würde durch die neue Übersetzung erst in ihrem ungeheuren Umfang geschehen. Schlegels Übersetzung sei zu spielerisch, rokokohaft, das Leidenschaftliche zu stark betont; der Renaissancemensch Shakespeare und sein Architektonisches seien ganz unterschlagen."22 Diese Gedanken greift Gundolf in seiner Vorrede zur Shakespeare-Ausgabe auf. Er würdigt dort zunächst Schlegels Übersetzung, meint aber, dass sie dem heutigen ,,straffere[n] Sprachgefühl"23 nicht mehr genüge und vor allem wesentliche Dimensionen in Shakespeares Dichtung zeitbedingt unterschlage. „Die gespannte Kraft, die straffe Wölbung, die Seelenglut der Renaissance wird bei dem Romantiker geschwächt zu Bildung, Stimmung oder Gesinnung. Zumal die pathetischen Reimabschlüsse, die manchen Shakespearereden Nachdruck, Feier, Rundung geben, sind bei Schlegel [...] zu flau, matt, zufällig - ein Wesentliches von Shakespeares Kunst wird damit gefälscht."24 Dieser verdrängte Wesenskern sei erst durch die Erneuerung der dichterischen Sprache durch George zugänglich geworden. Gundolf schreibt in seiner Vorrede weiter: Durch Stefan George sind jene dem Rokoko und der Romantik noch verschlossenen Tiefen Shakespeares wieder sichtbar und sagbar geworden. [...] Unsere Übersetzung ist entstanden, weil heute in Deutschland ein neuer dichterischer Geist lebt. Nur wer von diesem durchdrungen ist durfte sie wagen, und nur dieser gibt ihr [...] ihren Wert. Auf die dichterische Erneuerung der Hauptwerke, nicht auf etliche Einzelbesserungen kommt es an [...]. 25
Gundolf kommt hier auch auf Georges Anteil an der Übersetzung über die Sonette hinaus zu sprechen. „Nicht immer hat der Übersetzer, ein Empfanger des neuen Dicht-geistes, genügt, um Shakespeares Wort zu erreichen: notwendig musste bei Stellen der äussersten Spannung, Wucht und Eindringlichkeit die Hilfe des heutigen Meisters selbst mitwirken."26 Nach Erscheinen des ersten Bandes der neuen Shakespeare-Übersetzung mit den Römerdramen schrieb Gundolf im August 1908 an Karl Wolfskehl: „Der erste Band ist jetzt ausgedruckt und - ich darfs ohne EIGENLOB sagen, denn das Beste ist nicht von mir - wird ein Wunderwerk. Was George vollends aus dem Antonius herausgeholt hat, der wirklich erst für unser Geschlecht entdeckbar, um drei Jahrhunderte Pathos, Heroik und Erotik vorwegzunehmen 22 23 24 25 26
Glöckner (Anm. 12), S. 83. Shakespeare in deutscher Sprache. Neue Ausgabe in sechs Bänden. Hrsg. ζ. T. neu übersetzt von Friedrich Gundolf. Bd 1, Berlin 1920, S. 5. Ebd. S. 6. Ebd. S. 6f., vgl. auch Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, 2., erw. Aufl. München und Düsseldorf 1954, S. 76f. Ebd. S. 7.
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scheint, ist eine neue Welt von Glorie, Kraft, Zauber und Weisheit."27 Über die Intensität von Georges gewissermaßen philologischer Mitarbeit geben u.a. die folgenden Zeugnisse Auskunft. Zum einen sandte Gundolf im Februar 1909 George drei engbeschriebene Seiten Exzerpte über eine schwerverständliche Stelle im Merchant of Venice und bat um Stellungnahme. Zum anderen erinnerte sich George rückblickend an seine Korrekturen zum Othello. Er schilderte, „wie er dem Leichtfuss Gundel sein Othello-Manuskript zurückgesandt habe: Er hatte einen Riesenbogen mit drei Farben Tinte für Text, Tieck-Übersetzung, Gundolf-Übersetzung genommen und ihm alle Flüchtigkeiten angemerkt. Für zehn Verse ein ganzer Bogen voll Anmerkungen!"28 Als George mit dem Sommernachstraum beschäftigt war, weilte er gerade zu Besuch bei der Familie Landmann in Basel. Edith Landmann überlieferte eine Äußerung vom Herbst 1915: „«Ich übersetze grad den Sommernachtstraum, und da denke ich manchmal, ich könnte auch in etwas ganz Närrisches verliebt sein wie Titania.» Er zog ein englisches Exemplar mit Notizen hervor und sagte: «Aber verraten Sie mich ja nicht. Ich könnte sonst in den Geruch des Fleisses kommen, das perhorresziere ich.»"29 Immerhin sagte George zu Michael Landmann, er habe an Shakespeare „sieben Jahre seines Lebens gegeben."30 Allgemein kann man zu Georges Mitwirkung an der ShakespeareÜbersetzung sagen, dass er „meist die Werke, mit deren Übertragung Gundolf gerade beschäftigt war, fiir sich gelesen und in seiner Tauchnitz-Ausgabe gelegentlich Übertragungen einzelner Verse notiert [u]nd schliesslich [...] die fertige Übertragung vor der Drucklegung [meistens] überarbeitet [habe]."31 Später soll George gegenüber Albrecht von Blumenthal auf dessen Frage nach seinem Anteil an der Shakespeare-Übersetzung geantwortet haben: »Glaubtest du, die Übersetzungen seien von Gundolf? Gundolf hat sie angefangen. Als ich seine Übertragungen dann durchsah, erklärte ich ihm: nein Gundel, so geht es nicht - und habe sie selbst gemacht.« Auf die Frage, weshalb er nicht seinen Namen dafür gegeben habe, antwortete der Dichter: »Es waren schon die Umdichtungen der Fleurs du Mal, die der zeitgenössischen Dichter und dann die Dante-Übertragungen erschienen. Noch einmal wollte ich zu einer Übersetzung meinen Namen nicht drucken lassen.« 32
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Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899-1931. Hrsg. von Karlhans Kluncker. Bd II. 1905-1931, Amsterdam 1977 (Publication of the Institute of Germanic Studies. University of London Vol. 24), S. 68f. Landmann (Anm. 21), S. 187. Ebd., S. 24. Michael Landmann: Erinnerung an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam 1980, S. 36. Salin (Anm. 25), S. 316. Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg 1962, S. 77.
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In dieser Formulierung erscheint die Beanspruchung einer eigenen Verfasserschaft als zu weitreichend. Immerhin lässt sich für einige Dramen Georges Anteil etwas präziser bestimmen. So ist der Coriolan durchgängig von ihm miterarbeitet worden, da er über einen zusammenhängenden Zeitraum in einer Art Werkgemeinschaft mit Gundolf entstand. Was den Sommernachtstraum betrifft, so hat Gundolf selbst nach dem Zeugnis von Kurt Hildebrandt kurz nach Erscheinen des letzten Bands George die alleinige Verfasserschaft zugeschrieben. 3j Aus der Arbeit am Sturm und am Wintermärchen überliefert Robert Boehringer die folgenden Details: Einen ganzen Vormittag lang ging George spazieren, bis ihm das entscheidende Wort einfiel in den Versen: ...Wir sind aus solchem Zeug / Wie das zu Träumen, und dies kleine Leben / Umzirkt ein Schlaf... [...] Zeitlebens hat George Verse vor sich hingesagt [...]. So seh ich ihn, auf dem Kästrich im Hinterhaus, dessen Erdgeschoß über den Dächern von Mainz lag, [...] ein paar Schritte machen, ein Etwas zum Spielen in der Hand [...] und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von verschmitzter Heiterkeit, von Glück und Laune im Dichter-Bauerngesicht, das freche Liedchen des Autolykus aus dem Wintermärchen sagen: Kauft ihr nicht etwas Band / Und Spitzen lurs Gewand · / Mein Täubchen · meine Dam-ala. / Etwas Seid und Zwirn · / Zierat für die Stirn / V o m neusten feinsten Kram-ala. / Kommt zu dem Tändler! / Geld der Zwischen-händler / Schiebt aller Leute Kramala. 34
In Romeo und Julia schließlich stammen ganze Szenen wie die Auftritte der beiden Liebenden (1,5 und 11,2), die Szene von Romeos Besuch im Klostergarten bei Lorenzo (11,3) und einzelne Lieder oder liedhafte Monologe allein von ihm. Zu diesem Stück hat George im übrigen öfters inhaltlich Stellung genommen. Aus dem Herbst 1916 berichtet Edith Landmann von einem Gespräch mit George über Shakespeare. Ich sagte, in gewissem Sinn könnte man ,Troilus und Cressida' als Widerlegung von ,Romeo und Julia' auffassen; die Art, wie er in dem Jugendstück die Menschen angesehen hat, stellt sich ihm später als Illusion heraus. «Nein, erwiderte er, das ist anders. Das spätere Stück widerlegt das frühere so wenig wie der Herbst den Frühling widerlegen kann. Lebendiges kann man nicht widerlegen. Sonst könnte j a auch der Herbst zum Frühling sagen: nichts als Geblühe, keine einzige Frucht. In der Jugend ist es so, dass man die Menschen so sehen muss. ,Romeo und Julia' ist das Genialste, was in der Dichtung überhaupt vorkommt. Es
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Hildebrandt schreibt: „1918 trafen Gundolf und ich W. Andreae auf der Straße. Dieser sagte: »Beim Sommernachistraum hat man den Eindruck, daß es Ihnen diesmal ganz leicht geworden ist.« Gundolf etwa: »Allerdings sehr leicht - den hat der Meister ganz allein gemacht«." Hildebrandt (Anm. 13), S. 57, Anm.15. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, 2., erg. Aufl. Düsseldorf und München 1967, S. 124f.
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ist ganz vollgestopft von Genialität. Auch der Auftakt mit Rosalinde, das ist ein Geheimnis; die Philologen verstehen es nicht.» 3 5
Auf die exzeptionelle Bedeutung der Julia kommt George in einem späteren Gespräch über Shakespeare als „Hasser der satten Tugend" zurück. Das Gespräch dreht sich um Shakespeares Menschenverachtung, zu der George bemerkt: „Nur den Heros nimmt er aus und die Jugend - Julia ist ein Naturwesen - und charakteristisch Lasterhafte wie Falstaff." 36 Am 20. Juni 1914 wird anläßlich von Friedrich Gundolfs Geburtstag „nachts um 11 «Wie es euch gefällt» (Ardennerwald) im Wald beim Königstuhl sehr schön, feierlich und poetisch aufgeführt." 37 Man wird dabei weniger an eine regelrechte Inszenierung im landläufigen Sinne als vielmehr an „eine Art konzerthafter Sprechaufführung" 38 zu denken haben. Unter den Sprechern waren viele junge Mitglieder des George-Kreises wie die Brüder Wolfgang und Gustav Richard Heyer, Norbert von Hellingrath, Edgar Salin und Josef Liegle. Im Vorfeld war von den Beteiligten der Versuch unternommen worden, auch George als Zuschauer zu gewinnen. Doch reagierte er recht zurückhaltend auf das Vorhaben. Auf das Anerbieten, eine Exklusiv-Aufiführung ganz für ihn allein zu machen, antwortete er mit dem Vers „Doch alle jugend sollt ihr sklaven nennen" aus seinem soeben erschienenen Gedichtband Der Stern des Bundes. Liest man die Zeile im Kontext, könnte man dies als eine entschiedene Distanznahme deuten, heißt es doch weiter: „Die heut mit weichen klängen sich betäubt / Mit rosenketten überm abgrund tändelt." 39 Gundolf nennt es „eines der schönsten Feste die ich je mitgemacht." 40 Die Aufführung wurde kurze Zeit später im Schwetzinger Schlosspark wiederholt. Die praktische Erprobung der Tauglichkeit von Gundolfs Verdeutschung für eine Inszenierung führte den Beteiligten jedoch auch die Problematik seiner Übersetzungsprinzipien vor Augen oder besser: vor Ohren. Der doch sicher wohlmeinende Gundolf-Schüler Edgar Salin erinnert sich, dass es sich bei der Vorbereitung der Aufführung zeigte, dass
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E. Landmann (Anm. 21), S. 57. Auch im Gespräch mit ihrem Sohn Michael, den George in Shakespeares Dramenwelt einfuhren wollte, kam er einmal auf diese Szene besonders zu sprechen. „Ein Stück wie Romeo und Julia berste vor Genialität. Dazu gehöre auch, dass Romeo in den ersten Szenen noch nicht für Julia, sondern für Rosalinde schwärmt." M. Landmann (Anm. 30), S. 22. E. Landmann (Anm. 21), S. 80. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 251. Eckhard Heftrich: Friedrich Gundolfs Shakespeare-Apotheose. In: Shakespeare-Jahrbuch (West) 1988, S. 85-102, hier S. 91. Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Bd VIII. Der Stern des Bundes, Berlin 1928, S. 92. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 251.
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das Gundolfsche Wort, sei es auch treffender und klangvoller, nicht immer gleich geeignet ist wie das vielleicht mattere, aber beziehungsreichere Schlegels. [...] Infolgedessen mussten wir bei diesem Lustspiel [...] im Ganzen doch Schlegel der Aufführung zu Grunde legen. N u r in den tiefsinnigen Reden des Jacques, die, monologischer Art, die reinste Dichtung im gesellig-heiteren Spiel sind, kam Gundolfs Übertragung durch ihren hohen dichterischen Rang auch für die Bühne einzig in Betracht. 41
Salin berührt hier ein grundsätzliches Problem von Gundolfs Übersetzung, das aus dessen Entscheidung resultiert, auf die „Zungenübung der versentwohnten Schauspieler"42 keine Rücksicht zu nehmen. Hanspeter Schelp hat in seinem Aufsatz über Friedrich Gundolf als Shakespeare-Übersetzer auf verschiedene sprachliche Konsequenzen von Gundolfs Streben nach „esoterischer Erlesenheit, weihevollem Ernst und Distanzierung vom Alltäglichen"43 wie etwa den häufigen Gebrauch von Inversionen, die gesuchte Archaisierung und den auffälligen Nominalstil hingewiesen und als ihre gemeinsame Tendenz die „Vernachlässigung der Sprechbarkeit"44 ausgemacht. Er kommt in Hinsicht ihrer Bühnentauglichkeit zu folgendem kritischen Urteil: Gundolfs Text wendet sich zunächst an den Leser, dem drucktechnische Mittel wie Sperrungen, Anführungszeichen, Bindestriche etc. das Verständnis erleichtern, und der die Möglichkeit des Rekurrierens hat. Zur Sprechbarkeit seiner Ubersetzungen ist festzustellen, daß diese bestenfalls deklamatorischen Charakter haben. [...] Deklamatorisches Pathos, bedeutungsvolle Akzentuierung und Pausensetzung, manirierter Gestus, sekundäre, wenn nicht gar außersprachliche Mittel also, mußten das ersetzen, was der Text selbst schuldig blieb. [...] Zweifellos hat Gundolf in seinen Übersetzungen manches vom Original zu wahren gewußt und zum Klingen gebracht, das in anderen Übersetzungen nicht zum Ausdruck kam, dennoch ist es nicht verwunderlich, daß zum Beispiel Joseph Kainz sich geweigert hat, den Gundolfschen Text zu sprechen. 4 5
Zwar gab es nach Erscheinen des ersten Bandes der Shakespeare-Übersetzung eine Anfrage des Weimarer Hoftheaters, den Coriolan und vielleicht weitere Stücke zu spielen, aber dieser Plan wurde dann doch nicht weiter verfolgt.46 Aber die zu geringe Rücksicht auf die Sprechbarkeit war nicht der einzige Mangel von Gundolfs Übersetzung. Edgar Salin, der gemeinsam mit anderen
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Salin (Anm. 25), S. 77. Shakespeare in deutscher Sprache (Anm. 23), S. 7. Hanspeter Schelp: Friedrich Gundolf als Shakespeare-Übersetzer. In: Shakespeare-Jahrbuch 1971, S. 97-117, hierS. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 116f. Vgl. Stefan George - Friedrich Gundolf: Brielwechsel (Anm. 1), S. 191.
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Heidelberger Gundolf-Schülern in die Arbeit an der Übersetzung stark involviert war, kommt noch auf andere Schwächen zu sprechen. Gundolf hat Schlegel vorgeworfen, dass ihm später seine Kräfte zu Kunstgriffen erstarrten und dass er, was anfangs spontan war, später klug anwandte. In der Arbeit mit Gundolf gewannen wir den Eindruck, dass solches Erlahmen unvermeidlich ist [...]. Es war vorab die Verbesserung des ,Hamlet', bei der die Bedenken der Freunde erwachten und wuchsen. Gundolf hatte besondere Freude daran, und es war sein erklärter Willen, Verse zu ändern, die durch ihre leicht meist allzuleicht - ins Ohr eingehende Fügung in Schlegels Fassung zum geflügelten Wort geworden und also abgebraucht waren. Der Grundsatz schien uns richtig, aber die Änderung nur erlaubt, wenn die neue Fassung in Rhythmus und Form zugleich dichter und Shakespearscher war. Aber wir konnten uns vielfach nicht durchsetzen. [...] Wir haben auch bei ,Macbeth' und ,König Lear' um die Verbesserung mancher Stelle vergeblich gerungen, und wir empfinden noch jetzt, dass beide Werke die Einheitlichkeit der dichterischen Höhe etwa des ,Coriolan' nicht erreichen. 47
Dieser war ja auch, wie wir hörten, in der engsten Kooperation mit George entstanden. Um die von Salin monierten Versuche, idiomatisch gewordene Verdeutschungen zu verbessern, zu illustrieren, seien die beiden Beispiele aus Hamlet angeführt, die er selbst im Anhang gibt. Shakespeares „He was a man, take him for all in all." übersetzte Schlegel mit „Er war ein Mann, nehmt Alles nur in Allem." und Gundolf „Er war ein Mann, nennt ihn ein All-in-Allem." Das berühmte „To be or not to be, that is the question." übersetzt Schlegel bekanntlich „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.", während Gundolf schreibt: „Sein oder Nichtsein das ist die Frage..." Beide Male mag Gundolfs Übersetzung näher an der wörtlichen Bedeutung des Originals stehen, aber im ersten Fall klingt die Wortbildung gewaltsam, im zweiten ist der Rhythmus zerstört.48 Rückblickend kann man sagen, dass die Gundolfsche Neuübersetzung von Shakespeare sich weder als Lektüre noch gar auf der Bühne hat durchsetzen können.
Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist (1911) Mitten in der Arbeit an der Übersetzung beginnt Friedrich Gundolf am 20.August 1910 mit der Abfassung seiner Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist. In der Heidelberger Philosophischen Fakultät hatten Eberhard Gothein und Alfred Weber Gundolf den Weg zur Habilitation eröffnet. Er schließt die Schrift nach nicht einmal zweimonatiger Arbeitszeit im 47 48
Salin (Anm. 25), S. 77f. Vgl. ebd., S. 316.
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Oktober ab. 49 Etwa am 12.0ktober unterrichtet Gundolf George in einem emphatischen Brief: Mein Buch ist jetzt fertig und braucht nur noch abgeschrieben und in kleinen Details redigiert zu werden. Als ich es anfing, und dir die ersten Stücke vorlas, hatte ich noch keine Ahnung was daraus, ohne meinen Willen, werden könnte: nun es fertig vor mir liegt, sehe ich dass ich es als ein Besessener geschrieben habe und dass es das Produkt einer höheren Nötigung und eines über mein bisschen Wissen und Können weit hinausreichenden Willens ist: es ist das lebendige und allumfassende, obwohl streng an Maass, Thema, Grenzen gebundne, streng komponierte Kompendium der Geistigen Bewegung geworden, wie deine Bücher deren Bibel sind. Keine Stelle darin ist tot, blosses Wissen, blosses Können - in allem der grosse Lebensatem den Du uns allen eingeblasen hast. Und ich weiss jetzt, dass ich zu diesem Buch in die Welt gekommen bin, mehr noch wie zur Shakespeareübersetzung. Denn die könnte mit deiner Hülfe noch mancher ausser mir machen: dies Buch weder als Quantität noch als Qualität keiner, [...] aber dass ich dies Buch habe schreiben können, ist mir ein neuer Beweis, dass es heilige Ehen gibt und dass aus ihnen Kinder entspriessen die göttlicher Herkunft sind, ohne dass ihre Eltern was dauernd Göttliches wären. Aber ich weiss auch dass ich in den zwei Monaten einen neuen Sinn bekommen habe und dem «Staat» einen der grössten Dienste geleistet habe, der ihm geleistet werden konnte. 50
In einem Brief aus demselben Monat an George teilt er seine Absicht mit, es als Ergänzung zur Shakespeare-Übersetzung bei Bondi erscheinen zu lassen. Aber dies ist nicht sein einziges Motiv für die Wahl des Verlags. Er versteht sein Shakespeare-Buch zugleich als eine weltanschauliche Programmschrift des George-Kreises. Gundolf schreibt, „es liegt mir daran, dies Werk bei Bondi, als ,Staats'sache, als Blättersache (du wirst selber staunen wie sehr es bis in alle Details hinein pro foliis ist) zu publizieren, es ist neben Wolters Herrschafi und Dienst das Hauptpronunziamento theoretischer ,Reichs'natur." 51 Gundolfs Wunsch erfüllte sich rasch. Schon im Frühjahr 1911 erschien sein Buch bei Bondi (mit einer Widmung an den Heidelberger Freund und Kollegen Arthur Salz). Werfen wir einen Blick auf Gundolfs methodische Leitlinien, um die ,Reichsnatur' von Shakespeare und der deutsche Geist besser zu erkennen. Thematisch rekonstruiert das Werk die Rezeption von Shakespeares Dramen von ihren Anfangen bis in die Romantik. Die Wirkungsgeschichte wird aber nicht bloß chronologisch abgeschritten, sondern in drei Teile untergliedert, die Shakespeare als Stoff, als Form und als Gehalt behandeln. Der erste Teil mit 49
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Als Habilitationsschrift im engeren Sinne reichte .Friedrich Gundelfingen Dr. phil.' nur den ersten Teil unter dem Titel Shakespeare und der deutsche Geist vor dem Auftreten Lessings bei der Heidelberger Philosophischen Fakultät ein. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 206f. Ebd., S. 207.
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seinen beiden Kapiteln Das Theater und Der Rationalismus schildert, wie zunächst Shakespeares Dramen von dem gewerbsmäßig betriebenen Apparat der Wandertheater einer ,,völlige[n] Entgeistung und Verstofflichung"52 unterworfen und zu bloßen Unterhaltungszwecken ausgebeutet werden. In der Phase von Opitz bis Gottsched erfolgen eine „Intellektualisierung der Sinnlichkeit" (SdG 61) und Anpassung an die rationale Regelpoetik. Der zweite Teil handelt von Lessings und Wielands Bemühungen, die Form der Shakespearschen Dramen in den Kampf um die Überwindung der Regelpoetik einzubeziehen und für die eigene Ästhetik fruchtbar zu machen. Der dritte Teil widmet Herder, Goethe und Schiller eigene Kapitel und geht summarisch auf den Sturm und Drang und die Romantik ein. Hier geht es um den Weg von der Entdeckung des genialen Schöpfers bis zur kongenialen Verdeutschung seines Geists durch August Wilhelm Schlegel, dessen Bild „beinahe ein Jahrhundert für die Deutschen [genügte]." (SdG 356) In seinem Vorwort umreisst Gundolf nun sein methodisches Vorgehen. Er distanziert sich von dem Ziel „einer Chronik literarischer Fakten oder einer Psychologie von Autoren" (SdG VII) und möchte stattdesssen „eine Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen" liefern. Gundolfs Begriff dafür ist „Kräftegeschichte". Sie entfaltet sich nicht „als eine Aufreihung von Folgen", sondern „als ein einheitliches Werden." Es geht Gundolf darum zu zeigen, welche Kräfte sich in den jeweiligen Rezeptionsvorgängen manifestieren und inwiefern „alle einzelnen Zeugnisse [...] Träger und Ergebnisse von Lebensbewegungen" sind. Gundolfs Annahme, „daß nur im individuellen Symbol das Allgemeine überhaupt sich offenbart," verlangt über Stoff-, Motiv- oder Ideengeschichte hinaus nach ,,sinnbildliche[r] Deutung." Shakespeares Aufnahme in Deutschland oder besser gesagt: seine Verwandlung in deutschen Geist, seine Freisetzung der eigenen schöpferischen Kraft ist nun der gegebene Gegenstand von Gundolfs sinnbildlicher Deutung und Darstellung. „Die Geschichte Shakespeares in Deutschland ist vor allem das faßlichste und wichtigste Sinnbild für jenen Vorgang durch welchen die schöpferische Wirklichkeit dem Rationalismus erst ausgeliefert, dann abgerungen und der deutschen Dichtung wieder fruchtbar gemacht wurde. Shakespeare ist wie kein anderer das menschgewordene Schöpfertum des Lebens selbst." Die zentrale Stellung des Lebensbegriffs, ein Reflex sowohl auf Nietzsche als auch auf Simmel und unter dem Aspekt des Werdens wohl besonders auf Bergson, beschränkt sich nicht allein auf das Untersuchungsobjekt. Erkenntnis und angemessene Darstellung des Lebendigen setzen die Lebendigkeit des Subjekts voraus.
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Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911, S. 5. Im Folgenden im Text zitiert unter Angabe der Sigle SdG und Seitenzahl.
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Geschichte hat es zu tun mit dem Lebendigen. Danach was jeder für das Lebendige hält bestimmt sich seine besondere Geschichtsauffassung und seine Methode. [...] Methode ist Erlebnis, und keine Geschichte hat Wert die nicht erlebt ist: in diesem Sinn handelt auch mein Buch nicht von vergangenen Dingen, sondern von gegenwärtigen: von solchen die unser eigenes Leben noch unmittelbar angehen. [...] Denn das eigene Lebensgefuhl ist schon Inbegriffen im Lernen und Wissen eines jeden Lebendigen der mit seinem Gegenstand als etwas Lebendigem sich befaßt. (SdG VIII.)
Mit diesen Sätzen schließt Gundolf sein kurzes methodisches Vorwort, und es kann nicht verwundern, dass Wilhelm Dilthey, der Ahnherr der geistesgeschichtlichen Methode, der das Buch noch kurz vor seinem Tod gelesen hat, es mit dem Wort kommentiert haben soll, es hätte ihn wie „vom Berge in ein gelobtes Land blicken" lassen.53 Zu den begeisterten Rezipienten gehörte auch Rainer Maria Rilke, der an den Georgianer und Hölderlin-Editor Norbert von Hellingrath schrieb: ,,[D]ieses Werk, dessen sicherer Aufbau auf den umfassendsten Unterlagen meinem Geiste eine ganz neue Erscheinung bot und ihm die weitesten Zusammenhänge zeigte und zusagte, wird in mir für lange hin Wirkung um Wirkung tun." 54 Rückblickend nennt Eudo C. Mason in seiner eindringlichen Studie Gundolf und Shakespeare dieses Buch „eine der aufsehenerregendsten geisteswissenschaftlichen Veröffentlichungen unseres Jahrhunderts." 55 Den Grundgedanken dieses Buchs, den Gundolf auch in dem zweibändigen Shakespeare von 1928 beibehalten wird, sieht Mason in der Idee von „Shakespeares absolutem Dichtertum, d.h. daß das urschöpferische Prinzip sich in ihm reiner, gewaltiger, weniger durchsetzt mit intellektuellen, theoretischen, erzieherischen, weltanschaulichen oder sonstigen außerdichterischen Elementen verkörpert habe als bei irgendeinem anderen Dichter der Welt." 56 Diese Ausfällung aller heteronomen Interessen, die sich dem rein Schöpferischen beigemengt hätten, lässt sich methodisch mit der ästhetischen Weltanschauung Nietzsches verknüpfen. Gundolf selbst kommt in dem Kapitel über Schiller auf die notwendige Überwindung aller Shakespeares Universalität letztlich beschränkenden Perspektiven. Er schreibt: „Jeder Dichter sah in Shakespeare als dem [...] Kompendium der Welt nur das was er in der Welt selbst sah: Lessing ein Vernunftganzes, Goethe ein Naturganzes, Schiller ein Moralganzes." (SdG 289) Shakespeare bejahe indes die Welt als solche, der
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Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 483. Rainer Maria Rilke: Brief an Norbert v. Hellingrath v. 24.7.1914. In: R. M. R.: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914. Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1939, S. 398. Eudo C. Mason: Gundolf und Shakespeare. In: Shakespeare-Jahrbuch 98 (1962), S. 110-177, hierS. 110. Ebd.; S. 114.
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Sinn liege ausschließlich in ihr selbst, und daher könne keine eigentliche' Ganzheit hinter ihr gesucht werden. Wirkungsgeschichtlich schätzt Gundolf Schillers Moralisierung von Shakespeare als besonders irreführend ein. „Indem Schiller", so Gundolf, in Shakespeare ein moralisches Ideal hineinsah, wie in die Welt, bekam er ein Bild von Shakespeare das dem wirklichen Shakespeare so unähnlich wie möglich ist, aber für die deutsche Ästhetik, Dramatik, Weltanschauung und Sittlichkeit die verhängnisvollsten Folgen hatte [...]. Das ganze ästhetische und sittliche Denken wird seit einem Jahrhundert beherrscht durch Schillers Sehweise, und erst durch Nietzsche ist ein Standpunkt außerhalb der Moral gewonnen worden, dessen es bedarf, um den wirklichen Shakespeare von dem gültigen zu reinigen." (SdG 290)
Nietzsche fungiert also als eine Art methodologisches Antidot, um alle außerkünstlerischen Deutungen Shakespeares abzuwehren. Diese Orientierung wird, wie wir noch sehen werden, auch ihre Konsequenzen für das Bild des Genies Shakespeare in der späteren Monografie haben. Gundolfs Buch hat noch einen anderen theoretischen Ahnherrn, den George ins Spiel bringt. George selbst nahm in einem Brief vom April 1911 zu Gundolfs Werk nicht ohne leise Einwände Stellung: Es ist mit ganz ausserordentlicher Sicherheit aufgebaut + enthält verborgene Verdienste über die oft unerhörten behauptungen hinaus. Den «Älteren» muss freilich oft der gedanke kommen: «Was gibt diesem jungen 'gelehrten' das recht so zu reden?» .. denn sie besitzen nicht das innre 'die mitte'. Und hier geliebtes + bestes muss auch der Meister mit einer ausstellung kommen: man darf niemals alles sagen was man weiss, in gefahrlicher weise hast du j a das maass nicht überschritten aber doch musst du dich noch hüten «geist zu verbreiten um die substanz zu bewältigen»... An einigen ganz wenigen stellen sogar im Goetheabschnitt wäre hie + da etwas mehr SCHAMHAFT1GKEIT im ausdruck erwünscht gewesen. 57 Den von dir so herb getadelten verirrungen der literatururteiler wärest auch du mit dem blossen «geist-SYSTEM» (ich meine der art im besten sinn) NICHT entronnen, sondern mit deiner gesinnung bist du's. Sonst bin ich des lobs + der bewunderung voll. 58
George versucht damit in zweifacher Hinsicht etwas bremsend auf Gundolf einzuwirken. Zum einen gilt sein Einwand der Mäßigung von Gundolfs Eifer,
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Auch in einem Gespräch mit Edith Landmann mehr als fünf Jahre später äußert George einen ähnlichen Gedanken: „Wenn man so jede Zeile von Shakespeare durchgegangen ist, dann fällt einem allerhand ein, da weiss man von Shakespeare allerhand, worüber die Leute schön staunen würden. Aber ich werde mich hüten, es zu sagen. Auch dem Gundel sage ichs nicht. Ja, sagte ich, ich würde es Dir sagen, aber Du schwatzest es dann doch aus; auch ohne dass Dus merkst, sagst Dus einmal." E. Landmann (Anm. 21), S. 57. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 224.
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sich als Propagandist der Georgeschen Weltanschauung zu betätigen. In einem Brief vom 1 O.November 1910 hatte Gundolf sich als den Mann bezeichnet, „all deine Urgedanken und Urerlebnisse zum Gemeingut der deutschen Gesamtbildung im besten Sinn, d.h. der deutschen Jugend zu machen."59 So sehr die mittels des Jahrbuchs für die geistige Bewegung gleichzeitig betriebenen Bestrebungen auf eine aktive Einwirkung auf das deutsche Geistesleben zielten, so sehr war sich George doch bewusst, dass der Anspruch auf Exklusivität diesem Bestreben klare Grenzen zog. Seine Warnung, gewisse Erkenntnisse oder Positionen nicht leichtfertig auszuplaudern, unterstreicht diese Haltung. Der zweite sanfte Vorbehalt betraf ein methodisches Element in Gundolfs Shakespeare-Buch. Um was es sich dabei handelt, wird deutlicher, wenn man einen Brief Georges vom 29.März 1912 hinzuzieht, in dem er Friedrich Gundolf von einer bevorstehenden Kritik an seinem Werk aus der Feder des Germanisten Oskar Walzel unterrichtet. George schreibt, es sei ,,[w]olwollend im ganzen aber mit viel ausstellungen die dir leicht fallen wird zu widerlegen: Es ist ein ganzes tractat 20 enggedruckte Seiten. Und eigentlich doch alles wie s sein muss: wenn ein blosser professor einen genialen menschen beurteilt... Nur in einem punkt hat er einen schatten von recht gelegentlich des Bergsonschen «bewegens + werdens». Ich hatte da gleich meine bedenken weil es sich immer rächt wenn man etwas zu frisch aufgenommenes + gelerntes anwendet."60 Der Hintergrund dieser Kritik besteht darin, dass Friedrich Gundolf in der Phase seines Buchs über Shakespeare und der deutsche Geist im Banne der unmittelbar zuvor erfolgten Rezeption von Bergsons Lebensphilosophie stand. Einen sichtbaren methodischen Niederschlag fand sie etwa zu Beginn des Kapitels über den Rationalismus, wo Gundolf sich dafür rechtfertigt, erst jetzt auf Rezeptionszeugnisse einzugehen, die teilweise weit vor die zuvor behandelten über die englischen Komödianten in Deutschland zurückgreifen. Er schreibt da: Nähmen wir die einzelnen Werke als in sich abgeschlossene Inhalte, so würden wir uns an die Kalenderzahl halten dürfen und den geistigen Zusammenhang ohne Gefahr zerreißen. Bei der symbolischen Behandlungsart [...] geht dies nicht an. Wer die Tendenzen als die Einheiten und deren Darstellung als den Inhalt der Geschichte ansieht, in der Geschichte nicht die Zusammenstellung gewordener Fakten und Dinge, sondern die Erkenntnis des Werdens und Fließens selbst sieht, begreift die Zeit nicht als eine mathematisch einteilbare Länge, sondern als ein unteilbares substantielles Fließen. Dies wird die erste Wirkung sein müssen die Henri Bergsons Philosophie auf die Geschichtswissenschaft haben kann." (SdG 57f.)
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Ebd. S. 211. Ebd. S. 244.
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Schon in der Einleitung war ja an zentraler Stelle von der Idee des einheitlichen Werdens' die Rede gewesen. An der Vermittlung von Bergsons Denken nach Deutschland hatten der George-Kreis beziehungsweise George nahestehende Intellektuelle einen erheblichen Anteil. Seine Theorien wurden in der Umgebung des mit George befreundeten Georg Simmel diskutiert, an dessen Jours auch Friedrich Gundolf gelegentlich teilgenommen hatte. Simmel regte die beiden mit George befreundeten Dichterinnen Margarete Susman und Gertrud Kantorowicz zur Übersetzung von Bergsons Materie und Gedächtnis (1907 durch erstere) und Schöpferische Entwicklung (1912 durch letztere) an. Noch 1927 erzählte George seinem Freund Berthold Vallentin über diese Phase in Gundolfs Entwicklung: Er sei immer sehr leicht beeinflussbar gewesen, und dabei erinnerte er an seine Bergson-Periode, wo er alles durch Bergson erklären und deuten wollte; die Anfange des Goethebuches standen ganz unter dem Zeichen von Bergson. Er habe damals Ernst Gundolf sogleich veranlasst, dass er Bergson auf seinen richtigen Platz rücke und damit sei F. Gundolf denn geheilt gewesen und er, der Meister, habe dafür gesorgt, dass dieser Werdens-Goethe dem Feuer überantwortet würde." 61
Friedrich Gundolf: Shakespeare (1928) Am 2.10.1922 schreibt Gundolf an George: „Ich habe ein Buch über Shakespeare begonnen, das ich hier im furor zu vollenden hoffte, doch schwoll es mir unter den Händen zu sehr an, es müsste alles was ich je über Welt und Dichtung und Geschichte gedacht bei einem Werk über diesen Kosmanthropen zur Sprache kommen." 62 Dass das gelang, belegt die Äußerung von Karl Jaspers, Gundolfs Shakespeare „enthalte eine ganze Philosophie", allerdings mit dem Zusatz: „leider verbaut in literarische Betrachtungen." 63 Bis Gundolfs Werk vollendet war, vergingen noch sechs Jahre. Erst 1928 erschien das auf zwei voluminöse Bände mit zusammen knapp 900 Seiten angewachsene Werk. Rudolf Sühnel nennt es nicht zu Unrecht ein „Enkomion eines inspirierten Kunstmissionars in prosaischer Zeit." 64 Hier werden in der mutmaßlichen Reihenfolge ihrer Entstehung die Werke Shakespeares in einzelnen Kapiteln behandelt. Gundolf setzt mit der These ein, dass Shakespeare das Gestalt gewordene dichterische Schöpfertum sei. Er erneuert seinen Gedanken, dass
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Vallentin (Anm. 14), S. 95f. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 355. Georg Peter Landmann: Stefan George und sein Kreis. Eine Bibliographie, Hamburg 2. Aufl. 1976, S. 134. Rudolf Sühnel: Gundolfs Shakespeare. Rezeption - Übertragung - Deutung. In: Euphorion 75 (1981), S. 245-274, hier S. 259.
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man nicht nach einem Sinn hinter der von ihm gestalteten Welt fahnden dürfe, weil demgegenüber ,,[a]n ihm [...] die Identität von Alleinheit und Erscheinungsvielfalt erst vollkommen sinnfällig"65 werde. Shakespeares Werke sind, so Gundolf, „sprachlich gebärdete Selbstdarstellung eines welthaltigen, allgesichtigen Menschen" (Sh I 10) Um die welthaltige Persönlichkeit dieses Menschen darzustellen, um - mit Gundolfs Wort - sein Wesen darzustellen, muss man sein Werk darstellen: „wir wenden uns zu Shakespeares Werk, um zu sehen welche Welt darin welcher Mensch geworden ist. Was nicht in seinem Werk als Shakespeares Eigenschaft erscheint geht uns nichts an." (Sh I 10) Dabei will Gundolf den Weg einer strikten Werkimmanenz beschreiten. Wenn er am Ende seiner Einleitung schreibt: „Wir fassen nicht Shakespeares Werk aus seinem Zeitalter, sondern sein Zeitalter durch sein Werk." ( Sh I 11), so drückt sich bereits darin die methodisch fundamentale Annahme aus, dass Shakespeares Wesen und Werk in grösster Souveränität alles bloss Geschichtliche in einen lebendigen inneren Kosmos verwandelt habe. Schon in Shakespeare und der deutsche Geist hatte Gundolf an einer Stelle von der „Verwirklichung eines Inneren" (SdG 46) gesprochen, als das seine Werke anzusehen seien. Immer wieder kommt Gundolf in den Einzelanalysen zu dem Befund, Shakespeares Helden seien verkörperte Kräfte seiner persönlichen Seele. Unter methodischem Aspekt könnte man also sagen, dass er die Rekonstruktion der Kräftegeschichte, wie er sie in Shakespeare und der deutsche Geist der Rezeption des Werks entnahm, in seinem Shakespeare in die Person selbst hineinverlegt. Die die durchaus üblichen Stationen einer heiteren Jugend, qualvollen mittleren und verklärt-resignativen letzten Stufe abschreitende Rekonstruktion von Shakespeares innerer Biographie [...] entfaltet Gundolf aber mit einem ungeheuren Aufwand an Pathos, psychologischen Subtilitäten, biographischen Vermutungen und weltanschaulichen Spekulationen, indem er in jedem einzelnen Werk des Dichters, der Reihe nach, eine ganz neue, über das bisher Erschlossene hinausweisende Offenbarung entdeckt, so daß man manchmal einen geisteswissenschaftlichen Fortsetzungsroman zu lesen glaubt. Das entscheidend Neue in Gundolfs Darstellung von Shakespeares innerer - und nicht nur innerer - Biographie ergibt sich aus seiner Bewertung der Sonette, in denen er den Niederschlag des einen, zentralen Erlebnisses Shakespeares schlechthin erblickt. 66
Hier wird nun die spezifisch Gundolfsche oder genauer gesagt: Georgesche Perspektive auf die Rolle der Sonette in Shakespeares Werk deutlich. Sie 65
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Friedrich Gundolf: Shakespeare. Sein Wesen und sein Werk. 2 Bde, Berlin 1928, hier Bd I, S. 9. Im Folgenden im Text zitiert unter Angabe der Sigle Sh und Bandnummer und Seitenzahl. Mason (Anm. 55), S. 125.
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werden als poetisches Dokument seines erotischen Durchbruchs verstanden. Dieser Durchbruch erfolgt in Gestalt der Knabenliebe. Mit vollem Recht schreibt Mason daher: „Gundolfs Ausgangspunkt bei seiner Darstellung und Deutung von Shakespeares [...] alles bestimmenden erotischen Erlebnis ist unverkennbar das Maximin-Erlebnis Stefan Georges." 67 Vor diesem Hintergrund erklärt sich das „besonders weihevolle[...] Pathos, mit dem Gundolf von Shakespeares Jünglingen überhaupt spricht," 68 wobei sich die Beobachtung machen lässt, das er einige Dramenfiguren als Jünglinge porträtiert, die dazu nicht immer ausreichenden Anlass geben. Es seien an dieser Stelle die entscheidenden Formulierungen in Erinnerung gerufen, die Stefan George seiner Übersetzung der Shakespeare-Sonette voranschickte: [I]m mittelpunkte der sonnettenfolge steht in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingäbe des dichters an seinen freund. Dies hat man hinzunehmen auch wo man nicht versteht und es ist gleich töricht mit tadeln wie mit rettungen zu beflecken was einer der grössten Irdischen für gut befand. Zumal verstofflichte und verhirnlichte Zeitalter haben kein recht an diesem punkt worte zu machen da sie nicht einmal etwas ahnen können von der weltschaffenden kraft der übergeschlechtlichen liebe. 69
Die notwendige Unerfulltheit von Shakespeares Knabenliebe leitet laut Gundolf in die Spätphase von Shakespeares Werk über, das im Zeichen seines ,Endschaftsbewusstseins' stehe. Hier destilliert Gundolf nun aus den späten Dramen das Bild einer königlichen Seele mit heroischem Gemüt und adligem Sinn. Bei der Konturierung dieser Persönlichkeit Shakespeares fallt es Mason auf, „daß in der Seelengröße, die Shakespeare hier zugeschrieben wird, manche Züge fehlen, die in der ihm und auch anderen Dichtern sonst gemeinhin zugeschriebenen Größe eine Hauptrolle spielen, besonders die wesentliche moralische Unbescholtenheit und Vorbildlichkeit." 70 Wenn Gundolf stattdessen Shakespeare einmal explizit als „moralfrei wie die Schöpfung" (Sh I 97) bezeichnet, so bezeugt sich in dieser Konzeption von Persönlichkeit erneut das nietzscheanische Erbe. Shakespeare sei „ein mensch-gewesener Übermensch" (Sh II 419) gewesen und seine ungeheuren Kräfte hätten ihn ebenso an den Rand des Verbrecherischen wie an den des Wahnsinns geführt. Das erinnert an die frühe Briefstelle von 1901, in der Gundolf George schrieb, dass „in Sh. die Möglichkeit zum Mörder Dieb und Schurken gewesen sei ,"71 Diese moralfreie 67 68 69
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Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Bd XII. Shakespeare Sonnette. Umdichtung, Berlin 1931, S. 5. George charakterisiert den Gehalt der Sonette als „die anbetung vor der Schönheit und den glühenden verewigungsdrang." Mason (Anm. 55), S. 132. s. Anm. 5.
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Kraftgenialität Shakespeares korrespondiert den dämonischen Mächten der Schöpfung und geht auf im Begriff des Heroischen. Mason sieht in Gundolfs Idee der Mächte „den Leitgedanken seiner Shakespeare-Darstellung,"72 weil dieser Begriff gleichsam eine „Mystik des Diesseitigen" erlaube. Shakespeares Persönlichkeit und damit sein Werk werden quasi zum Ereignisort der dämonischen Lebensmächte und Weltkräfte. Seine Dichtung zeigt ihn „als einen von den Mächten Besessenen,"73 der „wie vielleicht kein zweiter das All in sein Ich herein verwandelt" (Sh II 437) habe. Mason stellt die einleuchtende These auf, „daß diese Mächte Gundolfs Ersatz für die ,Ideen' der älteren Philosophie sind und daß sie [...] sich auch als Einzelaspekte der ,Natur', des ,Lebens' oder des ,Alls' auffassen [lassen]."74 In dieser Konzeption eines exzeptionellen Ichs, so Sühnel, sei „Nietzsches Renaissance-Individualismus in eine Symbiose eingetreten mit dem Ich-Begriff des deutschen Idealismus."75 Der letzte Schritt, den Gundolf nun in der (Re-)Konstruktion von Shakespeares Persönlichkeit macht, besteht darin, sie in Übereinstimmung mit den zerstörerischen und irrationalen Potenzen der dämonischen Mächte zu bringen. Bei der Suche nach authentischen Aussagen Shakespeares im Munde seiner Bühnenfiguren kommt nämlich der Sentenz von Gloster im King Lear: „As flies to wanton boys are we to the gods; / They kill us for their sport" besondere Bedeutung bei. In den großen Tragödien Shakespeares sieht Gundolf eine heroische Haltung verwirklicht, die das Grausame und Entfesselte als ,das furchtbare Wesen der Welt und der Menschen' nicht nur akzeptiert und ohne jede Wertung gestaltet, sondern in der ästhetischen Gestaltung sogar noch feiert. Hier, so Gundolf, „nähert sich Shakespeare der Gesinnung der antiken Tragiker: seine Zerstörung ist nicht Verneinung, sondern Feier [...], seine Untergänge sind nicht Strafen, sondern Opfer." (Sh II 310) Diese Haltung sei die Haltung des Heroen Shakespeare, die er seinen tragischen Heroen auf der Bühne auferlegt habe. Im Kapitel über Macbeth charakterisiert Gundolf diesen in der Neuzeit höchst seltenen antikischen Typus als „erhabenen Menschen welche[r] dem Verderben trotz[t] oder erliegft] mit der unverlierbaren Seelenwürde bis in den Frevel hinein." (Sh II 309f.) Mason ist darin zuzustimmen, wenn er behauptet, auf „diesen Begriff der [...] , Würde' jenseits von Gut und Böse kommt es Gundolf an."76 Ich vermag ihm allerdings nicht zu folgen, wenn er aus der Tatsache, dass die Menschen in ihrem Handeln bloße Spielzeuge moralfreier Mächte seien, den Schluss zieht, dass Gundolf damit „auf eine grundsätzliche Leugnung des
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Mason (Anm. 55), S. 139. Ebd. Ebd., S. 140. Sühnel (Anm. 64), S. 270. Mason (Anm. 55), S. 150.
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menschlichen Verantwortungsgefühls" 77 hinauswolle. Mason zitiert selbst die Stelle, in der Gundolf Macbeth' Verdammtsein zum Handeln an ein „Gewissen jenseits von Gut und Böse" (Sh II 292) knüpft, d.h. aber doch eher, dass Gundolf den christlichen Verantwortungsbegriff durch einen persönlichen zu ersetzen trachtet, dessen tiefste Wurzeln in die antike Vorstellung von Haltung und Würde reichen, mit anderen Worten: der in einem tragischen Weltbewusstsein verankert ist. Auch Masons Einwand, „Shakespeares Glauben an diese absolute innere Würde des Einzelmenschen" 78 sei vor dem 18.Jahrhundert nicht vorstellbar, erscheint mir nicht zwingend. Auch wenn der Tatbestand eines historischen Wandels von Bewusstseinsformen oder Individualitätskonzepten nicht geleugnet werden soll, sei doch vor einer allzu schematischen Vorstellung von den Möglichkeiten beziehungsweise Unmöglichkeiten des subjektiven Bewusstseins gewarnt. George hatte übrigens zu Gundolfs Shakespeare-Monografie eine sehr kritische Haltung. Gegenüber Edith Landmann äußerte er Anfang 1929: „Methodische Kunst ist bei diesem Gegenstande nicht am Platz. Wenn man denkt, was für menschlich erregende Gegenstände in diesen Dramen stecken, so muss man sagen: es ist eine Kunst, daraus ein langweiliges Buch zu machen. Aber dies ist langweilig. Früher lernte man etwas durch seine Kombinationsgabe. Hieraus erfahrt man nichts." 79 Die geringere Wirkung, die die Shakespeare-Monografie im Vergleich zu Shakespeare und der deutsche Geist oder erst recht Gundolfs Goethe hatte, erklärte George damit, dass Gundolf inzwischen Freud gelesen habe und die Methode der Seelenzergliederung bei einem Genie wie Shakespeare unangemessen sei.80 Georges Urteil wirkt hier selbst eher unangemessen, denn Gundolfs Ansatz ist wie gesehen alles andere als psychoanalytisch, sondern schreitet konsequent die Deutungswege aus, die durch seine Prägung durch George angelegt wurden. Georges Reaktion erscheint mehr als eine Abwehr auf das Werk eines - aus seiner Sicht - Renegaten, das tatsächlich aber nur einen neuerlichen Beweis unverbrüchlicher geistiger Treue liefert. Gundolfs eigene Situation war nach der von George missbilligten Heirat nicht ohne Tragik, die er mit aller Würde trug. Wie viel ihm Shakespeare bedeutete, mag belegen, dass er noch auf dem Totenbett von ihm sprach. Dem Zeugnis seiner Frau Elisabeth nach galten Gundolfs letzte Worte: „diese Tristesse! und diese Harmonie!" 81 Shakespeare.
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Ebd., S. 146. Ebd., S. 150. E. Landmann (Anm. 21), S. 201 f. Vgl. M. Landmann (Anm. 30), S. 36. Laut einem Brief von Hanna Wolfskehl an Albert Verwey vom 24.7.1931. In: Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897-1946. Hrsg. von Mea Nijland-Verwey, Heidelberg 1968, S. 252.
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Epilog Im selben Jahr wie Friedrich Gundolfs monumentale Shakespeare-Darstellung erschien im Jahrbuch der Shakespeare-Gesellschaft ein kleiner Aufsatz seines Bruders Ernst über die sogenannte Beckermaske, also die oben schon erwähnte Totenmaske des Dichters. Schon kurz bevor die beiden Brüder die in ihrer Heimatstadt Darmstadt befindliche Totenmaske unter Augenschein nehmen konnten, berichtet Friedrich Gundolf von seinem Bruder im Januar 1904, dass Shakespeare zu seinen ,höchsten Göttern' zähle.82 Die gemeinsame Begeisterung für Shakespeare und für die Beckermaske mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Friedrichs zweibändiges Werk dem Bruder gewidmet war. Der aktuelle Anlass zur Veröffentlichung von Ernst Gundolfs Aufsatz war das Erscheinen des Buches Das ewige Antlitz von Ernst Benkard im Jahr zuvor gewesen. In diesem anspruchsvollen und umfangreichen Bildband über die Totenmasken von Künstlern und Staatsmännern war die Shakespeare-Maske unter die unechten Stücke in den Anhang aufgenommen worden.83 Ernst Gundolfs Anliegen war es nun, gegen diese Deutung sogleich Einspruch zu erheben, damit sich das in einer für den Gegenstand so einschlägigen Publikation gefällte Urteil nicht erst in der Öffentlichkeit festsetzen könne. Er rekapituliert eingangs noch einmal kurz die Geschichte der Maske, soweit sie bekannt ist, und konzediert, „daß ein dokumentarischer Beweis für sie nicht zu erbringen ist."84 Gegen Benkards Einwände erinnert er aber an „die außerordentliche Übereinstimmung in den Maßen mit der Grabesbüste in Stratford, die von dem amerikanischen Bildhauer Page in den 70er Jahren zuerst festgestellt und von ihm und anderen Bildhauern für völlig ausreichend zum Beweis erachtet wurde."85 Ernst Gundolf geht im Folgenden auf die Argumente von Benkard ein und kann sie m.E. mit einleuchtenden Gründen entkräften. So kommt er denn zu dem Schluss, dass die Beckermaske „bisher die glaubwürdigste und würdigste Verkörperung des Dichters"86 sei. Ernst Gundolf belegt diese Sehweise auch damit, dass gerade die Maske den Ansprüchen an eine geistig durchgebildete Physiognomie des Dichters genüge. Er schreibt: „Kurz, der Durchschnittstypus aller Shakespeare-Darstellungen ist durchaus derjenige der Maske, nur daß diese besitzt was jene vermissen lassen, einen geistigen Ausdruck, der des Dichters würdig ist, und mehr als das, der dessen eigenste Züge auszusprechen scheint: am stärksten Adel und
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Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 1), S. 147. Vgl. Ernst Benkard: Das ewige Antlitz. Eine Sammlung von Totenmasken. M. e. Geleitwort von Georg Kolbe, Berlin 1927, S. 58-60 und Tafel 103 und 104. Ernst Gundolf: „Zur Beurteilung der Darmstädter Shakespeare-Maske". In: ShakespeareJahrbuch 1928, S. 132-140, hier S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 140.
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Jürgen Egyptien
Menschenverachtung." 87 Damit schließt Ernst Gundolf sich in der Bestimmung der wesentlichen geistigen Haltung Shakespeares dem Verständnis seines Bruders und Stefan Georges exakt an. Aufgrund dieser physiognomischen Deutbarkeit bleibt die Totenmaske unabhängig von der Frage der Echtheit für Ernst Gundolf „noch immer das Bildnis, an das sich unsere Vorstellung am liebsten anheften möchte und vorläufig anheften darf." 88 Noch in zeitlicher Nähe zum Erscheinen seines Aufsatzes hat Ernst Gundolf die Totenmaske neuerlich unter Augenschein genommen und in einem Brief an Wilhelm Stein vom 16. Januar 1929 seine Überzeugung von ihrem hohen Alter und damit ihrer Echtheit bekräftigt. 89 In dieser Überzeugung, die wohl im George-Kreis allgemein geteilt wurde, hätten spätere Untersuchungen Ernst Gundolf bestärken können. Jedenfalls kommt Frederick J. Pohl in seiner Studie über die Totenmaske zu dem Befund, dass "the chances that the mask and the bust are of the same man are overwhelming. [...] It is in the order of a trillion to one that the death-mask and the original bust are of the same man." 90 Gerade im letzten Jahrzehnt ist die Echtheit der Darmstädter Totenmaske von der ShakespeareForscherin Hildegard Hammerschmidt-Hummel mit großer Energie und modernsten wissenschaftlichen Methoden wahrscheinlich gemacht worden. Erstmals hat sie 1995 in einem Vortrag die Echtheit der Totenmaske behauptet und sich dabei auf die Anwendung kriminaltechnischer Bildvergleiche gestützt, die sie von Experten des Bundeskriminalamts durchführen ließ. Weiterhin haben auch Trickbilddifferenzverfahren zwischen der Darmstädter Totenmaske und den authentischen Darstellungen Shakespeares sowie fachärztliche Gutachten zu den besonderen Kennzeichen der Gesichtsbildung zu dem Resultat gefuhrt, dass es sich bei der Darmstädter Maske „um die echte Totenmaske Shakespeares^ handelt, deren Haarreste sogar die einzigen erhaltenen „Überreste seiner leiblichen Gestalt" 92 sind. Noch eines der letzten editorischen Unternehmen, das George selbst anregte, galt Shakespeare. Walter Anton hatte den Auftrag erhalten, ein Kompendium unter dem Titel Shakespeare als deutscher Dichter zusammenzustellen, das aus „einer geradezu minutiös angelegten synopse deutscher Übertragungen der dichterischen stellen aus den dramen, bereichert um
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Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. Das Original des Briefs befindet sich im SGA. Frederick J. Pohl: The Death-Mask. In: Shakespeare quarterly 12 (1961), S. 115-125, hier S. 123. Hildegard Hammerschmidt-Hummel: Ist die Darmstädter Shakespeare-Totenmaske echt? In: Shakespeare Jahrbuch 132 (1996), S. 58-74, hier S. 69. Ebd., S. 66.
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linguistische und antiquarische glossen des kompilators"9, bestehen sollte. Im Frühsommer 1933 ließ George sich im Münchener Freundeskreis daraus vorlesen, zu einer abschließenden Ausführung dieses Projekt kam es jedoch nicht mehr. Der Grund dafür lag wohl vor allem darin, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten auch das Ende des George-Kreises bedeutete. Georges Tod im Dezember 1933 wirkt dafür fast symbolisch. Georges Bewusstsein, dass mit dem aufkommenden Nationalsozialismus auch das Ende seiner Utopie eines ,neuen Reichs' gekommen war, manifestierte sich in einer Geste, die er dem Werk Shakespeares entlehnte. Als sich Wolfskehl 1932 beunruhigt von den politischen Wirren in Deutschland Rat suchend an George wandte, „habe der Meister auf den , Sturm' gewiesen und lächelnd gesagt: er habe seinen Stab schon lang zerbrochen und so tief in die Erde versenkt, dass ihn so bald niemand mehr finden werde."94
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Karl-Josef Partsch: Aus dem letzten Jahr. Für Robert Boehringer zum 31.Juli 1964 (SGA, Konvolut Erinnerungen an Stefan George). Ich danke der Stefan-George-Stiftung für die Erlaubnis zum Abdruck. Salin (Anm. 25), S. 225.
Bernhard Böschenstein
Ernst Bertram Wir lesen in einer frühen Studie Ernst Bertrams aus dem Jahr 1911 Vom Künstlertum im 19. Jahrhundert. Über Flauberts Briefe Wirklich ist Flaubert ,kein Franzose'. Die besonderen Bedingungen seiner Heimat, der Normandie, werden bei ihm sichtbar, der ehrwürdigen Provinz Frankreichs, deren seltene Mischung gallischen und germanischen Blutes der französischen Kultur so viele edle Geister geschenkt hat. Er ist Deutscher, nordischer Mensch in der grüblerischen Eigensinnigkeit, dem inneren Zwiespalt seines ganzen Wesens. In ihm ist kein ,Süden'; er gehört durchaus zum niederländischen Kunstreich. Flaubert ist Deutscher von der besonderen Art, welche durch die Namen Luthers, Beethovens, Schopenhauers gekennzeichnet ist: ein Mensch von ursprünglicher gewaltiger Vitalität [...] es ist der mittelalterliche Deutsche, in der Grundlage. 1
So früh ist Ernst Bertrams Perspektive schon festgelegt, die dem deutschen, und ganz besonders dem norddeutschen Wesen, eine stete Priorität einräumt, welche seine Behandlung großer Dichter und Musiker bestimmt. Fast alle Charakteristika, die hier für Flaubert aufgeboten werden, finden sich auch in der Monographie über Nietzsche von 1918. Sie ist Bertrams bei weitem bedeutendste Leistung und stellt deshalb sowohl die Frühe[n] Bonner Studien zur Literatur von 1907-1920, die 1967 unter dem Titel Dichtung als Zeugnis erschienen, als auch die Fest- und Gedenkreden von 1919-1933, die 1934 als Deutsche Gestalten herauskamen, und die 1958 erschienenen Möglichkeiten in den Schatten. Daher wird mein kurzer Vortrag sich ausschließlich auf das Nietzsche-Buch konzentrieren. Bertram würdigt Nietzsche nicht als Philosophen, sondern als Dichter, Essayisten, Pädagogen, Propheten. Er selber arbeitet hier als Dichter, der eigene Lieblingsthemen als Kristallisationspunkte für Nietzschesche Konstellationen einsetzt, ζ. B. Dürer, Goethe, Stifter, Lorrain, Venedig. Schaut man sich bei Nietzsche selber nach seinen Äußerungen über Dürer, Stifter, Lorrain um, wird man mit Erstaunen bemerken, dass es bei ihm jeweils eher wenige Aussagen zu diesen Themen gibt. So sind mehrere Kapitel dieses Buchs poetische Aus1
Ernst Bertram: Dichtung als Zeugnis. Frühe Bonner Studien zur Literatur. Hrsg. von RalphRainer Wuthenow, Bonn 1967, S. 5.
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Bernhard Böschenstein
arbeitungen, Ausschmückungen, Ausweitungen des Dichters Bertram. Gerade diese Eigenschaften haben Thomas Mann beim Erscheinen des Nietzsche entzückt und sein Bekenntnis herausgefordert: „wie mein ganzes Wesen beständig darin mitschwingt".2 Er nennt es eine „Mischung aus Philologie und Musik"3, und eben nicht aus Philosophie, was die Eigenart dieses Buchs über einen Philosophen ausmacht. Die Struktur dieser Monographie ist, Nietzsche als „.typischen Zweideutigen'", als ,,άνήρ δίψύχος" 4 darzustellen, d.h. durchweg als Paradoxon. Thomas Mann wird diese Struktur dreißig Jahre später auf die Musik Adrian Leverkühns im Doktor Faustus, einem von Bertrams Nietzsche stark geprägten Roman, übertragen: „Dass Musik die Zweideutigkeit ist als System."5 Die Zweideutigkeit beginnt schon mit dem die eigene Methode charakterisierenden Programm: „Der Historiker [...] schafft das Geschehene: Geschichte ist Schöpfung, Gewesenes ist Werden." (N 37) Damit wird die Rückwärtsgewandtheit des ersten Kapitels Ahnentafel schon zur Prophezeiung umgestaltet. Wenn dieses Buch „Studien zu einer Mythologie des letzten großen Deutschen" (N 7) bieten will, ist damit auch schon gesagt, dass dieser Letzte auch ein Erster sein wird, ein fur die Zukunft Maßstab Setzender. Nietzsche selber hat drei große Etappen der Vollendung der deutschen Sprache ausgemacht: Luther - Goethe - Nietzsche.6 Bertram lässt sich davon anregen, indem er immer neu auf Luthers und Goethes zentrale Rolle im Horizont Nietzsches zu sprechen kommt. Dabei fällt aber auf, dass die wenigen positiven Stellen Nietzsches über Luther seine Perspektive bestimmen, während mehrfach vorgetragene heftige Angriffe Nietzsches auf Luther nicht zitiert, allenfalls gedeutet werden. Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft lesen wir, „Luther [sei] in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnisvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt" gewesen.7 Die Luthersche Reformation sei schuld an dem heutigen „Plebejismus des Geistes". (KSA 3, 605) In Ecce Homo wird er „dies Verhängnis von Mönch" genannt, der „die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unter2 3 4 5 6 7
Thomas Mann an Emst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910-1955. Hrsg. von Inge Jens, Pfullingen 1960, S. 75. Ebd., S. 76. Emst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, S. 8. Künftige Zitate aus diesem Buch werden in Klammem mit der Sigle Ν und der Seitenzahl angegeben. Thomas Mann: Doktor Faustus, Frankfiirt a. M. 1990, S. 66. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Banden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1986, S. 479. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1980, S. 603. Fortan werden alle Nietzsche-Zitate dieser Ausgabe folgen, in Klammem und mit der Sigle KSA versehen. Da die meisten dieser Zitate bei Bertram vorkommen und von ihm der heutigen Orthographie angeglichen wurden, wird der Wortlaut im Einklang mit der Orthographie in Bertrams Buch, nicht nach der KSA zitiert.
Ernst Bertram
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/ag..." (KSA 6, 359) Und am krassesten tönt es im Antichrist, alle Bertramsche Lutherabhängigkeit eines deutschtümlichen Nietzsche doch wohl in Frage stellend: Luther sah die Verderbnis des Papsttums, während gerade das Gegenteil mit Händen zu greifen war: die alte Verderbnis, das peccatum originale, das Christentum saß nicht mehr auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! [...] Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen!...Und Luther stellte die Kirche wieder her. er griff sie an...Die Renaissance - ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst! — Ah diese Deutschen, was sie uns schon gekostet haben! Umsonst - das war immer das Werk der Deutschen. [...] Es sind meine Feinde, ich bekenne es, diese Deutschen [...] sie haben auch die unsauberste Art Christentum, die es gibt, die unheilbarste, die unwiderlegbarste, den Protestantismus auf dem Gewissen...Wenn man nicht fertig wird mit dem Christentum, die Deutschen werden daran schuld sein..." (KSA 6, 25 lf.)
Diese Stelle zitiert Bertram bezeichnenderweise nicht, aber er sagt umschreibend von ihr, sie sei „Sinnbild eines Bruderzwistes in der eigenen Brust, wie er so wild, so schonungslos gegen sich, so faustisch-überdeutsch, so unauskämpfbar verhängnisvoll vielleicht nur in einem deutschen Herzen sich zutragen kann. Nietzsches Lutherhass - das ist die Stelle, wo sich die Aussicht über die weltlich-geistige Landschaft Nietzsches hinaus öffnet auf das Massiv des geistlichen Problems, von dem ein gewaltig ausstrahlender Gipfel den Namen Nietzsches trägt." (N 53) Nietzsche wird auf Grund des Zarathustra für Bertram „eines der großartigsten Phänomene innerhalb der Geschichte nordischen Christentums". (N 53) Sein „Selbstmissverständnis als eines Antichrists" ist für Bertram „gültiger Ausdruck dieser nordischen Christlichkeit". (N 56) gordische Christlichkeit, das ist ganz und gar der Mutterboden seiner ethischen Triebkräfte" (N 55), formuliert Bertram. Bertram erträgt nicht Nietzsches Verehrung der italienischen Renaissance, wohl nicht einmal seine Hinwendung zur griechischen Kultur, und am allerwenigsten seine späte Nähe zur französischen Literatur und Musik. Diese wird weitgehend ausgeklammert, so auch der von Nietzsche betonte Zusammenhang zwischen Wagner und Baudelaire, Wagner und der französischen Spätromantik. (KSA 5, 202) So wird das Dürerblatt Ritter, Tod und Teufel zum Kampfbild gegen die ,romanische Zivilisation' (N 50) benutzt, zur Erhöhung von Wagners Siegfried. (N 51) (KSA 5, 204) Für Bertrams Künstlernatur charakteristisch ist dieser Bezugspunkt aus der bildenden Kunst, zu der Nietzsche bekanntlich kein Verhältnis hatte. Luther, Hutten, männliche ritterliche Härte und Tapferkeit als Ausdruck deutscher Gesinnung werden auf dieses Blatt projiziert, das Nietzsche in der Geburt der Tragödie auf Schopenhauer bezogen hatte. Bertrams Methode besteht darin, aus dem Gesamtwerk, vor allem auch aus den Briefen Nietzsches, eine Zitatfolge zu komponieren, die sich um
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ein solches Blatt kristallisiert - ein poetisches, von subjektiven Kombinationen und Assoziationen geleitetes Verfahren, das die Grenze zwischen Wissenschaft und Dichtung willentlich überschreitet. Wäre nicht gleichzeitig eine von Ressentiments gegen Frankreich und auch Italien genährte nationalistische Ideologie ständig mit im Spiel, könnte diese Methode als Ergänzung zu traditioneller Literaturgeschichte und zu problematisierenden literaturtheoretischen Reflexionen ihren Platz behaupten. Durch die das zu Beginn des Buchs verkündete Ideal der Waage (N 10) zerstörende ideologische Tendenz bringt Bertram sein kunstvolles und geistreiches Gebilde immer wieder aus dem Gleichgewicht. Im zentralen Kapitel über Das deutsche Werden hören wir immer wieder, Nietzsche erkläre: „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen" (N 69) (KSA 2, 511, Nr. 323). In diesen paradoxen Zusammenhang fügt Bertram Nietzsches Neigung, ,„etwas in [den Deutschen], das hellenisch sein könnte'" (N 85) (KSA 11, 56, Nr. 25 [162]), zu erwecken. Er fasst diese Tendenz so zusammen: „Hellas ist die platonische Idee eines deutscheren' Deutschtums." (N 85) Ähnliche Gedanken vernahm ich 1959 aus dem Mund des Bertram tief verehrenden Martin Heidegger. Thomas Mann nimmt die Thematik vom deutschen Werden im XIV. Kapitel des Doktor Faustus wieder auf und legt sie Adrian Leverkühns Studienkameraden Deutschlin in den Mund. 8 Im Arion überschriebenen Kapitel zur Musik bestätigt Bertram „die tiefe Lutherfeindschaft gegen die Zivilisation im romanischen Sinne" (N 108), sich auf Nietzsche und Wagner gleichermaßen berufend. Im selben Erscheinungsjahr wird dieses Thema auch von Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen behandelt, jenem Gemeinschaftswerk von Thomas Mann und Bertram. Wie sehr der deutsche Geist sich in der Musik erfüllt, belegt fur Bertram das Nietzsche-Zitat: „Beethoven hat es besser gemacht als Schiller, Bach besser als Klopstock, Mozart besser als Wieland, Wagner besser als Kleist." (N 109) (KSA 8, 502, Nr. 27 [93]) Diese Gleichzeitigkeit in der Definition von Deutschtum, musikalischen und literarischen Wertungen entspricht Bertrams Hang zur „wechselseitigen Erhellung der Künste". In seiner Analyse von Nietzsches Betrachtung über Wagners Meistersinger-Ouvertüre betont er mit Nietzsches eigenen Worten die Theorie von den Deutschen, die er sich selber als Denkfigur angeeignet hat: „sie sind von vorgestern und von übermorgen, - sie haben noch kein Heute." (Ν 110) (KSA 5, 180, Nr. 240) Dies erlaubt ihm, ständig zugleich rückwärtsgewandt und prophetisch antizipierend vorzugehen und die Musik mit Nietzsche als „,Schwanengesang'" (N 111) (KSA 2, 450, Nr. 171) und als künftige Melodie, als „des Übermenschen drittes Reich" (N 120), ζ. B. in Gestalt südlicher Melodien wie Bizets Carmen, aufzufassen, wobei der Abschied und das „neue Leben" (N 123) ganz und gar
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Doktor Faustus (vgl. Anm. 5), S. 159.
Ernst Bertram
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ineinanderfließen. Ein solches Ineinander der Gegensätze, ζ. B. von Räumen und Zeiten, durchherrscht das ganze Buch. Die Paradoxie als durchgängige Struktur findet ihren Paroxysmus im Juüfc-Kapitel, das Thomas Mann besonders liebte. Hier läuft alles darauf hinaus, Christus und Judas miteinander zu vertauschen, „das höchste Böse" und die „höchste Güte" (N 144) (KSA 6, 366) zusammenzufuhren, das „Neintun" und das „Jasagen" (N 145) (KSA 6, 366). Der Verrat an Wagner wird mit Ecce //o/no-Stellen erläutert, die höchste „Akzente der Liebe und innersten Zugehörigkeit vernehmen" lassen. (N 147) Diese paradoxeste Figur bewahrheitet sich auch in Nietzsches Wertung Napoleons und in seiner Selbstdeutung als „Antichrist". Bertram ist nirgendwo so in seinem Element wie dort, wo er mit Zarathustras Worten nachweisen kann, dass für Nietzsche „,alles Böseste [des Menschen] beste Kraft ist'" (N 152) (KSA 4, 274). Liest man solche Gedankengänge im Licht der totalen Verblendung, der Bertram 1933 verfiel, so versteht man besser, wie er zu seinen schlimmsten Fehldiagnosen kam. Er wurde der Zögling der Vertauschung von Gut und Böse, deren Prozess er in seinem Nietzsche bis zur Identifikation verfolgt und dargestellt hat. Für das Verständnis der beiden aneinander grenzenden Kapitel Weimar (und das meint Goethe) und Napoleon ist für Bertram die Einsicht zentral, dass Nietzsche in Goethe einen „deutschen Halbbruder Napoleons" (N 212) sah. Ihrer beider Rolle für Nietzsche fasst Bertram in der Formel zusammen, sie seien beide „eine Maske des Dionysos". (N 212) Er zitiert Nietzsche: „,[Goethe] hatte kein größeres Erlebnis als jenes ens realissimum, genannt Napoleon.'" (N 212) (KSA 6, 151, Nr. 49) Von hier aus lässt sich eine Brücke zu George bauen, nicht vom Lutheraner und Bachianer Nietzsche aus, der den größten Teil von Bertrams Buch dominiert. Die George-Nähe wird erneut deutlich werden, wenn wir zu den beiden letzten Kapiteln Sokrates und Eleusis fortschreiten. Zuvor aber müssen wir bei Bertrams Lieblingsthemen verweilen, die nur er, kein anderer Nietzsche-Forscher vor oder nach ihm, jemals zu Kapiteln einer Nietzsche-Monographie gemacht hätte, weil sich ihre Bedeutung von Nietzsches oft spärlichen Zeugnissen aus nicht unbedingt rechtfertigt, wohl aber von Bertrams dichterischer Phantasie aus, die hier Eigenstes in Nietzsche entdeckt. Ich meine die drei Kapitel Nachsommer, Lorrain und Portofino. Deren Gehalt fließt übrigens ineinander über. Es geht hier vor allem um mehrere Präludien zum letzten Spätherbst in Turin 1888 und um diesen selber, der von Bertram als „arkadisches, antikes Spätglück von zartestem Epikureismus" (N 241) gefeiert wird. Dies gilt in Bertrams Sicht auf Nietzsche ebenso für Stifters Roman wie für Claude Lorrain. In beiden glaubt er, mit Nietzsche sehnsüchtige Südträume aus nördlicher Perspektive wahrzunehmen. Im letzten Spätherbst beschreibt Nietzsche seinen erhöhten Glückszustand: „,ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbändiger Vollkom-
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menheit'" (N 254) (KSA 6, 356), so dass für Bertram die ^heroischidyllische'" antike Landschaft eine nord-südliche Vereinigung darstellt. Lorrain, der Lothringer, gehört zweifellos für Bertram zu den nordischen Meistern, ja zu dem an Deutschland grenzenden Bereich, der den Süden in der Brechung von Traum und Sehnsucht hellenisiert, eine Perspektive, die von Goethes und Burckhardts Neigung zu Lorrain unterstützt wird. (Von dem viel klassischeren Zeitgenossen Poussin ist bezeichnenderweise nie die Rede.) Auch das Vorgebirge von Portofino bei Rapallo wird ähnlich gedeutet, als letzter Traum, als „Gleichnislandschaft Zarathustras" (N 277), als „Brückenpfeiler zu einer unbekannten Küste hinüber" (N 279). Bertram nennt schließlich „das ganze Phänomen Nietzsche [...] ein solches äußerstes Vorgebirge" (N 277), mit Zarathustra „,ein Vorspiel'", wo einer „,auf hohem Joche zwischen zwei Meeren'" (N 278) (KSA 4, 287) wandelt. Bertrams Eigentümlichkeit ist es, solche Vorstellungen an einem geographisch genau bestimmten Ort festzumachen, hier am Vorgebirge von Portofino. In dieser Verfahrensweise dichtet er über Nietzsche hinaus, was zu einer deutenden Kristallisation führt, die verschiedene Äußerungen Nietzsches zuammenbindet. Die Methode ist kreativ, aber entschieden subjektiv, sie kann von keinem andern Forscher in dieser Form übernommen werden. Nachvollziehbarer ist der mit diesen drei Kapiteln verwandte VenedigEssay, wo Bertram mit Nietzsches Venedig-Gedicht und vor allem mit Goethes Schilderung des Gesangs zweier Gondolieri nachhilft, um aus Venedig für Nietzsche die zwielichtige Stadt der Musik zu machen, vor allem an Wagners Tristan und an Peter Gasts Löwenmusik anknüpfend, „äußerste Todesnähe und letzte Lebenssüße" (N 266) vereinigend. Dieses Stadtporträt hebt sich von drei vorangestellten, viel eindeutigeren ab, von Basel, Genua und Turin, die Bertram alle gleichnishaft deutet. Solche kulturgeschichtlich gesättigte Porträts sind Dichtungen eines höchst kultivierten Lesers und zeigen Bertrams Begabung für eine synthetisierende Skizze aus Wissen und Anschauung. Und die beiden letzten Kapitel sind - endlich, möchte man sagen - in georgischem Geist geschrieben: Sokrates und Eleusis. Sokrates insistiert zuerst auf dem schon anhand von Luther dargestellten „Selbsthass" (N 308) und „Bruderhass" (N 314). Danach wird hier ein Hymnus auf die Freundschaft gesungen, mithilfe von Goethe- und Johannes von Müller-Zitaten, wird der Traum von einer „tempelritterlichen platonischen Akademie" (N 322) der „an den Großen Menschen Gläubigen" (N 323) entworfen, wird Nietzsches ungeheure Sehnsucht nach Jüngern in ihrer Vergeblichkeit dargestellt. Und, dazugehörig, die Schweigepflicht des Eingeweihten, im Schlusskapitel Eleusis, das von griechischer Scheu vor dem Wort handelt und von Zarathustras empedokleischem Opfertod, in eleusinischem Anschauen des sterbenden und auferstehenden Dionysos.
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Bertrams Hang nicht nur zur Mythisierung, sondern auch zur Mystik endet mit dem Flammentod, als der Nietzsches Hinübergang in den Wahn gedeutet wird. Bis zuletzt grundieren auch Hölderlinverse und -sätze dieses Ende, daran erinnernd, dass Bertrams Nietzsche zeitlich ungefähr mit Georges Lobrede auf Hölderlin zusammenfällt. Diese zuletzt behandelten Kapitel sind alle todessüchtig, in einem persönlichen und in einem geschichtlichen Sinn. Sie lassen nicht zufallig öfters Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer aufleuchten. Dieser Dichter spielt fur Nietzsche keine Rolle, umso mehr für Bertram, dessen eigene Gedichte an ihn anschließen. Auch dies gehört zu Bertrams Eigenart, dass er seine eigenen Lieblingsdichter in das Koordinatennetz seines Gegenstands einbezieht. Deshalb ist der Satz in Thomas Manns letztem Brief an Bertram von 1952 durchaus treffend: „Ihr Werk hat viel von Abschied." 9
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Briefe (vgl. Anm. 2), S. 192.
Jeffrey D. Todd
Die Stimme, die nie verklingt. Ernst Robert Curtius' abgebrochenes und fortwährendes Verhältnis zum George-Kreis Die Beziehung zwischen dem Wissenschaftler E. R. Curtius und dem GeorgeKreis begann mit einem Treffen im Winter 1906 beim Malerehepaar Lepsius im Berliner Westend. Öfter waren dort viele Persönlichkeiten der Berliner Geisteswelt zu Gast: außer Stammgästen wie Botho Graef, dem Archäologen und Bruder von Sabine, den Simmeis und Gertrud Kantorowicz ist Dilthey dort aufgetaucht, so wie Rilke, Lou Andreas Salome und andere.1 An jenem Abend aber waren außer Curtius nur Gundolf und George zugegen. 2 Die Aussichten auf ein enges Verhältnis zwischen Gundolf und George sind schwer einzuschätzen, die Chancen für ein sympathisches Verhältnis zwischen den beiden jungen Männern standen gut. Denn beide waren vielversprechende junge Mitglieder der gelehrten Schicht;3 beide hat-
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Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S. 17-18, S. 25, S. 2829, S. 43-44. In ihrem Bericht über ihre Beziehung zu George erzählt die Malerin und Gattin des bekannten Berliner Malers Reinhoid Lepsius u. a. in detaillierter Weise von den abendlichen Treffen, die um die Jahrhundertwende bei ihr veranstaltet wurden. Vgl auch Ute Oelmann: Das Malerehepaar Lepsius und Stefan George. In: George-Jahrbuch 3 (2000/2001), S. 22-33. Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. erw. Aufl. Bern 1954, S. 100-101. Gundolf war der Sohn des Darmstädter Mathematikprofessors jüdischer Abstammung Sigmund Gundelfinger (1846-1910). Friedrichs Bruder Ernst (1882-1945) zählte auch zu Georges Freunden (Victor Schmitz: Gundolf. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 7, 1966, S. 319-321.) Curtius' Großvater war der bedeutende Gräzist Ernst Curtius (1814-1896), sein Vater Friedrich Curtius (1851-1931) Präsident des Oberkonsistoriums der evangelisch-lutherischen Kirche in ElsaßLothringen. Die Mutter war Louise nee Gräfin von Erlach-Hindelbank (1857-1919). Curtius gehört also nicht lediglich zum Bildungsbürgertum sondern hat auch aristokratischen Hintergrund. Curtius 1 Schwester Gerda heiratete den Soziologen Werner Picht, Schwester Olympia einen Arzt der Familie Weizsäcker. Sein Bruder Friedrich wurde Professor und Arzt mit Praxis in Lübeck (Ernst Robert Curtius (1886-1956). Hrsg. von Heinrich Lausberg/Arnold Arens, Stuttgart 1993, S. 21,23).
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Jeffrey D. Todd
ten ihre akademischen Proben mit Glanz bestanden; 4 beide Männer lehnten den Materialismus ab und wollten nur dem Geist dienen. In den frühen Werken beider Forscher bemerkt man die deutlichen Spuren einer Beschäftigung mit den Werken Henri Bergsons. 5 Alle Ähnlichkeiten gipfeln aber in ihrer gemeinsamen Verehrung
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Mit Glanz: aber nicht in allen Stücken glänzend. Vgl. Thimann, dessen Dokumentation zu Gundolfs Promotion zeigt, dass der Kandidat mehr Erfolg bei der schriftlichen Dissertation über Casars Ruhm als bei den mündlichen Prüfungen hatte. Besonders im Nebenfach Kunstgeschichte, von Gundolf ironischerweise am meisten geliebt, hat er sich eine Blöße gegeben. Sein Prüfer Heinrich Wölfflin soll am Ende der Prüfung gesagt haben: „Ich will aufhören, es wird Ihnen auch lieber sein" (Michael Thimann: „Iuventutem meam finitam subito sentio ac doleo". In: GeorgeJahrbuch (Anm. 1), S. 119-130, hier S. 125.) Gundolfs Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist wurde bekanntlich hoch gelobt als große Leistung der damaligen deutschen Germanistik. Vgl. Oskar Walzels Würdigung, die trotz aller Kritik die Vorzüge von Gundolfs Arbeit anerkennen muss (Oskar Watzel: Rez. von Shakespeare und der deutsche Geist. In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 48 (1912), S. 259-274.) Lausberg verfolgt Curtius' Studienzeit, insbesondere die Rezeption der Dissertation und Habilitationsschrift, ohne auf diejenige der mündlichen Prüfungen einzugehen. Nach Lausberg sei Curtius' Ausgabe des Quatre Livre des Reis „dokumentarisch bis heute nicht überholt". Auch die Habilitationsschrift über Brunetieres Literaturkritik wurde von der Bonner Fakultät mit hohem Lob aufgenommen (Lausberg (Anm. 3), S. 2648, hierS. 38,44.)
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Am ausführlichsten befasst sich Curtius mit Bergson an zwei Stellen (Ernst Robert Curtius: Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. Wiederabgedruckt in: Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert, Bern 1952, S. 5-273, hier S. 31-40; Ernst Robert Curtius: Der Bergsonismus. In: Ders.: Französischer Geist im neuen Europa, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1925, S. 319326. Bergson erscheint aber auch natürlicherweise im Zusammenhang mit dem Thema „Vergänglichkeit und Erinnerung" in Curtius1 Proust-Essay (Ernst Robert Curtius: Marcel Proust. Wiederabgedruckt in: Französischer Geist im neuen Europa (Anm. 5), S. 274-355, hier S. 289-293.) Obwohl Bergson hier nicht mit Namen genannt wird, kann man aber seinen Einfluss auch in dem „Energie"-Kapitel von Curtius' Balzac-Buch sehen (Ernst Robert Curtius: Balzac, 2. Aufl. Bern 1951 [1923], S. 63-89). Schließlich zeigen zahlreiche Erwähnungen in Curtius1 ,opus magnum', dass Bergson eine wichtige Instanz für ihn bis in sein Spätwerk blieb (Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 16-17, S. 19, S. 386-387, S. 395, S. 526. Vgl. auch die Darstellung von Curtius' Bergson-Rezeption bei Hans Manfred Bock: Zu Ernst Robert Curtius' Ort im politisch-intellektuellen Leben der Weimarer Republik. In: Lendemains 59 (1990), S. 16-62, hier S. 18-20). Gundolf war viel weniger als Curtius geneigt, Sekundärliteraturquellen in seinem Text anzumerken. Trotzdem taucht Bergson namentlich auf in Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, 11. Aufl. München und Düsseldorf 1959 (1911), S. 60. George aber sah Gundolfs Bergson-Begeisterung nicht gern und soll laut Vallentin Gundolfs Bruder Ernst den Auftrag gegeben haben, eine ausführliche Behandlung einschließlich angemessener Kritik von Bergsons Philosophie zu verfassen, gerade um die Bergson-Begeisterung des Bruders zu züchtigen. In diesen Rahmen passt auch die Kritik an Gundolfs früher Fassung des GoetheBuches, er schreibe einen „Werdensgoethe". Die einseitige Betonung des Werdens bei Goethe wurde dann in der endgültigen Fassung nach Wunsch des Meisters durch ein entsprechendes Augenmerk auf das Sein ausgeglichen (Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George, Amsterdam 1967, S. 95-96). Vgl. hierzu auch die Diskussion des Zusammenhangs zwischen Gundolf und
George und Curtius
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ftir den Dichter Stefan George. Der Verlauf von Curtius' Verhältnis zu Gundolf und George gleicht einem langsamen Crescendo und dann einem ebenfalls langsamen Diminuendo, ohne dass die Stimme j e gänzlich verklingt. Erst zwei Jahre nach dem ersten Treffen in Berlin beginnt das, was zum reichhaltigen Briefwechsel zwischen Gundolf und Curtius wird; 6 den Wendepunkt der Beziehung bildet die Kontroverse über Curtius' erstes wichtiges Buch Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, nach diesem Wendepunkt nehmen die Kontakte zwischen Curtius und dem Kreis langsam ab. Denn im Zuge der Lektüre des WegbereiterManuskripts wird George klar, dass Curtius grundlegend anders denkt. Ein solches Urteil von Seiten Georges konnte keine andere Wirkung auf das Verhältnis zwischen Gundolf und Curtius haben als eine abkühlende. Die Aufgabe dieses Referats kann nicht sein, noch einmal die Geschichte dieses Verhältnisses zu erzählen. 7 Stattdessen möchte ich das Augenmerk dorthin lenken, wo die Geister von Curtius, Gundolf und George am deutlichsten zusammentreffen, wo ihre Ähnlichkeiten so wie ihre Divergenzen am deutlichsten hervortreten. Ich werde mich also auf die zu diesem Zweck wichtigste Stelle im Briefwechsel konzentrieren, wo Curtius sich zu denjenigen Eigenschaften bekennt, die eine engere Verbundenheit mit dem georgeschen Staat ausschließen. Die in Frage stehende Stelle stammt vom 21.11.1914. Bislang hat die Korrespondenz zwischen Gundolf und Curtius nahezu sieben Jahre gedauert. Curtius hat sein Gefühl der Zugehörigkeit zur geistigen Bewegung inbrünstig behauptet. Trotzdem kommen langsam weltanschauliche Unterschiede zum Vorschein: Wenn ich auch [...] als Mensch zu traditionsbelastet und unschöpferisch, zu eingereiht' und ,rückgewandt', zu halb (sagen wir es nur klar) bin, um je ein guter Bürger des Staates werden zu können, so hat doch für mich das Werk des Meisters und Ihre Freundschaft ein incipit vita nova, eine zweite Geburt bedeutet, und was an Weihe und Glut, an höchster Erhebung in meinem Leben war und ist, das kommt daher.8
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Bergson bei Jürgen Egyptien: Schöpfergeist und Kosmanthrop. Shakespeare im George-Kreis. In: CP 54 (2004) Η. 261-262, S. 87-121, hier S. 104-109. Die gemeinsame Begeisterung beider Kritiker fur Bergson ist an mehreren Stellen im Briefwechsel nachzulesen (Friedrich Gundolf. Briefwechsel mit Ernst Robert Curtius. Hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock. In: CP 12/13 (1962/1963) Η. 54-56, S. 129-286). Der veröffentlichte Briefwechsel beginnt am 22.2.1908 und schließt am 9.1.1930, aber weitaus die meisten Briefe wurden vor 1920 geschrieben. Vgl. Jeffrey D. Todd: The Price of Individuality. Ε. R. Curtius' Exclusion from the George-Kreis. In: GRM 51 (2001) S. 431 -445. GundolffCurtius Briefwechsel (Anm. 5), S. 237-238.
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Im Folgenden werde ich die Hauptbegriffe dieses Textes einzeln erörtern. An erster Stelle evoziert Curtius mit dem Begriff „traditionsbelastet" seine Gebundenheit an die Tradition. Das ist zum einen die religiöse Tradition seiner Familie, eine lutherisch-evangelische. Curtius scheint dieser Tradition zeitlebens angehangen zu haben, trotz des immer wiederkehrenden Gerüchts, dass er zur katholischen Kirche übergetreten wäre. 9 Curtius empfand sich nicht nur an die religiöse, sondern auch an die geistige Tradition des Abendlandes, insbesondere Roms, innig gebunden. Dies wird auf erschütternde Weise während seiner ersten schicksalhaften Reise nach Rom deutlich. In einem Brief vom 27. März 1912 kommt seine Wehmut für das unwiederbringlich Verlorene an Rom zum Ausdruck: Heute habe ich die Thermen Caracallas gesehn. [ . . . ] Nicht einmal auf dem Forum habe ich so den herzbrechenden Schmerz empfunden: dass dies alles ewig dahin ist. Dieser Schmerz ist etwas woran ich leide wie an einem privaten Geschick. Das Unwiederbringlich Verlorensein — muss es einen nicht dazu bringen, den ganzen Verlauf der Geschichte nur noch als Tragik zu empfinden? Eine Tragik, die wir nur deshalb so selten und so schwach fühlen, weil wir in unsern armseligen Hütten im Triebsand des Alltags stumpf und blöde werden? Es gibt nur noch eine Möglichkeit zum Weiterleben: glühend diese tote Welt zu lieben und von ihrem Ruhm Kunde geben. Das hat mich Rom gelehrt.10 Der Schmerz hat ganz persönlichen Charakter. Curtius leidet daran „wie an einem privaten Geschick": als ob das Geschick, das die Thermen Caracallas getroffen hat, ihn selbst getroffen hätte. Er identifiziert sich mit den Thermen und mit allem, was sie für ihn versinnbildlichen. Aber was verursacht einen solchen Schmerz? Gerade die Endgültigkeit des Todes dieser Welt: sie ist „unwiederbringlich verloren", „ewig dahin". Die Tradition wird hier als endgültig vergangene Geschichte, deren Größe noch in den Ruinen Caracallas spürbar ist, erfahren. So begriffen gibt es
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Vgl. diesen Brief von Curtius an Gide aus dem Jahre 1927: „J'apprends que vous me croiriez ,converti', c'est-ä-dire catholique. C'est un bruit qui reprend regulierement, mais c'est une erreur. Je suis chretien, et les mystiques n'ont jamais cesse de m'attirer. Mais je ne pourrais jamais me rallier ä l'eglise romaine. Mon attitude ä son egard est Celle des eglises orientales dites orthodoxes" [Ich habe erfahren, dass Sie mich fär einen „Bekehrten", also einen Katholiken, halten. Das ist ein immer wiederkehrendes Gerücht, ist aber ein Irrtum. Ich bin Christ und die Mystiker haben mich seit jeher angezogen. Aber ich könnte niemals in die römische Kirche eintreten. Meine Einstellung ihr gegenüber ist diejenige der östlichen, sogenannten orthodoxen Kirchen. Übers. JT] (Deutschfranzösische Gespräche 1920-1950. La correspondence de Ernst Robert Curtius avec Andre Gide, Charles Du Bos et Valery Larbaud. In: Herbert und Jane M. Dieckmann, Frankfurt a. M. 1980 (Das Abendland NF 11), S. 86).
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Gundolf/Curtius Briefwechsel (Anm. 5), S. 209.
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keine Kontinuität zwischen jener Welt und der gegenwärtigen, und so ist der Status der Tradition als lebendige Überlieferung in Frage gestellt. Da die Antike endgültig vergangen ist, erweckt sie die Trauer über das Verlorene, also die Wehmut. Curtius1 Schmerz lässt nicht zu, einfach weiter zu leben, als wäre nichts passiert. Die einzige Bedingung, unter welcher ihm das Weiterleben denkbar ist, ist, dass er „vom Ruhm dieser toten Welt Kunde gibt". So meint er die Treue zur römischen Antike zu halten. In diesem Moment scheint er seine Lebensaufgabe gefunden zu haben. Inwiefern steht dieser Traditionalismus seinem Bürgertum im georgeschen Staat im Wege? Um dies zu verstehen, muss man etwas von den Werten des Kreises begreifen. Die Tradition ist kein zentraler Begriff bei George. Freilich mangelt es im Kreis nicht an Zeugnissen für die Verehrung großer Menschen: alle Publikationen des Kreises zeugen von großer Ehrfurcht für die großen Dichter und Tatmenschen der Geschichte. Insbesondere Dante wird zum dichterischen Vorbild für George, zu einer privilegierten Figur in Georges Pantheon. Doch werden Autoren wie Dante nicht in erster Linie wegen ihres Status als Mitglieder einer Tradition gepriesen. Vielleicht wird der Unterschied zwischen Curtius' Haltung und der des Kreises am ehesten durch Gundolfs Reaktion auf das von Curtius geschilderte geschichtliche Schauspiel deutlich: Dank für Ihren jüngsten und ergriffenen Brief aus Rom. Ich fühle wohl mit Ihnen was die Anschauung der Mitte aller lebendigen Bildung Europas für Sie bedeuten muss, und dennoch glaub ich, könnte mir dort diese Umwälzung nicht werden wie Ihnen. Sei es dass ich, nie so vom Nordischen affizirt, von Kind auf die Cäsarenwelt als Schauplatz meiner Wertungen und Träume mir vertraut gemacht, sei es dass ich das Vergehn der Historie das dort so grandios auf die Sinne schlägt, die Tragik, die Sie so erschüttert, ja als den eigentlichen Sinn des Geschehens, als die den Menschen allein erlaubte, allein zugängliche Form der Ewigkeit erlebe. Es gibt keine Ewigkeit als den lebendig gefüllten, gestaltgewordenen Augenblick, und diese Tragik der Trümmer ist so wenig traurig, als dass wir selber sterben müssen." Im Gegensatz zu Curtius zeichnet sich Gundolfs Antwort durch einen entschiedenen Optimismus aus. Gundolf ist überhaupt nicht wehmütig gestimmt, denn antike Größe erscheint ihm nicht als ein unwiederbringlich Verlorenes. Das Rom der Antike, für Curtius eine „tote Welt", ist für Gundolf dagegen die „Mitte aller lebendigen Bildung Europas". Der Gedanke, der Gundolf diesen Optimismus ermöglicht,
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Ebd., S. 210.
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der ihn in Stand setzt, antike Größe als lebendig und bewährt aufzufassen, ist die Ewigkeit. Genau wie Curtius erkennt Gundolf das Nacheinander der Ereignisse an. Dies nennt er das „Vergehen der Historie" und das „Geschehen". Dazu kommt aber in Gundolfs Geschichtsauffassung die Ewigkeit. Die beiden Ebenen sind aufeinander bezogen. Zur rechten Zeit, im ,günstigen Augenblick', dem Kairos, bricht die Ewigkeit in die Geschichte ein. Daraus entstehen die „gestaltgewordenen Augenblicke", d. h. die Augenblicke, in denen das Leben eine neue Gestalt und neue Gesetze annimmt. Freilich ist fiir Gundolf nicht jeder Augenblick ein günstiger: der Kairos lässt auf sich warten. Doch gibt es keinen Grund, weshalb die Ewigkeit heut oder morgen nicht in die Geschichte wieder einbrechen kann, da die Ewigkeit, dieser Born aller geschichtlichen Größe, als ewige immer präsent ist. Indem Curtius die Größe in der Vergangenheit lokalisiert, wird er vom Anblick besonders der römischen Geschichte gebannt, und verharrt in einem rückblickenden Zustand. Dies verurteilt ihn zu einem Pessimismus für die Gegenwart und die Zukunft. Viel lockerer und gelassener in Hinsicht auf die Vergangenheit, optimistischer und tatkräftiger im Ausblick auf die Zukunft scheint Gundolfs Auffassung. Curtius' frommer Wunsch, Rom die Treue zu halten, stellt, nicht nur nach Ansicht der Georgeaner sondern auch für ihn selbst, eine Gefahr dar, die im Folgenden weiter besprochen wird. Mit den Worten „eingereiht" und „rückgewandt" sind Begriffe gefallen, die aus dem Stern des Bundes stammen. 12 Wie man den Anfuhrungszeichen entnehmen kann, sind sie bewusst von Curtius als Zitate gebraucht. Um unserer Deutung die nötige kontextuelle Fülle zu geben, wenden wir uns dem in Frage kommenden Gedicht zu. „Bangt nicht!" - heißt die Devise dieses Gedichtes - Bangt nicht, wenn Zerstörung geschieht, denn schließlich gibt es immer Zerstörung im Leben. Aber Zerstörung hat nicht das letzte Wort: es gibt auch Wiederaufbau. Das ist das Gesetz des Lebens. Alles heilt, alles wird mit dem Hauch neuen Lebens erfüllt. Schon hier im ersten Satz des Gedichtes stellt sich heraus, dass dieses Gedicht unser früheres Thema anspricht: Zerstörung und also den Verlust von Leben und Werk des Menschen. Die dazu gehörige emotionale Haltung oder Stimmung ist: dass man keine Angst davor haben soll. Dieser Optimismus wird dadurch begründet, dass einmal alles neu zusammengestellt werden wird. Das heißt nicht, wie der Traditionalist es
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SW VIII 37. Die Tatsache, dass Curtius sich hier eines Begriffspaars aus dem Stern des Bundes bedient, zeigt seine Aneignung noch eines anderen wichtigen Verhaltens des Kreises: der Habitus, das Leben mit Georges Worten zu deuten und so sich nicht nur die georgesche Anschauung anzueignen, sondern auch zu zeigen, dass man die Dichtung ernst nimmt. Dies ist ein Wesenszug des Diskurses im Kreis.
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gerne hätte, dass alles wieder sein wird, wie es einst war, sondern lediglich dass neues Leben in die Dinge kommen wird. Die nächsten, grammatisch schwierigeren Zeilen, die für uns auch von entscheidender Bedeutung sind, sind leichter entzifferbar, wenn wir das Augenmerk auf das Spiel mit dem grammatischen Geschlecht lenken. Das Gewesene und Tote wird mit dem Neutrum versehen - so: „Was schon genannt ist" - während alles Lebendige mit dem Maskulinum versehen wird - daher „der zukünftige Ungenannte", dem es durch die Gaben von Kranz und Krone zu huldigen gilt. Dabei sind die Personen, die dem schon genannten Gewesenen zugesellt sind, als mit dem Neutrum versehene Dinge bezeichnet: als „leeres Gehäus" und „stumpfes Waffen". 13 „Dinge" solcher Art, die als Gehäus und Waffe die Möglichkeit in sich bergen, dienlich zu sein, aber die tot geblieben sind: so sind die „eingereihten und die rückgewandten". Die drei Punkte am Schluss der vorletzten Zeile laden uns nun ein, die Toten das Tote begraben zu lassen und uns ganz dem zukünftigen Ungenannten zu widmen. Keine Kraft wird darauf verschwendet, die Eingereihten und Rückgewandten wieder einzufangen. Es geht einzig darum, dass die noch Lebendigen den Ungenannten huldigen. „Eingereiht" und „rückgewandt" erscheinen hier also als den Menschen betreffende Attribute. Sie wurden auch von Curtius so ausgelegt und auf sich selbst angewendet. Und mit Recht: denn die Rückgewandtheit ist dieselbe Faszination von vergangener Größe, dasselbe Fixieren des Blickes auf das schon Genannte und Gewesene, wie wir sie in der Erörterung des Traditionalismus vermerkt haben. Bemerkenswert aber ist, dass Curtius selbst diese Eigenschaft als »Problem' anerkennt, ferner als ein Problem, das er zu überwinden versucht! Besonders bedeutsam ist in dieser Hinsicht der Begriff „Herbstgesang", wiederum ein Begriff aus dem Stern des Bundes, diesmal aus dem 3. Buch. Vorangehende Gedichte handeln von Irrtümern, die die „Herrn der Welt", die „Sohnschaft", meiden sollen. Im 6. Gedicht ist die Gefahr, vor der man fliehen soll, die Wehmut:
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Hans Rößner, der in der NS-Zeit zum SS-Obersturmbannführer empor- (oder herunter-) stieg und trotzdem die Veröffentlichungen Hannah Arendts beim Piper-Verlag in der Nachkriegszeit noch betreuen durfte, sagt zum Thema Geschlecht im George-Kreis: „Urbild aller Gemeinschaft ist der männlich-erotische Bund; denn alle gestalthaften Kräfte sind männlich". Von einem solchen Grundsatz aus ist Georges Spiel mit dem Maskulinum und dem Neutrum gut verständlich. Weitere Bemerkungen Rößners zur Bedeutung der Weiblichkeit im George-Kreis sind trotz seiner braunen politischen Farbe auch richtig gesehen (Hans Rößner: Georgekreis und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1938, S. 33.) Rößner taucht als einer der 221 Fälle von ,Schreibtischtätern, in Michael Wildts bahnbrechender Studie: Generation des Unbedingten, Hamburg 2002, auf.
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202 Wehmut flötet., dort in häusern Bunte klänge laden schmeichelnd Saugen süss die Seele... Eilet! Alles dies ist herbstgesang.14
Wonne der Wehmut wird hier nicht als Stimmung dargestellt, die romantisch erlebt und genossen werden soll, wohl aber als magische Verlockung, die der Seele Kräfte süß aussaugen und vor der man deshalb eiligst fliehen muss. Dieser magisch verlockende Gesang der Wehmut wird als „Herbstgesang" bezeichnet. Wie wir früher bemerken konnten, steht der Begriff der Wehmut in engstem Zusammenhang mit Curtius' Liebe zu Rom. Dort war Trauer um das unwiederbringlich Verlorene; hier ist Trauer um das langsam Absterbende. Doch geht es in beiden Fällen um die rückblickende Trauer: die Sünde übrigens, die Lots Gattin in eine Salzsäule verwandelte. Im Briefwechsel erscheint dieser Herbstgesang als die Verlockung, die gewisse französische Autoren oft katholischer Tendenz damals auf Curtius ausübten. Über eben diese Autoren war Curtius im Begriff, ein Buch zu schreiben. Er selbst nennt den Herbstgesang eine Gefahr; nennt es auch einen Fortschritt, wenn es scheint, die Verlockung solcher Autoren könne ihm nichts mehr anhaben. Äußert er sich doch zuversichtlich: Ich habe in diesem letzten Jahr einen entscheidenden Schritt getan. Aller Herbstgesang hat seine Gefahr für mich verloren. Wol freu ich mich noch daran (weil ich nun einmal das Organ dafür hab), aber der magnetische Zauber ist gebrochen, wie mit einem Schlag. Jene Dinge sind für mich keine Verführung mehr, und das scheint mir ein wesentlicher Gewinn.15 Dieses Gespräch zwischen Curtius und Gundolf fallt in die Zeit, da Curtius seine Wegbereiter schrieb. Durch Curtius' Versuch, sich des Herbstgesangs zu entwöhnen, versucht er die eigene Auffassung so weit wie möglich in Einklang mit der von Gundolf und George zu bringen. Im Einzelnen fuhrt das zu manchem Zugeständnis im Text des Manuskriptes: durch den Gebrauch von Begriffen, die bei Gundolf und anderen Kreismitgliedern üblich waren 16 ; durch die Aufwertung des
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SW VIII 87. Gundolf/Curtius Briefwechsel (Anm. 5), S. 249. Es geht hauptsächlich um drei Begriffe: ,Urdichter', ,Kosmik' und ,Chthonik'. Diese hatte Curtius auf das Werk Paul Claudels angewendet, eine von Gundolf wie von George für unangemessen gehaltene Anwendung. Vgl. meine Diskussion dazu in: The Price of Individuality (Anm. 7), S. 438443.
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chthonischen Paganismus und die Verurteilung des Katholizismus bei Claudel; 17 durch die Einführung von Bemerkungen in sein Buch, die er selbst anfangs gar nicht einsah; 18 und allgemein durch eine Bereitschaft, auf Gundolfs Rat in Literaturfragen zu horchen. Zuletzt waren solche Zugeständnisse dennoch ungenügend und vergeblich. Im Oktober 1916, mitten im Krieg, sprach George mit seinem Verleger Georg Bondi u. a. über die Möglichkeit, Curtius' Manuskript beim Bondi-Verlag zu veröffentlichen. Bondi selbst fand den Zeitpunkt begreiflicherweise ungünstig für ein Buch, das die Tugenden französischer Autoren lobt. George hätte den Verleger vielleicht überreden können, konnte sich aber nicht dazu durchringen, das Buch herzlich zu empfehlen. In seinem Brief an Gundolf vom 26.10.1916 tadelt er Curtius in vieler Hinsicht. Einen fehlenden Sinn für Rang, eine ungenügende Aufmerksamkeit für die dichterische Leistung im Werk selbst und eine übermässige Konzentration auf außerliterarische Diskurse über Dichtung wirft er Curtius vor, ebenso wie eine unerlaubte Mischung von Politischem und Geistigem. Andere wichtige Bemerkungen aber haben gerade mit dem Herbstgesang zu tun. Allgemein sagt er über das Manuskript: „es ist nichts zukunftshaftes darin alle hoffnungen sind retrospectiv... münden schliesslich in einem aufgewärmten catolicism". Über Romain Rolland im Besonderen: „Dahin in jene wagnerische romantische ausklingende weit gehört er freilich - nicht eine Welt der Zukunft! ..." Und über Peguy: „die ganze produktions-curve dictions-curve dieses P. [ist] durchaus ABSTEIGEND ABKLINGEND ENDmaessig ..." Solche Einsichten fuhren ihn zum Schluss, dass „des C. ... geist [...] UNSERM so entgegen wie nur möglich [ist]". 19
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Das Pathos für ein reines, vom Christentum losgelöstes Heidentum, das im George-Kreis geläufig ist, hat keinen festen Halt bei Curtius. Die Antike, wie Curtius sie liebt, ist eine römische, mit dem Christentum verschmolzene. Ein tur ihn sehr wichtiges Thema ist gerade diese Verschmelzung von Antike und Christentum. Dies wird einerseits in einem Brief aus Marburg an Gide vom 12. Juli [1921] deutlich (Vgl. Deutsch-französische Gespräche [Anm. 9], S. 30.) Anderseits wird es durch Curtius1 Entscheidung, sich für die Überlieferung der Antike durch das lateinische Mittelalter zu engagieren, bekräftigt. Daher stellt sich die Frage: Bedeutet diese Betonung des Heidnischen im Gespräch mit Gundolf bloß einen rhetorischen Versuch, sich Gundolfs Gunst zu sichern, oder trägt er sich zu dieser Zeit wirklich mit dem Gedanken, die Vorzüge des Heidentums zu sondieren? Diese Frage kann ich nicht eindeutig beantworten. Ζ. B. hatte Curtius den von Gundolf behaupteten Einfluss Richard Wagners anfangs völlig verneint: „R. Wagner Spuren kann ich nicht finden" (GundolfCurtius Briefwechsel (Anm. 5), S. 256). Trotzdem wird dieser Einfluss am Anfang des Claudel-Kapitels mindestens anerkannt, wenn nicht betont (Wegbereiter (Anm. 5), S. 115). Stefan George/Friedrich Gundolf Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München und Düsseldorf 1962, S. 286-287.
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Der Begriff „eingereiht" bedarf einer weiteren Erklärung. Die Rückgewandtheit ist kein Phänomen des bloßen Zuschauens. Der Grund, weshalb des Rückgewandten Blick so sehr an Vorstellungen des Gewesenen anhaftet, ist, dass solche Vorstellungen die Grundlage seiner Existenz ausmachen. Seine Gedanken werden also nach solchen überlieferten Vorstellungen „eingereiht". Curtius1 religiöse Tradition legt den Grundstein für seine moralische Verfassung, sogar fur seine Metaphysik. So gab sie ihm die Orientierung, die Gundolf bemerkt und um die er Curtius sogar „fast" beneidet hat.20 Eine Orientierung, die ihm selbst als assimiliertem, der eigenen Überlieferung entzogenen Juden fehlte. Während diese Tradition Curtius den Weg weist, schließt sie zugleich andere Lebensmöglichkeiten aus. Dieses Sich-Festklammern an überlieferten Vorstellungen hemmt Curtius' Aufgeschlossenheit dem Kairos gegenüber, der, Gundolf zufolge, eines der vier Gesetze Georges ist.21 Der Kairos, „ein Schicksals-Gott", ist der Augenblick, aber nicht bloß ein jeder, sondern der günstige Augenblick im vollen Sinn: wenn er kommt, gönnt er seinen Günstlingen Gunst. Aber da er nicht immer gegenwärtig ist, muss man auf ihn warten. Laut Gundolf verlangt der Kairos „volle Bereitschaft, rückhaltlose Lauterkeit, treueste Hingabe". 22 Man muss also ein offenes Ohr für den Ruf dieses Gottes haben, so wie die Bereitschaft, ihm zu gehorchen. Das Kommen des Kairos hat Hölderlin in einer vom Kreis geliebten und immer wieder zitierten Stelle seiner Pindar-Übersetzung so geschildert:
Aber wenn der Glanz, Der Gottgegebene, kommt Leuchtend Licht ist bei den Männern Und liebliches Leben.23 Auch George hat den Kairos besungen, nicht nur im gleichnamigen Gedicht," sondern auch beispielsweise im IX. Gedicht des Vorspiels zum Teppich des Lebens. In den letzten zwei Strophen werden das Kommen und die Wirkung des Kairos anschaulich gemacht:
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Gundolf/Curtius Briefwechsel (Anm. 5), S. 165-166. Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 41. Ebd., S. 42. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Michael Knaupp, Bd. 2, Darmstadt 1998, S. 234. SW VI/VII 166.
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Es sanken haupt und hand der müden werker Der Stoff ward ungefüge spröd und kalt.. Da - ohne wünsch und zeichen - bricht im kerker Ein streif wie schieres silber durch den spalt. Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern Es blinkt geläutert was dem staub gezollt.. Ein bräutliches beginnliches entschleiern.. Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt!25 Das offene Ohr, die volle Bereitschaft - die „ganze Hingabe", wie Curtius es selber im Briefwechsel formuliert 2 6 - konnte er selbst in Hinsicht seiner Bindungen an die Überlieferung nicht aufbringen. Im Kontext des George-Kreises hatte dies eine wichtige Konsequenz: Curtius konnte gegenüber dem formenden Wille Georges nicht völlig gefügig sein. So können wir auch verstehen, inwiefern der Ausdruck „halb" auf Curtius zutreffen konnte. Es ist deutlich genug, in welchem Sinne das Adjektiv „unschöpferisch" gemeint ist: Curtius war kein Dichter. Auch deutlich genug, inwieweit dies im George-Kreis ein Stein des Anstoßes sein könnte. M a n kennt Georges Einstellung der Wissenschaft gegenüber: sie galt als verstandesmässig; nur die Dichtung oder die Kunst galt als schöpferisch. Es ist bekannt, wie er sogar den Liebling Gundolf für sein forschendes Interesse an historischen Figuren gescholten hat. 2 7 Das Attribut „unschöpferisch" hängt im Kreis-Denken auch eng mit all denen zusammen, die bislang besprochen worden sind: Tradition, Rückgewandtheit, Eingereihtheit. Gundolf fasst diesen Zusammenhang glänzend und bündig zusammen: „Viele klammern sich nun lediglich an historische Formen unter denen der Ewige Mensch [ . . . ] früher oder zuletzt bekundet hatte: das sind die Romantiker oder Klassizisten, k o n s e r v a t i v e ' oder R e a k t i o n ä r e ' aller Schattierungen., die vielleicht achtbaren aber unfruchtbaren Grabwächter. Sie bestatten als Tote das Tote und beobachten den Buchstaben aus dem der Geist entwichen ist. Es sind die ,Eingereihten und die Rückgewandten', Krankenpfleger der sterbenden Weltgedanken, Leichenbitter der gestorbenen." 2 8 Wenn man so rückgewandt ist, kann man nicht fruchtbar sein. N u r wer f ü r den Kairos, den günstigen Augenblick, aufgeschlossen ist, nur f u r den gibt es auch die Möglichkeit, schöpferisch zu sein.
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SW V 20. Gundolf/Curtius Briefwechsel (Anm. 5), S. 144. Im Gedicht An Gundolf (SW VI/VII 165). Gundolf (Anm. 21), S. 28. Man kann sich fragen: hatte Gundolf Curtius im Sinn, als er diese Zeilen schrieb?
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Wie beim Herbstgesang erkennt Curtius diese fehlende Kreativität als Mangel an und hier wie dort versucht er, das zu kompensieren: in seinen Wegbereitern predigt er das Prinzip des Schöpferischen; er hält sich über neue literarische Trends und intellektuelle Initiativen auf dem Laufenden; er übt eine wichtige Vermittlertätigkeit durch die Einführung von Kenntnissen über die neue französische Literatur aus. Aber für George konnten solche Aktivitäten nicht ausreichen. Nichts konnte für ihn die Verschlossenheit dem Kairos und seinem eigenen formenden Einfluss gegenüber wettmachen. Nach der Auseinandersetzung über das Wegbereiter-Manuskript nimmt die Intensität der Kontakte mit dem George-Kreis langsam ab, obwohl Curtius sich mit George noch 1917, 1919, vermutlich sogar 1922 trifft 29 und noch im Januar 1930 einen Brief an Gundolf schickt.30 Diese intensive Erfahrung scheint eine lange Nachwirkung gehabt zu haben. Nicht dass Curtius etwa zum Sprachrohr des Kreises würde: die früher aufgetauchten Unterschiede bestehen durch alle Ähnlichkeiten hindurch fort. Curtius' Balzac, eine Monographie ähnlich denen von Gundolf in dem Versuch, eine geschichtliche Individualität ganzheitlich zu erfassen, weist deutliche Differenzen auf. Curtius geht vom Begriff der Energie aus, als er das Werk Balzacs zu erfassen sucht. Balzac ist sich von früh auf „übergewaltiger Kräfte" bewusst. 31 So ein Bewusstsein erinnert an das Schicksalsbewusstsein eines Goethe, eines Cäsar, eines Napoleon, wie Gundolf es in Dichter und Helden beschrieben hatte. Aber wo Gundolf das Schicksal großer Gestalten unter das Zeichen des Kairos stellt, weist Curtius eher auf einen Vitalismus hin, wie er ihn vor Jahren begeistert von Bergson übernommen hatte. Curtius thematisiert dabei das Schöpfertum, auch ein Lieblingsthema Gundolfs. 32 Aber wie immer ist Curtius' philosophische Basis vitalistisch, nicht kairetisch. Ferner: in Curtius' Erörterung der Geschichte der All-Einheitslehre verschiebt sich das Augenmerk vom ganzen
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Die Heidelberger Treffen von 1917 und 1919 so wie die früheren hat Curtius aufgezeichnet (Ernst Robert Curtius: Stefan George im Gespräch. In: Kritische Essays (Anm. 2), S. 100-116.) Als Beleg für den Besuch im Jahre 1922 sei hier die Zeittafel zitiert: „Aus einem Brief Glöckners an Bertram vom 6.10.1922 scheint hervorzugehen, dass E. R. Curtius, der den Winter in Marburg verbringt. StG besucht hat" (ZT 320-321.) Gundolf/Curtius Briefivechsel (Anm. 5), S. 284-285. „Das Bewusstsein übergewaltiger Kräfte, [...] das ist die erste Form, in der Balzac seiner schöpferischen Bestimmung inne wird" (Balzac (Anm. 5), S.63.) Das Thema des geistigen Schöpfertums durchkreuzt Curtius' ganzes Werk. Sogar in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, wo man eine größere Betonung der Nachahmung auf Kosten des Schöpfertums vermuten könnte, ist gerade eine solche Vermutung im 18. Kapitel Nachahmung und Schöpfung widerlegt und das Primat des Schöpfertums behauptet (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Anm. 5), S. 401-405).
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dichterischen Werk auf einen ,topos' des Denkens und dessen Überlieferung." In Curtius' Werk wird dieses Anliegen das andere in den 30er Jahren verdrängen und zur Hauptaufgabe seiner Forschung werden. Diese Arbeiten münden dann in das Werk, dem er seinen Weltruhm verdankt, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Vielleicht ist die Nachwirkung des Kreises in einem Werk aus dem ahnungsvollen Jahre 1932, der Streitschrift Deutscher Geist in Gefahr, noch leichter zu erkennen. Oben haben wir gesehen, wie Curtius die Rückgewandtheit als Problem anerkannt hat. Die These dieser Schrift läuft auf einen mittelalterlichen Humanismus hinaus. Was könnte 1932 rückgewandter wirken? Curtius begnügt sich aber nicht mit einem nur-rückgewandten Blick auf den Humanismus. Er versucht, einen Begriff des Humanismus zu entwickeln, der sich von der Antike loslösen kann, einen flexiblen, weniger zeitbedingten ,Humanismus der Liebe', der auch in der Gegenwart denkbar wäre. 34 Doch kann er nicht vom Humanismus im alten Sinn, vom Studium der antiken Autoren, lassen. Dies ist m. E. eine der rhetorischen Schwierigkeiten dieser Schrift. Die andere Eigenschaft, die Curtius unter den Georgeanern als Problem erkannt hat, das Unschöpferische seiner Natur: das sucht er wie damals abzugleichen. Durch die 20er Jahre hindurch hält Curtius sich in der Nähe schöpferischer Aktivität auf. Enthusiastisch nimmt er an den Begegnungen von Pontigny von 1922 und 1924 teil, einer wichtigen gesamteuropäischen kulturpolitischen Initiative, die, noch vor dem 1. Weltkrieg organisiert, nach Einstellung während der Kriegszeit erst 1922 wiederaufgenommen und bis 1939 fortgesetzt wurde. 35 Er spielt eine Helferrolle als Übersetzer wichtiger Schriftsteller der Moderne wie Eliot und Valery. 36 Seine Begeisterung für Neuheiten kannte aber Grenzen. Begeisterung für den Faschismus hatte dieser aristokratische Geist keine. 37 Selbst das Schöpferische musste sich zivilisiert benehmen.
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Balzac (Anm. 5), S. 36-44. Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart und Berlin 1932, S. 107. Vgl. Francois Chaubet, Paul Desjardins et les Decades de Pontigny, Sillery (Quebec) 2000. Curtius hat die eigenen Eindrücke bei diesen Begegnungen in einem Aufsatz bearbeitet, den er 1922 in Der neue Merkur zuerst veröffentlicht hatte (Ernst Robert Curtius: Pontigny. Wiederabgedruckt in: Französischer Geist im neuen Europa (Anm. 5), S. 327-344.) Er veröffentlicht Obersetzungen von Valery 1924-1925 (Walter Boehlich: Bibliographie Ernst Robert Curtius. In: Freundesgabe fur Ernst Robert Curtius, Bern 1956, S. 213-233, hier S. 233. Diese Bibliographie ist bekanntlich lückenhaft.) Von Eliot veröffentlicht er seine Übersetzung Das wüste Land 1927 (Kritische Essays (Anm. 2), S. 316, Anm. 5.) Den Versuch Michael Neriichs, Curtius als Nazi oder gar als Antisemiten (!) zu blamieren, halte ich für spitzfindig, unmäßig und völlig verfehlt. Seine Ausführungen scheinen mir eher von einem
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Jeffrey D. Todd
Die Begegnung mit dem George-Kreis hat viel fur Curtius als Wissenschaftler so wie als Menschen bedeutet. Und zwar viel mehr, als was ich hier begrifflich zu erfassen vermag. Aber aus dieser Untersuchung tritt deutlich hervor, dass Curtius durch den Kreis ein neues Bewusstsein der Gefahren seines ihm mitgegebenen Traditionalismus gewonnen hat. Trotzdem müssen wir folgern, dass der Kreis Curtius' geistigen Weg nicht wesentlich bestimmt hat. Denn das bewegende Prinzip seines Schaffens stammt nicht von dort. Es stammt auch nicht hauptsächlich von Curtius' Liebe zur Tradition, so groß sie auch ist. Nein, das allbewegende Prinzip seines Schaffens liegt in seinem europäischen Glauben, seinem Traum von einem vereinten Europa. Und auch dieses Prinzip, genau wie Curtius' Rückgewandtheit, war ein Stein des Anstoßes für George: es war der Grund von Curtius' Begeisterung für jene französischen Autoren, die George als höchstens drittrangig verurteilte, der Grund einer von George ebenfalls verpönten Verquickung von Politischem und Geistigem. Der ganze Duktus von Curtius' Schaffen läuft darauf hinaus, die Liebe zur Tradition einerseits, so wie das neu gewonnene Wissen über die Gefahren dieser Liebe anderseits, gerade diesem Europaglauben unterzuordnen. Der Einfluss des Kreises spielt also eine wichtige, aber eher untergeordnete Rolle in Curtius' Schaffen. Diese Stimme - um zur musikalischen Metapher zurückzukommen verklingt also nie gänzlich, obwohl sie eher der Harmonie als der Melodie zuzuordnen ist.
ideologischen Programm überdeterminiert als von einem nüchternen Blick auf den Sachverhalt motiviert. Eine Polemik ist zwischen ihm und Earl Jeffrey Richards entstanden, die auch den Namen Hans-Robert Jauss mit ins Spiel bringt (Vgl. Earl Jeffrey Richards: La conscience europeenne chez Curtius et chez ses detracteurs. In: Ernst Robert Curtius et l'idee d'Europe. Actes du Colloque de Mulhouse et Thann des 29, 30 et 31 janvier 1992, Paris 1995 (Travaux et recherches des universites rhenanes X), S. 257-286; Michael Neriich: Curtius trahi par les siens. Annotations aux actes d'un colloque sur „le grand europeen cosmopolite". In: Romanische Forschungen 109 (1997), S. 438-474).
Wolfgang Schuller
Altertumswissenschaftler im George-Kreis: Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg, Woldemar von Uxkull Der folgende Beitrag besteht aus elementaren und sehr nüchternen biographischen Angaben zusammen mit der bibliographischen Vorstellung der Texte, anschließend aus deren inhaltlicher Würdigung und schließlich aus einigen weiterfuhrenden Betrachtungen.
1.
Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband 1 wurde 1898 geboren und war von 1917 bis 1919 Soldat, danach erst legte er das Abitur ab. Er promovierte 1922 in Heidelberg, habilitierte sich 1925 in Halle für Alte Geschichte und folgte, nach einigen Lehrstuhlvertretungen, 1930 einem Ruf auf ein Ordinariat in Tübingen. 1939 starb er an den Folgen eines Autounfalls. Nach einem acht Seiten umfassenden Begleittext zu einer Photopublikation von archaischer griechischer Plastik von 1920 2 kam 1922 seine Dissertation über die Quellenlage bei der Kimon-Biographie des Plutarch. 1924 erschien eine Betrachtung über griechische Kultur-Entstehungslehren 3 und 1927 seine Habilitationsschrift über Plutarchs Biographien von Griechen des 5.
1
2 3
Alexander Graf Schenk von Stauffenberg: Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband. In: Jahresberichte über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft 284 (1943), S. 58-60; Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg 1962, S. 101, S. 149f., S. 181-183: Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, Düsseldorf und München 1967, Textband, S. 158f. S. 294f.; Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln, Weimar, Wien 1997 (Bochumer Schriften zur Bildungsforschung 3), S. 452. 475f.; Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945, Tübingen 1998 (Communicatio 17), S.413f., S. 492, S. 530f., S. 6351'. Archaische Plastik der Griechen, Berlin 1920. Griechische Kultur-Entstehungslehren, Berlin 1924.
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vorchristlichen Jahrhunderts, eine Erweiterung der Dissertation. 4 Erst 1933 folgte wieder die Druckfassung eines fachlichen Vortrages über das antike Bildungs- und Wissenschaftsideal, 5 dem sich ein Vortrag über Stefan Georges revolutionäres Ethos 6 anschloß. Den Schluß bildete 1934 der schon 1931 abgeschlossene Kommentar zu einem bedeutenden, auf Papyrus überlieferten verwaltungsgeschichtlichen Dokument aus dem kaiserzeitlichen Ägypten, dem Gnomon des Idios Logos. 7 Fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod wurde an entlegener Stelle ein Essay über die eleusinischen Mysterien veröffentlicht. 8 Der Produktivste der drei war Albrecht Graf von Blumenthal. 9 1889 geboren, war er während seines Studiums Rhodes Scholar in Oxford, promovierte 1913 in Halle und habilitierte sich nach flintjährigem Kriegsdienst 1922 in Jena für Klassische Philologie. Dort wurde er 1928 a. o. Professor, ab 1938 war er Ordinarius in Gießen. „Als die Alliierten 1945 sich der Stadt Gießen näherten, floh er nach Marburg; dort hat er mit seiner Frau den Tod gesucht." 10 Seine lateinisch geschriebene Doktorarbeit 11 behandelte den Chronographen und Geographen Hellanikos von Lesbos. Eine Betrachtung über das Heroische bei den Griechen folgte 1921, 12 1922 erschien eine Arbeit über die ArchilochosRezeption in der Antike, 13 1923 wurde sein Probevortrag über den oligarchischen athenischen Politiker und Sokratesschüler Kritias gedruckt, 14 1924 eine Interpretation der Tragödien des Aischylos. 15 Zahlreiche positivistische Artikel fur die Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft von 1927 bis 1952 schlossen
4 5 6 7 8 9
10 11 12 13 14 15
Plutarch und die griechische Biographie. Studien zu den plutarchischen Lebensbeschreibungen des V. Jahrhunderts, Stuttgart 1927. Das Bildungs- und Wissenschaftsideal im Altertum, Stuttgart 1933. Das revolutionäre Ethos bei Stefan George, Tübingen 1933. Der Gnomon des Idios Logos. Zweiter Teil 2: Der Kommentar, Berlin 1934 (Aegyptische Urkunden aus den Staatlichen Museen zu Berlin, Griechische Urkunden 5.2). Die eleusinischen Mysterien. Versuch einer Rekonstruktion. Hrsg. von Alexander von Bemus. Büdingen-Gettenbach 1957. Boehringer (Anm. 1), S. 180; Groppe (Anm. 1), S. 430; Kolk (Anm. 1), S. 410. S. 496, S. 638; siehe auch Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 254f. Boehringer (Anm. 1), S. 180. Hellanicea. De Atlantiade, Halle 1913. Griechische Vorbilder. Versuch einer Deutung des Heroischen im Schrifttume der Hellenen, Freiburg i. Br. 1921. Die Schätzung des Archilochos im Altertume, Stuttgart 1922. Der Tyrann Kritias als Dichter und Schriftsteller, Stuttgart u.a. 1923. - Die Habilitationsschrift über die Echtheit des platonischen Siebten Briefes blieb ungedruckt (Kolk (Anm. 1), S. 410). Aischylos, Stuttgart 1924.
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sich an, von denen hier nur der große Sophokles-Artikel herausgehoben sei. 16 Sprachwissenschaftliche Studien im Anschluß an den Lexikographen Hesychios erschienen 1930, 17 1931 die Edition von sieben in umbrischer Sprache geschriebenen Bronzetafeln, 18 1936 eine ohne Anmerkungen verfaßte Interpretation des Sophokles, 19 1938 an zentraler Stelle ein Forschungsbericht über Sophokles, 20 schließlich 1939 wiederum eine Edition, diesmal die Sammlung der Fragmente des vielseitigen Autors des 5. Jahrhunderts Ion von Chios. 21 Alexander Schenk Graf von Stauffenberg, 22 Bruder von Berthold und Claus, wurde 1905 geboren, promovierte 1928 in Halle und habilitierte sich 1931 in Würzburg. 1936 wurde er dort a. o. Professor, 1941 Ordinarius, 1942 bis 1945 in Straßburg; nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 kam er in mehrere Konzentrationslager. 1948 wurde er Ordinarius in München, dort starb er 1964. 1932 publizierte er seine umfangreiche kommentierte Edition einiger Bücher der spätantiken Chronik des Johannes Malalas, 23 1933 die deutlich knappere Habilitationsschrift über Hieron II 24 Kurz nach dem Krieg erschienen zwei Sammlungen von Vorträgen und Aufsätzen, nach seinem Tod eine beide zusammenfassende dritte, 25 die das gesamte Gebiet der Alten Geschichte betrafen. 1963 veröffentlichte er ein Buch über das frühe griechische Sizilien und Unteritalien, 26 das ihm besonders am Herzen lag.
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R E I I I A 1, 1927, Sp. 1040-1094. Hesych-Studien. Untersuchungen zur Vorgeschichte der griechischen Sprache nebst lexikographischen Beiträgen, Stuttgart 1930. Die iguvinischen Tafeln. Text Übersetzung Untersuchungen, Stuttgart 1931. Sophokles. Entstehung und Vollendung der griechischen Tragödie, Stuttgart 1936. Jahresberichte über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft 259 (1938), S. 67-139. Ion von Chios. Die Reste seiner Werke, Stuttgart und Berlin 1939. Boehringer (Anm. 1), S. 180; Kolk (Anm. 1), S. 530, S. 637; Karl Schefold: Die Dichtung als Führerin zur klassischen Kunst. Erinnerungen eines Archäologen, Hamburg 2003 (Lebenserinnerungen 58), S. 29-40. Die römische Kai sergeschichte bei Malalas. Griechischer Text der Bücher IX - XII und Untersuchungen, Stuttgart 1932. König Hieron der Zweite von Syrakus, Stuttgart 1933, wiederabgedruckt in Macht und Geist (s. nächste Anm.), S. 158-248. Dichtung und Staat in der antiken Welt, München o. J. (1947); Das Imperium und die Völkerwanderung, München o.J. (1948); Macht und Geist. Vorträge und Abhandlungen zur Alten Geschichte. Hrsg. von Siegfried Lauffer, München 1972. Trinakria. Sizilien und Großgriechenland in archaischer und frühklassischer Zeit, München und Wien 1963.
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II. Die jetzt folgende Durchmusterung der Publikationen geschieht so, daß nach dem Prinzip unterschieden wird, ob sich die jeweiligen Arbeiten an ein wissenschaftliches Publikum oder an die Öffentlichkeit wenden. Diese Unterscheidung nimmt in gewisser Weise schon das Ergebnis vorweg, nämlich die Tatsache, daß zwischen beiden ein gewichtiger Unterschied besteht. Im übrigen muß bei dieser kurzen Übersicht über das Gesamtwerk von immerhin drei Gelehrten einerseits sehr stichwortartig verfahren werden. Auf der anderen Seite lege ich großes Gewicht darauf, wie - gegebenenfalls - die jeweilige Arbeit von der wissenschaftlichen 27 Kritik aufgenommen wurde, weil dadurch oft in Rede und manchmal Gegenrede in plastischer Weise Charakteristika besser hervorgehoben wurden, als wenn ich es hier allzu summarisch versuchte. 1. Woldemar von Uxkulls innerwissenschaftliche Publikationen setzen ein mit der Dissertation, die dann durch die Habilitationsschrift erweitert wurde. Beide traktierten die eher technische Frage nach den Quellen Plutarchs für einige Lebensbeschreibungen von Griechen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Obwohl hier Gelegenheit gewesen wäre, in sozusagen „tieferer Schau" auf Heroisches Bezug zu nehmen, sind sie mit Ausnahme von gelegentlichen scharfen Formulierungen anderen Gelehrten gegenüber in nüchternem Ton gehalten. Beide fanden ein verhältnismäßig geringes und zwiespältiges Echo 28 und haben keine besondere Wirkung entfaltet. Dasselbe ist von der kleinen (48 Seiten) Schrift über die Kulturentstehungslehren zu sagen, die mit Hesiod einsetzt und mit der Stoa endet. Ihre These ist die, daß die Griechen bei dieser Frage ein fruchtbares Gleichgewicht zwischen Ratio und Mythos gefunden hätten, das in der Stoa seine Vollendung gefunden und über die Stoa in das Christentum Eingang gefunden habe. Am folgenreichsten war sein Kommentar zum Gnomon des Idios Logos. Die Großen des Faches - Paul Collart, Orsolina Montevecchi, Friedrich Oertel, Ciaire Preaux, Michael Rostovtzeff - äußerten sich äußerst positiv, 29 und noch heute wird er als grundlegendes Werk genannt. 30
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Wie die Bücher außerwissenschaftlich gewirkt haben, konnte ich nicht untersuchen, das wäre die Aufgabe eines größeren Forschungsvorhabens. Immerhin sind die meisten Bücher nicht unter dem Zeichen der Blätter erschienen, sondern bei Kohlhammer in Stuttgart, einem vorwiegend wissenschaftlichen Verlag. Von unverbindlichen Besprechungen abgesehen tadelte sie Felix Jacoby, ein ausgewiesener Kenner, scharf: „merkwürdige Vereinfachung", „beneidenswert unkompliziert", „zu schwer für Anfanger" — in: Historische Zeitschrift 139(1929), S. 186-187. F. Oertel, in: Historische Zeitschrift 152 (1935), S. 325-328; O. Montevecchi, in: Aegyptus 15 (1935), S. 426-428; P. Collart, m: Revue des Etudes Grecques 48 (1935), S. 591-592; M.
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Die schon 1920 publizierte Vorrede zum schmalen Band über die archaische griechische Plastik in der von Paul Westheim herausgegebenen Reihe Orbis pictus ist in rauschhafter Sprache 31 geschrieben. Sie beginnt so: Die archaische Kunst der Griechen und besonders die Plastik bedeutet den gewaltigsten Wendepunkt im Kunstschaffen überhaupt. Einer Rakete gleich ging das Leuchtsignal eines europäisch-okzidentalen Willens auf, jene alte Form der Kunst, steril und erstarrt, mit dem neuen Leben zu durchglühen: das Vorbild von Fühlen und Denken, Herz und Geist fur den westlichen Menschen wurde.32 Der Text endet mit Worten, die den Ephebenkopf risieren sollen:
der letzten Abbildung 33 charakte-
Dieser gebändigten Leidenschaft - Maßstab und Vorbild aller echten Jugend! - kommen nur Worte des Dichters nah: Und ich frage: wie hat dieser haare zier Und dieses blickes die früheren wesen umzingelt! Wie dieser mund hier geküsst zu dem die begier Sinnlos hinan als rauch ohne flamme sich ringelt!34 Nach Ernst Morwitz handelt es sich bei dem von Uxkull nicht nachgewiesenen Gedicht Georges, aus dem das Zitat stammt - zutreffenderweise - nicht um einen Epheben, sondern um eine „Frau, die eine griechische Vase in ihren Händen dreht". 35 Gleichwohl ist die umdeutende Verwendung der Strophe wie bei jeder großen Dichtung natürlich legitim. Der Vortrag über das Bildungs- und Wissenschaftsideal im Altertum, ebenso voller Pathos, sah als Folgerung aus den antiken Vorstellungen für die Gegenwart, „daß die Vorbedingung zur Einheit menschlicher Lebensform im Staate ruht" und daß es für den Staat eines neuen Zieles bedürfe; freilich führe „ein neuer Humanis-
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Rostovtzeff, in: Gnomon 11 (1935), S. 522-528; Cl. Preaux, in: Chronique d'Egypte 11 (1936). S. 188-192; zurückhaltender Mario San Nicolo, in: Orientalistische Literaturzeitung (1935), S. 669671. Walter Ameling, in: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 892-893. Ein Jugendlich-kühnes Vorwort" heißt es bei Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, Düsseldorf 1954, S. 277. Uxkull (Anm. 2), S.6. Siehe Maria S. Brouskari: Musee de l'Acropole. Catalogue descriptif, Athen 1974, Nr. 234. SW V 58. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf und München 1969, S. 195.
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mus, der sein müdes Haupt erhebt, keine neue Welt herauf' 3 6 Welch neues Ziel aber gemeint sei, wird durch ein - ebenfalls nicht nachgewiesenes - George-Zitat angedeutet: 37 Erst wenn nach den tastenden Versuchen das NEUE REICH ersteht, wird auch die deutsche Bildung möglich sein. Dann gelten die Worte des Künders der deutschen Zukunft: Erzieher Die alte bahn führt nicht zum ziel. Versuchen wir! Eins, zwei schlug fehl! Nun laßt uns noch ein Drittes sehn! 'Du darfst nur tun wenn du im tiefsten glaubst du weißt.. In deinem amte ist versuchen freveltat.'38 Nach Ernst Morwitz richtet sich das Gedicht „gegen die zur Zeit des Erscheinens des ,Neuen Reichs' in Deutschland versuchten neuen Erziehungsmethoden, besonders gegen die freiheitliche Landschulheimerziehung". 39 Da es „vor Oktober 1914" entstanden ist, 40 erlaubt es jedenfalls nicht die unmittelbare Deutung, die Uxkull insinuiert: Der Vortrag wurde im Wintersemester 1932/1933 gehalten, und selbstverständlich mußte im Wege der impliziten Umdeutung des Sinnes des Gedichtes ebenfalls legitim - unter dem „Dritten" das heraufkommende „Dritte Reich" verstanden werden, an das man „im Tiefsten glauben" müsse. Wenn ich das sage, ist damit nichts Denunziatorisches gemeint, weder in bezug auf Uxkull, geschweige denn in bezug auf George. Es zeigt nur eine der Stimmungslagen an, die in dieser Umbruchszeit herrschten und es zeigt, was immerhin aus George geschlossen werden konnte. 41
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Uxkull (Anm. 5), S. 27. Ebd., S. 28. S W I X 87. Morwitz (Anm. 35), S. 468. Ute Oelmann, SW IX 168. Insofern unterscheide ich mich von der sonst zu billigenden Fragestellung Robert Nortons, der am Schluß seines Vorworts Aufklärung darüber anstrebt, „how sensitive, intelligent, and deeply cultivated people, how humane lovers of poetry and beauty" einer Ideologie hätten anhängen können, „that held death at its core" (S. XVII) - da damit eine direkte Linie zu den Untaten gezogen ist, deretwegen Claus von Stauffenberg seine Tat getan hat, ist die Frage schief gestellt. Zu Georges Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus siehe unten Anm. 43
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Das gilt dann erst recht für die letzte Publikation Uxkulls, den Vortrag an Georges Geburtstag am 12. Juli 1933, über Georges revolutionäres Ethos. 42 Mit dem Altertum hatte der Vortrag nichts zu tun, er war aber „vor der Studentenschaft der Universität Tübingen" gehalten, so daß er hier Erwähnung finden kann und auch muß. Mit dem ,,revolutionäre[n] Ethos" Georges war „der unbarmherzig harte Wille zum Sturz" (S. 13) alles dessen gemeint, was das 19. Jahrhundert in Gestalt des „Rationalismus", der „Zersetzung der großen menschlichen Werte" und der „Entgötterung der Welt" (S. 5) als „ungeheures Verbrechen" (S. 4) begangen hatte. Was an die Stelle des Gestürzten zu treten habe, blieb im Vagen. 43 Zwar wurde das Maximin-Erlebnis herangezogen als etwas, wodurch Menschliches wieder Göttliches werden könne (S. 16 f), aber im übrigen lieferte Uxkull Stichworte wie die folgenden: 44 „heroischer Mensch" (S. 5), „Gefolgschaft als höchster Ausdruck des Gemeinschaftswillens", „heroische Weltauffassung", „die überragende Person als Führer" (S. 6), „neue deutsche Erweckung" (S. 7), „neues germanisches Reich", „heroisch-mythische Lebenshaltung" (S. 9) „schönes und heldisches Leben" (S. 14), erwähnte, Gerardy zitierend, „die große Gefahr des jüdischen Einflusses in der deutschen Presse" (S. 7), sprach von vier Großereignissen, durch die „die Germanen bewußt in die Geschichte eingetreten sind" und davon, es werde „keinem mehr verborgen sein, daß sich der fünfte Stoß vorbereitet, um wieder herbeizuführen, daß 'des erdteils herz die weit erretten soll',, (S. 8), daß die „Urkräfte" des „zerfallenen Volkstums" wieder aufgefunden und in einem „großen indogermanischen Raum" verwirklicht werden sollten, in dem „Nordisches und Mediterranes zur Einheit verbunden" sein sollen (S. 22), obwohl der Weg zur „Erfüllung des Neuen Reiches" noch weit sei (S. 23). Bedenkt man auch hier den zeitlichen und allgemeinpolitischen Kontext, dann ist klar, was damit und durch ausgiebiges Zitieren von Gedichten Georges gemeint war - daß aber auch ganz andere Konsequenzen gezogen werden konnten, wird zum Schluß Alexander von Stauffenberg zeigen.
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Den Text über die eleusinischen Mysterien lasse ich beiseite, weil dessen Herkunft nicht mitgeteilt wird und er eher - trotz des schwärmerischen Vorworts von Alexander von Bernus mit einer falschen biographischen Angabe über Uxkull - aus einem, ohne Nachweise geführten, positivistischen Rekonstruktionsversuch besteht. Insofern Uxkull also den Sturz des Bestehenden in den Vordergrund stellt, trifft er sich mit Michael Landmanns Überlegungen zu Georges Haltung zum Nationalsozialismus: Erinnerungen an Stefan George. Seme Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam 1980, S.44-55; siehe auch Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 209. Im Text in unterschiedlichen Casus.
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2. Albrecht von Blumenthals Dissertation ist - auch wegen der lateinischen Sprache und wegen ihrer Kürze (45 Seiten) - das Musterbeispiel einer philologischhandwerklichen Arbeit, von der man sich wünschte, es gäbe heute noch ihresgleichen. Die ebenfalls nicht sehr umfangreiche (60 Seiten) Untersuchung über die Rezeption des Archilochos in der Antike ist eine gewissenhafte Zusammenstellung und Gewichtung der einschlägigen Zeugnisse mit dem Ergebnis, daß Archilochos zwar angefeindet worden war, daß das aber ein Zeichen dafür gewesen sei, daß er als genialer Neuerer angesehen wurde. Wieder ganz sprachwissenschaftliche Kärrnerarbeit sind die Studien zum hellenistischen Lexikographen Hesychios, die bis heute zum Kernbestand von dessen Erforschung gehören, 45 und denselben Charakter trägt seine linguistische Arbeit über die Tabulae Iguvinae.46 Schließlich ist bis auf den heutigen Tag maßgeblich Blumenthals Sammlung und Erläuterung der Fragmente des Ion von Chios, und zwar nicht nur als bibliographische Notiz, sondern durchaus bis ins Inhaltliche gehend.47 Ganz anders geartet sind die ohne wissenschaftlichen Apparat veröffentlichten Arbeiten, die sich an die Öffentlichkeit wandten: Griechische Vorbilder, Aischylos, Sophokles; dazu ist noch die ebenfalls ohne Nachweise veröffentlichte Probevorlesung über Kritias zu rechnen. Die Griechischen Vorbilder wollen das Heroische in der griechischen Literatur vor Augen führen, wobei ,heroisch' in sehr weitem Sinn aufgefaßt wird. Es ist zunächst kriegerischer Impetus und staatsbildende Kraft. Beides war in Griechenland weniger ausgeprägt als in Rom, zeigt sich aber weiterhin im agonalen Geist der Griechen und schließlich überhaupt in einer „ungeteilten Einheit und Rundung" 48 ; nur so war es möglich, etwa auch Sappho einzubeziehen. Obwohl Blumenthal bis Alexander den Großen gehen will, in dem sich „noch einmal der kriegerische Geist der Griechen zu unglaublicher Wucht zusammengepreßt" hat,49 behandelt er doch nur die griechische Literatur und Philosophie einschließlich Homers bis zum Ende der archaischen Zeit. Er schließt mit einem abgewandelten und verdeckten George-Zitat, indem er sagt, daß in den Griechen „ein ganzes Volkstum" von dem „großen Willen" „zur Verleiblichung des Gottes und Vergöttlichung des Menschen" getragen gewesen sei.50
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Renzo Tosi, in: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 514-515. Jürgen Untermann: Wörterbuch des Oskisch-Umbrischen, Heidelberg 2000, S. 22. Bernhard Zimmermann. In: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 1075-1076. Blumenthal (Anm. 12), S. 2. Ebd. Ebd. S. 205 - vgl. „Den leib vergottet und den gott verleibt": SW VI/Vn 53.
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Das Erscheinen der Griechischen Vorbilder - die „in ihrer Haltung George und den damals Jüngsten entsprachen und wohlgefielen" 51 - löste bei jeweils ähnlicher Grundeinschätzung wissenschaftlich ein verschiedenes Echo aus. Erich Bethe bemängelte „gesuchte Sprache, maniriertefn] Stil", nennt das Buch einen „pompös drapierten Abriß veralteter Literaturgeschichte" und den Verfasser einen „hoheitsvoll daherrauschenden Propheten" und fragt: „Das soll wohl Stefan-George-Stil sein?" 52 Alfred Körte 53 dagegen hält in einer väterlich-wohlwollenden Besprechung das Buch durchaus für ein wissenschaftliches Werk und ist „dankbar" für die „starke wissenschaftliche Anregung". 54 Er würdigt positiv die „begreifliche und in vieler Hinsicht sogar erfreuliche Reaktion gegen die kaltschnäuzige überlegene Kritik, mit welcher der nüchterne Scharfsinn mancher moderner Philologen die Werke der Alten zu zerzausen liebt". 55 Er würdigt positiv die Tatsache, daß Blumenthal „die Ehrfurcht vor dem schaffenden Genius predigt" 56 und wünscht dem Buch „viele Leser aus philologischen und nichtphilologischen Kreisen", denn es sei „ein innerlich durchlebtes Buch, das von hoher Begabung und glühender Liebe zum Altertum zeugt". 57 Freilich sieht er durchaus „Irrwege", bemängelt die Undankbarkeit, mit der Blumenthal die Lehrer behandelt, die ihm das philologische Handwerkszeug vermittelt hatten, tadelt insbesondere manche zum Teil „nahezu unverständliche" Übersetzungen, lobt gleichwohl Blumenthals „glänzende Sprachgewalt" und hofft zum Schluß - noch einmal: väterlich - es gelinge ihm, sich in seiner weiteren Entwicklung „von gewissen ästhetischen Manieren freizumachen. Ich bin überzeugt, daß er diese Mahnung vorläufig mit einem Lächeln der Verachtung ablehnen wird." 58 Eine Variation dessen, was Albrecht von Blumenthal unter Heroischem verstanden hat, hat er in Kritias gesehen, den Intellektuellen aus dem Umkreis des Sokrates, der als besonders grausames Mitglied der 30 Tyrannen im Anschluß an den Peloponnesischen Krieg endete. In der Probevorlesung für seine Habilitation spricht er vom „betörenden Zauber zweier bedeutender Menschen, des Alkibiades
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Salin (Anm. 31), S. 253; siehe auch Schefold (Anm. 22), S.24. Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum 47 (1921), S. 402-403. Philologische Wochenschrift 30 (1921), Sp. 701-710. Sp. 701. Sp. 702. Sp. 703. Sp. 709. Sp. 709f.
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und des Kritias" und nennt Kritias nach der Durchmusterung der hinterlassenen Fragmente seiner Schriften zum Schluß einen „bedeutenden, in schlimmer Zeit notwendig das Falsche wählenden, wenn auch das Hohe wollenden und darum fast heroischen Mann." 39 Die Bücher über Aischylos und Sophokles, in einem Abstand von zwölf Jahren veröffentlicht, fanden neben nichtssagend-referierenden Besprechungen wieder jeweils eine aufgebracht-gegnerische. Karl Rupprecht erkannte zwar das „heiße Bestreben" an, „einen Dichter in seiner Totalität zu verstehen" 60 , bemängelte aber Blumenthals „Deutungen und Phantasien", die „feierliche Sprache", „Phrasen", „Absonderlichkeiten", „tönendste Worte", „priesterhaften Hochmut", „Ungeschmack des Stils", „Wortnebel", „verwegenes Phantasieren" 61 und insistierte darauf, daß man sehr viel mehr und womöglich sogar Gegensätzliches ganz einfach „ w i s s e n" (gesperrt im Text) könne. Konrat Ziegler verwies in seiner Besprechung des Sophokles-Buches 62 ausdrücklich auf die eben skizzierte Besprechung Rupprechts 63 und fugte seinerseits folgende Charakterisierungen hinzu: „schablonenhafte Simplifizierung", „großartige Redensarten und sibyllinische Sprüche", „verwirkt den Anspruch, wissenschaftlich ernst genommen zu werden", „reichlich sprudelnde Divination", „zurechtgebosselter Einfall", „Unsinn", „mystischer Wortnebel", „nichts scheint der Verf. so zu scheuen wie klaren, unmißverständlichen Ausdruck seiner Meinungen und seiner Stellung zu den Dingen", „gesuchte, gespreizte, affektierte Sprache", „Versündigung an Sophokles"; 64 allerdings nennt er Blumenthal einen „feingebildeten und lebendigen, aber leider nicht genügend disziplinierten Geist". 65 Das waren nicht nur erregte Schimpfkanonaden; sie charakterisierten vielmehr ex negativo die beiden Bücher zutreffend, wenn man dieselben Sachverhalte positiv ausdrückt. Sie erinnern nämlich durchaus an ähnliche Kritik an Stefan George selber, zumal da George und der George-Kreis jeweils in einer Anspielung erwähnt werden. 66 In bezug auf das Aischylos-Buch ist bei aller Empörung das übersehen worden, was in unserem Zusammenhang von Belang ist, nämlich die herausragende
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64 65 66
S. 5, S. 32. Philologische Wochenschrift 38/39 (1925), Sp. 1057-1066 (hier Sp. 1066). Sp. 1058, Sp. 1059, Sp. 1060, Sp. 1063, Sp. 1064, Sp. 1065. Philologische Wochenschrift 57 (1937), Sp. 1281-1302. Sp. 1281; sie habe zu Recht gegeißelt, daß Blumenthal Aischylos „zum Tummelplatz für gewagte und höchst subjektive ästhetisch-geschichtsphilosophische Spekulationen und Phantasien" gemacht habe. Sp. 1283, Sp. 1286, Sp. 1287, Sp. 1292, Sp. 1294, Sp. 1299, Sp. 1301. Sp. 1284. Rupprecht, Sp. 1062; Ziegler, Sp. 1287.
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Rolle, die bei Blumenthals Deutung dem Heroischen zukommt. 67 Zieglers Besprechung des Sophokles-Buches - auch soweit sie eine möglicherweise zutreffende Überbetonung des nietzscheschen Gegensatzes Dionysisch : Apollinisch bei Blumenthal behauptete - verfehlte insofern die Sache, als die Tatsache nicht zur Sprache kam, daß Blumenthal seit vielen Jahren sich nicht nur als durchaus handwerklich sauberer Philologe erwiesen, sondern mit seinem neun Jahre vorher erschienenen RE-Artikel 68 den Beweis geliefert hatte, daß gerade er einer der besten Kenner des Sophokles war. Da also Unkenntnis in der Sache nun gewiß nicht behauptet werden konnte, hätte die Tatsache mehr im Vordergrund stehen müssen, daß das Sophokles-Buch eine Deutung war, die als solche legitim sein muß - freilich eine Deutung aus dem Geist Stefan Georges. 3. Alexander von Stauffenbergs wissenschaftliches Werk beginnt mit einer gewaltigen Doktorarbeit, die wichtige Abschnitte der frühbyzantinischen Chronik des Johannes Malalas edierte und kommentierte; der für damalige Verhältnisse ganz ungewöhnliche Umfang - 526 Seiten - lag nicht an einer etwaigen Geschwätzigkeit des Verfassers, sondern an den Ausmaßen des zugrundeliegenden Textes. Diese Arbeit ist eine unübertroffene Leistung philologischer Akribie und historischen Verständnisses, die bis heute ein Standardwerk geblieben ist und als solches zitiert wird. 69 Die sehr viel konzentriertere Habilitationsschrift über König Hieron ff. von Syrakus (100 Seiten) ist zwar durch Helmut Berves Arbeit über denselben hellenistischen Herrscher 70 ersetzt worden, ist aber in ihren sachlichen Aussagen nach wie vor so wertvoll, daß auch sie nicht nur von Berve selber oft herangezogen wurde, sondern auch im neuesten altertumswissenschaftlichen Nachschlagewerk neben Berves Buch aufgeführt wird. 71 Die dann folgenden essayartigen Untersuchungen scheinen sich ihrer oft die Germanen betreffenden Thematik wegen mit den Andeutungen zu berühren, die Uxkull in seiner Ansprache über Georges revolutionäres Ethos gemacht hatte, zumal da Stauffenberg - auch in den anderen Texten - seine Gedanken zumeist um große, j a heroische Menschen kreisen ließ. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß ihr Tenor meist ein ganz anderer ist. Zwar gibt es gelegentlich Formulierungen wie die, daß Theoderichs d. Gr. „germanisches Kriegsvolk eine in sich
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Passim. S. Anm. 16. Albrecht Berger. In: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 1063-1064. Helmut Berve: König Hieron II, München 1959. Klaus Meister. In: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 544-545.
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geschlossene, blutmäßig unantastbare Einheit" geblieben sei. 72 Die Abhandlungen über den Reichsgedanken Konstantins d. Gr., über die Germanen im römischen Reich sowie über Theoderich den Großen und seine römische Sendung 73 betonen aber nicht etwas irgendwie Blutmäßiges, sondern im Gegenteil den Beitrag der Germanen zum römischen Reichs- und Staatsgedanken. Die Germanen werden charakterisiert als das Volk, „das sich trotz aller Rückschläge und Verfallsepochen - trotz aller Selbstbesinnung - über die Jahrtausende hinweg den übernationalen, den wahrhaft europäischen Blick bewahrt hat." 74 Diese Sichtweise wird noch dadurch hervorgehoben, daß Stauffenberg in der ersten Nachkriegsfassung folgendes ,Nachwort' anschloß: Die schon früher veröffentlichten Stücke wurden unverändert wiedergegeben. Auf den Abschnitt, der sich mit den damals gängigen Rassentheorien auseinandersetzt, wurde verzichtet, da die ursprüngliche Fassung, die in ihrer beißenden Ironie von den Herausgebern begreiflicherweise nicht angenommen werden konnte, nicht wiederherzustellen
Im Frühjahr 1944 hielt er einen Vortrag in Athen, dessen Eingangsworte von großem persönlichen Mut zeugen: Wenn den Geist in den undeutbaren Schrecken einer Gegenwart das Schaudern ankommt vor dem lichtlosen Dunkel, in das die Zukunft gehüllt ist, dann fühlt er sich bewogen, zurückblätternd in dem Buch der Geschichte nach einem festen Punkt zu suchen, um den er sich bewegen könnte. Denn er will sich wieder aufrichten an einem großen Geschehen, in dem sich Sinn erfüllt hat.76 Daß großes Geschehen und große Menschen etwas anderes sind als deren Travestie, gegen die sich der 20. Juli 1944 aufgelehnt hatte, das wird in einem Satz aus dem Alexander-Aufsatz von 1953 deutlich, mit dem er gegen allzu triviales Leugnen der historischen Größe überhaupt Stellung nimmt: Wer Hitler so sehr in sich hat, daß er den jungen Schrecken verbreitenden Alexander um seinetwillen verurteilt und verwirft, der tritt aus der Geschichte heraus und verletzt
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Theoderich der Große und Chlodwig, in: Macht und Geist (Anm. 25), S.423 (Erstveröffentlichung 1940). Macht und Geist (Anm. 25), S.280-431. Ebd.. S. 405. Das Imperium und die Völkerwanderung (Anm. 25), S.238. Macht und Geist (Anm. 25), S. 41.
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die dem Historiker gebührende Blick und urteilt nicht von der Niedrigkeit einer Ebene her, auf tigsten Menschentypus umgeben
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Distanz, er verkennt mit einem gegenwartsgetrübten höchsten Kraft der Gegenwart aus, sondern von der der sich eine fragwürdige Potenz mit dem minderwerhat.77
Stauffenbergs Tragik war, daß er in seinem letzten großen Buch über die archaische und frühklassische Geschichte Siziliens und Großgriechenlands versuchte, handfest-positivistische Forschung mit hochgestimmter Schau zu verbinden. Es war entstanden aus „vieljährigen, immer wieder aufgenommenen Bemühungen", 78 Pindars Olympische Oden /-/// und die Pythischen Oden I-III und VI ins Deutsche zu übertragen. [A]Is Geschichtsquelle ersten Ranges gibt Pindars werkhafte Bezeugung auch dem heutigen Historiker die Sicherheit der Wahrnehmung, um welche Kräfte und um welche Größen es sich in diesen Bezirken handelte, in denen sich das Jugendalter der Griechen auf eine nicht minder und vielleicht greifbarere Weise dargelebt und ausgewirkt hat als in seinen übrigen Erscheinungsformen.79 Die sizilischen Tyrannen haben ein Zwiegespräch zwischen Dichtung und staatlichem Tätertum heraufbeschworen, so reich und vielfältig, so dunkeltonig und erregend, wie es wohl nie mehr im Laufe der Jahrtausende zustande kam. So gilt es denn zuletzt dem düster-großen Herrentum der Täter, die frevelnd eine neue Ordnung begründen und das Griechentum des Westens aus einer tödlich umschlingenden Gefahr befreien, und dem sie feiernden aufrauschenden Gesang, der ihren Rang bestätigt, in diesem Buch zu lauschen.80 Das Ergriffensein von Pindar überwog - wie man hieraus vielleicht schon erahnen kann - deutlich die empirische Forschung und wirkte sich zu deren Schaden aus. Das ist am deutlichsten zu sehen in der taktvoll-beklommenen Rezension Victor Ehrenbergs: 81 Es ist fast so sehr das Buch eines Dichters wie eines Historikers [...] [Es] gelangt zu unmöglichen historischen Schlüssen [...] Das Buch ist mit großer Begeisterung ge-
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Ebd., S.148. Trinakria (Anm. 13), S.7. Ebd. Ebd., S. 16. Historische Zeitschrift 200 (1965), S.370-373
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Wolfgang Schuller
schrieben,82 und auch der kritische Leser wird finden, daß er darauf nicht nur mit Kritik reagieren kann. Dennoch wird der Historiker, der seinen Beruf ernst nimmt, eine im einzelnen wie im ganzen kritische Haltung kaum vermeiden können. Alexander von Stauffenbergs hochgestecktes Ziel, Empirie und überpositivistischkünstlerische Sichtweise miteinander zu vereinen, war gescheitert; gleichwohl ist dieses Ziel selber etwas, was die Aufgabe eines jeden Geschichtsschreibers sein sollte.
III.
Nicht umsonst sprach und schrieb man von der Revolution in der Wissenschaft, die vom George-Kreis ausging, weil tatsächlich die Jünger der Gefolgschaft überragende Leistungen an geistiger Weite vollbringen konnten. So verschieden der behandelte Gegenstand sein mochte, sie verrieten alle die Geburt aus dem Geiste Georges und hatten somit die Lebenseinheit wiederhergestellt. Nur weil diese Jünger den großen herrscherlichen Menschen gesehen und erlebt hatten und an den fuhrenden Genius glaubten, hatte sich die Werthierarchie und die Rangordnung fur das politische und kulturelle Geschehen neu bilden können. Selbstredend ist nicht die tote Wahrheit für sie das erforschbare Ziel gewesen, sondern leidenschaftliche Liebe in der Erfassung und Darstellung des gewählten Gegenstandes, dessen Wert die Gemeinschaft anerkannt hatte. Diese Worte Woldemar von Uxkulls in seinem Vortrag über Georges revolutionäres Ethos,83 denen sich noch der Hinweis auf die durch George erneuerte Sprache anschließt, leisten zweierlei: Zum einen formulieren sie so knapp, daß weitere Explikationen sich an dieser Stelle erübrigen, eine Antwort auf die Leitfrage des Symposions, zum zweiten geben sie Stichworte dazu, was jeweils, ebenfalls nach der Fragestellung des Symposions, als „Welt des Dichters" und Wissenschaft als Beruf zu verstehen sei. Wissenschaft als Beruf wäre danach „tote Wahrheit", „Welt des Dichters" die zentrale Rolle des „großen herrscherlichen Menschen" und des „führenden Genius", zwischen beiden hätte sich die „Lebenseinheit wiederhergestellt" und so seien „alle" wissenschaftlichen Werke des Kreises von diesem Geist geprägt gewesen. Wenn wir fur „tote Wahrheit" die Begriffe wählen, die im vorstehenden etwa Positivismus, Empirie, Innerwissenschaftlichkeit oder gar Handwerk-
82 83
„This is an enthusiast's history of the Western Greeks": John Boardman, in: The Classical Review 15 (1965), S.218 - nach englischem wissenschaftlichen Sprachgebrauch ein abschätziges Urteil. S. lOf.
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liches hießen, fiir „herrscherlicher Mensch" und „Genius" das heroische Lebensgefuhl, das für sämtliche hier vorgestellte Arbeiten zentral ist, dann sind wir in der Lage zu prüfen, ob sich in den besprochenen Arbeiten der drei Gelehrten wirklich etwas herausgebildet hat, was man eine dem Leben dienende Synthese nennen könnte. Bei Woldemar von Uxkull selber ist nichts davon zu bemerken. Die Habilitation (mit der Doktorarbeit) und vor allem der Kommentar zum Idios Logos sind Musterbeispiele sich selbst genügenden positivistischen Forschens, das in nichts über sich hinausweist, und die wenigen kurzen Arbeiten sind meist schwungvolle Texte mit wenig oder gar keiner Basis in empirischer Forschung. Vielleicht ist es eine ähnliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewesen, die Alexander von Stauffenberg und Ludwig Thormaehlen zu ungewöhnlich schroffen Urteilen über seine Person veranlaßt haben. 84 Wenn auf der anderen Seite Ernst Kantorowicz gerade ihm sein Friedrich-Buch widmete, dürften damit größere Hoffnungen verbunden gewesen sein. Am positivsten ist der Befund bei Albrecht von Blumenthal. Es ist sehr eindrucksvoll zu sehen, wie er selber streng zwischen innerwissenschaftlich verantwortbaren Leistungen und den Arbeiten unterschied, mit denen er, von fester Sachkenntnis ausgehend, versuchte, im Geist Georges auf das Bewußtsein der Gegenwart zu wirken. Gelungen ist es ihm auf die Dauer nicht. Die Frage nach den Gründen kann auf sich beruhen: jedenfalls sind diese Arbeiten wirkungslos geblieben. Die Sachlage bei Alexander von Stauffenberg ist etwas anders. Auch hier ist das Positivistische dauerhaft wirksam geworden, während die anderen Arbeiten nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse sind. Anders als Blumenthal hatte er aber versucht, in einem einzigen Werk empirische Forschung zu treiben und gleichzeitig die Glorie der von ihm vorgeführten Zeit und ihrer Heroen wieder lebendig zu machen und wirksam werden zu lassen - mit dem Ergebnis, daß keines dieser beiden Ziele erreicht worden ist. Gleichwohl - daß die Kenntnis der Antike, ihre Erforschung, das Ergriffensein von ihr nie Selbstzweck sein dürfe, sondern dem Leben zu dienen habe, ist eine Forderung, die so unablässig in der europäischen Geistesgeschichte erhoben wurde, daß sich weitere Nachweise erübrigen; aus dem Georgekreis ist sie insbesondere von Blumenthal oft formuliert worden. Nicht zum Kreis gehörende Zeitgenossen Georges hatten auf ihre, jeweils sehr unterschiedliche Weise versucht, ihr nachzukommen. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff geriet, bei all seiner wissenschaft-
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Stauffenberg (Anm. 1), S. 59f.; Thormaehlen (Anm. 1), S. 101, S. 149f, S. 181f.
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W o l f g a n g Schuller
lichen und menschlichen Größe, 85 auf den Abweg der manchmal erschütternden Trivialisierung. Rudolf Borchardts Dichtungen und Reden waren in ihrer oft gewaltsamen Aufgesteiltheit dieser Trivialisierung durchaus entgegengesetzt und mögen ihrerseits die Antike verfehlt haben, waren aber doch das Werk eines schöpferischen Geistes, der aus der eigenständigen Verarbeitung der griechischen und römischen Literatur und Geschichte Neues und Eigenes geschaffen hat. Daß die Antike dem Leben dienen solle, war und ist nämlich mehr als bloße Forderung. Gewiß ist für viele die Altertumswissenschaft nach wie vor die melkende Kuh, die sie mit Butter versorgt, und nach wie vor verstellt gelegentlich die Antikebegeisterung den unabdingbaren nüchternen Blick auf die Sachverhalte. Aber die eigene und die allgemeine Erfahrung lehren, daß die Berührung mit eben diesen nüchtern erkannten Sachverhalten aus sich heraus gewirkt hat und weiter wirken kann. Das zeigt die gesamte Rezeptionsgeschichte mit ihren Renaissancen und Klassizismen, und diese Geschichte zeigt gleichzeitig, daß die griechischrömische Kultur vieler Neuverwandlungen fähig ist. Wenn Stefan George gesagt hat, daß von ihm kein Weg zur Wissenschaft führe, dann zeigen umgekehrt Woldemar von Uxkull, Albrecht von Blumenthal und Alexander von Stauffenberg, daß - auch wegen ihrer an George orientierten Sprache - die Versuche gescheitert sind, von der Altertumswissenschaft des 20. Jahrhunderts, wie sie auch von ihnen verkörpert wurde, zu George zu fuhren. Insofern sie das Altertum von vorneherein als Ausdruck des Heroischen im georgischen Sinne sahen, blieb die Kluft zwischen beiden unüberbrückbar. Froh macht einen dieser Befund nicht.
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„Es war Helle um ihn", so Eduard Fraenkel in einem Vortrag, den ich um 1970 herum in WestBerlin gehört habe.
Ernst Osterkamp
Wilhelm Stein (1886-1970) Im Dezember 1922 verschaffte Ernst Kantorowicz die Lektüre eines soeben erschienenen Buches eine Erkenntnis, von der er in einem Brief an dessen Verfasser bekannte, daß sie ihm, „wäre ich 10 Jahre älter, den Boden unter den Füssen weggezogen hätte oder mir unverständlich geblieben wäre"; es ist diese: „dass nicht nur Wort und Tat eine Idee auswirken, sondern dass als drittes hinzukommt das Bild."1 Diese plötzliche Einsicht in die ideenbildende und auf diesem Wege wirklichkeitsgestaltende Kraft des Bildes, die für Kantorowicz' weiteres Werk von eminenter Bedeutung wurde, hatte ihm ein Buch vermittelt, dessen Verfasser am Ende seines Lebens eingestand, daß es, „der Wirkung wie dem Absatz nach, ein esoterisches" war.2 Es war freilich auch seinem schriftstellerischen Duktus nach ein esoterisches Buch, und so dürfte denn die Leserschaft von Wilhelm Steins Monographie Raffael, erschienen im Dezember 1922 mit der Jahreszahl 1923 in nicht weniger als 5000 Exemplaren in der Reihe der Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst, eher nach Dutzenden denn nach Hunderten zählen. Würde man sich Steins Raffael - immerhin die einzige kunsthistorische Monographie, die in Stefan Georges wissenschaftlicher Buchreihe erschienen ist - aus der Geschichte der Raffaelforschung fortdenken, so würde nicht die kleinste Lücke entstehen, denn es hat, mit Ausnahme von Steins engstem Schülerkreis, dort zu Recht nicht die geringste Wirkung entfaltet. Wilhelm Stein hat nach Erscheinen des Buchs sofort Exemplare an die Mandarine der Disziplin Kunstgeschichte geschickt. Schon aus deren artigen bis unartigen Reaktionen dürfte ihm bewußt geworden sein, daß er auf günstige Kritiken in den Fachorganen nicht würde rechnen dürfen. Max J. Friedländer und Adolph Goldschmidt reagierten mit der bewährtesten Strategie der Lektürevermeidung: Sie dankten sofort und versprachen baldige Lektüre. Um doch etwas Erfreuliches zu sagen, gaben beide ihrer Freude darüber Ausdruck, daß das Buch, was für eine kunsthistorische Monographie ungewöhnlich genug war, keine Abbildungen enthielt: „es ist so erfreulich, einmal kein Bilder-
1 2
Ernst Kantorowicz an Wilhelm Stein, Heidelberg, 27.12.1922, SGA. Wilhelm Stein: Aufzeichnungen über George, Aarau 1963, S . U .
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buch zu sehen." 3 So Goldschmidt. Und Friedländer: „Ich möchte auch mal ein abbildungsloses Buch schreiben. Wird aber wohl frommer Wunsch bleiben." 4 Während darin milde Ironie gegenüber einem querköpfigen Außenseiter mitschwang, der ihnen als Mitarbeiter der Berliner Staatlichen Museen gut bekannt war, blieb Heinrich Wölfflins Reaktion von Eiseskälte: Er könne leider nicht mit einem Brief antworten, „der den Eindruck des Buches spiegelt. Daß die neue Zeit und die neue Generation Raffael neu auffassen muß, ist selbstverständlich; mich freut vor allem, daß überhaupt über Raffael ein ernsthaftes Buch wieder geschrieben worden ist." Die Kritik müsse er sich für einen ruhigen Moment vorbehalten. 5 Daraus konnte Stein immerhin schließen, wie die Kritik derer ausfallen würde, die über die erforderlichen ruhigen Momente verfugten. Die Ablehnung des Buches durch die Fachkritik war tatsächlich einhellig. Dabei dominierten in den Rezensionen die Topoi, die schon die vorangegangenen Gestaltmonographien - die Bücher Friedrich Gundolfs und Ernst Bertrams Nietzsche - in der jeweiligen Fachkritik auf sich gezogen hatten. „Hier bietet sich ein Schauspiel intuitiven Erfassens, nicht eines Befragens und Beweisens Schritt für Schritt." So klagte Oskar Fischel, der seit 1913 das Corpus der Zeichnungen Raffaels herausgab, in seiner 1925 in Kunst und Künstler erschienenen Rezension. „Das Buch ist ein gelehrtes Kunstwerk", so urteilte Max Osborn 1923 in der Vossischen Zeitung, und Otto Benesch brachte in der Österreichischen Rundschau den stereotyp gegenüber den Gestaltmonographien vorgebrachten Vorwurf der Wissenschaftskunst auf die Pointe: „Die kühnsten Romanhypothesen französischer Kunstschriftsteller vom Ende des vergangenen Jahrhunderts sind einfach nichts dagegen." 6 Mit solchen Reaktionen also schottete sich die Disziplin Kunstgeschichte gegen das Buch ab, das Ernst Kantorowicz zu Bewußtsein brachte, wie sehr er selbst des „bildhaften Sehens entwöhnt" war. 7 Freilich bezeichnet Wilhelm Steins Raffael in seinem Willen zur Neuorganisation und Umerzählung historischer Wissensbestände selbst innerhalb der Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst einen Extremfall. Dabei ist dies Buch anders als etwa Berthold Vallentins Winckelmann (1931), das einen ähnlichen Extremfall bildet und deshalb auch in der Winckelmannforschung nicht rezipiert worden ist, alles andere als das Werk eines enthusiastischen Dilettanten. Wilhelm Stein hatte Kunstgeschichte in Berlin und Basel studiert und im Jahre 1916 bei Friedrich Rintelen in Basel promo3 4 5 6
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Adolph Goldschmidt an Wilhelm Stein, [Berlin] Charlottenburg, 17.12.1922, SGA. Max J. Friedländer an Wilhelm Stein, Berlin, 15.12.1922, SGA. Heinrich Wölfflin an Wilhelm Stein, München, 14.1.1923, SGA. Alle Zitate aus den Rezensionen - sie sind in Steins Nachlaß im Stefan George-Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart erhalten - werden wiedergegeben nach Michael Stettier: Wilhelm Stein 1886-1970. In: Wilhelm Stein: Künstler und Werke. Hrsg. von Hugo Wagner, Bern 1974, S. I-XXIX, hier S. XII. Ernst Kantorowicz an Wilhelm Stein (Anm. 1).
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viert mit einer Arbeit über Die Erneuerung der heroischen Landschaft nach 1800, die sich vor allem auf das Werk von Joseph Anton Koch konzentriert. Im August 1918 fand er Beschäftigung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei den Berliner Staatlichen Museen, zuerst im Kupferstichkabinett, seit Ende 1920 dann in den Gemäldesammlungen, wo er unter anderem am Portraitkatalog der italienischen Malerei mitarbeitete. Ludwig Thormaehlen, der bei der Berliner Nationalgalerie angestellt war und Stein dort im Sommer 1914 kennengelernt hatte, 8 vermittelte ihm im November 1918 die Bekanntschaft Stefan Georges. George gab den kunsthistorischen Interessen und Forschungen Steins sofort eine neue Richtung. Stein, der in besonderem Maße fur die künstlerische Moderne aufgeschlossen war, hatte sich schon um 1914 mit dem Gedanken getragen, ein Buch über den größten Landschaftsmaler der Moderne, über Paul Cezanne, zu schreiben. 9 Als er im November 1918 mit George über Cezanne und van Gogh sprach, war mit diesen Plänen dann Schluß. George wandte im Gespräch mit Stein seine gern praktizierte Argumentationsstrategie an, das Avancierte als das wahrhaft Antiquierte erscheinen zu lassen, um so das Antiquierte als das wahrhaft Avancierte durchsetzen zu können: Die Entdeckung von Cezanne und van Gogh durch die deutschen Künstler sei ihm „immer etwas antiquiert" erschienen. „Was ich", so fahrt Stein in seinen Erinnerungen fort, „als zukunfitshaltig in beider Malerei anzuführen suchte, liess er nicht gelten." 10 Das Resultat dieser Gespräche war, daß Stein ein Buch nicht über Cezanne, sondern über Raffael schrieb; während jener als „antiquiert" abgeschrieben wurde, erschien nun der Urbinate unvermutet als „zukunftshaltig". Welche Provokation dieser thematischen Umorientierung innewohnte, liegt auf der Hand: Es gab keinen Maler der Renaissance, der nach der nahezu religiösen Verehrung, die ihm im 19. Jahrhundert zuteil geworden war, in der künstlerischen Moderne Europas bis in die disziplinare Kunstwissenschaft hinein mit solchem Haß und solcher Verachtung verfolgt wurde wie Raffael; man kann sich davon exemplarisch anhand der Schriften Roberto Longhis überzeugen. Auch im Georgekreis war die Abneigung gegen Raffael vor dem Ersten Weltkrieg durchaus verbreitet; Thormaehlen berichtet davon und zitiert auch, was selbst Melchior Lechter bei der Nennung von Raffaels Namen auszurufen pflegte: „Spucke mit Seife!" George aber habe, so Thormaehlen, diesen Urteilen über Raffael schon im Winter 1910/11 nicht zugestimmt. 11 Um so bemerkenswerter ist der Satz, mit dem Wilhelm Stein seine Erinnerungen an das Gespräch beschließt, das er im November 1918 mit George über Cezanne und van Gogh führte: „Das Gespräch war geheim verwoben mit der Niederlage des 8 9 10 11
Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg 1962, S. 120Γ. Ebd., S. 121. Stein (Anm. 2), S. 8. Thormaehlen (Anm. 8), S. 48.
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Deutschen Reiches, die den Meister von einem kaum noch erträglichen Druck befreit hatte." 12 Es war also nicht zuletzt die politische Zeitenschwelle des November 1918, die die Protagonisten der künstlerischen Moderne plötzlich „antiquiert" erscheinen ließ, während Raffael, an dessen Beispiel die deutsche Literatur und Ästhetik seit den Tagen der Frühromantik wie an keinem anderen Maler das künstlerisch und politisch in Deutschland so folgenreiche Konzept der Kunstreligion ausgebildet hatten, den Status eines „Ahnherrn eines Neuen" zurückgewann. l j Die Abwendung von Cezanne, die Hinwendung zu Raffael als dem Repräsentanten einer absoluten ästhetischen Norm im Zeichen der Kunstreligion erscheint damit als die Konsequenz eines politischen Epochenbruchs, der nach neuen Normsetzungen verlangte. Auf der politisch-sozialen tabula rasa, die der November 1918 geschaffen hatte, setzte George ein neues kunsthistorisches Paradigma durch, das das alte der deutschen Kunstreligion war. Es ist im übrigen bemerkenswert, in welchem Grade mit diesem Wechsel der künstlerischen Paradigmen von Cezanne und van Gogh zu Raffael und danach Holbein der Georgekreis in Übereinstimmung stand mit den allgemeinen künstlerischen Trends: Wie die formzertrümmernde Ausdruckskunst des Expressionismus um 1920 ermattete und abgelöst wurde von den Kälteströmen der Neuen Sachlichkeit, in denen sich eine neue Figuralität kristallisierte, so setzten sich in Musik und Malerei ganz Europas nach dem Ersten Weltkrieg neoklassizistische Strömungen durch, die von einem restaurativen Formverlangen getragen wurden. Was dort freilich fehlte, wurde im Georgekreis geradezu bestimmend: das kunstreligiöse Erneuerungspathos. Die Gestalt, die es in Steins Raffaelbuch annahm, ist die Lehre vom göttlichen Kind, das vom Schönen Leben kündet. Mit Raffael trat, so lautet die Kernaussage des Buchs, ein Zeitlos-Absolutes in die Zeit zurück und veränderte allein durch seine eine absolute Norm verkörpernde Existenz, durch seine physische Präsenz, nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben. Dies freilich war eine Lehre, die den Lesern Georges wohlvertraut war. In seinen Erinnerungen an George hat Wilhelm Stein unter dem Titel Erscheinung Maximins zwei Situationen kombiniert, die unter Beweis stellen, daß er - was für Kunsthistoriker j a nie von Nachteil ist - ein Meister des typologischen Beziehungssinns war:
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ERSCHEINUNG MAXIMINS mit Gundolf, Morwitz und Woldemar v. Uxkull sommers vor der Säulenvorhalle des Würzburger Bahnhofs. Gundolf unterbrach ein lebhaftes Gespräch und wandte ganz gegen seine Gewohnheit den Blick auf die Erscheinung eines Knaben. „Maximin", flüsterte er, und alle schwiegen.
Stein (Anm. 2), S. 8. Ebd.
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Später hörte ich den Meister von Würzburg als einer heiligen Stadt sprechen. mit Alexander Zschokke in der Seilbahn von Seelisberg nach der Treib. Als wir einstiegen, verstummten wir. Eine Bauernfrau mit ihren beiden Kindern, einem kleinen Knaben und einem etwas älteren Mädchen, waren unsere Mitfahrer bis zum See und über den See nach Brunnen. Hier war es das Mädchen, das den Jungfräulichen paradiesischen Schimmer" hatte. 14
Ebendieser typologische Beziehungssinn, der ihm in Männlein wie Weiblein Maximin zu erkennen erlaubte, hat Wilhelm Stein bei der Niederschrift seines Raffael die Feder gefuhrt. Es ist das Buch eines Mannes, der die zu Lebzeiten Raffaels entstandenen Werke der umbrischen, florentinischen und römischen Schule an sich vorüberziehen läßt und immer wieder, wenn ihm in einem Fresko oder Tafelbild die Darstellung eines besonders schönen Knaben oder Jünglings vor Augen tritt, „Raffael" flüstert, woraufhin alle Wünsche nach kunsthistorischer Kritik, nach einem methodischen „Befragen und Beweisen" (Oskar Fischel), unverzüglich verstummen. Zugleich rechnet das Buch mit einem Leser, der über eine analoge typologische Intuition verfügt und dort, wo Stein „Raffael" flüstert, „Maximin" zu flüstern in der Lage ist. Dies erklärt, warum dieses Buch eines Kunsthistorikers, der mit Raffaels Gemälden und Zeichnungen aufs beste vertraut war und die gesamte Raffaelforschung von Rumohr und Passavant bis zu Grimm, Morelli und Fischel souverän überblickte, für jeden kunsthistorisch gebildeten Leser ein Buch mit sieben Siegeln bleiben muß, solange er die erforderliche typologische Übersetzungsleistung nicht erbringen kann. Er kann dann förmlich nicht sehen, was die Kernthese des Buches ist: daß mit Raffael eine geistig-körperliche Potenz auf die Welt gekommen ist, die von der Geburt an, also schon lange bevor er einen Pinsel in die Hand nehmen konnte, das gesamte künstlerische und geistige Leben seiner Zeit geprägt und das Schaffen der Künstler seiner Epoche im weitesten Umkreis beeinflußt hat. Deshalb erkennt j a Stein überall im Werk von Raffaels Zeitgenossen, von den seit der Geburt Raffaels entstandenen Gemälden seines Vaters Giovanni Santi an bis zu späten Werken Michelangelos, was außer ihm kein Kunsthistoriker zu erkennen vermag: das Bildnis Raffaels als dasjenige eines jugendlichen Genies, das allein durch seine Gegenwart, also unabhängig von eigener künstlerischer Tätigkeit, formgebend und bildprägend zu wirken in der Lage ist - so wie auch Maximin allein durch seine Präsenz formgebend und bildprägend zu wirken vermochte. Für einen nicht kunsthistorisch gebildeten Leser aber, der die typologische Übersetzungsleistung zu erbringen bereit ist, wird Steins Buch im wahrsten Wortverstand zu einer Sache des Glaubens: Er muß glauben, daß der Dargestellte, den Stein als Raffael erkennt, tatsächlich auch Raf14
Ebd.. S. 29.
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fael ist - und er muß es um so mehr glauben, als er die Bilder in diesem abbildungslosen Buch nicht vor Augen hat. So ist dieses Buch, das alle seine Befunde mit einem Unumstößlichkeitsgestus vorträgt, der sich allein auf die Evidenz der Intuition stützen kann, für alle seine Leser ein dunkles Buch: für die Kunsthistoriker, die auf der Basis von kunstreligiösen Axiomen, die nie explizit gemacht werden, an einen Raffael ohne Hände glauben sollen, 15 der sein Bildnis in zahlreichen Gemälden zurückgelassen hat, die nicht von ihm stammen, und für die Laien, die aus dem, was sie nicht sehen, nur den Glauben an einen göttlichen Knaben und Jüngling ziehen können, der um sich her alles neu werden läßt. Hell ist das Buch nur für die wenigen, die erstens von der Sache nichts verstehen und zweitens Dunkelheit als stilistischen Beweis für die Realpräsenz eines Geheimnisses, also als Offenbarung, zu akzeptieren bereit sind für Leser mithin vom Schlage Kurt Hildebrandts, der das „herrliche Werk" in einem Brief an Stein mit diesen Argumenten rühmte: „An Stelle der Überschätzung rein formaler (leerer) Principien, offenbart sich der lebendige Geist. Wir lasen einmal die analogen Stellen von Wölfflin daneben: sie sind einfach tot dagegen." 16 So wächst in Steins Raffael Zeile für Zeile dem toten Stoff der Kunstgeschichte der „lebendige Geist" der Georgeschen Bewegung zu und formt aus ihm die „Legende" 17 von Raffaels Gestalt, die für jeden, der sie sah - vom über den Säugling gebeugten Giovanni Santi bis zum Michelangelo des Jüngsten Gerichts - , „das Maß des edlen Leibes im Schönsten seiner Bildung" 18 repräsentierte: Raffael als Heiland des Schönen Lebens, 19 als Präfiguration Maximins. Die antihistoristische Umbildung von Geschichte in Leben, die Stein plötzlich in zahlreichen berühmten Bildern die Gestalt Raffaels entdecken läßt, in denen zuvor noch niemand Raffael zu sehen vermochte, geschieht aus dem Geist einer Arkanlehre, die eine umfassende Lebenserneuerung durch die Kunst anstrebte, welche ihr Maß an einem göttlichen Kind ge-
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Vgl. hierzu auch den kurzen Überblick, den Thormaehlen über die Entstehungsgeschichte des Buches gibt: „Es ging um die Frage, wie weit das Auftreten einer jugendlichen Genialität im Kreise von Werkern des Bildes oder des Wortes einen Stil oder ein Bildziel ändern könne, wieweit das bloße Dasein eines jugendlichen Prototyps ausreiche als Ursache für solche Änderung, oder ob ein solch uranfanglich wirkender Prototyp nicht selbst als Genialität schöpferisch und formgebend wirken müsse. Es handelte sich also um die alte und ewige und immer wiederkehrende Frage: Raffael ohne Hände oder Raffael mit Händen. Stein war geneigt, ersteres zu bejahen". Thormaehlen (Anm. 8), S. 196f.
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Kurt Hildebrandt an Wilhelm Stein, [Berlin] Tegel, 10.1.1924, SGA. Wilhelm Stein: Raffael, Berlin 1923, S. 21 und 109. Ebd., S. 182. Diesen Begriff läßt Stein immer wieder in seine Darstellung einfließen, vgl. etwa ebd., S. 109 und S. 158, auch S. 154 Steins Erklärung für den Konzeptionswandel von Michelangelos Grabmal Julius' II.: „Papst Julius konnte nicht verherrlicht werden, indem man das Schöne Leben in Gestalt von Männern und Jünglingen fesselte und zum Sockel machte für die doppelt lebensgroße Ausbreitung der großen alten Männer".
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wonnen hatte. „Er war ein Götterkind", so hatte George über Raffael zu Stein gesagt, als dieser sein Raffaelbuch schrieb, 20 und so spiegelte denn Stein in seinem Werk Götterkind in Götterkind - Maximin in Raffael - und verwandelte damit zugleich Geschichte in ein Kompendium der Georgeschen Lehre; wer auf sie vertraut, der wird auch dieser Geschichte vertrauen, denn sie strukturiert sich Zug um Zug nach deren Maß: „Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale, auch Bilder wiewohl tatsächlich sichtbar bleiben oft so lange verborgen, bis ein verwandter Lebensvorgang das Auge für sie wieder öffnet." 21 So richtig dieser Satz in Steins Raffael auch ist, so befremdend bleibt doch die Generallizenz zur Umbiegung von Geschichte nach dem Maß des Georgeschen „Lebensvorgangs", die sich Stein von ihm gewähren läßt. Pointiert gesagt, verwandelt sich die Renaissance in seinem Buch in einen gewaltigen Georgekreis, der jene Ballade des Schönen Lebens intoniert, dessen Text, Rhythmus und Tonart Raffael als „Maß des edlen Leibes" vorgibt. Die Unbefangenheit, mit der Stein dabei sämtliche Ergebnisse der Raffaelforschung seit Vasari beiseite fegt, ist atemberaubend. 22 Wenn Gundolfs Goethe eine Kräftekugel ist, dann ist Steins Raffael ein Kräftekraftwerk, das in alle Richtungen künstlerische Energien abstrahlt. Während es sich die Raffaelforschung von jeher zur Aufgabe gesetzt hat, die Vielzahl der künstlerischen Einflüsse, die Raffael sich in einem rasanten Assimilationsprozeß produktiv anzuverwandeln vermochte, werk- und formgeschichtlich herauszuarbeiten, ist Steins Raffael keinerlei Einflüssen unterworfen, sondern von der Wiege an der Lehrer aller großen Künstler seiner Zeit. So konzipiert Stein den Maler Raffael als Führer 23 in der italienischen Renaissance, in der sich alle personalen und künstlerischen Verhältnisse - Michelangelo und Leonardo eingeschlossen auf ihn zuordnen. Welcher argumentativen Tour de force sich Stein bei dieser Neuformung der Renaissance nach dem staatlichen Muster des Geheimen Deutschland unterwirft, zeigt nichts so deutlich wie die Rolle, die er Giovanni Francesco Penni dabei einräumt. Jeder Heiland braucht einen Johannes und einen Mentor; das war bei George und Maximin so, und das muß deshalb auch bei Raffael so sein. Wenn Raffael aber keinen Lehrer haben kann - weder Giovanni Santi, dessen Bedeutung für Raffaels künstlerische Ausbildung seit Johann David Passavants Werk Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi (1839/1858) unstrittig war, noch Pietro Perugino läßt Stein diese Rolle noch einnehmen - , dann muß die Rolle des Mentors und des Johannes an ei-
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Stein (Anm. 2), S. I I . Stein (Anm. 17), S. 116. Eine genauere Darstellung von Steins Umformung des Raffaelbildes findet sich in Ernst Osterkamp: Art history and humanist tradition in the George Circle. In: Comparative Criticism 23 (2001), S. 211-230. Es gibt Seiten in Steins Buch, auf denen die Begriffe „Führer" und „führen" bis zu vier Mal auftauchen; vgl. ebd., S. 107.
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nen Mann fallen, der definitiv keinen Einfluß auf Raffaels künstlerische Entwicklung gehabt haben kann. So schreibt Stein diese Rolle in seinem Buch Giovanni Francesco Penni zu, dem Fattore, der ja auch Johannes heißt. Stein baut ihn zum allgegenwärtigen „Helfer" seit Raffaels Peruginer Knabenzeit auf, der sich allezeit einem Höheren unterordnet und die Brücke zwischen diesem und der breiteren Öffentlichkeit schlägt.24 Es gibt keinerlei historische Evidenz für diese erzählerische Konstruktion, die in erster Linie einem typologischen Zwang folgt und nur unter einer erheblichen Verbiegung der historischen Tatsachen zu erreichen war. Während sich die kunsthistorische Forschung schon zu Steins Zeit darüber einig war, daß Penni jünger war als Raffael - die Geburtsdaten schwanken zwischen ca. 1488 (Nagler und Thieme/Becker) und ca. 1496 (Grove) - und erst nach 1510 in Raffaels römische Werkstatt eintrat, läßt Stein Penni acht Jahre älter sein als Raffael und genau beim Übergang „aus der Kindheit in die eigentlichen Knabenjahre" 25 als Mentor an dessen Seite treten. So formt sich Steins Intuition die Biographie Raffaels nach dem Maß des „Lebensvorgangs", der die Kreisrealität bestimmt. Von besonderer Bedeutung ist schließlich, wie Stein den politischen Wirkungswillen des Dichters als Führer in seine Darstellung Raffaels hineinspiegelt. Mitte und Höhepunkt des Buches bildet das große Kapitel Raffael und Julius·, die narrative Ausfaltung der unio mystica von Dichter und Held. Die Stanza della Segnatura liest Stein als das Monument der Verbindung zwischen dem göttlichen Künstler und Papst Julius II., der für ihn ein „großer weltlicher Herrscher" war, getragen vom „Willen zum Reich". 26 So findet der Cäsarismus der Inflationsjahre Orientierung in der Gestalt eines Renaissancepapstes, der seinen Machtanspruch in der Gleichheit seines Namens mit demjenigen Casars zur Geltung brachte. Im stummen Einklang von Künstler und Herrscher organisiert sich in Steins cäsaristischer Bildlektüre die Welt: „im Zeichen des zweiten Julius wird Raffael [...] vergönnt für eine Weile die Starken und die Weisen sichtbar zu lenken."27 Zum Inbild dieser im stummen Zusammenspiel von Künstler und Herrscher geordneten Welt wird für Stein die Schule von Athen, „die größte Verherrlichung dessen, was man Schule nennt". 28 Doch die Lehrer in dieser Schule sind in Steins wahrhaft exzentrischer Bildlektüre nicht etwa Piaton und Aristoteles, die die Mitte des Freskos einnehmen, sondern Raffael und Julius, der Künstler und der Herrscher, in deren Kraftfeld alle anderen Figuren des Freskos existieren. Das Selbstportrait Raffaels erkennt Stein nicht etwa, wie es die Raffaelforschung bis heute tut, in einer halbverdeckten Figur am rechten Bildrand (diese Möglichkeit zieht Stein nicht einmal in Erwägung), 24 25 26 27 28
Vgl. hierzu u. a. ebd., S. 16. Ebd., S. 15. Ebd., S. 102f. Ebd., S. 111. Ebd., S. 130.
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sondern in einem „weiß gewandeten Jüngling" im Zentrum der linken unteren Figurengruppe, der „niemand angehört, an keiner Rede, keiner Belehrung teilnimmt, durchwandelnd aber das Gesetz diktiert, nicht nur das Weistum geschriebenen und gesprochenen Worts verkörpernd, nein mehr, eines Jeden Wandel mitbestimmend, ,Erzeuger' auch und Maß der runden Halle, die ihn und die durch ihn Bestimmten umwölbt." 29 Wie man sieht, hat Stein den das Gesetz diktierenden göttlichen Künstler logozentrisch genug konzipiert, daß sich auch der Dichter als Führer in ihm wiederzuerkennen vermochte. Nur mit einer anderen Figur in dem Fresko kommuniziert diese sonst absolute Erscheinung: mit einem alten Mann im dunklen Mantel in der rechten oberen Figurenreihe, den Stein als die Figur des Papstes bestimmt: der „Besteller des ganzen Werkes im Anschauen seines Erregers." 30 Im Blick des Julius, der „das Gesetz unbeirrbaren Handelns" verkörpert, 31 auf den Künstler, der ihm sein Maß vorgibt, formt sich die Lebensganzheit des ästhetischen Staates einer männlichen geistigen Elite: Raffaels Schule von Athen als ästhetische Präfiguration des Georgeschen ,Staates', der vom göttlichen Jüngling und dem Herrscher, der dessen Willen exekutiert, sein Gesetz empfangt. Bildlektüre als arkane Kreispolitik: es wird deutlich, was Emst Kantorowicz gemeint hat, als er an Stein schrieb, dessen Buch habe ihm gezeigt, daß „das Bild" „eine Idee auswirken" könne. Er dachte dabei nicht an irgendeine Idee, sondern an die Idee des Geheimen Deutschland. Man darf sich deshalb nicht darüber wundern, daß Kantorowicz, als er sein Buch über einen wie Julius II. „das Gesetz unbeirrbaren Handelns" verkörpernden Herrscher schrieb, dieses Wilhelm Stein in den Jahren 1925 und 1926 Kapitel für Kapitel zur kritischen Durchsicht zusandte und mit ihm auch bei Besuchen in der Schweiz in langen Arbeitssitzungen durchsprach; den gemeinsamen Arbeitsprozeß an Kaiser Friedrich der Zweite (1927) dokumentieren zahlreiche Briefe von Kantorowicz an Stein in dessen Nachlaß. Der stumme Einklang von göttlichem Künstler und Herrscher, den Stein in der Schule von Athen im Blick von Julius auf Raffael gewahrte, wird hier gleichsam zum Schreibprogramm: Steins Raffael als „Erreger" 32 von Kantorowicz' Kaiser Friedrich der Zweite. Freilich hat Ernst Kantorowicz dann bereits in der Vorbemerkung zu seinem großen Buch explizit gemacht, was Steins Bild Raffaels immer nur implizit, dies aber mit äußerster Gewaltsamkeit, bestimmt: die Idee des Geheimen Deutschland. Raffael und Friedrich II., der Künstler und der Herrscher: ideale Repräsentanten der Georgeschen Kreispolitik. Es steht außer Frage, daß Wilhelm Stein mit seiner Neudeutung Raffaels als einer schöpferischen Genialität, die durch ihr reines Sein als eine normset29 30 31 32
Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 133.
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zende Kraft die gesamte Kunst ihrer Epoche umgeprägt hat, eine wissenschaftliche Entdeckung von größter Bedeutung gemacht zu haben glaubte. Auf der anderen Seite aber hat er, ohne den objektiven Wahrheitsanspruch der Wissenschaft aufzugeben, sie in seinen Darstellungsstrategien ganz und gar den normativen Ansprüchen von Georges Geistiger Bewegung unterworfen - und dies mit größter schriftstellerischer Konsequenz. Wenn oben das Verfahren der typologischen Spiegelung von Renaissance und Geistiger Bewegung mit der Pointe charakterisiert wurde, in Steins Darstellung erscheine die Renaissance als ein gewaltiger Georgekreis, so läßt sich nun resümieren, daß Stein diese Pointe bewußt angestrebt hat. In seinen Erinnerungen findet sich eine Aufzeichnung, der er den Titel Mit fremden Federn gegeben hat: MIT FREMDEN FEDERN Bei der Übergabe des Raffaelbandes meinte der Meister lächelnd: „Etwas mit fremden Federn geschmückt." Er wusste, wie viel vom göttlichen Kind und von ihm selbst in Raffael und Michelangelo eingeflossen war; von Ludwig Thormaehlen in „Raffael als Meister", von Alexander Zschokke in Leonardo, von Julius Landmann und Bode in Julius II., von mir in den Helfer. Diese Art der Belebung galt als legitim, Voraussetzung aber war, dass der Zusammenhang nicht vergessen werde. „An der Seite des Meisters mit dem Blick auf Maximin": so sah Michael Stettier den Autor des Raffaelbuches, und er hat dies George gegenüber ausgesprochen/ 3
Damit freilich travestiert Stein den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft zu demjenigen des akademischen Schlüsselromans. Aber galt diese „Art der Belebung", wie es seine späte Aufzeichnung will, tatsächlich als legitim? Daß sie in der akademischen Kunstwissenschaft als illegitim galt, habe ich oben an ausgewählten Reaktionen bereits gezeigt. Auf welch profundes Mißtrauen zumal die Verbindung von Wissenschaft und Georgescher Weltanschauung bei den Vertretern der Zunft stieß, belegt exemplarisch ein Brief des Stein besonders wohlgesonnenen Heinrich Bodmer, des Direktors des Kunsthistorischen Instituts in Florenz; er übermittelte ihm am 1. Juli 1923 nach Gesprächen mit Steins ehemaligem Doktorvater Friedrich Rintelen erste Reaktionen auf dessen Buch: „sowohl Bode als auch (unabhängig davon) Rintelen, den ich gestern besuchte, sprachen über dasselbe nicht sehr günstig und was mir auffiel, liessen beide den Namen Stefan George fallen, gleichsam um die Richtung anzudeuten, in welcher das Buch sich bewege." 34 Wilhelm von Bode also hat seine Überhöhung zu Julius II. ebensowenig geschätzt wie Rintelen das Abgleiten seines Schülers in die Georgesche Wertewissenschaft.
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Stein (Anm. 2), S. 14. Heinrich Bodmer an Wilhelm Stein, Zurich, 1. Juli 1923, SGA.
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Aber auch im Kreis um Stefan George selbst galt Steins Art der schriftstellerischen „Belebung" durchaus nicht als völlig legitim. Bei aller ihnen von Anbeginn innewohnenden Neigung der Gestaltmonographien zur typologischen Spiegelung 35 war doch mit Steins Raffael ein solcher Grad an dröhnender Klandestinität und an Mißachtung des wissenschaftlichen Gebots der intersubjektiven Überprüfbarkeit erreicht, daß sich auch in Stefan Georges engstem Umkreis Widerspruch regte. Die beste Kritik des Buches, die je geschrieben wurde, hat bezeichnenderweise dessen von George selbst bestimmter Lektor verfaßt, weil er befurchten mußte, daß hier die im Zeichen Georges eingeleitete methodische Umorientierung in den Wissenschaften zur Karikatur verzeichnet wurde. Am 11.4.1922 brachte Ernst Gundolf mit großem Taktgefühl und unübertrefflicher Präzision alle Einwände vor, die gegen das Buch vorgetragen werden konnten; ich zitiere nur wenige Sätze aus dessen vier engbeschriebene Seiten umfassendem Brief an Wilhelm Stein: Sie [Ernst Gundolfs Bedenken] fliessen fast alle aus der gegebenen und notwendigen Eigenschaft Ihrer Schrift dass sie sich in gewissem Sinn an Eingeweihte wendet und einen bestimmten Glauben und ein gegebenes Wissen voraussetzt. Ich brauche wohl nicht zu sagen dass ich alle Grundvoraussetzungen mit Ihnen teile und darum auch Ihre Methode als Ganzes anerkenne die ich besonders in der ersten Hälfte sogar geradezu vorbildlich angewandt finde. Diese dem Geist nach unvermeidbare Esoterik zieht aber häufig auch eine gewisse Rätselhaftigkeit und Dunkelheit des Wortes nach die wie ich glaube in vielen Fällen vermieden werden könnte und sollte. Was aussprechbar ist wird wohl am besten möglichst direkt ausgesprochen und wirkt so am reinsten auf die Zugehörigen und am Geringsten auf die andern. Was man aber nicht aussprechen will sollte man auch nicht andeuten. [...] Das technisch Kunsthistorische das Sie in erstaunlichem Umfang eingearbeitet haben sollte also möglichst wenig Ecken zum Angriff zeigen. Ich fürchte nun aber dass Sie sich im Aufweis der Verbindungen vielfach zu weit wagen zum mindesten in der Formulierung - mir selbst fehlt der Glaube an mehreren Stellen wo Sie Personenidentitäten, Ähnlichkeiten oder Einwirkungen von Raffael und seinem Kreise aus finden. Zumindest müsste meiner Meinung nach der Ausdruck hier vorsichtiger gewählt werden/ 6
Ernst Gundolfs beeindruckend hellsichtige Kritik meldet also aus doppelter Perspektive fundamentale Zweifel an Steins Darstellung an: aus derjenigen der Kreispolitik und aus derjenigen der wissenschaftlichen Standards, und er bündelt seine Zweifel in dem Generalvorwurf der Dunkelheit. Bedenkt man ferner,
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Vgl. Ernst Osterkamp: Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der , Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter fir die Kunst'. In: Begegnung mit dem .Fremden'. Genzen - Traditionen - Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990, München 1992, Bd. 10, S. 394400. Ernst Gundolf an Wilhelm Stein, Darmstadt, U.4.1922, SGA.
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daß Gundolf im selben Brief Steins Deutungen besonders in den späteren Kapiteln „vielfach [...] zweifelhaft oder geradezu unglaubhaft" nennt, wobei er zumal die Interpretation der Schule von Athen hervorhebt, so fragt man sich beklommen, wie angesichts einer solchen Fundamentalkritik dennoch das Buch noch zu Ende desselben Jahres unter dem Zeichen der Blätter für die Kunst hat erscheinen können. Die Antwort kann nur lauten: weil Stefan George es so gewollt hat. Stefan George wollte das Buch genauso, wie Stein es geschrieben hatte: als wissenschaftliches Medium der Kreispolitik, das aus dem System der Kunst und nicht aus dem System der Wissenschaft seine Gesetze bezog. Ein letztes Mal soll aus Steins Erinnerungen zitiert sein; eine Aufzeichnung trägt den bezeichnenden Titel: WISSENSCHAFT UND DICHTUNG In einer bestimmten, schon recht vorgeschrittenen Phase der Raffaelforschungen äusserte ich zum Meister: „Wenn aus meinem Fund ein Gedicht entstehen könnte, würde ich gern auf das Buch verzichten" - ein Buch übrigens, das er in der Darstellungsform später etwas rhapsodisch fand. „Sind Enthüllungen dieser Art überhaupt erlaubt?" fragte ich weiter. Drauf der Meister: „Es gibt Zeiten, in denen Enthüllungen nicht nur erlaubt sind, sondern notwendig werden." 37
Diese Zeiten waren mit dem Jahre 1918 offenbar erreicht; die Enthüllung der Geheimnisse des göttlichen Kindes und einer in seinem Zeichen erfolgenden Generalerneuerung des Lebens und der Kunst hatte nun die Not zu wenden. Diesem Ziel hatte auch die Wissenschaft sich zu beugen, und so konnte Stein, gestärkt vom Meisterwort, auf Gundolfs Fundamentalkritik seines Buches mit Gelassenheit reagieren. Er hat nur einzelne Formulierungen abgeschwächt und nuanciert, den Plan des Ganzen aber unverändert beibehalten. Hätte er Gundolfs Kritik ernst genommen, so hätte er sein gesamtes Manuskript verbrennen müssen. Hinter ihm stand aber der Meister selbst, und damit galten für ihn die Gesetze der Kunst als eines Mediums überzeitlicher Wahrheit und nicht mehr diejenigen der Wissenschaft als eines Mediums falsifizierbarer Wahrheiten. Ernst Gundolf hat denn auch schon in seinem nächsten Brief an Stein seine Kritik an dessen Buch aufgegeben; am 19. Mai 1922 schreibt er ihm: „Aber es hat eigentlich keinen Sinn mit Forderungen oder Fragen sich einer Schrift derart zu nähern die alle ihre Gesetze in sich hat.'" 8 Eine Schrift, die alle ihre Gesetze in sich hat, ist entweder ein Kunstwerk oder ein Wahnsystem - der Kritik zugängliche Wissenschaft ist sie sicher nicht. Wilhelm Steins Raffael bezeichnet genau den Grenzfall einer Gestaltmonographie, wo der Wille zur künstlerischen Geschlossenheit die Tendenz zur Ausbildung eines geschlossenen
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Stein (Anm. 2). S. 10. Ernst Gundolf an Wilhelm Stein, Darmstadt, 19.5.1922, SGA.
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Wahnsystems mit sich bringt, das der wissenschaftlichen Kritik nicht mehr zugänglich ist. Wer mit dem Werk Raffaels vertraut ist, wird jedenfalls als Leser dieses Buchs eine Welt betreten, deren Koordinaten auf verstörende Weise verschoben sind. Und nicht weniger verstörend ist, daß Stefan George genau dies gebilligt, ja daß er es gewollt hat. Am 11. Juli meldet Ernst Gundolf dem „teuren Meister" an erster Stelle der zu erörternden „Staatsgeschäfte" die Fertigstellung des Druckmanuskripts von Steins Raffael mit Sätzen, die die tiefe Problematik des Buches noch einmal zu erkennen geben: Ich habe ihm [Stein] meine Bedenken gesagt und an einigen Stellen eine vorsichtigere Formulierung veranlasst. Im Ganzen musste ich ihm eher nachgeben, da er genau weiss was er sagt und noch viel mehr nicht sagt, das er auch im Kopf hat. Dadurch wird freilich für den Leser vieles dunkel und zweifelhaft - aber da er auch dies weiss und will so kann man seine Politik wol nicht bestreiten denn ein ganzes System lässt sich nicht gut im einzelnen ändern. 39
Das Zitat bezeichnet präzise den Punkt der Kapitulation der Wissenschaft vor dem Willen zum geschlossenen System - sei es dem System der Kunst, dem der Ideologie oder dem des Wahns. Stefan George jedenfalls hat angeordnet, unverzüglich mit dem Druck des Buches zu beginnen, so daß es unter seinem Zeichen noch im Dezember desselben Jahres erscheinen konnte. Es bedurfte der Souveränität Friedrich Gundolfs, um die tiefe Problematik dieses Buches auf eine versöhnliche Formel bringen zu können; er bedankte sich am 20.12.1922 mit diesen Worten für das Werk: „es ist ein im guten wie im bedenklichen Sinn geheimnisvolles Buch, ein Stück angewandter ,Geheimlehre' eine Mär vom Zauber der Heiligen Jugend in Form einer Kunstbetrachtung und Lebensdeutung."40 Ein Epilog: Im Jahre 1925 habilitierte sich Wilhelm Stein an der Universität Bern mit einer Untersuchung zur Portraitkunst Rogier van der Weydens, die bereits im Folgejahr an prominentem Ort, im Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, erschien, was bereits zu erkennen gibt, daß er sich in dieser Schrift wieder den disziplinaren Standards - sorgfaltige Quellenkritik, Auseinandersetzung mit der Forschung, Belege in Fußnoten, etc. - fügte. Damit begann seine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Bern; dem Privatdozenten wurde allerdings erst fast zwanzig Jahre später, im März 1944, eine nebenamtliche außerordentliche Professur übertragen, die 1946 in eine Honorarprofessur umgewandelt wurde. Im Jahre 1929 erschien Steins große Monographie über Holbein den Jüngeren, ein mit zahlreichen Abbildungen ausgestattetes Werk, das zwar die kunstreligiösen Konstruktionen des Raffael vermeidet - für sie hätte Holbeins 39 40
Ernst Gundolf an Stefan George, Darmstadt, 11. Juli 1922, SGA. Friedrich Gundolfen Wilhelm Stein, Heidelberg, 20.12.1922, SGA.
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Leben auch das Material schwerlich hergegeben - , in seinem darstellerischen Gestus aber seine Herkunft aus der Tradition der Georgeschen Gestaltmonographien keineswegs verleugnet, denn auch in diesem dem Bildhauer Alexander Zschokke gewidmeten Buch wird „die Kunst als eine Leben bildende und Leben bestimmende Macht" aufgefaßt. 41 Stefan George hat denn auch darüber geklagt, „daß Stein ihm das Buch nicht rechtzeitig für den Verlag der Blätter für die Kunst vorgelegt habe." 42 Dies gibt den Status zu erkennen, den er dem Werk einzuräumen bereit gewesen wäre: Steins Holbein hätte Teil der großen symbolischen Lebensernte werden können, die Stefan George in seinem 60. Jahr einzufahren gedachte: Seite an Seite mit seinem Neuen Reich, Ernst Kantorowicz' Kaiser Friedrich der Zweite und Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Nach dem Tod Stefan Georges hat Wilhelm Stein, der im Jahre 1970 starb, fast nichts mehr veröffentlicht.
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Wilhelm Stein: Holbein, Berlin 1929, S. 54. Thormaehlen (Anm. 8), S. 242.
Adolf Heinrich Borbein
Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie ι Zusammen mit Kommilitonen war ich gegen Ende der 1950er Jahre zum ersten Mal bei meinem Lehrer Ernst Langlotz (1895-1978) eingeladen. 1 Wir durften auch einen Blick in das Arbeitszimmer werfen, die Bibliothek bewundern, die die Wandregale ringsum füllte. Neben dem Schreibtisch war ein schmaler Abschnitt der Wand frei geblieben. Hier hing ein einziges, nicht einmal großes Bild: ein fotografisches Porträt, das Haupt Stefan Georges. Die meisten von uns, darunter auch ich, verbanden mit dem Namen des Dichters Stefan George nur mehr oder minder verschwommene Vorstellungen, hatten wohl auch vom geheimnisumwitterten George-Kreis gehört. Unzweifelhaft bekannt war uns der charakteristische Kopf, den wir auf dem Foto sogleich identifizierten. 2 Die Tatsache, dass das Porträt einen so herausgehobenen Platz im intimsten Bezirk des Gelehrten einnahm, ließ uns fragen, ob und wie der Dichter und sein Werk die Lehre und Forschung unseres Lehrers bestimmt oder wenigstens beeinflusst hätten, ob gar seine Weltanschauung davon geprägt worden sei. Doch wir fanden - auch im Laufe mehrjähriger Zusammenarbeit - keine klare Antwort auf unsere Frage. Langlotz selbst äußerte sich zum Thema George zu
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Zu Langlotz: Adolf H. Borbein: Ernst Langlotz t . In: Gnomon 51 (1979), S. 706-711; Ders.: Ernst Langlotz. In: Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von Klassischen Archäologen deutscher Sprache. Hrsg. von Reinhard Lullies und Wolfgang Schiering, Mainz 1988, S. 268-269; Helga Dittmers-Herdejürgen: Langlotz, Ernst, Klassischer Archäologe. In: Neue Deutsche Biographie Bd.13, Berlin 1982, S. 607-608. Siehe auch unten Anm. 16, Anm. 59, Anm. 60. Zur unmittelbaren Wirkung des Kopfes Georges und zur Wirkung der Kopfporträts: Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 21-23. Vgl. Martin Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung. Düsseldorf 2000, S. 100-125. Ulrich Raulff: Plastische Passbilder. Stefan George, die Fotografie und die Skulptur. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,2: Oberflächen der Theorie, Berlin 2003, S. 28-36. Grundlegend bleibt Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Düsseldorf und München 2. Aufl. 1967 mit reicher Bilddokumentation.
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Adolf Heinrich Borbein
uns kaum jemals direkt, entsprechenden Anspielungen begegnete er, indem er sich auf ironische Bemerkungen zurückzog. Damit ist kein Einzelfall beschrieben. Denn wenn wir allgemein nach dem Einfluss Georges auf die Klassische Archäologie fragen, wird es nicht weniger schwierig, eine einigermaßen präzise Antwort zu finden.
II Im Fach selbst und wohl auch darüber hinaus gilt es als ausgemacht, dass die Klassische Archäologie zumindest der ersten Hälfte des 20. Jhs. im deutschsprachigen Raum (oder soweit sie sich der deutschen Sprache bediente) zu einem bedeutenden Teil von Gelehrten bestimmt war, die Stefan George oder dem George-Kreis mehr oder weniger nahe standen. Hier kann man auch eine Anzahl von Namen nennen - allerdings mit unterschiedlicher Sicherheit: Die Intensität der Bindung lässt sich im Einzelfall oft schwer ermessen, was auch äußere Gründe hat, auf die ich zurückkomme. Vor nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten steht man vor allem dann, wenn man im wissenschaftlichen Oeuvre von Klassischen Archäologen diejenigen Elemente definieren will, die ausschließlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Wirkung Georges zurückzufuhren sind. Zwei Versuche dazu wurden in jüngster Zeit unternommen. Karl Schefold hat 1986 „Wirkungen Stefan Georges" in drei Bereichen der Klassischen Archäologie des 20. Jhs. erkennen wollen:" erstens einer neuen Sicht der vorklassischen, also archaischen sowie der nachklassischen, also hellenistischen und spätantiken Kultur und Kunst, zweitens einem neuen Interesse an der großen, schöpferischen Persönlichkeit, und drittens einem neuen Verständnis des religiösen Gehaltes „aller großen Kunst". 4 Schefold gibt hier vor dem Hintergrund seiner eigenen wissenschaftlichen Interessen und Leistungen - was durchaus legitim ist - eine Übersicht über die wichtigsten Tendenzen und Errungenschaften der deutschsprachigen sog. Kunstarchäologie im 20. Jh.; er nennt fast alle bedeutenden Gelehrten, auch solche, die dem GeorgeKreis gewiss nicht nahestanden. Die Verbindung zu George wird jeweils punktuell hergestellt: einmal dadurch, dass Zeittendenzen, denen Archäologen folgten, auch im Werk des Dichters nachgewiesen werden, zum anderen durch biographische Gegebenheiten wie Freundschaften, Bekanntschaften zwischen George-Anhängern untereinander und auch zwischen diesen und anderen Gelehrten. Aus diesem Geflecht von Namen gewinnt man den Eindruck, George
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Karl Schefold: Wirkungen Stefan Georges auf drei neuen Wegen der klassischen Archäologie. In: CP 36 (1986) Η. 173/174, S. 72-97. Schefold (Anm. 3), S. 72, S. 89.
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habe nicht nur die wichtigsten Archäologen als Personen angezogen und beeinflusst, sondern auch die Richtung der Forschung weitgehend geprägt. Was jedoch der Inhalt dieser Prägung war, bleibt letztlich unbestimmt. Wie und wo Werke, Gedanken und Anregungen des Dichters umgesetzt wurden in Wissenschaft - das wird nicht genau definiert und kann auch wohl nicht genau definiert werden. Zehn Jahre nach Schefolds Aufsatz beurteilt Hellmut Sichtermann in seiner Kulturgeschichte der Klassischen Archäologie die Wirkung Georges sehr zurückhaltend.5 Sie habe sich auf eine bestimmte Gruppe von Klassischen Archäologen - einige Namen werden genannt - beschränkt und sei eher indirekt zu fassen. Von den Beiträgen zu dem im Jahre 1983 veranstalteten Symposium der Heidelberger Akademie Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft ist keiner einem Klassischen Archäologen gewidmet.6 Archäologen fehlen auch in den von Ralph-Rainer Wuthenow herausgegebenen Bänden zur Wirkungsgeschichte Georges.7 Selbst Robert Boehringer erwähnt in seiner Monographie Mein Bild von Stefan George als Klassische Archäologen im engeren Sinne nur beiläufig Botho Graef (1857-1917)8 und Roland Hampe (1908-1981),9 außerdem die nur bedingt als Archäologen zu bezeichnenden Gertrud Kantorowicz (1876-1945)10 und Josef Liegle (1893-1945)." Nur die beiden letzteren sind - neben den Brüdern Erich und Robert Boehringer - aufgenommen in die von Georg Peter Landmann erstellte Bibliographie Stefan George und sein Kreis.12
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Hellmut Sichtermann: Kulturgeschichte der klassischen Archäologie, München 1996, S. 343350. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Hrsg. von Hans Joachim Zimmermann, Heidelberg 1985 (Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 4, 1984). Stefan George in seiner Zeit. Hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart 1980; Stefan George und die Nachwelt. Hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart 1981 (Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1.2). R. Boehringer (Anm. 2), S. 242. Zu Graef: Reinhard Lullies: Botho Graef. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 122-123 mit weiterer Literatur. R. Boehringer (Anm. 2), S. 290 Anm. 38. Zu Hampe: Tonio Hölscher: Roland Hampe. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 307-308 mit weiterer Literatur. R. Boehringer (Anm. 2), S. 86-87. Zu G. Kantorowicz: Michael Landmann: Gertrud Kantorowicz. In: Gertrud Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Landmann, Heidelberg/Darmstadt 1961 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt 24), S. 93-106. R. Boehringer (Anm. 2), S. 154-155. Zu Liegle vgl. auch Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 119; CP 50 (2001) H.247-248-249, S. 152154. S. 227-228. Georg Peter Landmann: Stefan George und sein Kreis. Eine Bibliographie. Mit der Hilfe von Gunhild Günther ergänzte und nachgefühlte zweite Auflage, Hamburg 1976, S. 372 (E. und R. Boehringer), S. 376 (G. Kantorowicz), S. 378 (J. Liegle).
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Adolf Heinrich Borbein
In dem ebenfalls von Landmann herausgegebenen Sammelband Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften sind mit archäologischen Themen allein Gertrud Kantorowicz und Robert Boehringer vertreten,'' also keine Fachgelehrten im strengen Sinn. Landmann kommt in seinem Nachwort denn auch zu dem nüchternen Urteil:14 Georges Griechenliebe galt gar nicht der griechischen Philosophie [...]; sie galt auch der Dichtung weniger als der Plastik. Griechische Dichtung, meinte er, sei den Deutschen allenfalls erreichbar, die Plastik nie. Doch hat sich diese Neigung wenig in wissenschaftlicher Archäologie niedergeschlagen, wenn sich auch viele Archäologen der Zeit von Georges Dichtung stark angesprochen fühlten.
III Wie aber kann man dieses ,Angesprochensein' erkennen? Wie seine Folgen für Leben und Wissenschaft ermitteln? Denn es ist geradezu ein Charakteristikum der George-Anhänger im engeren und weiteren Sinne, dass sie ihre Anhängerschaft nicht gleichsam wie ein Banner vor sich hertrugen, sondern nur zu Vertrauten davon sprachen. Wer sich dem Kreis zugehörig fühlte, machte das nicht öffentlich - weshalb der Kreis Außenstehenden oft als ein mit Misstrauen zu betrachtender esoterischer Club, eine im Hintergrund wirkende, besonders im akademischen Bereich einflussreiche Agentur oder gar als Geheimbund erschien. Grundlage der Zugehörigkeit blieben stets persönliche Beziehungen, Freundschaften, ein eigener Lebensstil, an dessen äußeren Zeichen man sich erkannte: die Art zu schreiben, die Handschrift, die Drucktypen, die Freude am ,einfachen Leben' - gerade bei den in südlichen Ländern reisenden Archäologen auch etwa die Vorliebe für Baskenmützen. Einen spezifischen, ausschließenden Charakter hatten diese Zeichen freilich nicht. Näheren Aufschluss können nur persönliche Dokumente liefern, man muss also - soweit vorhanden - Nachlässe sichten, insbesondere nachgelassene Korrespondenz. Beruflingsakten könnten belegen, ob und inwieweit wissenschaftliche Karrieren durch ein ,Netzwerk' von George-Anhängern gefordert wurden. Die Forschungen von Rainer Kolk haben jedoch ergeben, dass das nur sehr begrenzt der Fall war. Freunde Georges wurden kaum wegen, sondern
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Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hrsg. von Georg Peter Landmann, Stuttgart 2. Aufl. 1980, S. 372-382 (G. Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Darstellungen des seelischen Ausdrucks), S. 419-420 (R. Boehringer. Piatons Bildnis). G. P. Landmann (Anm. 13), S. 518.
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eher trotz ihrer Nähe zum ,Kreis' berufen; entscheidend waren ihre im traditionellen Sinne fachspezifischen Leistungen.15 Einige Nachlässe enthalten gewiss interessante Details, so der Nachlass Ernst Langlotz, der in Teilen berücksichtigt werden konnte in der Dokumentation zu einer Ausstellung, die 1995 anlässlich der 100. Wiederkehr des Geburtstages des Archäologen im Akademischen Kunstmuseum der Universität Bonn veranstaltet wurde.16 Hier wird auch Langlotz' Verhältnis zum GeorgeKreis angesprochen.17 Memoiren der Betroffenen selbst geben allenfalls Hinweise; eine distanzierte Reflexion ist in ihnen nicht zu erwarten, hinzu kommt die notorische Scheu der Georgeaner vor öffentlichen Bekenntnissen. In den unvollendeten, postum edierten Erinnerungen von Karl Schefold erscheinen der Dichter und sein Werk zwar als immer präsente Begleiter des Lebens und Forschens, doch sucht man vergeblich nach grundsätzlicheren Aussagen über sein Verhältnis zu George, dem er persönlich nie begegnet ist.18 Noch zurückhaltender verfuhr Robert Boehringer, der für seinen jüngeren Bruder, den Archäologen Erich Boehringer (1898-1971), nach dessen Tod ein Gedenkbuch herausgab, in dem er eine knappe Darstellung von Leben, Karriere und wissenschaftlichem Werk verband mit Äußerungen von Freunden und Bekannten sowie mit Selbstzeugnissen des Verstorbenen, auch aus dem Nachlass. Wohl steht die persönliche Begegnung mit dem Dichter, der dem jungen Boehringer zwei Gedichte widmete, am Anfang; was daraus folgte, wird jedoch nicht ausgesprochen.19 Das Aufarbeiten von Nachlässen und Akten wird zweifellos neue Erkenntnisse zutage fordern und Verknüpfungen herzustellen erlauben. Aber man muss auch fragen, ob die damit verbundenen Anstrengungen und Kosten sich lohnen. Lernen wir wirklich Neues zur Geschichte der Klassischen Archäologie, Neues, welches über das Biographische hinausgeht und dazu beiträgt, dass die Disziplin sich selbst besser versteht? War das George-Erlebnis
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Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945, Tübingen 1998 (Communicatio 17), S. 406-416, S. 532-539 Ernst Langlotz 1895-1978, Archäologie als Leidenschaft. Dokumentation zur Ausstellung. Zusammengestellt von Wilfred Geominy und Doris Pinkwart. Akademisches Kunstmuseum der Universität Bonn, 6. Juni-22. Oktober 1995. Vgl. Wilfred Geominy: Archäologie als Leidenschaft, Gedächtnisausstellung Ernst Langlotz (1895-1978). In: Antike Welt 26 (1995), S. 312. Zu Langlotz s. auch hier Anm. 1. Ernst Langlotz 1895-1978 (Anm. 16), S. 24-31. Karl Schefold: Die Dichtung als Führerin zur klassischen Kunst. Erinnerungen eines Archäologen. Aus dem Nachlass hrsg. von Martha Rohde-Liegle in Verbindung mit Dian, Reimar und Bertram Schefold, Hamburg 2003 (Lebenserinnerungen 58). Zu Schefold s. unten Anm. 55. Erich Boehringer - Leben und Wirken. Gesammelt und hrsg. von Robert Boehringer, Düsseldorf und München 1973. Zu E. Boehringer auch: Doris Pinkwart: Erich Boehringer. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 272-273.
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einiger Archäologen mehr als nur eine individuelle Facette der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaft?
IV Bereits Gottfried Benn hat in seiner - nicht gehaltenen - Gedächtnisrede auf Stefan George (1934) hervorgehoben, dass der Dichter in besonderem Maße Exponent und zugleich auch Mitgestalter des Geistes seiner Zeit gewesen sei. Das kulminiert in der Feststellung: „George war das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat." 20 Benn und in ähnlicher Weise etwa gleichzeitig Eugen Gottlob Winkler 21 betonten Georges Wirkung besonders auf die Geisteswissenschaften, die um 1900 der Zerrüttung nahe gewesen und - nach Benn - daher dem Dichter ,verfallen', ,zugefallen' seien - „eines der rätselhaftesten Phänomene der europäischen Geistesgeschichte." 22 In einer inneren Krise befand sich in den Jahren um 1900 auch die Klassische Archäologie, obwohl sie von außen betrachtet glänzend dastand. Die großen Ausgrabungen der zweiten Hälfte des 19. Jhs. hatten so viel neues Material zutagegefordert - darunter auch Kunstwerke ersten Ranges dass ganze Epochen und Regionen der antiken Kultur und Kunst in neuer Weise anschaulich wurden. Die Archäologen fühlten sich den Naturwissenschaften verwandt, die sich damals anschickten, die Führungsrolle unter den Wissenschaften zu übernehmen: Ausgrabungen wurden dem Experiment im Labor gleichgestellt, und das neue Medium der Fotografie versprach eine bisher nie erreichte Exaktheit und Objektivität in der Reproduktion und Dokumentation von Funden, auch von Werken der Kunst. Grabungspublikationen mit dem Anspruch der Endgültigkeit und vor allem Corpora der verschiedenen Denkmälergattungen sollten die Grundlage abgeben für eine wissenschaftlich gesicherte Rekonstruktion der antiken Kultur- und Kunstgeschichte, ein Ziel, das man um 1900 in greifbare Nähe gerückt sah - auch wenn man zugab, dass das rekonstruierte Bild immer Lücken aufweisen würde. 2j Der Zuwachs an Material und Kenntnis betraf aber nicht nur die traditionellen Kerngebiete der Klassischen Archäologie, die sich in der Nachfolge 20
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Gottfried Benn: Rede auf Stefan George. In: Ders.: Gesaramelte Werke in vier Bänden. Essays, Reden, Vorträge. Hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 1, Wiesbaden 3. Aufl. 1965, S. 464-477, hier S. 466. Eugen Gottlob Winkler: Die Gestalt Stefan Georges in unserer Zeit. In: Ders.: Dichtungen, Gestalten, Probleme, Nachlass. In Verbindung mit Hermann Rinn und Johannes Heitzmann hrsg. von Walter Warnach, Pfullingen 1956, S. 221-235. Benn (Anm. 20), S. 469. Repräsentativ: Bruno Sauer: Geschichte der Archäologie. In: Handbuch der Archäologie. Hrsg. von Heinrich Bulle, Osnabrück und München 1913, S. 80-141, besonders S. 141.
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Winckelmanns primär als Erforscherin der griechischen und auch der römischen Kunst verstand. Die Forschung griff jetzt über in die Nachbarregionen der klassischen Welt, und die Kunstgeschichte wandelte sich zunehmend zur Kulturgeschichte. Es entstand die „große Archäologie" wie Alexander Conze sie im Jahre 1902 definierte, 24 eine weit ausgreifende, nach strategischen Gesichtspunkten organisierte Disziplin, die man zu den „Eroberungswissenschaften des 19. Jahrhunderts" zählte.25 Die Folge war nicht nur eine Akzentverschiebung vom Klassischen zum Nichtklassischen, von Athen und Rom zu benachbarten Kulturen und zur Provinz, sondern eine Schwächung des normativen, des humanistischen Anspruchs der Wissenschaft Winckelmanns. Die archäologische Forschung und ihre humanistische Begründung traten immer mehr auseinander; in einer dem Positivismus eigentümlichen Weise verbanden sich Materialfetischismus und Objektivitätswahn mit höchst subjektiven Urteilen über Sinn und Zweck des eigenen Tuns. Die Beschwörung der humanistischen Tradition bei den alljährlichen Winckelmannsfesten geriet so zu hohler Rhetorik. Die zunehmend offenbare Tatsache, dass die Antike ihre einstige Rolle als Bezugspunkt, ja wichtiges Ferment in der Kultur der Gegenwart eingebüßt hatte - der Verlust der Sonderstellung des altsprachlichen Gymnasiums war dafür ein deutliches Zeichen -, diese Tatsache war durch noch so große Grabungserfolge und perfekt organisierte Corpus-Unternehmungen nicht aus der Welt zu schaffen. 26 Die Konsequenz, die Nietzsche daraus zog, das radikale Überdenken der Tradition, war zwar zunächst nicht allgemein akzeptabel, sorgte aber für eine Irritation, die weiterwirkte. Das Erlebnis des Ersten Weltkrieges, der Zusammenbruch der gewohnten Strukturen und Lebensverhältnisse machte die Unsicherheit vollends manifest, die sich in der Wissenschaft schon vorher eingenistet hatte. Die Archäologie verlor zudem für eine Weile auch den politischen Rückhalt und die finanziellen Mittel, die ihre Großprojekte erst ermöglicht hatten. Alles drängte zu einer Neubesinnung. Die Stimmung der Zeit charakterisierte im Jahre 1919 sehr treffend der damals 38jährige Schweizer Arnold von Salis im Vorwort seines Buches Die Kunst der Griechen. Von Salis, der in Deutschland studiert hatte und zunächst
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Alexander Conze: Ansprache zum Winckelmannsfest. In: Archäologischer Anzeiger 1902, S. 167. Zu Conze: Adolf H. Borbein: Alexander Conze. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 59-60. Adolf Michaelis: Ein Jahrhundert kunstarchäologischer Entdeckungen, Leipzig 2. Aufl. 1908, S. 1. Den Vorgang beschreibt Suzanne L. Marchand: Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970, Princeton 1996, besonders S. 116 ff. Dazu jetzt auch Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945, Berlin 2004.
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an deutschen Universitäten lehrte, spricht vom „äußere(n) Anstoß des Weltkrieges und seiner Folgen" und fährt fort: Das Schicksal hat uns den Spaten aus der Hand geschlagen, und es wird geraume Zeit dauern, bis die Bodenforschung im früheren großzügigen Maßstab wieder aufgenommen werden kann. Die unfreiwillige Pause, die so entstanden ist, wird nicht nur durch Kärrnerarbeit auszufüllen sein, die Stunde der Sammlung und Sichtung ist gekommen. Das Studium der antiken Kunst war ohnehin in Gefahr, in allzu materielle Bahnen gedrängt zu werden; über dem Ausgraben, dem Katalogisieren und den kostspieligen Denkmälerpublikationen kam das innerliche Verarbeiten des aufgehäuften Stoffes fast zu kurz, hielt jedenfalls nicht immer gleichen Schritt mit der raschen Erweiterung unseres Wissens. Es ist vielleicht ganz gut, wenn jetzt einmal gehörig Atem geschöpft wird; etwas weniger Steine, Scherben und Schutt, und dafür mehr Nachdenken und begriffliche Definition: das sind die Wünsche und Forderungen der Gegenwart. 27
Die Archäologen und Altertumswissenschaftler reagierten auf das seit dem Ende des 19. Jhs. und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg eingetretene Sinn-Defizit auf verschiedene Weise: Rückbesinnung auf Grundpositionen Winckelmanns, positive Auseinandersetzung mit Nietzsche, Herausstellen von überzeitlichen Werten der Antike innerhalb der Bewegung des ,Dritten Humanismus' oder Konzentration auf die normativen Aspekte der künstlerischen Form antiker Werke im Anschluss an den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin. Man akzeptierte die Fremdheit der Antike und versuchte zugleich, deren Bedeutung für die Kultur der Gegenwart neu zu begründen.28 Das intensive SichEinlassen auf die aus dem Altertum überkommenen Werke galt nun als „Gegengift gegen das Erbe der Zeiten", das Griechentum als Kraft, „den Menschen zu verändern" - so etwa formulierte es Ernst Buschor in einem Text von 1932 über „Begriff und Methode der Archäologie."29 Hier sind wir den Gedanken ganz nahe, die wir zur gleichen Zeit bei George und in seinem Kreis finden.30 Es kann deshalb nicht verwundern, dass unter den jungen Altertumswissenschaftlern und Archäologen, die um eine neue Sinngebung ihrer Arbeit rangen, nicht wenige von George beeindruckt 27 28
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Arnold von Salis: Die Kunst der Griechen, Leipzig 1919, S. V. Zu von Salis: Hans Jucker: Arnold von Salis. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 210-211. Adolf Heinrich Borbein: Die Klassik-Diskussion in der Klassischen Archäologie. In: Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse. Hrsg. von Hellmut Flashar, Stuttgart 1995, S. 205-245. Siehe auch Karl Schefold: Neue Wege der Klassischen Archäologie nach dem Ersten Weltkrieg, ebd. S. 183-203. Ernst Buschor: Begriff und Methode der Archäologie. In: Handbuch der Archäologie im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft. Hrsg. von Walter Otto, München 1939, S. 3-10, hier S. 9-10; unverändert (!) abgedruckt in: Allgemeine Grundlagen der Archäologie. Hrsg. von Ulrich Hausmann, München 1969 (Handbuch der Archäologie), S. 3-10, hier S. 10. Edith Landmann: Georges Wiedererweckung der Griechen (aus einem nachgelassenen Buch). In: CP 5 (1955) Η. 25, S. 7-33, hier S. 29.
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waren und sogar Anschluss suchten an den Dichter und seinen Kreis. Man versteht aber auch, dass nicht alles, was in Äußerungen von Archäologen den Positionen Georges verwandt erscheint, auf einen mehr oder minder engen Kontakt zum George-Kreis zurückgeführt werden muss.
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Ein Beispiel ist der soeben zitierte sehr bedeutende Archäologe Ernst Buschor (1886-1961).31 Kann man ihn, wie Karl Schefold meint,32 vor allem deshalb mit George in Verbindung bringen, weil er mit dem zum Kreis gehörenden Kunsthistoriker Wilhelm Stein befreundet gewesen sei und weil er dem Dichter sein Werk über die Skulpturen des Zeustempels von Olympia (1924) überreichen ließ? Wie Edith Landmann berichtet, 3j hat George sich zu dem Geschenk nicht weiter geäußert; im Frühjahr 1925 beauftragte er Erich Boehringer, dem Autor zu danken: „Ich kann mich doch nicht hinsetzen und dem einen Dankbrief schreiben über das Werk. Das täte ich nicht mal, wenn jemand mir zwei Landhäuser schenkte." Ernst Langlotz hat in der Rückschau auf die Männer, die ihn in jungen Jahren am meisten beeindruckten, Buschor deutlich von George unterschieden.34 Die Suche nach dem Wesentlichen und Vorbildlichen war im ersten Drittel des 20. Jhs. auch ohne einen Rekurs auf George möglich. Andererseits gehörte George selbst aufnehmend und gestaltend untrennbar zum geistigen Leben der Zeit. Im intellektuellen Diskurs, an dem viele in verschiedener Weise teilnahmen, war er eine zwar prominente, aber doch nur eine Stimme. Die von diesem Diskurs ausgehende Wirkung reichte bekanntlich tief in die Wissenschaft und das gebildete Bürgertum hinein, doch lassen sich ihre Quellen im Einzelfall nur schwer exakt voneinander scheiden/ 5 Auch das erneuerte Interesse an der Antike, insbesondere an den Griechen war in der Epoche Georges ein allgemeines. Erwähnt wurde schon der Dritte 31
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Karl Schefold: Ernst Buschor. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 234-235 mit weiterer Literatur. Wolfgang Schindler: Ernst Buschor. In: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia. Hrsg. von Ward W. Briggs and William M. Calder ΠΙ, New York und London 1990, S. 13-16. Schefold (Anm. 3), S. 94; Ders. (Anm. 31), S. 235. E. Landmann (Anm. 11), S. 135. Ernst Langlotz: Dank an die Gratulanten. Rede am 75. Geburtstag, dem 6. Juli 1970. In: Bibliographie Ernst Langlotz 1895-1978. Zusammengestellt von Peter Noelke und Doris Pinkwart, Berlin 1981, S. 60-63, hier S. 61-62. Hierfür ein einfaches Beispiel: Sowohl meine Mutter, die ein humanistisches Gymnasium absolviert hatte, als auch mein Vater, ein Jurist, erwarben, noch bevor sie sich kannten, in den Zwanziger Jahren des 20. Jhs. Werke Georges, und noch kurz vor seinem Tode kaufte mein Vater den 1967 erschienenen Nachdruck der Blätter für die Kunst. In welchem Umfang aber meine Eltern von George geprägt waren, wüsste ich nicht zu sagen.
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Humanismus, zu erinnern ist etwa auch an Rilkes berühmtes Sonett von 1908 Archaischer Torso Apollos, das mit dem Ausruf schließt: „denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern." 36 Dass die Antike ein bedeutender Bezugspunkt auch im Leben und Werk Georges war, steht außer Zweifel. Hier galt seine Vorliebe den Griechen und besonders den griechischen ,Bildwerken'. Äußerungen des Dichters zur Antike, den Griechen und ihrer Kunst sind jedoch spärlich und wenig spezifisch. Die viel genannte eine Druckseite über Das hellenische Wunder in der 9. Folge der Blätter für die Kunst (1910) 37 ist keine Ausnahme - auch wenn der abschließende „Griechische Gedanke: >der Leib, dies Sinnbild der Vergänglichkeit. DER LEIB SEI DER GOTTSie geben mehr Atmosphäre als eigentliche Dicta. Hat er keine Lebensweisheit von sich gegeben?ich meine, wurden keine Gespräche über große Gegenstände gefuhrt?< - >Mit mir jedenfalls nicht< sage ich, >außer über Gedichte. Wichtig war das Lesen von Gedichtenc." Es ging George nicht um Interpretation, gar wissenschaftliche Interpretation der Antike oder der Griechen, vielmehr um Nachfolge auf gleichem Niveau, um eine „Heilige Heirat", wie „fuhrende Geister" darunter Goethe sie verlangt hätten. 43 Aus der Sicht der Mitglieder des Kreises formulierte Ernst Gundolf: 44 „Soviel wird man spüren, dass die Welt Georges mit der griechischen aus gleicher Wurzel entsprossen und von gleichen Säften genährt ist." Die Archäologen, die von George beeindruckt waren, konnten von ihrem Meister kein Dogma übernehmen, auch keinen theoretischen Rahmen für ihre wissenschaftliche Arbeit. Das erhielt sie frei und bewahrte sie vor Epigonentum. Was aber war es, was sie durch den Umgang mit dem Dichter und in seinem Kreise erfuhren und was sie nachhaltig prägte? Robert Boehringer schreibt dazu 1967 in seinem Vorwort zum Nachdruck der Blätter für die Kunst: „Von den Jüngern [gemeint sind die jüngeren Mitglieder des Kreises] wurde mehr noch Verhalten als Dichtung erwartet und darauf wirkte George erziehend ein. Es war wie in einem Orden, in dem Dienst und Leben geregelt sind, der Einzelne nicht auf Originalität bedacht ist und doch durch Geburt seine Eigenheit erhält und behält". Boehringer nennt dann verschiedene Gelehrte, auch allgemein „die Historiker, Archäologen und Juristen, die man nachher auf Lehrstühlen sah". 45 Zuvor hatte er eine Äußerung von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1922 zitiert: „Was von seinem [Georges] Geist berührt wurde, hat sein Gepräge behalten, und man erkennt seine Schülerschaft unter den jüngeren Gelehrten noch mehr als unter den Dichtern an einer ungemein strengen Haltung". 46
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Unter den 54 Autoren dieser Festschrift, die Robert Boehringer zum 70. Geburtstag gewidmet wurde, befinden sich sieben Klassische und zwei Frühchristliche Archäologen. Michael Stettier: Besuche im Sihlgarten. Erinnerung an Heinrich Wölfflin. In: R. Boehringer (Anm. 41), S. 655-664, hier S. 662. Stefan George in: BfdK IX, S. 2. Vgl. dazu Hubert Arbogast: Stefan George und die Antike. In: kein ding sei wo das wort gebricht. Stefan George zum Gedenken. Hrsg. von Manfred Schlösser, 2. Aufl. Darmstadt 1961 (Agora 11), S. 41-54. Ernst Gundolf: George und die Alten. In: CP 2 (1952) H. 7, S. 5-31, hierS. 23. R(obert) B(oehringer): Vorwort. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968, Düsseldorf-München 1967, Folge I, S. XIII-XIV. Robert Boehringer (Anm. 45), S. X. Hugo von Hofmannsthal: Ankündigung des Verlages der Bremer Presse. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 11.
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Diese strenge Haltung scheint in der Tat auch für die Klassischen Archäologen charakteristisch zu sein, die dem George-Kreis nahe standen. Sie äußert sich in einem Arbeitsethos und einer Intensität des Forschens, die auf der Überzeugung gründen, im Dienst einer wichtigen Sache zu handeln. Viele der hier in Frage kommenden Gelehrten haben Werke geschaffen, die hinsichtlich der Sorgfalt der Recherche sowie der schieren Materialbewältigung allen Anforderungen auch einer positivistischen Wissenschaft genügten und die zugleich eine neue Sicht auf die behandelten Gegenstände eröffneten. Die unverkennbare Qualität ihrer Arbeiten war schließlich ausschlaggebend dafür, dass diese Gelehrten glänzende akademische Karrieren machten. Auch wenn sich - vor allem in der Rückschau - eine Anzahl von Klassischen Archäologen zu einer dem George-Kreis nahestehenden Gruppe zusammenzuschließen scheint, bleibt es im Einzelfall dennoch schwierig, die direkte oder auch nur mittelbare - Verbindung zum ,Kreis' zu konkretisieren und den Grad der Beeinflussung durch den Dichter und sein Werk zu definieren. Der Grund dafür ist nicht nur die bereits genannte Scheu vor persönlichen Bekenntnissen. Der ,Kreis' war nie eine feste Größe mit fixierter Mitgliederzahl, und noch unklarer wird das Bild, wenn wir die Angehörigen des ,Umkreises' zu erfassen versuchen.47 Streng genommen, gehörten als Klassische Archäologen vom Fach und mit einiger Wirkung nur Erich Boehringer48 und allenfalls Botho Graef 49 zum inneren Zirkel. Bei allen anderen, die sich selbst auf George bezogen, oder die mit dem ,Kreis' in Verbindung gebracht werden, bleibt man auf entsprechende biographische Zeugnisse oder Interpretationen ihrer Schriften angewiesen. Die hier in Frage kommenden Archäologen möglichst vollständig aufzuzählen und zu diskutieren, würde den Rahmen unseres Beitrags sprengen und auch kaum weiterführende Ergebnisse bringen. Ich konzentriere mich deshalb im folgenden auf wenige Gelehrte, deren Werk geeignet ist, Wirkungen Georges beispielhaft zu verdeutlichen.
VI Die Forschungsthemen der mit dem George-Kreis verbundenen Archäologen umfassten die gesamte Antike. Die dennoch offenkundige Bevorzugung der griechischen Kunst insbesondere der archaischen und klassischen Epoche kann
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1914-1924. Hrsg. von Bernd Schoeller, Frankfurt/M. 1979 (Fischer Taschenbuch 2167), S. 176-179, hierS. 177. Vgl. Kolk (Anm. 15), bes. S. 173-175, S. 184-216. Die jeweils geringe Zahl der Kreismitglieder im engeren Sinn betont Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der .dritten Generation'. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hrsg. von Wolfgang Rothe, Stuttgart 1974, S. 334-358, bes. S. 341. Zu Erich Boehringer (Anm. 19). Zu Graef (Anm. 8).
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aber nur bedingt auf George zurückgeführt werden; sie findet sich auch außerhalb des ,Kreises' und setzt eine seit Winckelmann gerade in der deutschen Archäologie lebendige Tradition fort. Ähnliches gilt für das Interesse an der Darstellung des nackten männlichen Körpers. Andererseits setzen ζ. B. die von Richard Delbrueck (1875-1957) vorgelegten Editionen von Denkmälern der spätantiken Repräsentationskunst, seine Standardwerke über die elfenbeinernen Konsulardiptychen, die antiken Porphyrskulpturen und die spätantiken Kaiserporträts ein Interesse voraus, das vielleicht durch den Kontakt zum George-Kreis geformt wurde.50 Delbruecks Schüler Heinrich Drerup51 nennt es „eine innere Gestimmtheit für die Reize der Spätform und des anspruchsvollen kostbaren Materials, für die zeremoniöse Haltung und Würde, welche die exklusive Oberschicht dieser angeblichen Verfallszeit der Realität eines heimgesuchten Reiches entgegenstellt." Eine solche „Gestimmtheit" mag der Motor dafür gewesen sein, die genannten Projekte aufzugreifen und mit Energie zu vollenden; maßgebend für die Präsentation des Materials blieben jedoch die Forderungen und Regeln der etablierten Wissenschaft. Das programmatische Interesse des George-Kreises an den großen Individuen in der Welt- und Geistesgeschichte hat einige dem Kreis verbundene Archäologen dazu veranlasst, sich den Porträts bestimmter antiker Persönlichkeiten zu widmen. Es ging um ,das Antlitz des Genius' - so der Titel einer von Robert Boehringer geplanten Serie, von der 1935 und 1937 die von Boehringer selbst verfassten Bände über Piaton und Homer erschienen.52 Boehringer stellt das Porträt des ,Genius' und sein Werk, dessen Grundzüge er umreißt, als gleichrangige Zeugnisse fast unvermittelt nebeneinander. Er verzichtet auf den oft und mit widersprüchlichen Ergebnissen unternommenen Versuch, einer antiken Physiognomie einen individuellen Charakter abzulesen. Offenbar hofft er, dass das Bildnis sich dem von selbst offenbart, der das Werk kennt. Die beiden schmalen Bände, die sich an ein breiteres Publikum richten, wurden begleitet von vollständigen wissenschaftlichen Dokumentationen der uns erhaltenen antiken Porträts Piatons und Homers.53 Diese Dokumentationen waren lange vorbildlich; den Vergleich mit positivistischen Corpora brauchen auch sie nicht zu scheuen. Erich Boehringer, der Fach-Archäologe, hatte schon 50
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Zu Delbrueck: Heinrich Drerup: Richard Delbrueck. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 188-189 mit weiterer Literatur. Stefan Samerski: Richard Delbrueck (1875-1957): Ein Archäologe als Aussenpolitiker. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 101 (1994), S. 19-31. Heinrich Drerup: Richard Delbrueck t . In: Gnomon 30 (1958), S. 414-415, hier S. 415. Robert Boehringer: Das Antlitz des Genius. Piaton, Breslau 1935; Ders.: Das Antlitz des Genius. Homer, Breslau 1937. Robert Boehringer: Piaton. Bildnisse und Nachweise, Breslau 1935; Robert und Erich Boehringer: Homer. Bildnisse und Nachweise. Bd. I, Rundwerke, Breslau 1939 (ein zweiter Band ist nicht erschienen).
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1933 ein Buch über das Porträt Caesars vorgelegt, es galt also einer Gestalt, die der George-Kreis besonders hoch schätzte.54 Peinlich war nur, dass der von Boehringer als Ausgangspunkt seines Buches gewählte und als bestes CaesarPorträt gefeierte ,Caesar von Acireale' nicht Caesar darstellt, sondern einen uns Unbekannten. Robert Boehringers Vorhaben, ,das Antlitz des Genius' sichtbar werden zu lassen, hat 1943 Karl Schefold (1905-1999) weitergeführt in seiner Monographie Die Bildnisse der antiken Dichter, Denker und Redner.55 Hier werden die Porträts stärker in die allgemeine Kunst- und Geistesgeschichte der Antike eingebunden, also mehr aus historischer Distanz betrachtet. Letzteres gilt erst recht für die aktuelle Forschung, in der die dem GeorgeKreis eigentümliche Sicht des Porträts keine Rolle mehr spielt.
VII Für George lag die Essenz des ,hellenischen Wunders' in dem Gedanken „DER LEIB SEI DER GOTT". Hier stand der Dichter in der Tradition Winckelmanns; erinnert sei an dessen Beschreibung des Apollon im Belvedere. 56 Aber George hat Winckelmanns Konzeption in neuer Weise belebt, indem er sie in sein eigenes Werk integrierte. Es ist deshalb weitgehend auf den Einfluss Georges zurückzuführen, dass einige Klassische Archäologen der ersten Hälfte des 20. Jhs. in der Darstellung der menschlichen Gestalt den Schlüssel zur Erkenntnis der griechischen Kultur und den Grund für deren fortdauernde Bedeutung sahen. 57 Vor allem Ernst Langlotz hat die Interpretation des somatischen Befundes, also von Bau und Gebärde des menschlichen Körpers zur Grundlage seiner 54
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Erich Boehringer: Der Caesar von Acireale, Stuttgart 1933. Zu Friedrich Gundolfs Caesarbuch: Ines Stahlmann: Täter und Gestalter. Caear und Augustus im Georgekreis. In: Caesar und Augustus (Römische Geschichte und Zeitgeschichte in der deutschen und italienischen Altertumswissenschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts I). Hrsg. von Karl Christ und Emilio Gabba, Como 1989 (Biblioteca di Athenaeum 12), S. 107-128; Karl Christ: Caesar. Annäherungen an einen Diktator, München 1994, S. 264-266. Karl Schefold: Die Bildnisse der antiken Dichter. Redner und Denker, Basel 1943; Neubearbeitung unter Mitarbeit von A.-C. Bayard, Η. A. Cahn, Μ. Guggisberg und Chr. Schneider, Basel 1997. Dazu vgl. Schefold (Anm. 18) S. 103. - Zu Schefold: Henri Metzger und Jean-Marc Moret: Karl Schefold. In: Revue Archeologique (1999), S. 387-390. Margot Schmidt: Karl Schefold t . In: Gnomon 72 (2000), S. 571-575. Bruno Pieger: Karl Schefold 1905-1999. In: CP 50 (2001) Η. 247-248-249, S. 205-210. Die postum erschienenen Memoiren: Schefold (Anm. 18). Das George Zitat: s. Anm. 37. - Winckelmanns Beschreibung des Apollon: Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hrsg. von Walther Rehm, Berlin 1968, S. 267-279. Zum Begriff der ,Gestalt' als Einheit von Geist und Leib, Leben und Werk, Kunst und Menschentum und seine Bedeutung für den George-Kreis: Kolk (Anm. 15), S. 375-384; Roos (Anm. 2), S. 126-129.
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Arbeiten zur griechischen Kunst und Kultur gemacht.58 Verschiedene u n d verschiedene G e m e i n w e s e n h a b e n nach L a n g l o t z teils teils ü b e r e i n s t i m m e n d e
Körperideale
Zeiten
unterschiedliche,
formuliert, Ideale, die aus der
histori-
schen Realität, aus d e m Leben abgeleitet sind u n d jeweils A u f f a s s u n g e n v o m W e s e n d e s M e n s c h e n u n d seiner B e s t i m m u n g in d e r W e l t reflektieren. In seinem wohl bekanntesten sich
W e r k Frühgriechische
in s e i n e r T y p o g r a p h i e
Kreises an
und
Ausstattung
Bildhauerschulen an Publikationen
des
es
lehnt
George-
in d i e s e m m a t e r i a l r e i c h e n W e r k o r d n e t er die K l e i n - u n d G r o ß -
plastik der archaischen
und
frühklassischen
Epoche
auf Grund
somatischer
Eigenheiten bestimmten regionalen Werkstätten zu. Diese O r d n u n g hat
sich
bis heute im Prinzip bewährt.59 In seinen V o r t r ä g e n ü b e r die griechische Klassik60 hat L a n g l o t z
dezidiert
Stellung bezogen:
K l a s s i k ist f ü r u n s n i c h t e i n P r o b l e m d e r F o r m , s o n d e r n e i n e L e b e n s - H a l t u n g geistiger u n d l e i b l i c h e r A r t im u r s p r ü n g l i c h e n S i n n d e s W o r t e s . Sie ist d i e r e i n s t e Selbstdarstellung der Griechen, die durch den Leib vollkommenste Erscheinung d e s M e n s c h e n in d e r G e s c h i c h t e . N i e w i e d e r ist d e r M e n s c h s o E i n h e i t v o n L e i b und Geist gewesen...61
Es k o m m t a b e r n o c h e t w a s h i n z u - u n d ich zitiere erneut L a n g l o t z :
D i e n a c k t e n m ä n n l i c h e n F i g u r e n a b e r sind n a c k t a u s d e r g r i e c h i s c h e n V o r s t e l l u n g heraus, dass die Nacktheit des wohlgeratenen männlichen Körpers die gottgefälligste E r s c h e i n u n g d e s M e n s c h e n ist. Sie sind s c h ö n , weil sie J ü n g l i n g e in e i n e m g e h o b e n e n Z u s t a n d d a r s t e l l e n , d e r d e m M e n s c h e n d u r c h d i e k u l t i s c h e N ä h e der G o t t h e i t zuteil w e r d e n k o n n t e . D i e s e n a c k t e n g r i e c h i s c h e n J ü n g l i n g s - u n d M ä n n e r f i g u r e n h a b e n in H e i l i g t ü m e r n g e s t a n d e n als Bitte u n d D a n k an d i e G o t t h e i t . D e r
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Zu Langlotz: (Anm. 1). Ernst Langlotz: Frühgriechische Bildhauerschulen, Nürnberg 1927. - Nach Aussage der Witwe Frau Friederike Langlotz wohnte Langlotz wahrend seiner Besuche in Heidelberg bei seiner Mutter im selben Haus wie Ernst Kantorowicz. Bei Kantorowicz wiederum pflegte George zu wohnen, wenn er nach Heidelberg kam. So konnte Kantorowicz eine - die einzige - Begegnung zwischen George und Langlotz vermitteln, bei der dieser dem Dichter ein Exemplar der,Bildhauerschulen' persönlich überreichte. Ernst Langlotz: Griechische Klassik. Ihr Wesen und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Ein Vortrag, Stuttgart 1932; Ders.: Griechische Klassik, Bonn 1944 (Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn a. Rh. 151); Ders.: Griechische Klassik, Bonn 1946 (Bonner Universitätsschriften 5); Ders.: Antike Klassik in heutiger Sicht. Vortrag, gehalten im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main (Reihe Vorträge und Schriften 17), Widmung: „Ernst Kantorowicz sexagenario"; Ders.: Paralipomenon zum Beitrag „Antike Klassik". In: Humanismus. Hrsg. von Hans Oppermann, Darmstadt 2. Aufl. 1977 (Wege der Forschung 17), S. 566-571.
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Langlotz, Klassik 1944 (Anm. 60), S. 23.
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vollendete Menschenleib hat für griechisches Denken gerade Reinheit. Keuschheit und Demut vor der Gottheit z u m Ausdruck gebracht.62
So würde heute kein Archäologe mehr reden, doch würde er die von Langlotz gegebene Interpretation auch nicht für völlig verfehlt halten: Die Tatsache, dass die griechische Kunst weitgehend für einen kultischen Kontext geschaffen wurde, wird in der Forschung gegenwärtig wieder berücksichtigt. 63 Allgemein akzeptiert blieb die These, dass die Darstellung des Menschen eine Leitform der griechischen Kunst- und Kulturgeschichte ist. Darüber hinaus haben die Untersuchungen von Langlotz erwiesen, dass die künstlerisch geprägte Form oder ,Gestalt' und ihr Wandel erstrangige Quellen historischer Erkenntnis sind. 64 Dichtung und bildende Kunst waren im George-Kreis religiös konnotiert; real oder metaphorisch sah man in ihnen göttliche Kräfte am Werk. Edith Landmann hat es so formuliert: „George hat das Gesetz von der Wirksamkeit des Göttlichen in der Welt auch in seiner Lebensform verwirklicht." 65 Unter den Archäologen, die dieser Überzeugung folgten, habe ich soeben Langlotz genannt. Ich zitiere außerdem Paul Jacobsthal (1880-1957), der 1924 einen Aufsatz so einleitete: „Hellenische Form durchwaltet, Nachgeborene beglückend, allgegenwärtig auch noch die bescheidensten Gebilde griechischer Hand, die kleinen irdenen Weihegaben an Götter und Tote. Durch die Jahrhunderte bleiben sie sich darin gleich, dass in einer jeden von ihnen ein Teil der göttlichen Kraft wirksam ist, die den großen Bildnern den Meißel führte." 66
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Langlotz, Klassik 1956 (Anm. 60), S. 26. Vgl. Ernst Langlotz: Griechische Vasenbilder. Heidelberg 1922, S. 7. Ähnlich: G. Kantorowicz (Anm. 10), S. 86-91. Zur ,Leibvergottung' bei George und im George-Kreis: Sünderhauf (Anm. 26), S. 217-239. ζ. B. Nikolaus Himmelmann: Attische Grabreliefs, Wiesbaden 1999 (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vortrage G 357); Ders.: Die private Bildnisweihung bei den Griechen, Wiesbaden 2001 (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vortrage G 373). Christian Kunze: Verkannte Götterfreunde. Zu Deutung und Funktion hellenistischer Genreskulpturen. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 106 (1999), S. 43-82. - Allgemein: Rituale in der Vorgeschichte, Antike und Gegenwart. Studien zur Vorderasiatischen, Prähistorischen und Klassischen Archäologie, Ägyptologie, Alten Geschichte, Theologie und Religionswissenschaft. Interdisziplinäre Tagung vom 1 .-2. Februar 2002 an der Freien Universität Berlin. Hrsg. von Carola Metzner-Nebelsick u. a., Rahden/Westf. 2003 (Internationale Archäologie. Arbeitsgemeinschaft, Symposium, Tagung, Kongress 4). Vgl. Adolf H. Borbein: Plastik - das Bild des Menschen in der Kunst. In: Das Alte Griechenland. Geschichte und Kultur der Hellenen. Hrsg. von Adolf H. Borbein, München 1995, S. 241-289. E. Landmann, Stefan George und die Griechen (Anm. 38), S. 131. - Allgemein vgl. Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988 (Becksche Reihe 363), bes. S. 136-149. Paul Jacobsthal: Griechische Terrakotten des V. Jahrhunderts vor Chr. Geb., 1. Melische Reliefs. In: Zeitschrift für bildende Kunst (1924) H. 5/6, S. 94-104, hier S. 95. Die Rede ist von der Gattung der ,Melischen Reliefs', die Jacobsthal auch in einer corpusartigen Material-
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Den religiösen Gehalt der antiken Kunst zu verdeutlichen, war vor allem das Anliegen von Karl Schefold, der hier zweifellos Ansätze Georges weiterführte. Schefolds umfangreiches Werk, das die gesamte Antike und nicht nur die ,klassische' umfasst, 67 ist zugleich ein schönes Zeugnis für das mit allem Engagement verbundene Arbeitsethos der Mitglieder des George-Kreises; man war sich nicht zu schade, auch mühsame Kärrnerarbeit der Materialerschließung zu leisten. Schefolds Deutungen werden von der heutigen Forschung zwar nicht mehr geteilt, doch haben seine Untersuchungen zum ,religiösen Gehalt' den Weg zu einem neuen Verständnis vor allem der lange als Phänomen des Niedergangs betrachteten römischen Kunst gebahnt. Er zeigte, dass die römische Kunst eine eigene in sich sinnvolle, begrifflich definierbare Entwicklung durchläuft 68 - zu diskutieren bleibt nur, wie man die Antriebskräfte dieser Entwicklung definiert.
VIII Die Begegnung mit George und seinem Werk war für einige Archäologen ein Erlebnis, das ihre Motivation zur wissenschaftlichen Arbeit tiefgreifend prägte. 69 Vergleichbar ist die Art, wie dieselben Archäologen antiken Kunstwerken, den Objekten ihrer Forschungen begegneten: die Bereitschaft war groß, sich auf ein Werk unmittelbar einzulassen, sich Begeisterung, ja Betroffenheit nicht zu versagen. Hermine Speier (1898-1989), die dem George-Kreis in Heidelberg nahe gekommen war, eröffnet in der Festschrift Robert Boehringer ihren Beitrag mit dem Satz: „Es ist schwierig in Worte zu fassen, warum uns die Werke griechischer Plastik so betroffen machen können, auch dann, wenn es nur ein Fragment ist, das wir betrachten..." 70
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Publikation vorlegte: Paul Jacobsthal: Die Melischen Reliefs, Berlin 1931. - Zu Jacobsthal: Karl Schefold: Paul Jacobsthal. In: Lullies und Schiering (Anm. 1), S. 204-205 mit weiterer Literatur. Karl Schefold: Bibliographie mit zusammenfassenden Kommentaren, Basel 1990. Fortsetzungen dieser Bibliographie in: Antike Kunst 38 (1995), S. 65; 42 (1999), S. 72. Abdruck der gesamten Bibliographie in: Schefold (Anm. 18), Anhang. Vor allem: Karl Schefold: Römische Kunst als religiöses Phänomen, Reinbek bei H a m b u r g 1964 (rowohlts deutsche enzyklopädie 200). Dazu Kolk (Anm. 15), S. 151-156. Dass George vor allem durch seine bloße Gegenwart wirkte, betont auch Frank Jolles: Die Entwicklung der wissenschaftlichen Grundsätze des George-Kreises. In: Etudes Germaniques 2 2 (1967), S. 346-358, bes. S. 353. Hermine Speier: Ein griechisches Original aus den Vatikanischen Museen. In: R. Boehringer (Anm. 41), S. 605-623, hier S. 605. - Zu H. Speier: Bernard Andreae und Carlo Pietrangeli: In M e m o r i a m Hermine Speier. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 96 (1989), S. 1-6; Hans von Steuben: Hermine Speier t . In: G n o m o n 62 (1990), S. 379-381.
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Eine derartige Betroffenheit war - wie das schon zitierte Apollo-Sonett Rilkes erweist - nicht auf die Anhänger Georges beschränkt, aber fur diese doch charakteristisch. Sie war es, die neue Energien auch in der Wissenschaft freisetzte und letztlich dazu führte, jenen Begriff von Wissenschaft in Frage zu stellen, den Georg Picht - ebenfalls in der Festschrift Robert Boehringer - mit folgenden Worten negativ kennzeichnete: Die moderne Wissenschaft kennt die Wahrheit nur noch in der Gestalt der Objektivität; mit der genauen und nachprüfbaren Feststellung von Sachverhalten ist ihr Genüge getan. Dass man auf den Gedanken kommen kann, den Platon-Text [...] nicht nur .wissenschaftlich' zu untersuchen, sondern sich von ihm anreden zu lassen und in die Selbstprüfung, zu der er auffordert, wirklich einzutreten, das mag gut und schön sein, aber es ist ein außerwissenschaftliches Verhalten, das für die Feststellung der Wissenschaft selbst keine Bedeutung hat. Die Macht der modernen Wissenschaft liegt in ihrer Indifferenz; sie ist gegen das menschliche Verhalten des Wissenschaftlers ebenso gleichgültig wie gegen die Mächtigkeit und Bedeutung der Gegenstände, deren Beschaffenheit sie zu konstatieren und festzuhalten hat. Die Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Kunst, den Geist zu neutralisieren. 71
IX
An der durch den George-Kreis bewirkten „Wende des Stils der geisteswissenschaftlichen Forschung" - wie Hans Georg Gadamer es nannte72 - waren auch Klassische Archäologen beteiligt. Dennoch wird man abschließend feststellen müssen, dass die Wirkung des Dichters primär den persönlichen Bereich der Gelehrten betraf und nur sehr bedingt den der Wissenschaft - auch wenn persönliche ,Betroffenheit' Anlass und Intensität des Forschens mitbestimmte. Die wissenschaftlichen Standards wurden nicht wesentlich verändert, und der Ertrag der wissenschaftlichen Bemühungen führte, sofern er Geltung erlangte, weg von der Person und erst recht weg von George. Die Redaktion des Castrum Peregrini kam anlässlich des Erscheinens des 100. Heftes zu dem Schluss: „Offenbar ist es typisch für das Georgesche Werk, dass sein Weiterwirken und Fortzeugen sich weniger im literarischen [also auch wissenschaftlichen] als im Bereich unmittelbaren Lebens vollzieht."73 71 72 73
Georg Picht: Aus dem Tagebuch eines Schulleiters. In: R. Boehringer (Anm. 41), S. 511-524, hierS. 512. Hans Georg Gadamer: Stefan George (1868-1933). In: Zimmermann (Anm. 6), S. 39-49, hier S. 42. Der geometrische Ort. Besinnung zum 100. Heft. In: CP 21 (1971) Η. 99-100, S. 143-150, hier S. 145. - Der Versuch von Erich Boehringer, nach dem Zweiten Weltkrieg mit der „Burse" in Göttingen eine vom George-Kreis inspirierte Studentengemeinschaft zu etablieren, gehört ebenso wenig zur ,Wissenschaft' wie Boehringers „Alexanderzug" auf den
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Georges Wirkung als Anreger und Katalysator in seiner Epoche blieb weitgehend gebunden an die Generation derer, die noch zu seinen Lebzeiten von ihm und seinem Werk beeindruckt waren. Selbst in der deutschsprachigen Klassischen Archäologie war der Einfluss des Dichters eine zwar nicht unwichtige, aber vorübergehende Episode. Er hat vor allem die Erkenntnis befestigt, dass sachbezogene, verantwortungsvolle Forschung nicht zugleich positivistisch sein muss. Gelegentliche Rückbezüge auf George in unseren Tagen spielen in der wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle mehr; sie werden als unzeitgemäß empfunden.74 Wäre die Geschichte der Klassischen Archäologie ohne einen Einfluss Georges anders verlaufen? Man weiß es nicht, aber es spricht auch nicht viel dafür. Die eigentliche und große Wirkung des Dichters betraf den Bereich, der unmittelbar vor der Wissenschaft liegt: Gemeint sind die Bereitschaft, zu Neuem aufzubrechen, die Überzeugung, etwas von allgemeiner Wichtigkeit zu betreiben und die Fähigkeit, sich ζ. B. auf ein antikes Kunstwerk ,einzulassen', sich begeistern zu lassen. In diesem vorwissenschaftlichen Bereich bemerken wir heute ein Defizit. Man versucht es dadurch zu beheben, dass man die äußeren Begleitumstände der Archäologie, das Suchen, Finden, Zusammensetzen zur Sensation aufbauscht in der Hoffnung, die Öffentlichkeit so von der Relevanz des eigenen Tuns zu überzeugen. Die Anhänger Georges aber wussten, dass der Wissenschaftler vor allem selber an seine Mission glauben und Überzeugungen haben muss, die den Kern seiner Arbeit betreffen.
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Spuren eines ,Genius'. Zur Burse: Erich Boehringer in: R. Boehringer (Anm. 41), S. 53-107; Ders. in: Erich Boehringer, Leben (Anm. 19), S. 38-45 und Klaus Zimmermann, ebenda S. 45-51. Zum Alexanderzug: Wilhelm Mommerz und Georg Schimanski in: Erich Boehringer, Leben (Anm. 19), S. 76-92. Die unter dem Titel Thiasos versammelten, Wolfgang Frommel gewidmeten sieben archäologischen Arbeiten (hrsg. von Thuri Lorenz: CP 28 (1978) Η. 132-133) zeigen eine Nähe zum George-Kreis mehr durch ihren Erscheinungsort als durch ihren Inhalt. - Dem Andenken Wolfgang Frommeis gewidmet ist das Buch von Conrad M. Stibbe: Das andere Sparta, Mainz 1996. Ein George-Zitat steht hier (S. 89) am Anfang des Kapitels Sparta und Delphi, Die Dichter Tyrtaios, Terpandros und Thaletas; ein Hinweis auf den Dichter Albert Verwey und Georges Übertragungen von dessen Gedichten findet sich S. 300 Anm. 4. Der Tradition des George-Kreises entspricht etwa das besondere Interesse am spartanischen Staat und seinen Lenkern Lykurg und Cheilon, an den Dichtern und am Eros, doch sind das auch Themen, die in der Forschung allgemein diskutiert werden.
Volker Kruse
Die Heidelberger Soziologie und der Stefan George-Kreis Als der junge Karl Mannheim 1921 als ungarischer Emigrant nach Heidelberg kam, sah er dort zwei geistige Pole: die Soziologie einerseits, repräsentiert durch Max und Alfred Weber, den George-Kreis andererseits. Mannheim, damals noch Philosoph mit kulturerneuernden Ambitionen, entschied sich nicht für Stefan George, sondern für die Soziologie. Seine Begründung von 1921 ist zugleich paradigmatisch für die Sichtweise der Heidelberger Soziologie: Der George-Kreis [...] ist ein gutgemeintes Experiment einsamer Intellektueller, die versuchen, die verschiedenen Probleme der geistigen Heimatlosigkeit zu lösen [...] Sie betrügen sich selbst mit dem Gefühl. Boden unter den Füßen zu haben. Sie haben sich in sich zurückgezogen, bedecken sich mit dem Mantel der Kultur, übergehen die Welt und verlieren sich in sich selbst. Das Leben in dem von Hügeln rundum beschützten Heidelberg gibt ihnen das Gefühl, dass sie existieren und wichtig und effektiv sind; es bedarf nur eines Gewitters, und sie werden zu Symbolen eines vergangenen Zeitalters 1 .
„Romantiker", „Symbole einer vergangenen Zeit" - so sahen häufig zeitgenössische Soziologen Stefan George und seinen Kreis. Aber das war nur die eine Seite. Auf der anderen Seite waren fuhrende Soziologen wie Georg Simmel, Max und Alfred Weber fasziniert von Charakter, Talent und Geistigkeit der Georgianer. Sie suchten den geistigen Austausch mit ihnen. Das veranlasst zu der Frage, der dieser Beitrag im folgenden nachgeht: Wie hat der Stefan George-Kreis die Entwicklung der frühen deutschen Soziologie beeinflusst, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in ihrer geistigen und institutionellen Formationsphase befand? Diese Frage ist bislang wenig erforscht. 2
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Zit. nach: Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim. Hrsg. von David Kettler/Volker Meja/Nico Stehr, Frankfurt a. M. 1989, S. 41. Als eine Ausnahme vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München und Wien 1985, S. 311-355. Zum allgemeinen geistesgeschichtlichen Kontext vgl. Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1996.
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Mein Beitrag nimmt pars pro toto das Jahrbuch für die geistige Bewegung fur den George-Kreis und die Brüder Max und Alfred Weber für die Soziologie bzw. die Heidelberger Soziologie.
1.
Noch um die Jahrhundertwende wäre kaum einer auf die Idee gekommen, Stefan George und Soziologie in einen Zusammenhang zu bringen - es waren zu weit entfernte geistige Welten. Während sich George in hehrer Selbstgenügsamkeit der Dichtung verschrieben hatte, galt Soziologie in Deutschland noch als Wissenschaft Comtes und Spencers - als eine Naturwissenschaft von der Gesellschaft, welche mit der naturwissenschaftlichen Methode die Gesellschaft erfassen und auf dieser Basis steuern und verbessern wollte. Im übrigen existierte Soziologie als universitäre Disziplin damals in Deutschland noch nicht. Doch schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich die Dinge grundlegend gewandelt. Der George-Kreis war aus dem „ästhetischen Kloster" herausgetreten ' und verstand sich nunmehr - seit dem Siebenten Ring - als kulturkritische und kulturgestaltende Kraft. Mit dem Jahrbuch für die geistige Bewegung trat er als solche in die Öffentlichkeit. Die Soziologie wiederum begriff sich nunmehr zusehends als Kulturwissenschaft (Werner Sombart, Max Weber, Alfred Weber, Georg Simmel) und als zeitdiagnostische Disziplin. George-Kreis und Soziologie wurden damit zu Konkurrenten der Weltauslegung und Zeitdeutung. Sie manifestierten zugleich die Konkurrenz zwischen zwei verschiedenen Wissensformen: rationaler Wissenschaft und intuitiver, kreativer Dichtkunst.4 Beide waren auch Konkurrenten in dem Anspruch auf Überwindung alexandrinischer Wissenschaft, die totes Wissen anhäuft - die Soziologen durch wissenschaftliche Zeitdiagnostik, der GeorgeKreis durch Wissenschaft im Dienst des Lebendigen.5 Die Georgianer trafen dabei auf eine Wissenschaft in statu nascendi, die begann, sich geistig und institutionell zu formieren.
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So Max Weber nach Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989 (zuerst 1926), S. 466. Bezeichnend dafür die Bemerkung von Kurt Hildebrandt über das Jahrbuch'. „Alle Mitarbeiter waren sich darüber einig, dass das Schöpferische Leben das Wesentliche, Wissenschaft und Journalismus dagegen bloße Werkzeuge wären". Vgl. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 51. Vgl. exemplarisch Werner Sombart: Der Moderne Kapitalismus, 1. Aufl., Leipzig 1902, Vorwort. Werner Sombart/Max Weber/Edgar Jaffe: Geleitwort. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1 (1904), S. 1-VII.
George und die Soziologie
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Heidelberg wurde zum wohl bedeutendsten Zentrum der frühen deutschen Soziologie. 6 Mit Gelehrten wie Max Weber, Alfred Weber, Emil Lederer, Karl Mannheim gewann sie Weltruhm. Heidelberg war zugleich eine Hochburg des Stefan George-Kreises, zeitweise „Mitte der Bewegung". 7 Hier lässt sich am besten studieren, welchen Einfluss der George-Kreis auf die Soziologie ausgeübt hat. Obwohl Soziologie und George-Kreis oft als zwei entgegengesetzte und rivalisierende geistige Pole wahrgenommen wurden, gab es eine beträchtliche kommunikative Vernetzung. 8 Sie erfolgte weniger über den , Meister' als über seine Schüler. Regelmäßig waren die Georgianer bei den berühmten j ours, den geselligen Treffen im Hause Max und Marianne Webers am Sonntag nachmittags zugegen. 9 Das Ehepaar Weber hatte Gundolf „in den engsten Hausverkehr gezogen". 10 Einige Georgianer waren Schüler und Freunde von Alfred Weber. Zu ihnen zählten Edgar Salin, Arthur Salz, Wolfgang Heyer, Norbert v. Hellingrath, Ernst Robert Curtius, Friedrich Sieburg, Werner Picht und Erich von Kahler. „Sein Haus in Heidelberg wurde vor dem Krieg zu einem Treffpunkt der Anhänger Stefan Georges." 11 Besonders mit Friedrich Gundolf pflegten die Weber-Brüder einen engen geistigen Austausch, so dass, bei allen tiefgreifenden geistigen Gegensätzen, Heidelberger Soziologie und George-Kreis in gewisser Weise eine - spannungsreiche - soziale und geistige Symbiose bildeten.
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Neben Heidelberg sind Berlin (Georg Siramel, Werner Sombart, Alfred Vierkandt, Richard Thurnwald), Köln (Leopold v. Wiese, Max Scheler), Leipzig (Hans Freyer) und seit Ende der 20er Jahre Frankfurt (Karl Mannheim, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno) zu nennen. Vgl. Edgar Salin: Um Stefan George, Godesberg 1948, S. 140. Vgl. dazu Rainer Kolk: Das Schöne Leben. Stefan George und sein Kreis in Heidelberg. In: Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit" eines „Weltdorfes": 1850-1950. Hrsg. von Hubert Treiber und Karol Sauerland, Opladen 1995, S. 310-327. „Zudem gehen Mitglieder des George-Kreises in der Ziegelhäuser Landstraße ein und aus, an der Spitze natürlich Gundolf, der bereits bei dem ersten jour-Versuch zugegen gewesen war". Vgl. Gesa von Essen: Max Weber und die Kunst der Geselligkeit. In: Heidelberg als Schnittpunkt intellektueller Kreise (Anm. 8), S. 462-484. In einem kürzlich veröffentlichten Interview von 1970 bestätigt Edgar Salin, „dass ich regelmäßig bei dem Sonntagsjour von Max Weber zusammen mit meinen Freunden gewesen bin" (vgl. Hideharu Ando: Die Interviews mit Else Jaffe, Edgar Salin und Helmuth Plessner über Max Weber 1969/70. In: Kölner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), S. 596-610.) Zu Salins Freunden zählten insbesondere Wolfgang Heyer sowie Norbert von Hellingrath. Vgl. auch Salin (Anm. 7), bes. S. 176. Vgl. Kurt Hildebrandt (Anm. 4), S. 179. Martin Green: Else und Frieda. Die Richthofen-Schwestern, München 1996 (zuerst amerik. 1974), S. 260.
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II. Max Weber und Stefan George galten fur manche als die geistigen Titanen ihrer Zeit, nicht nur für Heidelberg, sondern für Deutschland überhaupt. Das Verhältnis beider war, wie von Soziologie und George überhaupt, zunächst eher ein Nicht-Verhältnis. Ende der 1890er Jahre versuchte der Philosoph Heinrich Rickert dem Freund Max Weber den Dichter nahezubringen, aber der frischgebackene Professor der Nationalökonomie verschmähte die Poesie.12 Doch das änderte sich einige Jahre später. Durch eine langjährige Lebenskrise geläutert, entdeckte der Rekonvaleszent seine poetische Ader (die ihm allerdings von manchem Georgianer grundsätzlich abgesprochen wurde); er las George und trug Gedichte selbst vor.13 Die Verehrung für den Dichter George scheint Max Webers ganzes Leben angedauert zu haben, jedenfalls finden sich keine gegenteiligen Hinweise. Der Prozess des Ε inander-Annähems kulminiert in den Jahren 1910 bis 1912. In dieser Zeit treffen sich auf Vermittlung von Gundolf die beiden Geistesgrößen mehrfach zu ernsthaften und intensiven Gesprächen.14 Beide erkennen sich gegenseitig als große Intellektuelle mit lauterem und edlem Charakter an, aber sie erfahren sich auch als wesensfremde Persönlichkeiten. George begreift, dass ihn die Gespräche mit dem Soziologen persönlich nicht weiter führen und bricht den Kontakt ab. „Doch sah er es gerne, dass die Seinen, voran Gundolf, die Verbindung aufrecht erhielten zu dem bedeutenden Mann".15 Aus Georges Sicht ist Leben und Denken Webers zwar von Lauterkeit geprägt, aber bei aller überragenden intellektuellen Kompetenz ist er letztendlich auf einem lebensfeindlichen Irrweg. Dennoch schätzen die Georgianer Max Weber als den nach George größten Deutschen ihrer Zeit: „Nicht alle standen ihm mit der gleichen Verehrung gegenüber wie Gundolf. Aber jeder spürte, dass an Wucht der Person außer George ihn unter den Deutschen keiner überragte".16 Die Georgianer sind an der Entstehung des Max Weber-Mythos ursächlich beteiligt. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts ist Weber ,nur' ein allseits geachteter und respektierter Sozialwissenschaftler, dessen Wort in der Wissenschaft zählte. Aber er wird nicht in irgendeiner Weise verklärt, und andere Fachkol12
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„Der Freund verstand es, die Gedichte meisterhaft vorzutragen, aber vergeblich - Weber blieb völlig taub gegen die Frühgesänge. Er empfand darin wesentlich ein artistisches Aesthetentum, das ihn nichts anging" (Marianne Weber (Anm. 3), S. 463). „Die ihn aus der Bahn werfenden Krankheitsjahre hatten bis dahin verschlossene Geheimkammern seiner Seele geöffnet. Die das Fühlen immer neu vertiefenden künstlerischen Gebilde fanden jetzt Eingang. Er versenkte sich in moderne Werke allerlei Art, vor allem in Rilke und George und las nun auch seinerseits Gedichte sehr schön vor" (ebd., S. 463). Vgl. ebd, S. 468-472. Vgl. Salin (Anm. 7), S. 157. Vgl. ebd.. S. 158.
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legen wie Gustav Schmoller und Werner Sombart gelten als noch bedeutender. Später bildet sich allmählich der Mythos von Max Weber heraus als Symbol von Rationalität, seriöser Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit, als geistiger Titan. Die Karriere Max Webers als ,Mythos von Heidelberg' beginnt als Anti-George. Als solcher partizipert Weber am George-Mythos. Wie denkt Max Weber über Stefan George und seinen Kreis? Er schätzt, wie gesagt, den Dichter George, und erkennt ihn als ehrenhafte Persönlichkeit an, „den schlichten echten Ernst, mit welchem George persönlich seiner Mission gegenübersteht, und die Lauterkeit und echte Hingabe, mit welcher Gundolf seiner Sache und seinem Meister die Treue hält". 17 Er verteidigt die Georgianer auch gegen einen Schmähartikel in den Süddeutschen Monatsheften von 1910.18 Andererseits lehnt Weber bei aller dichterischen und charakterlichen Wertschätzung den elitären Habitus des Dichters, den „Personenkult" 19 , insbesondere seinen Dünkel gegenüber „den Massen" ab. Er stößt sich am prophetischen Gestus von George. Der Dichter ist aus seiner Sicht ein Romantiker, dem die Einsicht in die grundlegenden Strukturprozesse seiner Zeit fehlt, insbesondere für Kapitalismus und Demokratie. 20 Den Maximin-Kult lehnt Weber als „absurd" ab.21 George seinerseits soll die „Webersche ,Objektivität'" einen „armseligen Heidelberger Popanz" genannt haben. 22 Das Resultat dieser Gespräche: Weber ist Anti-George, George Anti-Weber, oder in den Worten von Salin: „Jeder (hatte) im andern die vollkommene Verkörperung der ihm fremdesten Wesensart erkannt". 23 So sehr Max Weber die Georgianer als Dichter und als Intellektuelle schätzt, als Gesellschaftstheoretiker nimmt er sie nicht ernst. Man kann sagen, dass George und sein Kreis Webers Wissenschaft im positiven Sinne nicht beeinflusst haben. D. h., er hat sie nicht konstruktiv rezipiert und ihre Ideen nicht in seine eigene Wissenschaft übernommen. Wissenschaftlich interessieren sie ihn allenfalls als Studienobjekt fur Sekten. Mit den kulturkritischen
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Zit. nach Marianne Weber (Anm. 3). S. 467. Vgl. ebd., S. 467f. So wird Max Weber zit. von Hildebrandt (Anm. 4), S. 180. In den Worten von Marianne Weber (Anm. 3, S. 470): „Wir können sehr weite Strecken mit Georges Jüngern gehen: mit ihrer Sehnsucht nach Einordnung des Einzelnen in ein Ganzes, nach Erlösung vom Ich-Kult; mit ihrem Bemühen um neue Formen innerer Gestaltung und ein neues .Gesetz'. Aber den Grundstein der Lehre: die Vergottung irdischer Menschen und die Religionsstiftung auf George - und das ist, wie Gundolf einfließen lässt, jetzt schon die Absicht des Kreises - erscheint uns als Selbsttäuschung von Menschen, die dem Gegenwartsleben nicht ganz gewachsen sind" (vgl. mit dem letzten Satz das einleitende MannheimZitat). Vgl. Max Weber an Dora Jellinek vom 09. Juni 1910, in: Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 6, Briefe 1909-1910, Tübingen 1994, S. 560f. Vgl. Hildebrandt (Anm. 4), S. 125. Vgl. Salin (Anm. 7), S. 157.
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Ideen der Jahrbücher für geistige Bewegung kann er politisch wie wissenschaftlich wenig anfangen. Der entscheidende Einfluss der Georgianer auf Max Webers Wissenschaft liegt in einem anderen Bereich: Sein Rollenverständnis als Wissenschaftler wird auch durch die Auseinandersetzung mit den Georgianern geprägt. Auf einem der berühmten Heidelberger soziologischen Diskussionsabende erscheint einmal Max Weber. Salin hatte den einleitenden Vortrag gehalten und [...] über die Voraussetzungen, das Verfahren und den Sinn der Geschichtsschreibung gesprochen. Gotheins waren anwesend. Alfred Weber, Gundolf und alle Heidelberger Freunde, dazu eine große Zahl von bekannten und unbekannten Hörern. Mancher ergriff das Wort. Aber nichts erschien mehr belangvoll oder gar gewichtig, als Max Weber sich erhob und in einer scharf zugespitzten, wuchtigen Rede seine Auffassung der Geschichte als Wissenschaft entwickelte - der spätere Vortrag Wissenschaft als Beruf hat diese seine Gedanken in weite Kreise getragen. Die freie Rede währte fast zwei Stunden 24 .
In der Tat liest sich Wissenschaft als Beruf streckenweise wie eine Abrechnung mit den Georgianern, wobei „die Jugend" als Chiffre fur die Georgianer steht. Weber fordert eine werturteilsfreie Wissenschaft, die „im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge" steht, die rein der Sache dient, schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit walten lässt und sich jeglicher Kathederprophetie enthält. Wissenschaft ist dagegen „nicht eine Heilsgüter und offenbarungsspendende Gnadengabe von Sehern und Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt" 25 . Diese Passage könnte auf Stefan George bezogen sein, denn dieser, so Marianne Weber, „schreibt sich Prophetenamt und Führertum zu". 26 George hatte sich selbst als , Seher' bezeichnet und wird von seinen Schülern so beschrieben. 27 Das Gegenbild zu Webers eigener Wissenschafts- und Lebensauffassung stellt „die Jugend" dar. „Die Jugend" hat sich „in den Dienst einiger Götzen gestellt": „die Persönlichkeit' und das ,Erleben'" fordert „Erlösung vom Intellektualismus, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt zurückzukommen". „haßt den Intellektualismus [...] als den schlimmsten Teufel" 24 25 26 27
Ebd., S. 162f. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., Tübingen 1973, S. 609. Marianne Weber (Anm. 3), S. 468. Vgl. ζ. B. Salin (Anm. 7), S. 37, S. 69. S. 71.
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sucht „einen Führer u n d nicht einen L e h r e r " sieht „die G e d a n k e n g e b i l d e der W i s s e n s c h a f t " als ein „hinterweltliches Reich von künstlichen A b s t r a k t i o n e n , die mit ihren dürren H ä n den B l u t und Saft des wirklichen L e b e n s e i n z u f a n g e n trachten, o h n e es d o c h j e zu e r h ä s c h e n " 2 8 Die gleiche G e g e n ü b e r s t e l l u n g von W i s s e n s c h a f t und J u g e n d , nur v o n der a n d e r e n Seite, tritt u n s in einer Textstelle entgegen, in d e r Salin G e o r g e und W e b e r vergleicht. Dort war das Höchstmaß des Wunschbilds dieses Zeitalters verwirklicht: Persönlichkeit, - Persönlichkeit mit allen Schroffen und Kanten, mit allen Begabungen und Kenntnissen, sogar mit einem edlen Feuer und mit einer ergreifenden Pflichtenstrenge - aber freudlos und glücklos [...] Hier der Meister - immer heimisch bei sich - immer Heimat seinen Söhnen - gelassen zugleich und gespannt - Persönlichkeit im tiefsten Goetheschen Sinn - der das Höchste von den Seltenen fordert: ein liebend Herz in einer ganz durchdrungenen Welt [...] Vor diesen Augen sanken alle ,Probleme' von drüben in Nichts zusammen - hier gab es keine zerlegende und zersetzende Kritik - hier webte der Zauber des Lebens und der Liebe, vor dessen Kraft die Qual jenes Einsamen verblich, der in der ,Entzauberung der Welt' seine Aufgabe, die Aufgabe der Wissenschaft erblickte. Hier herrschte statt tötender ,Objektivität' lebendige Gerechtigkeit, - Gerechtigkeit, die noch unsere jugendlich scharfe Ablehnung der Gegenwelt in Schranken wies und die jungen Verneiner der Zeit daran erinnern konnte, dass schon den älteren Freunden ein ,Lob unserer Zeit' als Warnungstafel gegen blinde Verdammung entgegengehalten wurde [...] Es lag etwas echt Tragisches darin, wie der große, verehrungswürdige Gelehrte mit seinen gewaltigen Kräften um begriffliche Klärung' und geschichtliche Sicherung' seiner ,objektiven' Wähne sich mühte, während das dichteste Leben in seiner nächsten Nähe gelebt wurde und er nur hätte zugreifen, nur die Augen hätte öffnen müssen 29 . G e o r g e w i r d b e s c h r i e b e n mit „Persönlichkeit im tiefsten G o e t h e s c h e n Sinne", ein „ l i e b e n d H e r z " , „ Z a u b e r des L e b e n s u n d der L i e b e " , „lebendige G e r e c h tigkeit", „ E r l e b n i s - W e g " . Die M a x W e b e r z u g e s c h r i e b e n e n Attribute sind h i n g e g e n „ e r g r e i f e n d e Pflichtenstrenge", „ f r e u d l o s und glücklos", „zerlegende u n d z e r s e t z e n d e Kritik", „ E i n s a m k e i t " , „ E n t z a u b e r u n g d e r Welt", „ t ö t e n d e Objektivität", „ b e g r i f f l i c h e Erkenntnis". Die T o p o i sind die gleichen, die W e r t u n g e n allerdings diametral entgegengesetzt.
28 29
Zitate aus: Max Weber. Wissenschaft als Beruf (Anm. 25), S. 591, S. 597, S. 609, S. 605, S. 595. Salin (Anm. 7), S. 158f., S. 161.
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„Weber seinerseits liebte die Fehden mit den streitbaren ,Georgianern'" so hat Salin rückblickend notiert.30 Es spricht also vieles dafür, dass Weber diese Fehde auch in Wissenschaft als Beruf ausgetragen hat. So haben die Georgianer durch ihre Auseinandersetzungen mit Max Weber sein Selbstverständnis als Wissenschaftler mit beeinflusst. Sie haben dazu beigetragen, dass Weber zu einem zunehmend restriktiveren Wissenschaftsverständnis gelangte. Dies wird deutlich im Vergleich mit seinem sogenannten ,Objektivitätsaufsatz' von 1904.31 Die frühen methodologischen Arbeiten standen maßgeblich unter der Frage: Wie kann Wissenschaft lebensbedeutsam werden? Die Antwort damals: indem sie zur Kulturwissenschaft wird, die von den großen Lebensproblemen ihrer Zeit ausgeht und wertbeziehend ihren Erkenntnisgegenstand sucht und findet. Dieser lebensbezogene Aspekt tritt bei dem späten Weber in den Hintergrund. Der Wissenschaftsbegriff wird ein restriktiver, asketischer und ein defensiver, der sich gegen unpassende Vereinnahmung durch das Leben wehrt. Die Balance zwischen der Lebensbezogenheit von Wissenschaft einerseits und ihrer Abgrenzung von Wissenschaft andererseits geht verloren. Wissenschaft und Leben werden gegeneinander ausgespielt, der Begriff des Lebens wird geradezu zum ,roten Tuch'. Diese Differenz zwischen dem ,Objektivitätsaufsatz' von 1904 und dem späten Weber ist zu einem erheblichen Teil der Auseinandersetzung mit den Georgianern zuzurechnen. Der George-Kreis hat Max Webers Soziologie inhaltlich nicht nennenswert beeinflusst. Doch sein spätes Wissenschaftsverständnis, wie es in Wissenschaft als Beruf zutage tritt, ist erheblich durch die Auseinandersetzung mit dem George-Kreis geprägt. Auch für den Mythos Max Weber ist der GeorgeKreis nicht ohne Bedeutung. Der Weber-Kult beginnt als Nebenprodukt des George-Kults mit Weber als edlem Widerpart des Meisters - einem Heroen, der zwar die falsche Weltanschauung hat, aber als einziger dem Meister auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten vermag. Die gleiche Augenhöhe konzediert auch Weber. Er stellt Wissenschaft nicht als überlegene Wissensform dar: „Stefan George und seine Schüler dienen in entscheidenden Punkten vermutlich letztlich ,andern Göttern' als ich".32
III. Alfed Weber wirkt seit 1908 in Heidelberg. Er steht in der heutigen Rezeption im Schatten seines Bruders, aber in den zwanziger Jahren ist er einer der intel30 31 32
Ebd.. S. 157. Max Weber. Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 4. Aufl., Tübingen 1973, S. 146-214. Zit. nach Marianne Weber (Aran. 3), S. 467.
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lektuell wie institutionell einflussreichsten deutschen Soziologen und der führende Kopf der Heidelberger Soziologie.33 Aber seine Kultursoziologie beginnt erst in der Heidelberger Zeit, im Alter von 40 Jahren. Davor ist Alfred Weber Nationalökonom, zunächst als Schüler der Historischen Schule Schmollers, in der er mit Untersuchungen über die Hausindustrie hervortritt, dann - eher im Rahmen der Österreichischen Schule - mit einer Reinen Theorie des Standorts. Bis Ende der 20er Jahre ist Weber in der Lehre vor allem nationalökonomisch tätig. Die Georgianer sind für Alfred Webers Lebenswelt noch bedeutsamer als für Max Weber, der ja krankheitsbedingt keine Lehrtätigkeit durchführen konnte. Zu seinem Schülerkreis zählen u.a. Edgar Salin, Arthur Salz, Erich von Kahler, Friedrich Sieburg, Werner Picht, Wolfgang Heyer und Norbert von Hellingrath. Er bezeichnet die Georgianer als seine „nettesten Hörer"34, und Friedrich Gundolf gehört zu den von ihm am meisten geschätzten Kollegen in Heidelberg. Zu diesem „unerhörten Talent"35 besteht ein regelmäßiger, vertrauter Austausch. Weber unterstützt auch Gundolf bei seiner Habilitation.36 Einmal, 1911, trifft er George persönlich. Doch ähnlich wie bei Max Weber ist das Resultat, dass man beiderseitig wenig miteinander anzufangen weiß. Als Alfred Weber gegenüber George die demokratische Entwicklung als unvermeidbar einstuft, bricht der Dichter das Gespräch ab.37 Weber billigt George
33
Dies geht insbesondere aus der umfassend recherchierten Biografie Eberhard Demms über Alfred Weber hervor. Vgl. Eberhard Demm: Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard 1990. Eberhard Demm: Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920-1958, Düsseldorf 1999. Zum Verhältnis Alfred Webers zum George-Kreis vgl. auch Eberhard Demm: Entfremdung durch .Mechanisierung' und Bürokratisierung. Die Kulturkritik Alfred Webers und des Stefan George-Kreises. In: Ders.: Geist und Politik im 20. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze zu Alfred Weber, Frankfurt a. M. 2000, S. 99-109. Zur Bedeutung Alfred Webers für die Heidelberger Soziologie vgl. auch Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München und Wien 1999.
34
Zit. nach Demm, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik (Anm. 33), S. 57. - Das Verhältnis zwischen Alfred Weber und den Georgianern war mehr als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis oder professionelle Kollegialität. Es scheint darüber hinaus persönliche und freundschaftliche Beziehungen gegeben zu haben. Dafür sprechen: a) Briefstellen und rückblickende Äußerungen Alfred Webers (vgl. auch Anm. 38), b) die Memoiren Edgar Salins, c) die Äußerungen Gundolfs im Briefwechsel mit George und d) Briefe Norbert von Hellingraths an seine Verlobte Imma von Ehrenfels. Bruno Pieger danke ich herzlich dafür, dass er mir die betreffenden Textstellen zugänglich machte.
35 36 37
Zit. nach Demm, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik (Anm. 33), S. 58 Vgl. ebd. Vgl. Alfred Weber an Else Jaffe, 7. 5. 1911. In: Ders.: Ausgewählter Briefwechsel. Zweiter Halbband. Alfred Weber. Hrsg. von Eberhard Demm und Hartmut Soell, Marburg 2003, S. 479.
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ein gutes Gespür für Gefahren der Zeit zu, hält ihn aber gegenüber der Moderne für weltfremd: „Er weiß j a im Grunde nichts vom heutigen Leben". 38 Alfred Webers Position gegenüber den Georgianern ist zunächst also die gleiche wie die seines Bruders: Er schätzt die Georgianer als Dichter, als Charaktere und geistreiche Intellektuelle, doch er lehnt den elitären Kult, das Prophetentum und die Weltfremdheit des Kreises ab. Kapitalismus, Demokratie, technischen Fortschritt und die sog. Massengesellschaft hält Alfred Weber für „unentrinnbare", irreversible Merkmale der Moderne. Doch seine Position gegenüber George ist ambivalent. 39 In einem Brief an Friedrich Gundolf vor dem Ersten Weltkrieg findet sich der bemerkenswerte Satz: „Und thatsächlich [...] fühle ich mich keinem wirkenden Menschen heute so nah und so zu Dank verpflichtet wie George." 40 Wie ist diese Aussage zu verstehen? Meine These ist, dass der George-Kreis eine wichtige Inspirationsquelle für die Kultursoziologie Alfred Webers dargestellt hat, konzeptionell wie inhaltlich. Dafür sprechen die zeitliche Koinzidenz - erst in Heidelberg beginnt Weber mit seiner Kultursoziologie -, die enge lebensweltliche Verbindung mit den Georgianern und der intensive Austausch mit ihnen, aber auch zentrale gemeinsame Topoi, mit denen George-Kreis wie Alfred Weber die moderne Welt beschreiben (Apparat, Bürokratie, Masse). Während Max Weber auf die Herausforderung des George-Kreises letztendlich mit Abgrenzung reagiert, bemüht sich Alfred Weber um eine konstruktive, produktive Rezeption, auch zu wissenschaftlichen Zwecken. Das beginnt bereits beim Wissenschaftsbegriff. Während Max Weber Wissenschaft im wesentlichen als rationales Handeln versteht, sieht Alfred darin auch kreative, ja künstlerische Tätigkeit. Die Kunst als intuitive, schöpferische Kraft soll die Wissenschaft befruchten. Die Topoi der georgianischen Kulturkritik werden zu Fragestellungen der Weberschen Kultursoziologie.
38 39
Vgl. ebd. In einem autobiographischen Rückblick von 1955 schreibt Alfred Weber rückblickend über die George-Schüler: „Ich war mit den jüngeren, innerlich so reichen und begabten Leuten, die seinem Rufe folgten, befreundet. Dieser Ruf schien mir durchaus positiv, insofern er gegenüber der kümmerlichen Alltäglichkeit, die einem gemeinsamen Gefühl entsprechend bisher die Dinge beherrscht hatte, hohe Maßstäbe verlangte und sie teilweise auch gab. Geheimstes Erbe erschien hier tatsächlich in einer neuen und bis dahin nicht gekannten Erhöhung und Erweiterung schenkenden Beleuchtung. Für bedenklich aber hielt ich diesen Ruf, insofern er gegenüber den klaren demokratischen Notwendigkeiten der Zeit einen romantischen Heroenkult nicht bloß des ,Meisters', sondern der eigenen Gemeinsamkeit mit sich brachte, welcher als lebenspraktischen Kern eine Selbstbespieglung der in die Lehre Eingeweihten enthielt, einen ausgesprochenen Snobismus der ,Auserlesenen Schar'". Vgl. Alfred Weber: Die Jugend und das deutsche Schicksal. Persönliche Rückblicke und Ausblicke. In: Wegweiser in der Zeitenwende. Hrsg. von Elga Kern, München und Basel 1955, S. 63.
40
Vgl. Alfred Weber an Friedrich Gundolf, 9.7. (1909/14). In: Ders.: Ausgewählter Briefwechsel. Alfred Weber-Gesamtausgabe Band 10. Hrsg von Eberhard Demm und Hartmut Soell, Erster Halbband, Marburg 2003, S. 116.
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Anders ausgedrückt: Die Muster georgianischer Kulturkritik tauchen in Alfred Webers Kultursoziologie als heuristische Prinzipien wieder auf. Der George-Kreis versteht sich als eine geistige Kraft, die das gesellschaftliche Dasein nach geistigen Prinzipien beeinflussen und gestalten will. Diesen gestaltenden, letztendlich politischen Anspruch transformiert Alfred Weber in sein wissenschaftliches Konzept, und zwar als heuristisches Prinzip. Die Leitfrage seiner Soziologie lautet: Wie gestaltet der Mensch als sinnhaft deutendes Wesen das Dasein seiner Zeit? Ist der Mensch nur ein Produkt seiner Umstände, oder gelingt es ihm, seine Welt nach kulturellen Maximen zu gestalten?41 Die Postulate der Georgianer nach einer neuen Kultur werden hier also zur leitenden Fragestellung. Alfred Weber versteht dies zugleich als grundlegende Vision einer neuen Soziologie. Die bisherige Soziologie habe, modern ausgedrückt, die soziale Welt nur unter den Kategorien der Zweckrationalität, des Interesses und des Klassenkampfes beobachtet. Sie habe dabei das Schöpferische, Künstlerische, Überzweckmäßige, Übervitale übersehen. Diese Sphäre begreift Alfred Weber als ,Kultur'. Sie fragt nach den soziologischen Bedingungen künstlerischer Produktivität. Er trennt sie begrifflich von zwei anderen Sphären: Zivilisation und Gesellschaft. Zivilisation' sieht er durch drei Subprozesse gekennzeichnet: allgemeine Bewusstseinsaufhellung, wissenschaftliche und technische Entwicklung. Gesellschaft' begreift er als Bereich sozialer Schichtung, funktionaler Differenzierung und materieller Interessenkämpfe. ,Kultur' bildet hingegen den Bereich religiöser, philosophischer und ästhetischer Werte, seelischen Ausdrucksstrebens und der Sinndeutung der Welt. Kultur in diesem Sinne objektiviert sich vor allem in Religion, Philosophie und Kunst, aber auch im Recht. Quelle der Kultur ist der schöpferische, produktive Mensch. Das ist ein exotischer Kulturbegriff in der Soziologie, und speziell hier dürfte der Einfluss des George-Kreises Pate gestanden haben. In Friedrich Gundolfs Aufsatz Wesen und Beziehung (1911) finden wir folgende Sätze über Kunst und Technik: N i c h t s aus d e m z w e c k [aus der b e z i e h u n g auf etwas] e n t s t a n d e n e k a n n kunst sein. A l l e kunst entsteht z w e c k l o s aus p r i m ä r e r fülle: d a s s sie n a c h h e r z u z w e c k e n anw e n d b a r ist, ist gleichgültig. N i e m a l s k a n n d a s n ü t z l i c h e als solches s c h ö n sein, j a es soll nicht schön sein, s o w e n i g das s c h ö n e nützlich sein soll. D a s s c h ö n e ist ein u r p h ä n o m e n [...] A b e r n i e m a l s entsteht aus z w e c k e n eine w e i t des s c h ö n e n , u n d alle h y m n e n auf die w u n d e r der m o d e r n e n t e c h n i k u n d die Schönheit der m o d e r n e n
41
Vgl. dazu Victor J. Willi: Das Wesen der Kulturhöhe und der Kulturkrise in der kultursoziologischen Sicht Alfred Webers, Paris, Luzern, Opladen 1953. Roland Eckert: Kultur, Zivilisation und Gesellschaft. Die Geschichtstheorie Alfred Webers, Tübingen 1970. Volker Kruse: Soziologie und „Gegenwartskrise". Die Zeitdiagnosen Franz Oppenheimers und Alfred Webers, Wiesbaden 1990. Volker Kruse: Warum scheiterte Alfred Webers Kultursoziologie? Ein Interpretationsversuch. In: Soziologie, Politik und Kultur. Von Alfred Weber zur Frankfurter Schule. Hrsg. von Eberhard Demm, Frankfurt a. M. 2003, S. 207-233.
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eisenkonstruktionen sind Selbstbetrug und hohlere romantik als j e d e ruinensentimentalität.. W a s sich rechnen und machen lässt ist kunstfern, nie wird aus der technik kunst 4 2 .
Hier wird eine scharfe ontologische Unterscheidung getroffen zwischen Technik als dem Bereich des Zweckmäßigen, Nützlichen und Kunst als Bereich des Zweckfreien. Damit ist der ursprüngliche Kern von Webers Kultursoziologie formuliert: die Unterscheidung zwischen Zivilisation als dem Bereich des Zweckmäßigen und Kultur als Bereich des Überzweckmäßigen, Schöpferischen. Diese Unterscheidung taucht bei Alfred Weber erstmals auf in einem Vortrag auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag vom 20. 12. 1912,43 also nach dem zitierten Aufsatz Friedrich Gundolfs. Der Begriff der ,Gesellschaft' als dritter Sphäre neben Zivilisation und Kultur tritt dann erst ab 1920 in Erscheinung. Ein anderer wichtiger Bereich neben dem kultursoziologischen Konzept ist die Zeitdiagnose der modernen Gesellschaft. Diesem Bereich hatten sich auch die Georgianer gewidmet, und zwar vor allem in den Jahrbüchern für die geistige Bewegung 1910 bis 1912. Welche Berührungspunkte gibt es zwischen der Zeitdiagnose Alfred Webers und der Kulturkritik des George-Kreises? Der George-Kreis versteht sich als geistige Elite, welche eine kulturelle Wiedergeburt aus dem Geist der alten Griechen, Dantes, Goethes und Nietzsches anstrebt. Damit verbunden ist eine strikte Ablehnung der Moderne. Seine Kulturkritik lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:44 1.
2.
42 43
44 45 46
Fortschritt. Fortschritt als Lebensrealität wie als geistiges Prinzip wird grundsätzlich abgelehnt. Fortschritt ist der Feind aller Kultur, in deren Namen sich die Georgianer sehen: „Der fortschritt ist das geborene hindernis der kultur. Alle arbeit die in seinem zeichen geschieht, von seinem geist ihre approbation erhält, ist schlechtweg kulturwidrig".45 Fortschrittsdenken ist „eine bedenkliche allgemeine erkrankung des geistes"46 Wissenschaft: Die moderne Wissenschaft ist lebensfeindlich. Sie dient dem Leben nicht, sondern sie unterjocht es. „Die Wissenschaft hebt heut nicht nur ihre eignen grundlagen auf, sondern wird sogar schädlich durch die auflösung (Analysis!) aller sub-
Vgl. Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. In: Jb II 10-35, hier S. 33. Der Vortrag unter dem Titel Der soziologische Kulturbegriff ist abgedruckt in: Alfred Weber: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906-1958), Marburg 2000 (Alfred WeberGesamtausgabe, Bd. 8), S. 60-75. Zur Darstellung der Kulturkritik des George-Kreises im Vergleich mit Alfred Weber vgl. Eberhard Demm, Entfremdung durch .Mechanisierung' und Bürokratisierung. (Anm. 33) Vgl. Berthold Vallentin: Zur Kritik des Fortschritts. In: Jb 149-63. Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters: Einleitung der Herausgeber. In: Jb III III-VIII.
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stanzen aus denen allein der mensch und sie selbst sich nähren kann". 47 3. Kapitalismus: Der Kapitalismus als abzulehnende Gesellschaftsform der Moderne ist eine Folge des Protestantismus, wie „durch die klassische schrift max Webers unwiderleglich begründet" wurde. „Überall wo die protestantische form des Christentums eingang findet kapitalisiert, industrialisiert, modernisiert sie die Völker"48 4. Technik. Die Technik hat nicht zur Herrschaft des Menschen über die Natur geführt, sondern zur „unbarmherzigen verknechtung des menschen durch seine Werkzeuge".49 5. Arbeit: Die Arbeit ist nicht mehr um des Menschen willen, sondern der Mensch ist um der Arbeit willen da: „das hat längst zur einengung und verkrüpplung gefuhrt". 50 6. Die Masse: Die Masse ist eine Gefahr für die Menschheit, zum einen durch ihre Quantität im Zuge der Bevölkerungsvermehrung, zum anderen durch ihre Qualität. Sie steht in keiner Beziehung mehr zu ihrer kulturellen Elite und führt zu einer Artverschlechterung der Menschheit. 51 Die Ablehnung der Masse impliziert auch eine Ablehnung der Demokratie. 7. Humanität: Die moderne Humanität fuhrt zu einer „verschwächung und verkrüpplung des ganzen menschtums". 52 8. Frau: Die Frauenemanzipation wird abgelehnt: „wir befeinden nicht die frau, sondern die ,moderne frau', die stückhafte, die fortschrittliche, die gottlos gewordene frau". 5 '' 9. Große Männer: Das Fortschrittsdenken ignoriert die „großen Männer" und ihre Großtaten. 10. Freundschaft: Die Sozialform der Freundschaft wird durch das do ut des-Prinzip ersetzt.54 Diese Figuren finden sich auch mehr oder weniger in der Zeitdiagnose Alfred Webers, aber sie werden anders bewertet und interpretiert. Alfred Weber teilt mit dem George-Kreis ein Unbehagen gegenüber dem Fortschritt, aber es ist nicht so massiv, und er artikuliert dieses Unbehagen kaum. Vielmehr beharrt er wie sein Bruder darauf, dass im Bereich von Wis47 48 49 50 51 52 53 54
Vgl. ebd., S. Ulf. Vgl. ebd., S. VII Vgl. Friedrich Gundolf (Anm. 42), S. 15. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 33, vgl. Gundolf/Wolters (Anm. 46), S. V. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. Vf. So sinngemäß in: ebd., S. Vif.
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senschaft und Technik Fortschritt ein unentrinnbarer Modus geschichtlicher Bewegung ist. Daher lehnt er die obstruktive Haltung der Georgianer gegenüber dem Fortschritt ab. Es ist sinnlos, den Fortschritt zu bekämpfen. Es ist nicht so, dass der Fortschritt die Kultur notwendigerweise zerstört. Vielmehr ist es Aufgabe, Fortschritt kulturell einzubetten, also in einen normativen Rahmen zu stellen, der dem Fortschritt kulturelle Richtung und Ziel gibt. Ein solcher normativer Rahmen ist ζ. B. das Recht. Eine kulturelle Einbettung ist aus Webers Sicht grundsätzlich möglich, denn die Quelle kultureller Produktivität ist die seelische Spontaneität. Diese stellt eine anthropologische Konstante dar und ist als solche prinzipiell unzerstörbar. Die kulturelle Produktivität kann zeitweise weitgehend verschwinden, aber sie kann sich auch immer wieder neu entzünden, wie die Geschichte lehrt. Das ist das Thema von Alfred Webers Hauptwerk Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935/1950). Die Kritik der Georgianer an der Geisteswissenschaft, dass sie nur analytisch zergliedert, toten Wissensstoff anhäuft und nicht zu Synthesen in der Lage ist, nimmt Weber jedoch auf. Noch in seiner späten Einführung in die Soziologie (1955) warnt er vor ,,lebensfremde[m] Alexandrinismus". Vor allem beherzigt Weber die Kritik der Georgianer dadurch, dass er versucht, eine umfassende Zeitdiagnose zu entwickeln, die schließlich in sein universalgeschichtlich angelegtes Hauptwerk Kulturgeschichte als Kultursoziologie mündet. Sein wissenschaftliches Ziel ist die ,Synthese' in Gestalt einer historischsoziologischen Zeitdiagnose. Was für den Fortschritt insgesamt gilt, betrifft auch den Kapitalismus insbesondere. Weber erkennt an, dass der Kapitalismus die fundamentale gestaltende Macht der Moderne darstellt. Er ist als solcher irreversibel; es ist unvernünftig, das System als solches zu bekämpfen. Doch es ist sehr wohl möglich, die kapitalistische Dynamik in kulturell gewollte Bahnen zu lenken, z.B. durch sozialpolitische Gesetzgebung. Das bedeutet eine Absage an eine prinzipielle Obstruktionshaltung. Doch interessant in diesem Kontext ist, wie Alfred Weber die soziale Frage sieht. In seinen frühen Wissenschaftlerjahren ist sie eher eine Sache materieller Notlagen, ζ. B. zur Hausindustrie. Im Jahr 1913, also in einer Zeit enger und vielfaltiger Kontakte mit den Georgianern, definiert er hingegen die „heutige soziale Frage" als „die Frage der Rettung der Persönlichkeit vor Absorption im Apparat." 55 Der Begriff der „Masse" stellt ein tragendes Teil der Weberschen Kultursoziologie dar. Doch ist er nicht in einem kulturkritischen Sinne wie bei George gemeint. Es geht Weber um eine sozialstrukturelle Perspektive. Masse bezeichnet den entstrukturierten Zustand der Gesellschaft nach Auflösung traditioneller Sozialformen (Zünfte etc.) im Zeichen der rapiden Bevölke-
55
Alfred Weber: Neuorientierung in der Sozialpolitik? In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 36 (1913), S. 10. Vgl. dazu auch Kruse (Anm. 41), S. 237-250.
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rungsvermehrung im 19. Jahrhundert. Als solche ist sie eine Realität, an der man nicht vorbeisehen und die man nicht aus der Welt schaffen kann. Vielmehr möchte Weber Georges Idee der Persönlichkeit auch in die Arbeiterschaft hineingetragen sehen. Entsprechend zielen seine sozialpolitischen Reformvorschläge darauf ab, Freiheit und Selbstverantwortung des Arbeitermenschen zu stärken. 56 Zur Realität der modernen Gesellschaft gehört auch die „Bewusstseinsaufhellung der Massen". Damit ist gemeint, dass die Menschen der unteren Schichten vor allem durch verbesserte Schulbildung, aber auch durch die Ideen der Französischen Revolution und des Sozialismus ihr Schicksal zunehmend selbst in die Hand nehmen wollen. Aus dem Prozess der „Bewusstseinsaufhellung der Massen" folgt wiederum, dass eine moderne Demokratie, an der die unteren Schichten partizipieren, „unentrinnbar" ist. Weber ist keineswegs Demokrat aus Leidenschaft und ideeller Überzeugung. Sein Ideal ist das einer geistigen Elite. In dieser Hinsicht steht er George prinzipiell nahe und könnte auch von ihm beeinflusst sein. Doch in zwei Punkten unterscheidet er sich vom Dichter. Er lehnt den Führer- und Prophetenkult um George ab und er erkennt die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit des demokratischen Prinzips an. Seine demokratische Einstellung vor und nach dem Ersten Weltkrieg ist weniger Produkt ideeller Überzeugung als Resultat soziologischer Einsicht. Er ist das, was man in der Weimarer Republik ,Vernunftrepublikaner' nannte, aber in Webers Fall weniger aus politischer Pragmatik als aus soziologischer Erkenntnis. Erst unter dem Eindruck des Dritten Reiches wird Alfred Weber auch zum voll idealistischen Demokraten. Diese Ambivalenz von geistiger Elite aus Neigung, Demokratie aus Einsicht kommt sehr deutlich in Alfred Webers Demokratietheorie der 1920er Jahre zum Ausdruck. Weber suchte nach einer neuen politischen Form, die „nur eine Synthese zwischen dem geistig inhärenten Freiheitsbewusstsein der Massen darstellen kann und der Notwendigkeit der Unterordnung unter eine überragende Führung; fur politische Gesundung, eine solche, welche die Realitäten kennt und berücksichtigt, aber doch Geistiges, nicht bloß Materielles sieht, und auch im Materiellen geistiges Vollbringen hat". 57 Zu den Realitäten gehörten neben der Bewusstseinsaufhellung der Massen die Eigentendenzen parteipolitischer Großorganisation, wie sie Robert Michels als „Oligarchisierung" beschrieben hatte. Letztere machten die Vorstellung, alle Staatsbürger könnten in gleicher Weise an den politischen Entscheidungen teilhaben, illusorisch. Darüber hinaus sah Alfred Weber den Dualismus von Führung und Geführtsein, von Führern und Geführten als eine universale soziologische Gege56 57
Vgl. ebd. Vgl. Alfred Weber: Die Krise des Modernen Staatgedankens in Europa (zuerst 1925). In: Ders.: Alfred Weber Gesamtausgabe. Politische Theorie und Tagespolitik (1903-1933). Hrsg. von Eberhard Demm, Bd. 7, Marburg 1999, S. 319.
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benheit. Es bleibe nur der Weg der „unegalitären Demokratie", der „Führerdemokratie".58 Der Sinn einer Demokratie könne nur darin bestehen, dass die Masse der Staatsbürger eine politische Führung wähle, in welcher die besten Köpfe des Volkes vertreten sind. Es geht in dieser Konzeption nicht um Volkssouveränität und größtmögliche Partizipation des einzelnen Bürgers. Es geht um die Frage, wie unter den Bedingungen der „Tatsache des Eigengewichts und der Eigentendenzen, welche die modernen Organisationsmaschinen als Sozialerscheinungen, als Aufbaufaktoren des Gesellschaftlichen, Wirtschaftlichen und Politischen nun einmal haben, [...] geistig überragende Führer oder Führerschichten aus ihnen hervorgehen, die ihrer Herr werden und sie durchtränken können"59 An anderer Stelle hat Alfred Weber sein Anliegen in dem Satz zum Ausdruck gebracht: „Das Entscheidende ist das Geistige, das alles Überragende so stark zu machen, dass es wieder lenkt."60 Dem hätte wohl auch ein Georgianer zustimmen können. In gewisser Weise kann man Alfred Webers Kultursoziologie als Versuch interpretierten, Ideen des George-Kreises einer kulturellen Erneuerung einen soziologischen Rahmen zu geben, der die Eigengesetzlichkeiten moderner Gesellschaft beschreibt und berücksichtigt. Weber steht vielen Ideen Georges etwa zu Persönlichkeit, Elite, Synthese grundsätzlich wohlwollend gegenüber. Aber er furchtet, dass sie unproduktiv verpuffen, wenn sie einer soziologischen Gesamtanalyse der Zeit entbehren. So gesehen, kann man seine Kultursoziologie in gewisser Weise als Versuch deuten, den Ideen des George-Kreises einen soziologischen Unterbau zu verschaffen. Zusammenfassend ist festzustellen: Die Georgianer zählen zu den wichtigen geistigen Quellen von Alfred Webers Kultursoziologie. Ihr Einfluss verbindet sich mit den Philosophien Nietzsches und Bergsons. Er betrifft • • • •
die Konzeption von Wissenschaft als künstlerisch-kultureller Tätigkeit die Konzeption von Kultur, vor allem in ihrem elitärpersonalistischen Zuschnitt (,Genius') die Topoi, weniger die Inhalte von Kultursoziologie und Zeitdeutung ein Unbehagen am aktuellen Zustand von Gesellschaft und Kultur
Es fällt auf, dass dort, wo Alfred Webers Konzeptionen und Ideen in der Soziologie singulär da stehen, die Affinitäten mit den Georgianern besonders stark sind. Zweifellos hat der George-Kreis für die Entstehung von Alfred
58 59 60
Vgl. ebd., S. 321. Vgl. ebd., S. 319. Vgl. Alfred Weber, Deutschland und die europäische Kulturkrise (Anm. 57), S. 481
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Webers Kultursoziologie wichtige Impulse geliefert. Das sollte aber nicht dazu veranlassen, den Grad der sachlichen Übereinstimmung zwischen Alfred Weber und George-Kreis zu überschätzen. Mit Alfred Webers Kultursoziologie ist der Höhepunkt des georgianischen Einflusses auf die Soziologie erreicht. Bei Karl Mannheim, dem dritten großen Heidelberger Soziologen, ist kein direkter georgianischer Einfluss feststellbar. In einem indirekten Zusammenhang mit George kann man Mannheims Theorie der ,freischwebenden Intelligenz' sehen. Der Begriff der freischwebenden Intelligenz geht auf Alfred Weber zurück.61
IV. Zum Abschluss sei versucht, ein provisorisches generalisierendes Fazit zum Einfluss des George-Kreises auf die Entwicklung der deutschen Soziologie zu ziehen. (1) Die personelle Repräsentanz des George-Kreises in der Soziologie ist nur marginal. Georgianer unter den Soziologen waren Wilhelm Andreae (in Graz)62, Edgar Salin, Kurt Singer und Herman Schmalenbach. Andreae war zunächst Philologe und ist später zur Soziologie gewechselt. Er ist heute unbekannt. Salin, Nationalökonom, Schüler Alfred Webers, hat auch soziologisch und kulturwissenschaftlich gearbeitet, aber er ist kaum als Soziologe wahrgenommen worden - bis heute. Gleiches gilt für Kurt Singer.6j Schmalenbach kann nur bedingt als Georgianer bezeichnet werden, weil er von George nicht voll akzeptiert wurde.64 Aber seine Theorie des Bundes, die Ferdinand Tönnies' Konzept von Gemeinschaft und Gesellschaft um eine dritte Kategorie ergänzt, darf wohl als bedeutendster soziologischer Beitrag des GeorgeKreises gewertet werden.65
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Mannheim: Ideologie und Utopie, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1969 (zuerst 1929). Vgl. Hildebrandt (Anm. 4), S. 174. Zu Salin und Singer vgl. den Beitrag von Bertram Schefold. Vgl. Hildebrandt (Anm. 4), S. 66; Michael Landmann: Georg Simmel und Stefan George. In: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Hrsg. von HeinzJürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1984, S. 162. Lepenies (Anm. 2). S. 338. Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1 (1922), S. 35-105. Raymond Aron kommentierte seinen Beitrag wie folgt: „In einem hervorragenden Artikel hat Schmalenbach [...] der natürlichen Vereinigung der Gemeinschaft den gefühlsmäßig-enthusiastischen Bund gegenübergestellt. Die Gemeinschaft gründet sich auf Blutsbande und gemeinschaftliches Leben, sie ist unbewusst und geistig und die Individuen werden sich ihrer erst bewusst, wenn sie bedroht ist. Der Bund geht dagegen aus einem plötzlichen Obereinkommen, einer Erneuerung, einer kollektiven Begeisterung hervor. Kirchen sind Gemeinschaften, Sekten, Bünde. Die Gemeinschaft ist ein alltägliches Phänomen, sie gehört in die Ordnung der Familie; der Bund fällt in
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Volker Kruse
(2) Die Wirkung des George-Kreises auf die Soziologie war primär eine ,negative' in dem Sinne, dass Soziologie sich vorwiegend in Abgrenzung zu dessen Ideen entwickelte. Damit trug der George-Kreis zur Identitätsfindung der entstehenden Wissenschaft bei. Soziologie sollte eine Wissenschaft sein, die sich strikt auf die Analyse des empirisch Gegebenen konzentriert. Weiterhin wird von den Soziologen anerkannt, dass Industrialisierung, Kapitalismus, Demokratie und Bürokratisierung unentrinnbare, irreversible Prozesse darstellen. Auch die Sichtweise auf die Georgianer war weitgehend einheitlich. Bei aller persönlichen und intellektuellen Wertschätzung im Einzelfall wurden sie als rückwärtsgerichtete Romantiker angesehen. (3) Ungeachtet dessen ist von einem erheblichen inhaltlichen Einfluss von Georgianern auf die Soziologie auszugehen. Dieser erfolgte vor allem über Georg Simmel und Alfred Weber. 66 Die Georgianer sind als Teil der lebensphilosophischen Einflüsse auf die Soziologie anzusehen, und sie verstärkten und katalysierten sie. Sie begünstigten die kulturwissenschaftliche Wende in der deutschen Soziologie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ihre Ideen gingen maßgeblich in das kultursoziologische Konzept Alfred Webers ein und prägten dessen zeitdiagnostische Fragestellungen. Über Georg Simmel und Alfred Weber könnten georgianische Einflüsse indirekt auch auf andere Soziologen gewirkt haben.
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den Bereich des Außerordentlichen und gründet sich auf Freundschaft. Der Begriff des Bundes ermöglicht es uns ebenso wohl bestimmte Formen des primitiven Religionslebens wie die Jugendbewegung oder den Nationalsozialismus zu verstehen: Vereinigungen im Glauben, im Aufstand gegen Familie oder Gesellschaft und in der Liebe zu einem Führer. Alle diese Gruppen haben weder mit der Evidenz der Blutsbande noch mit der klaren Vernunft rechtlicher Vertragsgebilde etwas zu tun." (Raymond Aron: Deutsche Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1950, S. 21f ). In diesem Sinne wäre der Stefan George-Kreis, von dem Schmalenbach möglicherweise inspiriert wurde, ein typisches Beispiel für die Sozialform des Bundes. Insbesondere der Einfluss Stefan Georges auf die Soziologie Simmeis bedarf weiterer Forschungen. Vgl. einstweilen Landmann (Anm. 64); Lepenies (Anm. 2), S. 335-357; Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 169-183.
Gert Mattenklott
Walter Benjamin und Theodor W. Adorno über George Die Erinnerung an George, sagt Benjamin 1928 auf eine Anfrage der Literarischen Welt zum 60. Geburtstag, sei für ihn die Erinnerung an diese oder jene unter den Freundinnen und Freunden seiner Jugend, die sich bei gewissen Gelegenheiten dieser oder jener Verse Georges erinnert hätten. Viele davon seien nicht mehr am Leben, doch würden sie noch immer „auf einem Feld der Ehre [blühen], wo man nicht fällt." 1 Diese Unsterblichkeit ist dergestalt mit Versen Georges verbunden, wie die Ewigkeit des Gedankens mit einem Epitaph, bei dessen Lektüre es sich erneuert. Über die Gedichte im einzelnen sagt Benjamin bei dieser Gelegenheit nichts weiter, gerade dass er ihre Titel mitteilt. Es ist immerhin ein Ehrenfeld, das dergestalt im Zeichen Georges steht; 1928 im Zeichen einer verlorenen Jugend. Ein Jahr zuvor hatte George den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main erhalten. Den Vorschlag hatte überraschenderweise der Germanist Franz Schultz eingebracht, nach literarischen Vorlieben und Habitus dem Kreis um George denkbar fern. In seiner Begründung heißt es: „Wer viel mit jungen Leuten zusammenkommt, weiß, dass die Verse Stefan Georges in diesen Leuten leben. Der ganze Geist der Jugendbewegung ist stark nach George gerichtet, der die Dinge vom Geistigen aus lösen will." 2 Es ist derselbe Schultz, der zwei Jahre zuvor seine Unzuständigkeit für die Habilitation Benjamins in Frankfurt erklärt hatte. Bekanntlich war dann auch die Vergabe des Goethe-
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Walter B e n j a m i n in: Die Literarische Welt v o m 13.7.1928. W i e d e r in: G e s a m m e l t e Schriften. Hrsg. unter M i t w i r k u n g v o n T h e o d o r W . A d o r n o und G e r s h o m S c h o l e m von R o l f Tiedem a n n u n d H e r m a n n S c h w e p p e n h a u s e n F r a n k f u r t 1972ff. Bd. II, 2, S. 623. Zitiert aus Archivmaterialien nach: Erwin Walter Palm: Spuren in Frankfurt. In: Die W i r k u n g Stefan Georges a u f die W i s s e n s c h a f t . Ein S y m p o s i u m . Hrsg. v o n H a n s - J o a c h i m Z i m m e r m a n n , Heidelberg 1985 ( S u p p l e m e n t e zu den Sitzungsberichten der Heidelberger A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n . Philosophisch-historische Klasse B d . 4, Jg. 1984), S. 73-76; zitiert von S. 73. A u f das E c h o Georges i m F r a n k f u r t e r Institut f ü r S o z i a l f o r s c h u n g geht Palm nur mit einem Satz ein: „Dass G e o r g e a u c h über die Philologen h i n a u s wirkte, beweist die Tatsache, dass selbst A d o r n o sich zeitweilig zu George-Gedichten hingezogen f ü h l t e . " (S. 75f.)
Gert Mattenklott
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Preises an George umstritten. Ein Wissenschaftler gab am Ende den Ausschlag, der preussische Kultusminister C. H. Becker/ Wolfgang Schivelbusch hat in seinen Studien zur Frankfurter ,Intellektuellendämmerung' der zwanziger Jahre die Soziologen um das Frankfurter Institut fur Sozialforschung und die Georgianer als ,linke' und ,rechte' Pole charakterisiert: „Konzentrierte sich die Soziologie in Frankfurt vor allem auf die Ideologiekritik, so stand im Mittelpunkt des Interesses der Georgianer der Mythos; der Gesellschaft, mit der die Soziologen die Welt erklärten, stellten die Georgianer die gebildete Elite, dem rationalen Begriff die ,innere Schau' entgegen." 4 Quer zu diesem Schema steht die Beziehung der Opponenten zur Jugendbewegung, in der die späteren politische Oppositionen zwar vielfach angelegt, aber unentfaltet geblieben waren. Sie kommt in der ambivalenten Haltung George und seinem Kreis gegenüber auch bei Wissenschaftlern zum Ausdruck, deren epistemologische Tendenz eher gesellschaftswissenschaftlich bestimmt war, ohne dass sie sich in ihren ästhetischen Vorlieben von den jugendbewegt bestimmten Sympathien gänzlich abgewandt hätten. Adorno und Benjamin standen damit nicht allein. 5 Ich komme noch einmal auf Benjamins Wanderung über das Ehrenfeld der früh Gefallenen zurück. Die Erinnerung an Verse Georges lässt ihn jäh stutzen: „Aber wie Geister ungeborner Stunden, versäumter Möglichkeiten stehen zuletzt noch einige Gedichte seitab, die sich nur immer allein mir erschlossen: Merkzeichen dessen, was möglich gewesen wäre, wären Einsamkeit und Versäumnis nicht das Notwendige." 6 Was hat Benjamin von George gekannt? Wohl ziemlich alles. Was hat er geliebt? Darüber wissen wir viel weniger, mit Sicherheit aber liebte er diese Verse aus dem Buch der sagen und sänge: D a s lied d e s z w e r g e n
I G a n z kleine vögel singen • G a n z kleine blumen springen • Ihre glocken klingen.
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ebd. Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt a.M. 1982, S. 15. So hat beispielsweise Alfred Kurella noch als kulturpolitischer Funktionär der DDR die vermeintlichen Attacken auf George in meinem Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George (München 1970) in persönlichen Äußerungen dem Vf. gegenüber temperamentvoll abgewehrt; ebenso Gershom Scholem, zu Kurella politisch konträr, aber wie dieser in ambivalenter Erinnerung an die eigenen jugendbewegten Anfänge. Benjamin (Anm. 1), S. 624.
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Auf hellblauen heiden • Ganz kleine lämmer weiden • Ihr fliess ist weiss und seiden. Ganz kleine kinder neigen Und drehen sich laut im reigen Darf der zwerg sich zeigen?
II Ich komme vom palaste Zu eurer kinder tanz In ihrem frohen kränz Will eines mich gaste? Der ich mich scheu verberge Ich habe krön und thron • Ich bin der feien söhn Ich bin der fürst der zwerge.
III Dir ein schloss • dir ein schrein Fülle aller schätze und ihr glänz sei dein! Dir ein schwert • dir ein speer Zarter gunst der schönen sei dein weg nie leer. Dir kein rühm • dir kein sold Dir allein im liede liebe und gold • (GA III 79-81)
„Diese Gedichte", so schreibt Benjamin in der Literarischen Welt über Das Lied des Zwergen und die Entführung, „vergleiche ich im Massiv des Deutschtums jenen Spalten, die nach der Sage nur alle tausend Jahre sich auftun und einen Blick ins innere Gold des Berges gewähren."7 Mindestens zweimal noch erwähnt er Das Lied des Zwergen ausdrücklich: einmal in seinem Rückblick auf Stefan George 1933, wo er es - wiederum zusammen mit der Entführung aus dem Jahr der Seele - vom Bittersten ausgenommen wissen will, was er je über George geschrieben habe.8 Es ist das Jahr, in dem er gelegentlich jede freie Minute der Kindheit um 1900 widmet. Eine weitere Erwähnung, ebenfalls bereits aus dem Exil, steht im Briefwechsel mit Adorno über dessen Aufsatz
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Ebd., S. 623. Walter Benjamin: Rückblick auf Stefan George [1933], In: GS III, S. 392-399, hier S. 398.
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George und Hofmannsthal (1938/39), auch dort wieder in einem Atemzug mit der Entführung·. „Gern hätte ich Ihre Ansicht über Anklänge aus der Kinderwelt gefunden, wie sie, verloren, bei George vorkommen, im „Lied des Zwergen" oder in der „Entfuhrung".9 - Eine Erinnerung an das letzte Verspaar aus dem dritten Lied des Zwergen: „Dir kein rühm • dir kein sold - / Dir allein im liede liebe und gold" scheint mir schließlich in das Motto auf dem Titel der unter dem Pseudonym Detlef Holz, Luzern 1935, erschienenen Briefsammlung Deutsche Menschen eingegangen zu sein: V o n Ehre ohne R u h m V o n Größe ohne Glanz Von W ü r d e ohne Sold. 1 0
Hier scheint die Erinnerung an die bürgerliche Frühzeit, Thema dieser Briefanthologie, die Brücke zu den Zwergenliedern zu schlagen. Erinnerung an eine Kindheit auf Goldgrund ohne Ruhm, Glanz und Sold sowie die Verheißung eines Feenreiches „allein im liede" ist auch das Thema der Entführung: Zieh mit mir geliebtes kind In die wälder ferner künde Und behalt als angebind N u r mein lied in deinem munde. (GA IV 64)
Dass Hoffnung für die eigene Gegenwart, wenn überhaupt, dann am ehesten aus den für den Erwachsenen verlorenen, noch namenlosen Bildern gewonnen werden kann, in denen ein Kind sie sich träumt, ist fest in Benjamins Vorstellungswelt verankert. Seine Berliner Kindheit um 1900 ist einer Sammlung von emblematischen ,picturae' unter einer ,scriptura' vergleichbar, wie er sie wie einen solchen Sinnspruch mehrfach aus Ibsens Brant zitiert: „Glück wird aus Verlust geboren / Ewig ist nur, was verloren." Erinnerung hat hier einen anderen Charakter als den einer historischgenetischen Rekonstruktion der Gegenwart. Denn aus den Bildern der Kindheit wird gerade das gewonnen, was in keiner Gegenwart wirklich geworden ist. So arbeitet das Gedächtnis zwar daran, den Anfang wiederzugewinnen, überhaupt das Einzige worüber sich zu reden lohnt, denn alles Spätere war immer schon weniger. Doch dieses Erste und Frühe, das ein Anfang hätte sein können - die Ahnung eines glücklichen Lebens - gewinnt für den Erwachsenen
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Walter Benjamin: Gesammelte Briefe VI, 1938-1940, Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2000, Brief aus Paris vom 7.5.1940 (Nr. 1361), S. 448. Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen. Auswahl und Einleitungen von Detlef Holz. Luzern 1935, Einband. Titelprägung.
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erst beim Verlust seiner möglichen Wirklichkeit Gestalt: in den Formen der Kunst. Die Diminuitive der kindlichen Phantasie, denen Benjamin in ihren vielerlei Formen - etwa in seinem ,Orbis Pictus' oder überhaupt bei seinem Sammeln von Kinderbüchern - nachspürt, werden für den Erwachsenen zur symbolischen Form eines philosophischen Minimalismus, der seine Wahrheiten am besten in den künstlichen Miniaturen der Feen- und Zwergenwelt aufgehoben sieht. Wenn es denn eine Affinität Benjamins zu George gibt, die seinen frühen Enthusiasmus für dessen Verse noch bis in die letzten Lebensjahre überdauert, so ist es die des Künstlerphilosophen in der Erinnerung an „erster sehnsucht fabelwesen", wie sie Georges Bilderwelt im Jahr der Seele vor Augen fuhrt. An die künstlichen Paradiese der Landschaften dieses Zyklus erinnert sich 1933 dankbar der Emigrant auf Ibiza zu eben der Zeit, als er die Entgrenzungsversuche der Neuen Mythologie um Maximin im Siebenten Ring als unproduktive Flucht aus der Moderne geißelte.11 In der Tat, Benjamins Verhältnis zu George ist leidenschaftlich ambivalent nach beiden Richtungen, und wie sehr er den Dichter des Symbolismus, vor allem den im Jahr der Seele, den Übersetzer Dantes und Baudelaires verehrt, so entschieden ist seine Ablehnung gegenüber dem meisten danach. Die polemische Härte, ja Verachtung, mit der er sie ausgerechnet zum 65. Geburtstag Georges in einem Festartikel ausspricht, bringt dieses Verhältnis in einer Abbreviatur zum Ausdruck. Ich bin weit vorausgeeilt. Will man die „Hassliebe"12 im Rückblick auf George verstehen, so sollte man zuerst an Benjamins Anfange denken. Die Enttäuschung über die spätere Entwicklung Georges kommt im Rückblick und den Briefen dieser Zeit umso heftiger zum Ausdruck, als sie den Autor zu einer peinlichen Befragung seiner frühen Verehrung nötigt, von der viele Briefe aus der Studentenzeit zeugen. (Daniel Weidner hat einige zitiert und kommentiert.13) Öffentlich ist sie in einem Artikel geworden, den Benjamin unter dem Titel Das Leben der Studenten 1915 publiziert hat. Er geht auf zwei Vorträge aus dem Jahr 1914 in Berlin und Weimar zurück, die er als soeben gewählter Vorsitzender der Berliner ,Freien Studentenschaft' gehalten hat. Nicht bereits bei dieser Gelegenheit und auch nicht im Erstdruck 1915 im Neuen
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Vgl. den Brief Benjamins an Gretel Karplus aus Ibiza vom 10.6.1933 (Nr. 790). Gesammelte Briefe IV, 1931-1934. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1998, S. 231-232. Die Freundin Benjamins Jula Radt-Cohn hatte in einer brieflichen Reaktion an den Autor des Rückblick vom „Pathos und der Hassliebe" darin gesprochen. Der Brief schließt mit den Sätzen: „Außerdem finde ich ja, wie bei all Deinen letzten Arbeiten, das Persönliche so sehr im Vordergrund, dass alles wie ein Tagebuchblatt wirkt, und nicht darüber hinaus. Du weißt, oder weißt es nicht, dass ich immer etwas enttäuscht bin, wenn ich etwas von Dir lese." (Benjamin (Anm. 11) Anm. zu Nr. 799, S. 265 f.). Daniel Weidner: Geschlagener Prophet und tröstender Spielmann: Stefan George, gelesen von Walter Benjamin. In: Zeitschrift fiir Germanistik N.F. 8 (1998), S. 145-152.
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Merkur von Efraim Frisch, wohl aber in der endgültigen Druckfassung desselben Jahrs14 in Kurt Hillers Jahrbuch Das Ziel endet Benjamin seinen programmatischen Aufruf mit Versen Stefan Georges: Erfinder rollenden gesangs und sprühend Gewandter Zwiegespräche : irist und trennung Erlaubt dass ich auf meine dächtnistafel Den frühern gegner grabe - tu desgleichen ! Denn auf des rausches und der regung leiter Sind beide wir im sinken · nie mehr werden Der knaben preis und jubel so mir schmeicheln Nie wieder strofen so im ohr dir donnern.
Es sind die H.H. überschriebenen, an Hugo von Hofmannsthal gerichteten Verse aus dem Jahr der Seele.15 Ihr melancholischer Tenor - „nie mehr werden / Der knaben preis und jubel so mir schmeicheln / Nie wieder strofen so im ohr dir donnern" - gilt der Erinnerung an die eigene Jugend. Was damals in „rausch" und „regung" erfahren und im Echo von Preis, Jubel oder Strafe aus dem Kreis „der knaben", nämlich der Jugend der eigenen Generation bestätigt oder verworfen wurde, ist unwiderbringlich. Benjamins Lesart erhellt aus den Sätzen, mit denen er das Zitat einleitet. Sie tadeln die alternden Lehrer an den Hochschulen, die versäumen, was die Jugend von ihnen erwartet: Weil sie ihr Alter nicht erkennen, gehen sie müßig. N u r die eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit und würdigen Jugend ist die Bedingung des Schaffens. Ohne dies wird keine Erneuerung ihres Lebens möglich sein: ohne Klage über versäumte Grösse. Die Furcht vor Einsamkeit ist es, die ihre erotische Ungebundenheit verschuldet, Furcht vor Hingabe. Sie messen sich an den Vätern, nicht an den Nachgeborenen und retten den Schein ihrer Jugend. Ihre Freundschaft ist ohne Größe und Einsamkeit. 1 6
Bald ein Vierteljahrhundert vor der Erinnerung an Georges Miniaturen im Lied des Zwergen und der Entführung findet sich dergestalt bereits das Thema der verlorenen Kindheit und Jugend nicht nur angedeutet, sondern in den Dimensionen skizziert, in denen es der Autor Adorno gegenüber - kaum zufallig aus Anlass des Briefwechsels zwischen George und Hofmannsthal - wieder aufnimmt. Dass Erfahrung zur Lehre verpflichtet - welche Erfahrung teilen denn aber die heute Lebenden und ist nicht die tiefste die einer nicht mehr mitteilbaren Einsamkeit; dass diese Erfahrung und Lehre einen Raum benötigen, in dem 14 15 16
Vgl. die Kommentierung des Aufsatzes durch die Herausgeber der Schriften GS 11,3, S. 915917. Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. GS 11,1, S. 75-87, hier S. 86. Ebd.
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sie wirksam werden können - wie sollten aber die normativen bürgerlichen Institutionen (Universität, Familie, Beruf) solche Räume bieten können; dass deshalb Philosophie, unabhängige Wissenschaft, die Künste und das Gespräch über ihre Inhalte außerhalb staatlicher Verfügungsgewalt die einzige Gewähr dafür bieten können, dass die niedergeschlagenen Hoffhungen auf ein Leben in Ehren, Größe und Würde, wenn auch ohne Ruhm, Glanz und Sold, sich wieder aufrichten können - es sind Motive, die von hier an zum Grundbestand von Benjamins Denken gehören. Vernichtend im Leben der Studenten ist Benjamins Kritik an der Universität als Berufsschule, wie sie im Kreis um George kaum schneidender hätte formuliert werden können. Sie richtet sich nicht nur gegen unvermögende Lehrer, sondern nicht minder scharf auch gegen eine falsche Einstellung der Studierenden, generell aber gegen die Bedrohung der Wissenschaftsautonomie durch die Staatsaufsicht über die Universitäten: Der Beruf folgt so wenig aus der Wissenschaft, dass sie ihn sogar ausschließen kann. Denn die Wissenschaft duldet ihrem Wesen nach keine Lösung von sich, sie verpflichtet den Forschenden, in gewisser Weise immer als Lehrer, niemals zu den staatlichen Berufsformen des Arztes, Juristen, Hochschullehrers. Es fuhrt zu nichts Gutem, wenn Institute, wo Titel, Berechtigungen, Lebens- und Berufsmöglichkeiten erworben werden dürfen, sich Stätten der Wissenschaft nennen. Der Einwand, wie der heutige Staat zu seinen Ärzten, Juristen und Lehrern kommen soll, beweist hiergegen nichts. Er zeigt nur die umwälzende Größe der Aufgabe: eine Gemeinschaft von Erkennenden zu gründen an Stelle der Korporation von Beamteten und Studierten. 17
Max Weber, der zu Recht nicht nur als bedeutendster Antipode Stefan Georges im intellektuellen Milieu dieser Jahre gilt, sondern auch als schärfster Kritiker der charismatischen' Metaphysiker unter den jungen Juden in seiner Umgebung (in Heidelberg gehören der junge Georg Lukäcs und Ernst Bloch dazu), hält seine berühmte Rede über Wissenschaft als Beruf erst 1917. Sie liegt in einigen wichtigen Punkten weniger weit von Benjamins Vorstellungen entfernt als ihr Titel vermuten lassen könnte. Gewiss, wenn Benjamin die Idee der Universität in ihrer „metaphysischen Struktur" erfassen möchte, „wie das messianische Reich oder die französische Revolutionsidee",18 dann klingt der kritische Schluss von Webers Rede, als wäre sie an ihn adressiert. Die vielen Sehnenden und Harrenden, die heute wie die Juden im Exil auf die Erlösung warten, so Weber an dieser Stelle nicht ohne Zynismus, sollten aus deren Schicksal lernen „und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der Forderung des Tages' gerecht werden - menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht,
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Ebd., S. 76. Ebd., S. 75.
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der s e i n e s Lebens Fäden hält."19 Diesem profanen Bekenntnis zur sozialen Individuierung als staatlicher Erziehungsaufgabe hätte Benjamin widersprochen, widerspricht er avant la lettre, wenn er zu dieser Zeit noch ganz unter dem Eindruck Wynekens und der jüdischen Filiale der Jugendbewegung - die Idee der dialogischen Gemeinschaft sub specie aeternitatis als Kern des wissenschaftlichen Lebens propagiert. Nahe sind sich Benjamin und Weber aber in der Überzeugung, dass die Wissenschaften auch in den Modernisierungsprozessen ihrer Gegenwart nur dann eine Chance behalten, wenn es ihnen gelingt sie autonom, d.h. unreglementiert durch staatliche Aufsicht und die Festlegung auf Ausbildungszwecke zu betreiben. Näher freilich als Max Weber kam Benjamins Verständnis von wissenschaftlicher Gemeinschaft dem, was im Umkreis Georges darüber gedacht wurde. Es ist zwar bekannt, dass George gegen die Universitätskarriere so mancher aus seinem engeren Kreis nichts einzuwenden hatte, ja sie sogar dazu ermutigt hat. Ebenso sicher ist freilich auch, dass er dies nur aus Respekt vor den Notwendigkeiten des Broterwerbs tat und im übrigen ähnliche Vorbehalte gegenüber dem akademischen Leben hatte, wie sie besonders in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg allenthalben laut werden. Hans-Georg Gadamer hat diese Zweideutigkeit in seiner Marburger Studienzeit um 1920 erfahren, in der Friedrich Wolters als bestallter Wirtschaftswissenschaftler der Philipps Universität Georges Fundamentalkritik der zeitgenössischen Kultur wie von der unsichtbaren Kanzel einer Gegengründung vortrug: Irgend etwas von dem ,extra ecclesiam nulla salus' sprach daraus, und bei aller kritischen Zurückhaltung gegenüber solcher Esoterik musste man sich doch fragen, ob da nicht etwas Wahres daran war, - und etwas, was uns anderen abging. War es nicht im Grunde wahr, dass man nicht als Einzelner, sondern nur von einem gemeinsamen Geiste getragen die Antworten des gemeinsamen Geistes vernehmen kann? Es sollte gerade diese ,Lehre' sein, deren Bedeutung für die Arbeit in den Geisteswissenschaften sich von meinen eigenen Erfahrungen aus zur Geltung brachte. 20
Benjamin, der als Student Beziehungen von Freunden zu George und seinem Kreis aufmerksam, respektvoll und wohl auch ein wenig sehnsüchtig registriert, hat seine Rede über Das Leben der Studenten wohl zwar mit einem George-Zitat, aber ohne das Bondi-Siegel publiziert, vielmehr in einem Milieu - dem Z/e/-Jahrbuch -, vor dem es die Herausgeber der Gesammelten Schriften, ja schon deren Mentor Adorno, als einem „Kuriosum" so geschaudert haben muss, dass sie es nicht ohne Umständlichkeit für besonders
19 20
Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1917], Berlin 71984, S. 37. Hans-Georg Gadamer: Stefan George (1868 bis 1933). In: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (Anm. 2), S. 41.
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erklärungsbedürftig gehalten haben.21 Das Befremden gilt der Verträglichkeit Benjamins mit der aktionistischen Gesinnung des expressionistischen Anarchisten, der seinem Jahrbuch den Untertitel gegeben hatte: „Aufrufe zu Tätigem Geist". Tatsächlich war Benjamins Neigung zu Hillers Unternehmen denkbar kurz und letzterer hat bestätigt, wie rasch sein Beiträger über das Leben der Studenten „den (humanitären) Aktivismus für flach und falsch" erklärt habe, dagegen „analytische Kontemplation" für das Richtige, „wobei er [so Hiller aus späterer Erinnerung] auf die Hegel-Husserl-Kassnersche Linie einschwenkte."22 Das Schamverhalten der Frankfurter Nachlassverwalter, denen die Affinität zu George kaum verhohlen sympathischer ist als die zu Hillers Aktivismus, ist dennoch übertrieben. Hiller eröffnet sein erstes Z/'e/-Jahrbuch mit Heinrich Manns Geist und Tat, der für die deutschen Intellektuellen nachzuholen versucht, was an Staatskritik die französischen um Zola im Verlauf der Affäre Dreyfus geleistet hatten, und neben Wortführern der Jugendbewegung wie Hans Blüher, Leonard Nelson und Gustav Wyneken schreiben im selben Band auch Max Brod, Franz Werfel und die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. Fatal genug muss allerdings für Benjamin gewesen sein, dass sein Aufsatz dort gleich nach dem Beitrag Schöpferische Erziehung von Gustav Wyneken steht, von dem er sich soeben unter dramatischen Umständen abgewandt hatte.2, (Wyneken hatte den Ersten Weltkrieg als ein Bildungserlebnis ersten Ranges für die deutsche Jugend bezeichnet.) Distanziert hat sich Benjamin, soweit ich sehe, von dem Abdruck seiner programmatischen Rede bei Hiller dennoch nicht. Mir scheint, dass sich das George und Benjamin gemeinsame Motiv der ,verlorenen Kindheit' als bedeutungsreicher und literarisch anspruchsvoller erwiesen hat als die im engeren Sinn ideologischen Fragen, in denen beide wirklich oder vermeintlich, zeitweilig oder prinzipiell sich unterschieden. Gewiss, dieser Rückblick auf das erste Drittel des 20. Jahrhundert lässt die Teilhabe beider an der Entdeckung des Kindes erkennen, wie sie in Pädagogik und Psychologie mit derselben Energie betrieben wurde wie in den Künsten. Die Aufgabe aber, durch die sich George im Jahr der Seele, Benjamin in der Berliner Kindheit gefordert sahen, war, dem Sentimentalismus auszuweichen, wie er sich bei diesem Thema fast unvermeidlich einzustellen pflegt. Es war keine Frage des guten Geschmacks, sondern philosophischer Angemessenheit. Kindheit ist beiden - im Jargon unserer Jahre gesprochen - ein Gegenstand literarischer Konstruktion. Ihr Fluchtpunkt ist apriorisch Verlust21 22 23
Vgl. die entsprechenden Ausführungen, dazu auch ein Brief Hillers an Adorno, der den Herausgeber des Z;e/-Jahrbuchs um Aufklärung gebeten hatte, in GS 11,3, S. 916 f. Kurt Hiller an Adorno, zitiert ebd., S. 916. Das Ziel. Aufrufe zu Tätigem Geist. Hrsg. von Kurt Hiller, München 1915; Benjamins Aufsatz S. 141-155.
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erfahrung. An Restitution lässt sich hier ebenso wenig denken wie selbst nur an irgend eine volle Rückkehr durch Erinnerung. Kindheit in dem hier gemeinten Sinn bedeutet in erster Linie die Vergewisserung einer verlorenen Energie von Vorstellungskraft und Sprachvermögen ohne die Engftihrungen ihrer bürgerlichen Einpassung. Benjamins Erinnerung an adamitisches Sprechen in seiner frühen Sprachphilosophie, Georges an das jugendlich schweifende Sprachbegehren zugleich ein Sich-Verbergen in der Sprache nach selbstgewählter Ordnung im Jahr der Seele - sind innig verwandt, bei beiden Impuls einer Poetik in weiter Distanz zu allem literarischen Naturalismus. Poetik meint hier anderes und mehr als Anweisung oder Reflexion einer bloß literarischen Regelhaftigkeit. Dass Wirklichkeit ein Produkt der Sprache ist - mit dieser Hypothese hat George seine Verse zumindest bis zum Siebenten Ring geschrieben , vielleicht eher noch: dass sie sich in der Sprache und im Grunde auch nur dort allererst herstellt, während in späterer Zeit zunehmend ein eher instrumentelles Verhältnis Raum gewinnt. In verwandter Gesinnung hat der junge Benjamin seine Verantwortung für den ,Sprechsaal' in der ,Freien Studentenschaft' interpretiert, seine Sprachphilosophie formuliert und noch Jahrzehnten später die Prosa seiner Berliner Kindheit um 1900 geschrieben. Zurecht hat Daniel Weidner in der Sprachauffassung beider Autoren deren engste Annäherung aneinander herausgearbeitet: Diese Befreiung der Sprache von der Botschaft soll sie erneuern, befreien soll auch die Zertrümmerung der gängigen poetische Sprache. Gerade dieser ,destruktive Charakter' gibt dem Wort, das er aus den konventionellen Zusammenhängen sprengt, wieder einen auratischen Glanz. Das Schema der modernen Lyrik, das Benjamin viel später an Baudelaire untersuchen wird - einerseits rationales Kalkül: Bruch mit der poetischen Tradition, technische' Konstruktion, Disziplin, andererseits die dadurch erweiterte Sprachmagie -, scheint bereits in Georges Dichtung vorgezeichnet. 24
Die Polemik des Rückblicks auf Stefan George von 1933 - der ausführlichsten öffentlichen Äußerung Benjamins über George überhaupt - lässt sich Punkt für Punkt auf diese Konstellation beziehen. Ihr Kern ist, kurz gesagt, der Vorwurf, George habe die metaphysischen Dimensionen einer Konstitution der Wirklichkeit aus der Restitution der Sprache zugunsten der Rolle eines „Führers", „Lehrers" und „Reformators" verraten.25 Anstelle der Idee einer absoluten Sprache, gewonnen aus dem Verlust der Kindheit, trete das Bemühen um „Stil", mit dem die Wirklichkeit des dichterischen Scheins in den falschen
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Weidner (Anm. 13), S. 146. Benjamin: Rückblick auf Stefan George. Zu einer neuen Studie über den Dichter. GS III, S. 392-399; hier S. 393.
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Schein ihrer lebensreformerischen Realisierung konvertiert würde. Hier fallen dann die oft zitierten Sätze, die auf den Anteil Georges am Jugendstil zielen: Stücke, in denen seine Kraft versagte, fallen meist genau mit denjenigen zusammen, in welchen dieser Stil Triumphe feiert. Es ist der Jugendstil; mit andern Worten der Stil, in dem das alte Bürgertum das Vorgefühl der eignen Schwäche tarnt, indem es kosmisch in alle Sphären schwärmt und zukunftstrunken die J u g e n d ' als Beschwörungswort mißbraucht. Hier taucht, zunächst nur programmatisch, zum ersten Mal die Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität auf, welche seitdem wachsend sich als Symptom der Krise bestätigt hat.
Der Jugendstil als ein „großer unbewußter Rückbildungsversuch",26 eine naturalistische Entgrenzung ins Leben auf dem Vehikel des „Stils", dieses kritische Verständnis der vegetabilischen Moden des Fin de siecle, hat sich heute weitgehend durchgesetzt. Ist es auf George derart pauschal anwendbar, wie Benjamin (mit den schon zitierten Ausnahmen wie dem Lied des Zwergen oder der Entführung) recht apodiktisch behauptet? Schwerlich. Ist nicht das Jahr der Seele als Zyklus eher ein Abgesang auf den Jugendstil als dessen poetische Umsetzung - Lechter hin oder her darum aber doch nicht weniger „Stilkunst" als der Siebente Ring oder der Stern des Bundes? Der Idee des Stils bleibt George verpflichtet, längst nachdem der Jugendstil verblüht war, dem George früh gelegentlich gehuldigt hatte, man denke an das Vorwort zur Ausgabe der Hymnen. Ebenso blieb Jugend ein Fetisch der Lebenskunst Georges bis an sein Ende. Mit Jugendstil hat das alles aber schnell so wenig zu tun wie Georges latinisierende Typographie mit Lechters ornamentaler Gotik. Zur Natur hatte George ein gleichermaßen konstruierendes Verhältnis wie zur Sprache. Das Neuheidentum in seinem Kreis war eines aus dem Geist. Könnte man sich vorstellen, dass die invertierte Erotik seines Kreises den Weg zu Magnus Hirschfeld oder Ulrich, den Pionieren der homosexuellen Emanzipationsbewegung hätte finden können? Eine skurrile Idee. In der Tat, Stil und Haltung scheinen mir Schlüsselbegriffe von Georges Ästhetik zu sein, doch wird man beides in einem noch anderen Sinn zu verstehen haben als Benjamin in seinem angestrengten Verriss von 1933, wohl aber auch als Adorno in seiner Charakterisierung von Georges „Haltung", wie er sie in seinem Aufsatz über den Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal vornimmt, dem ich mich nun noch mit ein paar Bemerkungen zuwenden möchte. Er ist das ausführlichste Zeugnis der Beschäftigung Adornos mit George, verfasst 1939/40, einer Zeit also, in der die Nerven der Exilierten für jedes Zeichen einer Teilnahme am Faschismus blank lagen, egal auf welche Weise. Adorno verfasst den Aufsatz dennoch in der Absicht einer „Rettung", wie Benjamin in einer ausführlichen brieflichen Stellungnahme auch erkennt: 26
Ebd., S.394.
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Wenn es heute überaus schwer erscheinen muss, anders von George zu sprechen als von dem Dichter, der mit dem ,Stern des Bundes' das choreographische Arrangement des Veitstanzes vorgezeichnet hat, der über den geschändeten deutschen Boden dahingeht - so war das von Ihnen gewiss nicht zu gegenwärtigen. Und diese, unzeitgemäße und undankbare Aufgabe: eine ,Rettung' Georges, Sie haben sie so schlüssig wie es nur sein kann, so unaufdringlich, wie es sein muss, bewältigt. Indem Sie den Trotz als den dichterischen und politischen Fundus in George erkannten, haben Sie die wesentlichsten Züge ebenso wohl kommentierend (Bedeutung der Übersetzung) wie kritisch (Monopol und Ausschaltung des Marktes) erhellt. 27
Auf paradoxale Weise kann aber gemäß einer inneren Logik von Adornos Ästhetik dieses ,Ist gerettet' nur über dem Abgrund gesprochen werden, in den auch noch das Beste zu stürzen droht. Es gibt nicht nur kein richtiges Leben im falschen, es kann auch keine wahre Kunst unter den Umständen .vollendeter Sündhaftigkeit' geben. Denn diese Prämisse teilt Adorno wie mit Benjamin, so auch mit dem frühen Lukäcs, dass eine Schöpfung des Schönen aus dem Nichts dieser Zeit das Mal des Luziferischen tragen würde. Der Künstler müsste ein Teufel sein, der unter den apokalyptischen Zeichen der Zeit ein gelungenes Werk vorweisen wollte. Dreimal setzt Adorno an und dreimal darf er ein Versagen konstatieren. Kann George als Sprachmusiker in der Tradition von Rimbauds Voyelles Rechtfertigung finden, Hüter einer Sprachsinnlichkeit, die von der instrumentalisierenden Rationalität noch ungemindert blühen dürfte? Er kann es nicht: „Das Geheimnis des sinnlichen Datums ist kein Geheimnis sondern die blinde Anschauung ohne Begriff."28 Was sich da zeige, lasse sich überdies nicht halten, es sei denn durch Technik und methodisch hervorgebracht. Ist Georges „Haltung" in der festen Distanz gegenüber jeder Art von „Beteiligung" an der Maschinerie der Selbstvernichtung nicht eine Gewähr für die Unschuld einer Kunst, die ihr entspringt? Sie ist es nicht: dem Begriff Haltung selber ist nicht zu trauen. In der intellegiblen Welt spielt er eine ähnliche Rolle wie in der profanen das Rauchen. Wer Haltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück: die Kälte, die sein Ausdruck vorstellt, macht einen guten Eindruck [...]. Die Not der Entfremdung wird in die Tugend der Selbstsetzung umgebogen. 29
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Benjamin (Anm. 9), S. 450. Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891-1906. In: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften Bd. 10,1, Frankfurt a.M. 1977, S. 195237, hierS. 199f. Ebd. - Benjamin hat das in seiner Antwort auf den Aufsatz nicht gelten lassen: „Der Vergleich mit dem Rauchen wird der Sache schwerlich gerecht. Er könnte zu dem Glauben verfuhren, Haltung sei in allen Fällen ,zur Schau getragen' oder ,eingenommen'. Sie kann aber
Benjamin und Adorno über George
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Bleibt schließlich noch der Trotz des Outsiders, des Verfemten, des camouflierten Verbrechers (meisterhaft entwirft Adorno das Portrait des um Hofmannsthal werbenden George als des gestellten „Sittenstrolchs", der sich mit Kunst herauszureden sucht). Adorno bekundet Loyalität mit dem Invertierten George; allein, wo der Opponent zur bürgerlichen Gesellschaft, wie in den Gedichten des Neuen Reichs, die den Tätern gelten, als lyrische persona Geltung beansprucht, da ist auch er gerichtet: „Wer Natur nur denken kann, indem er ihr Gewalt antut, sollte nicht das eigene Wesen als Natur rechtfertigen." 30 Biographisch sieht Adorno George durch den „Willen zur Macht" pervertiert, darin, wie auch im übrigen, in engem Anschluss an Benjamins Einschätzung. Dennoch eine „Rettung"? Gewiss, eine Rettung der Intention vor dem notwendigen Scheitern. Galt sie bei Benjamin der Intention auf eine reine Sprache, so bei Adorno auf eine ästhetische Beseeltheit, die sich ihrer bürgerlichen Einpassung widersetzt. Beidemal begünstigt diese Perspektive das Werk bis allenfalls zum Siebenten Ring, und es favorisiert Gedichte, die den Verlust, Brüchigkeit oder ein Scheitern sinnfällig werden lassen. Man muss sich gerade heute diese Konzentration auf Georges Frühwerk unter den Vorzeichen des ästhetischen Immoralismus, von Jugendstil und Jugendbewegung eigens vergegenwärtigen, denn es ist „der späte George, der heute alle Aufmerksamkeit auf sich sammelt", so Ernst Osterkamp in einer Rede vom Anfang unseres Jahrhunderts: Es ist damit gerade der politische George, der als verstörende Herausforderung e m p f u n d e n wird: j e n e enge Verbindung von Dichtung und mythisierender Geschichtsdeutung, von Zeitkritik und Religion, von Sexualität und Prophetie, von pädagogischem Eros und ethischer Normsetzung, von Antimodernismus und Erneuerungspathos, von der ein Imperativ zu einer das Poetische überschreitenden Neugestaltung dieser Welt ausging, der aber allein in Poesie formuliert und durch Poesie legitimiert war. 3 1
Adorno hat diese monumentalisierende Politisierung der Poesie verworfen, und als er in der zweiten Hälfte der 60er Jahre unter dem Eindruck einer sich
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durchaus als unbewußte vorgefunden werden ohne darum weniger Haltung zu sein." Darauf folgen Sätze über Anmut: „Ich will, was die Anmut betrifft, nur von den Kindern sprechen und tue es, ohne darum ein Naturphänomen von der Gesellschaft, in der es auftritt, emanzipieren, das heißt schlecht abstrakt behandeln zu wollen. Die Anmut der Kinder besteht und sie besteht vor allem als ein Korrektiv der Gesellschaft; sie ist eine der Anweisungen, die uns auf das ,nicht disziplinierte Glück' gegeben sind." (Brief aus Paris vom 7.5.1940 (Nr. 1361), (Anm. 9), S. 450f. - Vgl. zum Begriff der Haltung auch vom Vf.: Der synthetische Habitus. Bemerkungen zu Stefan George und seinem Kreis. In: Stefan-George-Colloquium. Hrsg. von Enrico de Angelis, Pisa 1985, S. 31-49. Adorno (Anm. 28) S. 216f. Ernst Osterkamp: ,Ihr wisst nicht, wer ich bin'. Stefan Georges poetische Rollenspiele. Vortrag, gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 5. März 2002. München 2002 (= Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen Bd. 74), S. 13.
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formierenden neuen Jugendbewegung auf George zurückkommt, da wiederholt er diese Einschätzung. Die affirmative Politisierung der Dichtung würde die absolute Disproportion zwischen den Wahrheiten der Künste und dem forcierten Industriekapitalismus verharmlosen. Dergestalt sieht sich Adorno durch die ästhetische Opposition des frühen George in jenem „Gestus der Generalverwerfung'" 2 bestätigt, den er selbst gegenüber den politischen Ambitionen der Studentenbewegung an den Tag legte. 3j Der Aufsatz über Georges Briefwechsel mit Hofmannsthal ist nicht die erste Auseinandersetzung Adornos mit George gewesen, und sie ist nicht die letzte geblieben, die aussagestärkste allemal. Zwar hat er früh George vertont, aber auch Richard Dehmel. Zwar hat er später noch eine imaginäre Anthologie mit Georges Gedichten zusammengestellt, doch erfolgte der Druck des Hörfunkmanuskripts von 1967 ohne seine Zustimmung p o s t h u m , u n d die Auswahl war unselbständig und ihre argumentative Begründung im wesentlichen ohne entscheidend neue Gründe; unverkennbar aber auch sie ein Rettungsversuch pro domo im Zeichen einer Apologie der Künste in Zeiten ihrer Verachtung.
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So Osterkamp über Georges Haltung der Moderne gegenüber, ebd.. S. 44f. Einen Brief Adornos an ihn kommentierend schreibt Bernhard Böschenstein: „Es geht Adorno hier und an allen Stellen seiner George-Aufsätze darum, direkt ausgesprochene Überzeugungen, Gedanken und Gefühle Georges in einem Gedicht abzulehnen, eine scheinbar ,nichtauthentische' Darstellungsweise dagegen oft als im Grunde authentisch zu bejahen." (Bernhard Böschenstein: Theodor W. Adorno über Stefan George. In: Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Hrsg. von Wolfram Ette u. a., Freiburg und München 2004, S. 394-406, hier S. 395). Adorno: George. In: Noten zur Literatur IV. Gesammelte Schriften Bd. 11, Frankfurt a.M. 1974., S. 523-535.
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Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt Für die Thematik dieses Symposions ist Kurt Hildebrandt (1881-1966) ein besonders interessanter Fall, handelt es sich doch um den Wissenschaftler, dessen Arbeiten nach eigenem Bekunden „im Kreis die einzigen (waren), die auch Naturwissenschaft, exakte Forschung einbegreifen, also den Gegenpol der Dichtung, die eigentliche ,Wissenschaft', und durch die Philosophie das ,Ganze' umfassen".1 Früh fasziniert durch Darwin und die moderne Biologie, studiert Hildebrandt Medizin und spezialisiert sich auf Psychiatrie; unter seinen Lehrern finden sich Namen wie Emil Kraepelin, der die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychiatrie maßgeblich vorangetrieben hat, und Ernst Rüdin, der Mitherausgeber des Archivs für Rassenhygiene und Gesellschafts-Biologie und spätere Kommentator des NS-Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses.2 Von 1906 bis zu seiner Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl nach Kiel 1934 arbeitet er als Arzt an verschiedenen Nervenheilanstalten im Umkreis von Berlin und publiziert in Fachorganen, in denen man nicht unbedingt nach George'schem Gedankengut suchen würde/ In den ersten 1 2
Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965. S. 125. Vgl. Kurt Hildebrandt: Ein Weg zur Philosophie, Bonn 1962, S. 7, S. 15, S. 18f. Zu Kraepelin vgl. Paul Hoff: Emil Kraepelin und die Psychiatrie als klinische Wissenschaft. Ein Beitrag zum Selbstverständnis psychiatrischer Forschung, München 1992; Volker Roelcke: Biologizing Social Facts. An Early 20th Century Debate on Kraepelin's Concepts of Culture, Neurasthenia, and Degeneration. In: Culture, Medicine and Psychiatry 21 (1997). S. 383403. Zu Rüdin: Matthias Μ. Weber: Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie. Berlin u. a. 1993; Volker Roelcke: Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik und ,Euthanasie'. Zur Rolle von Ernst Rüdin und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie/Kaiser-Wilhelm-Institut. In: Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 1. Hrsg. von Doris Kaufmann, Göttingen 2000, S. 112-150.
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Eine kleine Auswahl: Zum Streit über die traumatische Neurose. In: Neurologisches Centraiblatt 34 (1915), S. 715-720; Funktionell, Endogen, Psychogen. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 85 (1920); Die Lehre von Norm und Entartung in der Kriminologie. In: Archiv für Kriminologie 75 (1923), S. 118-131; Der philosophische Grundgedanke in Wernickes System. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 54 (1923), S. 209-214; Der Beginn von Nietzsches Geisteskrankheit. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 89 (1924), S. 283-309; Simulation oder Flucht in die
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Kieler Jahren gehört er überdies zum Herausgeberkreis der neugegründeten Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft. Das ist eine Spannweite, wie sie etwa auch für Gottfried Benn typisch ist, mit dem Hildebrandt manche Gemeinsamkeit aufweist. Im Unterschied zu Benn hat Hildebrandt sie jedoch mehr in weltanschaulicher als in literarischästhetischer Richtung fruchtbar gemacht. In seinen Erinnerungen berichtet er von der ,,schmerzliche(n) und richtige(n) Entscheidung von 1911", auf eigene dichterische Tätigkeit zu verzichten und sich statt dessen auf das Diskursive zu beschränken - neben philosophischen und geistesgeschichtlichen Arbeiten über Nietzsche, Piaton und Goethe4 vor allem auf dem Feld der Naturwissenschaften, das von den Freunden im Kreis verachtet wurde.5 Mit seinen einschlägigen Arbeiten, die man grob unter die Stichworte Rassenhygiene/Eugenik und Ganzheitslehre bringen kann, hat er viel Widerspruch hervorgerufen, und dies keineswegs erst nach 1945.6 Die Reaktionen im Kreis reichen vom „eisernen Schweigen", mit dem Robert Boehringer 1917 die Verlesung des Kapitels Der normale Staat quittiert, bis zur heftigen Ablehnung, wie sie von Edgar Salin überliefert ist.7 In der neueren Forschung hat vor allem Rainer Kolk die Frage aufgeworfen, ob das sozialtechnologische Züchtungsmodell Hildebrandts „nicht auch eine eindeutige Absage an basale Werte des Kreises impliziert".8
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Psychose? In: Ärztliche Sachverständigenzeitung Nr. 19 (1924); Wertbegriffe in der Psychiatrie. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 63 (1927), S. 373-380; (mit Fritz Balluff): Kohlenoxydvergiftung oder Simulation. In: Der Nervenarzt 1 (1928), S. 605612. Vgl. u. a. Kurt Hildebrandt: Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Piaton, Dresden 1922 (Diss.); (mit Ernst Gundolf): Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923; Wagner und Nietzsche. Der Kampf gegen das 19. Jahrhundert, Breslau 1924; Piaton. Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933; Goethe. Seine Weltweisheit im Gesamtwerk, Leipzig 1941. Vgl. Hildebrandt (Anm. 1), S. 134, S. 86, S. 100. Zur ersten Gruppe zählen vor allem die Schriften: Norm und Entartung des Menschen, Dresden 1920; Norm und Verfall des Staates, Dresden 1920; Gedanken zur Rassenpsychologie, Stuttgart 1924 (Kleine Schriften zur Seelenforschung, 10); Staat und Rasse. Drei Vorträge, Breslau 1928; zur zweiten u. a.: Goethe und Darwin. In: Archiv für Geschichte der Philosophie XLI (1932), S. 57-79; Positivismus und Natur. In: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft 1 (1935/36), S. 1-22; Die Bedeutung von Leibniz in der deutschen Natur-Philosophie. In: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft 2 (1936/37), S. 169-185; Biologie und Physiologie, ebd., S. 349-361; Die Bedeutung der Abstammungslehre für die Weltanschauung, ebd. 3 (1937/38), S. 15-34. Vgl. Hildebrandt (Anm. 1), S. 107, S.120ff.; Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, 2. erw. Aufl., München und Düsseldorf 1954, S. 248. Auch Edith Landmann trat als „heftige Gegnerin" der Norm-Bücher hervor: Kurt Hildebrandt an Robert Boehringer, 14.4.1950 (Nachlaß Kurt Hildebrandt, SGA, im folgenden kurz NL Hildebrandt, SGA. Ich danke Frau Dr. Ute Oelmann fur die Möglichkeit der Einsichtnahme und die Unterstützung meiner Recherchen). Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945, Tübingen 1998, S. 465.
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Den distanzierenden und ablehnenden Stellungnahmen stehen allerdings auch solche gegenüber, die Hildebrandts Unternehmungen Konformität mit eben diesen Werten bescheinigen. An erster Stelle George selbst, der seine anfangs geäußerten Einwände gegen die beiden ,Norm-Bücher' schließlich aufgibt und gegen Salins Kritik darauf beharrt, „dass immerhin der richtige Blickpunkt und die wichtige Fragestellung anzuerkennen sei". 9 Das von Friedrich Gundolf im Kreis verbreitete Urteil spricht von einem ganz außerordentlichen Werk, „das auch von der meisterlichen Autorität über alle ,Kritiken des Zeitalters' gestellt wird". 10 Gundolf selbst liest zunächst Norm und Verfall des Staates und teilt Hildebrandt seine ,rückhaltlose Bewunderung' mit. 11 Vier Wochen später heißt es: Ich lese jetzt den ,Menschen' und staune, durch die Fülle der tiefsinnigen Zeichen, die die Natur uns schon gibt, ergriffen, immer wieder über Ihre Beherrschung der labyrinthischen Gänge. Die Mendelei, der Mythus vom Erbgang, die Ewigkeit der Substanz, die Nemesis des Bluts, all das sind Gedanken, erhebend und erschütternd wie die griechischen Mythen, und indem Sie mit ihrem Scharfsinn den Durcheinander der Empirie klären und erklären, geben Sie zugleich dem Dichter und Seher die Gründe und fast die Bilder eines neuen Weltsinns, in dem der Geist wieder fromm in die Natur blickt. 12
Der enthusiastischste Kommentar aber kommt schon 1918 von Friedrich Wolters, zu dessen , Stamm' sich Hildebrandt zählt. 13 Dem im Kreis kursierenden, wohl auf George zurückgehenden Einwand mangelnder Architektonik hält er entgegen, daß die Einheit des Ganzen doch nicht nur in der Person des Verfassers liege, sondern in dem geschlossenen versuch die sieht aller natur- und geisteswissenschaften nach dem neuen gesetze umzukehren und dessen Geltung nicht allein im logischen sondern auch im tatsächlichen vom dumpf-stofflichen bis zum menschlichbewussten nachzuweisen. Die ganze denkart der neueren zeit ist hier auf allen gebieten in ihr gegenteil verkehrt ohne doch die denkformen zu zerstören oder die sachlichen ergebnisse abzulehnen: das denken selbst wird umgedacht: und was
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Salin (Anm. 7), S. 248. Friedrich Gundolf an Ernst Glöckner, 26.10.1920 (NL Hildebrandt, SGA). Glöckner übernahm dieses Urteil (vgl. seine Briefe an Maximilian Brantl vom 15.11.1920 und an Friedrich Gundolf vom 6.11.1920, NL Ernst Glöckner, SGA). Ähnlich äußerten sich Berthold Vallentin (Brief an Ernst Glöckner vom 14.11.1920, ebd.) und Ernst Gundolf (Brief an Kurt Hildebrandt vom 24.11.1920, NL Hildebrandt, SGA). Friedrich Gundolf an Kurt Hildebrandt, 17.10.1920 (NL Hildebrandt, SGA). Vgl. auch Hildebrandt (Anm. 1), S. 114ff. Friedrich Gundolf an Kurt Hildebrandt, 13.11.1920 (NL Hildebrandt, SGA). Vgl. Hildebrandt (Anm. 1), S. 89.
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ringsum noch norm ist erscheint als entartung und irrtum: das verschüttete bild des heldischen menschen wird norm vom stein bis zum gott. 1 4
Welche dieser Auffassungen trifft zu? Die Antwort hängt von den Maßstäben ab, die man zugrundelegt. Orientiert man sich an der Durchführung der Prinzipien des ästhetischen Fundamentalismus auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften, dann ist Salin zuzustimmen, der von einem „Mitschleppen der alten ,logischen' Wissenschaft trotz der schöpferischen Konzeption'" spricht.15 Geht es dagegen um die Prinzipien als solche, liegt das Recht eher bei George und den beiden Jahrbuch-Herausgebern: Kurt Hildebrandt hat die zentralen Werte des Kreises keineswegs verraten, er ist ihnen vielmehr im Kern treu geblieben und hat sich allenfalls auf einer eher nachgeordneten Ebene auf Positionen eingelassen, die hierzu in Spannung stehen. Ich will im folgenden versuchen, vor allem diese letztere Sichtweise stark zu machen, ohne damit zugleich die erstere auszuschließen.
I. Die eugenische oder rassenhygienische Bewegung, in die Kurt Hildebrandt sich eingeschrieben hat, läßt sich am besten verstehen, wenn man sie im Sinne Max Webers als , Synthese von historisch wirksamen Ideen' auffaßt, deren grundlegende Leitsätze und Postulate, heute würde man sagen: Paradigmen, aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen stammen. In lockerer Aufzählung, ohne Anspruch auf Systematik: die Selektionstheorie in ihrer von Darwin begründeten, von Weismann radikalisierten Fassung, die dem alteuropäischen Glauben an die Harmonie und Teleologie der Natur den Boden entzog, indem sie die Kontinuität des Keimplasmas postulierte und die Selektion genetisch unterschiedlicher Individuen zum einzigen Mechanismus der Evolution erhob; die hieran anschließende Umdeutung der in Medizin und Psychiatrie seit Morel kursierenden Degenerationstheorien und Entartungsvorstellungen, die auf die Behauptung hinauslief, daß bei fehlendem Selektionsdruck automatisch Kontraselektion eintritt, „gewissermaßen eine spontane Entropie des genetischen Materials"; die Theorie der diskreten Vererbung, deren Regeln von Mendel formuliert und um die Jahrhundertwende wiederentdeckt wurden; und die Übertragung dieser Konzepte auf soziale und kulturelle Zusammenhänge durch den sogenannten Sozialdarwinismus, der eine permanente Kontraselektion zuungunsten sozial und kulturell wertvoller Eigenschaften annahm. Diese sozialdarwinistischen Vorstellungen verschmolzen wiederum mit Annahmen 14 15
Friedrich Wolters an Stefan George, 4.12.1918. In: Stefan George, Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904-1930. Hrsg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998, S. 137f. Vgl. Hildebrandt (Anm. 1), S. 120.
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über eine Einteilung der Menschheit in unterschiedliche Rassen, wie sie von der im 19. Jahrhundert geschätzten Phrenologie und Craniologie sowie der Sprachwissenschaft bereitgestellt wurden, um dann ebenfalls im Lichte der Selektionstheorie neu gedeutet, und das hieß vor allem: dynamisiert zu werden.16 Um die Jahrhundertwende hatten sich alle diese Ideen zu einem Bündel verknäuelt, in dem naturwissenschaftliche Vererbungsforschung, kulturelle Deutungsmuster und politisch-praktische Interventionsprogramme kaum mehr voneinander zu trennen waren, schien doch die Krisenbeschreibung zwingend nach einer Krisenlösung zu rufen, „die auf eine ,devianzfreie' Gesellschaft und im letzten Schritt auf die Schaffung eines Neuen Menschen zielte".17 In Wilhelm Schallmayers Buch Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker (Jena 1903) erhielt das eugenische Programm gleichsam Lehrbuchreife und kurz darauf mit der Gründung der Gesellschaft für Rassenhygiene (1905) auch seinen organisatorischen Ausdruck.18 Es ist nicht schwer, das Echo dieser Ideen und Postulate bei Kurt Hildebrandt auszumachen. Norm und Entartung des Menschen beginnt mit einem Bekenntnis zur Keimplasmatheorie Weismanns und einer Ablehnung des lamarckistischen Theorems von der Vererbimg erworbener Eigenschaften. Es definiert sodann die Regeln der Vererbung nach Mendel, erläutert das Wesen der Entartung als Mutation, unterscheidet zwischen verschiedenen Formen der Entartung und der Entartungserscheinungen, skizziert eine Ätiologie derselben und wendet sich schließlich der Psychopathologie zu, die den Hauptteil des Buches ausmacht. Die beiden letzten Kapitel vollziehen dann den Anschluß an die Rassenbiologie. Hier geht es zum einen um die „pathologische Rassenentartung" als Summe aller vererblichen pathologischen Mängel, zum andern um die „relative Rassenentartung", worunter die zahlenmäßige Abnahme der Höherwertigen, die Zunahme der Minderwertigen zu verstehen ist. Die Ausfuh16
Vgl. Rolf Peter Sieferle: Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt 1989, S. 63, S. 84, S. 156, S. 88, S. 142. Allgemein zur Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland: Paul Weindling: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945, Oxford u. a. 1989; Hans-Walther Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ,lebensunwerten' Lebens 1890-1945, 2. Aufl., Göttingen 1992; Peter Weingart u. a.: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt 1992; Doris Kaufmann: Eugenik - Rassenhygiene - Humangenetik. Zur lebenswissenschaftlichen Neuordnung der Wirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Die Erfindung des Menschen. Schöpfungstraume und Körperbilder 1500-2000. Hrsg. von Richard van Dülmen, Wien u. a. 1998, S. 347-365.
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Doris Kaufmann: Eugenische Utopie und wissenschaftliche Praxis im Nationalsozialismus. Zur Wissenschaftsgeschichte der Schizophrenieforschung. In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig, München 2003, S. 309-325, hier S. 312. Vgl. Sheila Faith Weiss: Die Rassenhygienische Bewegung in Deutschland, 1904-1933. In: Der Wert des Menschen. Hrsg. von C. Pross und G. Aly, Berlin 1989, S. 153-199, hier S. 158f.
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rangen kulminieren in dem Befund, daß die moderne Zivilisation die „Ausmerze" hemmt und damit sowohl die allgemeine Rassenentartung begünstigt als auch die relative, indem sie in den höheren Schichten zur Begrenzung der Fortpflanzung führt, in den Unterschichten dagegen eine verstärkte Vermehrung fördert.19 Für eine generelle Umkehrung dieses Trends sieht Hildebrandt zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig Chancen, da ihr nicht weniger als „eine Umwälzung der Menschheit" vorausgehen müsse, die die tragenden Säulen der modernen Zivilisation zu treffen hätte: den Kapitalismus, den radikalen Demokratismus und den Individualismus. Einige kleinere Verbesserungen aber seien schon heute möglich: gegenüber der relativen Rassenentartung „etwas mehr Rassenhygiene in der sozialen Fürsorge" (also wohl: Mittelkürzung für als minderwertig Deklarierte), Berücksichtigung rassenhygienischer Gesichtspunkte bei der Beamtenauslese und in der Steuerpolitik, Begrenzung des fieberhaften sozialen Auftriebs' etc.; gegenüber der pathologischen Rassenentartung Internierung, Eheverbote und vor allem Sterilisierung, u.U., wenn auch mit Bedenken, in zwangsmäßiger Anwendung. Der Staat oder die Nation, so Hildebrandt, habe das Recht und die Pflicht, die Tüchtigkeit der Rasse auch mit harten Mitteln zu fördern. Humanität (im heutigen Verstände) mag eine große Tugend sein, aber nicht die größte, und die Nation darf sie sich nur so weit gestatten, als dadurch die Qualität der Rasse nicht vermindert wird. Die .Menschenrechte' werden nicht durch Geburt erworben, sondern durch biologische Vollwertigkeit. Humanität gegen die Entarteten ist ein Geschenk. kein Rechtsanspruch. 20
Im großen und ganzen bewegen sich diese Vorschläge auf der Linie dessen, was im Umkreis der rassenhygienischen Bewegung seit dem späten 19. Jahrhundert innerhalb und außerhalb Deutschlands diskutiert und bald auch praktiziert wurde. 21 Man vergleiche neben dem schon erwähnten Buch von Schall-
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Vgl. Kurt Hildebrandt: Norm und Entartung des Menschen, Dresden 1923, S. 23ff„ S. 30ff„ S. 47, S. 5Off., S. 229f., S. 233, S. 244f. Einige Positionen hat Hildebrandt spater, wenn nicht völlig aufgegeben, so doch erheblich modifiziert, darunter die Stellung zum Darwinismus, den er in den 30er Jahren als „gereinigte Milieutheorie" und als „mechanistische" Umdeutung der Abstammungslehre kritisiert, und die Beurteilung Lamarcks, der gegenüber Darwin eine Aufwertung erfährt, allerdings unter dem Vorbehalt der „Eliminierung der Lehre von der Ererbung somatisch erworbener Eigenschaften": vgl. Hildebrandt, Abstammungslehre (Anm. 6), S. 28f. Vgl. Hildebrandt (Anm. 19), S. 259ff„ 2 6 8 , 2 7 0 . Zum Kontext vgl. Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt und New York 1997. Dort auch der Hinweis auf die über 50 000 Sterilisationen, die bis 1948 in den USA aus eugenischen Gründen durchgeführt wurden (S. 102). Für Schweden beläuft sich die Zahl der Zwangssterilisationen in der Zeit zwischen 1935 und 1976 auf 62 000 (Der
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mayer nur den Katalog der Gruppe Rassenhygiene der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden, der von Max von Gruber und Ernst Rüdin herausgegeben wurde, die Leitsätze der Deutschen Gesellschaft fur Rassenhygiene zur Geburtenfrage vom 6. und 7. Juni 1914, die Leitsätze der gleichen Gesellschaft von 1922 oder das im Jahr davor erschienene Standardwerk von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz, die praeter propter zu ganz ähnlichen Forderungen gelangten.22 Und so überrascht es denn auch nicht, daß die Besprechung von Hildebrandts Doppelwerk im Archiv für Rassenhygiene überaus positiv ausfiel. Dem Rezensenten erschien es als ein weiteres Zeugnis dafür, „daß ein neuer geistiger Wille vom edlen Blute unseres Volkes Besitz ergriffen und den Keim zu naher Blüte untilgbar eingepflanzt hat", weshalb er nicht anstand, es „der Jugend Deutschlands ans Herz" zu legen.23
II. Über diesen sehr ausgeprägten Übereinstimmungen zwischen Kurt Hildebrandt und der Rassenhygiene gilt es freilich die nicht minder beachtlichen Differenzen nicht zu übersehen. Drei möchte ich besonders hervorheben. Erstens: die rassenhygienische Bewegung zeichnete sich durch eine gewisse Ambivalenz in der Frage aus, ob der Nation oder, wie es fur den Gobinismus typisch war, der Rasse, genauer: der ,nordischen' Rasse, der Vorzug zu geben war. Zwar sahen die deutschen Rassenhygieniker in der Eugenik durchweg „ein Instrument, das dazu da war, eine gesündere, leistungsfähigere, also mächtigere Nation zu schaffen",24 doch neigten gleichzeitig viele dazu, die Nation zugunsten einer Förderung des als allein kulturschöpferisch geltenden nordischen Blutes zurücktreten zu lassen - ein Widerstreit, der bekanntlich in der sog. ,nordischen Bewegung' einseitig zugunsten des letzteren gelöst wurde.25
Spiegel 36 (1997), S. 152). Es greift schon aus diesem Grund zu kurz, in Rassenhygiene und Eugenik ein Proprium des Nationalsozialismus zu sehen. Auch der Sozialismus und die soziale Demokratie waren in dieser Beziehung durchaus empfänglich: vgl. nur Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995; Reinhard Mocek: Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung, Frankfurt u. a. 2002. 22
23 24 25
Vgl. Fortpflanzung, Vererbung, Rassenhygiene. Hrsg. von Max von Gruber und Ernst Rüdin, München 1911, S. 109ff.; Archiv fur Rassen- und Gesellschafts-Biologie 11 (1914/15), S. 134f.; 14 (1922), S. 372ff.; Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz: Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 2 Bde., München 1921. Archiv ftir Rassen- und Gesellschafts-Biologie 15 (1923), S. 219-221. Weiss (Anm. 18), S. 154. Vgl. Kühl (Anm. 21), S. 23, S. 68 sowie Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit - die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001, S. 63ff.
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Hildebrandt bezog die entschiedene Gegenposition hierzu, auch wenn es auf ästhetischer Ebene manche Berührungspunkte mit den Nordizisten gab. 26 Die nationale Idee, heißt es in Staat und Rasse, sei der Rassenzusammengehörigkeit übergeordnet, man müsse es daher unbedingt ablehnen, „die Reinheit der nordischen Rasse als letzten Sinn der Nation, als Maßstab der Politik anzuerkennen". 27 Anstatt die Nation durch Hervorhebung einer einzigen, obendrein quantitativ nur noch in geringen Prozentsätzen rein vorhandenen Rasse zu spalten, solle man sich auf die Aufgabe konzentrieren, aus dem vorhandenen Rassengemisch „durch künstliche oder natürliche Zuchtwahl eine reine neue Rasse, eine Mischrasse" zu züchten. Durch strikte Abschließung von fremdem Blut, insbesondere von dem durch Blutschande vermanschten französischen, dem durch mongolische Einschläge verderbten ostischen und jüdischen, sowie durch „rassenhygienische Zuchtwahl im inneren Bereich der Nation selbst" sei eine neue ,deutsche Rasse' zu züchten, die „die besten Keime Europas" in sich aufzunehmen und zu entfalten habe. 28 Hildebrandt hielt sich viel darauf zugute, damit dem Rassen-Chauvinismus ein für allemal die Grundlage entzogen zu haben. Die eben zitierten Formulierungen lassen das nicht erkennen, und er selbst dementierte sich, wenn er einschränkend hinzufügte, daß diese Ablehnung des Chauvinismus nur für die verwandten Rassen gelte. „Für die Vernegerung einer edleren Rasse gibt es keinerlei Entschuldigung." 29 In diesem Punkt konnte er übrigens mit der Zustimmung seines Meisters rechnen, der schon 1917 vor der „Blut-schmach" gewarnt hatte und Hildebrandt 1933 volle Rückendeckung gab, als der Verleger Georg Bondi von ihm die Streichung
26
So steht auch für Hildebrandt fest, daß man in der nordischen Rasse „die schöpferische an sich" zu sehen habe, der etwas so Einmaliges zu verdanken sei wie die griechische Kultur (Gedanken (Anm. 6), S. 13). Umgekehrt beruft sich namentlich Hans F. K. Günther, der Wortführer der Nordischen, in seinen Arbeiten häufig und meist nicht zu Unrecht auf Hildebrandt. Vgl. nur ders.: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, 2. Aufl., München 1927, S. 16, S. 24, S. 41, S. 50, S. 55f., S. 72, S. 80, S. 83, S. 90, S. 93. Im Dritten Reich hat Hildebrandt mehrere Texte in der von Günther herausgegebenen Zeitschrift Rasse publiziert, darunter einen durchweg zustimmenden Artikel über die Rassenpsychologie von Günthers Freund und Mitstreiter Ludwig Ferdinand Clauß. Vgl. Kurt Hildebrandt: Grundsätzliche Betrachtungen zu L. F. Clauß, Rasse und Charakter. In: Rasse 3 (1936) H. 9, S. 362-365; Ernst Moritz Arndts Rassebegriff. In: Rasse 5 (1938), S. 333-341; Neue Bücher / Philosophie. In: Rasse 6 (1939), S. 76-79.
27 28
Hildebrandt, Staat und Rasse (Anm. 6), S. 13. Ebd., S. 15, S. 17, S. 16, S. 19; vgl. auch Hildebrandt (Anm. 19), S. 22Iff. Zum Konzept der „deutschen Rasse", das bald darauf auch von neonationalistischen Autoren wie Friedrich Merkenschlager und Karl Salier der nordischen Rassenlehre entgegengehalten wurde, vgl. Cornelia Essner: Die ,Nürnberger Gesetze' oder Die Verwaltung des Rassenwahns 19331945, Paderborn 2002, S. 62ff. sowie mit Bezug auf Hildebrandt S. 47f. Von diesem Konzept, das sich immerhin auf Autoritäten wie Eugen Fischer oder Houston Stewart Chamberlain berufen konnte, ist Hildebrandt erst später zugunsten einer generellen Mixophobie abgerückt: vgl. ders., Goethe (Anm. 4), S. 143. Hildebrandt, Gedanken zur Rassenpsychologie (Anm. 6), S. 18.
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eines Passus im Platon-Buch verlangte, in dem Frankreich (in der Druckfassung „ein Staatswesen") angegriffen wurde, weil es „Schwarze zu Vollbürgern macht, die Rasse vernegert". Mit der Vergabe des Blätter-Signets an dieses Buch erteilte er darüber hinaus der Rassenhygiene sein Plazet, wurde dort doch Piaton als „geistiger Gründer der ,Eugenik'" gefeiert. 30 Die zweite Differenz kommt in den Blick, wenn man sich an den Befund von Sheila F. Weiss hält, demzufolge der Mainstream der deutschen Rassenhygieniker „stärker mit Problemen der Klasse als der Rasse" befaßt war. Tatsächlich spiegelte die in diesen Kreisen übliche „Gleichsetzung von Tüchtigkeit mit Leistung und Leistungsfähigkeit, wie umgekehrt von Degeneration mit asozialem Verhalten und Unfähigkeit zu einem gesellschaftlich nützlichen Beitrag, [...] die mittelständischen Vorurteile der Eugeniker selbst wider". Deren Empfehlungen liefen letztlich auf nichts anderes hinaus, als den Anteil der bürgerlichen Schichten an der Nation mit den Mitteln der Medizin und des Steuerrechts zu vergrößern - eine Strategie, die sich idealtypisch dem, wie es in der Weimarer Republik zunehmend hieß: ,alten', d.h. bildungs- und besitzbürgerlich ausgerichteten Nationalismus zuordnen läßt.31 Hildebrandt war bereit, diese Strategie bis zu einem gewissen Punkt mitzutragen. Seine eigenen Vorstellungen aber gingen darin nicht auf. In Norm und Verfall des Staates entwickelte er ein Idealbild der sozialen Ordnung, in dem das, was den Kern der modernen bürgerlichen Gesellschaft ausmacht hegelisch gesprochen: das System der Bedürfhisse - zur ausschließlichen Sache der unteren Klasse geworden ist, die, wie die Plebejer im Rom der Ständekämpfe, „von der Bewerbung um staatliche Funktionen, führende und geistige Berufe" ausgeschaltet ist. Gesundheit und Zufriedenheit dieser das Notwendige besorgenden Schicht seien wohl zu pflegen, doch sei sie von der Bildung, der „geistigen Nahrung" der Oberschicht, fernzuhalten und vielmehr „zu unpersönlichen Typen, zu Bauern, Arbeitern, Soldaten, Handwerkern" zu erziehen, die „keinen Anteil am bewußten Staatsleben, das heißt an Regieren, an Wachstum und Umbilden" haben sollten. Für die Ausübung dieser Funktionen komme „nur eine begrenzte Zahl" von (selbstredend: männlichen) Individuen in Betracht, „der wahre Adel", „der Kreis, der durch seine Lebensführung und Haltung die Idee des Staates, die produktive Kraft, das Schöne Leben verleiblicht, 30
31
Vgl. Hildebrandt, Piaton (Anm. 4), S. 335, S. 245; Stefan George: Der Krieg, GA IX, 30. George ließ Hildebrandt damals mitteilen: „Den Passus „Frankreich" rät der Meister unter keinen Umstanden (wie B. wünscht) auch nur im mindesten zu verkürzen - die befürchtete Kritik jener ,manchen Zeitungen' kann nur zur Empfehlung dienen! Wenn für das Wort .Frankreich' eine Umschreibung gesetzt wird, ists kein schade: man empfiehlt: „durch ein land das.."). Stefan George an Kurt Hildebrandt, 6.3.1933 (NL Hildebrandt, SGA). Hildebrandt hat es ihm gedankt und das Konzept der Blut-Schmach auch noch nach 1945 verteidigt: vgl. ders.: Das Werk Stefan Georges, Hamburg 1960, S. 401ff. Weiss (Anm. 18), S. 154f.; zum Begriff des ,alten Nationalismus' vgl. Stefan Breuer: Grundpositionen der deutschen Rechten 1871-1945, Tübingen 1999, S. 26, S. 34ff
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die geistigen Fürsten der einzelnen Regionen und endlich die schöpferischen Menschen." 32 Was hier anvisiert ist, ist eine Ordnung der Ungleichheit, in der gerade die im bürgerlichen Sinne Tüchtigen aus der Sphäre der Herrschaft, des Geistes und der Bildung exkludiert und dazu verurteilt sind, durch ihre Arbeit „die untersten Mittel eines schönen Lebens" bereitzustellen/ 3 Als eigentliche Bedrohung gilt diesem Denken denn auch nicht der Sklavenaufstand, die proletarische Revolution, sondern die beidem vorangehende Verbürgerlichung des Staates: „Gefahrlich ist nicht die Opposition im Staate, denn ihrem Wesen nach ist sie doch staatlich, sondern die loyalen Bürger, wenn sie die kreisenden Säfte des Staates vergiften, den Staat mit ihrem gemeinen Lebensgefühl erfüllen. Der Irrtum oder leider fast schon die Wahrheit: ,Alles ist käuflich' ist das wirksamste Gift." 34 Das klingt nach Neoaristokratismus, wie er etwa von Nietzsche gepflegt wurde, ist aber nicht so gemeint. Denn Hildebrandt hält es zwar für möglich, durch „strenge Isolierung" und „starke Ausmerze" eine neue (Misch-)Rasse zu züchten, nicht aber innerhalb derselben einen Geburts- oder Geblütsadel, der seine erworbenen bzw. angezüchteten Eigenschaften weitervererbte. Die erbliche Anlage sichere niemals die Erfüllung der höchsten Werte, „die immer ein Glücksfall von Harmonie bleibt"; alles, was man tun könne, sei die Ausschaltung der ungeeigneten Geschlechter oder Rassenlinien von der Bewerbung um staatliche Funktionen. Den übrigen Gruppen stehen durch Erziehung die höheren Berufe zur Bewerbung offen und aus ihnen werden nach der erst später bewährten Eignung die führenden Träger des Staates ausgewählt. Die Scheidung der beiden Gruppen darf nicht streng sein. Frühere Irrtümer, neue Blutmischung, veränderte Ziele des Staates. Entartung machen Verschiebungen nach hüben und drüben notwendig. Die Scheidung darf aber auch nicht zu locker sein, denn der Andrang zu höheren Stellen ist ohnehin so groß, daß es nicht im Interesse des Staates liegt, ihn zu fordern. 35
Wenn Hildebrandt von hier aus gesehen wiederum näher an den altnationalistischen Flügel der rassenhygienischen Bewegung heranzurücken scheint, so muß jetzt auf die grundlegende Differenz hingewiesen werden, die ihn von beiden Flügeln trennt: die negative Einstellung gegenüber wesentlichen Triebkräften und Strukturmerkmalen der Modernisierung. Gewiß wird man sich hier vor allzu einfachen Polarisierungen hüten müssen. Der rassenhygienische Diskurs
32 33 34 35
Kurt Hildebrandt: Norm und Verfall des Staates, Celle 1926, S. 140ff. Ebd.. S. 164. Ebd.. S. 167. Ebd., S. 140. Explizit heißt es an anderer Stelle mit Bezug auf den .wahren Adel', daß seine Mitglieder - die „wenigen, schlechthin Zulänglichen" - „aus der oberen Klasse durch Fähigkeit, nicht durch Familie ausgesondert werden" (ebd., S. 144). Deutlicher läßt sich die Distanz zu allem Neoaristokratismus nicht formulieren.
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konnte durchaus zivilisationsskeptische Töne anschlagen, etwa wenn er die Landflucht beklagte, das Lied von der Stadt als Rassengrab anstimmte oder den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mit den vermeintlichen Rückschritten auf biologischer Ebene konfrontierte. Hildebrandt wiederum sprach sich wiederholt entschieden gegen Regression aus und verteidigte die modernen Naturwissenschaften gegen die von Romantikern oder Lebensphilosophen erhobenen Vorwürfe. Bei genauerer Prüfung zeigt sich jedoch, daß es sich in beiden Fällen eher um Beiwerk handelt. Die Rassenhygieniker waren nicht wirklich zivilisationskritisch, beschränkten sie ihre Kritik doch auf das, was ihnen als Auswuchs des Wohlfahrtsstaates und der Massendemokratie erschien, während sie gleichzeitig die funktionale Differenzierung und formale Rationalisierung im Kern bejahten. Von dieser Warte aus erschienen die rassenhygienischen Beiträge Hildebrandts zwar in einzelnen Punkten lobenswert, in der Begründung aber nichtsdestoweniger problematisch, weil von Werten und metaphysischen Annahmen durchsetzt. Fritz Lenz nahm das Erscheinen der zweiten Auflage der Norm-Bücher zum Anlaß, die enthusiastische Begrüßung der ersten Auflage durch das Archiv deutlich abzuschwächen, indem er Hildebrandts Arbeiten das Gütesiegel absprach, naturwissenschaftliche Werke zu sein. Vor allem der Begriff einer schöpferischen Kraft sei nicht auf Erfahrung, sondern auf Metaphysik gegründet und im Hinblick auf die Entstehung des Lebens eine ebenso fruchtlose wie überflüssige Annahme, um von anderen Eigentümlichkeiten wie der Lehre von den fünf Dimensionen zu schweigen. Lenz, der sich in diesem Punkt als Schüler Rickerts zu erkennen gab, plädierte gegen Hildebrandt für eine reinliche Scheidung von „mechanistischer" und „teleologischer" Auffassung und ließ nicht im Zweifel, daß er sich selbst der ersteren, Hildebrandt der letzteren verpflichtet sah. 36 Der so Kritisierte hingegen erkannte diese Trennung nicht an und ließ seinerseits keinen Zweifel an seiner Absicht, die Naturwissenschaft wieder der Hegemonie der Metaphysik zu unterwerfen. Das zeigt sich auf programmatischer Ebene in Bekundungen wie derjenigen, „daß die Naturwissenschaft ihre volle geistige Kraft und Bedeutung nur aus der primären heroischen Philosophie schöpfen kann"; es zeigt sich inhaltlich in der Deutung der Mutationen als „irrationales schöpferisches Prinzip", das den gesamten Kosmos durchwalte, und kommt schließlich auch in dem forcierten Neo-Platonismus zum Ausdruck, demzufolge die Idee des Guten ,glicht bloßer Erkenntnisgrund des Wirklichen, sondern die wirkliche Ursache des Kosmos (ist), die Kraft, die gestaltenbildend die tote Raummaterie bis ins letzte belebt." 37 Und da dies alles in augenschein36
37
Vgl. Fritz Lenz. In: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 18 (1926), S. 121-126. Sein Studium bei Rickert ist belegt durch Peter E. Becker: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart und New York 1988, S. 183f. Hildebrandt, Gedanken zur Rassenpsychologie (Anm. 6), S. 8; Norm und Verfall des Staates
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lichem Kontrast zu den Erfahrungen steht, die „die fortschreitende Maschinenzivilisation" mit ihrem rücksichtslosen Raubbau sowie ihrer „Entseelung und Verhäßlichung des Menschen" bietet, ist es nicht überraschend, wenn Hildebrandt mit der fundamentalistischen Forderung aufwartet, es sei notwendig, „die Zivilisation einzuschränken". Natürlich nicht ganz so radikal wie Klages, der gleich zu den Pelasgern zurückmöchte, aber doch deutlich radikaler als etwa die Völkischen, die sich mit einer Eindämmung der ,zweiten Moderne' bei fortbestehender Bindung an die ,erste Moderne' begnügen. Eine gewisse Weggenossenschaft mit den Kosmikern erscheint von hier aus durchaus denkbar: „Klages hat auch Recht, wenn er den abstrakten Verstand, das mechanistisch-kausale Denken, die brutale technische Gesinnung als Zerstörer des naturhaften Lebens und der schönen Leiblichkeit anklagt."^8
III. Vor diesem Hintergrund dürfte nunmehr verständlich sein, warum George und die beiden Jahrbuchherausgeber Hildebrandts Norm-Bücher begrüßten. In den zentralen Positionen - dem Gesellschaftsmodell, der Stellung gegenüber den „Zeitmächten" der funktionalen Differenzierung und Rationalisierung sowie nicht zuletzt dem soteriologischen Wert, der der Schönheit im „apollinischen" Sinne beigemessen wurde 39 - war Hildebrandt einer der Ihren, ein ästhetischer Fundamentalist. Und wenn er auch die Nation bejahte, so tat er dies doch nicht anders als sie selbst, im Rahmen einer nationalreligiösen Wendung des Fundamentalismus und nicht im Sinne des Nationalismus, weder des alten, bürgerlichen, noch des neuen, noch des völkischen Nationalismus. Während im alten Nationalismus, etwa bei Treitschke, unter Nation und Staat ein Werk des Volkes zu verstehen ist, präziser: des durch die Bildungsschichten repräsentierten Volksgeistes, 40 erklärt sich Hildebrandt fur die „Lehre, die den Staat von einer Persönlichkeit ableitet", eben jene Lehre also, wie sie in Georges Zeile aus dem Stern des Bundes „Aus einem Staubkorn stelltest du den Staat" aufscheint und
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39
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(Anm. 32), S. 155, S. 33, S. 85. Das Buch über Piaton, an dem Stefan George regen Anteil genommen hat, ist von dem genuin fundamentalistischen Interesse an einer Weltauffassung getragen, in der Mathematik und Naturphilosophie noch nicht auseinandergetreten sind: vgl. Piaton (Anm. 4), S. 7. Hildebrandt (Anm. 32), S. 179; ders., Goethe und Darwin (Anm. 6), S. 66; Friedrich Wolters' Vermächtnis. In: Zeitschrift fur Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), S. 352-359, hier S. 357; Staat und Rasse (Anm. 6 ), S. 33; Nietzsches Gestalt. Eine einleitende Vorlesung. In: Der Ring 1 (1928), S. 904-907, hier S. 906. Zum Schönheitskult im George-Kreis vgl. Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 324f. In Hildebrandts Platon-Buch heißt es an einer Stelle: „Die Schönheit aber ist für Leib und Seele als höchster Wert anerkannt!" (Piaton (Anm. 4), S. 98f.). Zum Vorrang des Apollinischen vgl. ders., Wagner und Nietzsche (Anm. 4), S. 499. Näher dazu Breuer (Anm. 25), S. 81f.
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wie sie dann vor allem Wolters in Herrschaft und Dienst ausgearbeitet hat.41 „Wie es das Wunder des Lebens ist, daß aus der Keimzelle die menschliche Persönlichkeit und Seele sich entfaltet, so ist es das Wunder des Gemeinschaftslebens, des Staates, daß er sich aus der Einzelseele entfaltet". Der Staat und mit ihm die Nation ist danach nicht die Leistung eines wie immer beschaffenen ,Wir', sondern eines ,Ich', in welchem sich die den Kosmos durchwaltende schöpferische Kraft von Zeit zu Zeit verdichtet, um sich dann im Wege der Spiegelung in einer Jüngerschar zu multiplizieren und weitere Kreise zu ziehen, mit abnehmender Intensität gegen die Peripherie hin. 42 Wenn für das moderne Nationsverständnis eine „grundsätzliche Gleichheit der Gesellschaftsangehörigen bzw. prätendierten Nationsangehörigen" essentiell ist,43 dann hat Hildebrandt, wie wohl der George-Kreis insgesamt, diesen Standpunkt niemals bezogen. Er ist vielmehr auch und gerade in seinem Bekenntnis zur Nation ästhetischer Fundamentalist geblieben, dem die Nation als etwas Sekundäres, Abgeleitetes gilt. Seine spätere Selbstrechtfertigung, er sei niemals Nationalist gewesen, nur national, hat deshalb ein fiindamentum in re. Und wenn man bedenkt, daß Nation bei ihm klar über Rasse steht, wird man hinzufügen dürfen, daß er auch kein ,Rassist' sensu strictu gewesen ist, auch wenn dies, wie gezeigt,,Rassen-Chauvinismus' keineswegs ausschließt 44 41
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Zum Staatsbegriff im George-Kreis vgl. Wolfgang Graf Vitzthum: Staatsdichtung und Staatslehre. Das Beispiel Stefan George. In: Neue Juristische Wochenschrift 30 (2000), S. 2138-2147. Hildebrandt, Staat und Rasse (Anm. 6), S. 45, S. 53. Bernd Estel: Nation und nationale Identität, Wiesbaden 2002, S. 27. Vgl. Hildebrandt, Ein Weg zur Philosophie (Anm. 2), S. 45. Anders Teresa Orozco (Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit, Hamburg und Berlin 1995, S. 29), die „Hildebrandts Rassismus" für evident halt. An diesem Urteil ist soviel richtig, daß Hildebrandt sich explizit gegen das Postulat der Werturteilsfreiheit ausgesprochen und statt dessen seinen Glauben an „eine Rangordnung der Werte und Dinge" bekannt hat, die sich auch auf die von ihm angenommenen Rassen erstreckt (Wertbegriffe (Anm. 3), S. 380; Positivismus und Natur (Anm. 6), S. 16): Rassen, so die Behauptung, schieden sich in kulturfähige wie die Arier und kulturunfähige wie die Neger (Norm - Entartung - Verfall. Bezogen auf den Einzelnen - die Rasse - den Staat, Berlin 1934, S. 10f.). Der Begriff Rassismus zielt jedoch in der Regel nicht bloß auf die wertende Hierarchisierung von Rassen, sondern auch auf deren biologisch-genetische Determiniertheit, und genau davon kann bei Hildebrandt nicht gesprochen werden. Auch der Begriff des kulturellen Rassismus hilft nicht viel, denn Rasse, ähnlich wie Nation, ist hier kein Letztbegriff, sondern die Erscheinung eines Höheren: der sich zuvörderst im großen Individuum, im Heros manifestierenden schöpferischen Kraft. Im Platon-Buch, das immerhin 1933 erschienen ist, finden sich die Sätze: „Viele finden heute in Nation oder in Rasse den unbedingten Wert. Darum ist zu erinnern, wie immer das ,heilige Maß' die Schönheit Sokratisch-Platonischer Lehre vollendet. Sokrates verlangt nicht, daß der Einzelne sich als unfreies Werkzeug der Vaterstadt betrachte: er ist ihr Kind, aber wenn er reif ist, darf er frei wählen. Sokrates lobt das attische Gesetz, daß der Bürger das Vaterland verlassen und ungehindert sich mit aller Habe in ein anderes Land begeben darf. Aber er stellt den Satz auf, daß der Bleibende durch sein Bleiben heilig gelobt hat, unbedingt dem Gesetz zu gehorchen. Der nationale Nomos ist unbedingt verpflichtender Wert, er leitet seinen Wert heraklitisch aus dem Welt-Nomos und muß ihn den Seelen seiner Bürger fühl-
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Auf der anderen Seite der Bilanz steht jedoch, daß er den ästhetischen Fundamentalismus in ein Bündnis mit dem bürgerlichen Nationalismus gefuhrt hat und daß er daran auch dann noch festgehalten hat, als dieser seinerseits die Allianz mit dem Nationalsozialismus suchte, einer rechten Sammlungsbewegung, in die neben verschiedenen Formen des Nationalismus auch der von Hildebrandt bekämpfte Rassenaristokratismus Eingang gefunden hat. Selbst wenn man einen Teil der Gründe akzeptiert, die Hildebrandt später für sein Verhalten angeführt hat - den geringen Spielraum, der angesichts der innenpolitischen Polarisierung bestanden habe, das Zusammenfallen von nationaler Erhebung und Nationalismus, die Einrahmung der NSDAP durch Hindenburg und die Deutschnationalen, die eine Temperierung des Radikalismus habe erwarten lassen 45 - so kann man sich doch insgesamt nicht des Eindrucks erwehren, daß Hildebrandt die Schnittmenge zwischen seinem eigenen nationalreligiösen Fundamentalismus, dem bürgerlichen Nationalismus und dem Nationalsozialismus viel zu gering angesetzt hat. Mag er in der Nation auch nicht den obersten innerweltlichen Wert gesehen und zum Imperialismus Abstand gehalten haben, so war für ihn doch Deutschland der Träger einer Mission, von deren Erfolg nicht weniger als das Schicksal der Welt abhing. Nirgendwo sonst war der erlösende Geist, der Geist Piatons und Aristoteles', so sehr zu Hause wie in Deutschland, nirgendwo sonst die Abwehr des westlichen Mechanismus, Positivismus und Materialismus so entschieden wie im Lande von LeibnizGoethe-Hölderlin-Schelling, nirgends sonst auch ein solches Potential an schöpferisch-revolutionärer Kraft, das allein noch imstande schien, der scholastischen Erstarrung, der positivistischen ,Weltmüdigkeit' erneuernd entgegenzutreten. „Die aktive Entwicklung gehört der deutschen Entwicklungsphilosophie von Leibniz bis Schopenhauer an, die passive dagegen der westlichen Aufklärung". 46 Wer so dachte, mußte geneigt sein, jedes Anzeichen an nationaler Bewegung in eben diesem Deutschland als Anbruch eines neuen Äons zu deuten, mußte sich zu den Fahnen gerufen fühlten, auch wenn diese vielleicht etwas stärker flatterten, als man es für gut hielt. Und so hat Hildebrandt denn auch ohne Not und wohl aus ehrlicher Überzeugung dem Nationalsozialismus 1935 bescheinigt, mit seinem Glauben an das deutsche Volkstum den Untergang des Abendlandes abgewendet zu haben. Er hat Hitler als den großen Einzelnen gewürdigt, der durch seine Entscheidung dem deutschen Volk seine Kraft und staatliche Form gesichert habe, und er hat ihn zugleich in die Reihe jener Heroen gestellt, die die „Idee" tragen und „verleiblichen" - Zuschreibungen, deren ganzes Gewicht nur ermessen kann, wer vor Augen hat, worin Hildebrandt „die höchste und umfassendste Formel des Georgischen Werkes"
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bar machen" (Piaton (Anm. 4), S. 82). Vgl. Hildebrandt (Anm. 1), S. 223ff. Hildebrandt, Abstammungslehre (Anm. 6), S. 28; vgl. auch ders., Leibniz (Anm. 6), S. 170, 184; Positivismus und Natur (Anm. 6), S. 11.
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gesehen hat: in der Wendung „Den leib zu vergotten und den gott zu verleiben". Und so wie Fritz Lenz bei der Lektüre von Mein Kampf in Hitler den Bundesgenossen in Sachen Rassenhygiene willkommen hieß,48 zögerte auch Hildebrandt nicht, sich in dieser Beziehung zu bekennen. Im Vorwort zur Neuausgabe der Norm-Bücher von 1934 begrüßt er das ,Sterilisierungsgesetz', also das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933, das zur Zwangssterilisierung von ca. 400 000 Frauen gefuhrt hat, und macht sich darüber hinaus zum Anwalt einer strengeren rassischen Selektion bei den Ehestandsdarlehen.49 1938, drei Jahre nach den Nürnberger Gesetzen und im Jahr des großen Pogroms, kommentiert er gar Ernst Moritz Arndts antisemitische Tiraden als „die gerechte Abwehr, die die Juden durch ihre öffentliche Wirksamkeit herausgefordert haben".50 Nach dem Krieg hat Hildebrandt sich gegenüber Kritikern mit dem Argument gerechtfertigt, daß aus seinem Eintreten für die Nation und die Vererbungslehre, die beide leider auch von den Nationalsozialisten anerkannt worden seien, nicht geschlossen werden dürfe, daß er deswegen auch die übrigen Punkte des nationalsozialistischen Tickets geteilt habe, allem voran den Antisemitismus.51 Juden, so schreibt er im April 1950 an Robert Boehringer, hätten aus seiner Sicht stets zur weißen Rasse gehört und - nicht ganz logisch - in dieser aufgehen können.52 Daran ist richtig, daß Hildebrandts Texte nach 1933 dem Antisemitismus keinen zentralen Platz einräumen und davor sogar Stellen enthalten, in denen er sich für eine deutsch-jüdische Symbiose im Sinne einer geistigen Gemeinschaft ausspricht, wie sie cum grano salis im George-Kreis verwirklicht war. Die Betonung liegt dabei allerdings auf geistig, denn auf die Frage, „ob die Blutmischung mit dem im deutschen Volk schon vorhandenen Juden wünschenswert ist", antwortet Hildebrandt, und dies schon 1924, mit einem klaren Nein. Das jüdische Volk sei zwar als Rassengemisch von den europäischen Nationen nicht so verschieden, daß eine Mischung prinzipiell abzulehnen sei, doch müsse man bedenken, daß bei den Ostjuden der Anteil an „ostischem Blut" sehr hoch sei; deshalb sei insbesondere eine weitere Zuwanderung von Ostjuden nach Deutschland zu verhindern, darüber hinaus aber auch eine „Rassen-Einheit und Ehegemeinschaft beider Gemische" nicht anzu-
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Kurt Hildebrandt: Kulturkrise in Gegenwart und Antike. In: Odal 4 (1934/35), S. 10-21, hier S. 21, S. 10f.; Stefan George und unsere Generation. In: Der Ring 1 (1928), S. 537-543, hier S. 540. Vgl. Fritz Lenz: Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene. In: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 25 (1931), S. 300-308, hier S. 308. Vgl. Hildebrandt, Norm - Entartung - Verfall (Anm. 44), S. 10f.; Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen 1986, S. 238. Hildebrandt, Ernst Moritz Arndts Rassebegriff (Anm. 26), S. 339. Vgl. Hildebrandt, Ein Weg zur Philosophie (Anm. 2), S. 23. Vgl. Kurt Hildebrandt an Robert Boehringer, 17.4.1950 (NL Hildebrandt, SGA).
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streben. 5j Man muß nur nach der praktischen Umsetzung dieser Forderung fragen, um zu erkennen, daß sie nicht weit von den Nürnberger Gesetzen entfernt war, auch wenn eine Rücknahme der staatsbürgerlichen Gleichheit nicht explizit gefordert ist. Auch das ,Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums', das die Entlassung aller Beamten nicht arischer Abstammung vorsah, hat Hildebrandts stillschweigende Billigung gefunden, zögerte er doch keinen Augenblick, die Karrierechancen wahrzunehmen, die sich aus der Vertreibung von Richard Kroner und Julius Stenzel von der Universität Kiel ergaben. 54 Bald darauf hat er auch die geistige Gemeinschaft gekündigt und sich der kulturellen Arisierung verschrieben, wie die Übernahme des antisemitischen Topos vom „arischen Christus" und die Rede von der „deutsche(n) Kultur als Erfüllung des arischen Wesens" belegen. 55 Es ist wahr: von einem bestimmten Zeitpunkt an hat Hildebrandt auch Nachteile durch die neue Ordnung erfahren. Ab Mitte der 30er Jahre erhielt die Gruppe von ,ganzheitlich' ausgerichteten Naturwissenschaftlern um die Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft, der auch Hildebrandt angehörte, 56 starken Gegenwind von einer anderen Richtung, „die eine unerbittliche Form der mendelschen Genetik, des Darwinismus und der Rassenbiologie als Grundlage der nationalsozialistischen Sozialpolitik und Militärstrategie durchsetzen" wollte und ihre Gegner als bloße Ästheten, Intellektualisten oder gar als Agen53
Hildebrandt, Gedanken zur Rassenpsychologie (Anm. 6), S. 17. Angesichts dieses klaren Statements ist nicht nachzuvollziehen, wie man behaupten kann, Hildebrandt habe einem „Konnubium mit kultivierten westeuropäischen Juden" das Wort geredet: vgl. Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. 2 Bde., Berlin 2002, S. 435. 54 Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bildungsbürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln u. a. 1997, S. 661. 55 Vgl. Kurt Hildebrandt: Hölderlin. Philosophie und Dichtung, 3. Aufl., Stuttgart und Berlin 1943, S. 238f.; Goethe (Anm. 4), S. 471. In diesem Zusammenhang findet auch Goethes Judenhaß dankbare Erwähnung: vgl. ebd., S. 428. 56 Die Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft wurde 1935 an der Universität Kiel auf Initiative des Lehrstuhlinhabers für Physikalische Chemie, Karl Lothar Wolf, gegründet. Wolf, der von April 1933 bis April 1935 als Rektor amtierte, gehörte zu jener Gruppe von Naturwissenschaftlern, die in der nationalsozialistischen Machtübernahme die Chance sah, ,ganzheitliche', u. a. an Goethes Morphologie orientierte Sichtweisen in ihrem Feld zur Geltung zu bringen und auf diese Weise der deutschen Linie' der Naturphilosophie zum Sieg über den westlichen Mechanismus zu verhelfen. Zu diesem Zweck setzte Wolf gegen erheblichen Widerstand die Berufung Hildebrandts auf das Ordinariat für Philosophie durch (30.4.1934) und kooptierte ihn sogleich ins Herausgebergremium der Zeitschrift, zusammen mit dem Paläontologen Karl Beurlen, der ebenfalls zu den ,Holisten' gehörte (zu den Vorgängen um die Berufung vgl. Kolk (Anm. 8), S. 527ff.). Weitere Vertreter dieser Richtung waren im Beirat Adolf Meyer-Abich, Wilhelm Troll, Jakob von Uexküll und Victor von Weizsäcker, sowie auf philosophischer Seite Martin Heidegger, der sich bereits in seinen Freiburger Vorlesungen vom WS 1929/30 positiv auf Uexküll und Driesch bezogen hatte. Vgl. zu dieser Denktradition Anne Harrington: Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek 2002.
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ten des römischen Katholizismus diffamierte.57 Die negativen Folgen hielten sich indes in Grenzen und brachten Hildebrandt keineswegs in jene nachgerade verfolgungsähnliche Lage, wie er sie später Boehringer gegenüber behauptet hat.58 Sein Protektor Karl Lothar Wolf mußte 1935 von seinem Rektorat zurücktreten und sich von seinem Nachfolger Vorwürfe anhören, die Universität Kiel dem elitären George-Zirkel geöffnet zu haben; der Verlag Die Runde, in dem die Neuauflage der Norm-Bücher erschienen war, wurde 1936 überprüft und als „Sammelbecken für reaktionäre Kräfte" eingestuft, die den „,Geist' in den Mittelpunkt" stellten.59 Die Norm-Bücher selbst wurden in der von Bruno K. Schultz geleiteten Zeitschrift des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst und der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, Volk und Rasse, deutlich ablehnend besprochen, weil der Verfasser der Rassenmischung eine zu große Bedeutung für die Entstehung neuer Rassen zuschreibe, das Volk nur als Kultur-, nicht aber als Blutsgemeinschaft ansehe und den staatlichen Verfall allein auf geistige Ursachen zurückführe.60 Die Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft wurde im 3. Jahrgang (Mai/Juni 1937) von der Reichsfachgruppe der Reichsstudentenführung übernommen, doch blieben den ,Holisten' andere Organe, wie die von Karl Lothar Wolf gemeinsam mit Wilhelm Troll und Wilhelm Pinder herausgegebene Reihe Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie (1940 ff.), in der auch Hildebrandt publizieren konnte.61 Es fuhrt deshalb kein Weg an der Feststellung vorbei, daß der ästhetische Fundamentalismus in der Auslegung, die Kurt Hildebrandt ihm gegeben hat, zum Wegbereiter und zur Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft geworden ist. Daß dies die einzig mögliche Auslegung ist, ist damit allerdings nicht gesagt, und auch nicht, daß alles, was geschehen ist, in ihr enthalten gewesen wäre. Festzuhalten ist darüber hinaus, daß Hildebrandt den ästhetischen Fundamentalismus nicht bloß in politischer Hinsicht diskreditiert hat. Er hat ihm zugleich den Lebensnerv durchtrennt, indem er seinen ursprünglichen Impuls, die Wendung gegen die moderne Welt, bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt hat. Schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme glaubte er sich gegen die ,Zeloten' abgrenzen zu müssen, die auf exakte Naturwissenschaften verzichten wollten. Von einem solchen Verzicht könne keine Rede sein. „Wer die Begrenzung des Mechanismus sieht und ihn darum nicht mehr furchtet, kann ihm sein volles Recht widerfahren lassen".62 Wie im religiösen Funda57 58 59 60 61 62
Harrington, ebd., S. 347. Kurt Hildebrandt an Robert Boehringer, 17.4.1950 (NL Hildebrandt, SGA). Vgl. Kolk(Anm. 8), S. 531, S. 496. Vgl. F. Schwanitz: Bespr. zu Kurt Hildebrandt: Norm, Entartung, Verfall. In: Volk und Rasse 12 (1937), S. 335. Vgl. Hildebrandt: Kopernikus und Kepler in der deutschen Geistesgeschichte, Halle 1944 (Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie, H. 14). Hildebrandt, Goethe und Darwin (Anm. 6), S. 78. Vgl. auch ders.: In eigener Sache. In:
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mentalismus nach Abkühlung des charismatischen Glutkerns die Stunde derjenigen einzutreten pflegt, die die Veralltäglichungsproblematik durch Funktionsdifferenzierung, durch „organische Berufsethik" zu bewältigen versuchen, so nimmt auch Hildebrandt die Spannung zurück, in der noch das Jahrbuch für die geistige Bewegung gegenüber der Wissenschaft stand, und reduziert sie auf eine bloße Kritik des mechanistischen Weltbildes,63 wie sie von der Wissenschaftsentwicklung selbst, namentlich in der Physik, längst auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Aus dem Bemühen um eine Alternative zur wissenschaftlich-technischen Moderne wird eine mit dieser sehr wohl kompatible „neue Religion" auf der Basis eines nicht-spinozistischen Pantheismus, die alle Züge einer typischen „Bildungsreligion" trägt64 - eine Verschiebung, die Salin schon früh gespürt und zum Anlaß genommen hat, von Hildebrandt abzurücken. Auch George muß geahnt haben, welcher Sprengsatz hier verborgen lag, sonst hätte er nicht nach dem ersten Einblick in das Manuskript erklärt, es handele sich genau genommen nicht um ein Buch, sondern um zwei, eigentlich drei, die inhaltlich nicht miteinander verbunden seien: Das erste steht auf dem grund einer ganz bestimmten Wissenschaft, bedient sich ihrer fiindamente und gewährsmänner, spricht ihre spräche, auch wenn es bek ä m p f t - Das zweite hat durchaus andere Voraussetzungen. Es rechnet mit keiner bekannten (neuzeitlichen) grundlage. Schon dadurch ist es aus einer anderen weit. Nun sagen sie wohl, daß person und absieht des Verfassers das verbindende sei. Der übelstand bleibt aber dass für jeden anderen keine einheit des baues sichtlich ist. Dieses innere gesetz des bauens darf bei keiner noch so guten begründung der einzelnen teile vernachlässigt werden. Bei der Veröffentlichung wäre kaum ein anderer weg, als daraus zwei bücher zu machen. 6 5
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Zeitschrift fiir die gesamte Naturwissensehaft 1 (1935/36), S. 340-342, S. 342: „Kein Vernünftiger bezweifelt die unbedingte Notwendigkeit der exakten Wissenschaft und Technik, aber man soll nicht die Technik und die ihr dienende Wissenschaft über die seelischen und geistigen Kräfte stellen, die der Volkwerdung dienen." Ähnlich in: Goethe (Anm. 4), S. 377, S. 382, S. 512. Man vergleiche nur den Abschnitt Geringschätzung der Wissenschaft in der (nach Hildebrandt von George verfaßten) Einleitung der Herausgeber zum dritten Band (1912), S. Ulf. Zur „neuen Religion" , die selbstverständlich eine „deutsche Religion" ist und auf eine „deutsche Kirche" zielt, darüber hinaus auch noch mit „Theokratie" und „Gottesstaat" liebäugelt, vgl. Hildebrandt, Piaton (Anm. 4), S. 216, S. 221, S. 308, S. 338ff., S. 348ff., S. 353, S. 355; Hölderlin (Anm. 55), S. 99, S. 118, S. 139, S. 157, S. 160f.; Goethe (Anm. 4), S. 67, S. 313; zum Pantheismus als dem Kern dieser Religion vgl. ebd., S. 67, S. 200ff.; Hölderlin (Anm. 55), S. 17, S. 159; Positivismus und Natur (Anm. 6), S. 21; Leibniz (Anm. 6), S. 169; Über Deutung und Einordnung von Nietzsches .System'. In: Kantstudien 41 (1936), S. 221293, S. 287. Aufschlußreich hierzu Burkhard Gladigow: Pantheismus als „Religion" von Naturwissenschaftlern. In: Die Religion von Oberschichten. Hrsg. von Peter Antes und Donate Pahnke, Marburg 1989, S. 219-239. Stefan George an Kurt Hildebrandt, 15.5.1917, hier zit. n. Hildebrandt (Anm. 1), S. 109.
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Welche Motive George bewogen haben, diese Bedenken zurückzustellen und den Norm-Büchera seinen Segen zu erteilen, ist nicht bekannt. Es könnte einfach der Unwille gewesen sein, sich tiefer auf Fragen einzulassen, die nur mittels des begrifflich-systematischen Denkens zu bewältigen waren, vielleicht aber auch der Enthusiasmus seiner jüngeren Gefolgsleute wie Gundolf und Wolters oder die Hoffnung, mit Hildebrandt die Impulse der ,geistigen Bewegung' auch auf ein so sperriges Gebiet wie die Naturwissenschaften ausdehnen zu können. Im Ergebnis aber bleibt, daß er eine Grenze gegenüber Hildebrandts Auslegung nicht gezogen hat. Der Schatten, den diese wirft, fallt deshalb auch auf den Kern des George-Kreises.
Carola Groppe
Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik Es ist gar nicht zu sagen, wieviele Rom es gibt, in deren jedem ein Papst sitzt. Nichts bedeutet der Kreis um George, der Ring um Blüher, die Schule um Klages gegen die Unzahl der Sekten, welche die Befreiung des Geistes durch den Einfluß des Kirschenessens, vom Theater der Gartensiedlung, von der rhythmischen Gymnastik, von der Wohnungseinrichtung, von der Eubiotik [...] erwarten. Und in der Mitte jeder dieser Sekten sitzt der große Soundso, ein Mann, dessen Namen Uneingeweihte noch nie gehört haben, der aber in seinem Kreise die Verehrung eines Welterlösers genießt. Ganz Deutschland ist voll von solchen geistigen Landsmannschaften; aus dem großen Deutschland, wo von zehn bedeutenden Schriftstellern neun sich nur durch den Hausierhandel mit Feuilletons ernähren können, strömen ungezählten Halbnarren Mittel zur Entfaltung ihrer Propaganda, zum Druck von Büchern und zur Gründung von Zeitschriften zu.1
1926 karikierte Robert Musil damit das deutsche Reformmilieu als eine das gesamte Reich durchziehende Konventikel- und Kreisbildung mit jeweils weltanschaulichem Absolutheitsanspruch. Die weltanschaulichen Kreise und lebensreformerischen Gemeinschaften bildeten zwischen der Jahrhundertwende und den dreißiger Jahren zugleich ein Diskursnetz, in dessen Rahmen weitgehend gleiche Gegner konstruiert und bekämpft wurden: die Vermassung und gleichzeitige Vereinzelung in der entwickelten Industriegesellschaft, vor allem durch das Leben in der Großstadt, der damit verbundene Verlust ländlichnaturnaher Lebenswelten, die Technisierung des Alltags, die Verunsicherung der Wertehierarchien durch die Veränderung der Lebensformen und durch die Wissenschaft u. v. a.2 Die deutsche Reformpädagogik hatte an dieser , Kulturkritik' ebenso Anteil wie der George-Kreis.3
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Robert Musil: Unter Dichtern und Denkern (1926). In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frise, Bd. 2: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays. Reden. Kritik, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 582-585, hier S. 584. Vgl. dazu den Beitrag von Rainer Kolk in diesem Band. Vgl. Rüdiger vom Bruch/Friedrich W. Graf/Gangolf Hübinger: Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900. In: Kultur und Kulturwissenschaften um
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Die deutsche Gesellschaft hatte seit 1890 einen kontinuierlichen, teils rasanten wirtschaftlichen Aufschwung des neuen Kaiserreichs und parallel dazu eine umfassende Modernisierung der Lebenswelt erlebt. Begeisterung und Stolz auf das junge, politisch und ökonomisch immer mächtiger werdende deutsche Reich waren die eine Folge, Skepsis und Problematisierung der vermeintlich negativen Konsequenzen dieser Entwicklungen auf Seiten einer reformbereiten, zumeist bildungsbürgerlichen Minderheit die andere.4 Gleichzeitig waren die als Reaktion auf die gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozesse entstehenden weltanschaulich-lebensreformerischen Konzepte geprägt von einer spezifischen Sinnsicherheit, von einem - sie mit der Moderne mental verbindenden Bewusstsein eines gangbaren Weges5 als „Weltgestaltungswille aus der Vision einer besseren Welt".6 Karl Jaspers definierte Weltanschauung dementsprechend als etwas Ganzes und etwas Universales. Wenn zum Beispiel vom Wissen die Rede ist: nicht einzelnes Fachwissen, sondern das Wissen als eine Ganzheit, als Kosmos. Aber Weltanschauung ist nicht bloß ein Wissen, sondern sie offenbart sich in Wertungen, Lebensgestaltung, Schicksal, in der erlebten Rangordnung der Werte.7
Sigmund Freud beschrieb Weltanschauung weiterführend als „intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst".8 Wahrheit wird in den Reformbewegungen mit Einfachheit und Echtheit gleichgesetzt und im individuellen Lebensvollzug zur ,Wahrhaftigkeit' stilisiert, als Ausdruck persönlicher Überzeugung und Haltung.9 Gegen die institutionelle Rahmung sozialen Handelns wird die emotio-
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1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Hrsg. von Rüdiger vom Bruch/Friedrich W. Graf/Gangolf Hübinger, Wiesbaden 1989, S. 9-24. Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln, Weimar, Wien 1997, S. 6Iff. Vgl. Jürgen Oelkers: Pädagogik in der Krise der Moderne. In: Einführung in die Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit. Hrsg. von Klaus Harney und Heinz-Hermann Krüger, Opladen 1997, S. 39-92, hier S. 70f. Helmut Fend: Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1988, S. 64. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (1919), 5. Aufl., Berlin 1960, S. 1. Sigmund Freud: Über eine Weltanschauung (1932). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 15: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfuhrung in die Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1999, S. 170-197, hierS. 170. Vgl. Kai Buchholz: Begriffliche Leitmotive der Lebensreform. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1. Hrsg. von Kai Buchholz u. a., Darmstadt 2001, S. 41-43. Vgl. auch das auf dem Hohen Meißner 1913 verabschiedete Bekenntnis der dort versammelten jugendbewegten Gruppen: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten." Zit. nach: Winfried Mogge: Der Freideutsche Jugendtag 1913. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkungen. In: Winfried Mogge und Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der
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nal aneinander gebundene Gemeinschaft gestellt, die das aber nicht mehr zulässt, was die funktional differenzierte Gesellschaft ermöglicht: die kritische Distanz zu den je eingenommenen Rollen.10 Mitgliedschaft beruhte in den weltanschaulich-lebensreformerischen Kreisen einschließlich der Reformpädagogik und des George-Kreises auf intuitiver Übereinstimmung, kritischreflexive Distanz bedeutete dagegen Separatismus und - schlimmstenfalls Destruktion der ursprünglichen Wirkungsabsichten. Die vielen Abspaltungen und Neugründungen ζ. B. im Rahmen der reformpädagogischen Schulen oder der Jugendbewegung haben m. E. diesen Hintergrund. Ziel war bei aller Heterogenität der Gruppierungen und Visionen (vom Vegetarismus über die Reformpädagogik und Kunsterziehungsbewegung, die Kleidungsreform und Freikörperkultur bis zur Gartenstadtbewegung und Bodenreform etc.)," die Gesellschaft durch eine Reform des Alltags bzw. der Lebensform zu verändern, zu heilen, letztlich: sie zu ,erlösen'. Erst vor dem Hintergrund dieses quasi-religiösen Sendungsbewusstseins erklärt sich die Vehemenz des jeweils vertretenen Geltungsanspruchs, der zu den von Robert Musil im Eingangszitat karikierten Absurditäten und vor dem Hintergrund vielfacher Abspaltungen und Neugründungen zur Konstruktion von immer neuen Erlösungsutopien führte. Das Projekt einer „neuen Erziehung" in der Reformpädagogik bezog sich vor allem auf eine veränderte Einstellung zum Kind.12 Gegner war die ,Buchund Lernschule', die als institutionalisierte Veranstaltung des Staates weder eine ganzheitliche Entfaltung der Kräfte des Kindes noch dessen Selbsttätigkeit zulasse: J e d e r M e n s c h , j e d e s K i n d trägt d i e G e s e t z e e i n e s o r g a n i s c h e n W a c h s t u m s in sich selbst. F ü r d e n K ö r p e r ist d a s a l l b e k a n n t ; [...] G e i s t u n d S e e l e d a g e g e n , m e i n t m a n , w ü r d e n sich z u s c h ä n d l i c h e n M i ß g e s t a l t e n a u s w a c h s e n , w e n n m a n sie n i c h t in s o r g f a l t i g a u s g e w ä h l t e u n d z u r e c h t g e d r e c h s e l t e S c h a b l o n e n e i n z w ä n g t e [...]. S o l c h eine Schablone nennt m a n Lehrplan13.
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Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 33-62, hier S. 52. Vgl. Jürgen Habermas: Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation. In: Ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, S. 118-194, hier S. 128f., S. 132. Vgl. Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. Hrsg. von Kai Buchholz u. a., Darmstadt 2001. Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880-1933. Hrsg. von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke, Wuppertal 1998. Jürgen Oelkers: Die „neue Erziehung" im Diskurs der Reformpädagogik. In: Die neue Erziehung. Beiträge zur Internationalität der Reformpädagogik. Hrsg. von Jürgen Oelkers und Fritz Osterwalder, Bern u. a. 1999, S. 13-41, hier S. 25. Berthold Otto: Von der Entwicklung unserer Kinder (1921). In: Was sagt Berthold Otto. Hrsg. von Johannes Kretschmann. Neu bearb. und hrsg. von Herbert Frommberger, Dortmund 1959, S. 13-18, hier S. 15.
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Carola Groppe
,Organisches Wachstum" 4 durch die Bereitstellung vermeintlich ,natürlicher, ganzheitlicher Umwelten sowie eine , kindgerechte Erziehung' ,vom Kinde aus' wurden dagegen gestellt,'5 legitimiert durch seit der Aufklärung entwickelte pädagogische Traditionsbildungen und Erkenntnisse wie „eine spezifische Anthropologie des Kindes", die „Idee einer sich selbst regulierenden Entwicklung" und „die Konzentration auf eine eigene Welt der Erziehung".16 Ellen Key schrieb dann in dem Jahrhundert des Kindes (1900, dt. Übersetzung 1902), „das grösste Geheimnis der Erziehung" liege darin verborgen, „nicht zu erziehen", und die Schule solle dementsprechend ein „geistiges Speisehaus" sein, „in dem Eltern und Lehrer den für jedes Kind geeigneten Speisezettel entwerfen" sollten.17 Außer dem Widerspruch zwischen theoretisch freiem Wachstum und den von den Pädagogen in den Reformschulen konstruierten und überwachten Erziehungs- und Entwicklungsräumen entstanden sowohl bei den einzelnen als auch zwischen den der Reformpädagogik zuzurechnenden Protagonisten theoretische und praktische Divergenzen zwischen beabsichtigtem Gemeinschaftsleben und Individualisierung.18 Ein aus der Lebensphilosophie abgeleiteter Lebensbegriff als Inbegriff schöpferischen Ursprungs setzte schließlich das ,werdende Leben' des Kindes in die Position ständiger potenzieller Welterneuerung.19 ,Neue Erziehung' wurde zur „Erweckung und Erlö-
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Vgl.: „ich bin der Überzeugung, daß, wie jedes organische Wesen aus der Welt, die es umgibt, sich das aussucht, was ihm gerade förderlich ist, und das natürlich und instinktiv zurückweist, was ihm schädlich ist, so auch der Kindergeist aus der ihn umgebenden Welt, also etwa aus der Kulturwelt, in die es hineinwächst, sich immer gerade das wahrscheinlicher Weise heraussuchen wird, was immer diesem einzelnen Kinde zum Wachstum, zum geistigen Wachstum am besten förderlich sein wird." Berthold Otto: Gesamtunterricht (1913). In: Ders.: Ausgewählte pädagogische Schriften. Besorgt von Karl Kreitmair, Paderborn 1963, S. 120-132, hier S. 122.
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Vgl. Oelkers (Anm. 12), S. 14ff. Heinz-Elmar Tenorth: Reformpädagogik in der Gegenwart. Waldorfpädagogik und andere Traditionen. In: Buchholz u. a., Lebensreform, Bd. 1 (Anm. 11), S. 561-564, hier S. 562. Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Studien, 8. Aufl., Berlin 1905, S. 112f., S. 224. Gustav Wyneken schrieb: „Berücksichtigung der Individualität ist uns immer als eine Selbstverständlichkeit erschienen, nicht wert, von ihr so viel Wesens zu machen, wie es in der modernen Pädagogik geschehen ist. Wir haben dieser letzten bürgerlichen Weisheit unser Ideal der sich selbst erziehenden Gemeinschaft gegenübergestellt und haben als die natürliche Stätte dieser Gemeinschaftserziehung nicht die Familie, sondern die Schule gefunden. [...] Wir wollen unsre Ausbalancierung beider Prinzipien auf eine häufig anwendbare Formel bringen: Gemeinschaft ist uns für unsere Erziehung konstitutiv, Individualität nur regulativ."' Gustav Wyneken: Wickersdorf, Lauenburg/Elbe 1922, S. 12. Dagegen stellten Berthold Otto und Ellen Key das einzelne Kind stärker in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen.
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Zum Lebensbegriff in der Lebensphilosophie vgl. exemplarisch Georg Simmeis Soziologie und Philosophie. Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911). In: Ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, 2. Aufl., Leipzig 1919, S. 223-253. Ders.: Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie (1912). In: Ders.: Vom Wesen der Moderne. Essays zur Philosophie und Ästhetik. Hrsg. von Werner Jung, Hamburg 1990, S. 109-118, hier S. 113ff. Max Horkheimer charakterisierte 1930 die lebensphilosophische Grundüberzeugung Simmeis folgendermaßen: „das Leben selbst ist auch bei Simmel ein der Historie
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sung" mit dem Ziel eines ,neuen Menschen' in einer ,neuen Gesellschaft'.2" Damit entwickelte die Reformpädagogik auch eine Distanz zur traditionellen Erziehungstheorie - Erziehung als intentionaler Prozess der Enkulturation und zur empirisch vorgehenden Psychologie. Deren Stelle nahm der Mythos vom ,heiligen Kind' und dessen reines, d. h. wesenhaft vorhandenes und ethisch gutes Denken, Empfinden und Handeln ein.21 Zugleich aber blieb die ursprüngliche Welt der Kinder den bereits sozialisierten Erwachsenen verschlossen. Also blieb nur „kunstvolles Ahnen" als Erziehungsprogramm übrig und die Intuition des ,begnadeten Pädagogen'.22 Die als ,große Pädagogen' im Geist der Reformpädagogik anerkannten Vertreter: Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Paul Geheeb, Kurt Hahn u. a. konnten vor diesem Hintergrund zu charismatischen Führern einer neuen, welterlösenden Bewegung stilisiert werden bzw. sich zum Teil selbst so begreifen.23 Gleichzeitig gingen viele Reformpädagogen von einem selektierenden Menschenbild aus, das bei Ellen Key eugenisch begründet wurde (positiv wurden bewertet die Kinder glücklicher, rassereiner und erbgesunder Eltern) und bei Hermann Lietz ζ. B. die jüdischen Schüler als rassisch bedingte Problemfalle ausschloss.24 Auch enthobener Begriff, die Realität schlechthin, aus der alles stammt, auf die sich alles bezieht und der es angehört, die aber selbst keine Geschichte hat, sondern sie nur macht, ohne daß es von ihr entscheidend verändert wird." Max Horkheimer: Einführung in die Philosophie der Gegenwart (Vorlesung und Publikationstext). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10: Nachgelassene Schriften 1914-1931. Hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1990, S. 288. Vgl. auch Karl Joel: Seele und Welt. Versuch einer organischen Weltauffassung, Jena 1912: „Wir fühlen in uns den grenzenlosen Strom des Lebens, unsere Gemeinschaft mit Nahem und Fernem, wir fühlen uns eins mit allem Sein, wir tragen in uns das ewige Leben, wir haben in unserem Gefühl das Unendliche gegenüber allem Einzelnen und Vergänglichen, das uns in den Sinnen vorüberzieht." Ebd., S. 386. 20 21 22
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Oelkers (Anm. 12), S. 28. Vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 3. überarb. und erw. Aufl., Weinheim und München 1996, S. 97ff. Ebd., S. 104f. Hermann Lietz schrieb, „daß es vor allen Dingen darauf ankomme, dem Kinde Freude an seinem Leben und seiner Tätigkeit zu verschaffen und alles das zu vermeiden, dem die kindliche Natur innerlich widerstreben muß, als etwas Fremdem, Unangemessenem, Hemmendem." Hermann Lietz: Land-Erziehungsheime. In: Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 5. Hrsg. von Wilhelm Rein, Langensalza 1906, S. 290-299, hier S. 291. Was die ,kindliche Natur' sei, wusste Lietz intuitiv, begründet wurde sie nicht. Vgl.: „Wickersdorf ist, wie eine Wikingergründung, entstanden als die Ansiedelung eines Führers mit seiner Gefolgschaft. Da Wickersdorf nicht die Verwirklichung eines Reformprogrammes ist, wie ζ. B. die Landerziehungsheime, sondern einer Idee, d. h. [...] eines Bildes vom jugendlichen, neugearteten Menschen und seiner ordensmäßigen Gemeinschaft, [...] so konnte dies Werk weder theoretisch noch praktisch durch eine Zusammenarbeit mehrerer zustande kommen. Die Anschauung hat persönlichen Charakter, sie wird einem Einzelnen in schöpferischer Stunde zuteil. [...] Wohl aber können viele sich von der dem einen zuteilgewordenen Erleuchtung mit erleuchten lassen, sie können sein Werk zu dem ihrigen, ja, ihn zu dem ihrigen machen. Das nenne ich Gefolgschaft." Wyneken (Anm. 18), S. 54. Vgl. Ellen Key (Anm. 17), S. 16ff., S. 44ff. Zu Hermann Lietz vgl. Anja Pielorz: Werte und Wege der Erlebnispädagogik Schule Schloß Salem, Neuwied u. a. 1991, S. 29, sowie Walter
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Gustav Wyneken begründete die Auswahl seiner Schüler aus dem vermögenden Bürgertum durch deren „bessere und feinere Rasse (oder Rassigkeit)". Der hohe Anteil jüdischer Schüler in Wickersdorf, nach Wyneken 1922 rund 40% der Schülerschaft, bedinge aber eine „Einseitigkeit der geistigen Richtung" und drücke „erfahrungsgemäß das Niveau der körperlichen Leistungsfähigkeit herunter".25 Vergleicht man die weltanschaulichen Grundlagen der Reformpädagogik mit denjenigen des George-Kreises, lassen sich mehr trennende als verbindende Elemente ausmachen. In seiner Abhandlung Romantisch und Dionysisch formulierte Kurt Hildebrandt 1911 im zweiten Jahrbuch für die geistige Bewegung nicht nur die Grundlage der Piatondeutung des Kreises, sondern auch bereits die Zielvision der späteren Kreiserziehung: Nicht als denker, sondern als lebendige gestalt war er [Piaton] begründer des geistigen reiches und die Unterhaltungen auf der strasse, sein scherz beim werben um jünglinge [...] waren zugleich handlungen seines geistigen reiches. [...] In der Akademie schuf er sich den lebendigen geistigen Staat26. Friedrich Gundolf subsumierte schließlich den Inhalt dieser Erneuerung: ,Akademie' und neuer ,geistiger Staat', unter dem Begriff der ,Substanz'. Substanz bedeutete in diesem Zusammenhang erstens die sinnhaft erfüllte Einheit der Lebenswelt gegenüber einer zunehmenden Rollendifferenzierung in der modernen Industriegesellschaft, zweitens die durch große Persönlichkeiten bewahrte kulturelle Tradition und drittens die Wertigkeit der Person in Bezug auf die Erziehungsziele des Kreises. Diese , Substanz' war nach Auffassung der Georgeaner in der modernen Gesellschaft bedroht. Wiedererweckung und Bewahrung der Substanz durch die individuelle Erziehung qualifizierter Persönlichkeiten wurden in der Programmatik des George-Kreises zu einer
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Benjamin 1892-1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N. Bearb. von Rolf Tiedemann/Christoph Gödde/Henri Lonitz, Ausstellungskatalog Marbach a. N. 3. durchges. und erw. Aufl. 1991 (= Marbacher Magazin 55), S. 33f. Wyneken (Anm. 18), S. 33. Vgl.: „Im ganzen [...] hat man auch den Eindruck, daß das häusliche Milieu des jüdischen Kaufmanns für den straffen, spartanischen und idealistischen Zug der Wickersdorfer Erziehung keine günstigen Vorbedingungen schafft." Ebd. Kurt Hildebrandt: Romantisch und Dionysisch. In: Jb Π 89-115, hier S. 90, S. 93. Edgar Salin deutete in seiner Habilitationsschrift Piatons Politeia schließlich ganz als Programm eines Jugend- und Erziehungsstaates: „Da aber ,Erziehung' den Charakter und den Inhalt der gesamten Herrschaft ausmacht und bestimmt, so prägt sie auch der Wesensgemeinschaft rückwirkend wieder als eigentlichen, j a alleinigen Ausdruck den Charakter der Erziehungsgemeinschaft auf. Erziehung ist nicht nur der Inhalt der Herrschaft, sondern auch der nächste Sinn der Gemeinschaft; die Wesensgemeinschaft der Kaste, letztlich gerichtet auf den gleichen Dienst am Gott und Gottreich, wird irdisch sichtbar als Gemeinschaft der Zöglinge und Jünger." Edgar Salin: Piaton und die griechische Utopie, München und Leipzig 1921, S. 31.
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zentralen Aufgabe für die Zukunft.27 Die Ermittlung der Substanz einer Person war jedoch wie in der Reformpädagogik eine Kategorie der Anschauung und des individuellen Erlebnisses, die nicht analytisch bestimmt werden konnte. Erziehung bedeutete aber im Unterschied zur Reformpädagogik eine Hinleitung zur dichterisch-kultischen Mitte, wie sie in Georges Werk und Person realisiert war. Heinrich Friedemanns Deutung der platonischen Idee als schöpferischer Prozess verband daher konsequent Dichtung und Erziehung: Die platonische Idee wurde zur „kultlichen gestalt",28 die kultische Mitte der Dichtung zum Kern der Gründung eines geistigen Reiches durch Erziehung. Eingebunden in das Bild der platonischen Akademie als „schule der erziehung"2' wurde die Gemeinschaft zum „philosophenzentrum des staates";30 das Konzept öffnete sich dadurch in den politischen Raum. Ich habe an anderer Stelle die damit verbundene Erziehungspraxis dargestellt: die Kontaktsuche zu den Eltern und das Mentorensystem, in dem ein älteres Kreismitglied jeweils fur einige jüngere Aspiranten verantwortlich war, die Einrichtung und Unterstützung von Freundespaaren, das eigene Dichten und gemeinsame Lesen als Erziehungshandlung zur Vorbereitung auf den Kreis und die individuelle, zum einzigartigen Erlebnis gestaltete Begegnung mit George.31 Zugleich verpflichteten George und die Mentoren die Kreisaspiranten, die im Unterschied zu den Schülern der Reformschulen in der Regel bereits Oberstufenschüler oder Studenten waren, auf die schulische und universitäre Arbeit. Das Erreichen des Abiturs, eines Universitätsabschlusses und der Berufseintritt waren Teilmomente der Kreiserziehung, die zwischen einer Kreisexistenz und einem bürgerlichen Leben unterschieden, während in der Reformpädagogik zumeist ,der ganze Mensch' in der pädagogischen Provinz gebildet werden sollte. Die Erziehung war im George-Kreis zudem nur ein Element in einem umfassenden Projekt der Rekonstitution der Bildung, das eine Erneuerung der Dichtung, der Wissenschaft und der Lebensform einschloss.32 Dagegen war die Erziehung in der Reformpädagogik die zentrale Instanz, aus der die Welt einer Erneuerung zugeführt werden sollte. Dementsprechend wurden in den jeweiligen Bewegungen die einzelnen Elemente den zentralen Absichten hierarchisch zugeordnet. Waren fur den George-Kreis der Mittelpunkt die europäische Dichtung sowie das Werk Georges, auf deren intensive Rezeption und Interpretation die Kreisaspiranten immer wieder verpflichtet wurden, so war für die 27
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Vgl. Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. In: Jb II 10-35, hier S. 19. Zur Persönlichkeitserziehung als Thema der Pädagogik um 1900 vgl. Meike Sophia Baader: Persönlichkeitsbildung als Aufgabe von Schule um 1900. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 9. Hrsg. von Johannes Bilstein u. a., Bad Heilbrunn/Obb. 2003, S. 225-248. Heinrich Friedemann: Piaton. Seine Gestalt (1914), 2. Aufl., Berlin 1931, S. 32. Ebd., S. 117. Ebd., S. 121. Vgl. Groppe (Anm. 4), Kap. Hermetische Pädagogik, S. 412-479. Vgl. ebd., S. 6Iff.
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Reformpädagogik Kunst nur ein Teilmoment im Rahmen des Erziehungsprozesses. Während im George-Kreis die Dichtung eine autonome, selbst wertsetzende Sphäre darstellte, kam ihr in der Reformpädagogik nur der Stellenwert eines Anregungspotenzials fur die Entfaltung der Schüler zu. In der Außenperspektive entstand jedoch ein Diskursnetz, in dem vermeintlich gleiche Anliegen von verschiedenen Personen und Gruppen debattiert und gleiche Gegner, die Großstadt, die Technisierung des Alltags etc. bekämpft wurden, de facto aber ganz unterschiedliche Ziele verfolgt wurden. Ich möchte im folgenden Teil drei reformpädagogische Schulgründungen: die Lietzschen Landerziehungsheime, Wynekens daraus entstandene Freie Schulgemeinde Wickersdorf und Hahns - ebenfalls an das Konzept der Landerziehungsheime anschließende - Schule Schloss Salem vorstellen und prüfen, inwiefern hier jeweils von einem Einfluss oder einer Rezeption der Dichtung und der Reformvorstellungen Georges und seines Kreises gesprochen werden kann. Hermann Lietz, zunächst erfolgloser Lehrer an privaten Progymnasien, hatte 1896 für ein Jahr an einer unbedeutenden englischen public school (Abbotsholme) unterrichtet und die Landerziehungsheimbewegung 1898 mit dem Ziel begründet, Stätten zu schaffen, in denen ,erzogen' und nicht bloß unterrichtet wird, in denen die Jugend auf dem Lande in der freien, schönen Gottesnatur aufwachse, in denen sie wie in einem Familienheim (home), einer zweiten Heimat, mit ihren Erziehern wie eine erweiterte Familie zusammenlebt; in denen echte deutsche Art und Sitte gepflegt werde. 33
Lietz besaß klare Vorstellungen von einem kind- und jugendgemäßen Leben: gesunde Landluft, Sport, praktische Handarbeit, eine spezifische, auf lebensreformerische Programme zurückzuführende Diätetik, die auf Alkohol, Kaffee und Tee verzichtete und auf vegetarische Kost setzte und eine praktische, gesunde Kleidung, d. h. kurze Hosen und Sandalen.14 Der Tagesablauf war strikt reglementiert: 5.30 Uhr aufstehen und kalt duschen, 6 Uhr Frühstück, dann Andacht, ab 7.30 Uhr Schulunterricht bis etwa 12 Uhr. Danach freie Zeit bis um 13 Uhr, nach dem Essen 30 Minuten Musik und Vorlesen, ab 14.15 Uhr Handarbeit im Garten und in den Werkstätten. Ab 16.30 Uhr Schularbeiten,
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Lietz (Anm. 22), S. 290. Vgl. Ders.: Deutsche Land-Erziehungsheime in Schloss Bieberstein, Haubinda i. Thüringen und Ilsenburg i. Harz. Das achte Jahr 1905/1906, Leipzig o. J„ S. 8ff. Zu Person und Werk Hermann Lietz' vgl. Dietrich Benner und Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, Weinheim und Basel 2003, S. 67-91. Vgl. Lietz (Anm. 22), S. 292f., S. 297. Vgl. Benner und Kemper (Anm. 33), S. 83.
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18.30 Uhr Abendessen, dann bis 20 Uhr Freizeit bzw. organisiertes Ballspiel sowie eine Andacht oder Aussprache in der sogenannten ,Kapelle', dann wieder kalt duschen, um 21 Uhr Bettruhe.35 Ziel der Erziehung war ein frohes Gemüt, ein fester Wille, gesunde Körperkraft, Schaffens- und Begeisterungsfreudigkeit, Charakter, Fähigkeit, eine Arbeit, die dem Können und Wollen entspricht, mit Erfolg anzupacken, ein klares Urteil über Euch, Eure Umgebung, Eure Lebensaufgabe 3 6 .
Lietz verwirklichte ein Programm, das seiner Vorstellung von einer Erziehung an den englischen public schools entsprach. Von einem dezidiert reformpädagogischen Programm im Sinne selbstbestimmter Tätigkeit und Mitgestaltung des Unterrichts durch die Schüler war im Schulalltag kaum etwas zu spüren." Ländlich-einfaches Leben, Abhärtung und Askese sollten zur ,Sittlichkeit' erziehen, was diese konkret beinhaltete, wurde offengelassen.38 Zugleich regierte Lietz als unumschränkte Autorität in seinen Landerziehungsheimen. Gesinnungsbildung war Teil des Deutschunterrichts, und die Aussprachen der Schüler und Lehrer in der ,Kapelle' dienten nicht der freien Diskussion, sondern der Erziehung zu den Prinzipien des Gemeinschaftslebens.3' So mussten sich die Eltern auch eine rigide Befragung durch die Schule gefallen lassen, die in den öffentlichen Schulen, in denen der Erziehungsauftrag der Familie zukam und der Lehrer für den Fachunterricht zuständig war, ebenso ausgeschlossen war wie im George-Kreis, der auf die Unterstützung der Eltern und die implizite Kooperation mit den höheren Bildungsanstalten setzte. Die Eltern mussten bei der Anmeldung ein vierseitiges Formular ausfüllen, das „erstmals in der Geschichte der deutschen Schule" nach der Abstammung fragte und als mögliche Antworten „indogermanisch" und „semitisch" vorgab und Auskunft darüber verlangte, ob das Kind „seine Gliedmaßen in seiner Gewalt habe". Für begriffsstutzige Eltern wurde in Klammern „Selbstbefleckung" hinzugesetzt.40 Eine Erziehung zur Dichtung, wie im George-Kreis vorgesehen, war nicht das 35
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Vgl. Hermann Lietz: Das erste Jahr im D.L.E.H. Ilsenburg. Vom 28. April - 1. Juli 1898. In: Die deutsche Reformpädagogik. Die Pioniere der pädagogischen Entwicklung. Hrsg. von Wilhelm Flitner und Gerhard Kudritzki, 5. Aufl., Stuttgart 1995, S. 78-84. Hermann Lietz: Brief an seine Freunde (1918). In: Flitner/Kudritzki (Anm. 35), S. 84-88, hier S. 85. Zu Lietz' Reformabsichten vgl. Benner/Kemper (Anm. 33), S. 67ff. Zur Schulrealität vgl. Detlef K. Müller: Schulkritik und Jugendbewegung im Kaiserreich (eine Fallstudie). In: Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildung. Eine Einführung in das Studium. Hrsg. von Detlef K. Müller, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 191-222, hier S. 215f. Vgl. Benner und Kemper (Anm. 33), S. 78f. Vgl. ebd., S. 84fif. Vgl. auch Hermann Lietz: Eine Sonntagmorgenstunde in der Kapelle des D.L.E.Hs. Haubinda (1909). In: Ders.: D.L.E.H. Das elfte Jahr in deutschen Landerziehungsheimen. Zweiter Teil, Leipzig 1909, S. 12-16. Müller (Anm. 37), S. 216.
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Ziel der Erziehung in den Lietzschen Landerziehungsheimen. Hier stand unter Zuhilfenahme der Dichtung - eine deutsch-nationale, in völkische Denkmuster übergehende Gesinnungsbildung mit dem Ziel gesamtgesellschaftlicher Rückkehr zu traditionellen Lebensformen und harmonischem Miteinander der sozialen Klassen im Vordergrund, so dass sich der Deutschund Geschichtsunterricht auch in den Inhalten daran orientierte.41 1906 hatte Gustav Wyneken nach einem der vielen, für die Reformschulen typischen Streitigkeiten das Lietzsche Landerziehungsheim Haubinda, an dem er als Lehrer gewirkt hatte, verlassen und gemeinsam mit dem ebenfalls in Haubinda wirkenden Lehrer Paul Geheeb die Freie Schulgemeinde Wickersdorf gegründet. Wynekens Begriff der ,Jugendkultur' stellte eine geniale Verbindung zum Kulturdiskurs her: „Nicht das ewige, langweilige und selbstverständliche , Werde der du bist'" sollte die Losung der Freien Schulgemeinde sein, sondern in ihr sollte das wahre Potenzial der Jugend: „reine Empfänglichkeit für Größe, Schönheit und Adel, ihr Bedürfnis zu verehren und treu zu sein, ihr Wille zum Letzten und Unbedingten" geweckt werden. Durch neue nach Wickersdorfer Konzept errichtete - Schulen sollte die Jugend Träger des ,Kulturfortschritts' werden, dazu befähigt durch die „Kultivierung ihrer eigenen besten Instinkte".42 Das Kunsterlebnis sollte in der Freien Schulgemeinde deshalb im Zentrum der Erziehung stehen. Es sollte nach Wyneken „eine wirkliche Überwirklichkeit" eröffnen.43 Kurzzeitig fand daher auch George Eingang in die Freie Schulgemeinde. Der Wickersdorfer Lehrer Paul Reiner hatte als Assistent am Mineralogischen Institut der Heidelberger Universität Friedrich Gundolf und Edgar Salin kennengelernt und war George vorgestellt worden. Von 1919 bis 1925 war er Lehrer an der Freien Schulgemeinde und gründete dort eine „George-Kameradschaft". Hier vermittelte er den Schülern die Beherrschung des dichterischen Vortragsstils des George-Kreises und erhob in den ,Morgenandachten' der Schule die von ihm vorgetragenen GeorgeGedichte in den Rang einer quasi-sakralen Lektüre. Unvergessen blieb Reiners Morgensprache vom 6. Mai 1923 auf dem Ellen-KeyPlatz hinter der Schule, wo sich die Jugend in der Sonne auf dem Boden gelagert hatte, während der Wind durch die Tannen strich. Ohne besondere Einführung
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Vgl. Benner und Kemper (Anm. 33), S. 68ff., S. 86. Vgl. Lietz (Anm. 35), S. 80f. Ders.: Deutsche Land-Erziehungsheime (Anm. 33), S. lOff. Ders.: Aus dem Gebiete des Unterrichts in den D.L.E.Hn. In: Ders.: D.L.E.H. Das elfte Jahr (Anm. 39), S. 31-87, hier S. 44ff. Gustav Wyneken: Jugendkultur (1914). In: Ders.: Ein Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena 1919, S. 122-127, hier S. 125. Zit. nach: Walter Benjamin 1892-1940 (Anm. 24), S. 36.
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wurde das ganze Vorspiel zum Teppich des Lebens in der seltsam suggestiven Sprechweise vorgelesen. 44
Aber weder George noch Wyneken gestanden ihren Anhängern auf Dauer eine geteilte Loyalität zu: „Wyneken oder George", wie es Reiner in einer Abendansprache in Wickersdorf 1923 formulierte.45 Dass die Lyrik Georges nur durch einzelne Lehrer in die Reformschule eingebunden und nicht, wie Reiner es wollte, zur ,Tafel' der Freien Schulgemeinde wurde, ist wohl darauf zurückzufuhren, dass George längst einen eigenen Kreis mit eigenen Ideen um sich aufgebaut hatte und somit - bezogen auf die beabsichtigte zukünftige gesamtgesellschaftliche Bedeutung der eigenen Reformkonzepte - von Wyneken als ,Konkurrenzunternehmen' wahrgenommen wurde.46 Es ging Wyneken daher darum, eigene Mythen und Identifikationsobjekte zu entwickeln; der Schweizer Schriftsteller Carl Spitteier entsprach dieser Strategie. Spittelers Epos Olympischer Frühling (1900-05), in dem einem neuen Göttergeschlecht die Errichtung einer neuen olympischen Ordnung aufgegeben wurde, entsprach dem Selbstbewusstsein Wynekens als Führer in eine neue Zeit. Das Buch erhielt in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf schließlich Kultcharakter.47 Aber auch auf Seiten der Georgeaner fehlte es nicht an Abgrenzungen gegenüber dem öffentlichkeitswirksamen Wyneken. In einem fiktiven Brief des mit Gundolf befreundeten Studenten Emil Henk, der in Heidelberg selbstständig einen studentischen George-Zirkel gegründet hatte, heißt es: Man glaubt hier [in Wickersdorf) allen Ernstes, daß Kultur das Resultat zusammengelegter geistiger Tatsachen sei und logischer Weise hält man die pädagogische Provinz, die Schule, als wirklichen Wert vor der Kultur liegend möglich [...]. Ist es nicht so, daß [...] erst das Dasein einer Kultur eine Schule möglich macht, die einen wirklich höheren Sinn hat [...]? 48
Auch die Kreismitglieder selbst äußerten sich wiederholt negativ über die reformpädagogischen Bestrebungen. Ernst Morwitz schrieb George 1915 über seine Lektüre der F.S.G. [Freien Schulgemeinde], Organ des Bundes für Freie Schulgemeinden:
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Alfred Ehrentreich: Stefan George in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. In: CP 22 (1972) Η. 101, S. 62-79, hier S. 71f. Vgl. Paul Reiner: Vom Kampf um die Jugend. In: F.S.G. Organ des Bundes für Freie Schulgemeinden, 2 (1912) H. 4, S. 117-124. Ehrentreich (Anm. 44), S. 77. Vgl. Bodo Würffei: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 71. Vgl. Groppe(Anm. 4), S. 341ff. Henko [d. i. Emil Henk]: In Wickersdorf (Ein Brief). In: Der Bund (1920), S. 189-193, hier S. 192.
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Das Wickersdorfer Heft wäre rührend wenn es nicht so anmaßend wäre. Aber wir müssen wirklich über diese Missverständnisse über staatliche Erziehung herzlich lachen. Die Bilder zeigen ein Material, dem man wirklich nicht schaden kann: ,schöne' weiche Künstlerkinder, denen vor lauter verquollener Innerlichkeit und Weibsgefühl die als Mindestmass zu fordernde Unverfrorenheit der Jugend sogar fehlt49
Somit war eine Zusammenarbeit ausgeschlossen. Eine Reformschule hätte nach Vorstellung der Georgeaner nur gleichsam von oben, von den Ideen des eigenen Kreises aus gegründet werden können. Eine Jugend, die bereits durch konkurrierende Reformvorstellungen und Führer geprägt war, war eine , verlorene' Jugend. Als potenzielle Kreis-Anwärter kamen die Schüler der Reformschulen nicht in Betracht.50 Weder die Schüler der Lietzschen Landerziehungsheime noch der Freien Schulgemeinde Wickersdorf erreichten zudem die fachlichen Leistungen, die in den öffentlichen Schulen verlangt wurden,51 auf die aber auch im GeorgeKreis großer Wert gelegt wurde. Hier offenbarte sich ein grundlegendes Problem der Reformschulen: Weiche, von den jeweiligen pädagogischen Originalen der Schulen festgelegte Kriterien wie ,Wahrhaftigkeit', ,Tüchtigkeit', j u gendliche Frische', ,Einsatzfreude' und Charakterfestigkeit' wurden weitaus höher geschätzt als fachliches Wissen. Symptomatisch ist folgende Szene aus Lietz' Roman Emlohstobba (1897): Der Protagonist Namreh sieht im Traum einen brennenden Scheiterhaufen von Büchern. Um diesen herum tanzen die Kinder, die immer neue Schulbücher ins Feuer werfen: Zornig sucht eine Schar meist bebrillter, ziemlich grämlich dreinschauender Leute, sie in ihrem Freudenfeste zu stören. [...] Es sind die ,Altphilologen'. N a m r e h vernimmt ihren Klagegesang über das Hereinbrechen der Barbarei und des Obskurantismus, über den Weltuntergang der Wissenschaft. 5 2
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Ernst Morwitz an Stefan George am 26. Dezember 1915, SGA. Edgar Salin berichtet von Georges geäußerter Abneigung gegen die Person Wynekens: „Wyneken ist ein dürrer Rationalist ohne Glauben und Ehrfurcht. Wer durch seine Schule geht, hat die Grundeigenschaft verlernt, mit der in jeder pädagogischen Provinz das Leben beginnt." Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, 2. Aufl., Düsseldorf und München 1954, S. 33. Salin schildert auch eine Begegnung Georges mit einem zur Aufnahme in den Kreis äußerlich in Frage kommenden Jugendlichen, der, als er die „abscheuliche Wandervogel-Kleidung [trug] und eine Klampfe in der Hand" hielt, für George sofort als Kreisaspirant ausschied. Ebd., S. 56. Vgl. Benner und Kemper (Anm. 33), S. 89f. Peter Dudek: „... dass Unterricht und Erziehung von dem Geist einer ungesunden Kritik beherrscht werden." Gustav Wynekens Konflikt mit der Staatsregierung Sachsen-Meiningens 1909. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 7. Hrsg. von Christa Berg u. a., Bad Heilbrunn/Obb. 2001, S. 287-303. Hermann Lietz: Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Bilder aus dem Schulleben der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft?, Berlin 1897, S. 68f.
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Im George-Kreis war das neue kreisinterne Bildungsziel dagegen weder in einen Gegensatz zum Bildungsprozess in den öffentlichen höheren Schulen gestellt noch waren die Jugendlichen aus ihren Familien und peer groups herausgerissen worden. Die ihnen durch Familie und Schule zur Verfugung gestellten Sozialisationsräume eröffneten Wahlmöglichkeiten, selbst wenn eine Entscheidung gegen den Kreis von diesem als Versagen der Aspiranten gewertet wurde.53 Bereits als Schüler hatte der 1886 geborene Kurt Hahn, Sohn eines vermögenden Industriellen, in dessen Haus auch das mit George befreundete Malerehepaar Lepsius verkehrte, Lietz' Programmschrift Emlohstobba gelesen. Durch sein Studium in Oxford entwickelte er dann die Vision einer an die englische Internatserziehung und das Vorbild der Lietzschen Landerziehungsheime angelehnten eigenen Schule. Im Ersten Weltkrieg arbeitete Hahn als Englandexperte in der ,Zentralstelle für Auslandsdienst' zur Auswertung der Presseberichte, eine Stelle, der ab 1917 auch Friedrich Gundolf zugewiesen war.54 Möglicherweise ist hier auch ein Kontakt zustande gekommen. 1920 wurde die Schule Schloss Salem am Bodensee in einem ehemaligen Zisterzienserkloster eröffnet. Als eine der ersten Lehrerinnen konnte eine Lehrerin aus Paul Geheebs Odenwaldschule (wiederum als Abspaltung aus der Freien Schulgemeinde Wickersdorf entstanden) gewonnen werden, so dass enge Kontakte zur Landerziehungsheimbewegung bestanden. Hahn beschrieb seine Schule als einen ,Schulstaat', in dem staatsbürgerliche Erziehung durch die Einübung in staatsbürgerliche Pflichten geleistet werden sollte. Salem sollte dementsprechend eine „vereinfachte Umwelt" darstellen, in der „Vorformen gesellschaftlicher Wirklichkeit" die Einübung von Gemeinschaftshandeln ermöglichen sollten.55 Wie Hermann Lietz knüpfte auch Hahn an bestehende pädagogische Traditionen und Reformkonzepte an. Lietz entwickelte Fichtes Modell des Geschlossenen Handelsstaats (1800) und sein in den Reden an die deutsche Nation (1807/08) formuliertes Konzept einer außerhalb der Gesellschaft zu gründenden Lebensgemeinschaft für die Jugend mit dem Ziel einer neuen Nationalerziehung weiter, indem er die Landerziehungsheime „als Modell zur Versittlichung des Lebens in ländlichen Gemeinschaften" verstand.56 Hahn bezog sich darüber hinaus besonders auf Piatons Politeia,57 Inwiefern 53 54
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Vgl. Groppe (Anm. 4), S. 475ff. Zur Biographie Kurt Hahns vgl. zusammenfassend die Einführung von Michael Knoll: Kurt Hahn. Reform mit Augenmaß. Ausgewählte Schriften eines Politikers und Pädagogen. Hrsg. von Michael Knoll, Stuttgart 1998, S. 1-11. Pielorz (Anm. 24), S. 44ff. Werner Koppen: Die Schule Schloß Salem in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, Ratingen bei Düsseldorf 1967, S. 32. Benner und Kemper (Anm. 33), S. 77f. Vgl. Kurt Hahn: Gedanken über Erziehung. Ein unvollendetes pädagogisches Werk (1908/13; 1928/30). In: Kurt Hahn (Anm. 54), S. 25-44, hier S. 34ff. Köppen (Anm. 55), S. 3 Off.
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hier möglicherweise Einflüsse des George-Kreises vorliegen, bedürfte einer genaueren Untersuchung. In den vor dem Ersten Weltkrieg konzipierten und 1928/30 publizierten Gedanken über Erziehung beschrieb Hahn im Rahmen kulturkritischer Theoreme wie Hermann Lietz die Erziehung zur Sittlichkeit als zentrales Ziel: „Nun sind ja die heutigen Eltern oft sehr wertvolle und prachtvolle Menschen, aber meist [...] Krüppel der Schönheit der Seele, keine tauglichen Subjekte eines jeden möglichen sittlichen Zweckes."58 Richtige Erziehung, in reformpädagogischer Diktion von Hahn als „seelische Ansteckung"59 definiert, konnte also nur dadurch zustande kommen, dass dem Kind eine einheitliche , Lebensrichtung' aufgezeigt wurde, die in der Gemeinschaft des Internats verwirklicht werden sollte; den Eltern, nach Hahn aufgewachsen in einer kranken Gesellschaft, wurde die Erziehungskompetenz abgesprochen.60 Damit erscheint das Hahnsche Internat wie die Lietzschen Landerziehungsheime und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf als Gegenwelt, aus der schließlich eine neue Kultur und Gesellschaft entstehen sollte. Vermittler dieser neuen Lebensrichtung sollten bei Hahn die Dichter sein, nicht aber indem sie selbst als Ideengeber auftraten, sondern indem sie die Reformpädagogik und ihre Ziele ideell stützten.61 Die Dichtung besaß wie in Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf zwar die Funktion eines besonderen seelischen Erlebnisses, aber nicht die Bedeutung eines sinnstiftenden Mittelpunkts. Dieser war die Schule selbst, die das ,kranke Weideland' der Gesellschaft langfristig neu bestellen sollte.62 Wie in den Lietzschen Landerziehungsheimen oder in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf stand auch in Salem die ,Charaktererziehung' im Vordergrund. Der Salemer Abschlussbericht an die Eltern, den ζ. B. die Tochter des Architekten Mies van der Rohe 1933 erhielt, enthielt u. a. folgende Punkte: Gemeinsinn\ Dorothea hat als Mädchenhelfer mit ganzem Herzen für die gemeinsame Sache gelebt. Sie hat die Aufgaben ihres Amtes ganz erfaßt und sich mit der Sache der Schule identifiziert, ohne je von ihrer Eigenart etwas aufzugeben. [...] Fähigkeit, das als recht Erkannte durchzusetzen: Sehr gut. Dorothea hat fortreißenden Schwung, ganz von selber fällt ihr die Führung zu. 63
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Hahn, Gedanken über Erziehung (Anm. 57), S. 43. Ebd., S. 42. Vgl. Kurt Hahn: Die nationale Aufgabe der Landerziehungsheime. Pläne fur eine Erziehungsbewegung (1928/30). In: Kurt Hahn (Anm. 54), S. 124-147, hier S. 126f. Ders., Gedanken über Erziehung (Anm. 57), S. 43f. Gleichlautend Lietz (Anm. 22), S. 290. Vgl. Hahn, Gedanken Uber Erziehung (Anm. 57), S. 44. Vgl. Hahn (Anm. 60), S. 126. Ders,, Gedanken über Erziehung (Anm. 57), S. 44. Georgia van der Rohe: La donna e mobile. Mein bedingungsloses Leben, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 51 f. Vgl. auch Hahn, Die nationale Aufgabe der Landerziehungsheime (Anm. 60), S. 125f.
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Diese empirisch nicht überprüfbaren Kriterien und Urteile spiegeln eine Pädagogik, die durch individuelle Intuition und Inspiration statt durch empirisch fundierte Psychologie geprägt war. Die Beurteilungen sicherten zugleich die mentale Formierung der Schülergemeinschaft als neue Elite, die als Leistungsund Gesinnungsaristokratie die Reform der Gesellschaft in Angriff nehmen sollte. Im Salemer Schulalltag wurde dieses Programm durch eine subtile Umsetzung des englischen Präfektensystems der Eliteinternate unter Zuhilfenahme von Benennungen aus Piatons Politeia realisiert. Die Schüler durchliefen verschiedene Bewährungsstufen, von der Verleihung der Schuluniform bis zur möglichen Aufnahme in die Gruppe der Farbentragenden.64 Diese kam wöchentlich zu Versammlungen zusammen und entschied über Fragen des Schullebens mit. An der Spitze der Schülerhierarchie stand der vom Schulleiter ernannte Wächter, ein einzelner Schüler, der als rechte Hand des Schulleiters wirkte.65 Daneben stand die Verpflichtung zur Ausbildung in Rettungsdiensten, die im Sinne einer „Erlebnistherapie" zum zentralen Element einer staatsbürgerlichen Mitverantwortung durch „Selbstbewährung und -bestätigung" werden sollte.66 1931 veröffentlichte Kurt Hahn eine Denkschrift, in der die in Salem zu bildenden Charaktere deutlich konturiert wurden: Nicht gewünscht waren u. a. „der zum bundesgenössischen Handeln unfähige Selbstling", „der Skeptiker" und „der Weichling, der den Wallungen des Augenblicks erliegt". Gefordert wurden dagegen „freiwillige Unterordnung", „verantwortliches Befehlen" und Härte gegen sich selbst durch das „Bestehen von Gefahren und Strapazen" und das „Überwinden von nervösen Hemmungen".67 „Schlechte Menschenware", so Hahn, sei das Ergebnis gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, so dass die Erziehung insgesamt an flächendeckend zu gründende Internate und Ganztagsschulen nach Salemer Vorbild überzugehen habe.68 Als Woldemar von Uxkull Ende des Jahres 1923 für ein Jahr an die Universität Oxford wechselte, schrieb er von dort an George: Es ist unbedingt etwas an dieser traditionsreichen Universität und wenn naturgemäss auch ein grosser unterschied zwischen einem englischen college und dem be-
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Vgl. Kurt Hahn: „... nicht nur das Knie, sondern auch den Gemeinsinn täglich üben". Brief an einen Schüler (1925). In: Kurt Hahn (Anm. 54), S. 116-119. Vgl. Kurt Hahn: Ein Internat in Deutschland. Vortrag über Salem (1934). In: Kurt Hahn (Anm. 54), S. 222-232, hier S. 225ff. Koppen (Anm. 55), S. 66ff. Hermann Röhrs: Die pädagogische Provinz im Geiste Kurt Hahns. In: Bildung als Wagnis und Bewährung. Eine Darstellung des Lebenswerkes von Kurt Hahn. Hrsg. von Hermann Röhrs, Heidelberg 1966, S. 83-97, hier S. 87. Kurt Hahn: Die Sieben Salemer Gesetze. Ansätze der Erlebnistherapie (1930). In: Kurt Hahn (Anm. 54), S. 151-153. Hahn, Die nationale Aufgabe der Landerziehungsheime (Anm. 60), S. 126f. Ebd., S. 126, S. 146f. Vgl.: „Salem ist in Kampfesstellung gegen das heutige Deutschland und ist mit dazu berufen, sich dem Verfall entgegenzustemmen." Hahn (Anm. 64), S. 118.
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steht was wir unter der zu gründenden >Akademie< uns vorstellen • so ist unbestreitbar ein verwandtes element dennoch zu konstatieren. [...] Uns fehlt und hat immer ein deutsches Eton und Oxford gefehlt • ich könnte mir vorstellen · dass wenn dies in Unserm Sinne einmal möglich wäre · ein deutscher träum gestalt bekommen würde • die wahre erneuung brächte für den äusseren Staat. 69
Woldemar von Uxkull hatte eines deutlich erkannt: Ein Zugriff auf bereits bestehende Einrichtungen war nicht möglich, sondern nur eine Neugründung im Sinne des Kreises, in der die eigenen Erziehungsziele im Mittelpunkt einer neuen pädagogischen Konzeption stehen müssten. In keiner der reformpädagogischen Schulgründungen stand eine George-Rezeption im Mittelpunkt der eigenen Traditions- und Identitätsbildung. Man berief sich zum Teil auf dieselben Autoritäten, ζ. B. Piaton, man bekämpfte im Rahmen der Kulturkritik dieselben Gegner, aber letztlich waren die Reformschulen und Reformbewegungen jeweils Konkurrenten im Kampf um die bürgerliche Jugend und um die Durchsetzung eigener Reformvorstellungen70 und unterschieden sich vom George-Kreis auch in der Qualität der Bildungsziele. Max Weber hat die zeittypische Bildung von Bünden und weltanschaulichen Gemeinschaften, die Robert Musil im Eingangszitat karikierte, aufgenommen und unter der Kategorie der charismatischen Herrschaft beschrieben: Charisma soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie mit [...] spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften [...] [begabt] [...] oder als vorbildlich und deshalb als ,Führer' gewertet wird. [...] Die charismatische Herrschaft ist, als das Außeralltägliche, [...] der rationalen, insbesondere bureaukratischen [...] schroff entgegengesetzt. [...] legitim ist sie nur soweit und solange, als das persönliche Charisma kraft Bewährung ,gilt', das heißt: Anerkennung findet71.
Vor diesem Hintergrund konnten die Reformpädagogen die Autorität und Deutungskompetenz nicht teilen, denn charismatische Herrschaft fordert die Anerkennung des einen Auserwählten durch die Gemeinde. Die Reformpädagogik war daher getragen von eigenen Vorstellungen und Ambitionen. Ganzheit, Bindung und neue Lebensformen wurden nicht ursprünglich aus der
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Woldemar von Uxkull an Stefan George am 3. Mai 1924, SGA. Vgl. auch die Auseinandersetzungen zwischen Lietz, Wyneken und Geheeb. Wyneken schrieb über Lietz, in seinen Schulen habe eine Art „aufgeklärter Despotismus" geherrscht. Wyneken (Anm. 18), S. 55. Geheeb wiederum schrieb später über Wyneken, er sei „intellektuell ungewöhnlich hoch entwickelt" gewesen, „aber in emotionellen, ethischen und allen anderen menschlichen Zügen ganz unterentwickelt geblieben [...], so dass er überall, wohin er kam, Unheil und Zerstörung brachte." Zit. nach: Benner und Kemper (Anm. 33), S. 110. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1921/22). Studienausgabe. Besorgt von Johannes Winckelmann, 5. rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 140f. Vgl. dazu das Wyneken-Zitat in Anm. 23.
George und die Reformpädagogik
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Dichtung konstruiert, sondern aus der Pädagogik. Dichter wie George konnten aber gelesen werden als ,Inbegriff des eigenen Selbstverständnisses'72 und damit in den eigenen Sozialraum und die eigene Weltanschauung transformiert werden. Weder Lietz noch Wyneken noch Hahn bezogen sich jedoch auf George und seinen Kreis als Grundlage der eigenen Reformprojekte. Georges Werk und Person und die Schriften seines Kreises konnten in den Konzepten eine Rolle spielen, Führer und explizite Vorbilder waren sie nicht. Wollte man versuchen, die Wirkung Georges auf das reformpädagogische Feld umfassend zu bestimmen, käme man mit dem hier unternommenen Vergleich der weltanschaulichen Grundlagen und der Beschreibung der Schulrealität in drei Reformschulen sicherlich nicht aus. Biographische Untersuchungen über einzelne Lehrer und Schüler müssten dann ebenso vorgenommen werden wie der analytische Einbezug von kleineren, weniger öffentlichkeitswirksamen Reformschulen und die genaue Analyse der theoretischen und weltanschaulichen Divergenzen zwischen den Protagonisten der Reformpädagogik. Dazu müsste aber zunächst geklärt werden, was mit ,Wirkung' beschrieben werden soll. Ist die Rezitation von Georges Gedicht Wer je die flamme Umschrift an den Lagerfeuern der Jugendbewegung ,Wirkung'? Oder das Vorlesen des Vorspiels aus dem Teppich des Lebens bei den Morgenandachten der Freien Schulgemeinde Wickersdorf? Wirkung kann unterschiedliche Dimensionen besitzen: Wahrnehmung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, messbarer Einfluss auf die Politik und gesellschaftliche Institutionen (bezogen auf Schule und Universität: Curricula, Lehrpläne, Seminarangebote) oder biographischer Einfluss auf Denkformen und Lebensführung. Bezogen auf die letzten beiden Punkte waren George und der George-Kreis wohl gerade nicht in den reformpädagogischen Internaten erfolgreich, sondern vor allem an den Universitäten und bei den Studenten und indirekt an den öffentlichen höheren Schulen bei einem Teil derjenigen bürgerlichen Jugendlichen, die sich nicht bereits einer weltanschaulichen Bewegung verpflichtet fühlten. Welche Auswirkungen dies aber wiederum im individuellen Lebenslauf besaß, lässt sich nur über biographische Einzelstudien ermitteln.
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Vgl. Fritz Hackert und Ulrich Herrmann: Kultbücher - Hinweise zur Mentalitätsgeschichte der deutschen Jugendbewegung. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 16 (1986/87), S. 21-26, hier S. 21.
Wolfgang Christian Schneider
Geschichtswissenschaft im Banne Stefan Georges Wolfram von den Steinen im Ringen um die gestalthafte , Schau' der Vergangenheit Das erste im eigentlichen Sinne geschichtliche' Werk, das unter dem Signum der ,Blätter für die Kunst' erschien, zu Ende des Jahres 1922, war Wolfram von den Steinen: Staatsbriefe Kaiser Friedrichs II. Schon während der Entstehung waren - wohl über Friedrich Wolters - Stefan George einzelne Stücke daraus zugänglich gemacht worden: Am 11. Januar 1920 hatte der Dichter bei Berthold Vallentin daraus vorlesen lassen, um gegen dessen Zweifel nachzuweisen, daß das Mittelalter auch ,Große', ,Normsetzende' besessen habe.1 Mitte 1921 las Wolters dem , Meister' weitere Friedrich-Übersetzungen von den Steinens vor - offensichtlich zur Zufriedenheit des Dichters. Im Februar 1922 übersandte Wolters George das Manuskript der Staatsbriefe unter Hinweis auf das gute Vorwort und meinte: „Die Briefe haben mir wieder einen starken Eindruck gemacht und ich glaube die Übertragung dem Meister empfehlen zu können."2 So konnte das Werk Ende 1922 als vierter Band der Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst im HirtVerlag erscheinen, in einer Reihe, die als Fortsetzung der Jahrbücher für die geistige Bewegung angelegt war. Zu diesem Zeitpunkt berührte das Buch, das auf der Grundlage der Dissertation Wolframs von den Steinen entstanden war, unmittelbar Politisches. Eben war das zweite, preussische Kaiserreich zusammengebrochen, dessen Selbstheroisierung mit Hilfe des Königs von Sanssousi Stefan George schon in Die Gräber in Speier den ,Grössten Friedrich' entgegengesetzt hatte. Und so würdigt Wolters in der Blätter-Geschichte unter den Augen des mitwirkenden ,Meisters': „Gegen die Erweichung und Verpöbelung des Staates [rief] Wolf-
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Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George, Amsterdam 1967, S. 50; ZT 304. Brief von Friedrich Wolters an StG vom 11.2.1922. In: Stefan George - Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904-1930. Hrsg. von M. Philipp, CP 48 (1998) Η. 233-235, Nr. 132, S. 170. der die Übersendung des Druckmanuskripts neben der eben erschienen Dissertation von WvdSt ankündigt.
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Wolfgang Christian Schneider
ram von den Steinen in den Staatsbriefen Friedrichs II. (1923) die eherne Härte und adlige Geistigkeit des Stauferkaisers [auf]".J Der junge Historiker entstammte einem gebildeten, unkonventionellen und religiös freien Elternhaus. Der strenge rheinländische Vater protestantischer Herkunft, Karl von den Steinen, hatte Medizin (mit dem Schwerpunkt Psychiatrie) studiert, sich dann aber der neu entstehenden Völkerkunde zugewandt, die er seit 1893 an der Universität in Marburg, später in Berlin vertrat. Längere Forschungsaufenthalte führten ihn zu den Amazonas-Indianern und auf die Marquesasinseln Melanesiens, wo er - vorbildhaft für die damalige Völkerkunde - das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung' begründete, d. h. im Hinblick auf die unausweichliche Anerkenntnis der Selbstbezüglichkeit der Lebensäußerungen einer Kultur die künstlerische und geistige Welt dieser Kulturen in der unmittelbaren Teilhabe am Leben zu erfassen suchte. Seine Bücher darüber haben in der Ethnologie noch heute Geltung.4 Die Mutter Leonore Herzfeld war jüdischer Abkunft, doch war ihr Vater 1839 ,aus der Synagoge fortgegangen', wie Wolframs Bruder Helmut, der bedeutende Übersetzer griechischer Dichtung, sich einmal in einem Brief aus der Zeit seiner Internierung in Israel und Ägypten an Karl Wolfskehl ausdrückt.5 So war der Bezug der Mutter zum Judentum eher locker.6 Die Diskrepanz dieser religiösen Bezüge war es wohl, die Wolfram von den Steinen dann so unvoreingenommen von Christlichem sprechen ließ, einem Christlichen, in dem das Kirchliche zugunsten des Geistigen in den Hintergrund tritt.
Zwischen historischer Zunft und Stefan George Als 15-jähriger, 1907/08, war Wolfram von den Steinen Friedrich Wolters erstmals begegnet, zu dem sich seit 1912 eine enge Beziehung entwickelte, die
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Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930: S. 492. Karl von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderung und Ergebnisse der zweiten Schingu-Expedition, 1887-1888, Berlin 1894. Karl von den Steinen: Die Marquesaner und ihre Kunst. Studien über die Entwicklung primitiver Südseeornamentik nach eigenen Reiseergebnissen und dem Material der Museen. 3 Bde, Berlin 1925 - 1928; ND New York 1969. Für die teilnehmende Beobachtung' dürfte der psychiatrische Bildungshintergrund mit seiner Anerkenntnis des Bestehens andersartig strukturierter Ordnungen wirksam geworden sein. Der Völkerkundler verstarb am 4. Nov. 1929. Brief Helmuts von den Steinen an Wolfskehl vom 30. IX. 1947: Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938-1948. 2 Bde. Hrsg. von Cornelia Blasberg, Darmstadt 1988; Brief Nr. 91. Als der Großteil der Familie Deutschland verlassen hatte, fand sie in Freiburg bei Nonnen Unterschlupf, bis die Familie während des Krieges ihre Ausreise zu Wolfram von den Steinen nach Basel erreichen konnte, wo die Mutter 1944 verstarb.
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sich Stefan George zugeordnet verstand.7 Es war die ,Jahrbuchzeit', wie die Jahre 1910-1914 im Umkreis Georges später genannt wurden, die Wolfram von den Steinen noch als 71-jähriger in seiner Meditatio Solitaria vom 4. Dez. 1963 für sich als verpflichtend ansah.8 Nach einer durch 4-jährigen Kriegsdienst9 zerdehnten Studienzeit in Lausanne, Heidelberg und Leipzig, wo Karl Lamprecht10 die endgültige Wende von der Altphilologie zur Geschichte ausgelöst hatte, wurde Wolfram von den Steinen 1921 in Marburg, wohin er wegen Wolters gegangen war, promoviert mit der Arbeit: Das Kaisertum Friedrichs des Zweiten nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe (Berlin 1922). Als Gutachter waren Albert Brackmann und Richard Hamann aufgetreten. Die Dissertation folgt den akademischen Notwendigkeiten des Faches, doch setzt sie auch eigene Akzente, zunächst äußerlich in der Trennung von Darstellung und Belegerläuterung, dann aber vor allem - bei Verzicht auf Politisches und Biographisches im engeren Sinne - in der Konzentration auf das Selbstbild des Kaisers in seinem Herrschertum, die , Gestalt' des Kaisertums Friedrichs. Zum Ausdruck kam darin der für George wie dann auch für Wolters kennzeichnende Vorrang des Persönlich-Gestalthaften in seiner das Leben prägenden Macht. All dies aber wird eingebettet in das geistig-geistliche Ganze des 13. Jh. An die Veröffentlichung der Dissertation (1922) schlossen sich in rascher Folge zahlreiche weitere Buchpublikationen an: Die vom ,Meister' mit dem Blätter-Signum ausgezeichneten Staatsbriefe bei Hirt (1922/23), eine von Karl Wolfskehl angeregte Übersetzung von Dantes Monorchia (1923)11, eine 7 8
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Im September 19)1 bemüht sich WvdSt bei Hilsdorf in München um ein Photo Stefan Georges: ZT 228. Diese Schrift verteilte WvdSt zu Weihnachten 1963 im Kreis der Freunde. Das Exemplar R.Boehringers in SGA beim Brief WvdSt vom 22.12.1963. Zum Leben vgl. die Würdigungen: Karl Schefold: Wolfram von den Steinen zum siebzigsten Geburtstag, FranckeMitteilungen 1962. CP (18) 1968, Η. 81, S. 83-86; Wolfram von den Steinen - 23. November 1982 - 20. November 1967. Ansprachen gehalten bei der Beerdigung am 22. November 1967 (Max Burckhardt und Berthe Widmer). Peter von Moos: Wolfram von den Steinen, ein Historiker des Überhistorischen. Vortrag zum 100-jährigen Geburtstag W. von den Steinens, 21.11.1992 in der Alten Aula der Universität Basel (Kopie des Typoskripts in Marbach, Deutsches Literatur-Archiv und Amsterdam, Archiv Castrum Peregrini) Wolfgang Christian Schneider: „Heilige und Helden des Mittelalters". Die geschichtliche ,Schau' Wolframs von den Steinen unter dem Zeichen Stefan Georges, Göttingen 2004. WvdSt meldete sich als Freiwilliger, wurde im zweiten Anlauf auch genommen. Am 17. August 1914 meldete Wolters George den Abgang der Brüder von den Steinen zur Truppe: ZT 250, eine Nachricht, die zeigt, daß George über die Lebensumstände der Geschwister von den Steinen schon früh dauernd unterrichtet blieb. Zu Lamprechts Sicht auf die Dichtung Georges vgl. unten bei Anm. 48. Vgl. dazu Brief WvdSt aus Wien an Karl Wolfskehl 9.2.24 (DLA), in dem sich WvdSt auch für die Obersendung der Ältesten Dichtungen bedankt; Wolfskehl war Betreuer der bibliophilen Ruprechtpresse, in der die Übersetzung in nur 150 Exemplaren erschien. Zwischen Wolfskehl und WvdSt bestanden, wie erhaltene Briefe zeigen, fortdauernd enge Beziehungen; vgl. z.B. auch den Brief Wolfskehls an F. Gundolf von 26.1.1931.
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Schrift über Heinrich II. (1924), die ersten drei Bände von Heilige und Helden·. die kommentierte Ausgabe der (neu gefaßten) Übersetzung von Dantes Monorchia (1925/26), Bernhard von Clairvaux (1925/26), Franciscus und Dominicus (1925/26), alle drei eine Verbindung von Darstellungen und kommentierten Quellenstücken, dann 1926 der zugehörige analytische Band Vom Heiligen Geist des Mittelalters, in dem die geistige Welt Anselms von Canterbury und Bernhards von Clairvaux im Mittelpunkt steht.12 Noch im selben Jahr 1926 erschienen die beiden umfangreichen Übersetzungen von lateinischen Werken der deutschen Renaissance: Die Moscovia des Sigmund Freiherr von Herberstain Neyperg und Guettenhag, und die Vier Briefe aus der Türkei des Ogier Ghislin von Busbeck mit einer umfangreichen Einführung. Schließlich kommen 1928 die beiden letzten Bände der Heiligen und Helden heraus, die Bücher über Otto den Großen und Karl den Großen. Diese Buchveröffentlichungen begleiteten Aufsätze, von denen hier nur der von Berthold Vallentins Napoleon ausgelöste Aufsatz Über heroische Geschichte von 1923 genannt sein sollen und Der gedankliche Aufltau von Dantes Monorchia von 1928. Alle diese Arbeiten, und besonders Vom heiligen Geist des Mittelalters zeigen dasselbe Bemühen: Wolfram von den Steinen sucht vor allem die Innensicht, ringt darum, die von ihm beschriebenen Gestalten, seien es nun Personen oder Gedanken, in ihrem inneren Zusammenhang zu erfassen und zu verstehen. So streng seine Rede ist, so wenig beschreibt, beurteilt sie von einem äußeren Standpunkt aus. In diesem die Selbstbezüglichkeit der vergangenen Kultur anerkennenden Blick kommt zweifellos die moderne ethnologische Haltung des Vaters zum Tragen. Die angestrengte wissenschaftliche Arbeit seit 1922, die noch von Arbeiten zum Gelderwerb begleitet war, etwa private Lehrveranstaltungen im Hause Arthur Schnitzlers in Wien, 13 mündete 1925 in einen ersten Habilitationsversuch in Leipzig, die vorgelegte Schrift trug den Titel Forschungen über den Geist der christlichen Mittezeit: Bernhard von Clairvaux, sie entsprach weitgehend dem zweiten Teil seines Buches Vom heiligen Geist des Mittelalters.14
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Das Erscheinen dieses Bandes (mit der Druckrecht-Angabe 1926) nach den drei vorangehenden Quellenbänden ist gesichert durch deren Druckrecht-Angabe: 1925, bestätigt durch die Erwähnung der ersten drei Bände der Heilige und Helden am 2. Januar 1926 in: George Wolters Briefwechsel (Anm. 2) Nr. 184. Umgekehrt ist das Verhältnis in der Bibliographie des Gesamtwerks von WvdSt in: W. von den Steinen: Menschen im Mittelalter. Gesammelte Forschungen, Betrachtungen, Bilder. Hrsg. von P. von Moos, Bern und München 1967, S. 335ff. Ein im DLA liegender Brief von 4.10.1924 dokumentiert Verhandlungen über solche Lehrveranstaltungen im Hause des Dramatikers. Wie mir Georgine von den Steinen berichtete, kam es (vor oder nach dem erwähnten Brief) zu mehreren Veranstaltungen. Das zeigen die Zitate der Leipziger Gutachten aus der Arbeit, die sich meist im Buch auffinden lassen; Leipzig, Universitätsarchiv: UAL, PA 6001, Blatt 9-21); im Rahmen der Habilitation in Basel wurde, wie WvdSt am 24.Nov. 1929 brieflich (SGA: Wolters III, 3602 ) Wol-
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Doch die Leipziger Fakultät verweigerte sich - und zwar wesentlich wegen der Nähe des Kandidaten zu George und seinem Kreis und dem Festhalten von den Steinens an dessen wissenschaftlicher Haltung. 15 Irritierend für die Gutachter (die gleichwohl alle dem Bewerber hohe Fähigkeiten bestätigen) war insbesondere der Grundansatz der Arbeit, der das Selbstbild Bernhards und das Selbstverständnis seiner Zeit in den Mittelpunkt stellte, und so vermissen die Gutachten die Suche nach Vorläufern und Abhängigkeiten Bernhards, mahnen - im Gegensatz zur Themenstellung - an, die ,Tatsächlichkeit' des in den Quellen Erzählten zu prüfen und die Einzelheiten in ihren politischen Zusammenhängen zu würdigen, empfinden die Sprache als zu literarisch. Im umfangreichsten (negativen) Gutachten äußert sich Hellmann eingangs auf mehr als einer Seite über die Haltung des George-Kreises zur Geschichte als „Hilfswissenschaft einer neuen Theologie", um dies dann auf Wolfram von den Steinen anzuwenden und festzustellen, ohne die Dinge ganz so scharf zuzuspitzen, teilt der Verfasser [WvdSt] die Vorzüge und die Mängel der Schule [Stefan Georges]: Den Mangel an sinnlicher Anschauung und den hinter einem religiös schillernden Aesthetizismus sich verbergenden nackten Intellektualismus; die intuitive Erfassung von Lebensverhältnissen und die Gabe, die damit gewonnenen Erkenntnisse treffend zu formulieren (dazwischen befremden dann wieder Anschauungen, die nur aus der esoterischen Einstellung des Kreises zu erklären sind) [...]; das Talent, den richtigen Kern in einem Gedanken so lang zu übertreiben, bis er falsch wird; die stete Polemik gegen eine fremde Weltanschauung oder Denkweise, von der man sich mit Grausen wendet (hier den Protestantismus, den modernen Katholizismus und die rationalistische Wissenschaft); die nach besonderem Ausdruck fur besondere Vorstellungen ringende, manchmal unleidlich preziöse und praetentiöse Sprache mit ihren Neubildungen (Mittezeit, Tucht usw.). Geschichtsphilosophisch teilt er ihren extrem individualistischen Standpunkt.
Der zusätzlich zugezogene vierte Gutachter Boehmer trat Hellmarm bei und sprach von einer „neuen Bernhardslegende im Stefan-George-Stil". Die George-Gefolgschaft und die methodisch neuartige Konzentration auf die Innensicht des Mittelalters waren zuviel für die historische Zunft. Im Kern nehmen die Gutachten die später gegenüber Kantorowicz öffentlich vorgetragenen Angriffe vorweg. So ist es denn bezeichnend, daß Wolfram von den Steinen mit seinem Fehlschlag nicht allein stand. „Die Ablehnung des Wolfram von den Steinen in Leipzig und Elzes in Dresden geschah ausgesprochen
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ters berichtet, intensiv über Vom heiligen Geist des Mittelalters sowie über die Vorgänge in Leipzig diskutiert. Die Meinungen der Gutachter gingen weit auseinander, Goetz (dem das Werk katholisch schien) urteilte positiv, Brandenburg bedingt positiv, Hellmann negativ, ihm trat der zusätzlich bestellte vierte Gutachter Boehmer bei. Die philologisch-historische Abteilung der Fakultät lehnte daher das Habilitationsersuchen am 16. Dezember 1925 ab.
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wegen ihrer geglaubten Nähe zum ,Kreise' ohne Rücksicht auf ihre wissenschaftlichen Leistungen", berichtet Friedrich Wolters am 18. Juli 1926 an Max Kommerell, der seinerseits kurz zuvor in Würzburg, dann auch in Tübingen vergebliche Vorstöße im Hinblick auf die Habilitation unternommen hatte.16 Aus seiner George-Nähe hatte Wolfram von den Steinen tatsächlich nie ein Geheimnis gemacht, gerade in den wichtigeren Arbeiten bekennt er sich mit deutlichen Hinweisen zu George und seinen Freunden. In der Dissertation (1922) setzt er an das Ende der Literaturliste den Hinweis auf das für ihn ,maßgebende Werk' Herrschaft und Dienst von Friedrich Wolters (1920), in den unter dem Signum Georges erschienenen Staatsbriefen Friedrichs II. verweist er an hervorgehobener Stelle auf das von George gleichfalls mit dem Blätter-Signum ausgezeichnete Werk von Edith Landmann: Transcendenz des Erkennens (1923), in die Monarchia Dantes (1925/26) setzt er an das Ende der Literaturangaben einen Hinweis auf Gundolfs Dichter und Helden (1921) und Caesar (1924), In die Einleitung zu Bernhard setzt er zwei Strophen aus Das Kloster (GA V 55), der Band Vom heiligen Geist des Mittelalters (1926) schließlich ist Friedrich Wolters gewidmet. Die Parallelität der drei - zunächst - vergeblichen Habilitationsversuche zeigt deutlich, daß es tatsächlich nicht um die wissenschaftliche Leistung der einzelnen Personen Elze, von den Steinen und Kommerell ging, sondern daß in der akademischen Welt um 1925 eine starke Gegnerschaft gegenüber den Geisteswissenschaftlern aus dem Umfeld des Dichters herrschte und diese eine entschiedene Abwehr erfuhren. Abgesehen vom schlichten Fachdünkel, dem überhaupt das Abweichen vom Gewohnten, so auch das Einwirken von Dichter und Dichterischem in die Wissenschaft ein Schrecken ist, hatte diese Ablehnung der Wissenschaftler aus dem Umkreis Georges wohl vor allem zwei Wurzeln: einerseits die antibürgerliche Haltung des Dichters und seiner Freunde, die sich der üblichen gesellschaftlichen Ordnung zu entziehen schienen, offenkundig auch das Wissenschaftliche letztlich als nachgeordnet empfanden und daher bei ihren Arbeiten den wissenschaftlichen Apparat in den Hintergrund drängten. Ohne das als ,privat' bedingt zu verdecken, kultivierten sie jenseits der gesellschaftlichen Wissenschaft' einen inneren, für sie maßgeblichen' Kreis, geschart um eine Dichtung, die der säuselnden GoetheNachnachfolge ebenso entgegenstand17 wie der Zufälligkeit jugendlichen Stürmens, eine Dichtung, die sich im Menschlichen und Gesellschaftlichen 16
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Vgl. dazu im SGA den Brief von Kommereil an Wolters vom 1.4.1925 mit der Antwort von Wolters an Max Kommereil vom 3.4.1925; auch in Marburg hatte Kommerell sondiert, bei Elster, der schon die Dissertation betreut hatte: Wolters an Max Kommerell 24.3.1925; Max Kommerell an Wolters 20.4.1925. Vgl. die literaturkritischen Angriffe auf Georges Dichtung von Babette Oldenberg: Stefan George. In Frankfurter Zeitung vom 18.5.1901 (dazu Wolters (Anm. 3) S. 183f.) und Emil Ermatinger: Die deutsche Lyrik in ihrer geschichtlichen Entwicklung von Herder bis zur Gegenwart, Leipzig 1921, bes. Bd. II, S. 282-285.
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unbedingt als verpflichtend sah und - wie es die Vorrede der allgemeinen Ausgabe des Jahrs der Seele verdeutlicht - geradezu hermetisch wirken wollte. Andererseits irritierte die - letztlich damit engstens zusammenhängende vom Dafürhalten der Mehrheit der Geisteswissenschaftler entschieden abweichende erkenntnistheoretische Position des Kreises, die sich der Abkehr der Dichtung Georges vom Naturalismus entsprechend dem vorherrschenden Positivismus entzog und von der unvermeidbaren — daher aber auch gestaltbaren und bewußt zu vollziehenden Einmischung der Subjektivität in das Objektive überzeugt war. Die Grundzüge dessen hatten um 1900 die mit George freundschaftlich verbundenen Philosophen Wilhelm Dilthey und Georg Simmel philosophisch dargelegt. Freilich bedingte dies vordergründig eine ,Relativierung' der ,Tatsächlichkeiten', und so verwundert nicht, daß Georg Simmel für die akademischen Kreise Berlins als „zersetzend" galt, wie E. R. Curtius überliefert. 18 Das Abrücken von einer positivistischen Haltung bedeutete die Verflechtung von Subjektivem und Objektivem im scheinbar tatsächlichen' anzunehmen. Damit freilich verliert das wissenschaftliche Beschreiben und Beurteilen seine abgehobene Neutralität, das Subjekt selbst wird als Teil des wissenschaftlichen Beschreibens und Beurteilens wirksam. Ihres Subjekts durch den Bezug auf den Dichter sicher waren dann die Freunde Georges ebenso wie im Bereich der Dichtung auch in dem der Wissenschaft wenig konziliant, zuweilen geradezu normativ, wie beispielhaft der Angriff Kurt Hildebrandts auf das wilhelminisch getönte Antikenbild des übermächtigen Altphilologen Wilamowitz-Moellendorf zeigte, 19 dem wenig später ein Angriff Kahlers auf Max Weber folgte. 20
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E. R. Curtius: Stefan George im Gespräch, zit. nach: Stefan George 1868-1968. Der Dichter und sein Kreis, Katalog Marbach 1968; S. 146. Kurt Hildebrandt: Hellas und Wilamowitz. Zum Ethos der Tragödie. In: Jb 1 64-117. Unbeachtet bleibt meist der Vorlauf: Wilamowitz-Moellendorff hatte sich aus seiner im Künstlerischen konventionellen Haltung heraus an George-Parodien versucht und diese privatöffentlich vorgetragen (vgl. Wolters (Anm. 3), S. 183f.; Erstdruck davon in Ernst Heimeran: Hinaus in die Ferne, mit Butterbrot und Speck, München 1943, Nr. 172). Beispielhaft für Wilamowitz' normativ-konventionelle Sicht auf Dichtung ist das Vorwort zu seiner Übersetzung der Orestie (Berlin 1899) mit Ausfällen gegen Wilhelm von Humboldts AgamemnonÜbersetzung. Wie fehlbar der allmachtsvoll vertretene ästhetische Blick Wilamowitz' war, zeigt seine Deutung von Sapphos Aphrodite-Hymnus, bei dem er den Bezug von „chrysion" auf „domon" in V. 8, den Reinach erkannte, bestritt mit dem Anwurf, wer das tue „hat kein Gefühl für griechische Wortstellung" (U. Wilamowitz-Moellendorff: Sappho und Simonides, 1913: S. 45 Anm. 1) - Papyrusfunde gaben jedoch Reinach recht, das .Gefühl' von Wilamowitz irrte. Abgelehnt wurde Wilamowitz' Antikensicht auch von dem im Menschlichen zurückhaltenden großen Kenner griechischer Literatur und Religion Walter F. Otto. Die Verletztheit der .bürgerlichen Wissenschaft' zeigt sich darin, daß auch Brackmann sich in seiner Polemik gegen Kantorowicz auf den Angriff auf Wilamowitz bezieht. Erich von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920, bei Bondi, aber ohne Signum der ,Blätter'. Das Dafürhalten war hierzu im Kreis aber nicht einheitlich, vgl. Arthur Salz: Für
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So gibt sich die dreifache Habilitationsverweigerung als Antwort der wissenschaftlichen Zunft der philosophischen Fakultäten auf die erlittenen oder vermuteten Kränkungen durch den Kreis um den Dichter zu erkennen. Im Zuge der ,anti-georgischen' Ablehnung Elzes in Dresden war ausdrücklich Wolters' Name gefallen, und so kündigt Wolters in seinem Brief an Kommereil die Absicht an, offen dagegen vorzugehen: „Wenn die Bürger den Kampf wollen, soll es mir recht sein - ich werde direkten Angriffen die Antwort nicht schuldig bleiben, wie sie auch aus der beigelegten Antwort ersehen mögen"21 Dann aber gelang Wolfram von den Steinen die Habilitation in Basel, unter der Obhut von Edgar Salin: Abgesichert von der ,Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft' hatte Wolfram von den Steinen eine Arbeit zur Entstehung der Libri Carolini geschrieben, der Überlegungen Karls des Großen zum Bilderstreit der Theologen Ostroms, und sie im Sommer 1929 eingereicht. Es war ein unbezweifelbar fachliches Werk, „extreme fachwissenschaft für die ich ja ader genug habe die mir dennoch sowohl weil sie mir nur halbes tun als auch, weil sie heute noch unnützer als sonst ist immer wieder das gewissen beleidigt", wie er in einem Brief an Wolters schreibt, der die Vorgänge im einzelnen berichtet.22 Zu den Erörterungen in der Fakultät schreibt er: „Natürlich [wurde] nicht über die libri carolini sondern über Georgeschule, Heiligen Geist und Leipzig diskutiert." Alle Fachwissenschaft der vorgelegten Habilitationsschrift hatte nicht verhindert, daß doch wieder vor allem die Beziehung des jungen Wissenschaftlers zu George und sein vom ,gestalttheoretischen' Zugriff Georgescher Provenienz geprägtes vorausgehendes Werk Vom heiligen Geist des Mittelalters das Verfahren beherrschte. Der Erfolg in Basel war also weniger ein Eingehen der Wissenschaft auf die aus der geistigen und dichterischen Welt hereinströmenden erneuernden Impulse, als vielmehr gleichsam Folge eines Doppeltuns des George verpflichteten Wissenschaftlers: Tatsächlich könnte man sagen, daß Wolfram von den Steinen für jede der beiden , Wissenschaftsstufen', für die Promotion wie für die Habilitation, zweifach Arbeiten vorlegte: Neben der insgesamt doch weitgehend nach fachwissenschaftlichen Erfordernissen und Üblichkeiten angelegten Dissertation Das Kaisertum Friedrichs II. nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe stand - für ihn selbst wichtiger - die der Welt Georges verpflichtete und von diesem unter sein Signum der ,Blätter für die Kunst' gestellte Ausgabe Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten. Neben das nachhaltig von der Geisteswelt um George und Wolters geprägte, dabei zugleich in ho-
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die Wissenschaft. Gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern, München 1921. Noch in der Jahrbuchzeit war es zu zwei oder drei Besuchen Georges bei Max Weber gekommen. Brief von Wolters an Max Kommereil vom 18.6.1926, SGA: Max Kommerell III 2210. WvdSt an FW, München 24. Nov. 1929; SGA: Wolters ΠΙ, 3602. Für den Probevortrag erhielt er das ihm erwünschteste Thema: Die Rompolitik Ottos des Großen. Im kommenden Semester plante er ,Geschichte des Papsttums' zu lesen.
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hem Maße von der modernen wissenschaftstheoretischen Haltung getragene Werk Vom heiligen Geist des Mittelalters, dessen erster Teil die Grundlage des Habilitationsversuchs in Leipzig bildete, trat die dem konventionellen Wissenschaftsideal eher zugängliche rein fachwissenschaftlich ausgerichtete Habilitationsschrift über die Libri Carolini. Diese Arbeit aber erschien gerade nicht als Buch, sondern in den ,Quellen und Forschungen' des Deutschen Historischen Instituts in Rom (1930; S. 1-93), blieb also auf die innerfachliche Wirkung beschränkt. Ein ähnlicher Vorgang erscheint bei Kommereil; dessen selbst von Walter Benjamin zwiespältig anerkanntes ,Meisterwerk' 23 Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik erhält ein Seitenstück in einer streng fachwissenschaftlichen Habilitationsschrift über Die Stabkunst des deutschen Heldenliedes, die bislang überhaupt ungedruckt blieb. Auch die Aufteilung des Friedrich II. von Kantorowicz auf zwei Bände läßt sich so verstehen: Der George verpflichtete Textband von 1927 steht neben dem - der Wissenschaft dienenden - Anmerkungsband von 1931. Das späte Erscheinen dieses Bandes sollte daher auch unter dem Blickwinkel gesehen werden, daß George und seine Freunde die allgemein gesellschaftliche Wirkung und die wissenschaftliche Wirkung getrennt halten wollten. Das ist ja dann auch tatsächlich geschehen.
Der Streit um die ,Schau' Kaiser Friedrichs II. In der Umgebung des Dichters war bekannt, in welchem Maße George sich um Kantorowiczs Friedrich II. gekümmert, ja wie nachhaltig er mitgewirkt hatte. In den Briefen der Freunde in den späten 20er Jahren ist immer wieder von der Gegenlektüre des von Kantorowicz Verfaßten durch den ,Meister' und die Freunde die Rede.24 So überrascht es nicht, daß Wolfram von den Steinen vermittelnd tätig wurde, als der Gutachter bei seiner eigenen Promotion Albert Brackmann im Hauptort des deutschen Wissenschaftsbetriebs, auf einer Tagung der preußischen Akademie der Wissenschaften', einen Streit um dieses Werk auslöste. In einem Vortrag „Kaiser Friedrich II. in ,mythischer Schau'" 25 23
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Walter Benjamin: Wider ein Meisterwerk. In: Literarische Welt 1930; auch in: Walter Benjamin: Schriften Bd. Π. Hrsg. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt 1955, S. 307-315. Im Jahre 1925 wohnte George längere Zeit bei Ernst Kantorowicz in Heidelberg, Wolfbrunnenweg, mit intensiver Teilnahme am entstehenden Werk. Im Dez. 1926 in Berlin geben Lesungen aus dem Buch im Kreis der Freunde Anlaß zu Erörterungen: Vgl. Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg 1962, S. 227f., Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, Düsseldorf und München 1968, S. 164. ZT 347; im Januar 1927 ist von Korrektur-Lesung in München die Rede: ZT 348. Am 16.Mai 1929 in der preußischen Akademie der Wissenschaften, Text dann in HZ 140 (1929) 534-549; auch in: Stupor Mundi. Zur Geschichte Friedrichs II. von Hohenstaufen. Hrsg. von G. Wolf, Darmstadt 1966.
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wandte sich Brackmann hart gegen das neue Buch über Friedrich II. - und zwar „in Sorge für die Geschichtswissenschaft", wie er bekundete, eine Sorge, die ihn unberührt ließ, als er wenig später in die NSDAP eintrat und als Vorsteher der Monumenta bereitwillig die Geschichtswissenschaft für die Nationalsozialisten organisierte. Bemerkenswerterweise ging Brackmann bei seiner Gegenrede, in der er zwei Mal beifallig den Friedrich II. Wolframs von den Steinen heranzieht, nicht konkret von Kantorowiczs Arbeit aus, sondern von der Tatsache, daß Kantorowicz dem George-Kreise entstamme, daß Kantorowicz Friedrich II. „selbstverständlich [...] ,in mythischer Wesensschau' zu ,schauen' bemüht war", wofür er auf Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie (Berlin, Bondi, 1920) und auf Kahler, „einen Adepten dieses Kreises" und seine Schrift Der Beruf der Wissenschaft (Berlin, Bondi, 1920) verwies.26 So verwundert es nicht, daß Brackmann zu einem ablehnenden Urteil über das Werk kommt: Der Grundfehler ist offensichtlich der, daß Kantorowiz den Kaiser zuerst g e schaut, gefühlt, erlebt hat' 2 7 und mit diesem vorher gewonnenen Bilde an die Quellen herangegangen ist. Die ,imagination creatrice', die heute anfangt, unsere Geschichtswissenschaft zu durchwirken, ist auch bei ihm stärker gewesen als der reale Wirklichkeitssinn. 2 8
Diese grundlegenden offenkundig ,vorlaufenden' Einwände sucht Brackmann dann mit konkreten Einzeldeutungen zu belegen, greift dabei aber zu kurz. Denn er übersieht die grundlegend verschiedenen Blickwinkel: Kantorowicz schreibt unter der Perspektive des ,Selbstbildes' Friedrichs, Brackmann sieht alles unter dem Blickwinkel einer ,außengelenkten neuzeitlichen Politikbeschreibung', die letztlich der Eigenart des mittelalterlichen Sprechens mit seiner ernst-spielenden schwebenden Rede nicht gerecht wird,29 zumal da diese über Süditalien von der oströmisch-byzantinischen Spätantike mitgeprägt ist.j0
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Brackmann (Anm. 25), S. 543f. Brackmann behauptet, nicht grundsätzlich gegen den Kreis eingestellt gewesen zu sein, in seinem Brief an WvdSt schreibt er sich ein „Bemühen um Wolters" zu und eine „starke aktive Hilfe" für Elze. Ein Zitat aus Kahler (Anm. 20), S. 68. Brackmann (Anm. 25), S. 548, zur ,imagination creatrice' verweist der Verf. auf Eduard Spranger: Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften, SB Preuss. Akad. d. Wiss. Phil.-Hist. Klasse 1929, S. 6. Nach WvdSt mißbilligten die Below-Schüler in Freiburg die Angriffe Brackmanns. Vgl. dazu ζ. B. W. Ch. Schneider: Durch Sinnbilder zur Schau. Performative Momente in Allegorie, Typos-Bezug und Mystagogie des spätantiken Christentums. In: Performativität und Praxis. Hrsg. von D. Mersch und J. Kertscher, München 2003; S. 175-194. Vgl. etwa zu der in Ostrom bewußt inszenierten Gottesnähe des Kaisers W. Ch. Schneider: Der Kaiser im Geleit Gottes. Der ,Große Einzug' und die Stellung des christlichen Kaisers in der Spätantike. In: CP 51 (2001) Η. 247-249, S. 5-39; W. Ch. Schneider: Der spätantike Kaiser zwischen Palast und Altarraum. Akte der Grenzsetzung und Grenzüberschreitung als
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Immer wieder werden Selbstäußerungen des Kaisers ohne Berücksichtigung der sie tragenden selbstbezüglichen Wirklichkeit zu punktuellen Reaktionen auf die politische Situation' herabgestimmt.31 Verwunderlich etwa ist, wie Brackmann zum Manifest Friedrichs II. aus Jerusalem schlicht feststellen kann, es „enthält nichts als eine Reihe bekannter, aneinandergefugter Bibelworte", die die Selbstkrönung von Jerusalem einfach als bedeutenden Akt „kennzeichnen" sollten.32 Eine solche Aussage mutet bei einem ,methodenbewußten' Historiker seltsam an. Nicht belegt (und kaum belegbar) ist Brackmanns Behauptung (S. 544), Justinian wäre für Friedrichs Gedankenwelt unwesentlich gewesen. Denn der Aufbau des normannischen Königtums erfolgte in Anlehnung und Auseinandersetzung mit Byzanz, für das Justinian und seine Ordnung immer eine der prägenden Gestalten blieb, Justinians Gesetzeswerk ist in Süditalien bis zur normannischen Eroberung gültig gewesen. Am Schluß fordert Brackmann als Ziel der Forschung über Friedrich II. und der Geschichtswissenschaft überhaupt, „das wahre Bild von den Übermalungen mit diesen zeitgenössischen Farben zu befreien", wofür er „die Idee der Wahrheit und den Geist der Wahrhaftigkeit" (S. 548f.) aufruft - ohne zu bedenken, daß die Geschichtswissenschaft es immer nur mit zeitgenössischen Bildern zu tun hat, ohne zu erwägen, wie nachhaltig die Ideen, Bilder und Selbstdeutungen einer vergangenen Zeit ,wahr' und ,wahrhaftig' und geschichtsmächtig sind. Auf das harsche Urteil hin wandte sich Wolfram von den Steinen schriftlich an Brackmann, der ja Gutachter seiner eigenen Dissertation über Friedrich II. gewesen war. In einem Brief an Wolters (2. Dez. 1929) faßte er den Tenor seines Schreibens zusammen.33 Er wies - gegen Brackmanns verharmlosende Auflösung der Selbstaussagen der Manifeste in punktuelle Reaktionen auf politische Situationen - auf die ganz reale Bedeutung der Manifeste hin, erläutert auch den erkenntnistheoretischen Zusammenhang von ,Schau', die eben gerade die zeitgenössischen Erscheinungen - das ist etwa die ernst-spielende schwebende Rede - aufnehmen wolle, und insofern die Objektgebundenheit ernst nehme. Und er verteidigte die wissenschaftliche Konzentration auf das Eigenbild einer Zeit, auf die ,Schau', sich selbst neben Kantorowicz stellend: „Eben weil uns Idee und Erscheinung eines seien, müßten wir uns gegen eine Fachwissenschaft stellen, die nur die willkürliche tote Erscheinung als real nehme". Eben das hatte ja Brackmann getan mit seiner harmlos-isolierenden Deutung der Kaisermanifeste im Hinblick auf eine von ihm konstruierte realpolitische Situation, mit seiner selbstgewissen Rede von den zeitgenössischen Verzerrungen und Übermalungen', die es zu beseitigen gelte. Der Mitteilung
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Identitätserweis und Autorisierungsstrategie. In: Ritualität und Grenze. Hrsg. von E. FischerLichte u. a., Tübingen 2003 (Theatralität Bd. 5), S. 351-379. Vgl. z.B. Brackmann (Anm. 25), S. 544. Ebd., S. 537; ähnlich S. 535 SGA, Wolters III, 3603.
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seines Briefes an Brackmann fugt Wolfram von den Steinen fur Wolters allerdings noch Einwände gegenüber Kantorowicz hinzu, vor allem hinsichtlich des beabsichtigten Titels von Kantorowiczs Entgegnung ,Akademie und Mythische Schau', der die Schlagzeile der Vossischen Zeitung zum Berliner Vortrag Brackmanns aufgriff/ 4 Hier folgte Kantorowicz dem Anstoß von den Steinens und verkürzte den Titel in den Fahnen in ,Mythische Schau'. In seiner Antwort an Wolfram von den Steinen erläutert Brackmann nach einer allgemeinen Anerkennung der hervorragenden Leistung' von Kantorowicz und der , soliden Arbeit' in zahlreichen Abschnitten des Buches und der hervorragenden Darstellungsform', eine Äußerung, die Teile seiner Kritik nahezu schon widerruft, seine Stellungnahme.35 Er benennt die Kantorowicz bestimmende , Schau' als den wesentlichen Kritikpunkt - und er setzt diese ab von der von Wolfram von den Steinen geübten ,Schau'. Kantorowiczs ,Schau' gilt Brackmann als „zu stark auf die Sensation eingestellt und eben nicht allein durch das Objekt bedingt". Sie unterscheidet sich von der ,wahren Schau', zu der auch er sich bekenne, „wie sich etwa der Jargon des Kurfurstendamms von der Sprache des Neuen Testaments unterscheidet." Es reize Kantorowicz einfach, „sich gegen die , Akademie' zu setzen, diesen verkalkten Kreis der zünftigen Historiker." Kantorowicz entwickle, „um der künstlerischen Wirkung willen, (...) nicht die Idee aus ihrer Erscheinung, sondern er beginnt mit der Idee und gestaltet die Erscheinung nach ihr um." Das sei keine Frage der Imagination creatrice', wie Kantorowicz in seiner - Brackmann als Herausgeber schon im Manuskript bekannten - Entgegnung in der Historischen Zeitschrift es darstelle, könne doch kein Historiker der schöpferischen Phantasie entbehren. Es kommt in den Augen Brackmanns darauf an, die Grenzen der p a g i nation creatrice' zu erkennen. Aber: der Zusammenhang macht es deutlich: Brackmann hat keine rechte Vorstellung von der ,Schau'; er setzt eine Trennung von ,Idee' und ,Erscheinung' voraus, die ,imagination creatrice' ist bei ihm wesentlich eine Frage der Darstellung, jenseits derer schlicht die politische historistische Rationalität des 19. Jh. herrscht. Wolfram von den Steinen faßt dann auch gegenüber Wolters zusammen, daß für Brackmann offensichtlich vor allem die Sprache irritierend gewesen sei. Die erkenntnistheoretischen Implikationen der ebenso zurückhaltend vorgetragenen, wie gewichtigen Einwände Wolframs von den Steinen gegen die von Brackmann gesetzte oberflächliche Bewertung der Selbstaussagen und die behaupteten zeitgenössischen Übermalungen' scheint der Herausgeber der Historischen Zeitschrift wohl überhaupt nicht bemerkt zu haben.
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Er selbst hätte - wie er Wolters schreibt - ein Schweigen Kantorowiczs auf Brackmanns Angriff vorgezogen. Nach einem Auszug WvdSt von Brackmanns Brief vom 30.XI.29 für Wolters (SGA). Als Kernbereiche des Dissenses benennt Brackmann ausdrücklich Kantorowiczs Schilderung der Vorgänge in Jerusalem und den Abschnitt über den ,Tyrannen von Sizilien".
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Die Vorwürfe Brackmanns gegen Kantorowicz, die ja in vielen Zügen dem entsprachen, was Wolfram von den Steinen und seinem Buch in Leipzig entgegengehalten worden war, verlangen die Klärung dessen, was denn die ,Schau' der Mediävisten des Georgekreises ist, was die ,Schau' Wolframs von den Steinen und Ernst Kantorowiczs ausmacht. Damit stellt sich die Frage nach der Spezifik des wissenschaftlichen, insbesondere des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens im Georgekreis, und die Frage nach seiner erkenntnistheoretischen Haltung.
,Schau' und ,Gestalt': Die Dichtung Stefan Georges als philosophische Frage Kaum ein Dichter der Jahrhundertwende dürfte in frühen Jahren so nachhaltig mit Philosophen umgegangen sein wie George, und doch wird bei der wissenschaftlichen Erschließung der Welt Georges seinem Bezug zur Philosophie meist wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist zu einem nicht unerheblichen Teil im späteren ,Kreis' selbst begründet. Der nämlich stand der zeitgenössischen Philosophie fremd gegenüber und ließ das in die Erinnerungsliteratur einfließen, die wesentlich die frühe Wirkungsgeschichte des Dichters und seines Umkreises bestimmte. Beispielhaft zeigt dies Robert Boehringer in seinem für die Kenntnis des Freundeskreises um George nahezu kanonisch gewordenen Erinnerungsbuch: Im umfangreichen Bildteil seines Werkes bietet er nicht von einem der mit George um 1900 befreundeten Philosophen ein Bild und erwähnt im Textteil (zumal in der 1. Auflage) nur wenige, und diese nur in unverbindlichen Zusammenhängen. 36 Gleichwohl waren es vor allem Philosophen, die erste, entscheidende Würdigungen der Kunst Stefan Georges veröffentlichten: Max Dessoir (1896) und Georg Simmel (1898). 37 Beide trafen in
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In Boehringer (Anm. 24): Dilthey S. 83; Simmel S. 83 (mit Anm.), S. 85f.; Heinrich Rickert (fehlte in 1. Aufl.) S. 81 (mit S. 241 ff.); S. 86; Breysig (fehlte in 1. Aufl.) S. 83 (mit Anm.); Schmalenbach (Erzieher von Otto Braun, ab 1931 Prof. in Basel) S.135 (mit S. 254-256, Ausschnitt aus einem späten erinnernden Rundfunkvortrag). Für das zweite Jahrbuch fiir die geistige Bewegung hatte Schmalenbach einen Aufsatz Die Gebilde des Begriffs geschrieben, der, da „George bestritt, daß es Gebilde des Begriffs gebe", umgearbeitet wurde - und dann für Bd. III vorgesehen war, dann aber doch ungedruckt blieb. Das bewußt beschränkte Interesse der jüngeren Freunde Georges an dessen Begegnung mit der zeitgenössischen Philosophie zeigt der Umstand, daß in der 1. Aufl. nicht nur Rickert, sondern auch Breysig und Dessoir fehlten. Max Dessoir über George: Das Kunstgefuhl der Gegenwart. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte 40 (1896), H. 4. u. H. 5, S. 79-90 und S. 158-174; Georg Simmel: Kunstphilosophische Betrachtung: Stefan George. In: Die Zukunft 22 (26. Februar) 1898, S. 386-396. Die Bekanntschaft zwischen Simmel und George hatte Dessoir vermittelt; vgl. Katalog (Anm. 18) S.147. Spätere, teilweise dann distanziertere Arbeiten von Max Dessoir über George: Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung, Stutt-
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Berlin häufig mit George zusammen, ebenso dann auch Wilhelm Dilthey. Max Dessoir, der bei Boehringer überhaupt unerwähnt bleibt, sprach 1895 in seiner Vorlesung über George, was George sogleich Hofmannsthal mitteilte, im Winter 1899 las George in einer Vorlesung von Max Dessoir seine Gedichte.' 8 Schließlich war Dessoir von George neben Hofmannsthal als dritter für die Leitung einer neu zu gründenden Erweiterung der Blätter für die Kunst vorgesehen und trat dementsprechend in Verhandlungen mit Verlegern/ 9 Gemeinsam war diesen Philosophen die Wendung gegen den Positivismus und den damit innig zusammenhängenden abbildhaften Naturalismus. Sie setzten dem - gerade im geschichtlichen Betrachten - eine vom schöpferischen Leben getragene gestalthafte Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt entgegen; so schreibt Dilthey: „[Wir] verstehen (...) uns selber und andere nur, indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens." 40 Ähnlich wertet Simmel die ,Einmischung des Ich' als methodische Notwendigkeit des Erkennens, da dessen spezifische Inhalte' die unentbehrlichen Durchgangspunkte jedes Verständnisses Anderer' sind. Dies eben macht die Nähe des Historikers zum Dichter aus: Dieses Mitfühlen mit den Motiven der Personen, mit dem Ganzen und Einzelnen ihres Wesens von dem doch nur fragmentarische Äußerungen überliefert sind; dieses Sich-Hineinversetzen in die ganze Mannigfaltigkeit eines ungeheuren Systems von Kräften, deren j e d e einzelne nur verstanden wird, indem man sie in sich wi-
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gart 1917; S. 233-235 über die Zahlenmystik im Stern des Bundes; vgl. auch Max Dessoir: Poeten und Professoren. In: Neue deutsche Hefte 14 (1967) Nr. 113, bes. S. 10-12. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, S. 80 und Wolters (Anm. 3), S. 115; vgl. Max Dessoir: Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946, S.244. Vgl. Briefwechsel zwischen George Hofmannsthal. Hrsg. von R. Boehringer, 2. Aufl. München und Düsseldorf, 1953, S. 255; in der 1. Aufl., Berlin 1938 (die Dessoir nur einmal S. 244 erwähnt) wußte R. B. offenkundig noch nicht, daß mit dem ,Wissenschaftler' in Georges Brief vom 11.9.1896 M. Dessoir gemeint war, was sich erst aus der Kenntnis der Briefe Dessoirs an George vom 1.2.1896 und 24.2.1896 (daraus zitiert 2. Aufl. S. 255) ergab, die von dessen Verlagsverhandlungen in dieser Sache berichten. George und Dessoir hatten sich 1894 kennengelernt. Einen Brief Georges aus Paris vom 11.1.1898 an Max Dessoir erwähnt die ZT 75. Allgemein zu Dessoir und den Berliner Philosophen: Wolters (Anm. 3), S. 115ff. (wie unvertraut bei all dem Wolters die Bezüge Georges zur Philosophie in Berlin waren, zeigt sich darin, dass er den ,Philosophennamen' von Georg Simmeis Frau: Marie Luise Enckendorff falsch als Enkendorf wiedergibt, Boehringer, Bild (1951) erwähnt Georg und Gertrud Simmel nur unerläutert, übergeht die philosophische Tätigkeit von Gertrud S. ganz, während Boehringer, Bild 2. Aufl. (1967) ausfuhrlicher wird, ,M. L. EnckendorfP nennt, aber in der Schreibung ebenfalls schwankt: S. 86 u. S. 307). Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. VII, 5. Aufl. Stuttgart und Göttingen 1968, S. 87.
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derspiegelt - das ist der eigentliche Sinn der Forderung, daß der Historiker Künstler sei und sein müsse." 41 .
Die Dichtung Georges war für Simmel wie für Dilthey gerade darum interessant, weil sie sich trotz des unverkennbaren Lebensbezugs vom äußeren Erleben abhebt, weil sie - trotz starker Bildlichkeit - eine vom Konkreten abgehobene fast abstrakte innere Welt des Empfindens erstellt, in dem Subjektives und Objektives untrennbar in eine höhere Wirklichkeit eingehen. Denn für Dilthey geht der lyrische Dichter von einer Situation aus und läßt nun Menschen und Dinge in einem Lebensbezug zu einem ideellen Ich erblicken, in welchem sein eigenes Dasein und innerhalb desselben sein Erlebnisverlauf in der Phantasie gesteigert ist: dieser Lebensbezug bestimmt, was der echte Lyriker von den Menschen, von den Dingen, von sich selbst sieht und ausdrückt. 42
Denselben Zusammenhang betont auch Georg Simmel in seiner Kunstphilosophischen Betrachtung: Stefan George von 1898,43 die Georges Lyrik ganz im Sinne dessen sieht, was Simmeis Geschichtstheorie ausmacht: Innerhalb des für die Lyrik spezifischen Weges „von dem primären, sozusagen naturalistischen Gefühl zu dem objektiven" [Empfinden], ist für ihn erst bei George die „Fundamentierung auf das Über-Subjektive des Gefühls, dieses SichZurückhalten von seinem unmittelbaren Anstürmen, zum unzweideutigen Prinzip der Kunst geworden". Eben dies läßt dann zugleich aber auch die das Kunstwerk tragende Person in ihrem Eigentlichen durchscheinen, gibt „die Vorstellung einer Seele, die gerade dieses Werk vollbracht hat"; 44 und weiter: Jene überindividuelle Persönlichkeit, die aus dem Kunstwerk gleichsam auskristallisierend, in ihm selbst als sein Brennpunkt und Träger empfunden wird, bindet beides zusammen. Die ideelle Seele, deren Verhältnis zu dem Kunstwerk wir nur sehr unvollkommen mit dem räumlichen Gleichnis des gleichzeitigen Darin- und Dahinterstehens ausdrücken, hat eben hier die Qualität des Intimen; das innere Ge41
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Georg Simmel: Probleme der Geschichtsphilosophie (1892, hier Text der Auflage von 1907). In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 2, S. 297-421; bes. S. 322; vgl. dazu auch schon Simmeis Rezension von H. Steinthal: Allgemeine Ethik. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 10 (1886), S. 487-503. Dilthey (Anm. 40), S. 132. In: Die Zukunft 22 (26. Februar) 1898, S. 386-396. Der Artikel entsprach insgesamt George, wie aus dem gelösten Treffen Simmeis und Georges in Rom im April 1898 hervorgeht: ZT 76. Vgl. Wolters (Anm. 3), S. 157f. Wie bedeutsam die Begegnung mit Simmel für George war, läßt Breysig in seinem Tagebucheintrag am 22.Okt. 1905 durchscheinen (CP 9 (1959) Η. 42, S. 17). Georg Simmel: Stefan George, eine kunstphilosophische Studie. In: Neue Deutsche Rundschau 12 (1901), S. 207-215; auch in Georg Simmel: Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, S. 29-45; hier S. 40f., das Nachfolgende S. 43f.
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setz des Werkes, das sich uns als zusammenhaltende, das ganze durchdringende Seelenhaftigkeit darstellt, ist hier Erschließen des innersten Lebens, Fortsetzung der fundamentalen Regungen in die ästhetische Erscheinung.
In diesem selben Sinne versteht die Dichtung Georges der geschichtsphilosophisch orientierte Kurt Breysig vor dem Hintergrund seines Ringens um eine die Geschichtswissenschaft überschreitende „Gesellschaftslehre, als deren Kernwerk er die Persönlichkeit" ansah.45 Kurz nachdem er George bei Lepsius am 12.11.1899 erstmals begegnet war, deutet Breysig46 in einem Aufsatz Der Lyriker unserer Tage Stefan George als Erfüllung der Verheißungen des Dichter-Philosophen Nietzsche und er preist die Erneuerung der alten Reinheit der Formen durch George und ihre Erfüllung durch ,farbensatte Bilder' und ,inhaltsschwere Gedanken'. Noch in seiner nachgelassenen Universalgeschichte fugt Breysig zweifellos absichtsvoll am Ende des letzten Bandes Auszüge dieser seiner Würdigung ein.47 Ein vergleichbares Bild bietet sich schließlich dem Historiker Karl Lamprecht, der in Georges Dichtung einen „psychologischen Impressionismus" erkennt, und so seinerseits die Verbindung von Überindividuellem und Individuellem anspricht.48 Kaum zu Unrecht also schreibt Friedrich Wolters in seinem ansonsten nicht unproblematischen Buch davon, daß der Dichter und die Philosophen durch ihre intensiven Gespräche miteinander „eine lebhaftere Entwicklung der Meinungen über Kunst und Weisheit" erlangten.49 Auf der Seite der Philosophie findet das seine Bestätigung darin, daß Georg Simmel sein 1892 - also vor der Begegnung mit George - erschienenes Werk Probleme der Geschichtsphilosophie für die zweite Auflage von 1905, also nach der Begegnung mit George, tiefgreifend umarbeitete und dem Dichter mit der Widmung übersandte: „Stefan George, dem Dichter und Freund".50 Ein zweiter Aufsatz 45 46
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Brief an Vallentin am 8.11.1918, zitiert in Vallentin (Anm. 1), S. 8. Dieser Begegnung ging eine indirekte Beziehung voraus, denn Breysig übersandte am 17. April George seinen Aufsatz Treibhauskunsf. ZT 86. Die Intensität der Beziehung BreysigGeorge kennzeichnet ein .reiches Geschenk' zu Beginn des Dezembers 1899, in dem die (November 1899 gedruckte) Pracht-Erstausgabe des Teppich zu vermuten ist: ZT 95. Aufsatz Breysigs über George in Die Zukunft vom 20. Januar 1900: ZT 97; Katalog (Anm. 18) S. 148 mit Ausschnitt; K.Breysig: Die Geschichte der Menschheit. 5. Bde, Berlin 1955, Bd. 5, S. 292-294. Vgl. Karl Lamprecht: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit [Ergänzungsband 1. zu: Deutsche Geschichte], Berlin 1902, S. 224-233: Die Lyriker des psychologischen Impressionismus: Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Wolters (Anm. 3), S. 114f.; S. 122. Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig, erste Auflage 1892; 2. völlig umgearbeitete Auflage 1905; 3. erweiterte Aufl. 1907; 4. Aufl. 1922; vgl. auch die Ergänzung: Georg Simmel: Beiträge zur Philosophie der Geschichte. In: Scientia (Rivista di Scienza) III (1909), vol. VI, Ν. XII-4; auch in: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hrsg. von M. Landmann, Frankfurt 1987, S. 33-40.
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Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie (1901) 51 und ein dritter Der Siebente Ring (1909) 52 belegen das anhaltende Interesse Simmeis an der Dichtung Georges gerade auch als philosophischer Gegenstand. 53 Und auch bei Dilthey, der um neue Einblicke in die Sprache zu gewinnen, George einmal um die Lesung eigener und fremder Gedichte ersuchte,54 lassen die erst in den letzten 20 Jahren veröffentlichten Schriften des umfangreichen Nachlasses in der dritten, der holistischen Phase einen Neuansatz des Denkens erkennbar
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Neue Deutsche Rundschau 12 (1901) H. 2, S. 207-215; auch in Georg Simmel: Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, S. 29-45. Münchner Nachrichten Nr. 318 vom 11.7.1909; auch in Georg Simmel 1922 (Anm. 44), S. 74-78; Referat davon in Wolters (Anm. 3), S. 346. Zur Beziehung George - Simmel (beeinträchtigt durch eine allzu grobe Maxime vom ,Antimodernismus' Georges): Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 169-183. Gerade in der Frage der Ästhetik (in der die Vorstellungen von George und Simmel grundsätzlich parallel liefen) zeigt sich die Unzulänglichkeit dieser aus der Beschränktheit der Soziologie herkommenden Deutung; Breuer schwankt, setzt (bes. 176ff.) einmal das eine, einmal das andere als ,modern', ohne das inhaltlich zu bestimmen. Simmeis Darlegungen zum Siebenten Ring (1909) 77f. unter Hinweis auf Max Weber (Wissenschaft als Beruf. Gesammelte Aufsätze, 1973, S. 612) als „Plädoyer für monumentale Kunst" zu deuten, geht schlicht fehl: Breuer hat - wie er spielerisch eingesteht - Simmel tatsächlich und von Grund auf nicht verstanden. Und dieses Nichtverstehen im Ästhetischen durchzieht die ganze Arbeit. Breuers Unternehmen (S. 182), von Simmeis Gedanken über das Eigenleben der Kunst zum Kunstverständnis von Treitschke, ja schließlich (niveaumäßig abgestuft) zu dem von Wilhelm II, Langbehn oder Moeller van den Bruck hinzuführen, und insgesamt als Versuch „einer Selbstüberwindung der Moderne" zu deuten, ist verfehlt. Simmel formuliert Gedanken, die im Grunde vorzeichnen, was dann Adorno in seiner Ästhetik (1970; GS Bd. 7) und konkret auf die Lyrik hin in der Rede über Lyrik und Gesellschaft (1957; GS Bd. 2, S. 49-68) entworfen hat. Die im Kulturellen beobachtbare Gleichzeitigkeit von ,Verfall und .Erneuerung' in einem Gesamtprozess wird von Simmel gerade nicht als „Nebeneinander" (Breuer S. 183) aufgefaßt, sondern tatsächlich dialektisch gesehen. „Monumentaler Solipsismus" ist also (trotz des Bezugs auf Simmeis Aussage von 1907, die der Dichtung des Siebenten Rings gilt, wonach ,jene Subjektivität, jener Solipsismus der Seele in seinem Ausdruck monumentale Gestalt gewinnt") mitnichten ein „Wort Simmeis über George" (so Breuer S. 184 mit schiefen personalistischen Ausdeutungen), sondern eine Simmeis Philosophie nicht erreichende Fehldeutung - und die durchzieht sämtliche Aussagen über ,Ästhetischen Fundamentalismus und Antimodernismus' (bes. dann S. 226ff.). Eben deswegen passen Breuers Ausführungen nicht zu dem, was er beifällig als Folge des Prozesses der Rationalisierung (S. 242f.) beschreibt, weswegen seine abschließende Stellungnahme dazu unter dem Satz der „Auslöschung [des Intimen] im Zeichen des Monumentalen" (S. 243f.) wesentlich einer ,petitio principii' gleichkommt. Noch 1910 las George auf Bitte Diltheys dem Philosophen in dessen Wohnung eigene Gedichte und Gedichte Goethes vor: E. Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, 2. Aufl. Düsseldorf und München 1969, S. 16); Nach M. Landmann: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam 1980, S. 16 las George Dilthey einmal (damals?) das Gedicht Landschaft / (GA W V I I S. 130f.). Vgl. insgesamt: Lothar van Laak: „Dichterisches Gebilde" und Erlebnis. Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Wilhelm Dilthey und dem Georgekreis. In: George-Jahrbuch 5 (2004/2005), S. 63-81, der sich aber trotz des Titels auf George konzentriert und zu sehr vom späteren George her sieht.
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werden, insbesondere sein Beharren auf der Wechselwirkung zwischen Lebenszusammenhängen und dem Gestalten, dem Verstehen. So betont er: O h n e eine Welt hätten wir kein Selbstbewußtsein. und ohne dieses Selbstbewußtsein w ä r e f ü r u n s k e i n e W e l t v o r h a n d e n . W a s in d i e s e m A k t e d e r B e r ü h r u n g s o z u s a g e n sich v o l l z i e h t , ist d a s L e b e n - n i c h t ein t h e o r e t i s c h e r V o r g a n g , s o n d e r n w a s in d e m A u s d r u c k E r l e b n i s v o n u n s b e z e i c h n e t w i r d , D r u c k u n d G e g e n d r u c k . P o s i tion d e n D i n g e n g e g e n ü b e r , d i e s e l b e r P o s i t i o n sind. 5 5
Gerade die von Dilthey erbetenen Gedicht-Lesungen Georges, die an einen wissenschaftlichen Versuch erinnern, erlauben keinen Zweifel, daß auch hier die konzeptionellen Fortentwicklungen wesentlich durch die Gespräche mit George mitbedingt wurden, der mit seiner Opposition gegen den Naturalismus eben auch gegen den - mit diesem im Theoretischen unzweifelhaft verbundenen - allgemein herrschenden abbildhaften Positivismus stand. Beide Seiten, der Dichter und die Philosophen, vor allem aber Simmel, der es unmittelbar mit Bezug auf Georges Werk erläutert, setzten dagegen die Instanz des Subjekts, das aus seinen Lebenszusammenhängen heraus gleichwohl das Abbildhafte überwindend in Inhalt und Form eine überindividuelle ästhetische Erscheinung verwirklicht. Der ,Kreis' stellte sich in der Folge ausdrücklich der weiteren zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Diskussion. Ernst Gundolf veröffentlichte im Jahrbuch III (1911) einen Aufsatz über Die Philosophie Henri Bergsons, dessen Einbeziehung des schöpferischen Lebens (die für den späteren Simmel bedeutsam wurde) er anerkannte, dem er aber ein Beharren auf der Notwendigkeit der Formwerdung, der ,Gestalt' entgegenstellte, so daß Übereinstimmung und Abweichung markiert waren.56 Eine Zusammenfassung der erkenntnistheoretischen Vorstellungen bot dann (in Auseinandersetzung mit Franz Brentano, Dilthey, Simmel, Husserl und Bergson57) das Werk Die Transcendenz des Erkennens von Edith Landmann, das - auf Bitte des ,Meisters' von Ernst Gundolf gegengelesen - 1923 erschien unter dem von George verliehe-
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W. Dilthey: Grundlegung der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte, Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870-1895). In: Gesammelte Schriften XIX (1982), Breslauer Ausarbeitung, S. 153. Vgl. dazu Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 87. Vgl. ζ. B. Dilthey S. 97, S. 127, S. 250f., S. 255f„ S. 286f.; Simmel S. 97, S. 124, S. 151f.; Husserl S.13, S. 26ff., S. 47ff., S. 9 8 f f , S. 149f.; Bergson S. 212f.; auch der für die Entwicklung des strukturalen und gestalttheoretischen Denkens bedeutsame Franz Brentano wird wiederholt herangezogen: S. 8, S. 13, S. 25, S. 37 - keine Spur also von .Antimodernismus'. In Berlin, wo sie fast die ganze Studienzeit verbrachte, war Landmann Schülerin von Simmel und Dessoir, M. Landmann (Anm. 54), S. 112, vgl. auch S. 120.
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nen Signum der ,Werke der Wissenschaft aus dem Kreis der Blätter fur die Kunst'. Für Edith Landmann ist ,jede Erkenntnis [...] zweierlei: sie ist Setzung des Bewußtseins, und sie meint ein unabhängig vom Bewußtsein Gesetztes" (S. 143). Ihr Angriff gilt der seit Cartesius und Kant dominierenden Erkenntnislehre, die allgemein durch die Frage nach wahr und falsch bestimmt ist: so wird nach ,Gewißheit und Ungewißheit' einer Kenntnis, nicht nach ,Gegenstand und Sinn' gefragt. Zur Grundform der Erkenntnis wurde das ,Urteil' gemacht an Stelle der ,Vorstellung'. Dem setzt sie entgegen, daß noch ehe das Erkennen wahr oder falsch sein kann, irgendwie Kunde sein muß, Vorstellung. 58 Zwar läßt sich ,jede Erkenntnis [...] als Urteil ansprechen, da sie ja auch Setzung ist. Dennoch oder eben deshalb ist aber Erkenntnis nicht Urteil. Denn nicht, daß sie Setzung ist, ist der Sinn der Erkenntnis, sondern daß sie Gesetztes enthält." (S. 265). Als Grundform der Erkenntnis gilt Edith Landmann eine ,Totalintention', welche sowohl Vorstellung als Urteil in sich faßt. Dem gegenüber steht die auf das Moment der Verifizierbarkeit beschränkte Wissenschaft. Doch der fur diese allem zu Grunde liegende Beweis ist nur da möglich, wo fertige und feste Begriffe vorliegen, (vgl. S. 266). Wirklichkeit aber kann nicht bewiesen werden, denn das setzte voraus, daß das Gesamt der Wechselwirkungen (und damit auch der Wirklichkeit Sehende und Bedenkende selbst) gewiß seien. „Irgendwo einmal muß Existenz gesetzt, geglaubt werden." Und ,jede gesunde und normale Erkenntnis führt die Kraft des Glaubens unmittelbar mit sich" (vgl. S. 268f.). Diese Haltung, die als Grundlage der Erkenntnis die bewußte Setzung der eigenen Existenz sieht, bedeutet fur den historisch Verstehenden, daß er der Vergangenheit, wie überhaupt jeder anderen Kultur, zugesteht, eine je eigene Ordnung gesetzt zu haben, die nicht wirklich von außen bewertet werden kann. Nur unter Anerkennung der Selbstbezüglichkeit des betrachteten Anderen ist dessen Wesentliches dem Verstehen und der Beschreibung zugänglich. Für die wissenschaftliche Arbeit Wolframs von den Steinen ist diese Zugangsweise konstitutiv: Er anerkennt das Andere, und auch die vergangene Welt, in ihrer Andersheit, sucht sich ihrem Eigenen in ehrlichem Verstehen zu nähern, und er tut das ausgehend von einer radikalen Konzentration auf das Eigene, das ihm dann die höchste Verantwortlichkeit auferlegt, der im Reden vom Anderen, im Umgang mit dem Anderen zu entsprechen ist. Schon in seinem Buch Vom heiligen Geist des Mittelalters, das die Welt Anselms und Bernhards vor allem unter Anerkennung ihrer internen semantischen Verflechtung zu erfassen sucht, eine damals durchaus nicht gängige Vorgehensweise, 58
Hier fugen sich Landmanns Gedanken zu den um eine positive Anerkenntnis des Vorurteils' bemühten Überlegungen von H. G. Gadamer in Wahrheit und Methode (1960). Diese Ubereinstimmung ist nicht zufällig: Gadamer gehörte in Heidelberg zum Schülerkreis Gundolfs.
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weist er (vgl. S. 48) ausdrücklich in diesem Sinne auf das Buch von Edith Landmann hin. Allerdings enthält diese Neuorientierung des Erkennens und Verstehens bei Wolfram von den Steinen noch einen besonderen Akzent. Denn mit der Anerkennung der Selbstbezüglichkeit der fremden, vergangenen Kultur gleicht das ,Verstehenshandeln' des Historikers der teilnehmenden Beobachtung' des Ethnologen, wie sie Karl von den Steinen fur die Ethnologie entwickelt hat. Und zweifellos ist für Wolfram von den Steinen neben der durch George vermittelten erkenntnistheoretischen Diskussion im Umfeld von Dilthey und Simmel wesentlich auch die Bezugnahme auf die zweifellos ihrerseits mit der wissenschaftstheoretischen Diskussion um 1890 verbundene moderne erkenntnistheoretische Haltung des Vaters in der historischen Arbeit bestimmend geworden. Es war mehr als einfache Neigung, wenn Wolfram von den Steinen dem Vater sein Buch der Vier Briefe aus der Türkei' von Ogier Ghiselin von Bubeck (1926) widmet. Noch die bedeutende Schrift Glück und Unglück in der Weltgeschichte, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber den zeitgenössischen Wertungen Europas in vielem die derzeitige Globalisierungsdiskussion vorwegnimmt,59 bezieht sich ausdrücklich auf die Arbeiten des Vaters. Die Betrachtung der Gestalten der Vergangenheit kann daher fiir Wolfram von den Steinen nichts mit dem üblichen selbstläufigen Wissenschaftsbetrieb gemein haben, der sich in ,Partialintentionen', wie Edith Landmann sagen würde60, bescheidet, etwa - im Sinne Hellmanns oder Brackmanns - in der Beschränkung des Geschichtlichen auf die politische Ereignisbeschreibung, ein Wissenschaftsbetrieb, der in die seit Cartesius gültige Einschränkung des Erkennens auf gewisses, beweishaft verifizierbares Erkennen (zumal der Naturwissenschaften) befangen ist - und eben damit den im Leben ansetzenden Erkennenszugriff des schöpferischen Sehens mißachtet.61 Die Ablehnung des positivistischen Wissenschaftsideals, das wesentlich im schlichten Progredieren in der Beweisbarkeit des Urteils, des Wahr und Falsch gipfelt, aber eben damit umfassend den lebendigen Gehalt des ,Beurteilten' hintanstellt, ist von diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen aus zwangsläufig. Völlig zu Recht sieht also Wolfram von den Steinen die von ihm und Ernst Kantorowicz erstrebte ,Schau' als etwas gänzlich anderes an, als das, was Brackmann so nennt, für den ,Schau' letztlich im Bereich subjektiver Schwingung im Hinblick auf eine reiche Darstellung ihren Raum hat und da endet. Die Schau geht aus von einer - in der Gegenwart des Dichters und der Dichtung gewonnenen - eigenen Gestalt und sie richtet sich auf die Gestalt des Geschauten. Im Heiligen Geist des Mittelalters hat er dafür die knappe 59 60 61
Glück und Unglück in der Weltgeschichte, Basel 1943; ähnlich die Studie: Das Vergebliche in der Weltgeschichte, Laupheim o. J. [1954], bes. S. 12ff. Vgl. E. Landmann: Die Transcendenz des Erkennens, Berlin 1923, S. 154ff. Vgl. ebd.,S. 261ff.
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Wendung: „Wir setzen Gestalt gegen Gestalt." Und diese Wortwahl ist nicht zufallig, denn tatsächlich ist unverkennbar, daß diese Vorstellungen Wolframs von den Steinen sich über seine Anbindung an die erkenntnistheoretische Diskussion im Umfeld des frühen Stefan George und seinen Anschluß an die ethnologische Maxime des teilnehmenden Beobachtens' seines Vaters in den weiteren Zusammenhang der phänomenologischen-gestalttheoretischen Erkenntnislehre stellen, die ja ihrerseits nicht unabhängig von der philosophischen Diskussion im Umkreis von Dilthey und Simmel ist.62
Die Auseinandersetzung um Wissenschaft und , Schau' innerhalb des Kreises Nicht nur gegenüber der akademischen Wissenschaft allerdings ergaben sich Probleme für ein wissenschaftliches Tun, das von der erkenntnistheoretischen Diskussion ausging, die Stefan George um 1900 mitprägte. Probleme fur die ,geistige Arbeit' 63 , wie sie Wolfram von den Steinen vor Augen hatte, entstanden auch aus dem ,Kreis' selbst: aus seinen Interessen-Umschichtungen in den 20er Jahren, die eng mit der Frage der personellen Umgebung des ,Meisters' verbunden war. Einerseits betraf dies das Christliche, andererseits den Horizont geistigen Arbeitens und des Verstehens von Vergangenheit überhaupt: das phänomenologisch-hermeneutische Vordringen in die Innensicht des Anderen. Wolfram von den Steinen, der sich vor allem dem Mittelalter zugewandt hatte, kam durch die zunehmende Zurückhaltung der Menschen um George gegenüber dem Christlichen in eine schwierige Lage, war doch eine phänomenologisch geprägte Auseinandersetzung mit dem Mittelalter nicht wirklich möglich ohne eine tiefgründige Einbeziehung des Christlichen (was ja keineswegs ein eng Kirchliches sein mußte). Denn die von Wolfram von den Steinen strengstens anerkannte Selbstbezüglichkeit kultureller Äußerungen machte eine adäquate Anerkennung der Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit des Christentums unabdingbar. Gerade hier aber sah die ,neue' Umgebung Stefan Georges anders: Zu den Arbeiten Wolframs von den Steinen schreibt der damals 22-jährige Max Kommerell an Wolters noch im Dezember 1925: „Mit dem Meister habe ich neulich 3 Bücher Heilige und Helden des M.A. (Franziskus, Bernhard, Dante) gesehen. Wir waren über vieles sehr wenig erfreut." 64 Da George die Dante-Übersetzung zweifellos schon durch die Erstausgabe in der Rupprecht-Presse kannte, fallt das ganze Gewicht der Aussage und des
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F. Baethgen hatte in seiner Rezension von Kantorowiczs Friedrich II In: Deutsche Literaturzeitung 51 (1930), S. 75-85, S. 78f. dessen Methode als .phänomenologisch' bezeichnet. Vgl. WvdSt an Karl Wolfskehl, Brief vom 9.2.1924: „Waren wir erst ganz aus der Unmenschlichkeit des Bücherdruckens heraus - wieviel mehr würde uns geistige Arbeit lohnen." (DLA). Im Wolters-Nachlaß, zitiert nach Philipp (wie Anm. 2) S. 300.
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Dissenses auf die Bücher über Bernhard, Franziskus und Dominikus, die bedingungslosen Verteidiger der christlichen Kirche. Es war zweifellos das eindringliche Reden Uber sie, das das von Max Kommereil formulierte Mißbehagen des ,Meisters' ausgelöst hatte - genauer: das hermeneutische Vordringen Wolframs von den Steinen in den christlichen Sinnraum. Schon im Frühjahr 1920 hatte Wolters ein ähnliches Mißvergnügen des ,Meisters' hervorgerufen, als er seine drei Jahre später erschienenen Übertragungen von Dichtungen des spätantiken griechischen Christentums vorgelesen hatte; George war davon wie Edith Landmann berichtete - wenig angetan gewesen und hatte abschließend nur gemeint: „Das war mal ein frommer Abend". 65 Eben diese F r ö m migkeit' fand der seinem ,Meister' die Stimme gebende junge Kommerell nun in dem Wolters-Schüler Wolfram von den Steinen. Und es ist ja bezeichnend, daß Max Kommerell später in seiner umfänglichen Würdigung Klopstocks dem ,Messias', dem größten Werk, das aber eben nicht ohne eine Anerkenntnis des Christlichen zu erörtern war, kaum einen Satz widmet. Wesentlich für diese Differenz der Wertungen ist das oft nicht angemessen beachtete Generationenverhältnis der Menschen um George und die verschiedenen Phasen des Dichters. 66 Die Geschlossenheit, die der George-Kreis, trotz aller Beteuerungen über seine Offenheit, im Laufe der 20er Jahre selbst zelebrierte, hat dieses Generationenverhältnis samt den Verschiebungen im Dafürhalten des Dichters und die daraus entstehenden persönlichen Spannungen verdeckt - und die wissenschaftliche Diskussion ist, teilweise fehlgeleitet von der Übermacht der ,Erinnerungsliteratur' darin gefolgt. Schon gegenüber den Schönhausener Freunden um Vallentin und Wolters, dann aber verstärkt gegenüber den jungen Freunden der 20er Jahre läßt sich ein feines Wechselspiel zwischen dem , Meister' und den Schülern und Jüngern erkennen. Obwohl in der konkreten Interaktion der , Meister' grundsätzlich als der eine Bestimmende dasteht, dargestellt wird, ist er doch keinesfalls unabhängig von den Jüngern und ihrem Dafürhalten. Er nimmt es vielmehr vielfach auf, um es dann aus Eigenem wieder auszustrahlen. Hier liegt der Grund für die Rollenspiele Georges, die unlängst beschrieben wurden.
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Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 112; vgl. auch sein ,Lob' für die germanischen Heldensagen: sie seien „wenigstens unsentimental, unchristlich, unhuman, unbürgerlich, urmässig" ebda. S. 109 - eine vielsagende Reihung! Vgl. aber in der Neunten Folge der Blätter den Absatz Der Heiland. Zum unsicheren Stand des Christlichen vgl. noch den Wortwechsel in Marburg am 25.5.22 über eine christliche Wendung, ZT 319. Wolfskehl hingegen, der immer weltanschaulich interessiert und offen blieb, fand die Übersetzungen von Wolters vorbildlich - wie eben dann auch die Übersetzungen von WvdSt. M. Landmann (Anm. 54), S. 129 berichtet davon, daß WvdSt im Streitgespräch mit Edith Landmann positiv zum Christentum Stellung nahm. George selbst sieht seine jüngeren Freunde unter dem Blickwinkel der ,Generation'; vgl. Thormaehlen (Anm. 24), S. 180. Der ,Sohnesgeneration1 (wie Robert Boehringer, Ernst Morwitz, Ludwig Thormaehlen) folgt eine ,Enkelgeneration'.
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So gehen in der zunehmenden Entfernung Georges von der christlichen Welt, deren Äußerungen für die ersten Gedichtbände durchaus noch von Gewicht war, eigene Entwicklungen und Erlebnisse (etwa die Begegnung mit Maximin) mit den an ihn herangetragenen und ihn formenden Anregungen der Jüngeren eine kaum mehr auflösbare Bindung ein. Unter ihnen muß Max Kommereil besonders wirkmächtig gewesen sein.67 Das Christliche und das verstehende Eingehen auf christlich Geprägtes wurden an den Rand gedrängt, Mittelalter und Christentum vermochten das Gespräch im Kreis um George mehr und mehr nur noch unter dem Aspekt der Staatlichkeit zu bewegen. Man könnte sagen, die neue Welt von ,Herrschaft und Dienst' mit der Neudeutung von Meistertum und Jüngertum hat das Christliche, das ursprünglich als Formungshintergrund dazu beigetragen hatte,68 aufgesogen. Noch gewichtiger als in den drei von Max Kommerell bekrittelten Büchern mußte dieser Dissens mit dem jüngeren Kreis' der 20er Jahre im Fall der bedeutsamen Zusammenschau Wolframs von den Steinen sein, bei Vom heiligen Geist des Mittelalters. Denn in diesem Werk ist auch der zweite Streitpunkt der kreisinternen Auseinandersetzungen berührt, die unter dem Stichwort ,Geistbücher' geführt wurde. Im Februar 1925 hatte George gegenüber Edith Landmann wiederholt von den ,Geistbüchern' gesprochen, den verstehenden Deutungen großer Gestalten, und 1927 als Stichjahr bezeichnet (also zweifellos noch Friedrich II. von Kantorowicz und wohl auch Kommerells Dichter als Führer in der deutschen Klassik eingeschlossen), danach „dürfen keine Geistbücher mehr erscheinen". Denn das wäre so etwas wie eine Ehe mit dreizehn, fünfzehn, zwanzig Kindern, „einfach eine Scheußlichkeit". Und in diesem Falle wird deutlich, woher diese Abwehr kommt; denn wenig später meint George: „Die geistreichen Synthesen hätten die Jungen satt, sie suchten wieder Stoff, Tatsachen." Auf die Frage Edith Landmanns aber, „was nach 1927 aber zu tun sei, wie die Tat aussehen solle?", meinte er nur, „das könne er noch nicht sagen".69 Bei all dem scheint er nicht an eine grundlegende Abkehr von der Wissenschaft gedacht zu haben, sondern an eine ,neue Wissenschaft', die die alte absterbende ablösen würde, „wenn die jetzt Jungen
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Immer wieder fällt bei Berichten über Auseinandersetzungen innerhalb des Kreises der Name Max Kommerells mit Hinweis auf seine Schärfe und Angriffslust. Georgine von den Steinen teilte mir eine Bemerkung G. P. Landmanns mit: George sei durch die Bekanntschaft mit Kommereil ein anderer geworden und hätte sich in der Folge von früheren Freunden abgewandt. George sah die nicht unproblematische , Kraft' Max Kommerells, Edith Landmann notiert, George habe ihr mit Bezug auf ihn, ,das Kleinste' bemerkt: „Vor dem warne ich Sie". (E. Landmann (Anm. 65), S. 133). Gundolf hatte sein Gefolgschaft und Jüngertum, (BfdK 8 (1908/09), S. 106-112) mit dem Hinweis auf Jesus ausklingen lassen. E. Landmann (Anm. 65), S. 133f. bzw. S. 135.
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Lehrstühle hätten und die Wissenschaft aus ihrem Zusammenbrach in der alten Welt in eine andere hinüberretten würden.".70 Wo die früheren jugendlichen Folger des ,Meisters' von Gefolgschaft und Jüngertum gesprochen hatten, kreiste das Denken dieser neuen Jüngeren' um das Führertum, das ja auch Kommereil in den Mittelpunkt seiner Deutung stellte. Ihnen wurde das Heldisch-Militante bedeutsam, die Tat, auch die künstlerische Tat. Dem sahen sich, ihren Briefen zufolge, auch die Brüder Staufenberg als verpflichtet an. Ihnen schlossen sich solche an, die - selbst wenn sie promoviert worden waren - wenig wissenschaftlich veranlagt waren, wie etwa Ludwig Thormaehlen, dann auch Wilhelm Stein, obwohl der selbst noch 1923 unter dem Signum der Blätter für die Kunst ein Geistbuch verfaßt hatte: seinen Raffael. Eine deutliches Bild der Haltung dieser ,Heroen' (wie sie zuweilen genannt wurden) gibt Edith Landmann im August 1926 in ihrer Klage gegenüber George, daß bei Wilhelm Stein, seit er „in Berührung mit Thormaehlen gekommen sei, das Wilde und Schroffe seines Wesens bis zu einem Hass gegen alles, was nicht soldatisch, männlich und tathaft war, sich gesteigert" habe. Stein gesellte sich zu den Jüngeren [...], welche sich den älteren Freunden des Meisters, den Verfassern von ,Geistbüchern' erst latent oppositionell, später in offener Feindschaft gegenüberstellten. Sie wollten der ,alten toten Weisheit' entraten, Kunst statt Geist machen und so den Traum erst wahrhaft erfüllen. Mit ihrer Ranküne gegen den Geist hing eng, und besonders bei Willi Stein, der selbst Jude war, ihre Wendung auch gegen Juden zusammen, bei denen sie die Schätzung der vitalen Werte, das natürliche, völkische, harte und soldatische Leben vermissten.
George sucht sie zu beruhigen und spricht von Thormaehlen und seinen Gesinnungsfreunden als von ,Kosmikern', die auf ein Gespenst losrennen und dabei ihren Nebenmann umbrächten; er könne dem nicht von nahem zusehen.7' Wie nachdrücklich die ,Ablehnung' von Geistbüchern war, zeigt ein von George veranlasster Brief Kantorowiczs an Singer, der seinen Piaton George übersandt hatte: Die Zurückhaltung gegenüber diesem neuen Werk erkläre sich aus der „furcht vorm entstehen neuer geistiger bücher überhaupt nicht aus abneigung" gegen Singers Piaton; George habe das ganze Buch „aufmerksam gelesen und darin viel Bemerkenswertes gefunden".72 So sehr dieser von George im Hinblick auf das ,tathaft-heroische' Verlangen der Jüngeren verkündete Rückzug von den geistreichen Synthesen' zunächst 70 71
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Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 158f.; vgl. auch die Bemerkung über ,den Grosskosmiker' Wilhelm Stein und die ,Kosmiker' in Berlin gegenüber Stettier am 18./19. November 1931: Michael Stettier: Begegnungen mit dem Meister, Aarau 1943, S. 22; S. 24f.; ZT 381. ZT 349 nach Archiv Castrum Peregrini
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von mehreren der Freunde als Einbuße erlebt wurde, er wirkte doch auch befreiend: die Werke der Wissenschaft wurden von der Überforderung, die zeitgenössische Umwelt unmittelbar zu erziehen, zu formen und zu richten, entlastet. Zugleich eröffnete sich die Möglichkeit eines freier begründeten gestalthaften, phänomenologischen' Verstehens, und es war vielleicht erst dieses Abrücken vom Anspruch unmittelbarer Einwirkung auf die Wissenschaft, die den Dichter und seine Dichtung auf neue Weise und - über die späteren Arbeiten Wolframs von den Steinen - nachhaltig in der Wissenschaft wirksam werden ließen, während gleichzeitig die im Kreis zunächst gefeierten ,georgisch' aufgeladenen Arbeiten wissenschaftlichen Anspruchs sehr schnell bedeutungslos wurden oder auf engste Wirkungskreise beschränkt blieben. 73 Die entschiedene Arbeit Wolframs von den Steinen an einem ganz fachwissenschaftlichen Werk im Hinblick auf eine akademische Habilitation und an weiteren ebenso fachwissenschaftlichen kleineren Studien nach seinem ,Geistbuch' vom Mittelalter (die, wie schon gesagt, gewisse Parallelen im Werk Max Kommereils und Ernst Kantorowiczs hat) antwortete also auch auf eine spezifische Situation im ,Kreis', auf den von George mitgetragenen Rückzug der jüngeren Freunde von der Wissenschaft. Das bedeutete für Wolfram von den Steinen allerdings nicht im mindesten eine Abkehr von der Welt Stefan Georges - im Gegenteil: Neben die wissenschaftlichen Arbeiten trat verstärkt die eigene Dichtung. 1929 entstehen die ersten Gedichte einer Sammlung lyrischer historischer Szenen, die 1938 unter dem Titel Um die Pfalz erschien, deren letzte George zeigt. Wohl zum 64. Geburtstag erhielt Stefan George die Dichtung Liodo. Ein Spiel in Versen - „Geschrieben zu Basel im Juni 1932 von Wolfram von den Steinen für den Meister", wie das Kolophon sagt.74 Dann kam der äußere Einbruch: Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und - wenige Monate später - der Tod des Dichters. Der Kreis zerriss. Und fur die jüdischen Menschen versank die Heimat und ihre Lebensläufe wurden verbogen. Aus dem Habilitationsort Basel Wolframs von den Steinen wurde der Exilort, mit all den Beschwernissen des Exulanten hinsichtlich einer wissenschaftlichen Karriere. Dies hinderte die nationalsozialistischen Kriegführer allerdings nicht, 1942 in einer Veröffentlichung Ordner des Abendlandes. Die grauen Hefte der Armee Busch einen umfangreichen
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Ich denke hier besonders an die Arbeiten von Wilhelm Stein, Berthold Vallentin, Kurt Hildebrandt, dessen Piaton weniger ein deutendes ,Geistbuch' ist, als vielmehr ein Versuch, das (zeitgenössisch aufgeladene) Tathafte in die geistige Welt Piatons hineinzuschieben. Beiliegt ein Gedicht von WvdSt zum Tode von F.Wolters; SGA George IV, 619 mit 620. Die verstärkte dichterische Arbeit dieser Jahre findet ihren Niederschlag auch im Gedicht-Buch Urte (Familienbesitz), später teilweise im Gedichtband Über der Zeit, Bern 1962.
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Abschnitt Karl der Große von Wolfram von den Steinen abzudrucken, einen Auszug aus seinem Buch über Karl den Großen. 75
,Gestalt' und , Wirklichkeit' als moderne Kulturgeschichte In der ,geistigen Arbeit' Wolframs von den Steinen treten in den 30er Jahren die Übersetzungen der lateinischen Dichtungen des Mittelalters in den Vordergrund. Zu Weihnachten 1937 verschenkte er im Freundeskreis Lateinische Minnelieder des Zwölften Jahrhunderts,76 zu Weihnachten 1938 eine Sammlung von Gedichten überwiegend der Karolingerzeit. 77 Die PythagorasSequenz übersandte er seinem Freund Paul Wittek am 13.6. 1939; 1939 widmet er Das Gespräch der Seele mit sich selber Karl Wolfskehl zum 70. Geburtstag. Es scheint geradezu, daß Wolfram von den Steinen im Lärm der sich radikalisierenden, das Menschliche entwertenden Staatenwelt sich des geistigen Erbes Europas versichern wollte. Dies aber und die mit ihnen erworbene Meisterschaft in der , Schau' wurde dann zur Grundlage seiner großen Arbeiten der Nachkriegszeit. 1948 erscheint Notker der Dichter und seine geistige Welt und hält, Karl Wolfskehl und Ludwig Derleth gewidmet, den Bezug des Verfassers zu George und seinem Freundeskreis auch im Äußeren aufrecht. In bezwingender Weise führte Wolfram von den Steinen in diesem Werk über den lateinisch dichtenden alemannischen Mönch in St. Gallen die Glut und Dichte des von Karl dem Großen heraufgeführten karolingischen Zeitalters und seines Christentums als in sich stimmige und menschlich überzeugende Welt vor Augen. Dann folgen - ähnlich beispielhaft - 1949 Das Zeitalter Goethes, eine vom Wechselspiel zwischen herausragendem Menschen und seiner Zeitgenossenschaft geprägte Geistesgeschichte; und 1959 Der Kosmos des Mittelalters, Von Karl dem Großen bis zu Bernhard von Clairvaux; schließlich 1965 Homo Caelestis, Das Wort der Kunst im Mittelalter. Es sind große Werke, vorbild75
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Ordner des Abendlandes. Die grauen Hefte der Armee Busch 24. (Schriftenreihe zur Truppenbetreuung 24). (Druck: Feldzeitung von der Maas bis an die Memel), (1942) 78 S. Der Auszug: Karl der Große, S. 25-45; weitere Auszüge: Th. Mommsen: Caesar; H. Baumann: [Kaiser] Friedrich [Π.]. Diese Veröffentlichung (die WvdSt offenkundig nicht bekannt wurde) fehlt in der Bibliographie von Peter von Moos (Anm. 12). Vgl. W. von den Steinen: Ein Dichterbuch des Mittelalters. Hrsg. von P. von Moos, Bern 1947, S. 208, S. 160, S. 166f., S. 162-165, S. 168, S. 174. Diese Angabe und die folgenden auf Grund der Sendungen von WvdSt an Paul Wittek, die dieser C. V. Bock (CP) überließ. Alkuin an Karl den Großen (Menschen im Mittelalter [Anm. 12] S. 52) Alkuin an Karl den Großen zum Abschied (ebda. S. 58); Dungal an Karl den Großen (ebda. 66f.); Walahfried: Unmöglichkeiten (Dichterbuch [Anm. 76] S. 84); Freundesbrief (ebda. S. 85); Waltari-Lied V. 1150-1187 (ebda. S. 88f.); Girald: Sorgen des Denkers (ebda. S. 220); Inviolata (Hymnen [Anm. 78] S. 63). Gedruckt in W. von den Steinen: Tausendjährige Hymnen, Amsterdam o. J. [1944], S. 66f.
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haft für die derzeit diskutierte kulturwissenschaftliche Wende der Geschichtswissenschaften, gerade im wissenschaftlichen Zugriff, der dem mit Georges Dichtung verbundenen erkenntnistheoretischen Neuansatz um 1900, den dann Hans Georg Gadamer in Wahrheit und Methode erläuterte, gerecht wird. Auf einzigartige Weise treten in diesen Darstellungen Wolframs von den Steinen die verschiedenen Sparten geistiger Gestaltung zueinander: Das Literarische, das Politische, das Bildlich-Künstlerische, ja sogar Musikalisches - alle in hoher Verbindlichkeit zu Gesamtbildern, Gesamtgestalten einer vergangenen Kultur verdichtet. Das noch die Studien über Anselm und Bernhard in Vom heiligen Geist des Mittelalters bestimmende Pathos wandelt sich in diesen Arbeiten zu selbstverständlicher und geradezu heiterer Klarheit. Wie fern diese eindringliche Rede über das Mittelalter bei all dem von preisender Rückgewandtheit ist, zeigen die Studien zu Glück und Unglück in der Weltgeschichte (1943). Sie beharren darauf, daß jegliche ,Moderne' sich dem Ethischen stellen muß. In seinem letzten großen Werk, im Homo Caelestis nimmt er einleitend noch einmal konkret zu seinem Arbeiten Stellung: Er betont, daß in seiner Arbeit „zwischen der Kunst und Gottes Diensten [...] keine Scheidelinie gezogen" wird (S. 7), und er setzt das entschieden gegen die - bis heute dominierenden - Üblichkeiten des akademischen Wissenschaftsbetriebs ab, wenn er (im Gegensatz zur heftigen Tongebung der früheren Jahre) nun ebenso zurückhaltend wie selbstsicher feststellt: Der Beitrag zur Wissenschaft, den der Band schuldet, liegt in dem Plan und der Aufgabe selbst. Vorausgesetzt wird im allgemeinen die analytisch individualisierende Leistung der Kunstgeschichte, die das Erhaltene so genau wie möglich nach Zeit und Ort, nach Stil und Technik, nach Schule und Meister und allen besonderen Komponenten festlegt. Wenn die Forschung auf diesem Gebiete noch lange nicht zu Ende ist - auf welchem Gebiete wäre sie dies? - , so hebt das den Imperativ nicht auf, daß man über sie hinausgelange. Ihre Arbeit klärt möglichst vielseitig die Voraussetzung des Kunstwerkes. Aber Voraussetzungen sind nicht Ursache, geschweige denn die Sache selbst. Sie stellen das Phänomen an seinen Platz und schließen damit Mißverständnisse aus: aber das positive Verständnis, jeder besonnene Kunstforscher weiß es, liegt auf anderer Ebene, und auch die ist dem Worte nicht ganz unzugänglich 79 .
Das ist, wie ein mit der Norm noch des heutigen Wissenschaftsbetriebs Vertrauter sofort bemerkt, ein massiver aber produktiver' Angriff auf die kunstwissenschaftlichen und klassisch-archäologischen Gewohnheiten. Ein letztes Buch blieb ungeschrieben: Wolfram von den Steinen plante eine Geschichte der Wirklichkeit, und er zielte damit darauf, die je verschiedene 79
W. von den Steinen: Homo Caelestis. Das Wort der Kunst im Mittelalter. 2 Bde. Bern und München 1965, S. 10.
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,Weise der Begegnung von Mensch und Welt' - das eben galt ihm als Wirklichkeit' - durch die Geschichte zu verfolgen.80 Die Umrisse dieses Planes, in dem Cartesius als Wendepunkt zur neuzeitlichen Wirklichkeit eine Schlüsselrolle zukommen sollte, entwarf er im Freundeskreis. Sie erweisen das Vorhaben als folgerichtige Fortentwicklung seines bisherigen Arbeitens und belegen zugleich, daß es ihm wirklich um eine umfassende geschichtswissenschaftliche Sichtung der Kulturen hin zur Moderne ging, die in ihrer Ausrichtung auf das Kognitive alles damals Gängige überstieg und jede Rede von einem den wissenschaftlichen Umkreis Georges durchgängig prägenden ,Antimodernismus' widerlegt.81 Eine moderne Kulturgeschichte kann da nur ansetzen, weiterarbeiAlle diese späten Basler Arbeiten leben, sind erfüllt von sinnenvollem Erleben von Dichtung und Kunst. Eine kurze Begebenheit, deren Kenntnis ich Georgine von den Steinen verdanke, mag das erläutern. Wolfram von den Steinen arbeitete längere Zeit in Paris in der Nationalbibliothek. Jeden Morgen wurden ihm in einem verdunkelten Raum auf Hirschleder die großen Codices vorgelegt; welche es waren, läßt sich ja aus Homo Caelestis schließen. Eines Tages aber entzündete er dort neben einem prächtigen Codex eine Kerze, um einmal den wahren Glanz zu sehen. Die Aufregung der Kustoden war groß, er aber war beglückt, hatte er doch das ,Ganze' gesehen. Diese Szene ist jedoch mehr als einfache Freude am unmittelbaren Erleben, sie muß vielmehr wesentlich als ein das übliche Wissenschaftliche überschreitender wissenschaftlicher Versuch verstanden werden: die Lebenswirklichkeit der vergangenen Schöpfung in ihrer Zeit zu finden: mit ihren Augen zu sehen. Im Beharren auf dem Lebenszusammenhang eines Tuns, eines Werkes ist sich Wolfram von den Steinen so bis zu Ende gleich geblieben. Die stille Beglückung ist da nur die heitere Seite des Ringens um ein Ganzes, im „Mühen um das Schwerste".82
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Brief Richard Bregenzers an den Verf. vom 18. April 2004 über Gespräche bei einem Besuch zwischen 1963 und 1965 in Basel; Kopie im Archiv des Castrum Peregrini, Amsterdam. Nicht in Abrede gestellt werden soll damit eine Kennzeichnung einzelner Personen des Kreises, vor allem der ,Heroen' mit Thormaehlen und Hildebrandt, als geprägt von einer tathaft autoritären Moderne. Vgl. die Widmung in Homo Caelestis (Anm. 79).
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Musikwissenschaft und George-Kreis (1908-1946) „Wissenschaftler im George-Kreis" - Wenn Georges Diktum „Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft" 1 vielleicht fur manche Disziplin zu relativieren ist, so gilt es doch ohne Abstrich für die Musikwissenschaft. Damit könnte ich mein Referat eigentlich beenden. Weil jedoch ausführliche Stellungnahmen und Erörterungen zur Musik aus dem George-Kreis vorliegen, wenn auch nicht von Musikwissenschaftlern, 2 möchte ich dazu einiges sagen. Zuvor will ich wenigstens zwei indirekte Verbindungen zur zünftigen Musikwissenschaft erwähnen. 1909 erschien in den renommierten Denkmälern der Tonkunst in Österreich3 der zweite Teil der großen Propriensammlung Choralis Constantinus (1555 4 ) des bedeutenden flämischen Komponisten Heinrich Isaac. Die Edition war offensichtlich die Wiener Dissertation ihres Herausgebers, Anton von Webern. 5 Ungefähr zur gleichen Zeit 6 komponierte der erst viel später bekannt gewordene Webern Georges Gedicht Entflieht auf leichten kühnen aus dem Jahr der Seele.7 Es ist seine einzige A-cappella-Komposition, 4-stimmig, als Doppelkanon strukturiert, ohne Zweifel eine direkte Anregung aus seiner Befassung mit dem Werk Isaacs. Ich demonstriere dies, indem ich Ihnen einen
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Edgar Salin: Um Stefan George, 2. erw. Aufl. München und Düsseldorf 1954, S. 249. Ernst Glöckner war 1909 mit einer germanistischen Dissertation über Studien zur romantischen Psychologie der Musik, besonders mit Rücksicht auf die Schriften Ε. T.A. Hoffmanns promoviert worden (gedruckt München 1909). Musikwissenschaftler, die auch GeorgeLieder komponiert haben, waren Hugo Leichtentritt, Helmuth Osthoff und Hans Joachim Therstappen. Paul Amadeus Pisk, Komponist von George-Liedern, ist 1916 mit einer musikwissenschaftlichen Dissertation promoviert worden. Egon Wellesz, Musikwissenschaftler und Komponist, hat mehrfach George-Gedichte in Musik gesetzt. Zu Anton von Webern s. unten. Theodor W. Adorno war weder Musikwissenschaftler noch gehörte er zum Georgekreis oder -umkreis. Denkmäler der Tonkunst in Österreich, XVI. Jahrgang. Erster Teil: Heinrich Isaac: Choralis Constantinus. Zweiter Teil. Bearb. von Anton von Webern, Wien 1909. Entstanden wohl zwischen 1503 und 1514. Isaac ist 1517 gestorben. Weberns Promotion erfolgte 1906. 1908. GA IV, S. 109. Weberns Komposition wurde 1921 publiziert.
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kurzen Abschnitt8 aus einer ebenfalls 4-stimmigen Sequenz der Isaacschen Sammlung vorführe und danach den Anfang des Webernschen Chores. Weberns Komposition als Kanon erscheint sinnvoll, denn der „flucht" entspricht lateinisch „fuga", was seit dem 14. Jahrhundert Kanon bedeutet. Isaacs Beispiel ist ebenfalls ein Doppelkanon.9 Der hier zwischen Musikwissenschaft und George-Komposition deutliche Zusammenhang gilt nicht mehr fur Weberns Klavier-Lieder auf Georgesche Texte. Mit Musikwissenschaft hat sich Webern nach seiner Promotion nicht mehr befasst. Die andere angedeutete Verbindung betrifft Ernst Kantorowicz, und zwar seine schon 1938 vollendete,10 aber erst 1946 erschienene Studie Laudes regiae - Α Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship [...] with a Study of the Music [...] by Manfred F. Bukofzer.11 Bukofzer, hervorragender Forscher der älteren Musikgeschichte (1910-1955), musste ebenfalls emigrieren und lehrte seit 1941 an der University of California in Berkeley, wie Kantorowicz. Dort entstand zwischen beiden eine enge Freundschaft. Die langjährige Zusammenarbeit setzte sich auch fort, 12 nachdem Kantorowicz 1950 die University of California unter Protest verlassen hatte. Im Vorwort zu den Laudes regiae13 dankt Kantorowicz Bukofzer für die Hinzufugung des Musik-Kapitels, das die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen voll stütze.14 Akklamation und Herrscherkult sind zweifellos nicht George-ferne Themen, doch obwohl das Buch über Friedrich II. öfter zitiert wird, fehlt eine direkte Bezugnahme im Text. Natürlicherweise gilt dies noch mehr für den Anhang Bukofzers,15 der die zugehörigen Melodien untersucht. Ein unmittelbares Ineinander-Arbeiten beider Autoren wird kaum ersichtlich.16 8
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Denkmäler der Tonkunst (Anm. 3), S. 126. Der hier nach der Ausgabe reproduzierte Abschnitt enthält im zweiten Takt einen Druckfehler: im Alt muss es auf „ius-" nicht f l , sondern el heißen. S. Anhang Notenbeispiel 1 Isaac - Webern Sebastian Klotz: Herrscherakklamation und serielle Musik. Zur Studie über die laudes regiae von Ernst H. Kantorowicz und Manfred F. Bukofzer, Berkeley 1946. In: Geschichtskörper Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. Hrsg. von Wolfgang Erst und Cornelia Vismann, München 1998, S. 161. Berkeley and Los Angeles - London, 2nd Printing, 1958. Der rare Text wurde mir von Johannes Fried freundlicherweise zugänglich gemacht. Klotz (Anm. 9), S. 166/67. In einem Brief (daselbst Anm. 20) vom 7.4.1955 berichtete Bukofzer Kantorowicz „von der zweifelhaften Ehre, Weihnachten in New York auf der Historiker-Tagung zu sprechen. Wenn auch viele Grössen zu meinen Füssen sassen, so glänzte Dein Stern durch Abwesenheit." Kantorowicz (Anm. 10), S. XI. Vgl. ζ. B. Laudes regiae, S. 19, Anm. 15. Laudes regiae, S. 188-221. Vgl. aber etwa S. 193, Anm. 18 und S. 196, Anm. 26. - Ein Gegenbeispiel liegt vor in: Notkers des Dichters (des Stammlers) Hymnenbuch. Lateinisch und deutsch. Hrsg. von Wolfram von den Steinen. Kleine Ausgabe vermehrt um 5 Melodien hrsg. von Günter Birkner,
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Im Folgenden werde ich versuchen, die wesentlichen Punkte aus der denkerischen, nicht „wissenschaftlichen" Befassung mit Musik, so weit sie aus dem Kreis um George stammt, zusammenzufassen.17 Es handelt sich dabei um drei Veröffentlichungen aus dem Zeitraum von 1912 bis 1937. Am Anfang steht Karl Wolfskehls Aufsatz Über den Geist der Musik im 3. Jahrbuch für die Geistige Bewegung von 1912.18 Das Jahrbuch diente dem Kreis bekanntlich zur kritischen und polemischen Abgrenzung von Außen- und Gegenwelt. So enthält ζ. B. das 3. Jahrbuch auch Erich Kahlers Auseinandersetzung mit Theater und Zeitgeist,19 die sich übrigens hinsichtlich der Oper mit Wolfskehl berührt. Wie Salin berichtet, hat George den Aufsatz Über den Geist der Musik Wolfskehl „abgerungen. Er legte Wert darauf, dass der Freund, der im Gespräch sich immer wieder über die Gefahren der Musik und über ihre abwegige Entwicklung äusserte", aber „keine Aufführung einer Bruckner- oder Mahler-Symphonie ungehört vorüber lassen konnte, öffentlich seine Grundanschauung darlegte."20 Wolfskehl war an sich allem Neuen gegenüber durchaus aufgeschlossen. So hörte er ζ. B. 1924 in Florenz Schönbergs Pierrot Lunaire - unter Leitung des Komponisten - und empfing „einen sehr starken Eindruck von der Folgerichtigkeit und der Stärke dieser Tonbewegung, verstand auch durchaus, nach welcher Richtung sie geht und was sie gestaltet".21 Die ehemalige Verbindung Schönberg-Kandinsky zur Zeit des Blauen Reiter mag hier mitgeschwungen haben. Dies ändert nichts daran, dass Wolfskehls Grundan-
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Bern und München I960. Hier ist die strikte Trennung der beiden wissenschaftlichen Bereiche ersichtlich, vgl. S. (5). S. zum Folgenden auch Albrecht DUmling: Umwertung der Werte. Das Verhältnis Stefan Georges zur Musik. In: Jahrbuch des Staatlichen Instituts fur Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1981/82, S. 9-92, besonders S. 51-87. S. 20-32. - Nachdrucke des Aufsatzes in: Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. 2. Band. Hamburg 1960, S. 237-249, (S. 591: „unter Berücksichtigung von Korrekturen und Ergänzungen von der Hand KWs") und in: Der George Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hrsg. von Georg Peter Landmann, Köln und Berlin 1965, S. 187-195. S. 92-115. Salin (Anm. 1), S. 208. Wolfskehl und Verwey - Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897-1946. Hrsg. von Mea Nijland-Verwey. Heidelberg 1968, S. 197. Der Brief an Albert Verwey geht weiter: „Es war übrigens das erste Mal, dass ich etwas von dem in Deutschland schon fast als Klassiker d. h. ältere Respektsperson figurierenden S. (man fuhrt ihn schon bei Beethovenfeiern auf) etwas hörte." Bewundernde Worte fand Wolfskehl (Briefe und Aufsätze, Hamburg 1966, S. 70) für das Lehrstück von Paul Hindemith (Text: Bert Brecht). - Wolfskehl trat zur Musik mehrfach als Übersetzer in Beziehung. Genannt seien Johann Christian Bach: 12 Konzert- und Opernarien und Joseph Haydn: Kanzonetten und Lieder (Nr. 1-6), beides hrsg. von Ludwig Landshoff (Leipzig 1930 und 1931). Zusammen mit Landshoff übersetzte Wolfskehl Rossinis Farsa giocosa II Signor Bruschino (Mainz 1931). Als Textausgabe (Marbach 1978) erschien Wolfskehls Obersetzung von Mozarts Hochzeit des Figaro; dort S. (5) Wolfskehls Erläuterung seiner Kriterien und S. 101-105 ein Nachwort von Klaus Schultz mit den sehr positiven Reaktionen des Mozartforschers Alfred Einstein und mit brieflichen Äußerungen Wolfkehls über seine Zusammenarbeit bei der Übersetzung mit dem Komponisten Frank Wohlfahrt.
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schauung sich 1912 auf das engste mit der Georgeschen berührte. Georges Haltung gegenüber der Musik war sowohl eine kulturhistorische als auch eine aktuell-pädagogische. Sie geht sehr klar aus seinen wenigen Versen hervor, welche direkt über Musik sprechen. Kulturhistorisch ist die Auffassung, dass nach der Herrschaft von Philosophie und Musik - im 18./19. Jahrhundert - nun die Dichtung den neuen deutschen Menschen formen soll: Nun probt nach sinn- und klangnetz zum Gestirnt Das grössre wunderwerk der endlichkeit! (GA VIII, S. 40)
Das Bild enthält den Gegensatz zwischen der Unendlichkeit des Sternenhimmels, in die sich Philosophie und Musik verlieren, und der Endlichkeit, dem im Hier und Jetzt leibhaft sich erfüllenden Wunderwerk des nun von der Dichtung geprägten Menschen. Dasselbe deutet der erste Rhein-Spruch im Siebenten Ring an.22 Dass dieses „grössre wunderwerk" bisher nicht verwirklicht wurde, sagen die scheltenden Verse im Hyperion-Gedicht (I) des Neuen Reiches: Ihr die in sinnen verstrickten Ihr die in tönen verströmten Schlaff dann beim werke. (GA IX, S. 14)23
Aber die Musik, die zum „Gestirnt" emporschwingt, kann den sich dort abspielenden Kampf und Sieg als Traum vorausnehmen, 24 der auf die neue leibhafte Gegenwart auf Erden deutet. Dies tut Beethoven, der einzige große Musiker, der in Georges Werk vorkommt: Haus in Bonn Eh ihr zum kämpf erstarkt auf eurem Sterne Sing ich euch streit und sieg von oberen Sternen. Eh ihr den leib ergreift auf diesem Sterne
Erfind ich euch den träum bei ewigen Sternen. (GA VI/VII, S. 202) 2 5
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GA VI/VII, S. 198. Vgl. dazu Kurt Hildebrandt: Das Werk Stefan Georges, Hamburg 1960, S. 367. Zu „schlaff dann beim werke" vgl. Hans Brasch: Bewährte Heimat, 2. Aufl. Düsseldorf und München 1971, S. 31: Georges „haupteinwand war, dass musik verwischte und feige machte, und als beispiel wurde Piaton zitiert, nach dem Orpheus nicht seiner frau in den tod folgen wollte denn er war ein musiker, und musiker sind feig, und so wollte er nicht für sie sterben, sondern sie lebendig aus der unterweit zurückholen', ohne sich selbst zu opfern." S. Piaton: Symposion 179d über den weichlichen Kithara-Sänger (Kitharoden) Orpheus. Vgl. gegen Ende des großen Gedichtes Der Krieg·. „Der kämpf entschied sich schon auf Sternen" (GA IX, S. 34). Vgl. dazu Wolfgang Osthoff: Haus in Bonn - George und Beethoven. In: CP 20 (1970) Η. 95, S. 5-29.
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Was sich aktuell-pädagogisch aus Georges Haltung ergab, kann ich hier nicht verfolgen. 26 Wolfskehl knüpft an Georges Auffassung vom Leibhaften an. wenn er feststellt, dass allen Künsten „als lezter impuls der wille zum bilde" gemeinsam ist, nur nicht der Musik. 27 Georges kulturgeschichtlichen Ansatz nimmt er auf, indem die Musik „als die jüngste der künste [...] seit einem jahrhundert der unbestrittene mittelpunkt" ist und - übertreibend - „bei uns fast der ganze inhalt des künstlerischen arbeitens und geniessens" 28 . Er weist dann auf Wagner, dessen „gewaltige werkkraft [...] den lezten fast religionsartigen orgiasmus entzünden" konnte, der im alten Europa noch möglich war. Damit deutet sich an, welche konkrete Musik hinter diesem Denken steht: ganz zuvörderst die Wagnersche und was sich damit verbindet. Deutlich sagt Wolfskehl: „Wagners werk ist das logisch unausweichliche ergebnis der gesamten musikalischen entwicklung". 29 In ihm hat „das grenzenlos gewordne chaos zur ,unendlichen melodie' sich gewandelt." Die Geschichte der Musik ist „geschichte der europäischen seelenentartung, von den ersten lockerungen an bis zur heutigen agonie". 30 Was nach Wagner kam — Wolfskehl widmet Wagner eine ganze Seite 31 bewundernder Worte - , „ist das selbständigwerden von seelenpartikeln". Wenn also, damit schließt Wolfskehl, „unsre gewisse hoffnung wahr wird, wenn das neue leben sich erkennt und das reich sich erfüllt, dann muss die entartung ein ende haben und mit ihr die herrschaft der musik." 32
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Einige unterschiedliche Beispiele seien genannt. Percy Gothein hat ausfuhrlich, eindringlich und mit großem Takt festgehalten, wie George und die Freunde ihn dazu brachten, von der geliebten Musik abzulassen. (Percy Gothein: Das Seelenfest. In: CP 5 (1955) Η. 21. S. 4148.) Hans Brasch musizierte mit Josef Liegle und liebte die italienischen Meister des 17./18. Jahrhunderts. „George blieb diesen persönlichen eigenheiten fremd, ohne sie zu verurteilen." (Brasch (Anm. 22), S. 31 f.). Über die Brüder Stauffenberg schrieb mir Nina Gräfin Stauffenberg, die Witwe von Claus, am 2. November 1998: Claus hatte als Kind noch Cellospielen „gelernt und bildete mit seinen Brüdern ein Trio, Berthold am Klavier, Alex an der Geige [...] Claus hat eine zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Musiker zu werden [...] Aber dann merkte er, dass er nicht über seine erreichten Fähigkeiten wachsen könne, und das genügte ihm nicht [...] Als er 1926 ins Regiment in Bamberg eintrat, hatte er sein Instrument dabei. Er musizierte hier mit einem Bekannten [...] Er nahm das Cello auch noch auf die Infanterieschule nach Dresden mit und trat bei Veranstaltungen dort damit auf [...] Da sich das Meiste ,vor meiner Zeit' abspielte, weiss ich es nur aus Erzählungen". Doch offensichtlich sah George hier keine Veranlassung, prohibitiv einzuwirken.
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Jb III 22. Ebd. S. 25. Ebd. S. 31. Ebd. S. 27. Noch in einer brieflichen Erwähnung des Aufsatzes nennt Wolfskehl am 13. Februar 1930 „die Musik als Ausdruck und Symptom einer von mir bedenklich empfundenen europäischen Seelenentwicklung, als eine gefährliche Transzendenz des Lebens selbst". Briefe und Aufsätze (Anm. 20), S. 59. Ebd. S. 31. Ebd. S. 32.
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Das hohe geistige Niveau dieser Attacke wurde bei weitem nicht erreicht, als zehn Jahre später Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart von Wolff-Petersen herauskam.33 Das Buch war Wolters gewidmet und erschien in dessen Reihe Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst, also nicht bei Bondi. Ebenso wenig wie Wolfskehl waren die beiden Autoren Musikwissenschaftler. Carl Petersen (1885-1942)' 4 war seit 1927 in Kiel Professor für Mittlere und Neuere Geschichte.35 1912 nahm er zum ersten Mal in Berlin bei Wolters an einem Leseabend mit George teil.36 Für das erwogene, aber nicht mehr realisierte, vierte Jahrbuch plante er „einen Aufsatz gegen die Musik".37 Er selbst jedoch war offenbar ein guter Geiger. Erich Wolff (1890-1937) lebte als Arzt in Bamberg. Dort hatte er - wie Wolters im Januar 1922 George berichtete - „einen chor von 12-15 klosterschülern [...], mit denen er die alten stücke, auf UN-harmonischer grundlage, übt und dadurch zu vielen neuen einsichten kommt."38 Wolffs bis in die dreißiger Jahre fortgesetzten intensiven und eindrucksvollen Wiedergaben der Vokalmusik des 15. und 16. Jahrhunderts sind öfter bezeugt worden. Wolters berichtet weiter, dass Petersen derweil seinen Aufsatz vollendet, und schlägt vor, beide Aufsätze zusammen mit Wolfskehls Jahrbuchaufsatz in einem Band zusammenzufassen. „Es wäre ein angriff auf die reizbarste stelle unserer heutigen ,kultur', auf das einzige woran der gebildete europäer (neben dem geld) noch glaubt." y) Dann aber erschienen die Texte von Wolff und Petersen ohne Wolfskehl. Wie mir Wolffs Schwägerin, Rune Mayer-Von den Steinen, erzählte, war ihr Bruder Helmut ungenannter Mitautor des Buches, welches man später umarbeiten und partiell revidieren wollte.40 Wolff, der George Anfang Juli 1921 in Marburg begegnet war,41 erfuhr am 8. März 1922, George habe seinem Aufsatz zugestimmt.42 Wolff hat übrigens nicht nur alte Musik einstudiert, vor allem
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Breslau, 1923, aber wohl schon im Spätherbst 1922 ausgeliefert, vgl. Georg Peter Landmann: Stefan George und sein Kreis. Eine Bibliographie. Mit der Hilfe von Gunhild Günther ergänzte und nachgeführte zweite Auflage, Hamburg 1976, Nr. 570. Vgl CP 24 (1974) Η. 111-113, S. 2 0 I f . Wohl auch (?) 1939 in Greifswald. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 88. Facsimile eines Briefes (Januar 1919), in dem George Petersen „nach allen fahrlichkeiten in kurzem begrüssen zu können" hofft, in der Liste 100 Autographen Annelie Meixner, Würzburg o. J. (ca. 2000), S. (25). Ebd. S. 100. Vgl. dazu den Brief von Wolters (25. Januar 1914) an George (CP 48 (1998) Η. 233-235, S. 96). Petersen hat später mit Wolters Die Heldensagen der germanischen Frühzeit herausgegeben: Breslau 1921. CP 48 (1998) Η. 233-235, S. 168. Ebd. Vgl. auch: ZT 318. Wolfgang Osthoff: Stefan George und Les deux musiques. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit, Stuttgart 1989, S. 47. ZT 314. Ebd. S. 317.
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wohl Josquin Desprez, 1, sondern auch selber Melodien geschaffen, sowohl zu Georgeschen Versen 44 als auch zu Liedern in Shakespeare-Komödien 45 . Um so gezwungener wirkt Das Schicksal der Musik. Die Autoren berufen sich auf Wolfskehl, wollen aber - über diesen hinaus - „den von uns lang verfolgten schweren Fragen über Bindung und Trennung von Wort und Ton" 4 6 nachgehen. Dies tut Wolff in seinem Teil,47 und hier erweist sich sogleich das Hypothetische des ganzen Unterfangens, denn er widmet ein Drittel seiner Ausführungen der „Monodie der Antike", 48 also einem Phänomen, über dessen rhythmisch-metrische Seite wir vieles wissen,49 dessen melodische - also spezifisch musikalische - Komponente uns aber mangels Quellen verschlossen bleibt. 50 Eine hochgepriesene homerische „Klanglinie", „Melodie" geistert als Phantom durch das ganze Buch, eine „Zeugung der Urmusik aus dem einsamen Genius" Homers (WP 8). An diesem Phantom misst Wolff die ganze spätere greifbare Entwicklung, ζ. B. die ambrosianische Hymnik, den gregorianischen Choral und die Polyphonie des Mittelalters. Auch fur Wolff ist Musik „an sich immer gestaltfeindlicher Rausch" (WP 56). Dennoch würdigt er die alten Meister zum Teil enthusiastisch: Josquin wird für ihn „zur obersten Figur aller durch Überlieferung mit uns verbundenen Musik" (WP 81). Bei Josquin hören wir „noch die heimlichen und dunkel unfassbaren Klagen einer Seele, der die Gaben einer ganzen Jahrtausendernte so selbstverständlicher Besitz sind, dass sie nichts anderes vermag, als um die ihr versagte Endlichkeit im unendlichen Gesänge zu trauern" (WP 84). Dies ein Beispiel für viele einfühlsame Formulierungen Wolffs und zugleich für ihren Zusammenhang mit George, der „das grössre wunderwerk der endlichkeit" herbeiwünscht.
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Rudolf Fahrner: Erinnerungen 1903-1945. Aus dem Nachlass hrsg. von Stefano Bianca. Privatdruck, Genf 1998, S. 147. Vgl. Osthoff (Anm. 39), S. 47-53. Vgl. Fahrner (Anm. 42), S. 138 und 149. Wolff-Petersen: Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart, Breslau 1923, Vorwort. Im Folgenden im Text zitiert unter der Sigle WP und Seitenzahl. Ebd.: Wort und Ton, S. 1-117. WP 1-48. Thrasybulos Georgiades: Der griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, Hamburg 1949. Georgiades versucht, Aufschlüsse über die antike Rhythmik aus der noch lebendigen griechischen Volksmusik zu erlangen. Ober die - uns konkret nicht fassbare - alte „Musike" dort S. 134f., Anm. 134. Der Verfasser hat das Thema später in einem gewissen Sinne erweitert. Vgl. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958. Dort heißt es: Das Wort Musike „bezeichnet das eigentliche Thema des Buches." (S. 7) Diese beiden Arbeiten bieten eine wissenschaftliche Erörterung des bei Wolff-Petersen Gemeinten (wichtig 1958 insbesondere S. 71-133 die von Georgiades und Frieder Zaminer zusammengestellte Auswahl von Quellen). Wolff (Anm. 45, S. 31) verschweigt dieses Manko natürlich nicht. Die Melodie der ersten pythischen Ode Pindars (S. 32), 1650 von Athanasius Kircher veröffentlicht, gilt als unecht. Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2nd Edition. Vol. 19. London 2001, S. 750.
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Erheblich dürftiger ist Wolffs letztes Kapitel, das die große Musik von Palestrina bis Wagner in sein Denkschema presst. Immerhin wagt er es, „der deutschen Musik [seit Bach, W. O.] als geschichtlicher Macht einen bestimmten lebenfördernden Einfluss zuzugestehen", nachdem der Zauber der Musik, dem das 19. Jahrhundert „fröhnte, [...] heute tatsächlich gebrochen" ist (WP lOOf.). Treffend ist die Feststellung, dass in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts sowohl in der Musik als „auch in der deutschen Sprache [...] der Rhythmus zur allbezwingenden Macht" wird. Die Musik steht also im geschichtlichen Zusammenhang „mit der gleichzeitigen Neugeburt des deutschen Wortes." (WP 113) Aber - und hier schwingt die Auffassung der Georgeschen Verse mit - : die gleiche Kraft wirkt aufbauend und zerstörend." Deutlich knüpft Wolff an Haus in Bonn an, wenn er abschließend betrachtet, „wie die schönsten Kräfte des Menschentums durch die grossen deutschen Meister ihre prophetischen Töne erhielten." (WP 114) So erscheint Beethoven als „der Vollender" (WP 115). Victor Hugos Anrede Deutschlands wird zitiert: „tu as Beethoven, comme la Grece Homere!" (WP 116) Beeindruckend an Wolff ist seine unerbittlich durchgehaltene Grundanschauung, nicht zu rechtfertigen aber sein Übergehen bedeutendster Schöpfer der Musikgeschichte: Haydn kommt nicht vor, Schuberts Name wird nur umschrieben,51 um von anderen zu schweigen. Unzureichend wirkt Uberhaupt die Enge seines Blickfeldes: die französische und vor allem italienische Musik des 19. Jahrhunderts existieren nicht, die Slawen werden im Vorübergehen als triebhafte Folkloristen geschmäht (vgl. WP 113), und von dem Neuen einer Entwicklung, die man 1922 nicht mehr übersehen konnte, ist keine Rede. Dies alles beeinträchtigt noch gravierender den zweiten Teil des Buches, in welchem Carl Petersen Vom Gesetz der Musik handelt. Was wir über antike Musiktheorie und mittelalterliche Musik wissen, wird kenntnisreich und weitgehend korrekt referiert. Maßstab ist auch für Petersen die uns nur so einseitig greifbare antike „musike". Als Beispiel zitiere ich einen Satz über einen mittelalterlichen Hymnus: Man vergegenwärtige sich, was das neue musikbestimmte Verhältnis des Abendländers zum Dichterischen aus der rhythmischen Fügung der sapphischen Strophe im Johanneshymnus Ut queant laxis hat werden lassen, so wie die gesungene Strophe sich in hochtonig-taktischer Bewegung, in barbarische Halbverse zerschnitten, darstellt. Die Anfangssilben dieser rhythmuslosen Halbverse [...] ragen als grelle Zeichen des verfallenen hellenischen Leibes noch in unser Bewusstsein hinein. 52
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WP 104: „Tonmeister aus Wien". WP 142. Die Anfangssilben der Halbverse hat Guido von Arezzo für die Tonstufen seines Hexachordum naturale benutzt: ut - re - mi - fa - sol - la. Dies führte später zur Bezeichnung der Dur-Tonleiter, ζ. B. im Französischen.
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Die Strophe dieser alten Hymne wäre also ihrem sapphischen Odenschema folgend, metrisch so vorzutragen: -
u -
u-
uu-u
U t queant laxis / resonare
fibris
usw., mit dem abschließenden Adonius -
υ
υ
Sancte Johanne.
Ihre „abendländische" Melodie stammt wohl von Guido von Arezzo (erste Hälfte 11. Jh.). Ihre erste Strophe - im natürlichen Wortrhythmus vorzutragen - lautet.53 In seinem zweiten Kapitel spricht Petersen über das „Forgesetz", in erster Linie über die seit dem 17. Jahrhundert sich entfaltende „Harmonie". D i e G e s c h i c h t e der harmonischen M u s i k ist die G e s c h i c h t e der E n t w i c k l u n g der Dissonanz, d. h. der A u f l ö s u n g d e s einheitlichen T o n e s in s e i n e T e i l e und B e z i e hungen. D i e s e A n a l y s e , u n b e w u s s t v o n der S e e l e nach d e m Naturgesetzlichen v o l l z o g e n , ist nichts als die Parallelbewegung zur Analyse, zur Zerlösung der europäischen S e e l e selbst. 5 4
Die Harmonie, also die harmonische Tonalität, hat „das an dem antiken Wort erwachsene Melos" vernichtet (WP 163). In Bachs Fuge herrscht noch, trotz der Harmonie, „die Melodie und beugt sich den zerstörenden und schwächenden Naturmächten nicht" (WP 176) Mit den „schwächenden Naturmächten" meint Petersen „die natürlichen Schwingungsgesetze der tönenden Körper", auf denen - d. h. auf deren ersten Obertönen - die harmonische Totalität fußt (WP 157). Doch dann fahrt Petersen fort: das Fugenthema ist selbst n o c h eine geistige Wesenheit, hat Antlitz, Eigenwert, Unteilbarkeit und innere Geschlossenheit, aber die Verbindung, die e s mit seinen Begleitern (der , d u x ' mit d e m , c o m e s ' ) eingeht, sind [sie] nicht mehr Wesen, sondern B e z i e h u n g ,
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S. Anhang Notenbeispiel 2: Antiphonale Romanuin, Paris, Tournai, Rom 1949, S. 733f. Ebd. S. 159. Mit ungleich tieferer Einsicht äußert sich im gleichen Jahr Ernst Gundolf (in: Ernst Gundolf und Kurt Hildebrandt: Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923) über die Dissonanz (hinsichtlich ihrer Deutung in Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik): „Durchaus erleuchtend bleibt uns auch das musikalische Sinnbild, dessen er sich zur Deutung des alten Rätsels von der Lust am Leiden und Untergang des Helden bediente, indem er sie der Lust an der Dissonanz verglich - d i e man dann freilich nicht als Nervenreiz begreifen darf, wozu Musik wie Trauerspiel heute gleicherweise einladen mögen, sondern als das Bedürfnis gerade der fruchtbarsten Fülle, auch noch Missklang, Schmerz und Vernichtung in eine tiefere Harmonie aufzunehmen, nenne man diese kosmisch, metaphysisch, künstlerisch, oder wie man will." (S. 17).
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und das Gebilde, das es aus sich nach seinem Gesetz entlässt, hat nur noch die Form des Organischen, aber nicht sein Leben. (WP 177)
Was folgt, ist die Sonate, vor allem die Beethovensche. Sie „bedeutet den Bruch der noch scheinbar organischen und die Entstehung der mechanischen Einheit" (WP 177), sie ist „nur Form, nichts als Form" (WP 181). Viele der anschließenden Behauptungen sind indiskutabel, ζ. B.: „Für die Beurteilung Mozarts ist es nicht wesentlich, wie er sich zur Oper verhält" (WP 185). Vollends im letzten Kapitel, „Anarchie", schwadroniert Petersen - immer neben auch guten Bemerkungen - etwa von „den sentimentalen Poetikastern der romantischen Zeit", d.h. Mendelssohn und Schumann, besonders übel von dem „slawisch-sentimentalen, seine innere Hohlheit durch Brillanz und eine abgefeimte, nervenhaft erregende Chromatik verdeckenden Chopin" (WP 205). Zu Brahms - „hamburgisch-flach und norddeutsch-verquollen" - hat Helmut von den Steinen später gestanden, dass man ihm Unrecht getan habe. Viele solcher Urteile gründen sich einfach auf die Schriften Wagners. Wie schon für Wolfskehl ist Wagner auch für Petersen der zentrale und am ausführlichsten behandelte Repräsentant der geschilderten Anarchie, wobei sich Petersen musikalisch auf die damals neueste wissenschaftliche Literatur stützen kann.55 Und natürlich zieht er für und gegen Wagner (vgl. WP 228-237) ausgiebig Nietzsche heran, wobei er von dem hervorragenden „Arion"-Kapitel des Nietzsche-Buches von Ernst Bertram profitiert. 56 Die alles überwältigende Gestalt Wagners ist es denn auch, von der aus alles Gleichzeitige und Folgende abgewertet und zum Teil in billiger Weise abgetan wird, etwa Verdi, Bruckner, Mahler. In den die Krise charakterisierenden Sätzen über Reger, Richard Strauss, Debussy und andere berührt sich Petersen natürlicherweise mit vielem seitdem Gesagten, auch zu Recht Gesagten. Wenn schließlich mit Schönberg d. h. mit dem atonalen, aber 1922 noch nicht dodekaphonen Schönberg — „der offene Anarchismus" erreicht ist und „die entgötterte und entmenschte Welt in ihren offenen Untergang" (WP 257) treibt, so beruft sich Petersen - nicht ohne eine gewisse Befriedigung - für dieses die Grundtendenz des Buches bestätigende Ende auf das Kapitel „Philosophie der Musik" in Ernst Blochs Geist der Utopie (1918). Mit der These von Bloch, die Musik sei das wirksamste Sprengpulver gegen die Gestaltenwelt, erscheint der Generalangriff legitimiert (vgl. WP 259).
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Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan, Bern 1920. (Von Petersen, S. 211 ff., nicht ausdrücklich genannt). Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Vgl. Wolff-Petersen (Anm. 45), S. 228. - Im Gegensatz zu Bertrams kundigen Paraphrasen von Nietzsches Äußerungen zur Musik findet sich nichts Spezifisches über Musik bei Kurt Hildebrandt: Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das Neunzehnte Jahrhundert, Breslau 1924.
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Nicht nur auf einen Utopisten wie Bloch kann sich das Buch von WolffPetersen stützen, sondern - wie angedeutet - immer wieder vor allem auf Wagners Geschichtsbild von der Musik.57 Ein gewisses Gegengewicht dazu bildet Petersens und besonders Wolffs Sympathie für ältere polyphone Werke, die genau zu dieser Zeit, 1922 und dann 1924, zum ersten Mal von wissenschaftlicher Seite an jeweils drei Tagen praktisch dargeboten wurden. 58 Hier zeigt sich also eine gewisse Affinität Wolffs zu aktuellen Bestrebungen der Musikwissenschaft. Ungeachtet dessen erhielt das Buch, sofern überhaupt wahrgenommen, seitens der Musikwissenschaft eine deutliche Abfuhr. Kathi Meyer schlägt 1924 in ihrer gescheiten und noblen Rezension 59 Wolff und Petersen sozusagen mit ihren eigenen Waffen, nämlich mit Gundolf. Sie zitiert aus Shakespeare und der deutsche Geist60: „Umfassende Kenntnis der Fakten und Autoren ist umso mehr vorausgesetzt, je weniger man sie isoliert nimmt." Solche umfassende Kenntnis habe „den beiden Schreibern nicht zu Gebote gestanden." 61 Sie urteilen „mit einer nahezu unverständlichen Verächtlichkeit über die Minderwertigkeit gerade ihres Themas." 62 „Wenn sich jemand auf den Aufsatz über Musik von Karl Wolfskehl wie auf einen Kronzeugen beruft, so ist es unbegreiflich, wie es für ihn überhaupt die Notwendigkeit gibt, ein Buch über musikalische Dinge zu schreiben." Noch einmal zitiert sie Gundolf: „Nur wer alles prüft, hat das Recht zur Auswahl und auf der Auswahl beruht erst die Darstellung." Hierin hätten die Verfasser aber infolge ihrer vorgefassten Einseitigkeit versagt. Es sei unmöglich, „alle Irrtümer und unlogischen Schlüsse aufzuweisen, dann müsste jeder Satz besprochen werden." Der Schluss klingt versöhnlich: es gelte auch für die Musikwissenschaft, „dass wir das Ziel einer kulturellen Erfassung der Musik durchaus wünschen." 6j Doch auch intra muros stieß das Buch auf Widerstand. Noch einmal eine Dekade später, 1933, hielt Gerhard Frommel einen Vortrag Vom Schicksal der Musik, der dann 1937 zusammen mit einem zweiten Vortrag unter dem Titel
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Vgl. ζ. B. WP 169 das Zitat aus Das Kunstwerk der Zukunft. In: Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 3, 4. Aufl. Leipzig 1907, S. 87. (Das Zitat enthält mehrere Ungenauigkeiten). - Aus dem zeitgenössischen Schrifttum verweist Petersen (S. 180) nicht ohne Grund auf August Halm. Vgl. zu dessen Begriff des „Formwillens" die Sätze von Rudolf Stephan in der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 5, Kassel und Basel 1956, Sp. 1380. Friedrich Ludwig: Musik des Mittelalters in der Badischen Kunsthalle Karlsruhe 24. - 26. September 1922. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 5 (1922/23), S. 434-460: Heinrich Besseler: Musik des Mittelalters in der Hamburger Musikhalle. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 (1924/25), S. 42-54. Archiv fur Musikwissenschaft 6 (1924), S. 379-382. Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1914, S. VII. Archiv für Musikwissenschaft (Anm. 58), S. 379. Ebd. S. 380. Ebd. S. 382.
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Neue Klassik in der Musik herauskam, zwar im Darmstädter Verlag L. C. Wittich, aber mit dem Signet des Verlages Die Runde. Die Konzeption des ersten Vortrags, von 1933, geht aber schon auf Mitte 1932 zurück. 64 Er dürfte noch zu Lebzeiten Georges gehalten worden sein. Gerhard Frommel gehörte dem Kreis um Percy Gothein an, ebenso wie sein Bruder Wolfgang, dem der Druck gewidmet ist. Aus diesem Kreis ist dann später das Castrum Peregrini hervorgegangen. Gerhard Frommel (19061984) war nicht Musikwissenschaftler, sondern Komponist, Schüler von Hans Pfitzner, und wirkte zu dieser Zeit als Dozent in Essen, dann in Frankfurt am Main. 65 Der Vortrag Vom Schicksal der Musik bezieht sich schon mit seinem Titel deutlich auf Wolff-Petersen, nennt und zitiert zunächst den Jahrbuch-Aufsatz von Wolfskehl. 66 In dessen Sinn wird auch von Frommel Geschichte, Eigenart und Problematik der Musik betrachtet. Neu erscheint die Akzentuierung Nietzsches. Bei Petersen hieß es: „Wir haben hier jenes seltsame Schicksal Nietzsches nicht zu verfolgen, das eine Wiederauferstehung der Musik [...] in der mittelmeerischen Luft seines neuen Atmens bewirkte" (WP 235f.). Das passte eben nicht ins Konzept. Frommel dagegen betont bei Nietzsche das Positive: „Zum ersten Male seit der griechischen Ethoslehre sind nicht Erhebung und Erbauimg der ins Endlose verschwebenden Seele die Maßstäbe für die Beurteilung der Musik, sondern ihr Wert für die Züchtung des normativen, des ,heroischen' Menschen."(GF 9) Auch die Erkenntnisse und Forderungen des mittleren Wagner 67 werden von Frommel ernst genommen und in diesen Zusammenhang gestellt (vgl. GF 11). Er illustriert sodann die Krise im frühen 20. Jahrhundert anhand des Geschichtspessimismus von Pfitzner, der Utopie von Ferruccio Busoni und des exzessiven Musikkults von Richard Benz. 68 Nachdem die Gewalt des neuen Wortes den Bann der Musik gebrochen habe, konnte - so Frommel - Erich Wolff nach den echten Werten der abendländischen Musik suchen (vgl. GF 14f.). Wenn aber Petersen bei seiner Behandlung der
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[Melchior Frommel]: Aus unserer Mutter Briefe. Privatdruck: 23.6.1932 (Gertrud Frommel an ihren Mann Gerhard): „Sehr gut finde ich Deine Absicht, in einem Buch gründlich für die Musik einzutreten. Deine Begründung ist einleuchtend. Es wird zu sinnlos gegen die Musik gewettert." Gerhard Frommel. Der Komponist und sein Werk. Hrsg. von Peter Cahn/Wolfgang Osthoff/Johann Peter Vogel, Tutzing 1979. - Peter Cahn: Artikel „Frommel, Gerhard". In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe. Personenteil 7, Kassel u.a. 2002, S. 202f. Gerhard Frommel: Neue Klassik in der Musik. Zwei Vorträge, Darmstadt 1937, S. 10. Im Folgenden im Text zitiert unter der Sigle GF und Seitenzahl. Der Name Wolfskehl ist nicht genannt, ob aus politischen Gründen muss offen bleiben. Frommel nennt und zitiert mehrfach den jüdischen Musikwissenschaftler Ernst Kurth. Vgl. Der Geist der Antike bei Richard Wagner. In Selbstzeugnissen dargestellt mit einer Vorrede von Gerhard Frommel, Berlin 1933. Vgl. Richard Benz: Die Stunde der deutschen Musik, Jena 1923-27.
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neuzeitlichen Musik von dem Verfasser des Geistes der Utopie, Ernst Bloch, schreibt, dass keiner „vor ihm so tiefe Einsichten in den Auflösungswillen der Musik und die Formen seiner Verwirklichung besessen" (WP 259) habe, so bedeutete dies für Frommel eine völlige Entfernung von j e d e r frachtbaren und sinnvollen Anschauungsweise [...]; die Tonmeister des letzten Jahrhunderts werden [bei Petersen, W. O.] einer Beurteilung, vielmehr Zensur unterzogen, die alle Grenzen der auch f ü r einen Universitätskatheder gültigen Ehrfurcht vor geistig Geschaffenem an Anmasslichkeit überschreitet. (GF 16)
Demgegenüber hält es Frommel für nötig, nun „auch in der neueren Musik die Einwirkung der Kräfte aufzusuchen, die in langsamem Empordringen in das beste geistige Leben unserer Zeit münden" (GF 16). Wie dies geschieht, kann ich hier nicht im Einzelnen darlegen. Die Musik sei - im Gegensatz zu WolffPetersen nicht weniger leibgebunden als irgend eine andere Menschenäusserung. N u r dass die Verwandlung zu Sein und Werk, die das lichtgezeugte Wort im Leib durchmacht, in der Musik Ton und Rhythmus gebiert. A u s diesem tiefsten Grunde verbietet es sich, der Musik als Kunst eine chaotische, leibverneinende Artung zuzusprechen. (GF 17f.)
In diesem Sinne „dürfen wir uns auf Nietzsches Vision einer klassischen Musik berufen [...], von ihm dürfen wir Deutung des Vergangenen und Blick in die Zukunft entgegennehmen." (GF 18) Nirgends glaubt Frommel „das Durchbrechen leibhafter Elemente in der neueren Musik schöner erleben" zu können als bei Gluck. Hier scheint aus dem Rhythmus lebendig sich bewegender Gestalten unmittelbar ein Reigen ausgewogener, anmutig würdevoller Melodien geschlungen zu sein".69 Der Anfang des bekannten Ballet des Ombres heureuses aus Glucks Orphie (Paris 1774)70 kann dieses Ideal einer leibhaft geprägten Musik andeuten: Die Ausgewogenheit dieser melodiös-anmutigen 8-taktigen Periode (4+4 Takte) ist zugleich verlebendigt durch die in ihren Gebärden hervortretenden rhythmischen Gegenimpulse: Takt 5 in den Violinen nicht legato (wie Takt 1), sondern Achtel-Staccati; Takt 6 nicht ruhig wie Takt 2, sondern mit „sforzato
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GF 19. Vgl. Gerhard Frommel: Antike und Klassik in der Musik. In: Vom Schicksal des deutschen Geistes. Erste Folge: Die Begegnung mit der Antike. Reden um Mitternacht hrsg. von Wolfgang Frommel, Berlin 1934, S. 68-78, bes. S. 72 ff. über Gluck. Neudruck dieses Beitrages in: Musik in Antike und Neuzeit. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Michael von Albrecht und Werner Schubert, Frankfürt, Bern, New York 1987 (Quellen und Studien zur Musikgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart 1), S. 9-16. S. Anhang Notenbeispiel 3: Gluck, Orphee, Partitur, S. 105, Τ. 1 -8.
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piano" akzentuiert; Takt 7 durch „unregelmässige" Rhythmik (2 Achtel - 1 Viertel - 2 Achtel) anders als der fließende Takt 3 befähigt, eine harmonische Schlusskadenz herbeizuführen. Für Haydn und Mozart zitiert Frommel den Musikwissenschaftler Ernst Kurth: „Stärker als je dringen Bewegungsgesetze des leiblichen Menschen in die Musik ein." 71 Als sich - wie Frommel sagt - „die klassische Musik auch aus dem deutschen Süden mehr und mehr in die romanischen Länder zurückzog" (GF 20), blühte in Deutschland die romantische Musik. Auch mit diesem kühnen Bezug des Klassischen auf die französische und besonders italienische Musik - Oper! - setzt Frommel einen neuen Akzent. Daraus folgt:" Viele Angriffe gegen das gestaltlose, chaotische Wesen ,der' Musik sind auf ein mangelndes Bewusstsein von diesen beiden Typen der neueren Musik zurückzuführen." (GF 20) Ausdrücklich nennt er Verdi, Bizet, Rossini und vor allem Chopin, für den er Nietzsches hymnische Sätze zitiert (vgl GF 21). Nietzsches Kritik der romantischen, besonders der Wagnerschen Musik wird in seinem Gedanken einer „Musik des Südens" (GF 22) schöpferisch. Was 1933 für Frommel noch Hoffnung war, realisiert sich 1935 in dem mitpublizierten Vortrag Neue Klassik in der Musik.12 Frommel geht von Nietzsches Vision einer klassischen Musik aus und untersucht, inwieweit in der Gegenwart ein klassischer Stil möglich ist. So geht er die verschiedenen Richtungen der Musik seit dem späten 19. Jahrhundert durch. „Der Grund, warum der Impressionismus der einzige Stil in der Moderne ist, liegt darin, dass er den Gesamthorizont bewusst begrenzte und eine ästhetische Teilsicht an die Stelle eines wahrhaften Weltbildes setzte. Aber dadurch wurde es ihm möglich, ganz zu sein und einen Stil zu formen." (GF 28) Er verzichtet auf „Konstruktivität, harmonische Logik, rhythmische Eindeutigkeit zugunsten einer ganz bestimmten Art, die unbegrenzte Skala der Geräusche und Klänge, die uns umfluten, in Klangbilder umzusetzen." So entstand die „sublimierte Kunst eines Debussy, die gerade wegen ihrer in unserer Zeit unvergleichlichen Stilreinheit von immer überzeugender Wirkung ist".73 Für Petersen war Debussy allerdings „der erste wirkliche Rufer des Chaos, der erste, den keinerlei Erinnerungen an die europäische Musik mehr binden"74. Frommels Stellung-
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GF 19. Vgl. auch das Zitat von Ernst Kurth auf S. 17. GF 23-43. Neudruck in: Colloquium Klassizität, Klassizismus, Klassik in der Musik 19201950 (Würzburg 1985). Hrsg. von Wolfgang Osthoffund Reinhard Wiesend, Tutzing 1988 (Würzburger Musikhistorische Beitrage 10), S. 151-172. GF 29. Vgl. dazu auch den Vortrag „Debussys musikalischer Impressionismus". In: Gerhard Frommel: Tradition und Originalität. Schriften und Vorträge zur Musik. Unter Mitwirkung von Wolfgang Osthoff hrsg. von Michael von Albrecht, Frankfurt a. M. u.a. 1988 (Quellen und Studien zur Musikgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart 13), S. 137-147. WP 256. Dies das vernichtende Fazit einer an sich zutreffenden und eindringlichen Darstellung des musikalischen „Impressionismus".
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nähme zur Musik Bruckners,75, Regers und von Richard Strauss76 kann ich hier übergehen, nicht aber sein Herausarbeiten der drei Richtungen der Moderne, die er für fundamental hält: Neuklassik, Konstruktivismus und Folklorismus. Das Wesen des Klassischen, auf das es ihm ankommt, umschreibt er in vielfältiger Weise. Antike, Renaissance, Goethe werden aufgerufen, vor allem der späte Nietzsche. Frommel zitiert ihn: „Um Klassiker zu sein, muss man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so, dass sie miteinander unter Einem Joche gehen, zur rechten Zeit kommen".77 Ein entsprechender Stil in der Musik setzt also - nach Frommel78 - „eine einheitliche gesamtmenschliche Haltung" voraus, „die sich mit Notwendigkeit ihre künstlerischen Ausdrucksformen schafft." (GF 24) Der Konstruktivismus (Hindemith) revolutioniert oder konserviert eine „Formensprache. Das Menschliche tritt in den Hintergrund" (GF 34). Er bleibt also partiell, denn „das Konstruktive ist nur ein Teil des Ganzen" (GF 35). „Der Folklorist schafft aus dem engumgrenzten Bereich völkischen Lebens. Der echte Folklorismus, wie wir ihn bei Bartok sehn", versucht, „zu den Urschichten des Volkstums vorzudringen". Doch bleibt auch dies partiell, denn jede echte Klassik - in Italien, Frankreich und Deutschland - hat „Verbindlichkeit für ganz Europa gewonnen." (GF 35) Beispiele sind Gluck und Mozart. Igor Strawinsky hat eine folkloristische und eine konstruktivistische Phase durchgemacht und ausgeschöpft. Schon in ihnen zielt er „auf einen klassischen, einen umfassenden Stil."(GF 38) Sein Rhythmus „ist durch und durch tänzerisch, das heisst, er gehorcht noch in der zugespitzten Verwegenheit den Geboten menschlicher Bewegung". Er erscheint „als unmittelbares Wirken des Leibes". So vollzieht sich „in der Heraufkunft eines neuen Zeitalters auch eine Neuwerdung des innersten Wesens der Musik" (GF 39), verkörpert in Strawinskys „eigentlich klassischen Werken, in Oedipus, Apollon, Persephone".79 Frommel schließt seine Apotheose des klassischen Strawinsky mit einem Nietzsche-Zitat (vgl. GF 43): „Dieser Stil hat das mit der grossen Leidenschaft gemein, dass er verschmäht, zu gefallen [...], über das Chaos Herr werden, das man ist: sein Chaos zwingen, Form zu werden; logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik, Gesetz"80 werden. Als Künstler klassischen Maßes, wie ihn Frommel sieht, geht Strawinsky „in seinem Ausdruck nie bis zum Äussersten"
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GF 29f.: „Bruckner ist unmodern, er ist im ,Fernstand' zu unserer Zeit, wie es Kurth bezeichnet." GF 29. Schönberg, Schreker, Alban Berg und Joseph Matthias Hauer werden auf S. 31 berührt. Nietzsche's Werke. Zweite Abteilung Band XVI, Nachgelassene Werke. 2. Aufl. Leipzig 1922, S. 264. Frommel (Anm. 66), S. 24. GF 41. Es handelt sich um Oedipus Rex (1927), Apollon Musagete (1928) und Persephone (1934). Nietzsche (Anm. 79), S. 260.
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(GF 42), auch „seine Melodie greift nie über den Atem hinaus, er verlässt nie die Grenzen menschlichen Singens" (GF 38). Ich möchte diese Auffassung durch ein paar Takte der Persiphone von 1934 veranschaulichen,8' mit dieser - wie Frommel 1935 sagte - unzweifelhaften „Krönung in Strawinskys bisherigem Lebenswerk" (GF 41): Mit Gerhard Frommel erhob sich noch einmal eine Stimme aus dem Umkreis der Dichtung, welche der Wolfskehlschen Behauptung, „eine klassische Musik habe es nie gegeben",82 weil sie dem Wesen der Musik zuwiderlaufe, etwas Positives entgegensetzt. Doch Frommeis Broschüre von 1937 blieb ohne erkennbares Echo83 auch bei den der Dichtung Verpflichteten. Vielleicht wurde die kühne Gratwanderung von George über Nietzsche zu Strawinsky als eine zu starke Zumutung empfunden. Die Nationalsozialisten verstanden zwar nichts von alledem, doch stellten sie 1938 in der Düsseldorfer Ausstellung Entartete Musik Frommel mit seiner Schrift neben Büchern von Schönberg, Strawinsky, Hindemith und anderen als „Theoretiker der Atonalität"84 zusammen mit der Musik Strawinskys85 an den Pranger.86 81
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Igor Stravinsky: Persephone. Melodrame en trois tableaux d'Andre Gide. Pour tenor, chicur mixte et orchestre. Nouvelle 1949 version, London u.a. 1950, S. 103f. S. Anhang Notenbeispiel 4. Jb ΙΠ 30. Frommeis Versuch, von Georgescher Basis aus „in der Heraufkunft eines neuen Zeitalters auch eine Neuwerdung des innersten Wesens der Musik" begrüßen zu dürfen, erscheint von heute her gesehen als eines der vielen „Umsonst". Die sozusagen „offizielle" Entwicklung der Neuen Musik strebte bald nach 1945 von dem durch Strawinsky in den Jahren 1926-1948 (Orpheus) Realisierten weg. Allerdings könnten sowohl die zunehmende Befreiung von den Dogmatismen Theodor W. Adornos und von der Orthodoxie der „Darmstädter Schule" als auch die unverkennbaren Neugewichtungen in der Musikgeschichtsbetrachtung des 20. Jahrhunderts ein Klima begünstigen, in welchem Ideen wie die Frommeischen gewürdigt werden. Ober die Düsseldorfer Ausstellung „Entartete Musik" von 1938 vgl. den damals erschienenen Zeitungsartikel von Wolfgang Steinecke (späterer Manager der „Neuen Musik" in Darmstadt) bei Volker Scherliess: Igor Strawinsky und seine Zeit, Laaber 1983, S. 37f. und in: Entartete Musik. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938. Eine kommentierte Rekonstruktion von Albrecht Dümling und Peter Girth, Katalog Düsseldorf 1988, S. XXXI. Dort, S. ΧΠ, eine Abbildung des Plakates Die Theoretiker der Atonalität. Abbildungen dieses Plakates auch in: Paul Hindemith in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Giselher Schubert, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 90, und in: Gerhard Frommel 1906-1984. Ein Heidelberger Komponist Ausstellungskatalog, Heidelberg 1987, S. 28. Abbildung zweier Strawinsky betreffender Plakate in: Igor Stravinsky and Robert Craft: Dialogues, London 1982, vor S. 81. Umgekehrt brachte im Zuge der seit 1968 wohlfeilen „Entlarvungen" der Katalog Entartete Musik (Anm. 82) eine Denunziation (S. 30-33) des Buches von Wolff-Petersen. Dieses gehöre, wie der Autor Albrecht Dümling behauptet, „zu den theoretischen Grundlagen, auf denen die nationalsozialistischen Entartungs-Theoretiker aufbauten." Einerseits wird hierbei der Realität zuwider unterstellt, dass irgendjemand auf diesem Buch „aufgebaut" hätte. Zweitens wird verschwiegen, dass gemäß der Darstellung von Wolff-Petersen (Vorwort) die gesamte Musik „ihr notwendiges Ende fand". Dies stand natürlicherweise im strikten Widerspruch zu allen nationalsozialistischen Musikanschauungen (ζ. B. Wagner- und Brucknerkult) und Zukunftserwartungen („rassisch gereinigte", „völkische" usw. Musik).
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Notenbeispiel Isaac
ser -
Webern Zart.
(Jl.uiü
Zeit lassen .
TENOR.
Son - nen-wel- ten daß pocorit. P—;—PP_
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—
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-
dre
Trä - nen daß im^Tflep
_ _ J1.72 Ul PPP
mil - dre Trä - nen euch eu-re Flucht ent - gel - ten.
Seht
die-sen
vis
Wolfgang Osthoff
Notenbeispiel 2 Antiphonale Romanum, S. 733-734
Τ que-ant läxis
? —
τ
%
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"
•
re-sonä-re fibris Mi- ra gesto-
· - . ---• • • ι j
_
rum fämu-H tu-o-rum, Söl-ve pollii-ti Jl
1
" •
•
I
"*
-
-*
Säncte Jo-ännes. 2. Nunti- us cilso
läbi- i re- ä-tum,
1 •• • .• · ·· I v6ni-.ens Olympo,
Noternbeispiel 3 Gluck, Orphee, Partitur, S. 105, T. 1-8
Ballet des Ombres heureuses. trfes doux.
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Notenbeispiel 4 Strawinsky, Persephone, vor Ziffer 169 bis vor Ziffer 171 ll»i>l
tu vou.drais faire undieu-
Tu le nour . ris
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