Besetzungen - Japanische Entwicklungsräume in Palästina: Japanische Entwicklungsräume in Palästina [1. Aufl.] 9783839431405

By way of a seemingly extraordinary case study, underlying spatial occupations are analyzed which characterize developme

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German Pages 292 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. ›Entwicklungsländer‹ als Interventionsräume
2.1 ›Entwicklung‹ als Diskurs
2.2 Diskursive, performative und materialisierte Raumbesetzungen
2.3 Analyse multipler Besetzungen
3. Japans ›Entwicklungsräume‹: Vom Imperialismus zur Symbolpolitik
3.1 Japan als Leitgans
3.2 Die Wende der 1970er Jahre und der Nahe Osten
3.3 Japan als globale Entwicklungsmacht
3.4 Die Neuordnung der japanischen Entwicklungspolitik
3.5 ›Pro-aktiver Pazifismus‹
Fazit: Verlaufslinien
4. Besetztes Palästina: Ökonomische Problemfelder und Entwicklungsräume
4.1 Ökonomie der Besatzung
4.2 Genealogie eines ›Entwicklungslands‹
4.3 Gegenwärtige internationale Entwicklungsaktivitäten
4.4 Machtgeometrien im Jordantal
4.5 Entwicklungsvisionen
4.6 Japans Corridor for Peace and Prosperity
Fazit: Palästinas ›Entwicklung‹
5. Multiplizität der Besetzer
5.1 Zivilgesellschaft in Palästina
5.2 Israelische Netzwerke in Politik, Wirtschaft und Armee
5.3 Palästinensische Netzwerke von Administration und Wirtschaft
5.4 Die Geberländer
5.5 Der japanische Entwicklungsapparat
Fazit: Positionen
6. Multiplizität der Besetzungen
6.1 Entwicklungsräume: Produktion von Absurdität
6.2 Friedensräume: Normalisierung oder Kooperation
6.3 Kriegsräume: Fragmentierte Sicherheit
6.4 Ressourcenräume: Kontroverse Detailfragen
6.5 Japanräume: Verhandlung japanischer Ansprüche
Fazit: Aushandlungen
7. Besetzungen
Verzeichnisse
Verzeichnis der geführten Interviews
Abkürzungsverzeichnis
Glossar japanischer Begriffe mit Kanji
Literatur
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Besetzungen - Japanische Entwicklungsräume in Palästina: Japanische Entwicklungsräume in Palästina [1. Aufl.]
 9783839431405

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Sonja Ganseforth Besetzungen – Japanische Entwicklungsräume in Palästina

Sozial- und Kulturgeographie

Band 8

Sonja Ganseforth (Dr. phil.) hat in Leipzig, Kyoto und Damaskus studiert und zur japanischen Entwicklungspolitik in Palästina promoviert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig.

Sonja Ganseforth

Besetzungen – Japanische Entwicklungsräume in Palästina

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sonja Ganseforth, Bethlehem, 2007 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3140-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3140-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 1.

Einleitung | 9

2.

›Entwicklungsländer‹ als Interventionsräume | 19 ›Entwicklung‹ als Diskurs | 20 Diskursive, performative und materialisierte Raumbesetzungen | 32 Analyse multipler Besetzungen | 44

2.1 2.2 2.3 3.

Japans ›Entwicklungsräume‹: Vom Imperialismus zur Symbolpolitik | 51

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 Fazit:

Japan als Leitgans | 52 Die Wende der 1970er Jahre und der Nahe Osten | 56 Japan als globale Entwicklungsmacht | 61 Die Neuordnung der japanischen Entwicklungspolitik | 66 ›Pro-aktiver Pazifismus‹ | 72 Verlaufslinien | 80

4.

Besetztes Palästina: Ökonomische Problemfelder und Entwicklungsräume | 83

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 Fazit:

Ökonomie der Besatzung | 84 Genealogie eines ›Entwicklungslands‹ | 93 Gegenwärtige internationale Entwicklungsaktivitäten | 98 Machtgeometrien im Jordantal | 107 Entwicklungsvisionen | 111 Japans Corridor for Peace and Prosperity | 116 Palästinas ›Entwicklung‹ | 122

5.

Multiplizität der Besetzer | 125 Zivilgesellschaft in Palästina | 125 Israelische Netzwerke in Politik, Wirtschaft und Armee | 137 Palästinensische Netzwerke von Administration und Wirtschaft | 147 Die Geberländer | 153 Der japanische Entwicklungsapparat | 159 Positionen | 167

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 Fazit:

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 Fazit:

Multiplizität der Besetzungen | 171 Entwicklungsräume: Produktion von Absurdität | 172 Friedensräume: Normalisierung oder Kooperation | 183 Kriegsräume: Fragmentierte Sicherheit | 193 Ressourcenräume: Kontroverse Detailfragen | 200 Japanräume: Verhandlung japanischer Ansprüche | 212 Aushandlungen | 227

7.

Besetzungen | 231

6.

Verzeichnisse | 255

Verzeichnis der geführten Interviews | 255 Abkürzungsverzeichnis | 257 Glossar japanischer Begriffe mit Kanji | 258 Literatur | 259

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde 2013 an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig eingereicht und verteidigt. Während der Arbeit an der Dissertation habe ich von vielen Seiten Unterstützung erhalten, für die ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. Die Arbeit ist im Rahmen des Graduiertenkollegs 1261 Bruchzonen der Globalisierung an der Universität Leipzig entstanden. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Unterstützung und den Mitgliedern und Kollegiaten an der Research Academy Leipzig sowie am Orientalischen und am Ostasiatischen Institut der Universität Leipzig für den inspirierenden Austausch. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Jörg Gertel vom Institut für Geographie der Universität Leipzig für die jahrelange Unterstützung und Betreuung. Für ihre wertvollen Hinweise danke ich meinem Zweitgutachter Peter Lindner vom Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Steffi Richter vom Ostasiatischen Institut der Universität Leipzig, Kuroki Hidemitsu vom Research Institute for Languages and Cultures of Asia and Africa der Tokyo University of Foreign Studies, dem Journalisten Odagiri Hiromu und Egawa Hikari von der Meiji University in Tokyo. Ohne die große Offenheit und Hilfsbereitschaft zahlreicher Interview- und Ansprechpartner hätte diese Arbeit nie geschrieben werden können. Syrische und japanische Mitarbeiter der Japan International Cooperation Agency (JICA) haben mich bereits 2006 offen empfangen und mir die außergewöhnliche Möglichkeit zu einem Praktikum im JICA-Büro in Damaskus gegeben. Auch in späteren Jahren haben sich die Mitarbeiter der JICA-Büros in Palästina und des japanischen Vertretungsbüros in Ramallah sowie der Botschaften in Tel Aviv und Beirut viel Zeit für mich genommen und Informationen und Meinungen über die japanische Entwicklungszusammenarbeit mit mir geteilt. Gleiches gilt für die Beamten der Palästinensischen Autonomiebehörde, israelische, japanische und palästinensische Wissenschaftler sowie die Mitglieder von palästinensischen und

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internationalen NGOs und politischen Bewegungen, die an dieser Stelle nicht alle namentlich erwähnt werden können. Für ihre kritischen Kommentare zu meinen Texten und Ideen möchte ich vor allem Cornelia Reiher, Jakob Günzler, Britta Hecking, Birgit Jähnen, Sheryn Rindermann, Enrica Audano, Miriam Younes, Diana Jessen, Juliane Ameringer und ganz besonders Rudolf Kersting danken. In Palästina/Israel, Japan, Leipzig und darüber hinaus haben mich zahlreiche Freunde, Kommilitonen und Kollegen durch die Jahre mit Inspirationen, Ratschlägen, Zuspruch und nicht zuletzt mit gemeinsamen Mittags- und Kaffeepausen unterstützt. Ohne ihre freundschaftliche Begleitung wären die vergangenen Jahre eine deutlich freudlosere Angelegenheit gewesen. Mein besonderer Dank gilt Jakob und meinen Eltern, die immer für mich da waren.

Anmerkungen zur Transkription: In dieser Arbeit werden japanische Begriffe und Personennamen nach dem Hepburn-System transkribiert; arabische Begriffe und Titel werden in der Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft wiedergegeben. Bei allgemein bekannten Begriffen sowie Namen wird jedoch in der Regel die jeweils gebräuchlichste Schreibweise verwendet. Japanische Familiennamen werden dem Vornamen vorangestellt. Japanisch- und arabischsprachige Interviews und Zitate werden in der deutschen Übersetzung wiedergegeben, englischsprachige Interviews und Zitate im Original. Einige Interviews enthalten eine Mischung aus englisch- und arabischsprachigen Passagen, wobei es sich hier um einen palästinensischen Dialekt des Arabischen handelt. In diesem Fall werden die arabischsprachigen Passagen so treffend wie möglich in der DMG-Umschrift dargestellt und anschließend in Klammern ins Deutsche übersetzt. Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin.

1. Einleitung

Der Hinweis darauf, dass Japan in Palästina in erwähnenswertem Umfang Entwicklungsprojekte betreibt, ruft bei vielen Gesprächspartnern eine gewisse Irritation und Überraschung hervor. Offenbar erscheinen Japan und der Nahe Osten bzw. Palästina auf den meisten mentalen Landkarten als so geographisch wie historisch weit voneinander entfernte Orte, dass japanische Interventionen hier – im Gegensatz etwa zu europäischen oder US-amerikanischen Eingriffen – äußerst kurios und erklärungsbedürftig wirken. Statt jedoch die Verbindung oder Gegenüberstellung von Palästina und Japan zu exotisieren, sollen hier vielmehr diese Beziehungen in ihrem eigenen historischen Kontext und als normales, wenn auch spezielles und eigenständiges Ereignis untersucht werden. Angesichts ihrer historischen Wurzeln in der japanischen Kolonialpolitik verwundert es nicht, dass der regionale Schwerpunkt der japanischen Entwicklungszusammenarbeit noch immer auf (Ost- und Südost-)Asien liegt. Als eines der größten Geberländer weltweit spielt Japan jedoch auch für eine Reihe nahöstlicher Staaten eine wichtige Rolle. In der Selbstdarstellung der japanischen Entwicklungspolitik im Nahen Osten nimmt seit der Jahrtausendwende ein im palästinensischen Jordantal geplantes Projekt mit dem Namen »Heiwa to han’ei no kairō« (Corridor for Peace and Prosperity) eine herausragende Stellung ein. Dieses Entwicklungsprojekt wird als eine Art Flaggschiff der japanischen Entwicklungspolitik und als japanische Friedensinitiative im Nahostkonflikt präsentiert: Ein Agrarindustriepark bei Jericho soll die Arbeitslosigkeit in den palästinensischen Gebieten lindern, die regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit fördern und damit gleichzeitig einen Beitrag zum Friedensprozess im Nahen Osten leisten. Angedacht ist eine Freihandelszone, in der vor allem hochwertige Agrarprodukte für den Export in die arabischen Golfstaaten und in die EU weiterverarbeitet und verpackt werden. Steueranreize und die Kooperation mit der israelischen Militärverwaltung zum Schutz vor Ein- und Ausfuhrsperren und anderen Einschränkungen der Mobilität sowie vor einer möglichen Zerstörung der

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Anlage sollen lokale, regionale und internationale Investoren anlocken. Eingebettet ist diese japanische Initiative sowohl in vergleichbare Industrieparkprojekte entlang der ›Grünen Linie‹ (der Demarkationslinie zu Israel bis 1967), die zentraler Bestandteil internationaler Entwicklungsprogramme für Palästina1 sind, als auch in größere Pläne für den Jordangraben (vgl. Kap. 4.5). Insbesondere von palästinensischer Seite erfährt das japanische Projekt jedoch harsche Kritik, zumal es sich in dem politisch äußerst sensiblen Gebiet des palästinensischen Jordantals positioniert, das auch in der israelischen Sicherheits- und Siedlungspolitik eine zentrale Rolle einnimmt (vgl. Kap. 4.4). Als problematisch erweisen sich vor allem die Anwerbung von Investoren für den Industriepark, ungeklärte Fragen von Zugangsrechten und vage Andeutungen einer möglichen Kooperation mit Firmen aus israelischen Siedlungen im Westjordanland. Was zunächst an diesem Projekt überrascht, ist zum einen der wahrgenommene Widerspruch zwischen dem japanischen Anspruch an das als japanische Friedensinitiative angepriesene Vorzeigeprojekt und seinem relativ geringen Bekanntheitsgrad sowohl innerhalb der palästinensischen Gebiete als auch außerhalb. Zum anderen hatte das Projekt, obwohl bereits 2006 offiziell angekündigt, zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Arbeit2 bis auf einige Maßnahmen zur Urbarmachung des geplanten Baulandes und der Installation einer Solaranlage kaum physische Manifestationen gezeitigt. Zugleich waren bereits Entscheidungen getroffen und raumwirksame Interventionen vorgenommen worden, die teilweise Gegenstand höchst kontroverser Aushandlungsprozesse sind und weit über den lokalen Rahmen hinausgehen können. Physische, aber auch administrative und symbolische Räume erfahren hierbei eine Belegung mit bestimmten Normierungen, Zweckbestimmungen, Bewertungen und Zugangsrechten, neue Räume werden produziert. In den besetzten palästinensischen Gebieten wird der politische Charakter solcher Raumproduktionen besonders deutlich, sind hier doch verschiedenste Akteure konstant dabei, Räume mit bestimmten Bedeutungen und Markierungen zu besetzen. Trotz seines relativ geringen Bekanntheitsgrades hat der Corridor for Peace and Prosperity einige wütende Reaktionen auf palästinensischer Seite hervorgerufen und Anlass zu erbitterten Grabenkämpfen um einzelne räumliche Aspekte

1

In dieser Arbeit sind mit den Bezeichnungen ›Palästina‹ und ›palästinensische Gebiete‹ die Gebiete Westjordanland, Ostjerusalem und Gazastreifen gemeint. Diese Entscheidung ist eine rein pragmatische und stellt keine Positionierung in Bezug auf den Charakter anderer Gebiete oder eine Präferenz für spezifische Grenzziehungen dar.

2

Diese Arbeit ist auf dem Stand von Juli 2013; neuere Entwicklungen konnten nur in sehr geringem Maße berücksichtigt werden.

E INLEITUNG

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gegeben. Auf lokaler Ebene geht es hier sowohl um partikuläre Fragen der Kontrolle über Zugangsstraßen, Grenzübergänge, Energieversorgung, Land- und Wasserressourcen als auch um die Arbeitsbedingungen und Überwachung der zukünftigen Arbeiterschaft. Die Vereinnahmung des palästinensischen Jordantals als japanischer Interventionsraum beinhaltet zudem auch andersgeartete – wenn auch nicht weniger partikuläre – Aneignungsprozesse: International wird eine japanische Sonderrolle als Entwicklungsvorbild und neutraler Vermittler ohne historische Vorbelastung im Nahen Osten konstruiert, während im vielschichtigen Geflecht der Behörden und Abteilungen des japanischen Entwicklungsapparates mit seiner über mehrere Ministerien ausgedehnten Bürokratie Kompetenzstreitigkeiten und Machtkämpfe ausgefochten werden. So kann beispielsweise die Verfügung über Entwicklungsgelder für Palästina eine wichtige Pfründe für bestimmte Behörden und Politiker innerhalb Japans darstellen. Diese Prozesse der Raumaneignung im weiteren Sinne werden als ›Besetzungen‹ bezeichnet und dienen als zentrale Analysekategorie der Arbeit. Das Bild des besetzten Landes – ›arḍ muḥtalla‹ – prägt gerade im palästinensischen Kontext seit Jahrzehnten arabische Raumvorstellungen. Die Besetzungen müssen aber nicht notwendigerweise die physische Form von militärischer Besatzung mit Checkpoints, Wachtürmen, Militärgefängnissen und Sperranlagen annehmen; Besetzungen werden ebenso auf diskursiver und performativer Ebene vorgenommen und bedienen sich bisweilen auch einer weitaus subtileren Symbolik. Das Konzept der Besetzung wird in dieser Arbeit aus dem wortwörtlichen Kontext der physischen Militärbesatzung herausgelöst und dient auch der Beschreibung anderer Raumproduktionen. Anhand des Projektes Corridor for Peace and Prosperity soll untersucht werden, wie und von wem anlässlich und mittels der Entwicklungsintervention um Raumbezüge unterschiedlicher Qualität und variablen Ausmaßes gerungen wird, welche Raumbesetzungen vorgenommen werden und wie diese mit anderen Besetzungen in Beziehung treten. Aufbau und Inhalt der Arbeit Im Anschluss an die Einleitung wird zunächst der konzeptionelle Rahmen der Arbeit dargelegt. Es folgt eine historische und strukturelle Kontextualisierung des Fallbeispiels, bevor dieses auf die beteiligten Akteure und Raumbesetzungsprozesse hin untersucht wird. Diese Ergebnisse werden am Schluss präsentiert und einer genaueren Analyse unterzogen. Für den konzeptionellen Rahmen der Arbeit sind vor allem zwei Theoriestränge produktiv: das sogenannte postdevelopment und raumtheoretische Ansätze. Erstere erheben die Wissensproduktion über Entwicklung selbst zum Untersuchungsgegenstand. ›Entwicklung‹ wird hier in erster Linie als hegemonialer Diskurs der Moderne verstanden, der die

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Kontrolle über und Eingriffe in als unterentwickelt konstruierte Räume ermöglicht (vgl. Kap. 2.1). Raumtheoretische Annahmen nach dem sogenannten spatial turn wiederum begreifen Raum nicht als objektivierbares, homogenes Behältnis und starren, unbeteiligten Schauplatz von Ereignissen und Beziehungen, sondern rücken ihn in einem offeneren Konzept vor allem als kontingentes Produkt sozialer Aushandlung in das Zentrum der Analyse (vgl. Kap. 2.2). In der Entwicklungspolitik werden die Qualität, Konstitution und Zweckbestimmung von Räumen neu verhandelt. Die soziale Konstruktion von Räumen in den Kategorien von Entwicklungsdiskursen tendiert dazu, sie zu entpolitisieren und politische und soziale Probleme auf technische Faktoren zu reduzieren; dutzende japanische Experten machen sich nun daran, die palästinensische Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln und neu zu ordnen. Sie beginnen das Stadtbild von Jericho zu prägen und nehmen hierbei teilweise einschneidende Strukturveränderungen und Raumbesetzungen vor. Ein Entwicklungsprojekt, das einen ›Korridor zu Frieden und Wohlstand‹ schlagen will, stellt in einem politisch sensiblen Gebiet wie dem palästinensischen Jordantal eine tiefgreifende Neuordnung des Raumes dar. Basierend auf diesen Überlegungen wird ein Analyserahmen zur Untersuchung multipler Raumbesetzungen entwickelt. Das Fallbeispiel soll nicht als isoliertes ›Projektpaket‹ losgelöst von seiner Geschichte und Lokalität untersucht werden. Zunächst wird auf die Geschichte der japanischen Entwicklungspolitik3 im Allgemeinen sowie auf einige Verlaufslinien der gemeinsamen Geschichte des Nahen Ostens und Japans eingegangen.4 Der Fokus der Untersuchung innerhalb der Region liegt auf Palästina, dessen ökonomische Problemfelder und Geschichte als ›Entwicklungsland‹ zunächst

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In Japan werden in diesem Zusammenhang verschiedene Begriffe verwendet. Häufig ist die englische Abkürzung ›ODA‹ für ›Official Development Aid‹, doch auch die Ausdrücke keizai kyōryoku (Wirtschaftszusammenarbeit) und (kaihatsu) enjo ([Entwicklungs-]Hilfe) oder shien (Unterstützung) sind gebräuchlich. In dieser Arbeit werden die Bezeichnungen ›Entwicklungszusammenarbeit‹ (EZ) oder ›ODA‹ verwendet.

4

Japan nimmt in der konstruierten Einteilung der Welt in ›Ost‹ und ›West‹ eine ambivalente Rolle ein. Wenn im Folgenden der ›Westen‹ erwähnt wird, soll einerseits die Konstruiertheit dieses Begriffs immer mitgedacht und andererseits die Zuordnung Japans ambivalent gehalten werden. Auch wenn in dieser Arbeit von ›einem‹ oder ›dem Nahen Osten‹ die Rede ist, so geschieht dies sowohl aus sprachpragmatischen Gründen gegenüber einem deutschsprachigen Publikum als auch mit dem Ziel, etwa mit einem Begriff wie dem in Japan geläufigen ›West-Asien‹ nicht gleichzeitig Ägypten und andere Länder Nordafrikas auszuschließen, die einen integralen Bestandteil der Region darstellen, ohne sich auf dem asiatischen Kontinent zu befinden.

E INLEITUNG

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angerissen werden (vgl. Kap. 4). Aufgrund der Zentralität des Nahostkonflikts sind Friedens- und Entwicklungsprojekte in Palästina oft eng verkoppelt, was auf eine besondere politische Aufladung der Entwicklungspolitik hindeutet. Die Entwicklungszusammenarbeit in der palästinensischen Besatzungssituation birgt zudem ganz besondere ethische und politische Dilemmata, etwa wenn es um die Verantwortung der Besatzungsmacht, Fragen des Völkerrechts und die Rolle von Entwicklungsgeldern in der Erhaltung des Status quo geht. Gerade diese moralischen und rechtlichen Grauzonen können jedoch Gelegenheit bieten, Verwerfungen und Widersprüchlichkeiten entwicklungspolitischer Raumbesetzungen aufzudecken, die sich hier in ihrer deutlichsten Form zeigen. So plädiert Foucault dafür, Macht an den Rändern zu untersuchen, »[…] in ihren regionalsten, lokalsten Formen und Institutionen […], besonders dort, wo sie die Rechtsregeln, die sie organisieren und begrenzen, überspringt und sich so über sie hinaus verlängert, sich in Institutionen eingräbt, sich in Techniken verkörpert und sich Instrumente materiellen, möglicherweise auch gewaltsamen Eingreifens gibt.«5 Palästina soll hier also nicht als ein Sonderfall behandelt werden, dessen Analyse ohne allgemeine Relevanz wäre. Im Gegenteil können gerade hier Besetzungsprozesse und auch in anderen Krisensituationen auftretende Ambivalenzen und Dilemmata besonders gut beobachtet werden.6 Auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit scheinen die Verhältnisse in Palästina häufig auf die Spitze getrieben zu werden. Gemessen an der äußerst beschränkten Ausdehnung der Gebiete wirkt die Menge an internationalen Organisationen, die sich insbesondere im Westjordanland tummeln, unverhältnismäßig groß. Die ungleiche räumliche Verteilung im Hinblick auf den Gazastreifen wird von der Situation in Ramallah noch einmal pointiert. Läuft man durch die Straßen der Behelfshauptstadt und betrachtet die zahlreichen Plaketten internationaler wie palästinensischer NGOs und mu’assasāt (Stiftungen) an den Hauseingängen, so drängt sich der Eindruck auf, es gebe in Ramallah keine anderen Arbeitgeber. Das Provinzstädtchen ist dicht besetzt von NGOs, Entwicklungsagenturen, internationalen Organisationen und Kulturinstituten und spiegelt die Situation in den kleinräumigen palästinensischen Gebieten wider. Der Corridor for Peace and Prosperity steht für einen solchen Besetzungsprozess und wird als japanische Friedensinitiative für den Nahostkonflikt präsentiert. Er hat für verschiedene Akteure eine ganz unterschiedliche Bedeutung und eröffnet ihnen neue Handlungsräume bzw. schränkt diese ein. Für die Analyse der komplexen Gemengelage unterschiedlichster Interessengruppen werden als

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Foucault ([1978] 2000), S. 80.

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Vgl. auch Yiftachel (2009), S. 243, 254.

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erster Schritt verschiedene Akteure identifiziert, die an den multiplen Besetzungsprozessen um den Corridor for Peace and Prosperity beteiligt sind (vgl. Kap. 5). Die Komplexität diverser, wenn auch miteinander verflochtener Akteursebenen wird zur Übersichtlichkeit in folgende Kategorien aufgeschlüsselt, ohne dass hiermit eine Homogenität der Gruppen postuliert wird: (1) Lokalbevölkerung und Zivilgesellschaft in Palästina, (2) israelische Netzwerke in Politik, Wirtschaft und Armee, (3) palästinensische Netzwerke von Administration und Wirtschaft, vor allem um den Apparat der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA),7 (4) das internationale Umfeld der Geberländer und (5) das japanische ›Eiserne Dreieck‹ aus Regierung, Bürokratie und Großunternehmertum. Im zweiten Analyseschritt wird untersucht, wie durch den Corridor for Peace and Prosperity neue Räume besetzt werden und wie diese mit grundlegenderen, strukturellen Prozessen der Raumaneignung und -besetzung in Palästina in Zusammenhang stehen (vgl. Kap. 6). Auf der Ebene global verbreiteter Diskurse und internationaler Entwicklungspolitik sind sowohl gängige Entwicklungsdiskurse, neoliberale Wirtschaftsmodelle und grenznahe Industrieparkprojekte von Bedeutung als auch lokalspezifischere Friedensdiskurse und Kooperationsprojekte. Die Produktion von sicheren bzw. unsicheren Räumen im Kontext der fragmentierten palästinensischen Gebiete geht einher mit einem Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme. Antagonistische Rechtsansprüche im ›Heiligen Land‹ beziehen sich nicht nur auf das Land als Oberfläche, sondern gestalten sich weitaus vielschichtiger: Auch unterirdische Wasserressourcen, Abwässer, Energieflüsse sowie Menschenströme, Straßen, Tunnel und Grenzübergänge werden zum Gegenstand erbitterter Aushandlungskämpfe. Mit etwas Abstand von diesen teilweise sehr lokalen israelisch-palästinensischen Raumbesetzungen ist der Corridor for Peace and Prosperity auch im Hinblick auf Schauplätze japanischer Politik zu betrachten, die etwa bemüht ist, eine japanische Sonderrolle im Nahen Osten sowie in der globalen Sicherheitspolitik zu behaupten. Abschließend werden diese unterschiedlichen und multidimensionalen Besetzungsprozesse auf ihre Dynamiken, Eigenschaften und Mechanismen hin untersucht und verglichen (vgl. Kap. 7).

7

Anfang 2013 hat sich die Palästinensische Autonomiebehörde offiziell in ›Staat Palästina‹ umbenannt. Wenn in dieser Arbeit weiterhin von der ›Palästinensischen Autonomiebehörde‹ die Rede ist, so dient dies der besseren Verständlichkeit in einer Situation, in der die Autonomiebehörde lediglich über eine sehr eingeschränkte und auf das Westjordanland begrenzte Form der Souveränität verfügt.

E INLEITUNG

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Untersuchungsmaterial und Forschungsüberblick Das Untersuchungsmaterial der vorliegenden Arbeit besteht aus Interviews, Beobachtungen und offiziellen sowie inoffiziellen Dokumenten, die bei Forschungsaufenthalten in Palästina 8 in den Jahren 2007-2008 und 2011 zusammengetragen wurden. Gespräche wurden mit Beamten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Funktionären des japanischen Vertretungsbüros in Ramallah sowie der Botschaften in Tel Aviv und Beirut, japanischen, palästinensischen und syrischen Mitarbeitern der Japan International Cooperation Agency (JICA) in Palästina und Syrien, japanischen Journalisten, israelischen, japanischen und palästinensischen Wissenschaftlern sowie mit Mitgliedern von palästinensischen und internationalen NGOs und politischen Bewegungen geführt. Alle Interviews wurden ohne Übersetzer von mir selbst und je nach Gesprächspartner auf Japanisch, Englisch und Arabisch (Palästinensisch) geführt. In drei Fällen waren die Interviews auf Englisch und Arabisch gemischt. Japanisch- und arabischsprachige Interviews und Zitate werden in der deutschen Übersetzung wiedergegeben, englischsprachige Interviews und Zitate im Original. Zum Schutz der Interviewpartner sind alle Namen durch Pseudonyme ersetzt und als solche im Verzeichnis der Interviews im Anhang gekennzeichnet. Die Interviewaufzeichnungen samt den realen Namen befinden sich in meinem privaten Archiv. Die meisten Interviews wurden in den Büros der jeweiligen Organisationen und Institutionen geführt, einige auch an öffentlichen Plätzen. Gerade auch die japanischen Stellen in Palästina/Israel haben großes Zuvorkommen und Gesprächsbereitschaft gezeigt. So hat mich beispielsweise der stellvertretende Regionalbüroleiter von JICA Palästina einen vollen Tag lang zu den verschiedenen japanischen Projektstellen im Jordantal geführt und mir das Gespräch mit einer Reihe von JICA-Mitarbeitern und Consultants ermöglicht. Ein dreimonatiges Praktikum bei JICA in Syrien und wiederholte Besuche verschiedener JICABüros im Westjordanland sowie des Japan Center for Middle Eastern Studies in Beirut runden diese Erhebungen ab. Bei den Forschungsaufenthalten zusammengetragen wurde eine Anzahl von offiziellen und inoffiziellen Dokumenten wie Projektpläne und Regierungserklärungen, Zeitungsberichte und NGO-Publikationen, die ebenfalls in die Analyse eingehen. Des Weiteren baut die Arbeit auf der wissenschaftlichen Literatur zu den relevanten Themenkomplexen auf. Die japanische Entwicklungspolitik ist in einer ganzen Reihe von englisch- und deutschsprachigen Monographien behandelt worden, von denen einige jedoch veraltet sind. Neben Rix (1980) und May

8

Wegen der politischen Situation und administrativer Hürden ist mir der Zugang zum Gazastreifen allerdings leider verwehrt geblieben.

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(1989) stammen zahlreiche Arbeiten aus den 1990er Jahren, als Japan zum weltweit größten Geberland aufgestiegen war: Arase (1995), Ensign (1992), Foerster (1995), Hook & Zhang (1998), Islam (1991), Nuscheler (1990 und 1998), Orr (1990), Pohl (1997), Rohde (2003), Söderberg (1996) und Yasutomo (1995). Sie befassen sich zu einem übermäßigen Teil mit der Frage, ob Japans Entwicklungspolitik weiterhin der Exportförderung für die eigenen Industrien dient, und sind vor oder kurz nach der Durchführung weitreichender Reformmaßnahmen im japanischen Entwicklungsapparat entstanden. In den letzten Jahren sind mehrere Sammelbände herausgegeben worden, die einzelne Aspekte der japanischen Entwicklungspolitik beleuchten (Arase [2005], Leheny & Warren [2009a] und Söderberg & Nelson [2009]). Einen Einblick in innerjapanische Diskussionen zur Entwicklungspolitik bieten etwa Fuke & Fujibayashi (1999), Isezaki (2010) und Kusano (2007). Eine Reihe von Artikeln aus der Zeitschrift Gaikō Forum, die vom japanischen Außenministerium unterstützt wird und deshalb als Sprachrohr der Regierung angesehen werden kann, illustriert regierungsnahe Standpunkte zur japanischen Politik im Nahen Osten. Mit Ausnahme von Lanna (2012) erwähnen nicht-japanische Autoren die Entwicklungspolitik im Nahen Osten höchstens am Rande. Ähnlich verhält es sich mit den ohnehin begrenzten Publikationen zur Thematik japanischer Beziehungen zum Nahen Osten, hauptsächlich Sammelbände, die sich größtenteils auf die Thematik der pan-asiatischen Bewegungen um die Jahrhundertwende von 1900 konzentrieren (Aydin [2007], Kowner [2007], Saaler & Szpilman [2011a], Saaler & Koschmann [2007] und Worringer [2007]). Kuroda (1994a), Nester (1992), Sugita (1995) und die Sammelbände von Lincoln (1990), Morse (1986) und Sugihara & Allan (1993) sind ebenfalls bereits relativ veraltet und enthalten keine ausführliche Analyse der japanischen Entwicklungszusammenarbeit im Nahen Osten. In den letzten Jahren ist vor allem ein Fokus auf die neue sicherheitspolitische Ausrichtung der japanischen Außenpolitik festzustellen (Hughes [2009a], Miyagi [2008], Penn [2014] und Sakaki [2007]). Vergleichsweise viel Aufmerksamkeit erhalten die japanisch-israelischen Beziehungen, zu denen Cohen, De Boer, Ikeda, Kowner, Naramoto, Radtke, Shaoul und Shillony mehrere – teilweise auch neuere – Artikel (jedoch kaum Monographien) herausgebracht haben. Die Newsletter des von dem Journalisten Michael Penn gegründeten Shingetsu-Instituts (japanisch für ›Halbmond‹) zur Erforschung der Beziehungen zwischen Japan und der islamischen Welt boten bis zu ihrer Einstellung 2011 eine reiche Informationsquelle zu aktuellen Entwicklungen. Seit dem Abschluss der Osloer Verträge sind einige Veröffentlichungen zur palästinensischen Wirtschaft und Raumplanung herausgekommen (Cobham & Kanafani [2004], Hever [2010], Hofmann [2011], Khan et al. [2004], Lindner

E INLEITUNG

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[1999], Roy [1995 u. 2007], Waltz [2009] und Weizman [2008]). Zudem erschienen in den letzten Jahren Untersuchungen zu den speziellen Implikationen von internationaler Entwicklungszusammenarbeit in den palästinensischen Gebieten unter israelischer Besatzung wie die von Bouillon (2004), Brynen (2000), Ibrahim (2011), Keating et al. (2005), Krieger (2013), Lagerquist (2003), Le More (2008) und Taghdisi-Rad (2011), auf die die vorliegende Arbeit Bezug nimmt. Weitere, aktuellere Informationen stammen aus Zeitungs- und Internetartikeln, Internetauftritten von internationalen Entwicklungsagenturen, Berichten von internationalen Organisationen sowie aus Veröffentlichungen des japanischen Außenministeriums und von JICA. Bruchzone Jordantal Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1261 Bruchzonen der Globalisierung an der Universität Leipzig entstanden. Unter ›Bruchzonen der Globalisierung‹ verstehen Engel und Middell die »historischen Räume, Momente und Arenen von Globalisierung […], in denen um die Herstellung neuer Raumbezüge gerungen wird.« 9 In diesem Sinne wird die geologische Bruchzone des Jordantals zur metaphorischen: Verräumlichungen finden hier auf verschiedenen, aufeinander bezogenen Ebenen statt. Palästina stellt sowohl einen Brennpunkt globaler Diplomatie dar, auf dem sich die Entwicklungs-, Solidaritäts- und Kulturagenturen und hochrangigen Politiker der gesamten Welt zu versammeln scheinen, als auch den Austragungsort eines Kampfes um politische wie ökonomische und kulturelle Souveränität. Die Entwicklungspolitik kann hier als integraler Teil einer als politisches Projekt begriffenen Globalisierung gesehen werden, die von verschiedenen Akteuren mit spezifischen – und teilweise äußerst divergenten – Interessen und Ausgangspositionen vorangetrieben wird. Palästina ist außerdem zu einem Schauplatz globaler Interventionen geworden, wo Fragen von internationaler Verantwortung in Krisensituationen, global governance, internationalen Interventionen, der Rolle der UN-Institutionen, der Universalität von Menschenrechten und internationalem Recht verhandelt werden. Zudem wird hier die internationale Entwicklungspolitik durch die Übertragung gängiger Entwicklungsmodelle – von grenznahen Industrieparks nach dem Vorbild mittelamerikanischer Maquiladoras und neoliberaler, auf komparativen Kostenvorteilen basierender Exportförderung – auf die palästinensischen Gebiete regelrecht ad absurdum geführt (vgl. Kap. 6.1). Gleichzeitig nimmt Palästina einen zentralen Platz ein in einer Region im Umbruch, deren bisherigen Herrschafts- und Gesellschaftssysteme an die Gren-

9

Engel & Middell (2005), S. 21.

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zen ihrer Tragfähigkeit gestoßen zu sein scheinen. Die alte, aus der postkolonialen Nachkriegszeit im Klima des Kalten Krieges geborene Ordnung wird in zahlreichen Staaten in internen Umbrüchen (Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Syrien) sowie externen Interventionen (z. B. Irak, Jemen, Libyen) aufgelöst und neu geordnet. Nach der Erdbeben-, Tsunami- und Atomkatastrophe im März 2011 befindet sich auch die japanische Gesellschaft in einer Umbruchsituation. Es bleibt abzuwarten, ob die japanische Entwicklungspolitik im Nahen Osten trotz Haushaltskrise und intensivierter maritimer Territorialstreitigkeiten in Ostasien als Symbolpolitik wieder an Bedeutung gewinnen wird, da Japan einen Ressourcenverlust in der Energieversorgung auszugleichen hat. Andererseits mag die Trägheit bestimmter verfestigter Strukturen trotz Krisen und oberflächlicher Umbrüche zügige tiefgreifende Veränderungen verhindern. In ähnlicher Weise besteht der Corridor for Peace and Prosperity trotz aller Widerstände und Widrigkeiten seit Jahren fort – und hat in jüngster Zeit sogar die ersten Investoren unter Vertrag genommen.

2. ›Entwicklungsländer‹ als Interventionsräume

Entwicklungsländer werden hier als Interventionsräume angesehen, deren wirtschaftliche und politische Strukturen spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs massiven Eingriffen von außen ausgesetzt waren. Um die unterschiedlichen Besetzungen von Räumen durch Entwicklungsprojekte zu untersuchen, sind vor allem sogenannte Postdevelopment-Ansätze von Bedeutung. Sie verstehen ›Entwicklung‹ in erster Linie als einen hegemonialen Diskurs der Moderne, der eine Kontrolle über und Eingriffe in als unterentwickelt konstruierte Räume ermöglicht. Ferner werden raumtheoretische Ansätze herangezogen, die für das Verständnis der Besetzungen wichtig sind. Sie teilen ein neues Raumverständnis, das sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend in raumwissenschaftlichen Fächern durchgesetzt hat und dessen verstärkter Fokus auf die Verräumlichungen gesellschaftlicher Verhältnisse den ›spatial turn‹ in benachbarten Sozialwissenschaften geprägt hat. Raum wird hier nicht als objektivierbares, homogenes Behältnis und starrer, unbeteiligter Schauplatz von Ereignissen und Beziehungen, sondern in einem offeneren Konzept vor allem als kontingentes Produkt sozialer Aushandlung begriffen und als solches in das Zentrum der Analyse gerückt. Basierend auf diesen Überlegungen wird ein Analyserahmen entwickelt, der die vorliegende Untersuchung der multiplen Besetzungen im japanischen Entwicklungsprojekt in Palästina leitet.

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2.1 ›E NTWICKLUNG ‹

ALS

D ISKURS

Der Begriff der ›Entwicklung‹1 hat in den letzten Jahrhunderten einen großen Bedeutungswandel erfahren und neue Dimensionen gewonnen. Heute beschreibt der Begriff nicht lediglich einen Prozess, nämlich den einer Veränderung von einem Zustand in einen anderen, sondern er ist darüber hinaus ontologisch und normativ aufgeladen worden. Entwicklung ist zu einem erstrebenswerten Zustand geworden, zu einer distinguierenden Eigenschaft, einem Ziel in und durch sich selbst.2 Der Begriff zielt nun primär auf das Stadium eines Fortgeschrittenseins ab, das die Industrieländer des Nordens und Westens bereits erreicht haben und das den Ländern des Südens bzw. Ostens – in der Regel ehemaligen Kolonien – fehlt: Die ›Industrieländer‹ haben Entwicklung, die ›unterentwickelten‹ Länder der ›Dritten Welt‹ benötigen sie. Seit der Institutionalisierung von Entwicklung in den 1940/50er Jahren sind zahlreiche Theorien zu ›Entwicklung‹ entstanden und haben zu einer spezifischen Form der Raumproduktion mit globaler Wirkungsmächtigkeit beigetragen. Einige von ihnen suchen aus einer Makroperspektive nach gesamtgesellschaftlichen und weltwirtschaftlichen Erklärungen für Unterentwicklung, wobei eine markante Trennlinie zwischen Modernisierungs- und marxistisch geprägten Dependenztheoretikern verläuft. Theorien mittlerer Reichweite konzentrieren sich im Gegensatz dazu auf die Lebenswirklichkeit und Überlebensstrategien lokaler Armutsgruppen bzw. auf die entwicklungspolitische Praxis; andere Theorien suchen mit einem verstärkten Bewusstsein für Thematiken wie Genderbeziehungen, Grundbedürfnisse, Umweltschutz und Nachhaltigkeit nach Alternativen zum Mainstream der Entwicklungstheorien zu bilden. Zunehmend geraten auch unter ›Globalisierung‹ gefasste Beziehungen – globale Institutionen, Migrationsströme, Umweltprobleme und wirtschaftliche Zusammenhänge wie Finanztransaktionen und globale Arbeitsteilung – in den Fokus, ohne dass jedoch das Entwicklungsparadigma aufgegeben würde. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden so zahlreiche Eingriffe in die ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen solcher ›unterentwickelten‹ Länder durchgeführt; ein globales System tiefgreifender Interventionen in Räumen der Unterentwicklung wurde geschaffen, als dessen zentrales Leitmotiv der

1

Begriffe wie ›Entwicklung‹, ›Entwicklungsland‹ und ›Industrieland‹ sollen hier nicht unkritisch übernommen werden. Sie werden jedoch auch hier verwendet, um ein Sprechen über die Thematik zu ermöglichen und gleichzeitig den inflationären Gebrauch von Anführungszeichen und Ausdrücken wie ›sogenannt‹ zu vermeiden. Eine kritische Distanz zu diesen Zuschreibungen sei jedoch im gesamten Text mitgedacht.

2

Vgl. auch Brett (2009), S. 34–50.

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Entwicklungsbegriff ungeachtet einiger oberflächlicher theoretischer Trendverschiebungen durch die Jahrzehnte hinweg Bestand hatte und weiterhin hat. In modernisierungstheoretischen Vorstellungen stehen Länder der höchsten Entwicklungsstufe in einem Zentrum, von dem aus die Entwicklung in die Peripherie ausstrahlt; die für unterentwickelt erachteten Länder befinden sich in einem frühen Stadium dieses Prozesses, etwa auf der Stufe des feudalherrschaftlichen Europas, und müssen eine nachholende Entwicklung durchmachen, um das Niveau der entwickelten Industrieländer zu erreichen. Raum wird hierbei mit einer temporalen Komponente aufgeladen und Länder werden auf einer bestimmten relationalen Position auf einem gen Entwicklung ausgerichteten Zeitstrahl lokalisiert, wie die Geographin Massey kritisiert, die ein Plädoyer für die Anerkennung der Gleichwertig- und Gleichzeitigkeit räumlicher Unterschiede einlegt.3 Peet und Hartwick bemängeln den zugrundeliegenden Eurozentrismus und die Verallgemeinerung einer spezifischen historischen (westeuropäischen) Erfahrung unter Nichtbeachtung ihrer Historizität und Kontingenz.4 Vor dem Hintergrund des cultural turn in den Sozialwissenschaften und der Entstehung neuer Ansätze wie der Cultural, Postcolonial und Subaltern Studies wurde in den 1990er Jahren eine einem Paradigmenwechsel gleichkommende neue Perspektive auf die Entwicklungsproblematik eröffnet: Diese Sichtweise unterzieht die Produktion von Entwicklungstheorien und den Entwicklungsapparat selbst – im Sinne der Gesamtheit der sich mit Entwicklung beschäftigenden Institutionen und Theorien – einer kritischen Untersuchung. Entwicklung wird nun nicht mehr als notwendiger oder auch nur wünschenswerter Prozess oder als Ziel, sondern vielmehr – genauso wie ihr komplementäres Gegenstück, die Unterentwicklung – als diskursives Konstrukt begriffen. Nach Foucaults Diskursbegriff werden in der diskursiven Praxis Bedeutung und Wirklichkeit produziert, legitime Wahrnehmungs- und Denkmuster erzeugt, andere Sichtweisen hingegen disqualifiziert und ausgeschlossen. Der Diskurs ist »nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.« 5 Diskurse sind mit massiven sozialen Disziplinierungs- und Kontrollmechanismen belegt, darunter die Verbote: »das Tabu des Gegenstands, das Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts.« 6 Es kann also nicht jeder beliebige Sprecher

3

Massey (1999), S. 13.

4

Peet & Hartwick (2009), S. 14f.

5

Foucault ([1971] 1977), S. 8.

6

Foucault ([1971] 1977), S. 7.

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zu einem bestimmten Thema eine zulässige Äußerung tätigen, nicht jede Gelegenheit ist für die Diskussion eines bestimmten Themas angebracht, und manches darf gar nicht gesagt werden. Weitere Ausschlusssysteme bestehen in der Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn, von Wahrem und Falschem, dem »Willen zur Wahrheit«. Diese internen Prozeduren dienen dazu, die Zufälligkeit und Ereignishaftigkeit von Diskursen zu kontrollieren und zu beherrschen. Es erfolgt zudem eine Verknappung der sprechenden Subjekte, indem ein sprechendes Individuum nur dann Zugang zu einer bestimmten Region des Diskurses erhält, wenn es die erforderlichen Qualifikationen, zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer ›Diskursgesellschaft‹, aufweisen, und bestimmten Erfordernissen, etwa in Form von Ritualen und Doktrinen, genügen kann. Institutionen spielen in diesen Ordnungsmechanismen eine wichtige Rolle und bestimmen mit, wer wie und mit welcher Autorität über welche Themen sprechen kann.7 Mit der Übertragung dieses Diskurskonzeptes auf die westliche Produktion von Wissen über den ›Orient‹, den »Orientalismus«, hat das Werk von Said einen paradigmatischen Wandel in der Beschäftigung mit den postkolonialen Ländern eingeleitet. In seinem gleichnamigen Werk beschreibt er, wie der Diskurs des ›Orientalismus‹, der auf einer »ontologischen und epistemologischen Unterscheidung zwischen ›dem Orient‹ und (meistens) ›dem Okzident‹«8 basiere, eine Institution zur Beherrschung und Umstrukturierung des Orients darstelle. Der ›Okzident‹ beschreibt also den ›Orient‹, autorisiert bestimmte Aussagen über ihn, lehrt und erforscht ihn und macht ihn zu einem Wissensobjekt. Durch diese Tätigkeiten wird der Orient jedoch erst produziert, denn seine Existenz ist nicht von vorneherein gegeben, einfach lokalisierbar und mit bestimmten Eigenschaften behaftet. Das Gleiche trifft auf den Okzident zu: Durch die Schaffung eines exotischen, wilden, chaotischen, rückständigen und grundsätzlich unterlegenen Anderen produziert sich der Okzident als rationales, aufgeklärtes, modernes und überlegenes Selbst, basierend auch auf einer alten Feindschaft gegenüber dem Islam. Die diskursive Aushandlung von Bedeutungen und Bedeutungsregimes steht in enger Wechselwirkung zu den sozioökonomischen und politischen Strukturen, die den Diskurs produzieren und die er wiederum verstärkt und hervorbringt. Von der Einrichtung orientalistischer Forschungsinstitutionen bis hin zu autorisierten, umwälzenden Umstrukturierungsmaßnahmen im Orient selber, etwa – aber nicht ausschließlich – in Form von kolonialen Unternehmungen, hat der Diskurs vielfältige Materialisierungen hervorgebracht.9

7

Foucault ([1971] 1977), S. 8–31.

8

Said ([1978] 2003), S. 2, Übersetzung SG.

9

Said ([1978] 2003), S. 4–6.

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Auch in Japan hat die Veröffentlichung von Saids 1986 ins Japanische übersetzten Buches »Orientalism« eine große Veränderung in der Beschäftigung mit dem Nahen Osten ausgelöst. Dieser Ansatz war nicht zuletzt deshalb von großer Relevanz auch für die japanische Nahostforschung, weil westliche Literatur in großem Maße in Japan rezipiert wird und auch das in den japanischen Medien präsentierte Nahostbild stark auf westliche Bilder zurückgreift.10 Interessant ist hierbei, dass Japan sich selbst ebenfalls in der Rolle des Orientalismusobjektes, des orientalistisch konstruierten Anderen, befunden hat und befindet. Eine Form des (Selbst-)Orientalismus findet sich im nihon(jin)-ron (Japan[er]diskurs) über die angebliche kulturelle Besonderheit und Einzigartigkeit Japans bzw. der Japaner, die – auch von japanischer Seite selbst – diskursiv produziert wird. 11 Postdevelopment Angesichts zunehmend deutlicher Fehlschläge internationaler Entwicklungsinterventionen und der oft verheerenden sozialen Auswirkungen neoliberaler Entwicklungsprogramme seit den 1980er Jahren wurde von vielen Seiten eine Krise oder Sackgasse in der Entwicklungspolitik und -theorie konstatiert.12 Die Übertragung diskurstheoretischer, postkolonialer und weiterer konstruktivistischer Ansätze auf die Wissensproduktion über die sogenannten Entwicklungsländer führte in den 1980/90er Jahren auch hier zu einem Paradigmenwechsel. Ausgehend von der Annahme, dass Entwicklung einen hegemonialen Diskurs zur Beherrschung und Kontrolle der Länder der sogenannten Dritten Welt darstellt, entfaltete Escobar eine fundamentale Entwicklungskritik. 13 Wie er plädierten zahlreiche Kritiker für eine Überwindung des Eurozentrismus in der Entwicklungstheorie und das Hörbarmachen von alternativen kulturellen Konzepten. Eine Reihe kritischer Schriften und Studien entstand entlang dieser Theorien,14 sodass Escobar die Entstehung einer ganzen Forschungsströmung postulierte, die er ›postdevelopment‹ nennt.15 Begriffe wie ›Entwicklungsland‹, ›Industrieland‹, ›der Süden‹ und ›der Norden‹ sollen nun als gesellschaftliche Konstruktionen verstanden werden, die analog zur Gegenüberstellung von Orient und Okzident einer menschengemachten Einteilung der Welt entspringen, einer sozialen Re-

10 Sadria (1997), S. 26. 11 Vgl. auch Aoki (1996). 12 Vgl. z. B. Brett (2009), S. 17-33 und Kothari & Minogue (2002). 13 Escobar (1995). 14 Vgl. z. B. Ferguson (1994) und die Sammelbände von Crush (1995), Rahnema & Bawtree (1997) und Sachs (1993). 15 Peet & Hartwick (2009), S. 221–230.

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präsentation und Imagination, die keiner naturgegebenen, präexistenten Notwendigkeit oder Realität entspricht. Eine nachholende Entwicklung nach dem Modell der vermeintlich überlegenen Industrieländer wird nun nicht mehr als überhaupt erstrebenswert angesehen – ganz abgesehen von der ökologischen Untragbarkeit eines solchen Vorhabens. Ausgehend von der gesellschaftlichen Konstruiertheit des Entwicklungskonzeptes und dem Fehlen anhaltender Erfolge in der Armutsbekämpfung ziehen viele Kritiker die Konsequenz, entwicklungspolitische Interventionen grundsätzlich abzulehnen. Dass trotz des offensichtlichen Versagens nicht von Entwicklungspolitik abgelassen werde, wird durch die Macht des Entwicklungsdiskurses erklärt, eines hegemonialen Diskurses der Moderne, der seit ca. Mitte des 20. Jahrhunderts den interpretativen Rahmen vorgebe, innerhalb dessen ein Sprechen, Schreiben und Nachdenken über die Länder der sogenannten Dritten Welt (und im Umkehrschluss über die der Ersten Welt) überhaupt möglich sei: »Reality, in sum, had been colonized by the development discourse, and those who were dissatisfied with this state of affairs had to struggle for bits and pieces of freedom within it, in the hope that in the process a different reality could be constructed.«16

Der Diskussions- und Handlungsspielraum ist durch den Entwicklungsdiskurs abgesteckt und begrenzt, Opposition ist nur innerhalb dieses Spielraumes möglich. Gegenstimmen können nicht mehr prinzipiell gegen Entwicklung, sondern nur über Entwicklung und ›schlechte‹ bzw. ›gute‹, zum Beispiel ›nachhaltige‹, ›partizipative‹ und ›gender-bewusste‹ Entwicklungsstrategien sprechen. Der Entwicklungsdiskurs entwirft die Länder der ›Dritten Welt‹ als wilde, chaotische und rückständige Räume, gekennzeichnet durch stereotype Bilder von Hunger, Armut, Überbevölkerung und Analphabetismus. Die imaginierten Entwicklungsländer bedürfen westlicher Technologie und Expertise, um gebändigt und geordnet zu werden. Escobar beschreibt die Prozesse einer gewaltsamen kulturellen Repräsentation von Unterentwicklung und die dabei stattfindende Homogenisierung verschiedenster Situationen und Bevölkerungsgruppen: Ein Slumbewohner in Rio de Janeiro, ein indischer Bauer oder ein palästinensischer Flüchtling im Libanon nimmt hierbei die gleiche Position ein und bedarf der gleichen Hilfestellung.17 Zudem werden Nationalstaaten als Einheiten von Unterentwicklung konzipiert, auf die austauschbare universale Lösungsmodelle übertragen werden,

16 Escobar (1995), S. 5. 17 Escobar (1995), S. 155–211.

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ungeachtet möglicherweise vollkommen unterschiedlicher sozialer, politischer und ökonomischer Umstände sowie historischer Hintergründe.18 Das bedeutet nicht, dass die reale, bedrängende Materialität von Existenzunsicherheit, Armut und Elend als reine Erfindung der Entwicklungsindustrie verstanden wird. Auch mögen in bestimmten Fällen die Maßnahmen von Entwicklungs- und Hilfsorganisationen ihren Empfängern durchaus von Nutzen gewesen sein.19 Kritisiert wird vielmehr, dass diese Materialität ›Unterentwicklung‹ getauft und nur noch in Denkmustern des Entwicklungsdiskurses fassbar gemacht wird. Diese diskursive Konstruktion unter ungleichen Machtverhältnissen erlaubt die Ausübung von Kontrolle und Macht über das konstruierte Objekt der Entwicklung, das scheinbar sowohl der Rettung in Form von materieller Hilfe als auch der Unterweisung und Verwaltung durch die Industriestaaten bedarf. Ähnlich dem Kolonialismus früherer Jahrzehnte hat der Entwicklungsapparat mit der Dritten Welt einen Raum und ein ›subject people‹ geschaffen, über die er unablässig Wissen produzieren und Macht ausüben kann.20 Entwicklung wurde, so Escobar, zu einem »wichtigen Instrument zur Normalisierung der Welt.«21 Der ›Entwicklungsapparat‹, also jener Komplex aus (staatlichen) Entwicklungszusammenarbeitsorganisationen, NGOs, Universitätsinstituten, Forschungseinrichtungen und anderen Beteiligten, bringt am laufenden Band Expertenwissen hervor. Die Expertise erhält ihre Autorität aus der Zugehörigkeit zu Institutionen und aus der Kohärenz mit dem Entwicklungsdiskurs, dem sie angehört und den sie weiter produziert. Die Mechanismen der Professionalisierung, der institutionalisierten Praktiken, alltäglichen Arbeitsroutinen, Entwicklungsstrategien, Projektpläne, standardisierten Berichte und Evaluationen sind zentral für die Arbeit des Entwicklungsapparats, die Produktion von Entwicklung. Vorstellungen von Entwicklung entstehen nicht in einem »sozialen, institutionellen oder literarischen Vakuum«22 und der Entwicklungsapparat soll nicht als monolithischer Block oder isoliertes Machtzentrum dargestellt werden, welches über die Peripherie herrscht. Nicht nur sind die Wissensproduktion und Praktiken von Entwicklungsinstitutionen Produkte komplexer Aushandlungsprozesse sowohl innerhalb einzelner Institutionen als auch untereinander; auch die ›Empfänger‹ von Entwicklung, also quasi die ›Entwicklungsobjekte‹, sind handelnde Subjekte und können sich in einem gewissen Rahmen dem Entwicklungsdiskurs widerset-

18 Crush (1995), S. 9, Escobar (1995), S. 53f und Mitchell (1995), S. 147f. 19 Escobar (1995), S. 46, 104 und Mitchell (1995), S. 154. 20 Escobar (1995), S. 9, 53. 21 Escobar (1995), S. 26, Übersetzung SG. 22 Crush (1995), S. 5, Übersetzung SG.

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zen oder ihn zu ihren Gunsten unterwandern.23 Ferner soll der Diskurs nicht als »eine bloße Verschleierung dessen« angesehen werden, »was der Entwicklungsapparat in Wahrheit im Sinne hat«24. Die diskursive Wissensproduktion ist zwar niemals unschuldig, sondern immer interessen- und machtgeleitet, doch die Ergebnisse sind nicht unbedingt die direkte Folge bewusster Strategien. Genauso wie die Produktion der Diskurse eingebunden ist in ökonomische, soziale und politische Strukturen und Machtverhältnisse auf lokaler bis hin zu globaler Ebene, haben sie materielle Wirkungen, legitimieren sehr reale Interventionen und Praktiken mit sehr realen Konsequenzen und reproduzieren und gestalten diese Strukturen fort. 25 Auf diese Weise eröffnen sie neue Handlungsräume für bestimmte Akteure, während andere weiter eingeschränkt werden. Ganz abgesehen von den lukrativen und prestigeträchtigen Arbeitsplätzen für eine globale Elite von Entwicklungsexperten26 bietet die ›Entwicklungsindustrie‹ zudem ein einträgliches Geschäft für viele Industrien und Unternehmen aus den Geberländern etwa in Form von Beraterverträgen, Liefer- und Bauaufträgen. Zudem eröffnen sich langfristige Perspektiven durch die Erschließung neuer Märkte für Industrien des Geberlandes oder durch die Kontrolle von Rohstoffen im Empfängerland. 27 Die japanische Entwicklungszusammenarbeit in Asien war lange Zeit überwiegend von solchen Aspekten geprägt (vgl. Kap. 3.2). Obwohl sie nicht selten eine einflussreiche Größe in der Politik und Wirtschaft des Empfängerlandes spielen, begreifen sich internationale Entwicklungsorganisationen und beteiligte Firmen meist nicht selbst als lokale Akteure, sondern präsentieren sich selbst als ein externes, »losgelöstes Zentrum von Rationalität und Intelligenz« 28 , das außerhalb seines Gegenstands steht. Dementsprechend wird das Empfängerland als in sich abgeschlossener, einheitlicher Raum objektiviert, dessen Problemen mit technischen Lösungen beizukommen ist.29 Viele Entwicklungsprojekte verfehlen ihre eigenen Zielsetzungen, zum Beispiel die Armutsbekämpfung. Kritiker von Entwicklungsdiskursen erkennen dennoch eine gewisse Einheitlichkeit in der Wirkungsweise von Entwicklungsprojekten, etwa indem sie ungleiche Machtverhältnisse – sei es auf globaler oder

23 Crush (1995), S. 8. 24 Ferguson (1994), S. 18, Übersetzung SG. 25 Crush (1995), S. 6. 26 Zur Diskussion der moralischen Ambivalenzen im Lebensstil von Entwicklungsexperten vgl. Fechter (2012). 27 Vgl. z. B. Mitchell (1995)/(2002) über die Wirtschaftshilfe der USA für Ägypten. 28 Mitchell (1995), S. 156, Übersetzung SG. 29 Mitchell (1995)/(2002), S. 209–243, und Escobar (1995), S. 156ff.

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auf lokaler Ebene – zementieren. Allerdings dürfen Entwicklungsdiskurse nicht als geheime Masterpläne übermächtiger Strippenzieher verstanden werden; zwar dienen sie bestimmten Interessen, reproduzieren und verstärken bestimmte sozioökonomische und politische Strukturen, aber sie tun dies meist ohne das Wissen der Beteiligten, indem sie gleichsam eine »ungeplante Strategie«30 verfolgen: »If unintended effects of a project end up having political uses, even seeming to be ›instruments‹ of some larger political deployment, this is not any kind of conspiracy; it really does just happen to be the way things work out.«31 Diese Wirkung bezeichnet Ferguson in Anlehnung an Foucault als ›Instrument-Effekte‹. Foucault argumentiert, dass das Scheitern des Gefängnisses im Sinne des intendierten Ergebnisses, nämlich der Katharsis und Wiedereingliederung von Rechtsbrechern in die Gesellschaft, mit einer Wirksamkeit auf anderer Ebene einhergeht: Das Gefängnis dient als Instrument, das eine gewisse Art von Gesetzwidrigkeiten als ›Delinquenz‹ selektiert, erschafft und als eine der sozialen Kontrolle dienliche Klasse von Delinquenten reproduziert.32 Parallel dazu erkennt Ferguson am Beispiel eines Entwicklungsprojekts in Lesotho eine Wirksamkeit von – nach eigenen Zielsetzungen eigentlich als gescheitert geltenden – Entwicklungsprojekten. Die Instrument-Effekte solcher Interventionen lägen insbesondere in der Ausbreitung der Einflusssphäre staatlicher Bürokratie und der Entpolitisierung von Armut und Ungleichheit – der »anti-politics machine«:33 »By uncompromisingly reducing poverty to a technical problem, and by promising technical solutions to the sufferings of powerless and oppressed people, the hegemonic problematic of ›development‹ is the principal means through which the question of poverty is de-politicized in the world today. At the same time, by making the intentional blue-prints for ›development‹ so highly visible, a ›development‹ project can end up performing extremely sensitive political operations […] almost invisibly, under cover of a neutral, technical mission to which no one can object.«34

Fragen von Macht und Ungleichheit werden ausgeblendet, und die Ursachen für Probleme in physischen und technischen statt sozialen und politischen Missständen gesucht.35 In der Gestalt eines rationalen, technischen Entwicklungsprojektes

30 Ferguson (1994), S. 18f, Übersetzung SG. 31 Ferguson (1994), S. 256. 32 Foucault ([1976] 1992), S. 357. 33 Ferguson (1994), S. 251–277. Vgl. auch Escobar (1995), S. 143–146. 34 Ferguson (1994), S. 256. 35 Vgl. auch Mitchell (1995)/(2002), S. 209–243.

28 | BESETZUNGEN – J APANISCHE E NTWICKLUNGSRÄUME IN P ALÄSTINA

können also politisch sensible Operationen und Strukturveränderungen durchgeführt werden. Entwicklungsdiskurse erhalten eine gewaltige und lukrative Entwicklungsindustrie am Leben, die zunächst hauptsächlich in den Industrieländern verwurzelt ist. Durch die vorrangig technokratische Sichtweise von Entwicklungsdiskursen können soziale Fragen und Raumproduktionen entpolitisiert werden, während die Kanalisierung von Ressourcen in Strukturen von Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen ebendiese Disparitäten und Machtverhältnisse zementiert. Solche Wirkungen resultieren jedoch nicht unbedingt aus bewussten Strategien, sondern beruhen vielmehr auf einer ereignishaften, gleichsam unbestellten und dennoch regelhaften Funktion der Entwicklungsdiskurse selbst. Kritik an postdevelopment In seiner Arbeit über den Widerstand kriminalisierter palästinensischer Beduinengemeinden in der israelischen Negev-Wüste, die nicht offiziell vom Staat anerkannt werden, wendet Yiftachel den Begriff ›Entwicklung‹ positiv als Form des Widerstands, des ṣumūd (Widerstand, Ausharren): »The Bedouins are constructing a new collective identity through the discourses and materiality of physical development.«36 Unabhängig von bzw. im Verstoß gegen die Gesetze des Staates arbeiten sie am Aufbau von Infrastruktur und an der Versorgung ihrer Gemeinden mit Elektrizität, Wasser, Transportmöglichkeiten, Gesundheitsund Bildungseinrichtungen; vom Staat demolierte Häuser werden kollektiv wieder aufgebaut.37 Vor dem Hintergrund einer staatlichen Politik der Nichtanerkennung althergebrachter Siedlungs- und Lebensformen und weiträumiger Umsiedlungen wird der Begriff der ›Entwicklung‹ also subversiv umgedeutet und nicht komplett abgelehnt. Ein Kritikpunkt an diskurstheoretischen Ansätzen besteht darin, dass die Handlungsfähigkeit der beteiligten Akteure unterschätzt würde. Lie wendet sich gegen ein Diskursverständnis, das, einer ›kulturellen Droge‹ ähnlich, das Bewusstsein und den Willen der Akteure komplett vereinnahme. Am Beispiel eines norwegischen Entwicklungsprojekts in Äthiopien mit dem Anspruch auf einen partizipativen Bottom-up-Ansatz illustriert er, wie Akteure und Entwicklungsexperten sich durchaus der Funktionsweise von Entwicklungsdiskursen und Trends bewusst sind und diese auf formeller Ebene intentional mobilisieren und somit reproduzieren, um sie dann zu unterwandern und vor Ort eine divergierende Praxis zu ermöglichen.38

36 Yiftachel (2009), S. 249. 37 Yiftachel (2009), S. 250. 38 Lie (2007).

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Kritiker des postdevelopment konstatieren zudem eine Romantisierung lokaler und indigener Kulturen, eine ideologisch motivierte Ablehnung moderner Wissenschaften und eine übermäßige Vereinfachung und Essentialisierung – auch alternativer – Entwicklungsansätze. Die Hochhaltung essentialisierter traditioneller Kulturen leiste einem reaktionären Populismus Vorschub, bzw. die Ablehnung staatlicher Planung und Interventionen diene der Legitimierung einer neo-liberalen Politik. Die Handlungsfähigkeit südlicher Akteure und Reformer werde ignoriert und konstruktive, über Kritik und Dekonstruktion hinausgehende Alternativen würden nicht vorgestellt.39 Nustad begegnet diesem Argument mit dem Hinweis darauf, dass die kritische Analyse der postdevelopmentalists erstens schon an sich einen wertvollen Beitrag zum Verständnis entwicklungspolitischer Fehlschläge darstelle. Zweitens könnten sich durchaus alternative Erkenntnisse für die entwicklungspolitische Praxis aus der genaueren Untersuchung dessen ergeben, wie konkrete Entwicklungsprojekte in der lokalen Praxis ausgehandelt werden und welche Rolle hierbei die Einschränkungen spielen, die die Entwicklungsdiskurse den Entwicklungsexperten in der Ausübung ihrer Arbeit auferlegen.40 Escobar betont, dass es eben nicht darum gehe, ein anderes, besseres Verständnis von Entwicklung zu finden, sondern vielmehr darum, die Prozesse der Wissensproduktion und die damit verbundene Ausübung von Herrschaft kritisch zu beleuchten. Der diskurstheoretische Ansatz dürfe hierbei keineswegs – wie in manchen marxistischen Kritiken – in der Richtung verstanden werden, dass materielle ›Realitäten‹ von Armut und Deprivation beschönigt oder ignoriert werden sollten, da Diskurse nicht als etwas vom Materiellen Getrenntes betrachtet werden könnten.41 Escobar, der seit vielen Jahren mit politischen Aktivisten zusammenarbeitet, hinterfragt die Trennung von Wissenschaft und Aktivismus und setzt sich für eine politisch engagierte Anthropologie ein.42 Seine neueren Arbeiten befassen sich daher vor allem mit sozialen Bewegungen etwa von indigenen, ländlichen Bevölkerungsgruppen und auch von Globalisierungskritikern.43 Forschungen aus der Perspektive des postdevelopment sind trotz der oben genannten Kritikpunkte weiterhin präsent (und erst mit einer Verzögerung von ca. einer Dekade in der deutschsprachigen Entwicklungsforschung angekom-

39 De Vries (2007), Edelman & Haugerud (2005), S. 49f, Nederveen Pieterse (2010), S. 110–124, Peet & Hartwick (2009), S. 230–239 und Ziai (2012). 40 Nustad (2007). Vgl. auch Schuurman (2009), S. 839f. 41 Escobar (2007). 42 Escobar (2004). 43 Vgl. Ganseforth (2010).

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men),44 doch in den letzten 20–30 Jahren haben Globalisierungsnarrative Hochkonjunktur. In der internationalen Entwicklungspolitik entstand einerseits ein größeres Bewusstsein für grenzüberschreitende Probleme globaler Relevanz wie globale Pandemien, Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme oder auch Wirtschafts- und Finanzkrisen.45 Gleichzeitig wurde die Integration von Volkswirtschaften in den Weltmarkt als Weg zu Wachstums- und Wohlstandssteigerung erklärt,46 während Globalisierung und globale Wettbewerbsfähigkeit zur Rechtfertigung neoliberaler Reformmaßnahmen mit tiefen Einschnitten in die sozialen Sicherungssysteme auch in den alten Industrieländern herangezogen werden. Für eine kritische Entwicklungsforschung stellen Phänomene der bzw. auch die Diskurse über die Globalisierung eine Herausforderung dar, da sie zunächst zu einer weiteren Entpolitisierung der internationalen Entwicklungspolitik geführt haben. Globalisierte Schlagworte wie ›good governance‹, ›Stärkung der Zivilgesellschaft‹, ›Partizipation‹, ›human development‹ und ›Nachhaltigkeit‹ transportieren zunehmend entpolitisierte Konzepte zur Verbesserung des Managements von Entwicklungszusammenarbeit ohne eine tiefergehende strukturelle Ursachensuche.47 Weitere entwicklungspolitische Initiativen scheinen sich näher an den Bedürfnissen der von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen zu orientieren, so etwa die im Jahr 2000 bei den Vereinten Nationen beschlossenen Millenniumsziele (Millennium Development Goals, MDG), die quantifizierbare Ziele für ein vereinheitlichtes und normalisiertes Format von Entwicklungsreports für das Jahr 2015 formulierten: die Bekämpfung von Armut und Hunger, die Verbreitung von Primärschulbildung, die Gleichstellung der Geschlechter, die Senkung der Säuglingssterblichkeit und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Mütter, die Bekämpfung von HIV/AIDS sowie ökologische Nachhaltigkeit und die Bildung einer ›globalen Partnerschaft für Entwicklung‹. Nachdem neoliberale Theorien bereits beim Versagen der Bretton-WoodsInstitutionen in der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre einen gewissen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten haben48 und von sogenannten ›Globalisierungsgegnern‹ schon seit Jahrzehnten kritisiert werden, sind die Unberechenbarkeit eines globalen Finanzkapitalismus und neoliberaler Marktmacht in den Finanzkrisen seit 2008 wieder deutlich zutage getreten. Die Weltmacht transnationaler Konzerne und eine zunehmende Finanzialisierung haben gravierende

44 Neuburger & Schmitt (2012). 45 Lancaster (2007), S. 47. 46 Edelman & Haugerud (2005), S. 17. 47 Schuurman (2009). 48 Payne & Philips (2010), S. 146ff.

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Auswirkungen auf die Existenzsicherung vieler Armutsgruppen in den Entwicklungsländern, etwa im Falle von – häufig als ›landgrab‹ bezeichneten – Investitionen in landwirtschaftliche Produktionsräume und bei Preisspekulationen auf dem Nahrungsmittelmarkt.49 Gleichzeitig ist die Entstehung lokaler und regionaler Gegenbewegungen mit exklusiven und ausgrenzenden Zügen zu beobachten, wenn unter dem Schlagwort ›Globalisierung‹ subsumierte Prozesse – sei es in Form von ›Überfremdung‹ oder von wirtschaftlicher Rivalität – als Gefahr für die eigene Lebensweise wahrgenommen werden. Wachsende Forderungen nach Abschottung und einer erneuten Stärkung des Nationalen sowie eine wachsende Bedeutung von Grenzziehungen entlang nationaler, religiöser oder ethnischer Trennlinien illustrieren diese Tendenz. Ähnlich der Erzählung von einer universalen Geschichte der Entwicklung besteht in Globalisierungsnarrativen die Gefahr einer Naturalisierung von Prozessen, die letzten Endes jedoch Ergebnis menschlichen Handelns sind und keine Naturgewalt darstellen. Das Globalisierungsnarrativ mit seinem Zentrum und seiner Peripherie, seinen Gewinnern und Verlierern, bedient wie das Entwicklungsnarrativ eine bestimmte Konzeptualisierung von Raum, die Prozesse einer speziellen und von bestimmten Akteuren vorangetriebenen Entwicklung und Globalisierung als natürlichen Gang der Dinge erscheinen lässt: die Flexibilisierung von Arbeitsmärkten, die Privatisierung von klassischen staatlichen Aufgabengebieten, die Erschließung neuer Einflussgebiete für internationales Finanzkapital oder die Verschärfung der Immigrationspolitik. Solche globalen Entwicklungen werden als unvermeidlich und alternativlos dargestellt, anstatt Globalisierung als Projekt zu verstehen, das von bestimmten sozialen Kräften zu einer bestimmten Zeit, zu bestimmten Bedingungen und mit spezifischen Interessen aktiv vorangetrieben wird.50 So wie Modernisierungstheorien räumliche Unterschiede entlang eines Zeitstrahls des Fortschritts temporalisieren, werden auch hier räumliche Unterschiede fixiert und naturalisiert. Seit Ende der 1980er Jahre werden deswegen alternative Raumkonzepte entworfen, um unterschiedliche Erzählungen und Entwicklungen zu ermöglichen.

49 Vgl. Gertel (2010). 50 Massey (1999), S. 49ff.

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2.2 D ISKURSIVE ,

PERFORMATIVE UND MATERIALISIERTE R AUMBESETZUNGEN

Der Begriff der ›Besetzung‹ ist insbesondere in arabischen Raumvorstellungen so eng mit Palästina verknüpft, dass Bilder von der Sperranlage im Westjordanland und israelischen Panzern – vielleicht noch zugespitzt in der Ikonographie des Steinschleuder schwingenden palästinensischen Jungen – geradezu als Innbegriff aller besetzten Orte erscheinen. Besetzungen gehen jedoch über die physische Form von militärischer Besatzung und Territorialmarkierungen als Mauer, Checkpoint oder Grenzzaun hinaus. So lassen sich auch die Produktion von Räumen der Armut, des Drecks und des Terrorismus durch gängige Sicherheitsdiskurse oder die Etablierung eines japanischen Einflussgebietes in Jericho durch die jahrelange Präsenz japanischer Entwicklungsexperten als Arten der Raumbesetzung denken. Um die unterschiedlichen Mechanismen der Raumbesetzung zu differenzieren, wird im Folgenden auf einige Ansätze aus Diskurs- und Raumtheorie eingegangen. Territorialität ›Besetzung‹ wird zuallererst mit der Herrschaft über Räume in Form von Territorialität und Souveränität assoziiert. Der Begriff der ›Territorialität‹ wird im Allgemeinen zur Bezeichnung für die Kontrolle von Individuen, Gruppen, Staaten oder auch Institutionen (z. B. der Kirche) über ein abgegrenztes, zusammenhängendes Gebiet verwendet und gilt als die vorherrschende Räumlichkeit moderner Staaten. In einem weiteren Sinne können jedoch auch die Verräumlichung von Machtbeziehungen etwa in globalen Warenketten und die Aktionsräume transnationaler Korporationen als Territorialisierungen gefasst werden. Von zentraler Bedeutung für die Territorialität ist die Herrschaftsausübung, die Souveränität, über ein Gebiet mit festgelegten Grenzen. Gerade die Betrachtung staatlicher Grenzen als soziale, politische und diskursive Konstrukte macht es notwendig, ihre historische Kontingenz und Kontextabhängigkeit zu beachten.51 Grenzen werden aktiv produziert, verschoben, aufgelöst, reproduziert und verteidigt. In diesem Sinne ist Territorialität immer auch gewaltvoll. Elden weist darauf hin, dass die Etymologie des Begriffs ›Territorium‹ nicht eindeutig geklärt sei; er könne sowohl vom lateinischen ›terra‹ (Erde, Land) als auch von ›terrere‹ (erschrecken) abstammen, was auf das Angsteinflößende und Gewalttätige des Konzepts hinweisen würde. Die Herstellung und Bewahrung eines abgegrenzten

51 Newman & Paasi (1998).

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Raums und der souveränen Herrschaft über ihn macht die stete Aufrechterhaltung einer Drohgebärde notwendig.52 Gewalt ist von grundlegender Bedeutung für die Etablierung von Privateigentum, wie Blomley argumentiert: »…violence plays an integral role in the legitimation, foundation, and operation of a regime of private property.«53 Die Inbesitznahme von Land verändert die Eigentumsbeziehungen des angeeigneten Landes; durch die Besetzung von Land bzw. Raum werden in der Regel Eigentums- und Nutzungsrechte infrage gestellt, neu ausgehandelt und hergestellt. Das klassische Beispiel für diesen Prozess und für Marx’ Theorie der ursprünglichen Akkumulation ist die Enteignung englischer Bauern seit dem 16. Jahrhundert und die Parzellierung und Privatisierung des commons (Gemeindeland) durch die Enclosure-Bewegung in den darauffolgenden Jahrhunderten. Für die Aufteilung und Besetzung von Ländereien ist neben der Ausübung – oder Androhung – von Gewalt zunächst eine Messung des Territoriums, also eine Quantifizierung und Lesbarmachung des Raums, notwendig; er wird »…besessen, verteilt, kartiert, berechnet, begrenzt und kontrolliert.«54 Elden führt eine Genealogie technologischer Entwicklungen zur Vermessung und Kontrolle von Territorien auf, die wiederum zur Entstehung neuer Territorialitäten beigetragen haben: Fortschritte in der Geometrie, Entwicklungen in der Kartographie und Landvermessung, neue Techniken des Messens, Veränderungen in der maritimen Navigation und genauere Geräte zur Messung von Zeit und damit Länge. Auf diese Weise waren Raumwissenschaften schon immer nicht nur mit der Beschreibung, sondern vielmehr mit der Produktion von Räumen und Territorialitäten befasst.55 Blomley stellt die These auf, dass der Gewalt, die der Legitimierung, Gründung und Funktion von Regimes privaten Eigentums zugrunde liegt, eine spezifische Geographie zu eigen sei; sie schlage sich im Raum nieder und werde zugleich durch ihn ausgeübt; die Verräumlichungen der Außengrenze, der Vermessung und des Katasters spielten hierbei eine wichtige praktische und ideologische Rolle. Privateigentum ist Produkt und zugleich Instrument sozialer und politischer Aushandlungsprozesse, die jedoch von der scheinbar objektiven Natur von Gesetzen und geographischen Technologien verdeckt werden. (Physische) Gewalt liegt im Kern von Gesetzen und Eigentumsregimes, wird jedoch selbst etwa in der Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft oder Geographie meist ignoriert und externalisiert. Mit ihren vielfältigen sozialen Bedeutungszu-

52 Elden (2010), 806f. 53 Blomley (2003), S. 121. 54 Elden (2010), S. 810, Übersetzung SG. 55 Elden (2010), S. 809.

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schreibungen festigen internalisierte Katasterkarten von Eigentumsregimes in Form von scheinbarer Selbst-Disziplinierung soziale Beziehungen und Herrschaftsverhältnisse, die sich als neutrale, physische Gegebenheiten präsentieren. Die Vermessung und Kartierung des Raumes helfe, ihn zu naturalisieren, objektivieren, abstrahieren und entpolitisieren und damit die dem Privateigentum innewohnende Gewalt in den Hintergrund treten zu lassen:56 »A territorialization of property serves to displace attention from the violences between social subjects to the territory itself. […] Property itself is imagined as the relation between an owner and an inert space, rather than a politicized and perhaps violent set of relations between owner and others (including nonowners) […].«57

Die Territorialisierung von Eigentumsverhältnissen und ihre geographischen Repräsentationen und Imaginationen bewirken ähnlich wie Diskurse von Unterentwicklung und Entwicklung eine Objektivierung und Entpolitisierung politischer und sozialer (Miss-)Verhältnisse. Die Verlagerung der Herrschaftsbeziehung auf scheinbar neutrales Gebiet, auf eine Landkarte oder Katasterakte, naturalisiert und legitimiert diese Verhältnisse und lenkt von ihrer sozialen Konstruiertheit ab. Die Nutzungsrechte von Nutzern, die über keine schriftlich verbrieften Rechte verfügen mögen, laufen hierbei Gefahr, einfach übersehen oder nicht als legitim erfasst zu werden. Im israelischen Kontext stellt Yiftachel ›Räumen der Helligkeit‹, also der Legalität, Anerkennung und Sicherheit, Räume der ›Dunkelheit‹ gegenüber, in denen Rechtlosigkeit, Gewalt und Zerstörung herrschen. Dazwischen verortet er ›gray spaces‹, die ›grauen Räume‹ der urbanen Slums, informellen Lebensweisen und temporären Arrangements, die von staatlicher Verwaltung und Gewalt nicht direkt beseitigt, aber auch nicht anerkannt, sondern größtenteils ignoriert werden.58 Im palästinensischen Westjordanland, das mittlerweile von israelischer Siedlungsinfrastruktur stark durchsetzt ist, werden Rechtsansprüche von solcher gegenseitigen Exklusivität erhoben, dass die Inkorporierung dieser Ansprüche innerhalb eines Systems teilweise unmöglich erscheint. Es bleibt zu untersuchen, welche Raumbesetzungen solche Formen von grauen Räumen schaffen, und an welchen Stellen doch eine Inkorporierung und Legitimation suchende – etwa diskursive – Vereinnahmung stattfindet.

56 Blomley (2003). 57 Blomley (2003), S. 131f. 58 Yiftachel (2009), S. 243.

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Niemandsländer Besetzungen beinhalten stets eine Beanspruchung und Aneignung des Raumes und die mögliche Exklusion anderer. Einen Gegenentwurf zu solchen exklusiven Raumbesetzungen bildet Baduras Utopie der ›Niemandsländer‹, die sich einer normativen Fixierung entziehen und von niemandem dauerhaft besetzt werden können:59 »Das Niemandsland ist ein grammatisch unbesetzter Raum, in der Regel ein Zwischenraum, der sich zwischen Jemands aufspannt. Das Besondere dieses Zwischenraums ist das Fehlen einer normativen Textur, einer Grammatik, die bestimmte Ansprüche (Besitzansprüche, Geltungsansprüche) grundlegt, auf die Jemand von einem anderen (Jemand) verpflichtet werden kann. Niemandes Grammatik gilt im Niemandsland, es ist ein Raum, der keinen vorgegebenen Modus der Aktion und Interaktion denjenigen vorschreibt, die ihn betreten.«60

Wie Treibsand machten Niemandsländer eine dauerhafte Verankerung unmöglich, sie trügen kein Fundament für feste Glaubens-, Moral- und Normvorstellungen und eigneten sich nicht als Territorien, sondern erzwängen eine ständige Fortbewegung und Neuaushandlung. Diese Neutralität ermögliche erst »ein Leben in authentischer Pluralität« 61, da die Formen des Zusammenlebens und der Interaktion gemeinsam geschaffen würden und nicht einseitig festlegbar wären. Diese Vagheit wird jedoch ständig von Besetzungsbestrebungen der »Jemandslandbewohner« bedroht, die festen Boden unter den Füßen suchen und die Welt »vermessen, eingeteilt und reguliert«62 wissen wollen. In den besetzten palästinensischen Gebieten sind diese Besetzungen besonders deutlich zu beobachten, die Kreation von Niemandsländern scheint unerreichbar. Allerdings sollen Besetzungen hier nicht als alles bedeckende, kohärente Identitäten verstanden werden, sondern durchaus die Multiplizität der verschiedenen möglichen Besetzungen und ihre Gleichzeitigkeit sowie ihr Neben-/Über-/ Miteinander beinhalten. Darüber hinaus können Besetzungen durchaus unterschiedliche Reichweiten, Dauerhaftigkeiten und Qualitäten besitzen sowie unterschiedliche Formen annehmen. Besetzungen sollen nicht als ebenmäßige, hermetische Schichten zu verstehen sein, sondern vielmehr als offene Aushandlungsprozesse voller topographischer Untiefen, Fallgruben und Anhöhen mit der

59 Badura (2004 u. 2005). 60 Badura (2005), S. 51. 61 Badura (2005), S. 52. 62 Badura (2005), S. 51.

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inhärenten Möglichkeit zur Transformation und ohne die Allmacht zur Ausschließlichkeit. Raum und Gesellschaft Das Aufkommen neuer raumtheoretischer Ansätze Ende der 1980er Jahre, die das Newtonsche Konzept eines absoluten (Container-)Raums zu überwinden suchen, wird als Paradigmenwechsel, als ›spatial turn‹, in den Raum-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften angesehen. Statt als a priori gegebenes Behältnis mit objektiv messbaren Ausdehnungen soll Raum vielmehr als Produkt sozialer, politischer und kultureller Konstruktionsprozesse verstanden und gleichzeitig unter Berücksichtigung seiner Wirkungsmacht auf soziale Prozesse ins Zentrum der Analyse gerückt werden; gesellschaftliche Problemstellungen sollen auf ihre räumlichen Konditionen hin untersucht und soziale Forschung unter der Verwendung räumlicher Kategorien unternommen werden.63 Massey betont die Offenheit und soziale Konstruiertheit von Raum. Er ist als unabgeschlossenes Produkt von Wechselbeziehungen zu betrachten, das laufend neu hergestellt und verändert wird. In seiner Interrelationalität stellt Raum die Vorbedingung von Multiplizität dar, er steht für die gleichzeitige Koexistenz von Heterogenität und unterschiedlicher, aber gleichrangiger Geschichten. 64 Diese Offenheit des Raumes beinhaltet auch die Möglichkeit des Unerwarteten und Unvorhersehbaren, ein Element des Chaos; Raum lässt sich nicht fixieren, hat keine einheitliche Identität und Grenze, sondern er ist »inherently disrupted«.65 Das Zustandekommen des Räumlichen durch das Zusammentreffen einer Vielzahl verschiedener Geschichten und trajectories impliziert, dass die Produktion des Raumes stets ein machtgeladener Vorgang ist, bei dessen Untersuchung soziale Beziehungen eine zentrale Rolle einnehmen. Diese Machtbeziehungen – Massey spricht hierbei von »power-geometries« – gilt es insbesondere auch im Hinblick auf die Produktion von raumbezogenem Wissen zu beachten. 66 Orte werden nicht als kohärente Fixpunkte gedacht, sondern sie sind vielmehr die Treffpunkte – oder auch Punkte des Nicht-Treffens – verschiedener Verlaufslinien (trajectories) und somit die möglichen Entstehungsorte von etwas Neuem. Die Offenheit der Zukunft, die als unabdingbare Voraussetzung für (politisches) Handeln angesehen werden muss, wird nun auch für den Raum postuliert.67 Die-

63 Vgl. etwa Elden (2010), Massey (2005), Thrift (2003) und Warf & Arias (2009). 64 Massey (2005), S. 9. 65 Massey (1999), S. 37, und (2005), S. 6. 66 Massey (1999), S. 9, 21f, 100. 67 Massey (2005), S. 11f, 21f, 189.

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ses Raumverständnis macht es notwendig und ermöglicht es, die politischen Dimensionen von Raumproduktion sowie die Raumwirksamkeit politischer Aushandlungsprozesse, »the mutual imbrications of the spatial and the political«,68 zu untersuchen. Ein deutliches Beispiel für die Verflechtungen des Politischen mit dem Räumlichen sind Nationalstaaten, die räumliche Vorstellungen und auch Lebenswelten wie Mobilitäten stark dominieren und dennoch keine von sich aus gegebene Einheit oder Identität besitzen. Vielmehr sind sie eindeutig Produkte ihrer Zeit und ihrer gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die sich mit der Zeit auch in ihren geographischen Ausmaßen verändern; sie sind, um es mit Massey auszudrücken, »spatio-temporal events«.69 Der Raum dürfe nicht der Zeit untergeordnet werden: So wie in Entwicklungsdiskursen eurozentristische Vorstellungen von Fortschritt und Modernisierung eine spezifische historische Erfahrung zur Blaupause für alle Kulturen der Welt nähmen und dabei Geschichten und Zeitlichkeiten anderer Weltregionen ihrer eigenen unterordneten, reihten Globalisierungsnarrative marginalisierte Orte hinter den Zentren einer eng vernetzten Weltgemeinschaft auf einem Zeitstrahl ein und machten so räumliche Ungleichheit zu einer temporalen.70 Die Betonung der Gleichzeitigkeit – »You can’t go back in space-time.«71 – dient auch als Warnung vor der scheinbar natürlichen Empfindung, viele Regionen lebten noch in einer anderen Zeit, seien im negativen Sinne rückständig oder im positiven Sinne unberührt und unverfälscht. In der internationalen Entwicklungspolitik finden Raumbesetzungen statt, bei denen regionale, räumliche Unterschiede in die Zeitlichkeit eines Modernisierungsprozesses eingereiht werden. Große Machtgefälle und Ungleichheitsbeziehungen sind in der Natur von Entwicklungsprojekten angelegt und dürfen in der Untersuchung von Raumbesetzungen in der Entwicklungspolitik nicht außer Acht gelassen werden. Das 1974 veröffentlichte Werk »La Production de l’Espace« Henri Lefebvres gilt als eine der Grundlagen dieses veränderten Blicks auf Raum und Räumlichkeit. Analog zu Marx’ Untersuchung von Waren im Prozess ihrer gesellschaftlichen Produktion lenkt Lefebvre den Blick auf den Produktionsprozess von Raum, weg von bzw. über seine »dingliche Gestalt« hinaus.72 Er unterscheidet drei Formen von Räumen: den erfahrenen (perçu), den erdachten (conçu)

68 Anderson (2008), S. 226. 69 Massey (1999), S. 22f. 70 Massey (2005), S. 82. 71 Massey (2005), S. 125. 72 Lefèbvre ([1977] 2002), S. 4ff.

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und den gelebten (vecu) Raum. 73 Diese drei Raumebenen sind jedoch nicht scharf voneinander zu trennen und beeinflussen und durchdringen sich gegenseitig. Der erfahrene (perçu) Raum ist der Raum des Alltagerlebens und der physisch wahrnehmbaren Umwelt. Er wird durch die soziale Praxis reproduziert, während gleichzeitig die räumliche Praxis gesellschaftliche Zustände produziert. Erdachte (conçu) Räume sind Repräsentationen des Raumes, Diskurse und Abstraktionen des physischen und gesellschaftlichen Raumes, die insbesondere von Wissenschaftlern, Politikern oder Planern vorgenommen werden, um Räume und Handlungen überschaubar und darstellbar sowie auch steuerbar und gefügig zu machen. Somit haben die ›Repräsentationen des Raumes‹ auch wiederum ordnenden Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der gelebte (vecu) Raum, oder auch der ›Raum der Repräsentation‹, hingegen ist der Ort des möglichen Widerstands, der herrschende Raumordnungen unterlaufen kann. Er ist der Raum, der Wechselbeziehungen zu anderen Körpern und eine subversive Aneignung ermöglicht.74 Gerade dieses Konzept eines dritten Raumes beeinflusste die Arbeit anderer Theoretiker, etwa die Theorie kultureller Hybridität bei Bhabha75 und Sojas Konzept eines inklusiven Drittraumes, des thirdspace.76 Die Frage nach der Gewichtung von Diskursivem und Materiellem bzw. nach der Existenz einer Realität jenseits der Relativität menschlicher Wahrnehmung und Repräsentation ist Gegenstand ausführlicher Auseinandersetzungen. Massey warnt vor einer künstlichen Trennung zwischen Diskurs und einer Art vor-diskursiver physischer Realität, die im Sinne eines simplifizierten sozialen Konstruktivismus durch diskursive Wahrnehmungsfilter verschleiert würde. Eine solche strikte Trennung führe letzten Endes zu einem lähmenden Relativismus. Stattdessen plädiert sie dafür, anzuerkennen, dass jede Form des Existierens, sich Fortbewegens und sich Äußerns stets eine Verbindung mit der Umwelt herstelle, dass also nicht sämtliche menschlich erfassbare Realität lediglich ein Produkt von Diskursen sei; vielmehr seien sowohl diskursive als auch physische Umwelt stets Produkt von sozialen Beziehungen.77 Miggelbrink wendet sich gegen einen inflationären Gebrauch eines relativistischen Konstruktivismus, der allein noch keinen tieferen Erkenntnisgewinn mit sich bringe. Die Konzeptualisierung von Raum »als naturalisierendes Medium der Konstruktion der Welt durch kommu-

73 Lefèbvre ([1974] 2000). 74 Lefèbvre ([1974] 2000) und Gottdiener ([1993] 2002). 75 Bhabha, Homi (1994): The Location of Culture. London/New York: Routledge. 76 Soja, Edward (1996): Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined Places. Malden (MA) et al.: Blackwell. 77 Massey (1999), S. 58f.

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nizierende Systeme«78 ermögliche jedoch einen anderen Blick auf die Verwendung räumlicher Begrifflichkeiten (als sozialen Akt) und deren Dekonstruktion in Anbetracht ihrer kommunikativen und sozialen Funktion. Eine strikte Trennung zwischen physischem und gedachtem Raum wird häufig angesichts der Möglichkeiten von der Symbolkraft räumlicher Elemente, einer hybriden Verbindung von Materiellem und Immateriellem und ihrer gegenseitigen Konstituiertheit nicht für sinnvoll erachtet. 79 Ohne eine solche künstliche Trennung einführen zu wollen, werden im Folgenden verschiedene Aspekte von Raumproduktionen beleuchtet und für eine genauere Analyse in drei Kategorien unterteilt: erstens in diskursive, zweitens in performative und drittens in materialisierte Besetzungen. Diskursive Besetzungen und Repräsentationen In seiner Studie großangelegter staatlicher Reformprojekte wie der Kollektivierung der Landwirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion und in China identifiziert Scott vier Grundvoraussetzungen zur Durchführung solcher tiefgreifenden Interventionen. Neben einem autoritären Staat und einer marginalisierten Zivilgesellschaft hängen folgende zwei Aspekte eng mit dem zweiten Lefebvreschen Raum, dem erdachten (conçu), repräsentierten Raum zusammen: eine hochmodernistische (»high-modernist«) Ideologie und ein administrativer Ordnungszugriff, der Natur und Gesellschaft mit den technokratischen Mitteln des Staates, durch eine standardisierte und rationalisierte Erfassung in Statistiken, Katastern, Melderegistern, Karten etc., »lesbar« macht, jedoch nicht in ihrer Gesamtheit und Komplexität verstehen kann.80 Diese Analyse hängt eng mit der Kritik an Entwicklungstheorien zusammen, welche mit dem Ziel, die Lebensumstände ganzer Bevölkerungen zu verbessern, unter Anwendung abstrakter Modelle und Fortschrittspläne für tiefgreifende Umwälzungen in Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen plädieren. In der Entwicklungspolitik tritt die räumliche Produktivität von Diskursen deutlich zutage. Glasze und Mattissek gehen davon aus, dass sich über Diskurse »[…] die gegenseitige Verschränkung der Konstitution von Räumlichkeit und der Konstitution des Sozialen […]« untersuchen lässt.81 Als Beispiel gelten etwa die Gleichsetzung von räumlichen mit sozialen Differenzierungen und die Zuschreibung von raumbezogenen Identitäten. Gerade die vermeintliche Objektivität und Naturalisierung räumlicher Unterschiede unter-

78 Miggelbrink (2002), S. 348. 79 Werlen (2009), S. 145f. 80 Scott (1998). 81 Glasze & Mattissek (2009b), S. 15.

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stützt die Glaubwürdigkeit und Bedeutung solcher raumbezogenen Identifizierungsprozesse.82 Die Betonung räumlicher Unterschiede in den Diskursen von Entwicklung und Unterentwicklung trägt zusätzlich zu den naturalisierenden Effekten von Entwicklungsprojekten bei, auf die bereits hingewiesen wurde (vgl. Kap. 2.1). Die Wechselwirkungen zwischen sozialer und räumlicher Ungleichheit werden auch diskursiv produziert und reproduziert. 83 Wie bereits oben in Bezug auf Entwicklungsdiskurse diskutiert, werden bestimmte Wahrheiten hegemonial und andere wiederum ausgegrenzt; somit werden soziale Strukturen geschaffen und Machteffekte generiert.84 Strüver bezeichnet Diskurse als »raumzeit-spezifische Möglichkeitsbedingungen bzw. ›kulturelle Rahmungen‹ […], die das Denken und Handeln von – aber auch die Subjekte selbst – als individualisierte Personen innerhalb gesellschaftlich manifestierter Macht-Wissens-Komplexe konstituieren.«85 Als solche »raumzeit-spezifische Möglichkeitsbedingungen« sind sie jedoch auch stets historisch kontingent und Gegenstand von dynamischen Aushandlungsprozessen; sie beinhalten also auch die Möglichkeit des Widerstands innerhalb eines multidirektionalen Gefüges von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Foucault unterscheidet verschiedene Ebenen der Machtwirksamkeit – von der ›Gouvernementalität‹ als Regierungskunst über die ›Biomacht‹ als Bevölkerungskontrolle bis hin zur kleinsten Ebene der menschlichen Körperlichkeit in der ›Mikrophysik der Macht‹. Letztere Ebene, auf der die Machtverhältnisse »im wahrsten Sinne des Wortes ›ver-körpert‹«86 werden, verdeutlicht die diskursive Raumwirksamkeit. Ein Beispiel hierfür stellt der Fitnessdiskurs dar, der per Selbstregulierung (›Selbsttechnologie‹) auf den individuellen Körper einwirkt und gleichzeitig auch raumwirksam die Nutzung von bestimmten Orten, zum Beispiel von Parks, beeinflusst, die wiederum Steuerungsfunktionen für das Verhalten von Bevölkerungsgruppen übernehmen können.87 Hierin manifestieren sich die Verbindungen zwischen Diskurs, Performativität und Materiellem in der dialektischen Produktion von Räumlichkeit. Angesichts dieser Wechselwirkungen soll die Diskursanalyse »nicht als reine Sprachanalyse, sondern als ein

82 Glasze & Mattissek (2009c), S. 170–175. Vgl. zum objektivierenden Charakter alltagssprachlicher Raumbezüge auch Miggelbrink (2002), S. 345. 83 Belina & Dzudzek (2009), S. 143. 84 Glasze & Mattissek (2009b), S. 12–15. 85 Strüver (2009), S. 66. 86 Belina & Dzudzek (2009), S. 141. 87 Strüver (2009), S. 68–79.

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machtkritisches Projekt der Gesellschaftsforschung« 88 verstanden werden, das eng mit räumlichen Fragestellungen verknüpft ist. Performativität Auf die materiellen Aspekte gesellschaftlicher Raumproduktion wird weiter unten noch einzugehen sein, zunächst jedoch einige Bemerkungen zur sozialen Praxis der Diskursproduktion und der performativen Raumwirksamkeit sozialen Handelns. Die Produktion von Aussagen wird nicht als rein linguistische Übung, sondern vielmehr als soziale Praxis verstanden, deren zugrundeliegende gesellschaftliche Verhältnisse und Kräfte ebenso untersucht werden müssen, wie ihre soziale und räumliche Wirkungsmacht. Ein Diskurs gewinnt seine Macht nicht zuletzt durch die Aussagepraxis, die durch die Wiederholung bestimmte Regeln der Wissensproduktion festigt und fortschreibt. 89 Der Begriff der ›Performativität‹ stammt aus der Sprechakttheorie des Philosophen Austin, der darauf hinwies, dass Aussagen nicht nur ihren wortwörtlichen Inhalt transportieren, sondern darüber hinaus an die soziale Situation gebundene Handlungen mit bestimmten Effekten darstellen. Auf der Grundlage der Semiotik De Saussures haben Strukturalisten wie Lévi-Strauss und Barthes meta-sprachliche und nichtsprachliche Bedeutungssysteme in ihre Untersuchungen mit einbezogen.90 In der feministischen Philosophie Butlers werden Identitätskategorien wie ›gender‹ nicht als natürliche, a priori gegebene Realitäten verstanden, sondern vielmehr als performativ und in einer Selbst-Darstellung aufgeführt, die gesellschaftliche Regulierungen und kulturelle Normen verinnerlicht, (re-)produziert oder auch allmählich verändert. Auch Räume können in dieser Form performativ konstituiert und angeeignet werden.91 In ihrer Untersuchung der performativen Herstellung von sozialer Wirklichkeit und ökonomischen Beziehungen am Beispiel der Produktion von Märkten fassen Berndt und Boeckler mit dem Begriff der ›Performativität‹ »das Zusammenwirken von Ökonomik und Ökonomie bei der kulturellen Selbsthervorbringung ökonomischer Wirklichkeit.« 92 Aus dieser Perspektive wird die Funktion ökonomischer Modelle weniger in der Abstraktion und Darstellung sozialer, ökonomischer Wirklichkeit gesehen, sondern vielmehr als zentrales Instrument in der Transformation eben jener realen Ökonomie nach dem Vorbild ihrer Modelle. Gerade wirtschaftswissenschaftliche Theorien, Aus-

88 Belina & Dzudzek (2009), S. 130. 89 Belina & Dzudzek (2009), S. 133–146. 90 Vgl. Strüver & Wucherpfennig (2009). 91 Berndt & Boeckler (2007), S. 219f und Strüver & Wucherpfennig (2009), S. 111–118. 92 Berndt & Boeckler (2007), S. 222.

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bildungs- und Forschungsinstitutionen sowie Reformprogramme und Politikempfehlungen sind massiv an der Formierung der sozialen und ökonomischen Welt beteiligt, auch wenn sie sich gerne als unbeteiligte Außenstehende und neutrale Supervisoren betrachten. Der Aspekt der performativen Bedeutungszuschreibung von Räumen soll in der Untersuchung als ›performative Besetzungen‹ von den diskursiven und materiellen Besetzungen unterschieden werden, auch wenn diese miteinander verschränkt und gegenseitig konstitutiv sind: Einerseits verweist die Körperlichkeit sozialer Handlungen wiederum auf deren Materialität und andererseits sind diese sozialen Handlungen häufig diskursive Sprechakte – wiewohl sie nicht auf diese beschränkt sind. Die Rolle ökonomistischer Wissensproduktion ist auch in der Entwicklungspolitik von großer Bedeutung bei der Herstellung neuer Räumlichkeiten. Auch das alltägliche Auftreten verschiedener Akteure ist in höchstem Maße raumprägend: So verfestigt sich eine spezifische Form von Entwicklungsdiskursen und des Projektmanagements mitsamt ihren entsprechenden raumproduktiven Machteffekten in ritualisierten Arbeitstreffen und dem Auftreten ausländischer Entwicklungsexperten in der Szenerie ihrer zu entwickelnden Lokalitäten. In ihrer akteursorientierten Analyse eines Entwicklungsprojekts richtet Schlottmann etwa ihren Blick auf die ›sozialen Schnittstellen‹ (sowohl konkrete Orte als auch Institutionen sowie ein Projektbericht), an denen Akteure aufeinander treffen und ihre Interessen verhandeln. Diese sozialen Schnittstellen umfassen sowohl sozial-räumliche als auch physisch-räumliche Dimensionen und machen somit die Raumwirksamkeit des Projekts erkennbar.93 Über die Entwicklungspolitik hinaus wäre in Palästina etwa die Verinnerlichung von militärrechtlichen Gesetzen der Besatzungsmacht im tagtäglichen Passieren der omnipräsenten Checkpoints im Westjordanland als Beispiel für performative Raumbesetzungen zu nennen. Materialisierungen Gerade physische Komponenten der Besatzung wie die Checkpoints des israelischen Militärs und die Sperranlage im Westjordanland sind nicht nur Ort der performativen Aushandlung von Räumlichkeiten, sondern prägen Räume auf sehr machtvolle physische Weise. Sie können als Materialisierungen von Diskursen verstanden werden, wie etwa als die Verkörperung des israelischen Sicherheitsdiskurses, der sich bereits im auf israelischer Seite gebräuchlichen Namen des ›Sicherheitszauns‹ widerspiegelt. Gleichzeitig sind physische Aspekte jedoch nicht auf eine solche nachgeordnete Kategorie zu reduzieren, sondern in

93 Schlottmann (1998), S. 69–74.

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ihrer eigenen Raumwirksamkeit einzuschätzen. Physische Materialisierungen sind sowohl Ausdruck der Verhältnisse, in denen sie hergestellt wurden, als auch selbst sozial produktiv; gesellschaftliche Organisationsformen werden so über die Produktion des Raumes reproduziert, können aber auch verändert werden.94 Werlens Handlungstheorie geht von dieser Dualität aus: von intentional handelnden Akteuren, deren Handlungen räumliche Strukturen hervorbringen, die wiederum ihrerseits Konsequenzen für menschliches Handeln haben und dieses sowohl in der Form von physischen wie auch von sozio-kulturellen Umständen vorstrukturieren.95 Die physische Infrastruktur und architektonische Gestaltung der israelischen Besatzung ist ein augenfälliges Beispiel für die gegenseitige Konstituiertheit von physischer und sozialer Umwelt, ein Produkt politischer und sozialer Verhältnisse, das gleichzeitig diese sozialen Beziehungen sowie die Handlungen und Diskurse innerhalb der derartig besetzten Räume neu strukturiert. Der israelische Architekt Weizman untersucht in seinem Band »Hollow Land: Israel’s Architecture of Occupation« die Rolle der Architektur und Infrastruktur der israelischen Besatzung. Er argumentiert, dass diese physischen Raumbesetzungen eine elementare Funktion sowohl in der dreidimensionalen Kontrolle des Raumes als auch in ihrer symbolhaften Wirkung zur Naturalisierung der Raumbesetzungen ausüben.96 Die Rolle von Architektur und der physischen Gestaltung von Raum als Mittel zur Kontrolle und Herrschaft findet auch in postkolonialen und stadtsoziologischen Untersuchungen Beachtung. Caldeira analysiert zum Beispiel, wie die Diskurse über Verbrechen und (Un-)Sicherheit in der brasilianischen Stadt São Paolo zur Konstitution von Räumen der Unsicherheit und von urbanen Segregationsprozesse beitragen; 97 Davis beschreibt die Verwandlung von Los Angeles in eine Art Festung, in der öffentlicher Raum zunehmend schärfer kontrolliert wird und sich die Eliten mit Zäunen, Mauern, Kameras und privaten Sicherheitsdiensten vor medial verbreiteten Bildern eines gewalttätigen Mobs zu schützen versuchen.98 Foucault untersucht bei seiner Studie verschiedener Disziplinareinrichtungen wie der Klinik und des Gefängnisses die Wirksamkeit räumlicher Anordnungen, insbesondere des Panopticons, auf soziale Verhältnisse und Beziehungen.99 Auch

94 Gottdiener ([1993] 2002), S. 24. 95 Werlen (1995). 96 Weizman (2008, deutsche Ausgabe). 97 Caldeira (2000). 98 Davis (1990). 99 Foucault ([1976] 1992).

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wenn er keine ausgearbeitete Raumtheorie vorlegt,100 geht der in späteren Jahren von Foucault verwendete Begriff des ›Dispositivs‹ über das Diskursive hinaus und soll daneben auch »Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze« umfassen; dieses »heterogene Ensemble« beinhaltet also »Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes.«101 In Anlehnung an solche erweiterten Konzeptionen wird in der vorliegenden Arbeit von einem umfassenderen Diskursverständnis ausgegangen, welches nicht allein Textproduktion im rein wörtlichen Sinne betrachtet, sondern auch institutionelle und materielle Aspekte einzubeziehen sucht. Für eine differenziertere Analyse werden diskursive, performative und materielle Besetzungen unterschieden, ohne dass deren Verknüpfungen und gegenseitige Bedingtheit hierbei etwa in einer künstlich scharfen Trennung von Physischem und NichtPhysischem aufgebrochen werden soll.

2.3 ANALYSE

MULTIPLER

B ESETZUNGEN

In den 1990er Jahren entstandene Theorieansätze befassen sich mit der Wissensproduktion über Entwicklung selbst, welche aufbauend auf Foucaults Diskurstheorie und Saids Überlegungen zur westlichen Konstruktion des Orients in erster Linie als hegemonialer Diskurs der Moderne verstanden wird. Die Teleologie der ›Entwicklung‹ ist bereits im Begriff angelegt: Ein präexistenter Zielzustand einer Gesellschaft, der ›ent-wickelt‹ werden muss aus Hüllen der Unterentwicklung, Armut und Rückständigkeit. Der Entwicklungsdiskurs legitimiert entwicklungspolitische Interventionen in den ›Entwicklungsländern‹, die teilweise gravierende Eingriffe in die lokalen Strukturen darstellen, aber auch bestimmten Akteuren neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Solche Interventionen tendieren dazu, gesellschaftliche Strukturen von Ungleichheit fortzuschreiben und Disparitäten zu verstärken. In Form von ungeplanten ›Instrument-Effekten‹ führen Entwicklungsprojekte zudem laut Ferguson zu einer Ausbreitung bürokratischer Staatsmacht und einer Entpolitisierung sozialer und politischer Probleme und Disparitäten durch die Anwendung technizistischer Lösungsansätze.102 Diese Überlegungen sind fruchtbar für die Untersuchung der Raumwirksamkeiten eines konkreten Entwicklungsprojekts, da sie sowohl auf die enge

100 Vgl. allerdings das Konzept der Heterotopien bei Foucault (1986). 101 Foucault ([1978] 2000), S. 119f. 102 Ferguson (1994).

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Verbindung von Macht und Wissensproduktion als auch auf die soziale Konstruiertheit von Räumen verweisen. Der diskurstheoretische Ansatz der postdevelopmentalists wird hier also mit raumtheoretischen Ansätzen verknüpft, die sich mit der sozialen Konstitution von Räumen und deren gesellschaftlicher und politischer Wirksamkeit beschäftigen. Wird Raum als Produkt konflikthafter gesellschaftlicher Aushandlung begriffen, so ermöglicht dies die Untersuchung unterschiedlicher Akteursformationen, die an diesen Aushandlungsprozessen beteiligt sind. Das Postulat einer grundsätzlichen Offenheit des Raumes transportiert auch das Konzept der Multiplizität: Es ist ein Raum der Koexistenz verschiedenster Akteure und potenzieller Geschichten, einer offenen Zukunft.103 Aus dieser Unbegrenztheit heraus findet eine konkrete Konstellation der Räumlichkeiten statt, ein Zusammentreffen unterschiedlicher Verlaufslinien, das jedoch niemals alternativlos, sondern stets kontingent und somit erklärungsbedürftig bleibt. Die Akteurspositionen – die ›Machtgeometrien‹ ihrer Beziehungen – schlagen sich im Aushandlungsprozess nieder, wenn dieses eine konkrete Ereignis hervorgebracht wird, während die Multiplizität anderer Möglichkeiten nicht realisiert wird. Seit den 1990er Jahren steht Palästina wie kaum ein anderes Land im Fokus internationaler Entwicklungspolitik. Darüber hinaus sind in den besetzten Gebieten verschiedenste Akteure kontinuierlich dabei, Räume mit bestimmten Bedeutungen und Markierungen zu besetzen und raumwirksame Interventionen vorzunehmen – nicht nur in arabischen Raumvorstellungen stehen die Gebiete für ›das besetzte Land‹ schlechthin. Diese Prozesse der Raumaneignung im weiteren Sinne werden hier als ›Besetzungen‹ bezeichnet und dienen als zentrale Analysekategorie der Arbeit. Ihnen gegenüber steht Baduras Utopie der ›Niemandsländer‹,104 die sich einer normativen Fixierung entziehen und von niemandem dauerhaft besetzt und beherrscht werden können. Im Kontrast hierzu beinhalten die Besetzungen stets eine territoriale Beanspruchung und Aneignung des Raumes und die potenziell gewaltvolle Exklusion anderer. Wie die Besetzung eines leerstehenden Hauses oder die Vereinnahmung eines öffentlichen Raumes durch eine Personengruppe kann eine solche Besetzung offensive politische Ansprüche transportieren. Besetzungen können jedoch auch wesentlich subtilere und weniger aus dem alltäglichen Sprachgebrauch intuitiv assoziierte Formen annehmen. Das Konzept der Besetzung geht in dieser Arbeit also über die physische Militärbesatzung hinaus und dient auch der Analyse anderer Raumaneignungen. Palästina ist nicht nur ein militärisch besetztes Land, es wird diskursiv zu Räumen der Unsicherheit, des Terrorismus und der Unterentwicklung, aber auch des Be-

103 Vgl. Massey (2005). 104 Badura (2004).

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freiungskampfes, der internationalen Solidarität und der Friedensprojekte gemacht; verschiedene Geberländer sichern sich Einflussgebiete und markieren Territorien. Gerade die Exotenrolle, die Japan häufig zugeschrieben wird, dient als Anlass, die zugrundeliegenden Dynamiken der Besetzungen aufzudecken. Indem untersucht wird, wie unterschiedliche Akteure vermittels und anlässlich eines japanischen Entwicklungsprojektes Raumbesetzungen vornehmen und wie sich diese Besetzungen mit anderen überlagern und verkoppeln, kann gezeigt werden, dass diese Konstellationen keineswegs einen Sonderfall darstellen. Zwei Annahmen liegen der Untersuchung zugrunde: (1) Besetzungen erfordern weder die physische Kopräsenz der beteiligten Akteure, noch müssen sie stets Gegenstand einer intentionalen und zielgerichteten Handlung darstellen. Besetzungen können als unbeabsichtigte Nebeneffekte einer Intervention auftreten und auch durch physisch oder sozial weit entfernte Vorgänge initiiert und exekutiert werden, die nicht unbedingt in augenscheinlicher Beziehung zu dem besetzten Raum stehen müssen. (2) Raumbesetzungen können unterschiedliche Formen annehmen. Sie müssen nicht notwendigerweise die physische Form etwa einer militärischen Besatzung annehmen; Besetzungen werden ebenso auf diskursiver und performativer Ebene vorgenommen und bedienen sich bisweilen einer weitaus subtileren Symbolik. Theoretiker des postdevelopment legen einen großen Schwerpunkt auf die diskursive Wissensproduktion von ›Entwicklungsräumen‹. Neben der diskursiven Produktion von Räumen im Sinne einer textlichen und kulturell-symbolischen Praxis wird auch auf die Bedeutung materieller und performativer Aspekte der Raumproduktion verwiesen. In dieser Arbeit werden Entwicklungsdiskurse nicht auf sprachliche Äußerungen reduziert, sondern auch auf Institutionen, Verfahrensweisen und Praktiken ausgedehnt. Eine essentialistische scharfe Trennung von Diskursivem, Performativem und Materiellem ist angesichts der Überschneidungen dieser Bereiche, ihrer gegenseitigen Konstituiertheit und der sozialen und politischen Produktion gesellschaftlicher Strukturen und Räume weder sinnvoll noch praktikabel. Für eine differenzierte Analyse der Mechanismen der Besetzungsprozesse sollen diese Aspekte dennoch in die Betrachtung miteinbezogen werden. Folgende Fragestellungen leiten die Untersuchung: • • •

Welche Raumbesetzungen werden im japanischen Entwicklungsprojekt Corridor for Peace and Prosperity im Jordantal vorgenommen? Wer ist an den Besetzungen von Räumen beteiligt und handelt aus welcher Position heraus? Wie werden diese Besetzungen vorgenommen und welche Mechanismen prägen die Besetzungsprozesse?

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Vor der eigentlichen Behandlung dieser Fragen ist jedoch eine Kontextualisierung des Fallbeispiels notwendig, da der Corridor for Peace and Prosperity nicht als isoliertes ›Projektpaket‹ losgelöst von seiner Geschichte und Lokalität untersucht werden kann. Für das Verständnis der entwicklungspolitischen Problematiken in Palästina sowie der japanischen Entwicklungspolitik im Nahen Osten ist eine historische und strukturelle Einordnung des Untersuchungsgegenstands erforderlich. Die verschärften sozialen Disparitäten (und Verschiebungen) in der palästinensischen Gesellschaft seit dem Beginn des Osloer Friedensprozesses können als wichtiger Faktor in der Entstehung und Wirkung von Entwicklungsprojekten in den palästinensischen Gebieten nicht außer Acht gelassen werden. Daher gehen der eigentlichen Analyse zwei Kontextualisierungen voraus: Ein eher historisch orientiertes Kapitel zeichnet die Geschichte der japanischen Entwicklungspolitik bis zur gegenwärtigen Konstellation im Nahen Osten nach (vgl. Kap. 3). Auch wenn gerade die jüngere Geschichte von entwicklungspolitischen und sogar militärischen Interventionen Japans im Nahen Osten dominiert ist, soll nicht von einer unidirektionalen Einflussnahme Japans im Nahen Osten ausgegangen und stattdessen die Geschichte des Aufeinandertreffens verschiedener Verlaufslinien geschrieben werden. Ein Überblick über die speziellen ökonomischen Problemfelder der palästinensischen Besatzungssituation verortet dann das Fallbeispiel in der Geschichte Palästinas als ›Entwicklungsland‹ und in der besonders prekären Situation im Jordantal (vgl. Kap. 4). Eine Multiplizität von Akteuren aus unterschiedlichen Kontexten und Handlungsfeldern versucht an bestimmten Zielen orientiert, das Entwicklungsprojekt in eine gewünschte Richtung zu lenken. In dieser Arbeit sind das etwa Gruppierungen in der palästinensischen und der israelischen Gesellschaft, die ein erhöhtes Interesse daran zeigen, die Errichtung von Industrieparks in den palästinensischen Gebieten voranzutreiben, und entsprechende diskursive Formationen reproduzieren. Gleichzeitig organisieren sich palästinensische Graswurzelbewegungen im Protest dagegen. Das Engagement einzelner Spitzenpolitiker kann dem Projekt eine besondere Sichtbarkeit und Dynamik verleihen. Das Gleiche gilt für die Geberseite – in diesem Fall Japan: Die Vernetzung wirtschaftlicher und politischer Eliten, Interessen der Exportwirtschaft, innenpolitische und innerparteiliche Dynamiken sowie institutionelle Faktoren innerhalb des Entwicklungsapparats spielen eine Rolle in der Formulierung und Implementierung von Entwicklungspolitik. Der Stellenwert von bewussten Interessen, Strategien und Handlungsfähigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit ist jedoch nicht überzubewerten. Ferguson betont deren Unberechenbarkeit: 105 »[…] intentional

105 Ferguson (1994), S. 16–20.

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plans interacted with unacknowledged structures and chance events to produce unintended outcomes which turn out to be intelligible not only as the unforeseen effects of an intended intervention, but also as the unlikely instruments of an unplotted strategy.« 106 Reale Entwicklungsprojekte können nicht als reiner Ausdruck rationaler Absichten verstanden werden. Einerseits können die Pläne selbst der mächtigsten Akteure im komplexen Zusammenspiel vielschichtiger Faktoren leicht fehlschlagen, andererseits können etwa Entwicklungsprojekte in Form von Instrument-Effekten nie explizit gewordenen Interessen quasi ungeplant förderlich sein. Gleichzeitig soll hier nicht die Möglichkeit intentionalen Handelns negiert und die beteiligten Akteure als handlungsunfähige Opfer übermächtiger Strukturen dargestellt werden, zumal sie dadurch jeglicher Verantwortung für ihr Handeln enthoben würden.107 Im ersten Schritt der Analyse des Fallbeispiels erfolgt also eine Identifizierung von Akteursfeldern, die an Besetzungsprozessen um den Corridor for Peace and Prosperity beteiligt sind (vgl. Kap. 5). Ausgehend davon, dass eine Multiplizität von Akteuren auf verschiedenen Feldern aus diversen Positionen heraus an der Aushandlung teilnimmt, lässt sich im vorliegenden palästinensischen Beispiel eine besonders komplexe Gemengelage unterschiedlichster Interessengruppen feststellen: verschiedene Geberstaaten mit speziellen geostrategischen und ökonomischen Anliegen sowie bürokratischen Verwaltungsapparaten, israelische Sicherheitsbedürfnisse, palästinensisches Streben nach Souveränität, unternehmerische Interessen, divergierende Positionen der lokalen Bevölkerung und Zivilgesellschaft. Diese Akteure werden fünf – binnendifferenzierten – Bereichen zugeordnet: (1) lokale Bevölkerung und Zivilgesellschaft in Palästina, (2) israelische Netzwerke in Politik, Wirtschaft und Armee, (3) palästinensische Netzwerke von Administration und Wirtschaft vor allem im Dunstkreis der PA, (4) das internationale Umfeld der Geberländer und (5) das japanische ›Eiserne Dreieck‹ aus Regierung, Bürokratie und Großunternehmertum. Bei der anschließenden Untersuchung der unterschiedlichen Besetzungsprozesse um den Corridor for Peace and Prosperity (vgl. Kap. 6) sind verschiedene Räume von Bedeutung: Antagonistische Rechtsansprüche ringen um Ressourcenräume im ›Heiligen Land‹; sichere und unsichere Räume entstehen auf unterschiedlichen Ebenen und in einem komplexen Nebeneinander diverser Rechtssysteme; Entwicklungsmodelle gestalten sich besonders prägnant in Form von grenznahen Industrieparks; Räume des Friedens und der Kooperation werden

106 Ferguson (1994), S. 20. 107 Für eine übersichtliche Diskussion handlungstheoretischer Konzepte in der Sozialgeographie (auch im Entwicklungskontext) siehe Schlottmann (1998), S. 39–44.

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von mächtigen Gegendiskursen angefochten; nicht zuletzt werden auch japanische Ansprüche (innen- wie außen-)politisch verhandelt. Abschließend werden die zugrundeliegenden Dynamiken dieser Raumbesetzungen untersucht und verglichen. Hierbei stellt sich die Frage, warum aus einer Multiplizität von Möglichkeiten genau diese Prozesse stattgefunden haben. Es ist zu erwarten, dass der Corridor for Peace and Prosperity zum einen durch die spezifischen Besonderheiten eines japanischen Entwicklungsprojekts im palästinensischen Kontext militärischer Besatzung und defizitärer Staatlichkeit hervorsticht. Zum anderen lassen sich jedoch gerade in diesem Fall universelle Problematiken und Dilemmata der internationalen Entwicklungspolitik aufzeigen.

3. Japans ›Entwicklungsräume‹: Vom Imperialismus zur Symbolpolitik

Die Infragestellung der Dichotomie von Orient und Okzident beinhaltet die Herauslösung der Geschichte der Moderne aus einer Erzählung westlichen Fortschritts und progressiver Entwicklung und ihre Kontextualisierung als eine Erzählung neben vielen. 1 Japans ambivalentes Verhältnis zum Westen und zur Moderne scheint eine solche Simplifizierung ohnehin zu erschweren, da Japan kein europäisches Land ist, sich selbst von westlichen Kolonialbestrebungen bedroht sah und nach dem Sieg gegen Russland Anfang des 20. Jahrhunderts zeitweilig die Rolle eines asiatischen Hoffnungsträgers im Kampf gegen den westlichen Kolonialismus gespielt hat. Allerdings wird Japan als ehemalige Kolonialmacht und zeitweise größtes Geberland von Entwicklungsgeldern auch häufig zu einem modernen, industrialisierten und entwickelten Westen gezählt. Die verschiedenen Verflechtungszusammenhänge und Verlaufslinien der jüngeren gemeinsamen Geschichte sind von entwicklungspolitischen und sogar militärischen Interventionen Japans im Nahen Osten dominiert. Diese Gewichtung impliziert jedoch keinen unidirektionalen Prozess – die Beeinflussung erfolgt nicht nur in der Entwicklungspolitik2 in beide Richtungen. Das Verhältnis zum Nahen Osten hat in der Vergangenheit gewichtige Auswirkungen nicht nur auf die japanische Außen- und Energiepolitik gehabt. Nach dem zweiten Golfkrieg setzten außerdem heftige Diskussionen ein, die sich nicht zuletzt in interne Auseinandersetzungen über die nationale Identität Japans und seine Rolle in der Welt übertrugen.

1 2

Massey (1999), S. 13. Vgl. auch McEwan (2009). Vgl. Leheny & Warren (2009b, S. 3): »[…W]e think of how Japan too is transformed in the process of giving aid.«

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3.1 J APAN

ALS

L EITGANS

In der Rhetorik der gegenwärtigen japanischen Entwicklungspolitik – aber durchaus nicht nur dort – wird nicht selten die besondere Rolle Japans bemüht, das als erstes nicht-westliches Land erfolgreich eine nachvollziehende Entwicklung durchlaufen habe und somit anderen Entwicklungsländern zum Vorbild diene. In der Tat hat Japan weitreichende Veränderungen durchgemacht, seit militärisch deutlich überlegene amerikanische Kriegsschiffe in den 1850er Jahren die Öffnung des Landes erzwangen und der sogenannten Sakoku-Politik (Landesabschließungspolitik) 3 der Militärregierung (bakufu) ein Ende setzten. Um der Kolonialisierung und somit dem Schicksal vieler anderer asiatischer Staaten zu entgehen und die durch ungleiche Verträge eingeschränkte Souveränität zu behaupten, wurde in Japan ein entschiedener Modernisierungskurs eingeschlagen. Diese Transformationen vollzogen explizit die Entwicklung der westlichen Staaten nach. Einer ihrer bedeutendsten Verfechter war der Intellektuelle Fukuzawa Yukichi (1835–1901), der Japan in einer ›halbzivilisierten‹ Position zwischen der ›Zivilisation‹ der westlichen Länder und der ›Barbarei‹ Asiens sah. Unter dem Motto ›datsu-A‹ (Ausstieg aus Asien) sprach er sich für die Abwendung von Asien hin zum Westen aus.4 Oft wird die Nachahmung westlicher Vorbilder zur Erklärung für Japans Entwicklungserfolg innerhalb kürzester Zeit angeführt. Es darf jedoch bei der Betrachtung dieser Prozesse nicht außer Acht gelassen werden, dass Japan sich zum Zeitpunkt des Auftauchens der amerikanischen ›schwarzen Schiffe‹ durchaus nicht in einem Zustand völliger Abschottung und Jahrhunderte währender Stagnation befunden hatte. Vielmehr hatten sich bereits in den Jahrhunderten zuvor Strukturen einer neuen städtischen Kaufmannsschicht herausgebildet, die den folgenden Aufbau einer wirtschaftlichen und militärischen Großmacht in der Konfrontation mit dem westlichen Imperialismus begünstigten. Manzenreiter argumentiert daher, ein spezifisch japanisches Entwicklungsmodell könne höchstens auf bestimmten vorkapitalistischen Traditionen beruhen. 5 Insofern kann nicht unbedingt von einer Übertragbarkeit der japanischen Erfahrung auf andere Länder – ein ohnehin fragwürdiges Konzept – ausgegangen werden.

3

Seit den 1630er Jahren bemühte sich das bakufu, Japan möglichst von äußerlichen Einflüssen abzuschirmen (Zöllner (2006), S. 140–143).

4

Zur sogenannten Meiji-Restauration vgl. Gordon (2003), S. 46–91, Hartmann (1996), S. 21–47 und Zöllner (2006), S. 140–194.

5

Manzenreiter (2006), S. 101.

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Der von Japan eingeschlagene Kurs blieb allerdings keineswegs ohne Einfluss auf seine ostasiatischen Nachbarländer; deren Kolonialisierung wird häufig als Ausgangspunkt der japanischen Entwicklungszusammenarbeit angesehen, die Kontinuitäten zu Infrastrukturprojekten der Kolonialverwaltung aufwies. Unter dem zynischen Namen ›dai tōa kyōeiken‹ (Großostasiatische Wohlstandssphäre) wurde das japanische Herrschaftsgebiet ausgedehnt, bis es in den 1940er Jahren ein Gebiet von der Mandschurei bis Burma umfasste. Diese Aggressionspolitik lief nun unter dem Vorwand einer ›Befreiung‹ vom westlichen Kolonialismus und der Modernisierung und Entwicklung der besetzten Gebiete. 6 Aus dieser Zeit stammt auch eine japanische Sonderform der Modernisierungstheorien: das sogenannte ›Gänseflug-Modell‹. Im Japan der 1930er Jahre entwarf der Ökonom Akamatsu basierend auf den Entwicklungserfahrungen der japanischen Textilindustrie ein Modell der nachholenden Entwicklung, das die Etablierung immer neuer Industriezweige innerhalb einer nationalen Ökonomie und den Transfer dieser Entwicklungen in andere, weniger entwickelte Länder zum Inhalt hatte. Nach diesem Modell verläuft der Prozess der Industrialisierung eines Landes in Zyklen von Import, Produktion und Export. Wenn ein bis dahin weitgehend isoliertes Land mit der Weltwirtschaft in Beziehung tritt, importiert es Verbrauchsgüter aus einem weiter entwickelten Land. Der einheimische Markt für billige Industriegüter wächst und deren Importe steigen, sodass schließlich eine lokale Industrialisierung und Produktion dieser Güter beginnt – zunächst importsubstituierend für den lokalen Markt und später auch für den Export. Für die Produktion ist vorerst der Import von Kapitalgütern nötig, deren einheimische Produktion in einem zweiten Zyklus ebenfalls beginnt, womit eine höhere Stufe der Entwicklung erreicht wird. Seine komparativen Kostenvorteile nutzend baut ein unterentwickeltes Land zunächst arbeits- und ressourcenintensive Industrien auf, bevor diese wiederum durch technologie- und kapitalintensivere Industrien verdrängt und, den komparativen Kostenvorteilen folgend, in Länder mit niedrigerem Entwicklungsstand und Lohnniveau verlagert werden. In Japan beispielsweise ließ sich beginnend im 19. Jahrhundert der sukzessive Aufbau von Textil-, Stahl-, Schiffsbau-, Automobil- und Computerindustrien beobachten.7 Akamatsu benannte sein Entwicklungsmodell ›gankō keitai hattenron‹ (Entwicklungstheorie der Formation fliegender Gänse, im Folgenden kurz ›Gänseflug-Modell‹ genannt) nach der Form der überlappenden Zeitwertkurven von Import, Produktion und Export, die ihn an die V-Formation eines Zugs fliegen-

6

Für deine detailliertere Darstellung der Ereignisse siehe Beasley (1987), Gordon (2003), Hartmann (1996), Kindermann (2001) und Zöllner (2006).

7

Kojima (2000) und Korhonen (1994).

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der Gänse erinnerten. Die Figur des Gänseflugs wurde auch auf die Position einzelner Länder zueinander – nach dem jeweiligen Entwicklungsstand hintereinander aufgereiht – übertragen. Die Leitgans an der Spitze des Zuges repräsentiert das am weitesten fortgeschrittene und entwickelte Land, das immer weitere Innovationen und Raffinierungen hervorbringen muss, um seine Position zu halten und nicht im Zuge des catching-up von den nachfolgenden Ländern überflügelt zu werden. Letztere verlagern selbst die Produktionsstandorte weniger hochtechnisierter Güter in im Gänsezug hinter ihnen positionierte Länder. Auf diese Weise bewegt sich der gesamte Zug unaufhaltsam vorwärts – immer größerem Fortschritt entgegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerieten Akamatsu und sein Gänseflug-Modell allerdings aufgrund ihrer Verstrickungen in die Legitimierung Japans kolonialer Unternehmungen in Misskredit.8 Die Kriegsniederlage und der Verlust des Kolonialreiches in Ost- und Südostasien markieren auch den Ursprung der Institutionalisierung der japanischen Entwicklungspolitik. Im Friedensvertrag von San Francisco verpflichtete sich Japan 1951, die Schadensansprüche jener Länder zu anzuerkennen, die Opfer des japanischen Imperialismus gewesen waren. Von der Mitte der 1950er Jahre bis 1977 leistete Japan Reparationszahlungen in Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden US-Dollar.9 Japan selbst erhielt während der Besatzungszeit (1945–1952) bilaterale Wirtschaftshilfe von den USA und wurde anschließend nach Indien zum zweitgrößten Schuldner bei der Weltbank.10 Gleichzeitig leistete Japan jedoch bereits seit 1954 technische Hilfe im Rahmen des United Nations Expanded Programme of Technical Assistance des Colombo Plan for Cooperative Economic Development in South and Southeast Asia; 1958 wurde der erste bilaterale Kredit an Indien vergeben.11 In den ersten Jahrzehnten war der japanische Entwicklungsapparat von Ressortrivalitäten und unübersichtlichen Zuständigkeiten verschiedenster Ministerien und Behörden geprägt; vor allem vier Ministerien – das Ministry of Foreign Affairs (MOFA), das Ministry of Finance (MOF), das Ministry of International Trade and Industry (MITI) und die Economic Planning Agency (EPA) – rivalisierten um die Verteilung von Verantwortlichkeiten und bürokratischen Einfluss bei der folgenden Institutionalisierung der Entwicklungszusammenarbeit.12 Eine

8

Korhonen (1994) und Manzenreiter (2006).

9

Arase (1995), S. 24–34, Kindermann (2001), S. 417-435, Murai (1999) und Zöllner (2006), S. 384–400.

10 Hook et al. (2001), S. 333. 11 Furuta (2004), S. 24 und Yasutomo (1995), S. 5f. 12 Rix (1980), S. 22–25, 35f, 41.

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erste Konsolidierung der Institutionen erfolgte 1974 durch die Schaffung der Japan International Cooperation Agency (JICA), die oben genannten Probleme blieben jedoch bestehen. Zuständigkeitsstreitigkeiten, Rivalitäten und eine schlechte Koordination zwischen den zahlreichen zuständigen Institutionen bildeten auch weiterhin eine der größten Schwächen der japanischen Entwicklungspolitik. 13 Lange Zeit bestand weder in der Öffentlichkeit noch in den zuständigen Ministerien eine klare und einheitliche Vorstellung von ›Entwicklungszusammenarbeit‹. Reparationszahlungen, private und staatliche Exportförderungen, Auslandsinvestitionen und Entwicklungsgelder im Sinne von Official Development Assistance (ODA) waren in den unterschiedlichen Konzepten von keizai kyōryoku (Wirtschaftszusammenarbeit) der vier Ministerien miteinander vermengt. Die Begriffe ›keizai kyōryoku‹, ›ODA‹ und ›kaihatsu enjo‹ (Entwicklungshilfe) werden noch immer nicht trennscharf verwendet.14 Die Reparationszahlungen stellten die Ursprünge der japanischen Entwicklungspolitik dar und dienten auch der Förderung japanischer Exporte.15 Reparationszahlungen und Entwicklungsgelder ermöglichten Japan den weiteren Ausbau eines dichten Netzes bilateraler Wirtschaftsbeziehungen in Asien, die Erschließung neuer Absatzmärkte und den Zugang zu Rohstoffquellen.16 Exportförderung und eine regionale Schwerpunktsetzung auf Südostasien sollten auch in den folgenden Jahrzehnten prägende Elemente bleiben. Die japanische Industrie konzentrierte sich seit den 1960er Jahren zunehmend auf kapital- und wissensintensive Produktionszweige, während arbeits- und verschmutzungsintensive Leicht- und Schwerindustrien unter dem gezielten Einsatz von Entwicklungsgeldern in Nachbarländer wie Taiwan und Südkorea verlagert wurden.17 Akamatsus Schüler Kojima Kiyoshi entwickelte dementsprechend das Gänseflug-Modell weiter und konzentrierte sich unter anderem auf die regionale Übertragung von Entwicklungsprozessen. Internationale Arbeitsteilung wird hier positiv beurteilt, solange sie auf ›pro-trade foreign direct investments‹, abgekürzt ›PROT-FDI‹, beruht. Unter PROT-FDI versteht Kojima Investitionen, welche die Produktion oder Teile der Produktion aus denjenigen Industriezweigen des investierenden Landes abziehen, die aufgrund eines gestiegenen Lohnniveaus internationale komparative Kostennachteile haben. Auf diese Weise würden die komparativen Vorteile beider Länder vermehrt und allgemeine Pro-

13 Pohl (1997). 14 Arase (1995), S. 59–67. 15 May (1989), S. 9ff und Murai (1999). 16 May (1989), S. 11ff und Rix (1980), S. 27f. 17 Arase (1995).

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duktivität angeregt.18 Der Export japanischer Industrien in die asiatischen Nachbarländer seit dem Ende der 1960er Jahre hat zu dichten arbeitsteiligen Verflechtungen in Ostasien und zu einer großen wirtschaftlichen Präsenz Japans in der Region beigetragen. Das Gänseflug-Modell wird so auch zur Erklärung des ›ostasiatischen Wunders‹ der durch die Tigerstaaten vollzogenen Entwicklung herangezogen und fand in den 1990er Jahren teilweise Eingang in die Debatte um ›asiatische Werte‹ (Asian values).19 Von heutigen modernisierungstheoretischen Ansätzen des Neoliberalismus unterscheidet sich das Gänseflug-Modell vor allem in der Sichtweise auf den Staat, dem es eine wesentlich größere Rolle in der Wirtschafts- und Industriepolitik einräumt. 20 Die unterschiedlichen Positionen zur Rolle des Staates und zu den sogenannten asiatischen Werten traten nicht zuletzt 1993 in einem Konflikt Japans mit der Weltbank über den Weltbankbericht »The East Asian Miracle« zutage (vgl. Kap. 3.3).

3.2 D IE W ENDE DER 1970 ER J AHRE UND DER N AHE O STEN In den 1970er Jahren erhielt die Entwicklungspolitik eine neue politische Komponente und fand Anwendung als diplomatisches Instrument. Auslöser für diesen Wandel waren verschiedene Ereignisse auf internationaler Ebene, die Japan seine Abhängigkeit und Verflochtenheit in globale Verhältnisse deutlich machten. Hierzu zählen zunächst die ›Nixon-Schocks‹ von 1971, wie die neue USamerikanische China-Politik, die Aufhebung der Konvertibilität von US-Dollars in Gold und die Erhebung eines Sonderimportzolls von zehn Prozent unter der Nixon-Regierung in Japan genannt wurden. Die Maßnahmen belasteten die japanischen Exporte in die USA und weltweit, da es gleichzeitig zu einer rapiden Aufwertung des Yen kam. 21 Von größerer Bedeutung für die zukünftige Entwicklungspolitik Japans war die Reise des damaligen japanischen Premierministers Tanaka Kakuei in mehrere südostasiatische Staaten im Januar 1974. Die japanische Regierung zeigte sich schockiert, als Menschenmassen in Jakarta und Bangkok mit Ausschreitungen gegen den Besuch des Premiers und die wirtschaftliche Übermacht Japans protestierten. Als Reaktion darauf wurde die wirt-

18 Kojima (2000), S. 382–388. 19 Furuoka (2005) und Kojima (2000). 20 Peet & Hartwick (2009), S. 63f. 21 May (1989), S. 13f.

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schaftliche Unterstützung für diese Region stark ausgebaut. 1978 versprach der neue Premier Fukuda Takeo in seiner ›Manila-Doktrin‹ – oder auch ›FukudaDoktrin‹ – eine Milliarde US-Dollar für fünf Projekte in der ASEAN-Region.22 Seine Verwundbarkeit und Abhängigkeit von außen wurden dem rohstoffarmen Japan, das unter anderem den Großteil seiner Energiequellen importieren musste, besonders schmerzhaft bewusst, als Ereignisse im Nahen Osten zur schwersten wirtschaftlichen Krise Japans seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs führten. Die nach der japanischen Landesöffnung im 19. Jahrhundert etablierten Beziehungen zu den Ländern und Völkern des Nahen Ostens waren zunächst vom sich wandelnden Verhältnis Japans zum Kolonialismus geprägt. Nachdem sich pan-asiatische Hoffnungen 23 nicht erfüllt hatten, konzentrierten sich die Kontakte vor allem auf Handelsbeziehungen, bis der Zweite Weltkrieg diesen ein Ende setzte. Die Nachkriegszeit war zunächst von der wachsenden japanischen Nachfrage nach nahöstlichem Öl geprägt. Die Handelsüberschüsse gegenüber dem Nahen Osten durch billige japanische Textilexporte vor dem Zweiten Weltkrieg hatten sich in der Nachkriegszeit in eine grundlegende japanische Abhängigkeit von Erdölimporten aus dem Nahen Osten verwandelt. Generell basierte die japanische Politik in dieser Periode auf dem Prinzip des seikei bunri, also der Trennung von Wirtschaft und Politik. Die japanischen Interessen im Nahen Osten waren rein ökonomischer, nicht politischer Natur, und die Politik bemühte sich, keine Stellung zu dortigen Konflikten zu beziehen und sich keine Feinde zu machen. Bis zur ersten Ölkrise 1973 hatte noch kein Premier- oder Außenminister je diese Region besucht.24 Abo-Kazleh konstatiert in diesem Zusammenhang »ein gewaltiges Missverhältnis zwischen Japans großer Abhängigkeit von den Rohstoffen des Nahen Ostens und dem Level seines politischen und diplomatischen Engagements in der Region.«25 Obwohl Japan zum größten Importeur von Öl aus dem Nahen Osten geworden war, zeigte sich die japanische Führung vollkommen überrascht von dem Embargo der arabischen Erdölstaaten anlässlich des arabisch–israelischen Krieges im Oktober 1973. Japanische Politiker waren der Meinung gewesen, immer eine ausgewogene Position zum Nahostkonflikt gewahrt zu haben. Nun wurde Japan im November 1973 von der Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten (OAPEC) zu einem ›feindlichen Staat‹ erklärt, als es Forderungen, die Beziehungen mit Israel abzu-

22 Yasutomo (1989/90), S. 492. 23 Vgl. Aydin (2007), Kowner (2007), Saaler & Szpilman (2011a), Saaler & Koschmann (2007) und Worringer (2007). 24 Nester (1992), S. 207ff. 25 Abo-Kazleh (2009), S. 165, Übersetzung SG.

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brechen und die Palestine Liberation Organization (PLO) anzuerkennen, nicht nachkam. Der Lieferboykott und die Drosselung der Erdölförderung lösten in Japan drastische Energiesparmaßen, eine Welle von Hamsterkäufen und in der Folge Versorgungsengpässe und einen rapiden Preisanstieg aus; Japans Periode rasanten Wirtschaftswachstums fand ein abruptes Ende – ein Ereignis, das als erster ›Öl-Schock‹ in die japanische Geschichte einging. Zum ersten Mal seit 1958 kam es in Japan zu einer kurzen Phase der Rezession, begleitet von Inflation, Arbeitslosigkeit, Firmenbankrotten, einer rasch zunehmenden Staatsverschuldung und innenpolitischen Krisen.26 Regierungssprecher Nikaidō Susumu bestätigte noch am 22. November 1973 das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung, verlangte wiederholt den Abzug Israels aus den seit 1967 besetzten Gebieten und reduzierte die Beziehungen zu Israel auf ein Minimum, ohne sie jedoch ganz abzubrechen. Vizepremier Miki Takeo reiste im Dezember für 18 Tage in den Nahen Osten, besuchte die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Ägypten, Kuwait, Katar, Syrien, den Iran und den Irak. Im Rahmen dieses Besuchs versprach er auch massive Entwicklungsgelder. Die japanische Entwicklungspolitik erhielt damit eine politische Komponente. Diese Taktik wurde von der OAPEC durch die Verleihung des Status einer ›freundschaftlichen Nation‹ und die Aufhebung des Embargos belohnt, der hohe Ölpreis blieb jedoch weiterhin ein Problem. Hochkarätige diplomatische Delegationen in den Nahen Osten brachten in der Folgezeit weitere Geldgeschenke mit und aus ›arabu gaikō‹ (Arabien-Diplomatie) wurde quasi ›abura gaikō‹ (Öldiplomatie).27 Längerfristig reagierte Japan auf die Ölkrise mit einer Erweiterung der nationalen Ölreserven und mit einer Reihe von Maßnahmen zur Diversifizierung seiner Energiequellen wie einem dezidierten Ausbau von Atomkraftanlagen und einer intensivierten Nutzung von Flüssigerdgas. Die Ölkrise von 1973 brachte auch eine Förderung der Nahostforschung in Japan mit sich. Neben diplomatischen und wirtschaftlichen wurden auch wissenschaftliche Delegationen in den Nahen Osten entsandt und diverse Forschungszentren gegründet – finanziert von der Regierung sowie einer privaten Ölfirma.28 Für die diplomatischen Beziehungen Japans mit dem Nahen Osten stellte der ›Öl-Schock‹ einen bedeutenden Wendepunkt dar. Japan, durch den Sicherheitsvertrag eng an die amerikanische

26 Hartmann (1996), S. 277-281 und Zöllner (2006), S. 414f. 27 Hamauzu (1993), S. 71–76, Hartmann (1996), S. 277-281, Nester (1992), S. 209–212 und Özçelik (2008). Vgl. auch Lincoln (1990). 28 Kuroda & Asai (1990), S. 179ff, Miura (1993), S. 62, Miyaji (1997), S. 23 und Sadria (1997), S. 25f.

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Außenpolitik gebunden, nahm nun eine unabhängigere Haltung ein und tendierte in den Vereinten Nationen zu einem pro-palästinensischen Abstimmungsverhalten. Japan war das erste OECD-Land, das die PLO de facto anerkannte (allerdings nicht als alleinige Vertretung des palästinensischen Volkes), indem es 1976 die Eröffnung eines PLO-Büros in Tokyo erlaubte, nachdem die PLO jeder Form von Terrorismus abgeschworen und ihre Unterstützung für die Japanische Rote Armee29 aufgegeben hatte. Im Oktober 1981 wurde der PLO-Vorsitzende Arafat von der 1979 gegründeten Japanisch-Palästinensischen Parlamentarischen Liga (JPPL) nach Tokyo eingeladen und dort – ungeachtet der Proteste aus Washington – auch von Premierminister Suzuki empfangen.30 Auch bei der Geiselnahme in Teheran von 1979–81, bei der 52 USamerikanische Diplomaten über ein Jahr festgehalten wurden, wich Japans Haltung von der Linie seiner Schutzmacht USA ab. Iran und Japan hatten sich gerade darauf geeinigt, mithilfe staatlicher japanischer Zuschüsse und Kredite ein nach der Revolution zunächst auf Eis gelegtes Petrochemiekomplexprojekt der Iran-Japan Petrochemical Company (IJPC) im iranischen Bandar-e Imam Khomeini (ehem. Bandar Shahpur) wiederzubeleben, an der über 100 japanische Investoren unter Führung der Mitsui-Gruppe beteiligt waren. Nicht zuletzt wegen der gestiegenen Ölpreise nach dem zweiten ›Öl-Schock‹ im Gefolge der Iranischen Revolution 1979 nutzte Japan die Gelegenheit, vom US-amerikanischen Boykott für iranisches Öl nach der Geiselnahme zu profitieren. Auch noch nach harscher Kritik aus Washington lehnte Japan eine Beteiligung an den amerikanischen Sanktionen zunächst ab. Später schloss es sich eingeschränkten europäischen Boykottmaßnahmen an, ohne sie jedoch konsequent durchzusetzen oder das IJPC-Projekt in den Boykott mit aufzunehmen. Tokyo verweigerte zudem Sanktionen gegen die Sowjetunion (nach der Invasion in Afghanistan 1979) und Libyen (nach den Attentaten in Europa 1985/86).31 Im Irak-Iran-Krieg von 1980 bis 1988 bemühte sich Japan, eine Vermittlerrolle zu spielen, was jedoch keine großen Erfolge zeitigte. Für Japan standen in diesem Krieg nicht nur Erdölbezüge, sondern auch die milliardenschweren Investitionen in das IJPC-Projekt auf dem Spiel: Trotz irakischer Bombardierungen des Fabrikgeländes gab es einige

29 Die 1971 gegründete marxistisch-leninistische Japanische Rote Armee bekämpfte die japanische Regierung, wurde von der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) unterstützt und verübte 1972 auch einen Terroranschlag auf dem israelischen Flughafen Lod (heute Ben Gurion) bei Tel Aviv. 30 Cohen (2005), Naramoto (1991), S. 79f, Nester (1992), S. 212–214, Özçelik (2008), S. 133f, Radtke (1988), S. 528–532 und Shillony (1992) und (1985), S. 18f. 31 Nester (1992), S. 214–220.

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Wiederaufbauversuche, bis das Projekt 1990 doch unter hohen Kompensationszahlungen an den iranischen Partner aufgegeben werden musste.32 Nach dem Irak-Iran-Krieg bemühte sich Japan auch als Vermittler zwischen dem Iran und den USA wie auch zwischen Israel und den arabischen Staaten. Durch diese diplomatischen Manöver konnte Japan sein internationales Ansehen verbessern und gleichzeitig seine intensivierten Beziehungen zu allen Staaten im Nahen Osten rechtfertigen. Durch eine pro-arabische Politik konnte Japan die Ölkrisen besser überstehen, selbst wenn diese Haltung eher rhetorischer denn substantieller Natur gewesen sein sollte, wie einige Kommentatoren33 betonen. Auch die israelische Japanologin Shemer vertritt die Meinung, diese Umorientierung stelle lediglich einen oberflächlichen Deckmantel dar, unter dem die Beziehungen zu Israel wie gehabt fortgeführt worden seien. 34 Japans Nahostpolitik war weiterhin darauf ausgerichtet, sich nicht in regionale Konflikte verwickeln zu lassen. Von großer Bedeutung war hier die seit 1973 auf den Nahen Osten ausgeweitete Entwicklungspolitik. Sie diente auch dazu, durch an japanische Lieferungen gebundene Entwicklungsgelder das Außenhandelsdefizit gegenüber dem Nahen Osten und die einseitige Erdölabhängigkeit Japans zu mindern. So wurde Japan zu einem der wichtigsten Exporteure im Nahen Osten.35 Generell fand ein Zuwachs an ›Ressourcen-Projekten‹ statt, die mithilfe von Entwicklungsprojekten die Erschließung von Rohstoffquellen sicherten. Der Anteil nahöstlicher Staaten an japanischen Entwicklungsgeldern stieg von 0,1 Prozent im Jahr 1973 auf 12,4 Prozent im Jahr 1977.36 Auch andere nicht-asiatische Staaten in Afrika und Lateinamerika37 erhielten nun mehr Aufmerksamkeit, da die Ressourcenversorgung nicht mehr so stark von einer einzigen Region abhängig sein sollte. Es setzte sich eine grobe prozentuale Verteilung von japanischen Entwicklungsgeldern auf die Regionen Asien, Afrika, Lateinamerika und Naher Osten von 70 – 10 – 10 – 10 durch. Auch wenn ein Großteil der Gelder weiterhin nach Asien ging, hatte sich das Spektrum sowohl geographisch als auch um eine eindeutig politische Komponente erweitert. 38 Der These, politische Interessen hätten nun wirtschaftliche als treibende Kräfte in der Gestaltung der Entwick-

32 Dowty (2000), S. 70f und Nester (1992), S. 219ff. Für mehr Informationen zum IJPCProjekt siehe Takahashi (1993) und Terashima (1986). 33 Ikeda (1993), S. 158f, Nester (1992), S. 205ff und Shaoul (2001). 34 Shemer, Interview, Tel Aviv, 26.9.2011. 35 Nester (1992), S. 205ff, 221–224. 36 Orr (1990), S. 92f und Rix (1980), S. 41. 37 Hosono (2010). 38 Pohl (1997) und Yasutomo (1995), S. 7f.

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lungspolitik verdrängt, setzt Nuscheler jedoch entgegen, dass auch weiterhin die Interessen der Privatwirtschaft keineswegs hinter denen der Diplomatie zurückblieben, was nicht zuletzt das MITI gegenüber dem MOFA durchsetzte.39

3.3 J APAN

ALS GLOBALE

E NTWICKLUNGSMACHT

1977 verkündete die japanische Regierung den ersten einer Reihe von Verdoppelungsplänen zur Vervielfachung des ODA-Volumens, durch die Japan in den 1980er Jahren zu einem der größten Geberländer weltweit wurde und gegen Ende des Jahrhunderts in absoluten Beträgen sogar die USA auf der Spitzenposition überrundete. Die relativen Beiträge, gemessen am Bruttosozialprodukt, lagen jedoch weiterhin hinter dem OECD-Durchschnitt und weit hinter dem auch von Japan akzeptierten globalen Ziel von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts.40 Tabelle 1: Die fünf größten DAC-Geberländer im Vergleich 1980–2014 1970

1980

1990a

2000

2005

2010

2014

Deutschland

599

3 567

6 320

5 030

10 082

12 985

16 249

Frankreich

735

2 889

7 163

4 105

10 026

12 915

10 371

Japan

458

3 353

9 069

13 508

13 126

11 058

9 188

UK

482

1 854

2 638

4 501

10 772

13 053

19 387

3 153

7 138

11 394

9 955

27 935

30 053

32 729

USA

Bilaterale Netto-ODA in Millionen US-Dollar a) Inklusive Schuldenerlass

Quelle: DAC (2015b).

1985 wurde Japan zum größten Gläubigerstaat der Welt und reagierte auf die globale Schuldenkrise mit drei Schuldenerlassplänen in einer Gesamthöhe von 65 Milliarden US-Dollar. Dies erfüllte gleichzeitig die Funktion, die drastisch gestiegenen Außenhandelsüberschüsse Japans zu ›recyceln‹. Insbesondere die USA, die ein wachsendes Defizit ihrer Außenhandelsbilanz erlebten, setzten Japan wegen dieser Rekordüberschüsse unter Druck, woraufhin die japanische

39 Nuscheler (1990), S. 38f. 40 Nuscheler (1990), S. 21.

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Entwicklungspolitik weiter ausgebaut wurde.41 Häufig wird der japanischen Entwicklungspolitik insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue diplomatische Qualität zugesprochen. Sie ist zu einem wichtigen Instrument der japanischen Diplomatie geworden und brachte neue Möglichkeiten der Einflussnahme mit sich; ein Beispiel für das streitbarere Auftreten Japans sind die Auseinandersetzungen um den Ostasien-Report der Weltbank 1993. Japan zeigte in Anbetracht der eigenen positiven Erfahrungen mit staatlich dirigierter Industriepolitik – sowie in jüngerer Zeit ähnlichen Erfolgen in Taiwan und Südkorea – eine vom allgemeinen Konsens der 1980er Jahre abweichende Haltung: Statt auf die neoliberalen Erfolgsrezepte des Washington Consensus, also auf Maßnahmen zur Privatisierung, Handelsliberalisierung und einer Zurückdrängung des Staates zu vertrauen, wurden in Japan eine enge Kooperation von Privatwirtschaft und Staat sowie eine zentralistische Industriepolitik angestrebt.42 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund japanisch-amerikanischer Rivalitäten stellte der Erfolg der japanischen Industriepolitik seit den 1970er Jahren bis zum Platzen der japanischen Aktien- und Immobilien-›Blase‹ 1990 ein vieldiskutiertes Thema dar – allen voran in Vogels »Japan as Number One: Lessons for America« (1979). In seiner Untersuchung der japanischen Industriepolitik im 20. Jahrhundert prägte Johnson als erster den Begriff des ›developmental state‹, um ein Entwicklungskonzept zu beschreiben, das in Anlehnung an die Erfahrungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Japan dem Staat eine größere Rolle in der Lenkung der Wirtschaftspolitik eines Landes zusprach.43 Mit dem wirtschaftlichen Erfolg anderer asiatischer Staaten (der Ostasiatischen Tigerstaaten Hongkong, Südkorea, Singapur und Taiwan sowie der ASEAN4-Länder) gewann zu Beginn der 1990er Jahre zudem die Diskussion um ›asiatische Werte‹ und einen ›konfuzianistischen Kapitalismus‹ an Dynamik. Die ›Asian values‹ gerieten aber auch als Apologet autoritärer asiatischer Regime etwa in Malaysia in die Kritik und wurden zudem durch die asiatische Finanzkrise 1997 in Misskredit gebracht.44 Die Vorstellung, gesellschaftliche Disziplin und autoritäre Regierungsführung stellten ein spezifisches asiatisches Erfolgsrezept für ökonomischen Fortschritt dar, wird zudem als willkürlich, übersimplifizierend und kulturalistisch kritisiert.45

41 Hartmann (1996), S. 293, May (1989), S. 18–24 und Yasutomo (1995), S. 8f. 42 Peet & Hartwick (2009), S. 63f. 43 Johnson (1982) und Peet & Hartwick (2009), S. 63f. 44 Furuoka (2005), Lehmann (2000) und Nakata Steffensen (2000). 45 Lee (2003). Chang (2007, S. 182–202) verdeutlicht diesen kulturalistischen Trugschluss am Beispiel Japans und Deutschlands.

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Dieser Diskurs wurde auf den Bereich der Entwicklungspolitik übertragen. Bereits in den 1980er Jahren kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der Weltbank und Japan über gezielt subventionierte Kredite des japanischen Overseas Economic Cooperation Fund (OECF) für Privatinvestitionen in ausgewählten Industriezweigen in asiatischen Entwicklungsländern. In Reaktion auf Kritik an seiner Entwicklungspolitik begann Japan, das mittlerweile zum zweitgrößten Anteilseigner der Weltbank (und 1992 auch im Internationalen Währungsfond [IWF]) aufgestiegen war, seine eigenen Vorstellungen von Entwicklungspolitik stärker in die Politik der Bank einzubringen. 46 Schließlich setzte Japan die Durchführung einer Studie über die Entwicklung der ostasiatischen Staaten durch – nicht zuletzt, indem es die Finanzierung der Studie vollständig übernahm. 47 »The East Asian Miracle: Economic Growth and Public Policy« wurde schließlich im September 1993 veröffentlicht – bereits nach dem Platzen der japanischen ›Blase‹ und in gewisser Hinsicht dem Scheitern des japanischen Wirtschaftsmodells. Der Bericht war voller Gemeinplätze und logischer Fehlschlüsse und zeigte deutliche Spuren einer wiederholten Überarbeitung auf seinem Weg durch verschiedene Weltbankinstanzen. Er stellte einen Kompromiss dar, der zwar im letzten Schluss das Paradigma des freien Marktes aufrechterhielt, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit eines positiven Einflusses von staatlich gelenkter Industriepolitik in einigen ostasiatischen Staaten so weit anerkannte, dass die japanischen Vertreter annähernd zufrieden gestellt waren.48 Wade sieht darin einen möglichen historischen Wendepunkt, an dem japanische Ideen über die Rolle des Staates zu weltweiter intellektueller Bedeutung aufgestiegen seien, zumal sie von Japan selber in Weiterbildungskampagnen in Asien zu einem neuen Exportprodukt gemacht wurden.49 Raffer und Singer betrachten Japan in dieser Episode eher als Verfechter von intellektueller Ehrlichkeit für die Rechte der Opfer neoliberaler Strukturanpassungsprogramme.50 Die Beweggründe für das japanische Auftreten werden allerdings eher in dem Anliegen zu suchen sein, eine der eigenen Privatwirtschaft zuträgliche Entwicklungsund Kreditvergabepolitik zu rechtfertigen und vor allem eine seinen finanziellen Beiträgen angemessene politische und ideologische Führungsrolle für sich in

46 Wade (2000), S. 102–107. 47 Raffer & Singer (1996), S. 115. 48 Wade (2000), S. 98–131, enthält eine ausführliche Analyse des Zustandekommens und der Inhalte des East Asian Miracle Reports. 49 Wade (2000), S. 100, 129. 50 Raffer & Singer (1996), S. 116f.

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Anspruch zu nehmen.51 Hook et al. sprechen sogar von »einer Schlacht um die Führung in der globalen politischen Ökonomie«.52 Mit der wachsenden globalen Bedeutung der japanischen Entwicklungspolitik wuchs auch ein kritisches Interesse an ihr. Nicht mehr die mangelnden globalen sicherheitspolitischen Beiträge Japans, sondern vielmehr die Beweggründe und die Qualität japanischer Entwicklungszusammenarbeit gerieten nun in den Blickpunkt der Kritik von außen wie von innen. In den späten 1980er und 1990er Jahren entstand eine erste ernsthafte Entwicklungspolitikdebatte in Japan, befeuert durch eine Reihe von Korruptionsskandalen im Jahr 1986.53 Die in teilweise erbitterte Auseinandersetzungen verwickelten Teilnehmer teilt Yasutomo grob in zwei Lager ein: die ›ODA-as-evil‹-Schule, die den Mainstream der japanischen Literatur zu Entwicklungspolitik darstellt, und die ›Revisionist‹-Schule, die die japanische Entwicklungszusammenarbeit verteidigt und zu der Regierungsangehörige, Angehörige des Entwicklungsapparats, konservative Politiker und Unternehmensvertreter genauso zählen wie einige Akademiker. 54 So versucht etwa der renommierte Wissenschaftler für Entwicklungsstudien Kusano Atsushi niedrigen Zustimmungsraten für die japanische Entwicklungspolitik im eigenen Land mit der Beantwortung kritischer Fragen zu begegnen,55 während sich der konservative Politiker Ozawa Ichirō für eine energischere Verwendung von ODA als aktiver Beitrag Japans zum Weltfrieden ausspricht – sonst bliebe Japan »gesichtslos« und ein »Dinosaurier mit einem kleinen Gehirn«.56 Von Beginn an hatten Kritiker der japanischen Entwicklungspolitik ihre starke merkantilistische Ausprägung sowie die alleinige Konzentration auf die Interessen der eigenen Wirtschaft angekreidet. Die japanische Entwicklungszusammenarbeit diene in Wirklichkeit lediglich der Förderung japanischer Exporte, die eine wichtige Rolle im japanischen Wirtschaftswunder gespielt hatten und weiterhin einen elementaren Bestandteil der Wirtschaft darstellten. Ein Sammelband japanischer Kritiker konstatiert zum Beispiel eine vollkommene Eigennützigkeit der japanischen Entwicklungszusammenarbeit, sei es zur Sicherung von Roh-

51 Wade (2000), S. 108f. 52 Hook et al. (2001), S. 339, Übersetzung SG. 53 Lancaster (2007), S. 123. 54 Siehe Yasutomo (1995), S. 16–26 für einen Überblick der EZ-Debatte in Japan bis in die 1990er Jahre. 55 Kusano (2007). 56 Ozawa (1994), S. 138f, Übersetzung SG. Ozawa war Generalsekretär der regierenden Liberaldemokratische Partei (LDP), später Vorsitzender der zweitstärksten Demokratischen Partei Japans (DPJ).

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stoffen wie Papier, Aluminium oder Fischereiprodukten, zur Exportförderung oder zur Ausnutzung billiger Arbeitskräfte im In- und Ausland.57 Weitere wesentliche Kritikpunkte besagten, japanische Entwicklungszusammenarbeit bestehe aus einem zu großen Anteil aus liefergebundener ODA (›tied aid‹) und sei sektoral auf große Infrastrukturprojekte und geographisch auf Südostasien fixiert, das Zuschusselement sei zu gering, die Vergabebindungen zu hart und die Entscheidungsfindung undurchschaubar und undemokratisch. Personalmangel und interministerielle Kompetenzstreitigkeiten und Rivalitäten werden als grundlegende Schwäche des Entwicklungsapparates angesehen. Vor allem das Außenministerium habe in ständigem Interessenkonflikt mit den wirtschaftsnahen Kräften des Finanzministeriums, des Ministeriums für internationalen Handel und Industrie (MITI, 2001 umbenannt in Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie [METI]) sowie der Economic Planning Agency (EPA) gestanden.58 Japanischer ODA wurden ferner Blindheit gegenüber Menschenrechtsverletzungen von autokratischen Regimes in Empfängerländern, ökologische und soziale Rücksichtslosigkeit und insgesamt eine schlechte Qualität attestiert, vor allem zurückführbar auf einen personell unterbesetzten und zu bürokratisch und langsam arbeitenden Entwicklungsapparat (vgl. Kap. 6.5). Thematisiert wird in der japanischen Diskussion auch das Fehlen einer kohärenten Entwicklungsphilosophie: die Entwicklungspolitik reagiere in erster Linie auf Druck von außen oder diene verschiedenen fragmentierten bürokratischen Interessen bzw. denen der japanischen Privatwirtschaft, ohne jedoch stringente entwicklungspolitische Ziele zu verfolgen. 59 Optimistischere Kommentatoren sehen in den Prinzipien von Hilfe zur Selbsthilfe, dem System von ›requestbased aid‹60, der durch den hohen Anteil von Krediten an der japanischen ODA verordneten fiskalpolitischen Disziplin, der engen Zusammenarbeit von Staat und Privatsektor und der primären Konzentration auf den Aufbau von Infrastruktur die rudimentären Formen einer japanischen Entwicklungsphilosophie. Auch die erste japanische ODA-Charta von 1992, im folgenden Abschnitt thematisiert, wird teilweise als eine solche eigene Philosophie betrachtet.61

57 Fuke & Fujibayashi (1999). 58 Rohde (2003), S. 190–219. Eine eindeutige Zuordnung der einzelnen Behörden zu bestimmten Lagern wäre allerdings eine allzu grobe Vereinfachung (Nielsen [2003]). 59 DAC (2010) S. 37-42 und Kevenhörster (2008), S. 131–133. 60 Arase (1995), S. 147-163. 61 Yasutomo (1995), S. 27-32.

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3.4 D IE N EUORDNUNG DER JAPANISCHEN E NTWICKLUNGSPOLITIK Nicht zuletzt aus der Sorge heraus, dass Japan durch seine vor dem ersten Golfkrieg an den Irak geleistete ODA zu dessen Aufrüstung beigetragen haben könnte, hatte die Regierung von Premierminister Kaifu im April 1991 vier Prinzipien für die Entwicklungszusammenarbeit festgelegt. Demnach sollten insbesondere das Verhältnis von Umwelt und Entwicklung, die Militärausgaben, etwaige Massenvernichtungswaffen und Waffenex- und -importe eines Landes sowie die Förderung von Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten bedacht werden. Eine mögliche militärische Verwendung von ODA oder eine Verschlimmerung internationaler Konflikte sollte vermieden werden. Diese sogenannten ›Kaifu-Prinzipien‹ bildeten die Grundprinzipien der ersten ODA-Charta Japans vom Juni 1992. Sie wurden mehr oder weniger unverändert in die neue ODA-Charta von 2003 aufgenommen, wo sie allerdings immer noch eher Handlungsempfehlungen als konkrete Einschränkungen darstellten. Denn letzten Endes sollen bei der Entscheidung über die Vergabe von ODA »umfassende Erwägungen der Bedürftigkeit des Entwicklungslandes, seiner sozioökonomischen Bedingungen und seine bilateralen Beziehungen zu Japan« den Ausschlag geben. Zumindest die Gründe für eine Entscheidung sollen jedoch insgesamt transparenter gemacht werden.62 So ist vorgesehen, dass die Evaluierung der Projekte von unabhängigen Instanzen überwacht und häufiger veröffentlicht, Korruption und Betrug härter bekämpft und der Öffentlichkeit Einsicht in den Auftragsvergabeprozess gewährt werden.63 Als Prioritäten führt diese ODA-Charta Fragen von Armutsbekämpfung, nachhaltigem Wachstum, Friedenskonsolidierung und der Bewältigung globaler Probleme wie des Umweltschutzes, ansteckender Krankheiten und des Terrorismus an. Nachdem die vorhergehende Charta noch ein Bekenntnis zu Strukturanpassungsprogrammen enthalten hatte, wich Japan nun insofern vom neuen entwicklungspolitischen Mainstream ab, als es zwar der Armutsbekämpfung einen zentralen Platz einräumte, jedoch weiterhin das Beispiel der ostasiatischen Staaten und die Vorrangigkeit von Wirtschaftswachstum hochhielt und keinen expliziten Bezug auf den Zielkatalog der Millennium Development Goals (MDGs) nahm.64 In den letzten Jahren tauchen die MDGs sowie ähnliche Slogans aller-

62 Drifte (1996), S. 124 und Sunaga (2004), S. 24ff. 63 MOFA (2003) und Sunaga (2004), S. 29f. 64 Sunaga (2004), S. 18–22.

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dings in beinahe jeder MOFA-Publikation zur Entwicklungspolitik auf. Vor allem das Konzept der ›menschlichen Sicherheit‹ erlangte große Prominenz in japanischen ODA-Publikationen, zumal es von Ogata Sadako stark verbreitet wurde, die in den 1990er Jahren UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge und von 2003 bis 2012 Präsidentin von JICA war.65 Palanovics argumentiert allerdings, dass menschliche Sicherheit unter der Regierung Koizumi in den Dienst einer anderen Sicherheitspolitik gestellt wurde: »Human security became accepted as one of the means to justify Japan’s participation in the War against Terrorism (in Iraq and in Afghanistan).«66 Wegen der eingeschränkten Einsatzmöglichkeiten des Militärs wird gerade in Japan die sicherheitspolitische Bedeutung der Entwicklungspolitik hervorgehoben, was Söderberg jedoch eher im Bereich des Rhetorischen verortet; trotzdem befürchtet sie, dass die Armutsbekämpfung zunehmend von sicherheitspolitischen Erwägungen verdrängt werden könnte.67 In der ODA-Charta werden noch weitere Grundprinzipien aufgeführt: Die Hilfe zur Selbsthilfe soll weiterhin im Vordergrund stehen, wobei das ›Requestfirst‹-System nicht mehr festgeschrieben wurde, nach dem Entwicklungszusammenarbeit nur auf Antrag der Regierung des Empfängerlandes geleistet werden kann. Aspekte von ›good governance‹ sollen in die Überlegungen einbezogen werden. Die Charta betont jedoch, es werde keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, sondern vielmehr ein intensiverer Dialog über Entwicklungsstrategien angestrebt. Als weitere Prinzipien werden die Konzepte von ›menschlicher Sicherheit‹ (siehe oben) und ›Fairness‹ genannt. Letzteres sieht vor allem auch die Partizipation betroffener lokaler Gruppen am Projektfindungsprozess und verbesserte Kapazitäten der Außenstellen vor Ort vor, um die sozioökonomischen Bedingungen und lokalen Auswirkungen eines geplanten Projektes genauer zu erforschen. Weitere Prinzipien beinhalten den Appell, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten und ›Japans eigene Erfahrungen‹ in die Entwicklungspolitik mit einzubringen, was auch als ein Mittel zur Wahrung der eigenen nationalen Interessen interpretiert wird: Weiterhin sollen nämlich vorrangig japanische Experten eingesetzt werden, was auch die Sichtbarkeit der japanischen Entwicklungszusammenarbeit fördert. Zudem können mit dem Argument, dass Japans Nachkriegsentwicklung auf dem großangelegten Aufbau von Infrastruktur basiert habe, auch große (lukrative) Infrastrukturprojekte gerechtfertigt werden.68

65 Lancaster (2007), S. 126f und Trinidad (2007), S. 97. 66 Palanovics (2009), S. 124. 67 Söderberg (2009), S. 114. 68 MOFA (2003) und Sunaga (2004), S. 12–18.

68 | BESETZUNGEN – J APANISCHE E NTWICKLUNGSRÄUME IN P ALÄSTINA

Hook und Zhang widersprechen der weitverbreiteten Auffassung, außenpolitische Fragestellungen hätten in den 1990er Jahren die Außenwirtschaftsförderung als ausschlaggebendes Motiv in der japanischen Entwicklungszusammenarbeit verdrängt.69 Die Frage, welchen Stellenwert die nationale Sicherheit und die eigenen nationalen Interessen Japans – auf Japanisch ›kokueki‹ – in der Entwicklungspolitik einnehmen und ob sie explizit zum Ziel gemacht werden sollen, stellte einen Hauptstreitpunkt im Vorfeld der Formulierung der japanischen ODA-Charta von 2003 dar. Es erschien notwendig, diesen Aspekt hervorzuheben, um die Ausgaben für die Entwicklungspolitik den japanischen Steuerzahlern gegenüber zu rechtfertigen, gleichzeitig birgt das Konzept jedoch unwillkommene Konnotationen der kolonialen Vergangenheit, die dem eigentlich friedlichen Grundgedanken der Entwicklungspolitik widersprächen.70 Letztendlich wurden die nationalen Interessen Japans in einer Art Kompromissformel im ersten Satz der ODA-Charta verankert: »Ziel der japanischen ODA ist es, zum Frieden und zur Entwicklung der internationalen Gemeinschaft beizutragen und dadurch die Sicherheit und den Wohlstand Japans bewahren zu helfen.«71 Eine Rede des damaligen Außenministers (und späteren Premierministers) Asō Tarō mit dem Titel »ODA: Sympathy is Not Merely for the Other’s Sake« schmückte 2006 die Homepage des Außenministeriums. Darin macht Asō deutlich, wem die japanische Entwicklungspolitik letztlich helfen soll: »[…I]t must not be forgotten that in the end ODA is implemented for Japan’s own sake. […] ODA is essentially about having other countries first use the precious money of the Japanese people for the benefit of the Japanese people later on. […] In other words I am saying that ODA should be understood to be a ›political policy measure designed to build an international environment favorable to one’s nation with a view to eventually forming a better international community.‹«72

›Sympathy‹ – ›Mitleid‹ – soll also nicht uneigennützig sein müssen. Asō beschreibt ferner, wie die Arbeitsmoral und der Anblick der unermüdlichen japanischen Entwicklungshelfer einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung mit dem Empfängerland (in diesem Falle Indien) und zur Verbreitung der japanischen Kultur geleistet hätten. Meinungsumfragen zeigen jedoch, dass viele Menschen in Japan an der Sichtbarkeit der japanischen Entwicklungszusammenarbeit

69 Hook & Zhang (1998). 70 Sunaga (2004), S. 10. 71 MOFA (2003), Übersetzung SG. 72 Asō (2006).

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zweifeln und der Auffassung sind, die Empfänger seien sich der Identität ihrer Wohltäter nicht genügend bewusst.73 Ohne die Identifizierung der Quelle von Entwicklungsgeldern können diese aber auch nur beschränkt zum Zugewinn an soft power und Wohlwollen im Empfängerland und in der internationalen Gemeinschaft eingesetzt werden. Deshalb besteht die offizielle Anweisung, eine verbesserte Sichtbarkeit von japanischer Entwicklungszusammenarbeit herzustellen. So werden mehr japanische Experten und Technologien in die jeweiligen Länder entsandt und gestiftete Geräte, mit japanischen Geldern gebaute Einrichtungen etc. mit einer japanischen Flagge gekennzeichnet (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Aufkleber zur Kennzeichnung von japanischen Hilfsgütern

Quelle: MOFA (2006), Box I-5: »Increasing the Visibility of Japanese Aid with the Hinomaru and ODA Logo.«

Die vermehrte Einbindung von NGOs dient ebenfalls als ein solches internationales Aushängeschild, das die Entwicklungspolitik gleichzeitig auch im eigenen Land greifbarer machen soll.74 Auch der im internationalen Vergleich sehr hohe Anteil von bilateraler Entwicklungszusammenarbeit (84 Prozent) wird unter anderem mit der Sorge um deren Sichtbarkeit begründet.75 Der ehemalige Generaldirektor des Economic Cooperation Bureau im MOFA Iimura Yutaka befürwortet eine solche ›aid with a face‹ unter anderem mit einer Verpflichtung gegenüber den japanischen Steuerzahlern:

73 Naikakufu daijinkanbō seifu kōhōshitsu, seronchōsa tantō (Regierungspressestelle Ministerialsekretariat im Kabinettsbüro, Meinungsforschungsstelle) (2011). 74 Nanami (2007). 75 DAC (2010), S. 47.

70 | BESETZUNGEN – J APANISCHE E NTWICKLUNGSRÄUME IN P ALÄSTINA »Flying the Japanese flag or increasing the number of aid projects that use Japanese private sector’s technologies is certainly important for Japanese aid to increase its presence in developing regions and to live up to popular expectations. […] I am of the view that excessive promotion of aid coordination and standardizing everything by ›bringing the flag down‹ is undesirable. There is a need to secure accountability to the Japanese taxpayers, as it is their money that is being spent on aid.«76

In den letzten 20 Jahren lassen sich vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Rezession in Japan in den 1990er Jahren, der deshalb schwindenden Unterstützung für Entwicklungszusammenarbeit seitens der japanischen Bevölkerung und wachsender Kritik aus dem In- und Ausland weitere Reformbemühungen der japanischen Regierung feststellen. Skandale um Korruption und Amtsmissbrauch in der japanischen Entwicklungspolitik schadeten dem einheimischen Image der Entwicklungspolitik ebenso wie das kontroverse Thema der Hilfsgelder für China, das zu einem mächtigen wirtschaftlichen wie politischen Rivalen herangewachsen ist. Zusätzlich zum politischen Druck von außen, gaiatsu, insbesondere seitens der USA, begann naiatsu, der Druck von innen, immer mehr die japanische Entwicklungspolitik zu beeinflussen.77 Die japanische Bevölkerung bemängelte zunehmend vor allem die mangelnde Transparenz in der Entwicklungszusammenarbeit.78 Hier setzen die geplanten Veränderungen für mehr Transparenz in der ODA-Charta von 2003 an. Außerdem sollen neben einer engeren Kooperation mit Privatunternehmen, Wissenschaft und NGOs auch eine vermehrte Öffentlichkeitsarbeit und ein Ausbau der Freiwilligenprogramme die Beliebtheit der Entwicklungspolitik in Japan fördern. 79 Nachdem zuvor verstärkt die umweltpolitische Ignoranz der japanischen Entwicklungspolitik kritisiert worden war, fanden in den 1990er Jahren Bemühungen um ein umweltfreundliches Profil statt.80 Gerade aufgrund der eigenen Erfahrungen mit den Umweltschäden aus einer rücksichtslosen Industrialisierung versuchen viele Kommentatoren, aus diesem Argument einen japanischen Führungsanspruch abzuleiten.81 Japans neuer entwicklungspolitischer Führungsanspruch zeigte sich auch in neuen Initiativen wie etwa in der Tokioter Konferenz zur Afrikanischen Ent-

76 Iimura (2001), S. 52ff. 77 Lancaster (2007), S. 129f. 78 Naikakufu daijinkanbō seifu kōhōshitsu, seronchōsa tantō (Regierungspressestelle des Ministerialsekretariats im Kabinettsbüro, Meinungsforschungsstelle) (2007). 79 Sunaga (2004), S. 28f. 80 Nuscheler (1990), S. 64–70 und Ensign (1992), S. 89ff. 81 Drifte (1996), S. 119 und Ozawa (1994), S. 148. Vgl auch Ensign (1992), S. 91f.

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wicklung (TICAD), die im Oktober 1993 zum ersten und im Mai 2013 zum fünften Mal abgehalten wurde. Die japanische Entwicklungspolitik auf diesem Kontinent geht auf eine Zeit zurück, als florierende Handelsbeziehungen zu dem damals international boykottierten Südafrika durch Entwicklungsgelder für andere afrikanische Staaten gewissermaßen ausgeglichen werden sollten.82 Angesichts einer wachsenden Konkurrenz aus China und Indien 83 waren die TICADKonferenzen von großer diplomatischer Bedeutung für Japan, blieben jedoch bisher relativ ergebnislos. Von vielen ausländischen Beobachtern werden sie als Versuch bewertet, sowohl das Wohlwollen der japanischen Bevölkerung als auch die Stimmen afrikanischer Länder bei UN-Abstimmungen zu gewinnen.84 In den letzten Jahrzehnten lässt sich mit Einschnitten im asiatischen Budgetanteil eine Verlagerung der geographischen Verteilung in der japanischen Entwicklungszusammenarbeit feststellen. Auch wenn Asien weiterhin das Hauptbetätigungsfeld der japanischen Entwicklungspolitik bleibt, wird vor allem den Regionen »Subsaharan Africa« und »Middle East and North Africa« nun mehr Gewicht eingeräumt. Das Budget für letztere Region bewegt sich in der Regel im Bereich zwischen zehn und zwanzig Prozent des Gesamtaufkommens.85 Die politischen und humanitären Krisen der Region wie der Gazakrieg von 2008 stellen sicherlich einen Grund für ein kurzzeitiges Ansteigen der Aufwendungen dar. In den Schwankungen der einzelnen Anteile über die Jahre spiegelt sich aber auch das japanische Budgetierungsverfahren wider, das jedes Jahr eine neue Budgetverteilung für sämtliche Regionen und Sektoren vornimmt. Während andere Geberländer in den letzten Jahren ihre Entwicklungszusammenarbeit wieder verstärkt zum Einsatz bringen, bleibt Japan mit einem schrumpfenden ODA-Budget zurück, was durchaus als krisenhafte Situation empfunden wird.86 2001 musste Japan die Spitzenposition endgültig an die USA abtreten, 2014 liegt es nur noch auf dem fünften Platz hinter den USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich (vgl. Tabelle 1).87 In den 1990er Jahren hat ein Reformprozess in den japanischen Entwicklungsinstitutionen begonnen, der eine effizientere und transparentere Politik ermöglichen soll.88 1999 wurden der OECF und die Export-Import-Bank (Exim-

82 Mehr zum japanischen Engagement in Afrika in Morikawa (1997). 83 Burgschweiger (2008). 84 Lancaster (2007), S. 125 und Watanabe (2008), S. 17f. 85 MOFA (2012), S. 50 86 Furuta (2004), S. 27. 87 DAC (2015b). 88 Kevenhörster (2008), S. 134–137.

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bank) zur Japan Bank for International Cooperation (JBIC) zusammengelegt, um staatliche und private Kredite und Investitionen im Ausland besser koordinieren zu können.89 Weitere Umstrukturierungsmaßnahmen wurden innerhalb von JICA durchgeführt. Die Planung und Koordination der Entwicklungspolitik wurden nun ausschließlich dem Außenministerium unterstellt.90 Im Oktober 2003 wurde die staatliche Agentur JICA als eine dokuritsu gyōsei hōjin (independent administrative institution) neu gegründet. Diese japanische Form einer Selbstverwaltungskörperschaft wurde 1998 in Japan für ausführende Regierungsbehörden eingeführt, die im Gegensatz zu mit Planungsaufgaben befassten Behörden nun mit privatwirtschaftlichen Methoden arbeiten und über eine relative Autonomie insbesondere in der Budgetverwaltung verfügen. Die Zusammenlegung von JBIC und JICA im Oktober 2008 stellt eine tiefgreifende Strukturreform des japanischen Entwicklungsapparates dar, womit der in den 1970er Jahren gescheiterte Plan, die gesamte japanische Entwicklungszusammenarbeit unter das Dach einer einzigen Organisation zu bringen, endlich in die Tat umgesetzt wurde. Die ›neue JICA‹ ist nun mit allen Formen der japanischen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit befasst: Zusätzlich zur technischen Zusammenarbeit übernimmt sie die Kreditvergabe von der JBIC und die Vergabe der Mehrzahl der grants vom Außenministerium und ist damit zu einer der größten Entwicklungsagenturen weltweit geworden.91 Auch wenn nach der Reform die Entwicklungszusammenarbeit unter die zentrale Kontrolle des Außenministeriums fällt, muss die Entwicklungspolitik allerdings immer noch mit bis zu 13 unterschiedlichen Ministerien und Behörden koordiniert werden.92 Zudem bleibt es fraglich, ob mit dieser Zusammenlegung alle ›kulturellen Unterschiede‹ zwischen den ehemals getrennten Institutionen beseitigt werden können.93

3.5 ›P RO - AKTIVER P AZIFISMUS ‹ Als größtes Geberland ist Japan mittlerweile von anderen Staaten abgelöst worden, spielt jedoch weiterhin eine bedeutende Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit mit vielen Staaten des Nahen Ostens. Historisch betrachtet ist die japanische Entwicklungszusammenarbeit vor allem in den Ländern Jordanien,

89 Sunaga (2004), S. 27. 90 Iimura (2001), S. 51. 91 Kusano (2007), S. 202–206 und Ogata (2008). 92 Rocha Menocal et al. (2011), S. 15f. 93 Kusano (2007), S. 205f.

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Ägypten, Syrien und Türkei etabliert. Gegenwärtig erhalten vor allem auch die Konfliktländer Irak, Afghanistan sowie die palästinensischen Gebiete einen Großteil der japanischen ODA im Nahen Osten und nehmen einen prominenten Platz in der Selbstdarstellung der beteiligten japanischen Institutionen ein. Diese Orientierung hin zu politischen Brennpunkten der Region ist in den Kontext der japanischen Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges einzuordnen. Der zweite Golfkrieg von 1990/91 kann als Katalysator für die Entsendung japanischer Truppen ins Ausland angesehen werden. Japan geriet wiederum in die Kritik, nicht genügend zu den alliierten Anstrengungen für die ›kollektive Sicherheit‹ beizutragen und seine eigenen – ausgedehnten – Energielieferungen von anderen schützen zu lassen. Unter Berufung auf Artikel 9 der japanischen Verfassung, mit dem Japan auf das Recht auf Kriegsführung und das Halten einer eigenen Armee verzichtet, verweigerte Japan zunächst jeden militärischen Beitrag. Angesichts der Androhung konkreter US-amerikanischer Vergeltungsmaßnahmen erhöhte Japan seine finanziellen Beiträge erheblich auf schließlich insgesamt 13 Milliarden US-Dollar für den Einsatz der UN-Truppen im Golfkrieg und als Hilfsleistungen für andere betroffene Staaten in der Region. Ein Gesetzesvorschlag zur Entsendung der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte (JSDF) in Friedensmissionen (Peace Keeping Operations [PKOs]) unter UN-Mandat wurde nach heftigen Protesten in Japan wie auch in anderen ost- und südostasiatischen Staaten zunächst wieder fallengelassen und lediglich ein pseudo-ziviles Aufgebot japanischer Minensuchboote an den Golf geschickt.94 Dass die Beiträge im zweiten Golfkrieg international als ›ScheckbuchDiplomatie‹ kritisiert wurden, bezeichnet Ikeda als »traumatische Frustration«.95 Seitdem lässt sich ein stärkeres Engagement Japans im Nahen Osten feststellen. Bei den multilateralen Verhandlungen auf der Madrider Nahostfriedenskonferenz 1991 übernahm Japan die Leitung der Umweltarbeitsgruppe und wurde außerdem Mitorganisator der Arbeitsgruppen für regionale Wirtschaftsentwicklung, Wasserressourcen und das Flüchtlingsproblem sowie ein Mitglied der Ratskommission. Nach der Unterzeichnung der Prinzipienerklärung von Oslo 1993 hat Japan innerhalb von zwei Jahren 200 Millionen US-Dollar an die Palästinenser gezahlt. 1996 entsandte Japan auch Wahlhelfer, um die palästinensischen Legislativratswahlen zu betreuen, und wurde zeitweilig zum zweitgrößten Geberland für die palästinensischen Gebiete nach den USA.96

94 Allan (1993), S. 23–26, Inoguchi (1991), S. 257-260, Kevenhörster (1993), 172–180, Kuroda (1994a+b) und Nester (1992), S. 224–231. 95 Ikeda (1999), Übersetzung SG. Vgl. auch Abo-Kazleh (2009), S. 179ff. 96 Dowty (2000), S. 72, Ikeda (1999), Mizutani (1993), S. 118f und Shaoul (1999).

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Gleichzeitig wurde das International Peace Cooperation Law im Juni 1992 schließlich doch verabschiedet, was die Teilnahme der JSDF an UN-Friedensmissionen ermöglichte. In der Folgezeit wurden JSDF in Angola, Kambodscha, Mozambique, El Salvador, den Golanhöhen, Ruanda, Osttimor, Nepal, Haiti und im Südsudan eingesetzt.97 Ein japanischer Diplomat verteidigt die aktive japanische PKO-Teilnahme wie folgt mit den Vorteilen für das eigene Land: »In terms of both gathering information and boosting its presence in international affairs, it is important for Japan to take active part in peace-keeping operations. […] In my view, footing 20 percent of the bill for U.N. peacekeeping activities without injecting any personnel to serve in them is like sowing the seeds and growing the plants but failing to harvest the crop.«98

Hierin zeigt sich für Yasutomo die Verbindung von japanischer Entwicklungspolitik und dem Einsatz japanischer Streitkräfte im Ausland.99 Hughes sieht eine eindeutige Remilitarisierung Japans in den Reformen des japanischen Verteidigungsapparats und der aktiven Militärkooperation mit den USA vor allem seit Premierminister Koizumis Amtszeit (2001–2006). 100 Die Terroranschläge in New York vom 11. September 2001 hatten wie andernorts auch in Japan eine neue Antiterrorgesetzgebung zur Folge. 2003 gab die Opposition ihren langjährigen Widerstand gegen eine Notstandsgesetzgebung auf. Übungen für einen möglichen Angriff mit Massenvernichtungswaffen wurden ebenso ausgeweitet wie eine strengere Einwanderungskontrolle.101 Leheny bezeichnet die Terroranschläge von 2001 als eine »entscheidende Gelegenheit« für die Regierung Koizumi, um Japan zu einem »normalen« Staat mit echtem Militär zu machen.102 Schon im Oktober 2001 wurde in Japan ein Sondergesetz für Antiterrormaßnahmen erlassen und eine Revision des Gesetzes zu den Selbstverteidigungsstreitkräften durchgeführt, was die Teilnahme Japans an der Operation Enduring Freedom in Afghanistan in Form von Betankungsschiffen im Indischen Ozean ermöglichte. Ein Ende 2003 erlassenes Sondergesetz für humanitäre Hilfe und

97

Kusano (2007), S. 222–236, Leitenberg (1998), S. 257-302, Shaoul (1999) und Sunaga (2004), S. 22. Vgl. auch Hughes (2009a).

98

Kitaoka (2007a), S. 16.

99

Yasutomo (1995), S. 9–12. Vgl. auch Drifte (1996), S. 134–138, Sakaki (2014) und Sunaga (2004), S. 22.

100 Hughes (2009a), S. 19f. 101 Leheny (2009), S. 263–268. 102 Leheny (2009), S. 263ff, Übersetzung SG.

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Wiederaufbau im Irak diente zur Legitimation eines JSDF-Kontingents, das ab Januar 2004 im irakischen Samawa Wiederaufbauhilfe leistete.103 Nach der Bildung der irakischen Regierung 2006 wurden die japanischen Streitkräfte aus dem Irak bis auf die in Kuwait stationierte Luftwaffe abgezogen. Letztere fungierte als Luftbrücke in den Irak für die US-Truppen und ihre Alliierten. Mitte Dezember 2008 wurde auch dieser Einsatz für beendet erklärt, die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Irak sollte jedoch fortgesetzt werden. Die Mandatsverlängerung für die Versorgungsschiffe im Indischen Ozean war im Herbst 2007 an einem Veto der Opposition im japanischen Oberhaus gescheitert, weswegen die Mission für über zwei Monate ausgesetzt wurde, bis im Januar 2008 ein Sondergesetz den erneuten Einsatz für ein Jahr legitimierte. Im Dezember 2008 setzte sich das japanische Unterhaus mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit über eine vorhergehende Ablehnung im Oberhaus hinweg und verabschiedete das Gesetz zur erneuten Mandatsverlängerung trotz heftiger Proteste der Opposition um ein Jahr.104 Im Januar 2010 endete die Mission. Seit 2009 sind die Maritimen Selbstverteidigungskräfte auch vor der Küste Somalias aktiv, wo sie sich dem internationalen Kampf gegen die Piraterie angeschlossen haben, die eine ernsthafte Bedrohung für die Schifffahrt im Golf von Aden darstellt. Zu diesem Zweck wurde 2011 im Nachbarland Djibouti ein japanischer Marinestützpunkt errichtet, der die japanische Präsenz in der Region weiter zementiert.105 Zu Beginn des japanischen Irak-Einsatzes lag die Ablehnungsquote in der japanischen Bevölkerung bei 80 Prozent und noch immer ist der Einsatz der JSDF in Kriegsgebieten ohne UN-Mandat sehr umstritten. Laut den Islamwissenschaftlern Fujita und Tanaka stehen japanische Nahostwissenschaftler fast geschlossen in ihrer Ablehnung des Irakkriegs und der Politik der japanischen Regierung. Einige von ihnen setzten sich aktiv dagegen ein, ohne jedoch von Politikerseite viel Beachtung zu finden.106 Von Gegnern des Irakeinsatzes wird dieser als Bruch des Artikels 9 der japanischen Verfassung angesehen; vor allem wegen der traumatischen Atombombenabwürfe 1945 gibt es in Japan eine starke Friedens- und Antiatomwaffenbewegung. Gleichzeitig gewannen jedoch seit den 1990er Jahren nationalistische Kräfte und die Bewegung zur Verfassungsreform und Abschaffung des ›Friedensartikels‹ zunehmend an Einfluss.107

103 Ebata (2007), Kuroki (2002), S. 200f, Miyagi (2008), S. 87–126, Penn (2014), Sakaki (2014), S. 4, Shinmi (2006) und Sunaga (2004), S. 22. 104 Asahi (2008a+b+c), Miyagi (2008), MOFA (2008) und Penn (2014 u. 2008c). 105 Katō (2011) und Lanna (2012). 106 Fujita, Interview, Kyoto, 16.1.2006, und Tanaka, Interview, Beirut 15.10.2007. 107 Isezaki (2010), Penn (2014 u. 2008b) und (2007), S. 45–49.

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Der schleichenden Aushöhlung der antimilitaristischen Prinzipien durch die schrittweise Ausweitung der Einsatzgebiete japanischer Truppen von UNFriedensmissionen, der Teilnahme am ›Krieg gegen den Terror‹ bis hin zur Aufwertung der ›Verteidigungsagentur‹ zu einem vollwertigen Ministerium und der Errichtung eines Stützpunktes in Afrika wird hierbei ein großer Erfolg attestiert. 108 Kuroda hatte zu Beginn der 1990er Jahre noch ein ›neo-pazifistisches Modell‹ propagiert, das vor allem auf wirtschaftliche Macht setzt und militärische Einsätze auf UN-Friedensmissionen begrenzt,109 ganz ohne ginge es aber nicht: »The Japanese public has realized that speaking for peace and paying for peace is not enough. Sweating and even dying for peace is also needed.« 110 Euphemismen wie der einer ›aktiv pazifistischen Nation‹ beschreiben das Bild eines neuen Japans, das sich aktiv militärisch für den Frieden einsetzt und auch keine unnötigen Vorbehalte gegen Waffenexporte mehr hegt.111 In Reaktion darauf wächst nicht nur in den asiatischen Nachbarländern das Misstrauen vor einem wiederkehrenden japanischen Militarismus. Auch wenn Japan in seiner Verfassung auf das Recht verzichtet, eine Armee zu halten, rangieren die japanischen Rüstungsausgaben unter den höchsten weltweit: 2014 stand Japan zwar nicht mehr wie 2010 auf Platz 6, zählte jedoch mit 45,8 Milliarden US-Dollar weiter zu den weltweiten Top Ten.112 Hughes konstatiert eine »Eskalation in Japans Remilitarisierung« in Form einer wachsenden strukturellen Korruption in Politik, Bürokratie, Militär und Rüstungsindustrie, der Aufweichung des Waffenexportverbots und des Aufbaus eines militärisch-industriellen Komplexes.113 Mit der 2014 im Kabinett und 2015 im Unterhaus beschlossenen Neuinterpretation des Verfassungsartikels 9 hat Premierminister Abe nun ungeachtet heftiger Proteste seitens der japanischen Bevölkerung und in schwierigem Verhältnis zum Verfassungstext selbst das Recht auf kollektive Selbstverteidigung für Japan beansprucht und damit den Verfassungspazifismus weiter untergraben. Auch die Neuformulierung der ODA-Charta wird in diesem Licht gesehen, da sie die Restriktionen in Bezug auf die Förderung ausländischer Militäreinheiten weiter aufweicht.114 Die neue ODA-Charta von 2015 setzt dementsprechend sicherheitspolitische Akzente und schreibt einen ›pro-aktiven Pazifismus‹ (sekkyo-

108 Lanna (2012), S. 118. 109 Kuroda (1994a), S. 23–30. 110 Kuroda (1994a), S. 29. 111 Kamiya (2004), S. 16–19. 112 Perlo-Freeman et al. (2015). 113 Hughes (2009b), S. 156, Übersetzung SG. 114 Sakaki (2014).

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kuteki heiwashugi) fest, der sich für weltweiten Frieden und Wohlstand einsetzt.115 Große Befürchtungen bestanden, dass das japanische Ansehen im Nahen Osten durch die Unterstützung der amerikanischen Politik und den Irakeinsatz stark in Mitleidenschaft gezogen würde. 2004 wurde ein syrischer Journalist folgendermaßen in der Japan Times zitiert: »I feel that the image of Japan in the Arab world is turning from that of a friend and role model to (those) ranging from an enemy to a no-longer-reliable friend.«116 Auch wenn der japanische Einsatz in der Regel nicht als Hilfe für den Irak, sondern lediglich als Unterstützung der USA angesehen wird, scheint die japanische Position im Nahen Osten jedoch nicht so langfristig gelitten zu haben wie zunächst angenommen. Die japanische Politik wird häufig damit entschuldigt, von den USA erzwungen worden zu sein.117 Die Allianz mit den USA wird allgemein als wichtigster Grund für die japanische Beteiligung in Afghanistan und im Irak angesehen.118 Dass es gleichzeitig auch immer um internationale Anerkennung für die japanische Außenpolitik geht, wird in Berichten japanischer Diplomaten wie diesem deutlich: »Each time I attended one of these meetings [des Council for International Coordination im Irak; Anm. SG], I could not help but feel the high expectations held of Japan by Iraq as well as the considerable voice Japan can therefore raise in matters of reconstruction aid. […] I met many Iraqis who had traveled from literally all corners of Iraq […] to express thanks for Japan’s support. Their eyes and their tone of voice immediately convinced me their gratitude was real. […] The president and the prime minister of Iraq have already officially thanked Japan for its support, and such feelings of gratitude are no less great among more ordinary Iraqi citizens.« [Herv. SG]119

Beschreibungen irakischer Dankbarkeit ziehen sich als roter Faden durch japanische Berichte über den Irakeinsatz der JSDF, von dem man sich zudem eine günstige Position im zukünftigen Irak erhofft.120 Bei der Analyse der jüngsten außenpolitischen Aktionen Japans darf ein jahrelanges Ziel nicht vergessen werden: ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dieser Aspekt

115 MOFA (2015). 116 Yoshida & Shimizu (2004). 117 Curtin (2005a+c) und Tanaka, Interview, Beirut, 15.10.2007. 118 Dowty (2000), S. 69f, Kamiya (2004), S. 14f, Okamoto (2003), S. 15ff, Penn (2007), S. 34–40 und Tanaka (2004), S. 5–10. 119 Miyake (2005), S. 28, 30f. 120 Degawa et al. (2007), S. 23.

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wird auch zur Erklärung des gegenwärtigen japanischen Engagements in Afrika herangezogen und generell als wichtigstes Motiv im Streben nach internationalem Prestige gewertet.121 Die Ambitionen auf einen ständigen Sicherheitsratssitz dienen zudem als Argument für die seit langem kontrovers diskutierte Abschaffung des ›pazifistischen‹ Artikel 9 bzw. seine Aufweichung (siehe oben).122 Nichtsdestotrotz stellen die Energieressourcen immer noch eines der wichtigsten Interessen Japans im Nahen Osten dar.123 Deswegen ist Stabilität in dieser Region auch für Japan von allergrößter Bedeutung. Nach der sogenannten ›Kono-Initiative‹ im Rahmen der Reise des damaligen Außenministers Kono 2001 in eine Reihe von Golfstaaten verhandelt Japan seit 2006 mit den Staaten des Golf-Kooperationsrates über den Abschluss eines Freihandelsabkommens, und japanische Firmen sind in Joint Ventures an einigen großen Rohstoffprojekten in diesen Staaten – wie etwa dem Rabigh-Projekt in Saudi-Arabien – beteiligt.124 Seit einigen Jahren hat Japan auf diesem Gebiet große Konkurrenz aus China und Indien bekommen, deren Energiebedarf im Zuge ihres Wirtschaftswachstums rasant zugenommen hatte. Mitte der 1990er Jahre ist China zum Nettoimporteur von Öl geworden. China ist auf dem Vormarsch, sich – auch mithilfe von Entwicklungszusammenarbeit und Waffenexporten – den Zugang zu Rohstoffen und Märkten in Afrika, Südamerika und Nahost zu sichern. Es verfügt über größeren Einfluss als Japan in der Hinsicht, dass es mehr Waffen exportiert und zudem einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehat. Im Nahen Osten unterhält China Ölprojekte etwa im Sudan, Irak, Kuwait und Syrien. Zahlreiche chinesische Gastarbeiter – vor allem in den Golfstaaten – konsolidieren zudem die chinesische Präsenz im Nahen Osten. China hat Japan bereits aus der Spitzenposition als Exporteur in den Nahen Osten verdrängt.125 Wie die chinesische Konkurrenz die japanischen Interessen beeinträchtigen konnte, zeigt sich am Beispiel der iranischen Azadegan-Ölfelder. Bei seinem Japanbesuch im Jahr 2000 hatte der damalige iranische Premierminister Mohammad Khatami Japan eine bevorzugte Behandlung bei den Verhandlungen über die Erschließung der Ölfelder in Azadegan versprochen, die als eine der größten unerschlossenen Ölreserven weltweit galten. Trotz US-amerikanischer Interventionsversuche

121 Burgschweiger (2008), S. 3, Susser (2007), S. 10f, 122 Akashi (2005), Isezaki (2010), Kawakami (2007), Kitaoka (2007b), S. 15ff und Penn (2007), S. 43ff. 123 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 124 Asō (2007), Azad (2007), Lanna (2012), S. 115f und MOFA (2007a). 125 Abo-Kazleh (2009), S. 186f, Azad (2007), Shaoul (1999) und Takahashi (2006), S. 2-7.

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schloss Japan im Februar 2004 ein Abkommen über dieses für Japan äußerst wichtige Energieprojekt in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar ab. Vor dem Hintergrund des Streits um das iranische Atomprogramm und auf verstärkten Druck aus Washington hin unterbrach Japan jedoch die Zusammenarbeit in Azadegan zunächst, woraufhin im Iran die Drohung geäußert wurde, mit China anstatt mit Japan die Ölfelder zu erschließen.126 2006 wurde die japanische Beteiligung an dem Projekt von 75 auf zehn Prozent reduziert und 2010 zog sich Japan komplett zurück. 2009 sicherte sich China zunächst die Förderung des nördlichen Azadegan-Feldes und anschließend auch des südlichen Feldes, das zuvor Japans Betätigungsfeld gewesen war.127 2011 kündigte China weitere Investitionen an und verdrängte so auch seinen anderen großen Rivalen Indien.128 Auch wenn Nishimura die Meinung vertritt, nicht US-amerikanischer Druck, sondern vielmehr die japanische – historisch begründete – Empfindlichkeit und Strenge gegenüber Atomwaffen seien der Grund für den Rückzug aus Azadegan gewesen,129 so war der Konflikt mit dem Iran doch generell eine ernstzunehmende Bedrohung für die japanische Energieversorgung. Die langfristige Energieversorgung ist ein kritischer Punkt für die japanische Außenpolitik, zumal fossile Brennstoffe nach dem Atomunfall in Fukushima 2011 und der darauffolgenden Abschaltung japanischer Atomkraftwerke weiterhin von großer Bedeutung sein werden. Die Einigung im Streit über das iranische Atomprogramm sowie die gesunkene Nachfrage aus dem schwächelnden China und der niedrige Ölpreis bringen in diesem Punkt allerdings eine gewisse Entspannung für Japan. Im Sinne eines ›pro-aktiven Pazifismus‹ hat Japan in den letzten Jahren einige Initiativen im Nahen Osten angestoßen. 2007 besuchte der damalige (und spätere) Premier Abe Shinzō mit einer 175köpfigen Wirtschaftsdelegation den Nahen Osten, um Handelsbeziehungen auch über das Erdöl hinaus zu fördern.130 Sein damaliger Außenminister, der spätere Premier Japans Asō Tarō, führte ein neues Konzept in die japanische Diplomatie ein: den ›Arc of Freedom and Prosperity‹, der den äußeren Bogen des eurasischen Kontinents umspanne und wo – mit Schwerpunkt auf dem Nahen Osten – Werte wie Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbreitet werden sollen (vgl. Kap. 7).131 In

126 Azad (2007), Lemanski (2006), S. 4–8, Miyagi (2008), S. 127–155, Penn (2008a), Takahashi (2006), S. 6 und Tanaka (2007), S. 59f. 127 Moran (2010), S. 27. 128 Teheran Times (2011). 129 Nishimura, Interview, Beirut, 23.10.2007. 130 Azad (2007). 131 Asō (2007) und MOFA (2007b).

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den 2000er Jahren organisierte die japanische Seite eine Reihe von Konferenzen, Foren und Workshops zur Kooperation mit den arabischen Ländern, so das Japan-Arab Dialogue Forum (2003–2006), Seminars on the Dialogue among Civilizations between Japan and the Islamic World (seit 2002), die Japan-Arab Conferences (seit 2007) und die Japan-Arab Economic Fora (seit 2009) sowie Workshops und Projekte im Rahmen der Broader Middle East and North Africa Initiative der G8.132 Die japanische Regierung hatte großes Interesse daran gezeigt, in das 2002 in Madrid ins Leben gerufene ›Nahostquartett‹ – bestehend aus der UNO, den USA, der EU und Russland – aufgenommen zu werden, da »ein Quintett auch schöne Musik macht«, 133 doch diese Hoffnungen wurden nicht erfüllt (vgl. Kap. 5.4). Dennoch bemüht sich Japan in den letzten Jahren vermehrt darum, die Rolle eines Friedensstifters im Nahen Osten übernehmen. Die japanische ›Friedensinitiative‹ im Jordantal, die in den folgenden Kapiteln behandelt wird, ist dabei mittlerweile zu einer Art Flaggschiff der japanischen Diplomatie und Entwicklungspolitik im Nahen Osten geworden.

F AZIT : V ERLAUFSLINIEN Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg diente die Institutionalisierung eines eigenen Entwicklungsapparates und einer nach außen gerichteten Entwicklungspolitik in Japan zuerst klar den Interessen der eigenen Exportwirtschaft. In den folgenden Jahrzehnten kamen mit dem deutlichen Zutagetreten globaler Interdependenzen – spätestens mit dem Öl-Schock von 1973 – auch politisch-strategische und diplomatische Aspekte hinzu, verbunden mit einem erweiterten Konzept von umfassender nationaler Sicherheit. In einem Balanceakt zwischen arabischer Erpressung durch den Ölboykott und der Militärallianz mit den USA schloss sich Japan größtenteils dem arabischen Israelboykott an und stellte sich in der Weltöffentlichkeit weitestgehend auf die Seite der Palästinenser. Die Entwicklungspolitik wurde nun auch dazu verwendet, die Beziehungen zu den arabischen Staaten zu pflegen, und der Anteil der Zuwendungen für den Nahen Osten am Gesamtbudget der japanischen ODA nahm deutlich zu. In der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges stellt die Entwicklungspolitik ein wichtiges Instrument der japanischen Außenpolitik dar, um größeren Einfluss auf die internationale Politik zu nehmen und dem japanischen Status als

132 MOFA (undatiert). 133 Andō (2003), S. 25, Übersetzung SG.

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ökonomischer Großmacht auch politisch Geltung zu verschaffen. Mit der Bedeutung Japans als Geberland in den 1980er Jahren nahm jedoch auch die Kritik an dessen Entwicklungspolitik auf nationaler wie internationaler Ebene zu, wurden in den letzten zwei Jahrzehnten tiefgreifende Reformmaßnahmen durchgeführt und das System in seiner heutigen Form neu strukturiert. Die im Oktober 2008 entstandene ›neue JICA‹ vereinigt nun sämtliche Funktionen der Entwicklungszusammenarbeit in einer Behörde. Im Jahr 2003 war außerdem eine ODA-Charta formuliert worden, in der die Bedeutung des nationalen Eigeninteresses Japans in einer Kompromissformel festgeschrieben ist und großer Wert auf die Sichtbarkeit japanischer Beiträge gelegt wird. Teils auf US-amerikanisches Drängen auf einen größeren japanischen Beitrag zur internationalen Sicherheit, teils jedoch auch auf Betreiben inländischer Kräfte hin, findet in Japan seit den 1990er Jahren eine zunehmende Aufweichung des ›Friedensparagraphen‹ 9 in der Verfassung statt. Angefangen mit der Teilnahme an PKO-Missionen der Vereinten Nationen bis hin zur Entsendung der japanischen Selbstverteidigungstruppen in den Indischen Ozean, in den Irak und ans Horn von Afrika zeigt Japan ein vermehrtes militärisches Engagement im Ausland. Mit der 2015 beschlossenen Neuinterpretation des Paragraphen soll nun auch der Einsatz japanischer Truppen im Falle einer ›kollektiven Selbstverteidigung‹ möglich sein. Auch die neueste ODA-Charta von 2015 legt einen größeren sicherheitspolitischen Schwerpunkt und setzt den ›pro-aktiven Pazifismus‹ an oberste Stelle. Japanische Bemühungen um eine wichtigere internationale Rolle zielen nicht zuletzt auch auf die Erlangung eines festen Sitzes im UNSicherheitsrat ab. Statt wie in der Vergangenheit eine Verwicklung in internationale Konflikte nach Möglichkeit zu vermeiden, strebt Japan nun nach einer stärkeren Beteiligung vor allem auch im Nahostfriedensprozess. Nachdem Japan eine Mitgliedschaft im Nahostquartett verweigert wurde, bleibt als wichtiges symbolpolitisches Mittel die Entwicklungspolitik in Verbindung mit (mehr oder weniger) öffentlichkeitswirksamen diplomatischen Initiativen wie dem eurasischen Arc of Freedom and Prosperity und dem Corridor for Peace and Prosperity im palästinensischen Jordantal.

4. Besetztes Palästina: Ökonomische Problemfelder und Entwicklungsräume

Die Wirtschaft in den palästinensischen Gebieten hat seit der Besetzung durch Israel 1967 weitreichende Transformationen durchlaufen und ist heute in großem Maße von der Besatzungspolitik geprägt. Diese wirkt sich auf alle Aspekte der palästinensischen Ökonomie aus, von der Mobilität der Bevölkerung über die Einbindung in die israelische Wirtschaft bis hin zur Kontrolle über Ressourcen und Grenzen. Ein zweites hervorstechendes Charakteristikum der palästinensischen Wirtschaft besteht in der übermäßigen Abhängigkeit von internationalen Entwicklungsgeldern insbesondere seit Beginn des Osloer Friedensprozesses 1993. Nachdem die Geschichte der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in den Gebieten im zweiten Unterkapitel kurz nachgezeichnet wird, folgt ein Überblick über jüngere Entwicklungsaktivitäten verschiedener Geberländer mit einem besonderen Fokus auf der japanischen Entwicklungszusammenarbeit. Im Folgenden verlagert sich der Fokus auf die spezielle Situation im landwirtschaftlich geprägten Jordantal, wo das japanische Agrarindustrieparkprojekt südlich von Jericho angesiedelt ist und wo die anfangs dargestellten Problemfelder in gesteigerter Intensität zum Tragen kommen. Der Zugang zu Ressourcen wie Land und Wasser ist ebenso eingeschränkt wie die Mobilität der Bevölkerung und die Planungs- und Investitionsfreiheit in diesem Gebiet, das seit den Osloer Verträgen zu weiten Teilen als ›Gebiet C‹ unter israelischer Kontrolle kategorisiert ist. Abschließend werden verschiedene Entwicklungsvisionen für den Jordangraben vorgestellt. Das prominenteste Beispiel ist die Valley-of-PeaceInitiative, die den Bau eines Kanals vom Roten zum Toten Meer vorsieht. Andere Entwicklungspläne weisen teilweise ähnliche Charakteristika auf wie das japanische Vorzeigeprojekt des Corridor for Peace and Prosperity, das am Ende des Kapitels vorgestellt wird.

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4.1 Ö KONOMIE

DER

B ESATZUNG

Die Wirtschaft in der Westbank und in Gaza basierte zu großen Teilen auf der Landwirtschaft und Transferleistungen von emigrierten Arbeitern und der UNRWA, bis sie nach der israelischen Besetzung der palästinensischen Gebiete 1967 umfassend in die israelische Wirtschaft eingebunden wurde und dadurch zunächst einen Aufschwung erfuhr. Zuvor hatte die jordanische Marginalisierungspolitik einen Abzug palästinensischer Industrieunternehmen aus dem Westjordanland in die Region um die jordanische Hauptstadt Amman zur Folge gehabt. Nach 1967 führten die Zollunion mit Israel und der arabische Boykott gegen (auch anteilig) israelische Produkte neben anderen Faktoren zu einer fast vollkommenen Abhängigkeit vom israelischen Markt sowie von Importen aus Israel, dem gegenüber ein großes Handelsdefizit entstand. Zweitgrößter Handelspartner war Jordanien, das jedoch auch die Boykottbestimmungen gegen Israel zum Schutz der eigenen Produktion instrumentalisierte.1 Seit 1967 haben israelische Erzeugnisse ungehinderten Zugang zu den palästinensischen Gebieten, umgekehrt bewilligte Israel jedoch nur den Import nicht konkurrenzfähiger palästinensischer Produkte nach Israel. Produkte mit einem besseren Preis-LeistungsVerhältnis gelangten gar nicht erst über die Grenze oder wurden mit hohen Steuern belegt und so verteuert. Die israelische Besatzungspolitik behinderte den Aufbau eigener Industrien und das Wachstum privater Unternehmen, die palästinensische Industrie blieb größtenteils auf kleine Zulieferbetriebe für israelische Textilfirmen beschränkt. Diese unausgewogene Integration in die israelische Wirtschaft spiegelte sich auch im Export von billigen palästinensischen Arbeitskräften nach Israel und in die israelischen Siedlungen wider. Diese verrichteten vor allem physisch anstrengende Hilfsarbeiter-Tätigkeiten auf niedrigem Lohnniveau im Bauwesen und in der Landwirtschaft.2 Katastrophale Auswirkungen hatte die israelische Besatzungspolitik, (nicht zuletzt zum Nutzen israelischer Siedlungen) palästinensisches Agrarland zu enteignen und den palästinensischen Zugriff auf Wasserressourcen drastisch zu beschränken. Die Besatzungsmacht hielt Investitionen in die Infrastruktur in den besetzten Gebieten durchgehend auf einem sehr niedrigen Niveau und überließ einen großen Teil der Finanzierung der Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme anderen Akteuren wie der UNRWA, NGOs, Wohltätigkeitsvereinen und gemeinnützigen Bildungseinrichtungen. Die Kontrolle Israels über die palästinensischen Gebiete durch die Israeli Defense Forces und die Zivilverwaltung

1

Lindner (2000).

2

Bouillon (2004), S. 41f, Brynen (2000), S. 39–43 und Lindner (1999), S. 51–90.

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schwächte die lokalen Regierungsstrukturen. So wurden etwa ab 1976 keine Kommunalwahlen mehr abgehalten, politisch nicht genehme Bürgermeister ausgetauscht und Gemeinden in finanzieller Abhängigkeit gehalten. Das bis 1981 geltende Verbot für nicht-israelische Banken, sich im Westjordanland und in Gaza niederzulassen, resultierte in einem schwachen Finanzsektor und wenigen Kreditmöglichkeiten für die Privatwirtschaft. Ein kompliziertes Nebeneinander von Militärerlassen und gesetzlichen Regelungen aus Zeiten des Osmanischen Reiches, der britischen Mandatszeit und der jordanischen bzw. ägyptischen Herrschaft untergrub die Rechtssicherheit in den palästinensischen Gebieten, oder, wie Hajjar schreibt, »contrary to the claim that in war law is silent […], in Israel/Palestine, law speaks volumes, in a cacophony.«3 Dies ermöglichte eine relativ willkürliche israelische Herrschaft, die in wirtschaftspolitischer Hinsicht häufig auf die Ausschaltung palästinensischer Konkurrenz zielte.4 Mit dem Ausbruch der ersten Intifada 1987 verschlechterte sich die palästinensische Wirtschaftslage deutlich. Verschlimmert wurde dies noch durch die Probleme der israelischen Wirtschaft und den Ausfall der Transferleistungen palästinensischer Gastarbeiter nach dem Golfkrieg 1991. Zusätzlich zu einer ausgedehnten Steuer- und Zollbelastung, die palästinensische Unternehmen gegenüber israelischen benachteiligte, führte ab 1987 ein kompliziertes System schwer zu erlangender Lizenzen von verschiedenen israelischen Behörden zur Kriminalisierung und anschließenden Demolierung vieler palästinensischer Betriebe. 5 Die Wirtschaftspolitik unter der israelischen Besatzungsmacht mit ihren Enteignungen, der Transformation der Arbeitskräfte in ungelernte Gastarbeiter und der Aushöhlung einer indigenen Landwirtschaft und Industrie und damit einer eigenständigen Wirtschaftsgrundlage beschreibt Roy als ›de-development‹: »De-development […] is the deliberate, systematic deconstruction of an indigenous economy by a dominant power. It is qualitatively different from underdevelopment, which by contrast allows for some form, albeit distorted, of economic development. Dedevelopment is an economic policy designed to ensure that there will be no economic base, even one that is malformed, to support an independent indigenous existence.«6

3 4

Hajjar (2005), S. 236. Brynen (2000), S. 40–44, Gordon (2008), al-Naqīb (1998), S. 20–33 und Roy (1999), S. 66f.

5

Arnon et al. (1997), S. 232 und Bouillon (2004), S. 43ff.

6

Roy (1995), S. 4.

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Im Friedensprozess ab 1993 wurden die israelisch-palästinensischen Wirtschaftsbeziehungen neu geregelt. Diese Arrangements waren ursprünglich als Provisorien angedacht, blieben jedoch mit dem Scheitern des Friedensprozesses und dem Ausbleiben permanenter Verträge bis heute in Kraft.7 Die Declaration of Principles von 1993 und das Paris Protocol on Economic Relations von 1994 mit seinen Güterlisten zur Regelung der Importe sicherten palästinensischen Produkten den freien Zugang zum israelischen Markt und umgekehrt, während Israel weiterhin den Import aus Drittländern kontrollierte und Einfuhrzölle dann an die Palästinensische Autonomiebehörde weiterleitete. Viele Importe werden allerdings als israelische Exporte in die palästinensischen Gebiete deklariert, wodurch der Autonomiebehörde ein Teil dieser wichtigen Einnahmequelle verloren geht.8 Zudem erhebt Israel Bearbeitungsgebühren auf die Weiterleitung der Einnahmen an die Palästinensische Autonomiebehörde und erlaubt zudem israelischen Gläubigern, ausstehende Zahlungen noch vor der Weiterleitung direkt von diesen Geldern abzuziehen. 9 Als Währung wurde der New Israeli Shekel auch für die palästinensischen Gebiete beibehalten. Weinblatt kritisiert, dass das Paris-Protokoll lediglich eine Interimslösung ohne Vorkehrungen für ein endgültiges Wirtschaftsabkommen war, fälschlicherweise von einer allgemeinen Akzeptanz für den Oslo-Prozess auf beiden Seiten ausging und als Vertrag zwischen zwei ungleichen Gegnern keine Mechanismen zur Durchsetzung der Regelungen und zur Verhandlung von Streitfällen vorsah. Diese Mängel hätten letzten Endes zum Scheitern des Paris-Protokolls geführt, da es zu anfällig für politische Turbulenzen war.10 Als stärkere Partei konnte Israel viele Aspekte der Abkommen zu seinem Vorteil auslegen und mit seiner wirtschaftlichen wie militärischen Dominanz je nach politischer und wirtschaftlicher Lage die integrativen oder die exklusiven Elemente betonen.11 Der Zugang zu internationalen Märkten hat sich mit den Abkommen für palästinensische Erzeugnisse theoretisch verbessert: Seit 1996 können sie zollfrei in die USA exportiert werden, 1997 wurde ein Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnet. Kritiker weisen allerdings daraufhin, dass die schwache palästinensische Wirtschaft über die Bindung an die weitaus stärkere israelische Wirtschaft, die überdies in den 1990er Jahren eine starke Liberalisierung durchmach-

7

Zagha & Zomlot (2004), S. 121ff.

8

Bouillon (2004), S. 43, Brynen (2000), S. 56f, Lindner (1999), S. 107-111, TaghdisiRad (2011), S. 110f und Zagha & Zomlot (2004).

9

Hever (2010), S. 62.

10 Weinblatt (2005), S. 109. Vgl. auch Rivlin (2010), S. 162f. 11 Zagha & Zomlot (2004).

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te, ohne eigene Kontrolle und Schutzmechanismen den »Winden der Globalisierung« ausgesetzt wurde.12 Die Freihandelsvorteile können zudem nicht vollständig ausgenutzt werden, da israelische Sicherheitsbestimmungen und Kontrollen den Warenverkehr stark einschränken. Mit der derzeitigen Abriegelung Gazas sind die Pläne für einen Handelshafen in Gaza Stadt und den Wiederaufbau des zerstörten Flughafens in Gaza bis auf weiteres hinfällig. Somit kontrolliert Israel bis auf temporäre Öffnungen des Grenzübergangs zu Ägypten in Rafah (und das informelle Tunnelsystem von Gaza zum Sinai) noch immer sämtliche internationalen Grenzen der palästinensischen Gebiete. Umfangreiche Sicherheitskontrollen an Checkpoints verteuern den Warenverkehr extrem und machen eine Liefergarantie unmöglich. So muss an Grenzübergängen zwischen dem Westjordanland, Israel und Gaza im sogenannten Back-to-back-Transportsystem die komplette Ware – paletten-, nicht containerweise – von palästinensischen auf israelische Lastwagen umgeladen werden. Gerade landwirtschaftliche Produkte werden bei dieser Prozedur häufig beschädigt oder ganz ruiniert.13 Die Sicherheitsvorschriften und zahlreichen Transporthindernisse bewirken auch einen deutlichen Preisanstieg bei Waren, die in die palästinensischen Gebiete importiert werden. Unter Bezugnahme auf die Kalkulation einer palästinensischen Consultingfirma demonstriert Hever, dass eine exemplarische palästinensische Firma für den Import eines Containers über 300 Prozent seines Wertes zahlen musste, nachdem eine Reihe von Extrakosten entstanden waren: Lagerungskosten im israelischen Hafen für die 40-tägigen Zollabfertigungsprozeduren (für palästinensische Importe besonders langwierig); zusätzliche Transportkosten, erhöht durch spezielle israelische Sicherheitsanforderungen; Schadensersatz für den Transportcontainer, der in leerem Zustand nicht mehr nach Israel zurückgelassen wurde; Diebstahl eines Drittels der Ware während des fast zweimonatigen Abfertigungs- und Transportprozesses, der zusätzlich mehrere Tage an Checkpoints aufgehalten wurde.14 Israel verfolgte eine Politik der graduellen Schließung der Grenzen mit dem Ziel der völligen Trennung der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung. Dauernde Abriegelungen und Ausgangssperren in den besetzten Gebieten seit März 1993 unterbanden den Personen-, Fahrzeug- und Warenverkehr und die Mobilität der Palästinenser teilweise vollständig. Diese bis heute in wechselnder Intensität andauernde Abriegelungspolitik stellte die tiefgreifendste Ver-

12 Taghdisi-Rad (2011), S. 93ff, Übersetzung SG. 13 Arnon et al. (1997), S. 236, Le More (2005b), S. 31, Roy (1999), S. 72ff, TaghdisiRad (2011), S. 101–105, Weltbank (2008a), S. 41–46 und Zaghra et al. (2004). 14 Hever (2010), S. 45f.

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änderung für die Ökonomie der palästinensischen Territorien seit 1967 dar und hat eine wirtschaftliche Depression nach sich gezogen. Die Abtrennung der palästinensischen Gebiete von externen Märkten und voneinander durch die Abriegelungspolitik lähmt die palästinensische Wirtschaft zunehmend; Arbeitslosigkeit und Armut in Palästina haben drastisch zugenommen.15 Nachdem im Gaza-Jericho-Abkommen von Kairo 1994 der israelische Truppenabzug aus großen Teilen Gazas und aus Jericho beschlossen worden war, teilte das Abkommen von Taba 1995 (»Oslo II«) das Westjordanland in drei Gebiete auf: städtische Gebiete (Bethlehem, Jenin, Nablus, Qalqilya, Ramallah, Tulkarem und große Teile von Hebron) unter der vollen Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (Gebiet A), unter mit Israel geteilte Zuständigkeit fallende ländliche Gebiete (Gebiet B) und große und zusammenhängende, aber dünnbesiedelte Gebiete unter voller Kontrolle der israelischen Armee (Gebiet C). Somit sind autonome palästinensische Gebiete durch Bereiche des Gebiets C umkreist und in kleine Enklaven zerteilt, während Reisen zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland ohnehin fast unmöglich geworden sind. 16 Durch ein kompliziertes Pass- und Passierscheinsystem wird Palästinensern ohne Jerusalemer Ausweis der Zugang zu Ostjerusalem, dem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Region, häufig verwehrt. In Jerusalem lebende Palästinenser werden in den letzten Jahren durch wachsende Mobilitätshindernisse, vor allem den Bau der Sperranlage, sowie die Zerstörung von palästinensischen Wohnhäusern, steigende Immobilienpreise, verschärfte Konditionen für Sozialleistungen und andere Abschreckungsmaßnahmen aus dem Stadtgebiet verdrängt bzw. verlieren sogar ihre Wohnerlaubnis für Jerusalem.17 Damit wird das Westjordanland praktisch horizontal in zwei Teile geteilt. 18 Große israelische Siedlungsblöcke, vor allem die Siedlungen Ariel zwischen Nablus und Ramallah und Ma’ale Adumim östlich von Jerusalem schneiden tief ins Westjordanland ein. Mit dem Ausbruch der zweiten oder Al-Aqsa-Intifada Ende September 2000 erhielt die israelische Abriegelungspolitik eine neue Qualität. Bereits geräumte palästinensische Regionen des Gebiets A wurden neu besetzt und zahlreiche Gebäude und Infrastruktur, auch Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde, zerstört. Auf die großangelegte Militäroperation Defensive Shield im März/April 2002 folgten monatelange Ausgangssperren in den palästinensischen

15 Brynen (2000), S. 64–67, Bouillon (2004), S. 43, Farsakh (2002), S. 16ff, 22, Roy (2001), S. 10ff, (1999), S. 68–72, 74–78 und Zagha & Zomlot (2004). 16 Lasensky (2005), S. 49 und Le More (2005b), S. 30ff. 17 Hever (2010), S. 103–136. 18 Hever (2010), S. 108–111 und Roy (2001), S. 11.

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Städten und Flüchtlingslagern, die bis in das Jahr 2003 andauerten. Die Ausgangssperren hatten ihren Ursprung im britischen Mandatsrecht und fanden bis 1967 bereits in den von Palästinensern bewohnten Gebieten innerhalb Israels Anwendung. Die Intensität und Dauer der Ausgangssperren 2002/03 jedoch war neu, hatte verheerende wirtschaftliche, soziale und psychische Folgen und wurde als Kollektivstrafe gegenüber der besetzten Bevölkerung verurteilt.19 Die Zerstückelung des Westjordanlandes und die Einschränkung der palästinensischen Bewegungsfreiheit, häufig unter Bezugnahme auf das ehemalige Apartheidregime in Südafrika auch ›Bantustanisierung‹ oder ›Kantonisierung‹ genannt, werden durch ein Netzwerk von für Palästinenser meist nicht zugänglichen Straßen und eine seit 2003 errichtete Sperranlage 20 zusätzlich verschärft. Letztere soll Israel vom Westjordanland trennen und vor palästinensischen Selbstmordattentätern schützen. Durch unterirdische vergitterte Tunnel und Rohre wurden Mauerabschnitte lediglich für wertvolle Wasservorkommen teilpermeabel gemacht.21 Die Anlage weicht auf 86 Prozent der Strecke teilweise extrem weit von der als ›Grüne Linie‹ bezeichneten Grenze (aus der Zeit vor der Besetzung 1967) in die palästinensischen Gebiete ab, trennt Dörfer von ihren Agrarflächen oder schließt ganze Orte vollständig ein und ersetzt somit den Hausarrest der Ausgangssperren mit »town arrest«22. Auf diese Weise werden über zehn Prozent des Westjordanlandes abgeschnitten. Die fertiggestellte Mauer wird ca. 250 000 Einwohner in Ostjerusalem vom Westjordanland trennen, ca. 35 000 Palästinenser zwischen der Sperranlage und der Grünen Linie isolieren, ca. 26 000 Palästinenser lediglich durch einen Tunnel oder eine Straße mit dem Rest des Westjordanlandes verbinden und eine weitaus größere Zahl von Menschen von ihren Wasserquellen, Acker- und Weideflächen, Schulen, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen trennen.23 Gleichzeitig mit der Zahl und Größe von israelischen Siedlungen im Westjordanland ist auch die Zahl der Straßenblockaden

19 Hanieh (2006). 20 Diese Sperranlage nimmt unterschiedliche Formen an: Gerade in dichtbesiedelten Gegenden präsentiert sie sich als massive, bis zu acht Meter hohe Betonwand, durchsetzt mit kamerabestückten, bemannten Wachtürmen. An anderen Stellen besteht sie aus einer Zaunanlage mit Gräben, Bewegungsmeldern und anderen technischen Finessen. Von Gegnern als ›Mauer‹ und von Apologeten als ›Sicherheitszaun‹ bezeichnet, wird sie in dieser Arbeit mit Blick auf ihre Funktionsweise als ›Sperranlage‹ benannt. 21 Weizman (2008), S. 27ff. 22 Hanieh (2006), S. 337. 23 Cook & Hanieh (2006), Lagerquist (2004), UNOCHA & UNRWA (2008), S. 6ff und Weltbank (2008a), S. 48.

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gestiegen. Im September 2008 wurden hier (ohne die zusätzlichen 69 Blockaden im israelisch kontrollierten Teil von Hebron) 630 Straßensperren gezählt, darunter 93 bemannte Checkpoints. Zusätzlich gibt es immer wieder fliegende Checkpoints an unvorhersehbaren Punkten.24 In den letzten Jahren wurden zwar einige Hindernisse abgebaut, meist jedoch, indem permanente Blockaden durch (verschließbare) Tore ersetzt wurden. Im September 2012 wurden immer noch 542 verschiedenartige Straßensperren gezählt. Der Ausbau des sekundären Straßensystems für Palästinenser in Form von Ersatzstraßen und mittlerweile 44 Tunneln erleichtert zusätzlich die Sperrung bestimmter Hauptverkehrsadern im Westjordanland für den exklusiven Gebrauch durch israelische Staatsangehörige – in der Mehrzahl, aber nicht ausschließlich israelische Siedler.25 Der Weltbankbericht von 2008 nennt die israelischen Handelsbarrieren und Mobilitätseinschränkungen als wichtigsten Störfaktor der palästinensischen Wirtschaft:26 »With due regard to Israel’s security concerns, there is consensus on the paralytic effects of the current physical obstacles placed on the Palestinian economy. In reality, these restrictions go beyond concrete and earth-mounds, and extend to a system of physical and administrative restrictions that prevent the realization of Palestinian economic potential. […A]id and reform without access are unlikely to revive the Palestinian economy.«27

Der Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt wurde nach dem Osloer Friedensprozess stark eingeschränkt, und Israel begann, die palästinensischen Arbeiter durch Gastarbeiter vor allem aus Südasien und Osteuropa zu ersetzen. Legale wie illegale palästinensische Arbeit in Israel und in zunehmendem Maße in den israelischen Siedlungen stellte jedoch weiterhin einen wichtigen Faktor für die palästinensische Wirtschaft dar und nahm vor dem Hintergrund eines israelischen Baubooms – vor allem in den Siedlungen im Westjordanland – ab 1997 wieder zu. Sie wurde allerdings seit den Osloer Verträgen durch ein komplexeres Genehmigungssystem und die israelische Abriegelungspolitik stärker reguliert und eingeschränkt. 28 Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada wurde der Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt erneut erschwert.29 Auch wenn israelische Behörden in den letzten Jahren immer wieder neue Arbeitsgenehmigungen für Palästi-

24 UNOCHA (2008), S. 1. 25 UNOCHA (2013), S. 3. 26 Weltbank (2008a), S. 37-58. 27 Weltbank (2008a), S. 10f. 28 Farsakh (2002), S. 16ff, 22ff und Zagha & Zomlot (2004), S. 126–135. 29 Farsakh (2002), S. 24f und Roy (2001), S. 14ff.

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nenser in Israel ausgegeben haben,30 macht die offizielle Beschäftigung in Israel seit 2002 nur noch um die zwölf Prozent der formellen palästinensischen Erwerbstätigkeit aus, fast die Hälfte des Niveaus im Jahr 2000.31 Eine Aufstockung um über 10 000 neue Genehmigungen erfolgte 2012 in Reaktion auf anhaltende Proteste im Westjordanland gegen stark gestiegene Energie- und Verbraucherpreise. Dieser Schritt wurde als Bemühung Israels interpretiert, die Regierung von Präsident Abbas und (Ex-)Premierminister Fayyad zu stützen und einen Ausbruch des ›Arabischen Frühlings‹ in Palästina zu verhindern.32 Vor dem Hintergrund der grassierenden Arbeitslosigkeit in den 1990er Jahren wurde die Palästinensische Autonomiebehörde zum Hauptarbeitgeber in den palästinensischen Gebieten, der 1998 um die 20 Prozent der berufstätigen Bevölkerung beschäftigte.33 Im Rahmen ihres im Dezember 2007 verabschiedeten Reformplans (Palestinian Reform and Development Plan, PRDP) hat die Autonomiebehörde die Zahl ihrer Angestellten zwar 2008 auf 141 000 reduziert,34 doch in den letzten Jahren ist die Zahl der Beschäftigten – vor allem im Sicherheitsapparat – wieder gestiegen.35 Ferner sind Tausende von Palästinensern als Mitarbeiter von UNRWA und anderen Entwicklungs- und Hilfsorganisationen angestellt. 36 Die Autonomiebehörde ähnelt zusehends einem Rentierstaat, der sich durch die taktische Verteilung von Entwicklungsgeldern (mehr oder weniger erfolgreich) die Kontrolle und die Loyalität der Bevölkerung sichert. Die Unterbrechung aller wirtschaftlichen Aktivitäten während der Al-AqsaIntifada, die Schließung von Bildungseinrichtungen, die Zerstörungen und die zahlreichen Toten und Verletzten durch die israelischen Angriffe fügten der palästinensischen Wirtschaft und Gesellschaft zusätzlichen Schaden zu. 37 Politische Instabilität und die massiven israelischen Luftangriffe 2008/09 und 2012 haben auch zum dramatischen wirtschaftlichen Niedergang und der humanitären Krise im Gazastreifen beigetragen, wo heute über 80 Prozent der Bevölkerung von humanitärer Hilfe abhängig sind und sich die Zahl der von Nahrungsmittelhilfe Abhängigen in weniger als zehn Jahren mehr als verzehnfacht hat.38 Die in

30 Weltbank (2008a), S. 20. 31 Weltbank (2012a), S. 7. 32 Lahav & Kais (2012). 33 Roy (1999), S. 70f. 34 Weltbank (2008a), S. 28. 35 Weltbank (2012a), S. 8f. 36 Shearer & Meyer (2005), S. 168. 37 Farsakh (2002), S. 24f und Roy (2001), S. 14ff. 38 Amnesty International UK et al. (2008), S. 7.

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den darauffolgenden Jahren nur minimal gelockerte Blockade des dicht bevölkerten Landstreifens durch Israel seit Juni 2007 hat dort die industriellen Aktivitäten zu 98 Prozent zum Erliegen gebracht. 39 Während in Israel sinkende Verbraucherpreise in der auf den Ausbruch der zweiten Intifada folgenden Rezession unter Ökonomen für Beunruhigung sorgten, litt die palästinensische Wirtschaft zeitweise unter einer starken Stagflation: Vor allem die Abriegelungspolitik, Produktionsausfälle und immense Transportkosten ließen die Preise trotz Einkommenseinbrüchen weiterhin stark ansteigen, was einen rapiden Kaufkraftverfall bei der palästinensischen Bevölkerung nach sich zog.40 In den letzten Jahren scheint die palästinensische Wirtschaft einen gewissen Aufschwung zu genießen, Ramallah erlebt einen Bauboom und eine »economicpeace bubble«.41 Relativ hohe Wirtschaftswachstumsraten auch in Gaza hingen jedoch immer noch mit dem Wiederaufbau nach der Al-Aqsa-Intifada zusammen und der partielle Aufschwung spiegelt laut Weltbank nicht die allgemeine wirtschaftliche Lage wider: Zugangs- und Exportrestriktionen, der Mangel an Treibstoff sowie daraus resultierende Stromausfälle fügten anderen Wirtschaftssektoren in Gaza, insbesondere der Landwirtschaft, Fischerei und der verarbeitenden Industrie, erheblichen Schaden zu.42 Auch im Westjordanland leiden diese Sektoren stark unter den israelischen Restriktionen. Der Bausektor hat ebenfalls an Schwung verloren, da zum einen hohe Zahlungsrückstände zu einer Flaute bei öffentlichen Aufträgen geführt haben und zum anderen fast alles verfügbare Bauland im Gebiet C liegt, wofür von israelischer Seite kaum Baugenehmigungen zu bekommen sind. Insgesamt erlebt die palästinensische Wirtschaft eine deutliche Abschwächung, was sich auch in steigenden Arbeitslosenzahlen niederschlägt: Im zweiten Quartal 2012 erreichte die Arbeitslosigkeit im Westjordanland 17,1 Prozent und im Gazastreifen sogar 28,4 Prozent. Diese Problematik wird verschärft durch die schwere fiskalische Krise der Palästinensischen Autonomiebehörde, die dringend auf die – sinkenden – Hilfszahlungen aus dem Ausland angewiesen ist. Da sie über keinen Zugang zu externen Kapitalmärkten verfügt, hat die Autonomiebehörde bis Mitte 2012 Schulden in Höhe von ca. 4,8 Milliarden Schekel (1,2 Milliarden US-Dollar) bei lokalen Gläubigern angehäuft; die seit 2009 akkumulierten Zahlungsausstände gegenüber dem Privatsektor belaufen sich auf geschätzte 500 Millionen US-Dollar. Auch Rentner und Angestellte im öffentlichen Sektor müssen teilweise lange Zeit auf ihre Bezüge

39 Weltbank (2008a), S. 22–27. 40 Hever (2010), S. 42–47. 41 Khalidi & Samour (2011), S. 8. 42 Weltbank (2012a).

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und Gehälter warten – vor allem, wenn Israel aus politischen Gründen palästinensische Steuern zurückbehält oder zugesagte Hilfsgelder nicht überwiesen werden. Zusätzlich zur politischen Unsicherheit und Finanzschwäche der Autonomiebehörde wirken sich die zahlreichen israelischen Restriktionen äußerst abschreckend auf potenzielle private Investitionen aus, welche die Weltbank als unabdingbar für einen palästinensischen Wirtschaftsaufschwung erachtet.43 Eine Studie des Palästinensischen Ministry of National Economy und des Applied Research Institute-Jerusalem (ARIJ) zu den Kosten der israelischen Besatzung für die palästinensische Wirtschaft nennt folgende Faktoren absteigend geordnet nach der Schwere der Belastung: die Blockade von Gaza, die indirekten Kosten durch den eingeschränkten Zugang zu Wasser, der eingeschränkte Zugang zu natürlichen Ressourcen (Mineralien aus dem Toten Meer, Steinbrüche, Offshore-Gasvorkommen vor Gaza), direkte Kosten aus dem Bezug von Elektrizität und Wasser von Israel, internationale Handelsbeschränkungen, Einschränkungen der Mobilität, Restriktionen für den Tourismus am Toten Meer sowie mutwillig entwurzelte Bäume. Die Studie beziffert die Kosten im Jahr 2010 auf ca. 6,9 Milliarden US-Dollar, also fast 85 Prozent des palästinensischen Inlandsprodukts.44 Die israelische Besatzung muss somit als Hauptgrund für die ökonomischen Probleme in den palästinensischen Gebieten erachtet werden.

4.2 G ENEALOGIE

EINES

›E NTWICKLUNGSLANDS ‹

Vor Abschluss der Osloer Verträge und dem Beginn des ›Friedensprozesses‹ erreichte finanzielle Unterstützung die palästinensischen Gebiete hauptsächlich über das UN-Flüchtlingshilfswerk für palästinensische Flüchtlinge inner- und außerhalb der palästinensischen Gebiete (UNRWA), das Anfang der 1950er Jahre nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg und der Gründung Israels eingerichtet worden war. Neben (bis zum zweiten Golfkrieg) teilweise sehr großzügigen Beiträgen von arabischen Ländern und auch der PLO engagierten sich seit den 1970er Jahren auch westliche Geber wie USAID und die Europäische Kommission im Westjordanland und Gazastreifen. Nach den Camp-DavidVerhandlungen von 1978 begann die US-Regierung mit vermehrten Zahlungen an private amerikanische Hilfsorganisationen im Westjordanland und Gaza, um durch die Stärkung der palästinensischen Wirtschaft bessere Bedingungen für ei-

43 Weltbank (2012a). Vgl. auch Hofmann (2011). 44 Palestinian Ministry of National Economy & ARIJ (2011).

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ne politische Einigung zu schaffen.45 Große öffentliche Aufmerksamkeit erhielt die Entwicklungszusammenarbeit in diesen Gebieten dann in den 1990er Jahren, als die ODA-Zuwendungen pro Kopf ein Niveau erreichten, das zu den weltweit höchsten gehörte.46 Für die UNRWA ist jedoch mit der Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde 1994 ein Konkurrent entstanden, der den Großteil internationaler Hilfsgelder auf sich zieht, während die Zahlungen an UNRWA seit 1993 trotz wachsender Bevölkerungszahlen mehr oder weniger stagnieren. Dies ist insbesondere deswegen problematisch, da die UNRWA im Gegensatz zur PA nicht nur für die palästinensischen Gebiete, sondern auch für rund vier Millionen palästinensische Flüchtlinge in Jordanien, Syrien und dem Libanon zuständig ist. Die Engpässe zeigten sich zudem in einer geminderten Reaktionsfähigkeit auf die humanitären Krisen nach Ausbruch der zweiten Intifada.47 Nach Abschluss des Paris-Protokolls im Rahmen des Osloer Friedensprozesses vom 29. April 1994 wurde ein Aufbauprogramm über die Weltbank in Höhe von ca. 2,5 Milliarden US-Dollar für die ersten fünf Jahre beschlossen. Der bereits 1993 gegründete Palestinian Economic Council for Development and Reconstruction (PECDAR) diente als Koordinationszentrale für die Hilfsprojekte, zeigte sich jedoch bald angesichts mangelnder Kapazitäten und einer unkooperativen Haltung Israels mit der Aufgabe überfordert. Gleichzeitig erhielt er zunehmende Konkurrenz von Ministerien mit sich überschneidenden Zuständigkeitsbereichen wie dem Wirtschafts- und dem Planungsministerium. 48 Mittlerweile übernimmt das Planungsministerium die hauptsächliche Kommunikation mit der Gebergemeinschaft.49 Die neue Situation und die Aufgabe, die finanzielle Unterstützung für die palästinensischen Territorien drastisch zu erhöhen, stellten auch die Behörden der Geberländer vor Probleme. So konnte Japan keine direkten Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde leisten, da seine Entwicklungsgelder an internationale Organisationen und Staaten gebunden waren, die Autonomiebehörde jedoch keinen Staat repräsentierte. Stattdessen flossen japanische Gelder zunächst über verschiedene UN-Organisationen in die palästinensischen Gebiete, bis eine Förderung der Autonomiebehörde als legitime vorstaatliche Regierung ermöglicht wurde.50 Die Geber behielten große Kontrolle über

45 Shearer & Meyer (2005), S. 167. 46 Brynen (2000), S. 44–48 und Le More (2004), S. 208. 47 Parvathaneni (2005). 48 Brynen (1996), S. 83f und Lindner (1999), S. 111–123. 49 Brynen (2000), S. 134–137. 50 Brynen (1996), S. 80ff und Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008.

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die Verwendung ihrer Gelder und orientierten sich in ihrer Politik nicht immer primär an entwicklungspolitischen Zielen, wie Brynen bemerkt: »Virtually all donors wanted to become involved in projects that maximized their political visibility and credit. […] There was also commercial competition among funders for projects having longer-term economic benefit. Some aid is tied, and procurement guidelines may mandate preferences for suppliers from the donor country.«51

Oft dauerte es lange Zeit, bis die versprochenen Hilfsgelder tatsächlich ausgezahlt wurden; in vielen Fällen blieben sie schließlich aus. Um der schlechten Koordination unter den Gebern und der mangelnden Kohärenz mit formulierten Entwicklungszielen beizukommen, wurde 1994 das Local Aid Coordination Committee ins Leben gerufen, das monatliche Treffen mit rund 30 Gebervertretern vor Ort abhielt.52 Große politische Konkurrenz in der Entwicklungspolitik herrschte insbesondere zwischen den USA und der EU,53 wovon Japan im Jahr 1999 profitierte, als es das jährliche Treffen des 1993 als Forum zur Koordinierung der Geberländer eingerichteten Ad Hoc Liaison Committee (AHLC) abhielt; die USA waren nicht mit einem europäischen Land als Gastgeber und damit als stellvertretender Vorsitzender einverstanden gewesen.54 1998 wurde nach einigen Verzögerungen ein neues Investitionsförderungsgesetz erlassen, das verbesserte Rahmenbedingungen für Investoren vorsah. 55 Auf ausländische Privatinvestitionen, angezogen durch den Friedensprozess, waren große Hoffnungen für die Stimulierung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums in den palästinensischen Gebieten gesetzt worden. Obwohl einige wenige Firmenkonglomerate wie die Palestine Development and Investment Company (PADICO) eine große Investitionstätigkeit aufwiesen (vgl. Kap. 5.3), blieben die tatsächlichen Investitionen auch von Exilpalästinensern weit hinter den Erwartungen zurück. Sie konzentrierten sich zudem hauptsächlich auf Immobilien und nicht auf Produktionsmittel. Abgeschreckt wurden potenzielle Investoren unter anderem durch unsichere politische Aussichten, das unübersichtliche Nebeneinander juristischer Regulationen aus diversen Epochen, man-

51 Brynen (1996), S. 81. 52 Brynen (1996), S. 81f und Samara (2000), S. 30. Für eine Übersicht über die in den 1990er Jahren neu herausgebildeten Entwicklungsgeberstrukturen und entsprechenden PA-Organe siehe Brynen (2000), S. 87–106. 53 Brynen (2000), S. 82–85, 91–94. 54 Le More (2008), S. 94. 55 Lindner (1999), S. 111–123.

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gelhafte Infrastruktur, eingeschränkte Mobilität durch israelische Abriegelungspolitik, Probleme mit der PA-Verwaltung und den schwachen Finanzsektor. 56 Bereits im Frühjahr 1995 hatte die Weltbank die Konstruktion neun grenznaher Industrieparks vorgeschlagen, deren Zahl in einer zweiten Weltbank-Vorstudie 1996 auf drei »Prioritätsprojekte« in Karni/Gaza, Nablus und Jenin oder ersatzweise Tulkarem reduziert wurde. Die Errichtung auf palästinensischem Gebiet in Kooperation mit Israel wurde als günstigste Variante angesehen, da so beide Seiten gleichermaßen beteiligt werden könnten (vgl. Kap. 6.1).57 Die in den 1990er Jahren begonnene Entwicklungszusammenarbeit in den palästinensischen Gebieten wurde begleitet durch einen gleichzeitigen wirtschaftlichen Niedergang und wachsende Arbeitslosigkeit. 58 So trugen die Entwicklungsgelder weniger zur Entwicklung einer palästinensischen Wirtschaft bei, als dass sie vielmehr den Friedensprozess einigermaßen auf tragbarem Niveau hielten und die schlimmsten ökonomischen Auswirkungen der israelischen Abriegelungspolitik abfederten. Gleichzeitig stieg und steigt die palästinensische Abhängigkeit von Entwicklungsgeldern beständig.59 Roy zieht eine negative Bilanz der ersten fünf Jahre der Entwicklungszusammenarbeit in Palästina: »While there is no doubt that donor aid has played an essential role since September 1993, this role has not promoted long-term economic transformation, but rather has financed the costs of closure in order to keep the ›peace process‹ politically alive. How long will donors be willing to do this? Moreover, if the closure continues, the already limited impact of aid will diminish even more as the population increases.«60

Das Wye-Abkommen vom Oktober 1998 erwähnte die Auswirkungen der israelischen Abriegelungspolitik nicht. Stattdessen forderte es eine pünktliche Eröffnung des exportorientierten Industrieparks in Karni im Gazastreifen (Gaza Industrial Estate, GIE), die noch im Dezember desselben Jahres stattfand. Bis zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Al-Aqsa-Intifada im September 2000 und damit dem einstweiligen Ende seiner Nutzung hatte der hauptsächlich von der PADICO-Tochtergesellschaft Palestinian Industrial Estate Development and Management Company (PIEDCO), der Weltbank und USAID geförderte GIE allerdings lediglich schlecht bezahlte Arbeitsplätze für ca. 1 000 Palästinenser ge-

56 Brynen (2000), S. 117ff. 57 Lindner (1999), S. 112f. 58 Samara (2000), S. 24. 59 Birzeit (2005), S. 113, 135f und Roy (1999), S. 79. 60 Roy (1999), S. 79.

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schaffen. Wegen des wirtschaftlichen Niedergangs nach dem Ausbruch der AlAqsa-Intifada und der daraus entstehenden Notlage für die Bevölkerung verdoppelte sich die finanzielle Unterstützung von außen zeitweilig auf durchschnittlich 308 US-Dollar pro Kopf im Zeitraum 2001–2002. Allerdings war nun ein Großteil der Gelder, anstatt die palästinensische Wirtschaft zu stabilisieren, als humanitäre Hilfe und Budgetunterstützung für die Palästinensische Autonomiebehörde reserviert. 61 Das Verhältnis von Entwicklungsgeldern zu Geldern für humanitäre Hilfe, das im Jahr 2000 noch 7:1 stand, kehrte sich 2002 zu einem Verhältnis von 1:5 um.62 Mit der gesteigerten Gefährdungslage wurden außerdem zentrale Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt und der Exodus vieler ausländischer Entwicklungsexperten und Vertragspartner läutete das Ende zahlreicher Entwicklungsprojekte ein.63 Die nächste große Blockade der Entwicklungszusammenarbeit erfolgte 2006: Nachdem die Hamas, die sich weigerte, das Existenzrecht Israels und die Gültigkeit bereits abgeschlossener Verträge anzuerkennen, bei den Parlamentswahlen im Januar eine große Mehrheit gewonnen und im März die Regierung übernommen hatte, belegte das Nahostquartett die Autonomiebehörde mit einem finanziellen Boykott – eine Reaktion, die der palästinensische Journalist Ibrahim als »blatantly political string-pulling behind the scenes of aid policy«64 verurteilt. Da auch Israel die für die Palästinensische Autonomiebehörde eingetriebenen Steuern und Zölle einbehielt, verlor letztere damit über zwei Drittel ihres Budgets und geriet in Zahlungsrückstand gegenüber rund 150 000 Behördenangestellten, die seit Februar 2006 kein regelmäßiges Gehalt mehr erhielten.65 Um eine drohende humanitäre Krise abzuwenden oder abzuschwächen, wurden auf anderen Wegen Gelder in die palästinensischen Gebiete geleitet. So rief etwa die EU den Temporary International Mechanism (TIM) ins Leben, über den an der gewählten palästinensischen Regierung vorbei zur Erhaltung der Grundversorgung und der Infrastruktur beigetragen wurde. Der internationale Boykott gegen die Palästinensische Autonomiebehörde wurde erst aufgehoben, nachdem die Hamas im Juni 2007 gewaltsam die Macht im Gazastreifen übernommen hatte und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas den Hamas-Regierungschef Ismail Haniyya durch den der Fatah zugehörigen Salam Fayyad ersetzt hatte.66 Der Ga-

61 Ibrahim (2011), S. 70f, Le More (2008), S. 126, 179 und Roy (1999), S. 78. 62 Le More (2005b), S. 27f und Shearer & Meyer (2005), S. 167. 63 Ibrahim (2011), S. 68f. 64 Ibrahim (2011), S. 74. Vgl. auch Taghdisi-Rad (2011), S. 163–168, 181ff. 65 Ibrahim (2011), S. 73ff, 83 und Oxfam (2007). 66 Ibrahim (2011), S. 75f, 92, Macintyre (2007a) und Taghdisi-Rad (2011), S. 163–168.

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zastreifen ist seit Juni 2007 weitestgehend abgeriegelt; auf einer Geberkonferenz 2009 im ägyptischen Sharm-al-Sheikh wurden fast 4,5 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau zugesichert und 2010 einige Einfuhrbeschränkungen für Hilfsorganisationen gelockert, aber die internationale Unterstützung für diese Region bleibt weiterhin eingeschränkt.67 Auf der Pariser Geberkonferenz nach der Annapolis-Konferenz 2007 präsentierte die Autonomiebehörde eine neue Reformagenda, den auf drei Jahre angelegten Palestinian Reform and Development Plan (PRDP) mit Maßnahmen insbesondere zur Haushaltsanierung der Autonomiebehörde und einem Fokus auf der Modernisierung ihrer Sicherheitskräfte.68 Die EU hat in der Folge ihren TIM durch ein neues Instrument zur Unterstützung des PRDP eingesetzt: Der Mécanisme Palestino-Européen de Gestion de l’Aide Socio-Économique (PEGASE) kanalisiert nun die gesamte EU-Hilfe für die palästinensischen Gebiete.69 Auch die Weltbank hat ihren neuen Multi-Donor Trust Fund auf den PRDP ausgerichtet.70 Der Sondergesandte des Nahostquartetts Tony Blair, der damals neue palästinensische Premier Salam Fayyad und der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak wählten zudem bestimmte Projekte als ›Quick Impact Projects‹ aus, um als Starthilfe für den Wiederaufbau der palästinensischen Wirtschaft zu dienen. Zu diesen Projekten gehört auch das in dieser Arbeit thematisierte Agrarindustrieparkprojekt im Jordantal.71

4.3 G EGENWÄRTIGE INTERNATIONALE E NTWICKLUNGSAKTIVITÄTEN Das größte einzelne Geberland für das Westjordanland und den Gazastreifen waren von 1993 an die USA, die Europäische Kommission lag allerdings 20052007 mit deutlich höheren Beiträgen vorne. Mit Saudi-Arabien, Algerien, Qatar und den Vereinigten Arabischen Emiraten gehörten in diesem Zeitraum auch einige arabische Länder zu den größten zehn Geberländern für Palästina.72 Aller-

67 Weltbank (2008a), S. 35f, und (2012a). 68 Ibrahim (2011), S. 95–126. 69 Ibrahim (2011), S. 92f. 70 Für eine genaue Übersicht der EZ-Koordinierungsstrukturen in den palästinensischen Gebieten auf dem Stand von April 2008 siehe PNA (2008), Anhang 2 und 3. 71 Office of the Quartet Representative (2007), S. 2ff, 9–12 u. Weltbank (2008b), S. 10f. 72 PNA (2008), Anhang 6.

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dings wurden gerade die arabischen Geberländer in den letzten Jahren für die mangelnde Einlösung ihrer Hilfsversprechungen kritisiert. Japan hatte zwischenzeitlich auch zu den zehn größten Geberländern gezählt, findet sich 2014 jedoch auf Platz elf wieder: Tabelle 2: Die 15 größten Geber für die palästinensischen Gebiete 2014 Rang

Geberland/-organisation

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

USA EU-Institutionen UNRWA Großbritannien Deutschland Norwegen Schweden Australien Frankreich Kanada Japan Schweiz Niederlande Dänemark Spanien

Brutto-Zahlungen von ODA 2014 545 483 385 137 124 118 68 60 57 51 42 33 32 30 20 (Millionen US-Dollar)

Quelle: DAC (2015a).

Die folgenden Absätze gewähren beispielhaft einen kursorischen Einblick in die Entwicklungsprogramme einzelner Länder in den palästinensischen Gebieten. Die Haushaltsunterstützung für die PA, die einen großen Teil der internationalen ODA für Palästina ausmacht, wird hierbei weitestgehend ausgeklammert. USAID hat in den letzten fünfzehn Jahren dem Sektor ›Wasserressourcen und Infrastruktur‹ die meisten Aufwendungen zukommen lassen, gefolgt von den Sektoren ›Demokratie und governance‹, ›Wirtschaftswachstumsaktivitäten‹ und ›Gesundheit und humanitäre Hilfe‹. Projekte finden sich unter anderem in den Bereichen Wasserversorgung, Unterstützung von kleinen und mittelständi-

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schen industriellen Unternehmen, ›Grenzverbesserungsprojekte‹ 73 , Wiederaufbauprojekte und eine zur Zeit auf Eis gelegte Meerwasserentsalzungsanlage in Gaza 74 sowie Straßenbau- und andere Infrastrukturprojekte, die nicht zuletzt auch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fungieren sollen.75 Auch Deutschland war an Straßensanierungen beteiligt. Die drei Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit neben der budgetären und humanitären Soforthilfe liegen erstens auf Wasser, Abwasser und Abfallentsorgung, zweitens auf Wirtschaftsreform und Beschäftigung und drittens auf dem Aufbau von Institutionen und der Förderung der Zivilgesellschaft. Die deutsche Entwicklungspolitik erhebt Führungsanspruch im Wassersektor in den palästinensischen Gebieten. Ein anderes Programm soll durch den Neubau und die Sanierung von Schulen kurzfristig neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, und weitere Projekte zur Berufsausbildung und -vermittlung sowie zur Unternehmensberatung die Privatwirtschaft fördern. 76 Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) unterhält neben Abwasserprojekten und dem obengenannten Schulbauprogramm einen Kreditgarantiefond für palästinensische Unternehmen.77 Deutschland war im Juli 2008 Gastgeber einer internationalen Geberkonferenz, auf der 242 Millionen US-Dollar für den Aufbau eines funktionierenden Polizei- und Justizsystems in Palästina zugesichert wurden. Auch das deutsche Auswärtige Amt betreibt ein Projekt zur Stärkung der Polizeistrukturen.78 Das bekannteste Projekt jedoch, das einige Zeit auch in der internationalen und nationalen Presse große Beachtung gefunden hat, war der geplante Industriepark in Al-Jalameh bei Jenin. Dieser war zugleich das Vorreiterprojekt für den japanischen Agrarindustriepark bei Jericho. Den Grundstein dafür hatte der damalige Bundespräsident Rau bereits 1999 gelegt. Das Projekt war mit dem Ausbruch der zweiten Intifada und der Zerstörung bereits bestehender Infrastruktur durch die israelische Armee zum Stillstand gekommen, Ende der 2000er Jahre jedoch neu aufgerollt worden. Die Infrastruktur, von der Bundesregierung mit einem Darlehen von 14 Millionen Euro finanziert, steht bereits weitestgehend, und eine hochrangige Delegation von deutschen Unternehmern zeigte am

73 Explizites Ziel dieser Projekte ist die Verbesserung sowohl der Mobilität palästinensischer Personen und Güter als auch der Sicherheit Israels (USAID-Homepage). 74 Weltbank (2008a), S. 52. 75 USAID-Homepage. 76 Homepage des BMZ und der GIZ. 77 Homepage der KfW. 78 Auswärtiges Amt (2008) und Homepage der GIZ. Die EU unterhält seit 2006 eine Polizeimission für die palästinensischen Gebiete (EUPOL COPPS).

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Rande des Nahostbesuchs der deutschen Bundeskanzlerin Merkel im März 2008 ein generelles Interesse an Investitionen. 79 Allerdings wurde dieses Industrieparkprojekt zu einem sehr kontroversen Unterfangen: Das Bauland für den Park ist fruchtbares Agrarland. Bereits Ende der 1990er Jahre hatten palästinensische Unternehmer begonnen, hier Ländereien billig aufzukaufen, ohne dass die lokale Bevölkerung über die Entwicklungspläne informiert worden war. Berichte über Einschüchterungsversuche und Zwangsverkäufe sorgten für zusätzlichen Unmut bei Landbesitzern, Bauern und Bewohnern.80 Diese Vorgänge wecken auch die Sorge, dass palästinensisches Land, ein zentrales Element im palästinensischen Kampf um Souveränität, zum Objekt von Kommodifzierung und Spekulationsgeschäften wird.81 Darüber hinaus kamen Gerüchte auf, in dem zukünftigen Industriepark sollte die Organisation der Arbeiter in Gewerkschaften verboten werden, wovon die Bundesregierung jedoch nichts gehört haben will.82 Mittlerweile hat sich Deutschland partiell aus dem Problemprojekt zurückgezogen und der Türkei das Feld überlassen. Die Türkei hatte ursprünglich einen weiteren Industriepark in Tarqumiya nahe Hebron im Süden des Westjordanlandes vorgesehen. Im Jahr 2005 war auf Initiative türkischer, israelischer und palästinensischer Industrie- und Handelskammern hin das Ankara Forum for Economic Cooperation gegründet worden. Es hatte eigentlich die Wiederbelebung des ursprünglich israelischen Industrieparks in Erez im nördlichen Gazastreifen nach dem israelischen Rückzug aus Gaza geplant. 83 Angesichts der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen sollte dann ein neuer Industriepark in Tarqumiya gebaut werden, womit sich die israelische Regierung und die Palästinensische Autonomiebehörde im November 2007 einverstanden erklärt hatten.84 Da das vorgesehene Gelände im Bereich C gelegen ist, hingen nach Angaben der Autonomiebehörde weitere Arbeiten hier jedoch von der ausstehenden israelischen Genehmigung ab.85 Mittlerweile konzentrieren sich die türkischen Bemühungen also auf den Jalameh-Industriepark. 2009 wurde die ursprüngliche (palästinensische) Investorenfirma Global North Industrial Company aus den Planungen ausgeschlossen und stattdessen die türkische Firma Tobb-Bis Industrial Parks Management Company ins Boot geholt.

79 Cashman (2008). 80 Hamdan & Hilal (2010). 81 Bisan (2010c), S. 5. 82 Deutscher Bundestag (2010), S. 13. 83 World Trade Center Israel Ltd. (2005), S. 1. 84 Blair (2008). 85 PNA (2008), S. 32.

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Berichte darüber, dem türkischen Unternehmen würden quasi-souveräne Rechte in der Herrschaft über den Industriepark eingeräumt, riefen große Empörung in den palästinensischen Gebieten hervor. Weitere Schwierigkeiten bei der Etablierung des Parks bestanden auch in der Kollision eines Begrenzungszauns des zukünftigen Industriegebiets mit der israelischen Sperranlage. Palästinensische Bauern, die für den Bau enteignet wurden und wertvolles Agrarland zu verlieren drohen, sind vor Gericht gezogen, um für ihr fruchtbares Land zu kämpfen.86 Aufgrund seiner ungewissen Zukunft ist der Park alles andere als eine Erfolgsgeschichte; in Berichten über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in den palästinensischen Gebieten findet der Industriepark kaum noch Erwähnung. Auch Südkorea hatte 2008 Interesse am Aufbau eines Industrieparks in den kommenden drei Jahren angemeldet. 87 Die französische Entwicklungszusammenarbeitsagentur Agence Française de Développement (AFD) hat 2011 in der Nähe von Bethlehem ein Industrieparkprojekt in Angriff genommen, das sich allem Anschein nach recht erfolgreich entwickelt. Die Anlage ist bereits an Wasser und Strom angeschlossen und die ersten Unternehmen, ein lokaler Papierfabrikant und ein Hersteller von Molkereiprodukten, sollten Anfang 2013 den Betrieb dort aufnehmen.88 Neben der Förderung des Privatsektors liegt das französische Hauptaugenmerk auf dem Wassersektor.89 Die Arbeiten an einer Notfall-Abwasserkläranlage in Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen unter Beteiligung der Weltbank, der EU, Schwedens und Belgiens ziehen sich allerdings aufgrund der israelischen Blockade notwendiger Güter und der Kriegszerstörungen in die Länge.90 Weitere Schwerpunkte Frankreichs liegen auf der Unterstützung für palästinensische NGOs, der Stärkung von Lokalverwaltungen in Städten und Gemeinden sowie der Energie- und der Gesundheitsversorgung.91 Norwegen hat seit 2011 den Vorsitz der Geberländer für die palästinensischen Gebiete inne. Die Priorität der Entwicklungszusammenarbeit liegt auf dem Aufbau von Institutionen für einen zukünftigen palästinensischen Staat. Weitere Schwerpunkte werden auf die finanzielle Unterstützung für den PA-Haushalt sowie die Bereiche Energie und Bildung gelegt.92 Die schwedische Organisation Swedish International Development Cooperation Agency fokussierte sich nach

86 Bahour (2010) und Silver (2012). Vgl. zur Vorgeschichte auch Rapoport (2004). 87 PNA (2008), Anhang 4. 88 AFD (2012). 89 AFD (2008). 90 Weltbank (2008a), S. 52. 91 AFD (2012). 92 PNA (2008), Anhang 4 und Norad.

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dem Gaza-Krieg 2009 vor allem auf den Wiederaufbau und den Schutz von Menschenrechten.93 Das britische Department for International Development des UK engagiert sich primär im Bereich der Stärkung von PA-Kapazitäten und Zivilgesellschaft sowie der Unterstützung für den Privatsektor, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und humanitäre Hilfe für palästinensische Flüchtlinge und den Gazastreifen.94 Chinas vorgesehene finanzielle Unterstützung für die PA in den Jahren 2008–2010 bewegte sich in einem sehr begrenzten Rahmen, auffällig ist jedoch, dass diese Gelder für Ausrüstung im Sicherheitssektor bestimmt waren.95 2012 hat China zum wiederholten Mal Nothilfe für Gaza in Höhe von einer Million US-Dollar zugesagt.96 Die japanische Entwicklungszusammenarbeit in den palästinensischen Gebieten bewegt sich in einem begrenzten finanziellen Rahmen, zumal an die Palästinensische Autonomiebehörde keine Kredite, sondern nur Grants vergeben werden; ihre Rückerstattungskapazität für Kredite ist nach Einschätzung des japanischen Finanzministeriums nicht gegeben.97 Da in der japanischen ODA jedoch generell Kredite überwiegen, ist Palästina von einem Großteil der japanischen Entwicklungsprogramme ausgeschlossen. Im März 2016 soll die Gesamtsumme der japanischen ODA für die palästinensischen Gebiete 1,7 Milliarden US-Dollar erreichen.98 2011 kam die erste JICA-Auszubildende nach Palästina; aufgrund der instabilen Sicherheitslage und des begrenzten Projektportfolios wurden die Auszubildenden im Nahen Osten aber eher nach Syrien, Jordanien oder Ägypten geschickt, wo es auch Freiwilligenprogramme gibt und eine Kreditvergabe stattfand.99 Ursprünglich stand in der japanischen Entwicklungszusammenarbeit die Kapazitätenförderung der Kommunalverwaltung – vor allem in Hinblick auf grundlegende Finanzpolitik und Budgetplanung – im Mittelpunkt. In Jericho hat JICA ein Trainingszentrum für das palästinensische Ministry of Local Government eröffnet, um Angestellte der Kommunalregierungen auszubilden.100 Seit 2010 fin-

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Homepage von SIDA.

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Homepage des DFID.

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PNA (2008), Anhang 4.

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Ynet (2012).

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Hayashi (1999), S. 79 und Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011.

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MOFA (2016).

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Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011.

100 Nach Aussage von Morishita (Interview, Jericho, 22.1.2008) wird das Trainingszentrum stark genutzt, was meinen eigenen Beobachtungen 2008 allerdings nicht entsprach; die Leiterin des Zentrums war zwar bei meinem Besuch anwesend, aber die

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den in diesem Rahmen auch Kooperationsprojekte mit anderen ostasiatischen Projekten statt, in denen ein Transfer der Entwicklungserfahrungen ostasiatischer Staaten – in diesem Fall von den islamisch geprägten Ländern Indonesien und Malaysia sowie Singapur – nach Palästina stattfinden soll. Zu diesem Zweck werden sowohl Studiengruppen aus Palästina nach Ostasien geschickt, etwa um erfolgreiche japanische Industrieparkprojekte in Indonesien zu besichtigen, als auch ostasiatische Delegationen nach Palästina eingeladen. Ein Trainingsprogramm für Palästinenser in Indonesien soll ebenfalls ausgebaut werden.101 JICA erstellte 2006 in Zusammenarbeit mit den japanischen ConsultingFirmen KRI International Corporation und Nippon Kōei einen regionalen Entwicklungsplan für Jericho.102 Darauf basierend wurde eine Reihe neuer Projekte im Raum Jericho/Jordantal in Angriff genommen, den die japanische Entwicklungspolitik zu ihrem hauptsächlichen Handlungsfeld gemacht hat: Im Rahmen eines Mutter-Kind-Gesundheitsprojekts hat JICA zusammen mit UNICEF und dem palästinensischen Gesundheitsministerium einen Mutterpass herausgegeben, der nun im gesamten Westjordanland und Gazastreifen verteilt werden soll. Ein neuer gemeinsamer Lokalrat soll für grundlegende Dienste wie Wasser, Elektrizität und Abfallentsorgung zuständig sein. JICA führte Aufklärungsaktivitäten mit Postern, Vorträgen, Radiospots etc. durch, um die lokale Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, für kommunale Dienste wie die Müllabfuhr Geld zu zahlen. Gemeinsam mit oben genanntem Rat gibt JICA alle paar Monate einen Newsletter mit dem Titel »The Joint« heraus, in dem über aktuelle lokale Aktivitäten berichtet wird. Im Umland von Jericho (in Gebiet A) hat Japan außerdem als Pilotprojekt eine Mülldeponie gebaut und weitere Projekte zur Verbesserung des Müllabfuhrsystems durchgeführt, dessen Betrieb durch die Mobilitätshindernisse der Besatzung stark eingeschränkt wird.103

Einrichtung – Schreibtischstühle, Computer – war teilweise noch in Plastikfolien eingepackt und mehrere Räume schienen nur Lagerräume für Aufklärungsbroschüren zu sein. Letzteres wurde später auch von Morishita einem Kollegen gegenüber bemängelt. 101 JICA (2011), S. 12 und Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 102 JICA et al. (2006) u. JICA (undatiert a). 103 Dieser und die folgenden Absätze stützen sich, wenn nicht anders angegeben, größtenteils auf Interviews mit Morishita (Jericho, 22.1.2008), Mansour (Ramallah, 27.1.2008), Hatada (Tel Aviv, 29.1.2008), Nakano (Tel Aviv, 9.9.2011), Khatib (Jericho, 15.9.2011) und Fukuyama (Ramallah, 20.9.2011), auf meine Besuche beim JICA-Büro Ramallah und auf teils unveröffentlichte JICA-Informationsmaterialien.

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Da neben der Landwirtschaft vor allem auch der Tourismus als vielversprechender Wirtschaftssektor im Jordantal identifiziert wurde, finden auch in diesem Bereich japanische Projekte statt. Jericho und das Jordantal bergen großes historisches wie klimatisches Potenzial für den Tourismus. Die Gegend weist nicht nur eine Fülle biblischer Stätten auf, sondern auch viele Relikte aus der islamischen Geschichte (z. B. Mosaiken aus der Umayyadenzeit) sowie Überreste einer der ältesten Städte der Menschheitsgeschichte von vor fast 10 000 Jahren. Mit dem niedrigsten Punkt der Erde, dem Toten Meer, einem angenehmen Winterklima und weiteren natürlichen Attraktionen ist die Region eigentlich als Tourismusziel prädestiniert. Tsunoda, ein von der japanischen Regierung in der Jerichoer Tourismusabteilung eingesetzter Freelance-Berater beklagt sowohl die Behinderungen durch die Militärbesatzung als auch das mangelnde Bewusstsein der lokalen Bevölkerung für den touristischen Reichtum des Ortes. Israelische Tourismusunternehmen sowie einige palästinensische Unternehmer aus Ostjerusalem monopolisierten den Tourismus und lenkten die Besucherströme per Reisebus gezielt zu einzelnen Attraktionen und ihren Kooperationspartnern im Souvenirgeschäft, sodass Individual- oder Wandertouristen kaum den Weg in die Region und schon gar nicht in andere Läden und Restaurants fänden. Die lokale Bevölkerung sei damit von den Einkommensmöglichkeiten aus dem Tourismusgeschäft weitgehend abgeschnitten. Über die Erstellung von Informationsmaterial – zunächst einmal auch auf arabischer Sprache –, Veranstaltungen zum kulturellen Erbe Jerichos sowie über öffentlich-private Partnerschaften (PPP) und die Einrichtung des Jericho Heritage Tourism Committee soll diesem Missstand Abhilfe geschaffen werden und die Teilhabe der Einwohner an den touristischen Ressourcen, ein »pro-poor tourism«, gefördert werden.104 Der Corridor for Peace and Prosperity stellt die wichtigste japanische Entwicklungsinitiative dar, in deren Mittelpunkt ein geplanter Agrarindustriepark in Jericho steht (vgl. Kap. 4.6). Weitere Projekte in Zusammenhang mit diesem Konzept beinhalten den Bau einer Kläranlage, ein Projekt zur Verbesserung der Landwirtschaft, die Restaurierung von Straßen (vgl. Kap. 6.4) und den Bau einer Solaranlage. Die beiden letzteren Punkte hängen direkt mit dem geplanten Industriepark zusammen. Der Bau der Kläranlage in Jericho ist derzeit mit zugesagten 2,7 Milliarden Yen (ca. 30 Millionen US-Dollar) das teuerste bilaterale Projekt Japans in Palästina.105 Weil auf palästinensischer Seite eine Verwechslung stattfand und versehentlich Waqf-Land, also unverkäufliches islamisches Stiftungsland, das von einem Dattelbauern gepachtet und bewirtschaftet wurde,

104 Tsunoda, Interview, Jericho, 3.10.2011 und JICA (2011) u. (undatiert b), S. 16. 105 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011 und MOFA (2011).

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für die Kläranlage vorgesehen wurde, verzögerte sich der Bau allerdings um ungefähr ein halbes Jahr, bis die Sache vor Gericht und im Ministerrat geklärt und dem Dattelbauer eine entsprechende Kompensationszahlung zugesprochen worden war.106 In der ersten Phase des Landwirtschaftsprojekts sollte zum einen untersucht werden, wie sich Wasserverluste durch Verdunstung, poröses Material und Rohrbrüche vermeiden lassen, indem man etwa Bewässerungskanäle mit Abdeckungen versieht. Das eingesparte Wasser soll dann entweder als Trinkwasser oder zum Verbrauch in dem geplanten Agrarindustriepark verwendet werden. Zum anderen erhofft man sich Synergieeffekte von der Verbesserung landwirtschaftlicher Anbaumethoden in wasserarmen Gegenden mit viel Brackwasser. Auf mehreren Modellfarmen wurden japanische und lokale Anbaumethoden nebeneinander verwendet, um die Vorzüge der japanischen Methoden zu demonstrieren. In einer zweiten Phase soll die Produktion hochwertiger Agrarprodukte, die Produktqualität von Gemüse und damit die Rentabilität der palästinensischen Landwirtschaft gesteigert werden.107 Die japanische Entwicklungszusammenarbeit im Gazastreifen beschränkt sich derzeit auf die Entsendung von palästinensischem Personal zu technischen Trainings nach Japan. Bis 2012 wurden außerdem Mülldeponien ausgebaut; Projekte zur Renovierung einer Straße und des Abwassersystems in Khan Yunis konnten lange wegen der gegenwärtigen Blockade und des akuten Baustoffmangels nicht fortgesetzt werden.108 Es gibt jedoch in Gaza eine sehr aktive JICAAlumni-Organisation von ehemaligen palästinensischen Trainees, die bei der Durchführung diverser Projekte und Workshops von JICA unterstützt wird.109 Da aufgrund des Boykotts gegen Hamas kein direkter Zahlungsverkehr möglich ist, werden Gelder für Gaza auf ein Konto nach Jericho überwiesen und von dort nach Gaza gebracht. Jede Woche findet eine Videokonferenz mit den JICABüros in Jericho, Ramallah, Gaza und Tel Aviv statt, in der die Aktivitäten abgestimmt und alle Seiten auf den neuesten Stand gebracht werden.110

106 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 107 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011 und eigene Beobachtungen. 108 MOFA (2011). 109 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 110 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011, und eigene Beobachtungen.

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4.4 M ACHTGEOMETRIEN IM J ORDANTAL Der Jordan fließt von seinen Hauptquellen in den Bergen des Südlibanon durch den See Genezareth in Israel und das Jordantal ins Tote Meer. Der See Genezareth, das Jordantal, das Tote Meer und die Arava-Senke, die vom Toten Meer bis zum Golf von Akkaba am Roten Meer reicht, bilden den Jordangraben. Hier befindet sich die tiefste Landsenke der Erde, im Gebiet des Toten Meeres auf einer Höhe von unter 400 Metern unter dem Meeresspiegel. Der Jordangraben ist wiederum Teil des Großen Afrikanischen Grabenbruchs, der sich von Syrien durch das Rote Meer bis nach Mosambik in Ostafrika erstreckt und von beträchtlicher seismischer Aktivität geprägt ist. Der Jordangraben birgt ein hohes Tourismuspotenzial mit seinem speziellen sub-tropischen Klima, seinem Reichtum an Mineralien und vor allem seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung. Er beherbergt sowohl die Überreste einer der ältesten bekannten menschlichen Siedlungen der Welt als auch Stätten von großer Bedeutung für die verschiedenen Religionen der Region. Zudem bilden der Jordan und umliegende Grundwasserleiter eine wichtige Wasserquelle in einer Gegend mit ausgeprägtem Wassermangel und stehen damit im Mittelpunkt territorialer Konflikte, zumal das Gebiet auch von strategischer Bedeutung ist. Israel, Jordanien, die Palästinensische Autonomiebehörde und Syrien erheben Ansprüche auf Teile der Region. Im Folgenden soll mit dem Begriff ›Jordantal‹ ausschließlich dasjenige Gebiet westlich des Jordans (inklusive der Osthänge der im Westen angrenzenden Bergkette) gemeint sein, das in die palästinensischen Autonomiegebiete des Westjordanlandes fällt. Das Jordantal ist landwirtschaftlich geprägt und mit ca. 60 000 permanenten Bewohnern111 – und damit lediglich ca. zwei Prozent der gesamten palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlandes auf über einem Viertel seiner Gesamtfläche – vergleichsweise dünn besiedelt. Die palästinensische Bevölkerung konzentriert sich auf die Stadt Jericho und 24 Dörfer. Zusätzlich leben dutzende beduinischer Gemeinschaften im Jordantal. Die fruchtbaren Böden, die reichhaltigen Grundwasserreserven und das ganzjährig günstige Klima im Jordantal bergen großes Potenzial für die Produktion hochwertiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Gegenwärtig bewirtschaften Palästinenser eine Fläche von 53 000 Dunum112 im Jordantal, weitere 770 000 Dunum werden als zusätzliche potenzielle landwirtschaftliche Nutzflächen angesehen, sind aber von der Bewirtschaftung ausgeschlossen. Außerdem kultivieren bis zu 10 000 israeli-

111 UNOCHA (2013), S. 23. 112 Eine Fläche von 5 300ha; ein metrisches Dunum entspricht 1 000m².

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sche Siedler 113 Ländereien im Jordantal in einer Größenordnung von 27 000 Dunum. 114 Zwischen 2 000 und 8 000 Palästinenser arbeiten in der Landwirtschaft der israelischen Siedlungen. Die Löhne sind äußerst niedrig und die Arbeitsbedingungen schlecht, zumal die meisten Arbeiter keine offizielle Arbeitserlaubnis von israelischer Seite bekommen, keinerlei Rechte haben und sämtliche Risiken – zum Beispiel im Falle eines Unfalls – selber tragen müssen.115 Das Jordantal gehört zu den Gebieten, die 1967 unter israelische Besatzung fielen. Im ›Gaza-Jericho-Abkommen‹ zwischen Israel und den Palästinensern von 1994 wurde der neu eingerichteten Palästinensischen Autonomiebehörde Selbstverwaltung über Jericho als erster Stadt im Westjordanland eingeräumt. 89 Prozent des Jordantals fallen jedoch in das Gebiet C, das immer noch unter voller israelischer Kontrolle steht.116 Da das Jordantal zu einem sehr großen Teil zu Naturreservaten und militärischem Sperrgebiet erklärt wurde, ist die palästinensische Landnutzung hier besonders stark eingeschränkt. Auch palästinensische Herdenhalter müssen größtenteils auf ihre traditionellen Weidegebiete verzichten oder bei Verstoß gegen die Zugangsbeschränkungen mit schweren Strafen rechnen. Obwohl verfügbares Weideland immer knapper wird, leben weiterhin bis zu 5 000 Beduinen und Herdenhalter unter äußerst prekären und unsicheren Umständen in 38 Gemeinden, die oft schon lange vor der Deklaration als militärische Schieß- und Sperrzonen Bestand hatten. Insbesondere diese beduinischen Gemeinden sind von systematischen Umsiedlungen durch die israelische Verwaltung betroffen und leben in der ständigen Bedrohung von Abrissmaßnahmen, in der Regel ohne Zugang zu einer elementaren Grundversorgung.117 Erschwerend wirken sich zudem die weitflächige Landnutzung durch israelische Siedler und fehlende palästinensische Wasserzugangsrechte aus.118 Im Jordantal haben sich die meisten landwirtschaftlich tätigen Siedler niedergelassen. In den letzten Jahren ist vor allem die Dattelproduktion stark angestiegen, sodass mittlerweile 60 Prozent der gesamten ›israelischen‹ Dattelproduktion aus den besetzten Gebieten im Jordantal kommen.119 Zwischen der in Nord-Süd-Richtung

113 Der UNOCHA-Report (2012, S. 23) zählt 2012 um die 9 500 israelische Siedler in 37 Siedlungen und Außenposten in der Region ›Jordantal und Totes Meer‹. 114 PLO Negotiations Support Unit (2006), S. 2ff, Stop the Wall Campaign (2007), S. 3 und Weltbank (2012a), S. 17f. 115 Alinat (2006) und MA’AN & Jordan Valley Popular Committees (2010), S. 19ff. 116 PLO Negotiations Support Unit (2006), S. 4. 117 MA’AN & JV Popular Committee (2010), S. 28 und UNOCHA (2013), S. 23ff. 118 Hass (2006), Le More (2008), S. 48 und UNOCHA (2007), S. 42–45, 105, 114. 119 Hamoudeh (2012), S. 8–10.

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verlaufenden Straße Route 90 und dem Jordan wurde nach der Besatzung 1967 ein Gebiet als eine Art Pufferzone oder ›Niemandsland‹ vollständig eingezäunt und der palästinensischen Bevölkerung jeglicher Zugang zu den dort befindlichen Wasserquellen sowie ihr Anteil an den Wasserressourcen des Jordan versagt. Die meisten anderen wasserreichen Gebiete liegen in militärischen Sperrzonen und außer Reichweite einer palästinensischen Nutzung. Lizenzen für den Bau neuer Brunnen oder die Instandhaltung bereits bestehender Brunnen in den israelisch verwalteten Gebieten des Jordantals erhält in der Regel allein die staatliche israelische Wassergesellschaft Mekorot. Die palästinensische Wassernutzung im Westjordanland beschränkt sich derzeit auf 17 Prozent des Wassers in den Grundwasserleitern, während Israel die restlichen 83 Prozent für seine Siedlungen verwendet oder nach Israel für den dortigen Konsum oder den Wiederverkauf an die palästinensischen Gebiete pumpt. Während die Wasserversorgung für die israelische Bevölkerung – selbst innerhalb der Siedlungen im Westjordanland – staatlich subventioniert wird, sind palästinensische Gemeinden zunehmend vom käuflichen Erwerb ihrer Wasserressourcen von Mekorot abhängig – zu Preisen, die durch den Transport in Tankfahrzeugen noch erhöht werden. Der ungleiche Zugang zu Wasserressourcen untergräbt zusätzlich die Wettbewerbsfähigkeit palästinensischer Bauern gegenüber der israelischen Konkurrenz.120 Der palästinensische Wasserverbrauch im Westjordanland lag 2012 mit 70 Litern pro Kopf und Tag deutlich unter der von der Weltgesundheitsorganisation festgelegten absoluten Untergrenze von 100 Litern, 121 2008 bezifferte die Weltbank den täglichen Pro-Kopf-Verbrauch an Frischwasser sogar auf nur 50 Liter pro Tag.122 Die Ernährungssicherheit ist bei 24 Prozent der in Gebiet C lebenden Palästinenser nicht gewährleistet, unter Herdenhaltern, von denen viele in militärischen Sperrgebieten leben, liegt dieser Anteil sogar bei 34 Prozent.123 Auch die Errichtung neuer Gebäude und der Anschluss an Strom-, Wasserund Telefonnetze in den C-Gebieten erfordert die Zustimmung der israelischen Verwaltung. In der Regel wird sie nicht erteilt. Einige Dörfer sind damit von der Versorgung mit grundlegenden Gütern ausgeschlossen.124 Die Einschränkungen des Wohnungsbaus in den letzten 40 Jahren haben zu einer großen Bevölkerungsdichte vor allem in palästinensischen Gemeinden im Jordantal geführt. Ohne israelische Genehmigung errichtete Gebäude schweben in ständiger Gefahr,

120 Hass (2012) und Weltbank (2012a), S. 17f. 121 Palestinian Water Authority (2012). Vgl. auch Trottier (1999). 122 Le More (2008), S. 48 und Weltbank (2008a), S. 51f. 123 UNOCHA (2013), S. 25. 124 MA’AN & Jordan Valley Popular Committees (2010), S. 26–31.

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von der israelischen Armee wieder abgerissen zu werden.125 Die umliegenden israelischen Siedlungen hingegen verfügen über eine ausgezeichnete Infrastruktur und werden durch staatliche Subventionen gefördert.126 Der Zugang zum Jordantal wurde in den letzten Jahren für Palästinenser stark eingeschränkt. Im Jahr 2004 wurden ursprüngliche Pläne zunächst aufgegeben, das Westjordanland auch im Osten mit einer Sperranlage so zu umgeben, dass das Jordantal physisch vom Rest des Westjordanlandes getrennt würde. Stattdessen wurde ein virtuelles Sperrsystem aus Genehmigungen sowie Checkpoints um das Jordantal errichtet. Zeitweilig war grundsätzlich nur solchen Personen ohne Sondergenehmigung der Zugang zum Jordantal außerhalb von Jericho erlaubt, in deren Ausweispapieren das Jordantal als Wohnort verzeichnet war. Auf diese Weise wurde sogar Besitzern von Land oder Brunnen der Zutritt zu ihrem Privateigentum verwehrt, wenn sie nicht über die notwendigen Papiere verfügten. Mittlerweile ist der Zugang zum Jordantal – nach zahlreichen internationalen Protesten – grundsätzlich über sechs Straßen möglich, von denen vier mit Checkpoints versehen sind. Im Jordantal registrierte Fahrzeuge müssen in den Checkpoints vom registrierten Besitzer gefahren werden. Nicht registrierte Palästinenser können diese Checkpoints in registrierten öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß passieren, nicht aber in normalen Privatfahrzeugen. Alle Passagiere eines Fahrzeugs bis auf den Fahrer müssen aussteigen, sich Kontrollen für Fußgänger unterziehen und teilweise auch ihr Gepäck durchleuchten lassen.127 Nur an wenigen Wochentagen geöffnete Tore innerhalb des Jordantals trennen zahlreiche Familien von ihren Feldern.128 Auch die Nutzung der Hauptverkehrsstraße Route 90 in Nord-Süd-Richtung, die das nördliche Westjordanland mit dem einzigen Grenzübergang zu Jordanien, der Allenby-Brücke (bzw. palästinensisch ›Al-Karameh-Brücke‹ oder jordanisch ›King-Hussein-Brücke‹) verbindet, ist häufig Israelis und einzelnen palästinensischen Taxis und Privatautos mit Sondergenehmigungen vorbehalten.129 Das Tote Meer bleibt für Palästinenser an Wochenenden und jüdischen Feiertagen meist unerreichbar, die Ausschöpfung des touristischen wie mineralischen Potenzials bleibt Israelis vorbehalten.130 Temporäre Lockerungen der Restriktionen sowie die unregelmäßige

125 PLO Negotiations Support Unit (2006), S. 4f, Stop the Wall Campaign (2007), S. 4f und Weltbank (2008a), S. 48f und (2008b), S. 13f. 126 Friedman & Ofran (2008) und UNOCHA (2007), S. 106ff. 127 UNOCHA (2013), S. 23f. 128 UNOCHA (2008), S. 9. 129 B’Tselem (2006). 130 UNOCHA (2008), S. 9.

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Bemannung von Checkpoints tragen nur sehr begrenzt zur Erleichterung der Mobilität bei, da sich palästinensische Anwohner, Arbeiter, Unternehmer, Händler und Reisende ihrer (partiellen) Bewegungsfreiheit nie sicher sein können. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Palästinenser im Jordantal erfahren immer größere Einschränkungen. So wurde im Oktober 2005 der Verkauf palästinensischer landwirtschaftlicher Produkte am nächstgelegenen Marktstandort an der Grenze zu Israel untersagt. Stattdessen müssen die Waren jetzt zum weit entfernten Cargo-Checkpoint in Al-Jalameh nördlich von Jenin transportiert werden. Durch die Transportkosten werden sie zusätzlich verteuert und sind starken Beschädigungen – insbesondere auch durch die langen Wartezeiten an internen Checkpoints – ausgesetzt. 131 Auf dem innerpalästinensischen Markt hingegen sehen sich palästinensische Agrarerzeugnisse mit der starken Konkurrenz subventionierter israelischer Produkte konfrontiert. Zusätzliche Härten ergeben sich aus den Einfuhrverboten für landwirtschaftliche Inputs wie für viele Düngemittel und Pestizide seit Ausbruch der zweiten Intifada, während Saatgut oft lange Zeit an Checkpoints aufgehalten wird.132 Diese Einschränkungen für die palästinensische Nutzung speziell des Jordantals werden auch mit israelischen Annexionsplänen für dieses Gebiet in Verbindung gebracht (vgl. Kap. 6.4).

4.5 E NTWICKLUNGSVISIONEN Der bis 2014 amtierende israelische Präsident Shimon Peres unterstützte persönlich einen Entwicklungsplan für den Jordangraben, der allgemein unter dem Namen ›Valley of Peace‹ beworben wird. Zentraler Bestandteil dieses Plans ist der Bau eines Kanals vom Roten zum Toten Meer, mithilfe dessen das Tote Meer vor dem Austrocknen bewahrt werden soll. Um diesen Kanal herum sollen zahlreiche Entwicklungsprojekte wie Meerwasserentsalzungsanlagen, Wasserkraftwerke, künstliche Seen und Ferienorte die Wüste erblühen lassen. Geplant ist außerdem der Bau eines gemeinsamen israelisch-jordanischen Flughafens in Akkaba/Eilat.133 Die Zusammenarbeit und die für alle Seiten entstehenden Vorteile sollen das friedliche Zusammenleben von Israelis, Jordaniern und Palästinensern fördern.134 Auf der Webseite einer Firma für Projektpräsentationen bewirbt ein Animationsfilm die Vision des Valley of Peace mit folgendem Text:

131 Hass (2006) und Weltbank (2012a), S. 17f. 132 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008 und Stop the Wall Campaign (2007), S. 5f. 133 Lappin (2008). 134 Israeli Ministry of Regional Cooperation (2002).

112 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA ›Valley of Peace‹ »Along the Southern part of the Jordanian-Israeli border lies a large and arid valley – the Arava. The development of the Arava region on both sides of the border between Israel and Jordan is of great priority in contributing towards the population and the flourishing of the desert and to establishing lasting peace among the peoples of the region. As part of a vision to transform the Arava into a valley of peace, a plan has been prepared to create a Canal of the Seas. The plan includes the building of a canal spanning a distance of 166 kilometers from the Red Sea to the Dead Sea, travelling along the current border between Israel, Jordan and the Palestinians. In addition, desalination and power plants will be built, all based on modern, environmentally friendly technologies. The Canal of the Seas will allow for the production and transport of a billion cubic meters of desalinated water per year to the area for use by the community for agriculture and for manufacturing and development. The ›Valley of Peace‹ project will bring unequivocal change to the entire region. The barren desert will flourish and the arid lands will bloom with greenery on both sides of the border. The ›Valley of Peace‹ project will stimulate growth in habitation in the area and will encourage development of new communities for the benefit of the residents of the region. A promenade will be built along the length of the canal, featuring tourist attractions, parks, lakes, water falls and hotels serving the surrounding area. It will also feature one of the largest botanical gardens in the world, displaying unique plants and animals from around the globe. The rich and vibrant promenade will transform the region into a magnetic focal point for tourists from all over the world. Modern transportation arteries will span the length of the canal, including a high-speed railway, which will link the Red Sea with the Dead Sea in under an hour. Rural and urban communities will spring up on both sides of the Canal of the Seas, fostering development in agriculture, industry and joint hospitals and educational institutions between Israel, Jordan and the Palestinians. The project will create millions of new jobs and the entire area will become an active free-trade zone. ›Valley of Peace‹ is a self-sustaining economical project which will not require funding by any of the participating countries. The ›Valley of Peace‹ vision carries a message of cooperation and economic growth for the benefit of all of the region’s residents. And the day when the ›Valley of Peace‹ vision becomes a reality, true potential will unfold for establishing mutual trust, stability and comprehensive peace among the peoples of the region. « Werbevideo für das Valley-of-Peace-Projekt, Website von Viewpoint (2007), Transkription des Textes SG.

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Der Valley-of-Peace-Plan ist mittlerweile zum nationalen israelischen Projekt geworden. Die Idee, das Tote Meer mit dem Roten Meer oder auch mit dem Mittelmeer zu verbinden, lässt sich allerdings bis ins 19. Jahrhundert zu Theodor Herzl nachverfolgen. Peres legte 1993 diese Vision in seinem Buch »The New Middle East« dar, weiterführende Pläne wurden jedoch lange Zeit durch politische Verwerfungen mit den Palästinensern aufgehalten, bis es schließlich zu einer Einigung kam. 135 Mit Zustimmung der jordanischen und der palästinensischen Seite führte die Weltbank ab Mai 2008 für den Kanalbau vom Roten zum Toten Meer eine Machbarkeitsstudie und weitere Studien zu diesem Projekt durch. Deren Finanzierung in Höhe von voraussichtlich 16,7 Millionen USDollar) wird unter anderem auch von Japan getragen. Das Projekt ist allerdings keineswegs unumstritten. Anani befindet, dass Israel aufgrund seiner Vormachtstellung in der Region das Projekt unverhältnismäßig zu seinen eigenen Gunsten beeinflussen und gleichzeitig durch seine strategisch günstige Lage am meisten davon profitieren könne.136 Umweltschützer befürchten zudem eine ökologische Katastrophe.137 So sei nicht abzusehen, was für Folgen die Mischung von Wasser verschiedener chemischer Zusammensetzungen habe. Dies könne etwa zu Algenbildung, Gipsausfall und einer rötlichen Verfärbung des Toten Meeres sowie einem Verlust seiner einzigartigen Qualität und Heilkraft führen. Überflutungen des geplanten Kanals hätten die Verunreinigung des Grundwassers mit Salzwasser zur Folge. Ferner hätte der ursprüngliche Plan auch das seismische Gleichgewicht des Gebiets gefährdet und Erdbeben induzieren können. Daher werden alternativ zu einem Kanal nun auch Pipelines in Erwägung gezogen.138 Tourismus-, Industrie- und Agrargroßprojekte bedrohten zusätzlich die prekären Grundwasservorkommen im Jordantal; darüber hinaus begünstigte die Beckenlage des Tals die Luftverschmutzung durch derartige Unternehmungen. Sinnvoller und ökologisch verträglicher sei es, an der Wurzel des Problems, nämlich der übermäßigen Wasserentnahme aus dem Jordan, anzusetzen. Stark vom Israel-Palestine Center for Research and Information (IPCRI) kritisiert, dass keine Alternativen in Betracht gezogen werden: »[…I]f you’re going to spend five billion dollars, you better be sure there isn’t some cheaper way of doing it better. And they’re not into that. They’re just looking at it as a self-standing project. And that’s not good. […] It’s because the governments of Jordan

135 Sharp (2008), S. 4f. 136 Anani (2006), S. 11. 137 Anani (2006), S. 9f und Susser (2007), S. 12. 138 Weltbank (2012b).

114 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA and to a certain extent Israel want it done. They don’t want to wait. […] They want a practical, feasible – can it be done or not? If it can be done, they want it. They don’t want to merit that it’s probably cheaper to do X or Y. They want it done.«139

Am 24. Juni 2011 haben die palästinensischen Organisationen Stop the Wall Campaign und Palestinian Farmers Union (vgl. Kap. 5.1) zusammen mit der USamerikanischen Menschenrechtsorganisation Global Initiative for Economic, Social and Cultural Rights beim Untersuchungsausschuss (inspection panel) der Weltbank eine Neubewertung der Studie und möglicher Alternativen durch eine Untersuchungskommission eingefordert. Sie zweifeln an, dass die Studien die Richtlinien der Weltbank voll erfüllen, und kritisieren, dass bestimmte schädliche Auswirkungen eines solchen Projekts sowie alternative Lösungsansätze vernachlässigt, die nördlichen Anrainerstaaten Syrien und Libanon missachtet und die palästinensischen Interessen zu wenig in die Studie mit einbezogen worden seien. Das derzeit bestehende Wasserverteilungsregime am Jordan, welches die Palästinenser im Westjordanland stark benachteiligt, würde nicht infrage gestellt. 140 In ihrer Antwort hatte die Weltbank die Zuständigkeit der Untersuchungskommission und die Rechtmäßigkeit der Forderung angezweifelt; die Untersuchungskommission bestätigte aber die Zulässigkeit der Anfrage: »The Panel considered that the Requesters are raising legitimate concerns, such as potential adverse environmental effects on the Dead Sea, potential adverse effects on sources of water for the population in the West Bank, and the issue of legitimizing current off-take of water in the Jordan River Basin and from the Dead Sea. The Panel, however, did not recommend an investigation of whether the Bank has complied with its operational policies and procedures related to the Study Program because of certain unique and special circumstances and uncertainties at this stage.«141

Der Bericht erkennt die Legitimität der Kritik an, lehnt jedoch weitere Nachforschungen ab mit Verweis auf die besonderen Umstände der ›Friedensinitiative‹, die Israel, Jordanien und die Palästinensische Autonomiebehörde an einen Tisch gebracht habe, sowie auf die angesichts zahlreicher ungeklärter Probleme offene Zukunft des Projekts. Stop the Wall Campaign wiederum begrüßt dieses Einge-

139 Stark, Interview, Jerusalem, 17.1.2008. 140 Global Initiative for Economic, Social and Cultural Rights (2011) und Khalil (Stop the Wall Campaign), Interview, Ramallah, 24.9.2011. 141 Weltbank, Inspection Panel (2012).

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ständnis, kritisiert jedoch eine mangelnde internationale Handlungsbereitschaft und drängt auf eine politische Lösung für den Jordan: »The Palestinian population is at immediate risk of forced displacement, partially through lack of access to water caused and imposed by the Israeli occupation. Pressuring Israel to stop illegal excessive diversion of the water flow of the Jordan river is the cheaper, environmentally sustainable and legally correct solution. This alternative would restore the level of the Dead Sea, international legality and contribute to a lasting and just peace.«142

Für die Region des Jordantals bestehen noch weitere Entwicklungspläne unterschiedlicher Reichweite. Der Palestine Investment Fund (PIF) erwägt, unter dem Namen ›Madinat al-Qamar‹ (Stadt des Mondes) ein Projekt im Norden Jerichos in Angriff zu nehmen, das eine Bandbreite von Bereichen erfassen soll: Tourismus, Wohnungen, Industrie, Landwirtschaft und Handel.143 Isaac und Waltz beschreiben weitere Bogen-, Korridor- und Talprojekte für das Jordantal und die umliegenden Regionen: Das von der Chicagoer Ingenieursfirma HARZA (mittlerweile Teil der MWH Global) entworfene Jordan Rift Valley Project von 1997 etwa trägt bereits Züge, die dem unten beschriebenen japanischen Corridor for Peace and Prosperity deutlich ähneln. So sieht es die Förderung des regionalen Tourismus, grenzübergreifende Transportsysteme, Kraftwerke, grenznahe Industrieparks sowie gemeinsame Landwirtschaft und Fischzucht vor. Die neue Palästinensische Autonomiebehörde wurde zunächst nicht in diese Pläne mit einbezogen. Unter deutscher Vermittlung sollten zu Beginn des neuen Jahrtausends der palästinensische Masterplan mit dem israelischen koordiniert werden – Palestine 2015–Israel 2020 sah unter anderem grenzübergreifende Metropolregionen vor: Tel Aviv und Ramallah sollten beispielsweise wegen ihres säkularen Charakters verbunden werden. Der Thinktank RAND Corporation stellte 2005 The Arc vor, einen Infrastrukturkorridor, der Gaza – und in der Zukunft auch Haifa – mit dem Westjordanland verbinden und vielfältige Geschäftsmöglichkeiten sowie einen Zugang zum Weltmarkt eröffnen sollte. Isaac und Waltz kritisieren die Realitätsferne solcher Visionen, da sie völlig entkoppelt von der gegenwärtigen Raumgestaltung und der Besatzungspolitik Israels seien, die Problematik von Jerusalem ausklammerten und ohne ausreichende Konsultationen der palästinensischen Seite entstanden seien.144

142 Stop the Wall Campaign (2012). 143 PIF (undatiert). 144 Isaac & Waltz (2009), S. 256–261.

116 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA

4.6

J APANS C ORRIDOR FOR P EACE

AND

P ROSPERITY

Das Konzept des Corridor for Peace and Prosperity mit einem Agrarindustriepark als zentralem Bestandteil wurde anlässlich des Palästinabesuchs des damaligen japanischen Premierministers Koizumi Jun’ichirō im Juli 2006 öffentlich verkündet. 2007 stellte der damalige Außenminister Asō Tarō eines neues Konzept japanischer Außenpolitik vor: den Arc of Freedom and Prosperity (vgl. Kap. 3.5 und Abb. 8), eine Sphäre japanischer Wertvollstellungen im Nahen Osten.145 Die Rhetorik weckt Assoziationen zu dem Achsenvokabular des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush oder zur ›Großostasiatischen Wohlstandssphäre‹ des imperialistischen Japans. Gleichzeitig weist das verwendete Vokabular eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Valley-of-Peace- bzw. Canalof-Peace-Plan und ähnlichen Projekten auf (vgl. Kap. 4.5). Diese Ähnlichkeit ist aber nach Auskunft Hatadas, eines Angehörigen der japanischen Botschaft in Tel Aviv, zufällig, zumal von japanischer Seite schon 1999 beim Nahostbesuch des damaligen japanischen Außenministers Komura vom Corridor for Peace and Prosperity gesprochen worden sei.146 Auch wenn sie nicht in direkter Beziehung stehen, sind sowohl die Industrieparkprojekte bei Jenin und Tarqumiya (vgl. Kap. 4.3) als auch der japanische Entwicklungsplan für das Jordantal dennoch in den konzeptionellen Rahmen des Valley-of-Peace-Plans einzuordnen. 147 Insbesondere bei den palästinensischen Gesprächspartnern scheint diese Verbindung sehr präsent zu sein, teilweise werden die Projekte auch als offiziell zusammengehörig bzw. das japanische Projekt als Teilprojekt des anderen wahrgenommen.148 Ein Mitarbeiter von JICA in Palästina hingegen meint, er höre zum ersten Mal von dieser Verwechslungsgefahr.149 Ein als Teil der WikiLeaks-Unterlagen veröffentlichtes Schreiben der US-Botschaft in Amman vom 18. Oktober 2007 weist jedoch ebenfalls auf allgemeine Verwirrung hin: »There is general agreement on the basic pillars of the plan – economic stability for Palestinian areas, establishment of an agro-industrial park in the Jericho area, reconstruction of the Damiya Bridge, and construction of an airstrip to transport products to Gulf markets – but confusion abounds about the scope of the overall project, its name, and who is responsible for next steps. Israel, or at least President Peres, seems to favor a broad array of pro-

145 Asō (2007). 146 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 147 Lappin (2008). 148 Khalil, Interview, Ramallah, 24.9.2011, u. Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 149 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011.

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jects including the Red Sea–Dead Sea water conveyance project, JICA is focusing on feasibility studies for the agro-industrial park, and Jordan’s priority is the Damiya Bridge. Post observes that the key partners are not communicating well, and absent progress and commitments at the next meeting of the four parties (Israel, Jordan, Palestinian Authority, Japan), the project/s could well wither away. […] (SBU) COMMENT: These differing views of the Peace Corridor are further complicated by nomenclature. Many of Embassy Amman’s interlocutors use Peace Valley and Peace Corridor interchangeably. The Peace Corridor can be considered a sub-set of the Peace Valley.« [Herv. SG]150

Wenn auch von japanischer Seite diese Verbindung nicht erwünscht oder gezogen wird, so ist doch nicht zu leugnen, dass Tal wie auch Korridor des Friedens auf ähnlichen Prämissen basieren. Im Zentrum steht die Idee, basierend auf ökonomischer Kooperation und Entwicklung Räume politischer Stabilität und friedlicher Koexistenz zu schaffen. Eine direkte Verknüpfung mit Peres’ umstrittenem Kanalprojekt mag aus politischen Gründen nicht opportun sein; schließlich soll der Korridor nicht als weitere israelische Vereinnahmung palästinensischen Raums, sondern eher als japanischer Friedensraum verstanden werden.151 Kooperationspartner auf palästinensischer Seite ist an erster Stelle die Palestinian Industrial Estates and Free Zones Authority (PIEFZA), bei der drei japanische Experten als Berater abgestellt sind.152 Nach der offiziellen Ankündigung wurde von März bis August 2007 eine erste ›Vor-Machbarkeitsstudie‹ zu diesem Projekt durchgeführt.153 Im März 2008 wurde dann die primäre Machbarkeitsstudie in Angriff genommen und im Mai 2009 fertiggestellt.154 Da jedoch einige Fragen gerade im Hinblick auf potenzielle Investoren offengeblieben waren, wurde bis März 2010 noch eine Folgestudie erarbeitet.155 Nach dem Zeitplan der Vor-Machbarkeitsstudie sollte der Industriepark zunächst in zwei Bauphasen bis zum Jahr 2016 in einer Größe von 500 Dunum errichtet werden. Anschließend könnte der Industriepark dann ab 2017 noch einmal um 500 Dunum erweitert

150 WikiLeaks (2011a). 151 In diese Richtung geht auch die Vermutung im von WikiLeaks (2011c) veröffentlichten Telegramm der US-Botschaft in Tokyo vom 27.8.2007: »It is also likely that Japan would rather be seen as the driving force behind its own CPP initiative, rather than to play a support or assistance role in projects proposed by the Israelis.« 152 Farhat (PIEFZA) und Suzuki (PADECO), Interview, Ramallah, 6.10.2011. 153 Ein Beamter der Palästinensischen Autonomiebehörde gab den unveröffentlichten Entwurf dieser Studie, der im Folgenden zitiert wird, an mich weiter. 154 JICA et al. (2009). 155 JICA et al. (2010) und Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011.

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werden.156 Im Laufe der Jahre wurde dieser Zeitplan verändert und sieht nun für die erste Phase eine kleinere Fläche von nur 115 Dunum vor (vgl. Abb. 2) – diese hätte jedoch bereits Ende 2012 betriebsbereit sein sollen.157 In einer zweiten und dritten Phase könnte die Fläche um jeweils 500 Dunum vergrößert werden auf insgesamt 1 115 Dunum. Die erwartete Wertschöpfung für die erste Phase wird auf 3,8 Millionen US-Dollar im Jahr geschätzt, für Phase I und II zusammen auf 18,7 Millionen US-Dollar und für alle drei Phasen zusammen auf 41,6 Millionen US-Dollar. In der ersten Phase sollen 380 zusätzliche Arbeitsplätze generiert werden, mit Phase II und III zusammen insgesamt 3 790.158 Hauptziele der Planer des Jericho Agro Industrial Park, kurz JAIP, sind die Exportförderung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die erste JICA-Studie identifiziert Steine und Marmor, die Nahrungsmittel-, die Metall- und die Möbelindustrie als vielversprechende palästinensische Industriezweige, während gleichzeitig ein strategischer Schwerpunkt auf die Landwirtschaft gesetzt werden soll. Für den Agrarindustriepark wurden dementsprechend folgende Vorzugsindustrien ausgewählt: Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, Stein und Marmor, Pharmaindustrie und Metall-, Gummi- und Plastikindustrie.159 Thematisch soll sich der Park durch die Verbindung von frischen Agrarprodukten, Lebensmittel- und Pharmaindustrien unter dem Konzept von ›Human Well-being‹ fassen lassen.160 Da die Steinindustrie aber eher bei Bethlehem oder Jenin angesiedelt ist und ebenso wie chemische und pharmazeutische Industrien nur schwer mit den Hygieneanforderungen der lebensmittelverarbeitenden Industrien zu vereinen ist, sollen nun doch hauptsächlich Agrarindustrie sowie nachgeordnete Bereiche wie Verpackung und Logistik im Park angesiedelt werden.161 Räumlich soll der Park nach den sechs funktionalen Bereichen Produktion, Logistik, Forschung und Entwicklung, Gewerbe und Handel, Wohnen und Grünflächen strukturiert sein. 162 Dazu ist mittlerweile auch noch das Areal für die Solaranlage in dem Gebiet für Phase I hinzugekommen. Abbildung 2 zeigt ein neueres Computermodell des JAIP, das auch in vielen Informations- und Werbebroschüren Verwendung findet und in der rechten unteren Ecke die Solarpanels aufweist.

156 JICA (2007b), S. 5–33f. 157 JICA et al. (2009), S. III-82. 158 JICA et al. (2009), S. II-22–27. 159 JICA (2007b), S. 2-6–2-48, 4-1–4-4. 160 JICA (2007b), S. 5-6 161 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 162 JICA (2007b), S. 5-6–5-10.

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Abbildung 2: »Perspective View of Jericho Agro-Industrial Park«

Quelle: JICA et al. (2010), S. ii.

Da die Produktion hochwertiger Güter mit hoher Wertschöpfung für den Export und die Anregung ausländischer Investitionen anvisiert wird, sollte der Park ursprünglich zu einer Freihandelszone gemacht werden.163 Diese Idee ist jedoch zunächst auf Eis gelegt. Wiederholte Investorenkonferenzen,164 Steuerfreiheiten (erweitert durch Anpassungen im palästinensischen Gesetz für Industrieparks und Freihandelszonen),165 die externe Infrastruktur, Dienstleistungen wie ein integriertes BDS-Center (business development services) und andere finanzielle Anreize sollen potenzielle Investoren anlocken. Dazu gehören der Zugang zu einer Risikoversicherung gegen Verluste aus kriegerischen Konflikten über die Multilateral Investment Guarantee Agency der Weltbank 166 und Subventionen aus dem japanisch gestützten Fond der palästinensischen Partnership for Regional Investment Development & Employment (PRIDE), über den Investoren bis zu 35 Prozent ihrer Ausstattung und Baumaterialien finanzieren können.167 Angesichts der mangelnden Konkurrenzfähigkeit des Standorts im regionalen Kontext (etwa im Vergleich zu den jordanischen QIZ, vgl. Kap. 6.2) mit Mobilitäts-

163 JICA (2007b), S. 4–5f. 164 Im Dezember 2010 veranstaltete JETRO in Kooperation mit PALTRADE auch einen Workshop in Jericho zur Vermarktung von Lebensmitteln in Japan. 165 JICA et al. (2009), S. VI-4f. 166 Ford (2012). 167 PRIDE-Homepage.

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hindernissen, politischer Instabilität und einem vergleichsweise hohen Miet- und Lohnniveau in den palästinensischen Gebieten kommt eine JICA-Investorenstudie zu dem Schluss, dass sich der Agrarindustriepark zunächst um palästinensische Investoren bemühen sollte. 168 Das äußerst zurückhaltende Interesse ausländischer Firmen bestätigt diese Einschätzung, und mittlerweile gilt als wahrscheinlicher, dass in der ersten Phase vor allem palästinensische Firmen investieren, die großteils den palästinensischen Markt beliefern werden.169 Gerade Datteln sind allerdings zu einem der wichtigsten Agrarprodukte aus dem Jordantal geworden und bieten sich für den Export an. Die Datteln könnten – so die Idee für den Agrarindustriepark – zum Beispiel im Industriepark für den Versand und die Vermarktung verpackt werden. Als Exportmärkte kommen vor allem die Golfstaaten und Europa in Betracht. Die palästinensischen Produkte sollen über Jordanien in die Absatzmärkte gebracht werden. Deswegen werden auch die Restaurierung und erneute Inbetriebnahme der Damiya-Brücke über den Jordan sowie der Bau eines Versandzentrums und eines Flughafens auf der jordanischen Seite in Erwägung gezogen. 170 Vor allem Jordanien hatte den Wunsch geäußert, die Damiya-Brücke wieder in Betrieb zu nehmen,171 aber diese Idee wurde wohl von israelischer Seite vereitelt; nach derzeitigem Stand sollen sämtliche Exporte über die mit japanischen Geldern renovierte AllenbyBrücke laufen.172 Von kritischer Bedeutung für das Funktionieren des Agrarindustrieparks sind die Transportmöglichkeiten der produzierten Waren und die Erreichbarkeit von Grenzübergängen und Straßen. Sie stellten ein Kriterium für die Auswahl des Baugrundstücks für den zukünftigen Park dar.173 Nach langwierigen Verhandlungen174 haben sich die vier Parteien (Israel, Palästinensische Autonomiebehörde, Jordanien und Japan) mittlerweile auf ein

168 JICA et al. (2010), S. 7-3f. 169 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 170 JICA (2007b), S. 5-37-5-44. 171 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. Im von WikiLeaks veröffentlichten Telegramm der US-Botschaft in Tokyo vom 27.8.2007 wird berichtet, dass das Hauptinteresse der jordanischen Seite am Corridor for Peace and Prosperity der Öffnung der Damiya-Brücke, der Einrichtung eines Logistikzentrums und eines Flughafens für den Export auf jordanischer Seite des Jordans galt (WikiLeaks 2011c). 172 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. In der Machbarkeitsstudie von 2009 war auch noch der Grenzübergang Bardaleh im nördlichen Jordantal in Erwägung gezogen worden (JICA et al. 2009, S. II-40ff). 173 JICA (2007b), S. 5-37-5-44. 174 JICA (2007b), S. ES-1.

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Grundstück am Südostrand von Jericho geeinigt. Das Grundstück ist in Sichtweite der Route 90, müsste jedoch per Verbindungsstraße nach Osten mit ihr verbunden werden, wofür keine israelische Genehmigung erlangt werden konnte. Stattdessen wurde zunächst die Schotterpiste, über die es aus westlicher Richtung zu erreichen ist, als UNDP-Projekt ausgebaut und somit eine Verbindung ins Jerichoer Stadtzentrum geschaffen (vgl. Abb. 6). Gegenstand weiterer Verhandlungen ist der palästinensische Zugang zur Route 90 generell bzw. die mögliche Nutzung dieser wichtigen Nord-Süd-Verbindung für den Agrarindustriepark. Diese zentrale Verbindungsachse durch das Jordantal war in den vergangenen Jahren für Palästinenser weitestgehend gesperrt; die derzeitige Lockerung der Mobilitätsbeschränkungen kann nicht als dauerhaft gegeben vorausgesetzt werden. Ungeklärt ist weiterhin auch die Frage, wie Einschränkungen im Transport von für den Park bestimmten Gütern bzw. von im Park produzierten Gütern durch die israelische Abriegelungspolitik überwunden werden können (vgl. Kap. 6.4). Darüber hinaus bleibt die Frage der Wasserversorgung strittig. Mit japanischen Geldern ist über UNDP ein Anschluss für den Park an das städtische Wassernetzwerk gelegt worden, über das zumindest für die erste Betriebsphase Wasser bezogen werden soll. Für einen weiteren Ausbau müssten dann neue Wasserquellen gefunden werden, wobei JICA-Mitarbeiter auch die Hoffnung gehegt hatten, durch ein Wassersparprojekt im Jordantal nötige Wasserressourcen sichern zu können.175 Hauptsächlich wird hierbei aber die Jerichoer Quelle ›Nr. 1‹ ins Auge gefasst, deren Wasser doch nicht so salzig ist wie ursprünglich befürchtet. Die vorherige Lösung, das Wasser von der israelischen Wasserfirma Mekorot käuflich zu erwerben,176 wurde zunächst für zu kostspielig befunden. Für die Aufbereitung des Abwassers, für das ursprünglich die Installation von Kläranlagen im Park selbst vorgesehen war, soll dann die neue, mit japanischen Geldern zu erbauende Kläranlage bereit stehen, zumindest für die ersten Phasen des Projekts.177 Die Stromversorgung soll wenigstens teilweise über die Solarenergieanlage auf dem Parkgelände gesichert werden, die Ende 2012 fertiggestellt wurde und in der Zwischenzeit ihre 300kWh Strom in das Jerichoer Elektrizitätsnetz einspeist.178 2009 war eine Machbarkeitsstudie noch zu dem Schluss gekommen, ein Geschäftsmodell mit einer privaten Betreiberfirma sei aufgrund der finanziellen Ri-

175 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 176 JICA et al. (2009), S. III-23–35 und Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 177 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 178 Qattawi (2012) und Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011.

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siken nur schwer realisierbar und ein öffentliches Modell unter der Leitung von PIEFZA ratsam.179 Später wurde doch eine Ausschreibung für einen privaten Betreiber ausgegeben und 2012 schließlich ein Konsortium palästinensischer Unternehmen als Betreiber ausgewählt. Im Oktober desselben Jahres kam es zur feierlichen Vertragsunterzeichnung zwischen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Vertretern der zwei Firmen Palestine Real Estate Investment Company (PRICO) aus der PADICO-Holding und der The Dead Sea and Palestinian Valley Development Company (Aghwar Co.) des PIF. Langsam nimmt der Park Form an und existiert zumindest virtuell bereits mit eigenem Internetauftritt.180

F AZIT : P ALÄSTINAS ›E NTWICKLUNG ‹ Seit der Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel 1967 wurde die palästinensische Wirtschaft in einem asymmetrischen Verhältnis als abhängiger Zulieferer und Pool billiger Arbeitskräfte in die israelische Wirtschaft eingebunden. In einem Prozess von ›de-development‹181 behinderte die Besatzungspolitik den Aufbau eigener palästinensischer Industrien. Die mit dem Friedensprozess begonnenen israelischen Abgrenzungs- und Abriegelungsmaßnahmen gegenüber den palästinensischen Gebieten brachten große Probleme für die palästinensische Wirtschaft. Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada verschlimmerten sich diese Probleme mit der verstärkten Intensität der Maßnahmen deutlich, hinzu kamen ausgedehnte Kriegszerstörungen. Als größte ökonomische Störfaktoren gelten israelische Handelsbarrieren und Einschränkungen der palästinensischen Mobilität sowie die fehlende souveräne Kontrolle über Grenzverkehr, Steuereintreibung, Ressourcennutzung und Bau- und Investitionstätigkeit.

179 JICA et al. (2009), S. VI-1. 180 Vgl. www.jaipark.com. Die englisch- und arabischsprachige Webseite ist bisher mit relativ wenigen Informationen bestückt (Stand April 2016). Einen möglichen Grund dafür, dass sich der Vertragsabschluss mit der Betreiberfirma viel länger hinzog als vorgesehen, sieht Khatib (Interview, Jericho, 12.9.2011) in den Korruptionsvorwürfen gegen den Minister für Nationale Ökonomie, der gleichzeitig als Oberhaupt der PIEFZA mit der Betreiberfirma übereinkommen müsste. Andere sehen vielmehr die ungewisse Investorenlage als Haupthinderungsgrund für die Auswahl des Betreibers, der schließlich das unternehmerische Risiko tragen und mit potenziellen Investoren verhandeln müsse. Deren Interesse bliebe zurückhaltend, da sich kaum Fortschritte bei der Entstehung des Industrieparks erkennen ließen. 181 Roy (1995 u. 2007).

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Nach dem Abschluss der Osloer Friedensverträge 1993 und dem anschließenden Aufbau staatsähnlicher Strukturen sind die palästinensischen Gebiete zum Empfänger enormer internationaler Hilfsgelder und Entwicklungsprogramme geworden. Die Palästinensische Autonomiebehörde wurde zu einer Art Rentierstaat, einem ›Entwicklungsland‹, das vollkommen von entsprechenden Geldern abhängig und politisch erpressbar ist und zeitweise sogar über innovative Finanzinstrumente an der gewählten Regierung vorbei mit Geldern versorgt wurde. Trotz der immensen Hilfszahlungen lassen sich jedoch kaum ›Entwicklungserfolge‹ in den palästinensischen Gebieten feststellen. Vielmehr wichen die Ausgaben für Entwicklungsprojekte zunehmend denen für humanitäre Nothilfe und Nahrungsmittelhilfen, um einen prekären und sich verschlechternden wirtschaftlichen Zustand gerade noch auf einem halbwegs tragbaren Niveau zu halten. Eine dramatisch gesunkene Kaufkraft unter der palästinensischen Bevölkerung findet ihre Entsprechung in der Fiskalkrise der hochverschuldeten Palästinensischen Autonomiebehörde. Die politische und wirtschaftliche Lage wirkt durchgehend abschreckend für private Investoren, die in Palästina für Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze – die heilversprechenden Benchmarks wirtschaftswissenschaftlicher und entwicklungspolitischer Selbstverständlichkeiten – sorgen könnten. Grenznahe Industrieparkprojekte, die ausländische Investitionen anlocken, Arbeitsplätze bereitstellen und die palästinensische Industrieentwicklung fördern sollen, prägen daher die internationale Entwicklungszusammenarbeit in den palästinensischen Gebieten seit den 1990er Jahren. Ein solches Projekt steht demgemäß auch im Zentrum der japanischen Entwicklungspolitik, die sich die Region um Jericho und das Jordantal zum Hauptbetätigungsfeld auserkoren hat, um hier ihren Korridor für Frieden und Wohlstand zu errichten. Die Region ist Gegenstand weiterer Entwicklungsvisionen ähnlichen Vokabulars, allen voran das Valley-ofPeace-Projekt, welches den Bau eines Kanals oder einer Pipeline vom Roten zum Toten Meer vorsieht. Diese Großprojekte mit wohlklingenden Namen sind jedoch äußerst kontrovers und größtenteils fern jeglicher Realisierung. Immerhin ist das japanische Agrarindustrieparkprojekt südlich von Jericho seit 2012 langsam vorangeschritten und zeitigt erste physische Manifestationen der Raumbesetzung.

5. Multiplizität der Besetzer

Eine Multiplizität von Akteursformationen ist an der Produktion des Corridor for Peace and Prosperity direkt oder indirekt beteiligt und versucht, bestimmte Räume zu besetzen und mit einer bestimmten Ordnung zu belegen. Die Versuche sind jedoch von unterschiedlichem Erfolg gekrönt und zeitigen eine Reihe unbestellter Instrumenteffekte. Das japanische Vorzeigeprojekt tangiert zum Teil äußerst kontroverse Problemlinien des palästinensisch-israelischen Konflikts und eröffnet bzw. verschließt verschiedenen Akteuren bestimmte Handlungsräume und Perspektiven. Auf unterschiedlichen Aushandlungsfeldern wird um die Deutungsmacht und Kontrolle über einzelne Aspekte bis hin zu weitreichenden Raumaneignungen gerungen – angefangen auf der lokalen Ebene im Gebiet des geplanten Projektes. Hier versuchen palästinensische zivilgesellschaftliche Akteure wie Graswurzelbewegungen, NGOs und akademische Vertreter in der Auseinandersetzung mit den japanischen Stellen ihre jeweiligen Vorstellungen und Interessen durchzusetzen. In einem größeren Kontext sind es vor allem einflussreiche Netzwerke aus Politik, Wirtschaft und Armee auf israelischer und palästinensischer Seite, die aktiv an der Gestaltung von Entwicklungs- und Friedensprojekten teilnehmen. Auf internationaler Ebene wird der Corridor for Peace and Prosperity von der japanischen Regierung mit bestimmten Zielsetzungen und Absichten eingesetzt, die wiederum von institutionellen Mechanismen und den Verflechtungen von Politik, Privatwirtschaft und Bürokratie geprägt sind.

5.1 Z IVILGESELLSCHAFT

IN

P ALÄSTINA

Vor der Gründung der PA 1994 stellten die palästinensischen Gebiete einen Ausnahmefall im Nahen Osten im Hinblick auf Pluralität und politische Freiräume zivilgesellschaftlicher Gruppen dar. Diese waren in der Basis verwurzelt

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und stellten eine Art Massenmobilisierung des Volkes sowohl zur Selbsthilfe in einer Situation der Staatenlosigkeit als auch für den nationalen Befreiungskampf dar. Zunächst fraktionslos, wurden viele NGOs mit der Finanzierung durch die PLO über bestimmte Parteigruppierungen politisch gebunden und etablierten zunehmend auch Verbindungen zu ausländischen Geldgebern. Letztere boten den NGOs zwar mehr finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit, beschleunigten jedoch auch die Entstehung eines lukrativen Beschäftigungssektors für eine professionalisierte, »globalisierte Elite«1, die sich in der globalen NGO-Kultur gut zurechtfindet, Sprache und Gestus der ausländischen Partner beherrscht und internationale Anforderungen an standardisierte Vorgehensweisen, das Abfassen von Berichten und den Nachweis von ›accountability‹ erfüllt. 2 Hammami erkennt darin eine neue, entpolitisierte und professionalisierte NGO-Kultur, die auf das ›einfache Volk‹ herabschaut, statt sie als legitimierende Basis für ihre Arbeit zu verstehen.3 Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Zustrom ausländischer NGOs und NGO-Mitarbeiter, aber auch durch die Rückkehr emigrierter Palästinenser aus arabischen oder amerikanischen Metropolen und eine zunehmende Ausrichtung auf fremdsprachliche, internationale Erziehungsinstitutionen besonders in Ramallah, wo heute zahlreiche NGOs neben modernen Restaurants, Clubs und Bars das Stadtbild signifikant prägen.4 Gleichzeitig entstand eine Reihe »monopolistischer Mega-NGOs«5, die sich in ihrem jeweiligen Sektor aufgrund ihrer Größe als effizientester Partner für internationale Geldgeber präsentieren. Merz interpretiert diese Prozesse als Produktion neuer Subjektivitäten nach einem globalisierten Standard, ein neoliberales Projekt, in dem NGOs einen unternehmerischen Charakter bekommen.6 Statt politische Ziele zu verfolgen, richteten die NGOs sich nun vielmehr nach internationalen entwicklungspolitischen Maßgaben aus. Diese Loslösung der NGOs von ihrer Basis wird häufig als ein Indiz für die zunehmende Entpolitisierung der palästinensischen Gesellschaft insgesamt gesehen.7 Politische Verbände und Parteien sowie nicht zuletzt die PLO haben ihre Rolle in der Repräsentation des ge-

1 2

Hanafi & Tabar (2004) und (2005), S. 233ff. Hammami (2006), Hanafi & Tabar (2005), Merz (2012), S. 54ff und Nabulsi (2005), S. 122–124.

3

Hammami (2006), S. 91.

4

Taraki (2008).

5

Hanafi & Tabar (2005), S. 230f.

6

Merz (2012), S. 62f.

7

Hammami (2006), Hanafi & Tabar (2004), Merz (2012) und Nabulsi (2005).

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DER

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samten palästinensischen Volkes zunehmend an eine schwache Autonomiebehörde und immer undemokratischere NGOs abgetreten.8 Challand spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung »zweier Palästinas«: zum einen das Palästina der größtenteils urbanen NGOs (mit einem Schwerpunkt in Ramallah/Al-Bireh), die in der globalen Sprache der ›Zivilgesellschaft‹, ›Demokratie‹ und ›capacity building‹ versiert sind und sich internationaler finanzieller Zuwendungen erfreuen, dafür jedoch spätestens seit der zweiten Intifada einiges an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Dem gegenüber steht das Palästina tendenziell ländlicher Vereine und kommunaler Nachbarschaftshilfe, die einen festen Rückhalt in der Bevölkerung genießen, bei westlichen Gebern jedoch kaum Beachtung finden. Die Finanzierungspolitik der Geberländer und ihre teilweise von orientalistischen Stereotypen geprägte Herangehensweise an die ›Demokratisierung in der arabischen Welt‹ wirkten dem Aufbau einer autonomen, demokratischen Zivilgesellschaft eher entgegen, so Challand. 9 Merz spricht von einer Kooptation der NGOs, die unter Schlagwörtern wie ›Zivilgesellschaft‹ zu Vorreitern von Entpolitisierung und Privatisierungen würden.10 In den palästinensischen Gebieten und Israel gibt es einige zivilgesellschaftliche Gruppen, die versuchen, der Entpolitisierung und Vereinnahmung durch entwicklungspolitische Agenden entgegenzuwirken, und sich für explizit politische Ziele einsetzen, zum Beispiel für ein Ende der israelischen Besatzung, die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte und den Dialog zwischen den Völkern. Die 2006 gegründete Dalia Association beispielsweise argumentiert, dass nur eine politische Intervention zur Beseitigung bestehender Ungerechtigkeiten und somit einer echten palästinensischen ›Entwicklung‹ beitragen könne. Da die internationalen Geber jedoch die ungerechten Zustände auf einem gerade noch kontrollierbaren Niveau aufrechterhielten, plädieren sie für einen palästinensischen Boykott solcher fehlgerichteten Entwicklungsinterventionen. 11 Die sich selbst als ›Graswurzelbewegung‹ bezeichnende palästinensische Stop the Wall Campaign kämpft in erster Linie für den Baustopp und Abriss der israelischen Sperranlage im Westjordanland sowie für Wiedergutmachungen. Darüber hinaus kritisiert die Gruppe auch speziell die japanische Entwicklungspolitik im Jordantal.12 Stop the Wall ist nicht die einzige Kritikerin dieses Projekts, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie im Jordantal sehr aktiv ist und mit der Organisation

8

Nabulsi (2005), S. 118–124.

9

Challand (2009), S. 8–18 und (2008).

10 Merz (2012), S. 60. 11 Murad (2012). 12 Stop the Wall Campaign (2007).

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Jordan Valley Solidarity kooperiert. 2007 hat ein Mitarbeiter von Stop the Wall mit Unterstützung japanischer Palästina-Solidaritätsgruppen eine Vortragsreise nach Japan unternommen und 2008 hat die Gruppe in Ostjerusalem eine Konferenz zum japanischen Industriepark abgehalten.13 Stop the Wall wirft JICA die Missachtung von expliziten Wünschen der Lokalbevölkerung vor: »JICA has failed to consult fully and properly with Palestinians, and further failed to address needs that were expressed during the consultation. JICA is not accountable to the Palestinian people. This has led to the development of initiatives and proposals across the board which do not meet regional needs and in fact run counter to the interests of the local population.«14

Dem Aufsatz ist im Anhang die Kopie eines Beschwerdeschreibens beigefügt, in dem Gemeindevertreter aus dem Jordantal ebendies beklagen: JICA erfülle die von den Gemeinden geäußerten Bedürfnisse nicht, ignoriere Projekte von hoher Priorität für die Gemeinden und arbeite bei der tatsächlichen Durchführung von Projekten sehr langsam. Budget und Ausgaben blieben völlig intransparent, das japanische Engagement habe andere Entwicklungsorganisationen aus dem Jordantal vertrieben, und der von JICA ins Leben gerufene Kommunalrat für Angelegenheiten der Müllentsorgung arbeite nun parallel zu einem bereits bestehenden Rat im Jordantal.15 Schon die japanische ODA-Charta von 2003 betont die Wichtigkeit des Dialogs auch mit den lokalen Gemeinden im Empfängerland.16 Die Vor-Machbarkeitsstudie von JICA zum Agrarindustriepark in Jericho schreibt für die Stakeholderanalyse im Rahmen der anschließenden Machbarkeitsstudie auch die Beratung mit den umliegenden Gemeinden und regionalen NGOs vor.17Auch die weiterführenden Studien zu möglichen Verbesserungen in der Landwirtschaft im Jordantal beinhalteten eine Reihe von Konsultationen mit lokalen Gemeinderäten und anderen Volksvertretern. Die Partizipation der lokalen Bevölkerung wird also offiziell von japanischer Seite für wichtig erklärt, zumal sie mittlerweile zu einem entwicklungspolitischen Standard geworden ist. Der stellvertretende JICA-Repräsentant in Palästina Morishita versicherte mir denn auch, sie hielten

13 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 14 Stop the Wall Campaign (2007), S. 12. 15 Presseerklärung von Bürgermeistern aus dem Jordantal, zitiert in Stop the Wall Campaign (2007), S. 27. 16 Sunaga (2004), S. 15, 28. 17 JICA (2007b), Annex 3, S. 11.

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ständig Konsultationen mit den lokalen Gemeinden ab. 2006 hätten innerhalb weniger Monate um die hundert Treffen stattgefunden, da ihnen bewusst wäre, wie wichtig die Einbindung der lokalen Bevölkerung sei: »Es nutzt nichts, nur mit hochrangigen Personen auf der Ebene der Entscheidungsträger zu reden, man muss auch etwas auf der Ebene der Gemeinden machen […]. Die Menschen in den Gemeinden kennen schließlich am besten ihre eigenen Bedürfnisse. Diejenigen, die dort wohnen, wissen am besten, was dort notwendig ist. Die Community Empowerment Component besteht in dem Ansatz, auf die Stimmen solcher Leute zu hören und außerdem ihre Kapazitäten – und sei es auch nur ein kleines bisschen – zu verbessern.«18

Diese japanischen Versicherungen scheinen jedoch nicht alle Gemeinden im Jordantal überzeugt zu haben, wie die oben genannte Presseerklärung von Bürgermeistern aus dem Jordantal zeigt. Die Stop the Wall Campaign kritisiert ferner, dass von dem geplanten Agrarindustriepark in Jericho keine Vorteile für die lokale Bevölkerung im Jordantal zu erwarten seien, da letztere hauptsächlich aus Kleinbauern bestehe. Allerdings ist das Projekt auch nicht auf dieses Gebiet allein fokussiert. Es soll vielmehr Arbeitsplätze für die Bevölkerung des gesamten Westjordanlandes schaffen und landwirtschaftliche Produkte aus dem gesamten Westjordanland weiterverarbeiten, wie Mansour vom Planungsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde anmerkt. 19 Mehr noch als der fehlende Nutzen des Projektes habe die Bewohner des Jordantals allerdings die Tatsache aufgebracht, dass die Japaner jahrelang in Jericho aktiv gewesen seien, ohne tatsächlich konkrete Projekte zum Vorteil der palästinensischen Bevölkerung durchzuführen, wie Stop-the-Wall-Mitarbeiter berichteten: [Khalil:] You can’t imagine how it was driving the people in the Jordan Valley crazy. All this money on hotels and fancy cars and they don’t know what, and restaurants, and meetings, and nothing was happening on the ground. [Brown:20] That was the thing that Stop the Wall was most angry about. Not the fact that the projects are completely irrelevant to the farmers on the ground, but they just wasted all this money, not knowing really what they were spending it on. And they were just having lunches in hotels and no one was seeing any kind of benefit from it. And it was like: We’ve been asking for ten years for just one scholarship for one person to go and try to

18 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 19 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 20 Peter Brown (Name geändert), englischer Ehrenamtler bei Stop the Wall Campaign, der sich kurzzeitig dem Gespräch anschloss.

130 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA get a doctor because there’s no doctor in the Jordan Valley. And you know, that’s what we are talking about, it’s for ten years over cocktails in a hotel beside the road to the Dead Sea, you know. [Khalil:] It’s Israeli hotels and Israeli rented cars, and Israeli… and that’s reeeally driving the people crazy.21

Der vergleichsweise luxuriöse Lebensstil vieler ausländischer Entwicklungsexperten, der sie häufig stark von ihrer Umgebung abhebt, ist auch in den Geberländern zum Gegenstand polemischer Kritiken geworden. Fechter hebt allerdings hervor, dass eine echte Auseinandersetzung mit der ethischen Ambivalenz der Arbeit im Entwicklungssektor zwischen Altruismus und Professionalismus im Gegensatz etwa zum Bereich der Pflege und Sozialarbeit kaum stattfindet. Dies begründet sie mit der Zentralität, die den Empfängern von Entwicklungsprojekten in der Regel eingeräumt werde, während die Rolle der ›Experten‹ eher ausgeblendet werde.22 Der Vorwurf der Verschwendung von Entwicklungsgeldern, die doch ›ein Geschenk des japanischen Volkes‹ darstellen sollen, wiegt allerdings besonders schwer. Mansour vermutet sogar, dass JICA in Reaktion auf solche Beschwerden mit der Durchführung konkreter Projekte begonnen habe: »Most of the Jordan Valley technical assistance projects, they started this because in the area, people started to complain: ›There is a lot of media, but nothing on the ground!‹ So they just started some various projects. […] They are mediatizing a lot, and they received… they forwarded it to me from local government units and from local people, complaining that nothing on the ground: ›We have nothing, we heard a lot, we signed a lot of agreements.‹«23

Mansour berichtet ferner, dass es auch Missverständnisse gegeben habe. So hätten viele Leute mit einem Geldfluss nach Jericho gerechnet, als Japan anlässlich des israelischen Rückzugs aus Gaza 100 Millionen Dollar für Palästina versprochen hatte. Davon waren jedoch 50 Millionen nach Gaza und noch einige Beträge an UN-Organisationen gegangen, sodass dieses Geld letzten Endes gar nicht Jericho erreichte, wo von japanischer Seite nur etwa 10 Millionen aufgewendet wurden, für Projekte wie zum Beispiel die Machbarkeitsstudie für den Industriepark. 24 Vier Jahre später, im Jahr 2011, äußert Essawi vom palästinensischen

21 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 22 Fechter (2012). 23 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 24 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008.

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Bisan Center for Research and Development immer noch ganz ähnliche Kritik an einem als intransparent und verschwenderisch empfundenen Umgang mit Entwicklungsgeldern und unangemessenen Prioritäten: »Selbst die Palästinenser wissen nicht, was JICA eigentlich macht. Wir können die Systematik der Projekte nicht erfassen. 2010 zum Beispiel hat der Landwirtschaftsminister Ismail Da’iq zum ersten Mal als ein PA-Minister von ›Schmarotzern‹ geredet. Sie sind sehr sensibel. Er hat gesagt, dass JICA sechs Millionen Dollar für ein Trainingsprojekt in der Landwirtschaft im Jordantal gebracht hat. In Wirklichkeit sind 700 000 Dollar bezahlt worden von sechs Millionen. 5,3 Millionen gingen an japanische Experten. Erstmal haben sie eine Studie gemacht, okay, ein, zwei Millionen. Als sie fertig waren, haben sie noch mal eine Erweiterung vorgenommen, um noch eine Studie zu machen. […] Sie haben eben die ganzen 5 300 000 Dollar an die Experten gezahlt. Und 700 000 gingen dafür drauf, die Landwirte darin zu trainieren, wie sie anpflanzen. Das Problem ist: Wenn ich Landwirt bin und Land habe und es bepflanze, dann will ich nicht, dass mir jemand aus Japan sagt, wie ich anpflanzen soll; ich weiß, wie man pflanzt. Das Problem liegt nicht an mir, ob ich pflanzen will oder nicht. […] Sie haben das ganze Geld genommen. Wir als Palästinenser haben nicht davon profitiert. […] Die Probleme der Leute kommen von etwas anderem. In Jericho haben sie das Problem, dass Israel ihnen verbietet, ihr Land zu bestellen, sie haben das Problem, dass sie ihnen nicht genug Wasser geben, um […] anzupflanzen.«25

Ein von mehreren palästinensischen Organisationen geäußerter Vorwurf besteht darin, der geplante Agrarindustriepark in Jericho arrangiere sich mit den durch die israelische Besatzung verursachten Einschränkungen und mache sie auf Dauer tragbar. Die Stop the Wall Campaign schreibt: »The poor economic situation in the area is a direct result of forty years of Israeli occupation. JICA’s current initiatives and proposed projects will facilitate the building of economy and infrastructure that is inextricably bound up with the presence of the occupation, effectively cementing the most serious barrier to long-term development.«26

Hatada von der japanischen Botschaft in Tel Aviv ist sich dieser Kritik bewusst. Nach seinem Bericht gab es keinen Widerspruch von Seiten der Palästinensischen Autonomiebehörde, seitens der palästinensischen Bevölkerung jedoch schon. Er erzählt etwa von palästinensischen Einwänden, man solle gar nicht erst mit den israelischen Behörden darüber verhandeln, wo mögliche Zugangsstraßen

25 Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 26 Stop the Wall Campaign (2007), S. 2.

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zum Park verlaufen könnten und ob die Straße Route 90 befahren werden dürfe. Schließlich handele es sich bei dem fraglichen Gebiet um palästinensisches Land, über das Israel prinzipiell keine legitime Herrschaft ausübe. Hatada nimmt dazu die folgende Position ein: »Also, natürlich verstehe ich das vom theoretischen Prinzip her äußerst gut. Das trifft genau zu, denke ich, aber die reale Praxis sieht anders aus.«27 Die Menschenrechtsorganisation Al-Haq (Das Recht) in Ramallah kritisiert in einer Pressemitteilung einen ähnlichen Punkt: »It is […] with great concern that Al-Haq views recent announcements outlining projects for the development of the Jordan Valley, endorsed and supported by third states. While Al-Haq welcomes initiatives aimed at bolstering the Palestinian economy, these must not be carried out in violation of international law and must not serve to further entrench Israel’s illegal settlements, land confiscation and violation of the Palestinian people’s right to self-determination.«28

Auch Hatadas Nachfolger beim japanischen Vertretungsbüro in Ramallah Fukuyama zeigt Verständnis für die grundlegende Argumentation der Kritiker, vertritt jedoch ebenfalls eine pragmatische Haltung in dieser Sache: »Was Kritik angeht, so gab es unter den Leuten, die so vom Rande aus zuschauten, wie JICA für den Agrarindustriepark Durchführbarkeitsstudien und ähnliches erstellte, Zweifel, ob das nicht eher den Israelis als den Palästinenser nutzen würde. Ich denke mal, dass sie das kritisiert haben, weil sie nicht genau Bescheid wussten, denn dies ist letzten Endes ein Projekt unter der ownership der PA; und nicht nur beim japanischen Projekt, sondern auch bei ganz verschiedenen Hilfsprojekten etwa von der EU wird das ja immer wieder diskutiert: Es besteht schließlich die Realität der Besatzung, nicht wahr, und da gibt es natürlich das Argument, dass die Besatzung an sich inakzeptabel, dass sie nicht gut ist. […] Dass es ohne diese Legalität auch keine Legitimität geben kann. Es geht also darum, ob man jetzt gar nichts machen soll, während schließlich diese Realität existiert, oder ob man eben doch auch in dieser Realität Hilfe leistet, um das Leben der Menschen wenigstens ein bisschen zu verbessern. Wenn man das nicht tut, bleibt das Leben der Menschen ja ewig schlecht, deswegen arbeiten wir von dem Standpunkt aus, dass auch wenn die Besatzung an sich natürlich nicht gut ist, wir trotzdem tun müssen, was unter der Besatzung möglich ist, und Hilfe leisten. Aber wenn man dann in der Kooperation mit Israel unter der Besatzung arbeitet, dann sieht die Realität so aus, dass Israel alles kontrolliert, wenn man also zum Beispiel in Jericho einen einzigen Brunnen bauen will, kann man das nicht ohne Isra-

27 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 28 Al-Haq (2007), S. 2.

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els Erlaubnis tun. Aber deswegen gibt es Leute, die sagen, dass man die illegale Besatzung stärkt, indem man Geld in solche Projekte steckt und die Erlaubnis Israels einholt. […] Solche Leute gibt es in Japan und auch in Israel und Europa, denke ich, Menschen, die solche Prinzipien sehr ernst nehmen. Das stimmt schon so, aber wer ein bisschen flexibler denken kann, der versteht, dass man eben doch in der real existierenden Besatzungssituation da helfen muss, wo es möglich ist, und dass man dann eben auch Israels Erlaubnis einholen muss, wenn man sie braucht, um einen Brunnen zu bohren. […] Früher gab es in Japan noch mehr Stimmen, die gesagt haben, dass Israel die Verantwortung übernehmen muss; […] auch bei uns gab es, nicht offiziell, aber inoffiziell, solche Debatten […], aber in letzter Zeit hört man das nicht mehr so im innerjapanischen Diskurs. Ich denke, dass letzten Endes das Argument überwiegt, dass man doch etwas unternehmen muss.«29

Morishitas Nachfolger bei JICA Nakano bestätigte den Eindruck, dass die Intensität der Kritik mit der Zeit abgenommen habe; er war in seiner Einsatzzeit nicht mehr direkt mit dieser Kritik konfrontiert und äußert sich eher distanziert: »Soweit ich gehört habe, folgten sie der Logik, dass die Inkraftsetzung des Oslo-Systems an sich die Besatzung verlängert. Ähnlich wie Sara Roy, oder wie sie heißt. Das heißt, es ging weniger um den Park, sondern ganz egal um welche Hilfe. Aber vielleicht hat der Park, weil er Israel mit einbeziehen und gerade eben im Jordantal platziert werden sollte, zusätzlich die Kritik auf sich gezogen. Und was ich noch von palästinensischer Seite gehört habe, ist die Kritik daran, dass Israel mit in das Projekt integriert wurde. […] Mein eigener ganz persönlicher Eindruck ist, dass man sich nur gegenseitig Steine in den Weg legt. Es könnte eventuell auch sein, dass man ein Haar in der Suppe sucht und es als Mittel verwendet, um zum Beispiel hochrangige palästinensische Funktionäre anzugreifen.«30

Auch wenn hier eine gewisse Ungeduld mit den Kritikern anklingt, so gibt es auf japanischer Seite durchaus Bewusstsein und Verständnis für die Argumente solcher palästinensischen Organisationen; in internen Diskussionen ist gar offene Zustimmung zu hören. Von offizieller japanischer Seite schien zunächst auffällig, welche Stimmen aus der palästinensischen Zivilgesellschaft gehört werden und welche nicht. Die Mitarbeiter von Stop the Wall klagten darüber, dass die japanische Botschaft und JICA kaum Dialogbereitschaft zeigten. In Japan selber habe sich das Außenministerium den Argumenten des Stop-the-Wall-Mitarbeiters gegenüber sehr offen gezeigt, doch JICA verweigere die Kommunikation.31

29 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. 30 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011. 31 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008.

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Auch Tartir vom Bisan Center for Research and Development in Ramallah berichtet von der Verschwiegenheit der JICA-Mitarbeiter: »The answers provided by the project’s Japanese official were remarkably short; the questions were even longer than his answers. When asked about the current situation of the agro-industrial park and whether the issue of privately owned lands has been settled as well as about coordination with other industrial zones in the West Bank, the identity of investors and the project’s finances, the answer was clear and the same: refer to the Palestinian Industrial Estate and Free Zone Authority for more details on the subject.«32

Diese Haltung widerspricht deutlich den offenen Reaktionen, mit denen meine eigenen Anfragen beantwortet wurden. Im übrigen hatten sich JICA-Mitarbeiter wohl von sich aus an die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al-Haq gewandt und sie über die neuesten Projekte informiert, wie mir bei einem Besuch des Büros von Al-Haq in Ramallah erzählt wurde.33 Auch Karam von der Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs (PASSIA) hat nach eigenen Angaben gute Kontakte zu japanischen Repräsentanten in Ramallah und Tel Aviv sowie zu japanischen Medien, denen gegenüber er den Corridor of Peace and Prosperity kritisiert habe.34 Aus dieser unterschiedlichen Behandlung lassen sich möglicherweise Schlüsse auf die institutionellen Prozeduren ziehen, mit denen manche Sprecher von der Teilnahme am Diskurs über Entwicklungsprojekte ausgeschlossen werden (vgl. Kap. 2.1). So ist Al-Haq affiliiert mit der Internationalen Juristenkommission in Genf und Mitglied in einigen Verbänden wie beispielsweise dem Euro-Mediterranean Human Rights Network. Auch PASSIA verfügt als akademische Institution über einiges Renommee. Im Gegensatz dazu wird die Stop the Wall Campaign eher in der Nähe von Bewegungen wie des International Solidarity Movement35 angesiedelt, die tendenziell von Israel kriminalisiert werden und weniger Wert auf wissenschaftlichen Anspruch als auf den aktiven – wenn auch gewaltlosen – Kampf gegen die israelische Besatzung etwa durch Demonstrationen und zivilen Ungehorsam legen.36

32 Tartir (2012), S. 11, FN 7. 33 Suleiman, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 34 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 35 Die Stop the Wall Campaign genießt jedoch meinen Beobachtungen nach in der palästinensischen Gesellschaft einen guten Ruf, was auf ISM nicht immer zutrifft. 36 Missgriffe wie der folgende Fehler in einer Veröffentlichung des (wissenschaftlich arbeitenden) Bisan Centers tragen allerdings auch nicht zur Glaubwürdigkeit dieser Organisationen bei: So gibt Tartir (2012, S. 10) die Einschätzung einer Journalistin vom

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Ein sprachlicher Ausschlussmechanismus liegt in der verwendeten Sprache der von JICA veröffentlichten Dokumente. Diese stehen zwar auf der Homepage der Organisation im Internet zum Download bereit, sind jedoch nur auf Englisch und nicht in einer arabischen Übersetzung verfügbar. Viele Vereine und Organisationen haben zwar englischsprachige Mitarbeiter, doch das Fehlen einer Übersetzung in die Muttersprache erschwert den Zugang zu den ohnehin oft in schwer verständlichem Expertenjargon verfassten Informationen für die betroffene Zielbevölkerung zusätzlich.37 Tartir hält die japanische Erklärung, das Budget reiche nicht aus für eine Übersetzung, für wenig überzeugend.38 Auch das verwendete Vokabular der einzelnen Organisationen spielt eine Rolle. Zum Beispiel spricht die Stop the Wall Campaign häufig von der israelischen Regierung als ›the Occupation‹ und von den israelischen Siedlungen im Westjordanland als ›colonies‹ und disqualifiziert sich damit möglicherweise in bestimmten Kontexten als Gesprächspartner. Der Vergleich der israelischen Besatzung mit dem südafrikanischen Apartheidregime wird, auch wenn er zunehmend Verbreitung findet, ebenfalls häufig mit Ausschluss geahndet. Im Februar 2011 machte die israelische Armee eine Razzia im Stop-the-Wall-CampaignBüro in Ramallah und beschlagnahmte alle Computer, Hardcopies und Ordner der letzten Jahre; auch eine Reihe von Mitarbeitern inklusive des Leiters wurde verhaftet. Nach dem Teilerfolg von Stop the Wall Campaign und der Palestinian Farmers’ Union bei der Untersuchungskommission der Weltbank im Kampf gegen das Kanalprojekt vom Roten zum Toten Meer (vgl. Kap. 4.5) zeigt sich ein Stop-the-Wall-Campaign-Mitarbeiter jedoch selbstbewusst und mutmaßt sogar, die zweite JICA-Machbarkeitsstudie sei in Reaktion auf ihre heftige Kritik beschlossen worden. 2010 organisierten sie in Zusammenarbeit mit Bisan eine Konferenz, Teil einer Reihe von Konferenzen zu den Industrieparkprojekten in Jenin, Jericho und Ramallah, zu der keine japanischen Vertreter eingeladen waren und deren Ergebnisse kurzzeitig zu diplomatischen Verstimmungen geführt hätten. 39 Palästinensische Vertreter von Organisationen wie der Union der Landwirtschaftskomitees (Ittiḥād liğān al-ʿamal az-zirāʿī) und der Fortschrittlichen Arbeitergewerkschaftsfront (Ğabḥat al-ʿamal an-nuqābī at-taqaddamīya)

Guardian (Ford [2012]) als ein direktes Zitat des japanischen JICA-Mitarbeiters Fukuyama aus und verfälscht es dabei auch noch so, dass eine große Intransparenz und Willkür der japanischen Entwicklungszusammenarbeit impliziert wird. 37 Vgl. auch Hamoudeh (2012), S. 4. 38 Tartier (2012), S. 8. 39 Khalil, Interview, Ramallah, 24.9.2011.

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nahmen an der Konferenz teil und kritisierten heftig das Agrarindustrieparkprojekt in seiner gegenwärtigen Form. Der Landwirtschaftsminister der Palästinensischen Autonomiebehörde Da’iq bemängelte den ausbleibenden Fortschritt des Projekts angesichts der Vielzahl von Studien und der hohen Geldsumme, die bereits aufgewendet worden sei, und sagte, die Bürger hätten den Glauben an das Projekt verloren.40 In der Wahrnehmung von Stop the Wall Campaign hat jedoch die Dreifachkatastrophe in Japan 2011 das Projektbudget »zerstört« und sämtliche Aktivitäten weitestgehend gestoppt, weswegen sie keine Notwendigkeit sahen, eine größere Kampagne gegen das japanische Projekt zu starten.41 Ein weiterer, in der institutionellen Praxis des japanischen Entwicklungsapparates verankerter Ausschlussmechanismus besteht in der Rolle sogenannter ›Entwicklungsstudien‹ im Rahmen der technischen Entwicklungszusammenarbeit. Diese Studien bilden die Vorstufe für alle Arten von japanischer Entwicklungszusammenarbeit und werden von Expertenteams erstellt, die in der Regel jeweils nur für ca. zwei Wochen in das Empfängerland reisen und somit kaum Zeit für mehr als Gespräche mit höhergestellten Beamten haben.42 Den lokalen Gemeindevorständen im Jordantal wiederum wird zwar – gemäß offiziellen Verfahrensprotokollen – Gehör geschenkt, doch ihre Stimmen scheinen letzten Endes kaum Einfluss auf die japanische Politik zu haben. Eine Akteursgruppe, deren Interessen von der Auswahl des Baulandes besonders stark betroffen sind, hat zudem keinerlei Einspruchsrecht und wird erst gar nicht gehört. Lediglich während eines Interviews mit einer palästinensischen Mitarbeiterin bei PIEFZA und dem dorthin entsandten japanischen Consultant taucht ihre Existenz schemenhaft am Rande des Gesprächs auf: [SG:] Was the privately owned land used before? [Farhat:] No, it was not used. [SG:] No agriculture? [Farhat:] No, no agriculture. […] [SG:] And it’s also not being used? [Farhat:] It’s not used, the whole land, it’s not used. [Suzuki:] But you can observe some plantings of the agricultures for tentatively, yeah, the farmers using to, how to say, get the lands and to plantings in area C. [Farhat:] Um, the last one?

40 Zitiert in Bisan (2010b). 41 Khalil, Interview, Ramallah, 24.9.2011. 42 Foerster (1995), S. 167.

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[Suzuki:] Yes. Stage 1, stage 2 is owned by PIEFZA, so now, there is no, just a, how to say, no use. […] [SG:] And the people now planting things there, they are renting it or they just do it because nobody stops them from…? [Suzuki:] Yes. [Farhat:] Yes, it’s illegal planting. Because nobody owns the land, the only… the waqf, they own the land, so… [SG:] So no official user? [Farhat:] No. I mean, once we finalized the issue with the waqf, they have nothing to do.43

Wie sich im Verlauf des Gesprächs herausstellte, gab es also doch Menschen, die das Bauland landwirtschaftlich nutzten. Diese Nutzung erfolgte jedoch informell, oder »illegal«, und zog keine offiziellen Rechtsansprüche nach sich, sie wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn der Verlust, den diese informellen Nutzer erlitten haben, problematisiert. Letzten Endes bleibt fraglich, inwiefern die palästinensische Bevölkerung und zivilgesellschaftliche Gruppen Einfluss auf die japanische Entwicklungspolitik ausüben und den Diskurs prägen können. Trotz ihres offiziellen Diskursausschlusses ist davon auszugehen, dass die lautstarken Proteste etwa von Stop the Wall Campaign durchaus bei JICA und den japanischen Behörden ankommen, auch wenn offizielle Treffen und Anerkennung ausbleiben. In inoffiziellen Diskussionen mögen diese Stimmen durchaus Widerhall finden, doch die persönlichen Ansichten einzelner Mitarbeiter in Botschaft und JICA spiegeln sich kaum in der Praxis wider. Konform mit aktuellen entwicklungspolitischen Normen werden Gespräche mit lokalen Gemeinderäten und anderen zivilgesellschaftlichen Vertretern geführt, doch die Strukturen des Entwicklungsapparats sind träge und elastisch; die Durchführung des Projektes wird durch Kritik nicht behindert und schreitet – wenn auch langsam – voran.

5.2 I SRAELISCHE N ETZWERKE W IRTSCHAFT UND ARMEE

IN

P OLITIK ,

Die israelische Wirtschaft wird von einer politischen und unternehmerischen Elite dominiert und weist eine dualistische Struktur auf: Ein Kern von staatseigenen und privaten Großunternehmen steht einer Vielzahl von kleinen und mittelgroßen Betrieben gegenüber. Wirtschaftliche, politische und militärische Eliten sind

43 Farhat (PIEFZA) und Suzuki (PADECO), Interview, Ramallah, 6.10.2011.

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institutionell, sozial und geschäftlich eng miteinander verflochten und bilden eine eigene Führungsschicht mit großem politischem Einfluss. Gleichzeitig haben die kleineren Unternehmen eine zunehmende politische und wirtschaftliche Marginalisierung erfahren. Die Liberalisierungs- und Privatisierungsreformen der 1990er Jahre in Israel verschärften die Disparitäten teilweise zusätzlich.44 Nach den ökonomischen Reformen der 1970er und 1980er Jahre und der Liberalisierung des israelischen Kapitalmarkts entstand eine neue Klasse von israelischen Privatunternehmern, die zu starken Unterstützern des Friedensprozesses mit den Palästinensern wurden. Von einem Friedensabkommen und der damit zu erwartenden politischen Stabilität in der Region versprachen sie sich einen Zufluss von ausländischem Investitionskapital und die Erschließung neuer Absatzmärkte, die ihnen aufgrund des arabischen Boykotts sowohl regional als auch wegen eines sekundären Boykotts global verwehrt geblieben waren. Ende der 1980er Jahre begann eine öffentliche Kampagne israelischer Geschäftsleute, welche die ökonomischen Vorteile eines Friedensschlusses propagierten und intensive Lobbyarbeit betrieben, um bei der Formulierung von Wirtschaftsabkommen ihre eigenen Geschäftsinteressen zu wahren. 45 Der Milliardär Stefan Wertheimer (vgl. Kap. 6.2) steht beispielhaft für solche Unternehmer und war mit seinen ›integrativen‹ Industrieparks ein Vorbild auch für das japanische Agrarindustrieparkprojekt. Auf politischer Ebene war und ist Shimon Peres einer der lautstärksten Befürworter des Friedensprozesses, insbesondere seiner wirtschaftlichen Dimensionen. Als Außenminister formulierte er 1993 seine Vision eines »neuen Nahen Ostens«, in dem die Ökonomie die Politik besiegt und in einer freien Marktwirtschaft ein ungehinderter Warenaustausch mit den Palästinensern stattfindet.46 Der Friedensnobelpreisträger gründete 1996 das Peres Center for Peace und übernahm 1999 das auf seine Person zugeschnittene Ministerium für Regionale Zusammenarbeit. 47 Shimon Peres gilt als geistiger Vater des Valley-of-Peace-Projekts (vgl. Kap. 4.5) und wird auch mit dem Corridor for Peace and Prosperity in Verbindung gebracht: »Shimon Peres is in on this, he is in the picture. I suppose, the idea came initially from Shimon Peres, not from JICA. […] He is promoting the idea of economy that will resolve political matters.«48

44 Bouillon (2004), S. 23–32. 45 Bouillon (2004), S. 132, Peled (2006), S. 40–4 u. Shafir & Peled (2002), S. 231-259. 46 Beinin (2006), S. 26f. 47 Bouillon (2004), S. 110. 48 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008.

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»I cannot underestimate […] the strategic thinking and the contacts and the influence of Shimon Peres of such a project. It is Shimon Peres’ thinking. […] Because Shimon Peres always is thinking about new Middle East, thinking about economy as a venue for security. Economic development would be the venue for security arrangement. This is his thesis. Shimon Peres.«49

In der japanischen Zeitung Asahi Shimbun beanspruchte 2007 sogar der damalige israelische Botschafter in Japan die Urheberschaft des Projektes, das er persönlich an Koizumi herangetragen habe.50 Der Grund für das Interesse der israelischen Großunternehmer am Friedensprozess lag zwar in der Hoffnung sowohl auf neue Expansionsmöglichkeiten als auch auf die Anwerbung zusätzlicher ausländischer Investoren. Gleichzeitig wollte man jedoch die palästinensischen Gebiete als Hauptabsatzmarkt für israelische Produkte bewahren. Durch die Kontrolle der Grenzen und die Aufrechterhaltung bestimmter Handelshindernisse konnte Israel den Handel zwischen Jordanien und Palästina auch nach Abschluss der Friedensverträge auf einem sehr niedrigen Stand halten und die eigene Position auf dem palästinensischen Markt absichern. 51 Gemeinsame Industrieparks sollten nach Bouillons Meinung dazu dienen, ein Bild friedlicher Koexistenz aufzubauen und trotz Abriegelungspolitik weiterhin von billiger palästinensischer Arbeitskraft zu profitieren: »The main interest on the Israeli side, however, was to turn the joint parks into showcases of a peaceful Middle East, with production based on cheap Palestinian labour and Israeli marketing know-how, which would enhance exports and open up new markets.«52 Während insbesondere die großen Industrieunternehmen regionale wirtschaftliche Integration befürworteten, sprachen sich kleinere israelische Geschäftsleute aus Furcht vor der palästinensischen Konkurrenz für eine Trennung der beiden Ökonomien aus. Diejenigen unter ihnen, die tatsächlich die regionale Zusammenarbeit suchten, stießen auf eine Vielzahl bürokratischer Hürden und beklagten die mangelnde Unterstützung seitens der Regierung. Die israelische Textilindustrie begann zunehmend, ihre Produktion in die Qualifying Industrial Zones (QIZ) in Jordanien zu verlegen, die seit 1997 eingerichtet und als Freihandelszonen in das Freihandelsabkommen Israels mit den USA integriert wurden. Da jordanische Zulieferbetriebe noch preiswerter als die vorherigen Zulieferer sowohl in Israel als auch im Westjordanland und in Gaza waren, sahen sich

49 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 50 Odagiri (2008b), S. 273. 51 Bouillon (2004), S. 99, 103, 128ff. 52 Bouillon (2004), S. 57f.

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viele kleinere israelische Textilbetriebe gezwungen, ebenfalls ihre Produktion in die QIZ zu verlagern. Die großen Verlierer dieser jordanisch-israelischen Kooperation waren palästinensische und israelische Zulieferbetriebe, während in Jordanien vor allem schlecht bezahlte Arbeitsplätze entstanden.53 Die israelisch-palästinensische Wirtschaftszusammenarbeit basierte ebenfalls auf der starken Asymmetrie von billiger palästinensischer Arbeitskraft und israelischem Know-how vor allem in den Bereichen der Textil- und Hightechindustrie. Während israelische Großhändler zudem von ihrer Kontrolle über den palästinensischen Markt profitierten, blieben palästinensische Unternehmer abhängig von israelischen Importen und dem israelischen Markt. Lediglich einflussreiche PA-Funktionäre oder gut vernetzte Unternehmer konnten ihre Israelkontakte zu ihrem Vorteil nutzen. Mangelhafte und dysfunktionale Wirtschafts- und Handelsabkommen und eine künstliche Knappheit herstellende Importquoten behinderten Kooperation und Handel und förderten die Bildung von Quasi-Monopolen in den Händen von wirtschaftlichen Eliten mit engen Verbindungen zur Politik in Israel und Palästina. Eine Reihe von Korruptionsfällen wurde bekannt, bei denen palästinensische und israelische Geschäftsleute, Politiker und Armeeangehörige gemeinsam ihre halblegalen Importmonopole ausgenutzt hatten.54 Durch die israelische Kontrolle über die palästinensische Wirtschaft und die Abriegelungspolitik ergeben sich Profitmöglichkeiten für israelische Unternehmer und Geschäftsleute mit guten Verbindungen zum israelischen Sicherheitsund Verwaltungsapparat.55 Wie die größte israelische Exportfirma für landwirtschaftliche Erzeugnisse Agrexco können sie mit guten Verbindungen zum Sicherheitspersonal an den Checkpoints den Export palästinensischer Produkte übernehmen und diese durch israelische Kontrollen schleusen.56 Die israelische Sicherheitsfirma NECTAS beispielsweise hatte unter anderem im Gaza Industrial Estate (GIE) eine lukrative Beschäftigung gefunden.57 Eine gemeinsame Studie des Peres Center for Peace und des Palestinian Trade Center über die Kooperationsaussichten zwischen Israel und Palästina sieht im Bereich des Exports von Agrarprodukten großes Potenzial für ähnliche Dienstleistungen: »From a security as well as a logistical point of view, it seems logical to encourage the development of agriculture related service centers (that will supply the abovementioned

53 Bouillon (2004), S. 58f, 81f, 111f. 54 Bouillon (2004), S. 87–104, 131f, 152 und Lagerquist (2003), S. 10, 14f. 55 Lagerquist (2003), S. 14ff. 56 Roy (1995), S. 327 und Khalil, Interview, 12.1.2008. 57 Lagerquist (2003), S. 15ff und Le More (2008), S. 126.

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services to the Palestinian agriculture sector), near the main intended agricultural passages between the West Bank, Gaza and Israel. When analyzing the potential magnitude of the abovementioned agricultural agro-businesses, such service centers may generate an overall income of US$50–100 million per annum (mainly to Israeli input and service suppliers) 58

in 5–10 years time.«

Sowohl in der alltäglichen Abwicklung der Besatzungsprozesse im Westjordanland als auch in der Rüstungsindustrie haben sich zahlreiche Möglichkeiten für private Firmen eröffnet. Gerade in der Mauer in und um Jerusalem ist die Privatisierung von Checkpoints geplant, um der Besatzung ein zivileres Aussehen zu verleihen.59 Die Vorteile der Besetzung der palästinensischen Gebiete für die israelische Volkswirtschaft gehen jedoch darüber hinaus. Durch die umfassende israelische Kontrolle über palästinensische Ex- und Importe sind israelische Firmen weitaus flexibler in der Wahrnehmung von Gewinnmöglichkeiten. Zusätzlich zu der Tatsache, dass der palästinensische Markt quasi ein ›captive market‹ für israelische Waren ist, ist es für israelische Firmen meist einfacher als für palästinensische Anbieter, Waren in die besetzten Gebiete zu liefern.60 Da auch die meisten Hilfsorganisationen in Israel einkaufen, werden große Summen an Hilfsgeldern in israelische Währung umgetauscht, was die Devisenvorräte der Israelischen Zentralbank hat anwachsen lassen. Hever spricht in diesem Zusammenhang vom Export der Besatzung und einer »Ausbeutung der palästinensischen Wirtschaft per Fernsteuerung«.61 Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass die Besatzungssituation von Vorteil für die gesamte israelische Wirtschaft und Gesellschaft sei. Ganz im Gegenteil kalkuliert Hever die Kosten der israelischen Besatzung abzüglich der aus der Besatzung stammenden Einnahmen (allerdings ohne Einbeziehung der Profite aus internationalen Hilfsgeldern für die Palästinenser oder die – insbesondere militärische – Hilfe durch die USA für Israel) bis zum Jahr 2008 auf 381,02 Milliarden Schekel. Diese Kosten seien jedoch nicht gleichmäßig verteilt worden, sondern vor allem zu Lasten der Bevölkerung gegangen, während etwa die Vergabe staatlicher Bauaufträge in israelischen Siedlungen intransparent bliebe.62 Besatzung, Friedensprozess und die gleichzeitige Transformation der israelischen Wirtschaft in den 1990er Jahren trugen somit dazu bei, die seit Mitte der

58 Peres Center for Peace & PALTRADE (2006), S. 55. 59 Hever (2010), S. 52f, 118. 60 Hever (2010), S. 37ff, 48f. 61 Hever (2010), S. 49, Übersetzung SG. 62 Hever (2010), S. 51–73.

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1980er Jahre wachsenden sozialen Unterschiede in Israel weiter zu verschärfen. Während eine neue Schicht von Spitzenverdienern sich die Früchte des Friedensprozesses aneignete, führten die Verlagerung großer Teile etwa der Textilindustrie nach Jordanien, der Zuwachs an ausländischen Arbeitskräften und der Abbau des öffentlichen Sektors zur verstärkten Marginalisierung der unteren Gesellschaftsschichten Israels. In dieser ökonomischen Ungleichheit sieht Bouillon einen zentralen Grund für die politische Ablehnung des Friedensprozesses, die sich im Wahlsieg Netanjahus 1996 gegen Peres und dem arabischen Wahlboykott manifestierte. 63 Steigende Arbeitslosigkeit, die Entmachtung der Gewerkschaften und die Aushöhlung sozialer Sicherungssysteme riefen den Widerstand gerade unterer Einkommensschichten gegen den Friedensprozess hervor, der als Teil des Liberalisierungsprozesses wahrgenommen wurde.64 Die israelische Wirtschaftselite engagierte sich nach den Osloer Verträgen nur beschränkt – durch ihre öffentliche Unterstützung – für den Friedensprozess, da sie mit dem 1996 erreichten Status quo ihre Interessen durch die asymmetrischen Handelsabkommen und die Öffnung neuer Märkte gesichert sahen. Als die unteren Einkommensschichten stark unter der Rezession in Folge der zweiten Intifada zu leiden hatten, fuhren Großunternehmen immer noch üppige Gewinne ein.65 Mit Forderungen nach weiteren ›Friedensdividenden‹ hielten sie sich jedoch auffallend zurück, was Peled in ihren großen Profiten aus der ökonomischen Liberalisierungspolitik begründet sieht.66 Letzten Endes dienten regionaler Handel und Industriekooperationen unverhältnismäßig stark der israelischen Seite bzw. den Eliten in den jeweiligen Ländern und trugen sogar zum Niedergang des Friedensprozesses bei, so Bouillon: »The economic dimension of the Oslo process not only failed to cement peace, but also exacerbated regional and domestic inequalities and thus contributed to the overall failure of peace.«67 Die ökonomischen Aspekte des Friedensprozesses sind Gegenstand einer ganzen Reihe von erbitterten Diskussionen, so auch im Fall des japanischen Corridor for Peace and Prosperity. Was ganz besonders die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich gezogen hat, ist eine mögliche Beteiligung israelischer Firmen am Agrarindustriepark in Jericho, die Teil des auf regionale Kooperation ausgerichteten Grundkonzeptes ist. Laut Jaber von PIEFZA hatten im Jahr 2007 schon einige israelische Firmen ein Interesse an Investitionen in den Park be-

63 Bouillon (2004), S. 133ff. 64 Peled (2006), S. 44ff. 65 Hever (2010), S. 32, 44f. 66 Peled (2006), S. 51f. 67 Bouillon (2004), S. 135.

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kundet.68 Hatada von der japanischen Botschaft in Tel Aviv hielt eine solche Beteiligung allerdings eher für unwahrscheinlich, da die endgültige palästinensische Zustimmung noch nicht erteilt und israelische Firmen nicht wirklich interessiert seien; schließlich seien bis auf das niedrigere Lohnniveau keine Vorteile in der Westbank zu finden. Eine israelische Beteiligung würde wiederum ganz andere Implikationen für die Sicherheitsvorkehrungen im Park nach sich ziehen.69 Auch Morishita von JICA äußerte Zweifel angesichts der Lage des Baugrundstücks im palästinensisch kontrollierten Gebiet A. Schließlich könne man nicht erwarten, dass jemand in einen Industriepark investiere, den er nicht selber legal betreten dürfe.70 Beinahe vier Jahre später ist diese Frage weiterhin strittig. Auf die kritische Nachfrage bei einer Anhörung vor dem International Development Committee des britischen House of Commons, ob eine mögliche Ansiedlung israelischer Firmen im Agrarindustriepark nicht zur Legitimierung der israelischen Präsenz im umstrittenen Territorium des Jordantals führen werde, verwies Tony Blair ebenfalls auf die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Falles.71 Khatib, ein langjähriger palästinensischer JICA-Mitarbeiter, schließt die als Normalisierung (vgl. Kap. 6.2) abgetane Beteiligung israelischer Firmen innerhalb des »rein« palästinensischen Parks kategorisch aus: »Until now, we couldn’t compete Israel. If the Israeli want to come here in order to export to other country, it’s something will help in normalization, you know, for the relation between Israel and the Arab countries. And we will be like a bridge. But until now, there is no… any negotiation between the two parties have been stopped […] I will tell you something, from the beginning, I don’t even think that the Israelis will be participating in that, even on the side, because Japan… It’s the role of Israeli just to help and to assist on the logistic thing, but inside the park, no that’s a Palestinian, that’s pure…«72

Nakano von JICA73 und Fukuyama vom japanischen Vertretungsbüro in Ramallah hingegen halten eine solche Beteiligung unter Verweis auf die geringe Attraktivität des Standorts und auf die Entscheidungshoheit der PA zumindest für unwahrscheinlich, wenn auch nicht für ausgeschlossen:

68 Jaber, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 69 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 70 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 71 Blair zitiert in House of Commons (2008), S. 40. 72 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 73 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011, und Ramallah, 19.9.2011.

144 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA [SG:] Und wenn ich das richtig verstanden habe, erhoffte man sich doch von der Beteiligung israelischer Firmen eine bessere israelische Kooperation? [Fukuyama:] Ja, schon, aber so ernsthaft hat man das nicht überlegt. Also natürlich besteht die Möglichkeit, dass auch israelische Firmen sich beteiligen und zum Beispiel Fabriken managen… Für den Park braucht man ja einen Bauträger, der den Park entwickelt und managt – normalerweise eine Privatfirma. Und wenn da nun eine israelische Firma käme, die auch Erfahrung hätte, könnte das gut klappen, aber in den Augen der Palästinenser würde das wiederum eine Kooperation mit der Besatzung darstellen, deswegen ist der Agrarindustriepark, wie ich vorhin schon gesagt habe, ein Projekt unter der ownership der palästinensischen Seite. Und wenn die palästinensische Seite, die PA, sagen würde, dass sie sich unbedingt beteiligen sollen, dann haben wir nichts dagegen, aber wir haben kein einziges Mal zur palästinensischen Seite, zur PA, gesagt, dass sie auch israelische Firmen beteiligen sollen. Die Frage ist, was passiert, wenn beim Anwerben von Investoren nicht nur zum Beispiel die Firma ›Muhammad‹ oder die Firma ›Ali‹ aus dem palästinensischen Westjordanland, sondern auch die Firma ›David‹ aus Israel Interesse zeigt, nicht wahr? Aus japanischer Sicht muss das nicht unbedingt abgelehnt werden, aber, na ja, aus palästinensischer Sicht ist noch nicht entschieden, wie dann verfahren wird, denke ich.74

Angesichts der Tatsache, dass die regionale Kooperation gefördert werden soll und eine israelische Beteiligung im Entwurf der Vor-Machbarkeitsstudie eindeutig vorgesehen war,75 verwundert es zunächst, dass sich die japanische Seite nun so kühl zeigt. Möglicherweise ist dies eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem folgender Absatz aus einem unveröffentlichten, aber durch eine undichte Stelle in die Hände von Stop the Wall gelangten Berichts für Aufregung gesorgt hatte:76 »Some of Israeli migrant firms making successful business are to be surveyed to analyze primal factors of the likely promising products. Such factors may be ascribed to three points; production, distribution and market. Perhaps successful migrant business might be supported by external/internal conditions lessening constraints. For instance, innovation of production technology, economy of scale in delivery, and market stability in Israel or European countries are to be contemplated.«77

74 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. 75 JICA (2007b), S. 5–37. 76 Stop the Wall Campaign (2007, S. 16) zitiert diese Stelle in ihrer Veröffentlichung über die japanischen Aktivitäten im Jordantal. Hamoudeh (2012, S. 12) bezieht sich wiederum darauf und berichtet, JICA habe betont, dass die palästinensische Seite stark vom Technologieaustausch mit den israelischen Siedlern profitieren könne. 77 JICA (2007a), S. 9.

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Der Ausdruck ›Israeli migrant firms‹ wurde allgemein als Euphemismus für Firmen aus den nach internationalem Recht illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland verstanden. Eine junge palästinensische JICA-Mitarbeiterin in Ramallah erzählte mir ebenfalls, JICA sei von israelischer Seite dazu genötigt worden, solche Siedlerfirmen zu akzeptieren.78 Auch von israelischen Aussagen, die Zustimmung für die Verarbeitung von Siedlungsprodukten sei erlangt worden, wird in Japan berichtet.79 Sowohl Hatada als auch Morishita schlossen aber die Kooperation mit solchen Firmen ausdrücklich und grundsätzlich aus und reagierten auch erstaunt auf Fragen nach israelischen Mittlerfirmen etwa in den Bereichen Transport und Sicherheit.80 Beinahe vier Jahre später ist diese Frage allerdings immer noch nicht vollständig geklärt, wie folgende Unterhaltung mit einer palästinensischen Mitarbeiterin bei PIEFZA und einem dorthin von JICA entsandten japanischen Consultant zeigt; auch wenn man sich davon weitgehend distanziert hatte, wird nicht völlig ausgeschlossen, dass auch Erzeugnisse aus israelischen Siedlungen im Agrarindustriepark verwertet werden könnten: [SG:] Is it possible that agricultural produce from the Israeli settlements could be purchased for the park? [Farhat:] I doubt it. [Suzuki:] Really? The PA say this, but in order to promote agricultural products, Japan will support and Israel will agree to agro-industrial park. In 2007 and 2008 some criticisms spread. But now I didn’t hear that kind criticism. [Farhat:] Yeah, because now it’s well known among Palestinians that nobody can buy settlers’ products. […] [Suzuki:] We have no tenants at the moment but maybe such details will be discussed… It is necessary to keep some flexibility but also make some standards to eligible for export or appreciated by customers, so there is the requirement of the PIEFZA. It’s not easy – keep the flexibility and make such clear message to the market.81

78 Diese Aussage entstand bei einem meiner Besuche im JICA-Büro in Ramallah 2008, als alle anderen Mitarbeiter gerade den Raum verlassen hatten. Besagte Mitarbeiterin machte jedoch nicht den Eindruck, diese Informationen heimlich mitteilen zu wollen. Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass sie fehlinformiert bzw. nicht mehr auf dem neuesten Stand der Entwicklungen war. Möglicherweise spiegelt die Aussage einfach einen gängigen Diskurs über israelische Einflussnahme in Palästina wider. 79 Odagiri (2009), S. 139, und (2008a), S. 23. 80 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008 und Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 81 Farhat (PIEFZA) und Suzuki (PADECO), Interview, Ramallah, 6.10.2011.

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Der Verdacht, Unternehmen aus israelischen Siedlungen im Westjordanland, ohnehin abhängig von palästinensischer Arbeitskraft, könnten in die neuen Industrieparks umziehen und somit ihre Anwesenheit legalisieren und perpetuieren, stellt eine palästinensische Befürchtung dar, die sich nicht nur auf das japanische Projekt bezieht.82 Essawi (Bisan) weist ebenfalls auf die Problematik der Nachverfolgbarkeit hin und vertritt die Meinung, dass im Jordantal, das voller landwirtschaftlicher israelischer Siedlungen sei, die Beteiligung solcher Firmen gar nicht verhindert werden könne, zumal auch die Praxis weitverbreitet sei, die Herkunft der Agrarprodukte zu verschleiern: »Es gibt Siedlungen im Jordantal, die holen sich ein Label ›Palästina‹; sie verkaufen an den Privatsektor in Palästina und der wird so zum Stellvertreter für die Siedlung. Der verpackt das dann als ›made in Palestine‹ oder ›made in Jericho‹ und dann denkt man in Saudi-Arabien, ›Ah ja, Jericho ist ja in Palästina, kein Problem!‹ In der Landwirtschaft lassen sie [Israel] nicht zu, dass sich etwas fern von Agrexco bewegt. In Europa, UK oder Frankreich gibt’s ja einen Boykott gegen Agrexco, und dann gibt’s noch andere ihrer Firmen wie Arava und andere wie Bir Sheva und so was; sie nehmen solche Namen. Im Agrarindustriepark wird der Hauptinvestor Agrexco sein.«83

Von Kritikerseite werden auch die Interessen der japanischen Privatwirtschaft, insbesondere von Unternehmern mit guten Beziehungen zu israelischen Kollegen, zur Erklärung einer als fehlgeleitet wahrgenommenen Entwicklungspolitik herangezogen. Die Teilnahme japanischer wie israelischer Unternehmer an diplomatischen Treffen der beiden Länder und bestimmte japanische Unternehmungen im Nahen Osten werden als Indizien dafür angesehen: So war der bekannte israelische Unternehmer Shai Agassi, dessen Firma Better Place für die Entwicklung von Elektroautos eine Partnerschaft mit Nissan-Renault eingegangen ist und nun auch Aufladestationen für Elektroautos israelischer Siedler im Jordantal betreibt, 84 an den Verhandlungen für das Agrarindustrieparkprojekt beteiligt. 85 Spekulationen über persönliche Beziehungen japanischer Funktionäre zu Israelis oder historische Beziehungen zwischen japanischen Firmen und jüdischen Unternehmern aus der japanischen Kolonialzeit86 jedoch kommen antisemitischen Verschwörungstheorien zu nahe, als dass man sie weiter ausführen sollte.

82 Bahour (2010). 83 Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 84 Jordan Valley Solidarity (2012). 85 Odagiri (2009), S. 139, und (2008a), S. 23. 86 Okazaki in persönlicher Email vom 5. Juli 2008.

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Zum momentanen Zeitpunkt sind noch keine näheren Informationen über potenzielle israelische Investoren für den Agrarindustriepark in Jericho bekannt. Ungeachtet aller widerstreitenden Aussagen wird eines klar: Selbst wenn eine Beteiligung israelischer Firmen oder zumindest von Siedlerfirmen am japanischen Industrieparkprojekt in Zukunft ausgeschlossen werden sollte, bleibt der israelische Einfluss auf das Projekt und auf die palästinensische Wirtschaft im Allgemeinen bis auf weiteres ungebrochen stark. Es ist jedoch eine ganz spezifische, relativ kleine Gruppe an Unternehmern mit guten Verbindungen in die Politik und Armee, die am meisten von der Besatzung sowie auch von den Kooperationsprojekten im Rahmen des Friedensprozesses profitiert, während sowohl in Israel als auch in Palästina die sozialen Gräben weiter vertieft werden.

5.3 P ALÄSTINENSISCHE N ETZWERKE VON ADMINISTRATION UND W IRTSCHAFT Ähnlich wie im israelischen Fall ist auch die palästinensische Wirtschaft geprägt vom Dualismus einer dominanten Allianz von (Quasi-)Regierung und Großunternehmen einerseits und einer Vielzahl von marginalisierten kleineren und mittelgroßen Unternehmen andererseits. Die palästinensische Unternehmensstruktur wies schon früher einen sehr hohen Anteil an kleinen Unternehmen mit nur bis zu fünf Angestellten auf. Im Verlauf des Friedensprozesses verlor die traditionelle wirtschaftliche Elite, die aus einigen wenigen Familien mit großem Landbesitz bestand, an Einfluss gegenüber einer neuen politisch-wirtschaftlichen Führungsschicht. Es fand eine zunehmende Kapitalkonzentration in einigen wenigen großen Konglomeraten statt, so dass Bouillon von der Entstehung einer dualistischen Wirtschaftsstruktur in den 1990er Jahren spricht.87 Diese Konglomerate wurden von der Autonomiebehörde selber sowie von PA-Funktionären und Palästinensern mit guten Beziehungen zur PA – aus der Diaspora und teilweise auch aus den palästinensischen Gebieten selber – kontrolliert. Wohlhabende Diaspora-Palästinenser und die ›Tunesier‹ – PLO-Funktionäre, die erst mit der Einrichtung der Autonomiebehörde aus dem tunesischen Exil in die palästinensischen Gebiete kamen – verdrängten teilweise die alten Eliten. Einige der wichtigsten Konglomerate sind die Palestine Development and Investment Company (PADICO) mit der Tochtergesellschaft Palestine Industrial Estates Development Company (PIEDCO), die Arab Palestinian Investment

87 Bouillon (2004), S. 44–50. Vgl. auch Roy (2001), S. 12f.

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Company, die PA-eigene Palestine Commercial Services Company und ihre Entsprechung in Gaza, die Sharikat al-Bahr (Sea Company). Weiterhin einflussreiche lokale Wirtschaftsgrößen sind etwa die Nassar Investment Company (Stein und Marmor) und die Unternehmen der Masri-Familie. Ungeachtet ihrer neoliberalen Bekenntnisse zur Förderung der Privatwirtschaft etablierten die Palästinensische Autonomiebehörde und die mit ihr verbundenen Konglomerate Monopole und Quasi-Monopole beim Import von Gütern wie Zement, Öl und Zigaretten.88 Diese Entwicklung wurde unterstützt durch die Handelshemmnisse und Importquoten der israelischen Besatzungspolitik und der israelisch-palästinensischen Abkommen. So werden der palästinensisch-israelische Handel und andere Wirtschaftsbereiche dominiert von israelischen Großunternehmen und der Autonomiebehörde nahestehenden palästinensischen Geschäftsleuten mit guten Kontakten zur israelischen Seite, deren Netzwerke es ihnen erlauben, die Geschäftschancen der fragmentierten palästinensischen Wirtschaftsräume auszunutzen, etwa leichter Checkpoints zu passieren oder Genehmigungen zu erlangen: »The new Palestinian elite is an Oslo phenomenon. […] They exercised tight control over foreign investment and credit sources and controlled protected areas of the economy, such as energy and construction, in alliance with specific private sector interests (which were thus appeased) and with external actors, namely former Israeli military or security officials who had previously worked in the Gaza Strip and West Bank.«89

Die Verbindungen zwischen palästinensischen und israelischen Führungseliten in Wirtschaft und Politik boten vielfältige Geschäftsmöglichkeiten, häufig auch auf illegalem Wege, soweit angesichts des komplexen Gefüges juristischer Regelungen und nur teilweise funktionierender bilateraler Abkommen überhaupt von Legalität die Rede sein kann.90 Die Korruption der PA wurde zudem mit der Zeit quasi sprichwörtlich – zumal sie lange Zeit neben ihrem öffentlichen noch ein geheimes Budget unterhielt, das keiner öffentlichen Kontrolle unterlag. Gerade die Verwendung der Einnahmen aus mit Israel ausgehandelten Zollabkommen, Monopolen, der Tabaksteuer etc. blieb undurchsichtig; teilweise wurden sie sogar auf ein privates israelisches Konto von Palästinenserführer Yassir Arafat überwiesen. Dieses Arrangement war zunächst sowohl von Seiten der Geberländer als auch von Seiten Israels politisch gewollt; es war die Rede davon, Arafat brauche einiges an »walking-around money«, um Loyalität für das neue

88 Bouillon (2004), S. 44–50 und Nasr (2004). 89 Roy (2001), S. 12. 90 Bouillon (2004), S. 94ff und Le More (2008), S. 145.

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Regime zu erkaufen und »im Gazastreifen aufzuräumen«. 91 Diese Formierung einer neopatrimonialen Gesellschaftsordnung wurde allgemein als die bessere Alternative zu einer gewaltsamen Unterdrückung der Opposition angesehen. Als Mittel zur Machtkonsolidierung kann auch die Einstellung von weit über hunderttausend Palästinensern durch die PA, dem größten Arbeitgeber in den palästinensischen Gebieten, interpretiert werden. Ebenso ist die verbreitete Duldung von Korruption als wirksames Instrument politischer Manipulation zu sehen.92 Die Geberländer hatten sich jahrelang mit der Korruption der Autonomiebehörde arrangiert. Auf der AHLC-Konferenz in Tokyo 1999 und dann wieder 2002 wurden die Bekämpfung der Korruption und good governance fokussiert, doch Gegenmaßnahmen erwiesen sich zunächst als ineffektiv.93 2005 hatte die Intensität und Intimität der internationalen Aufsicht, unter welche die palästinensische Wirtschafts- und Finanzverwaltung gestellt wurde, jedoch ein so hohes Niveau erreicht, dass immer weniger von einer »demand-driven« als viel mehr von einer »supply-driven« Finanzhilfe für die Autonomiebehörde die Rede sein kann.94 Brynen relativiert das Ausmaß der Korruption in der Autonomiebehörde, die zwar ein sehr reales und schweres Problem darstelle, im Vergleich zu anderen Übergangssituationen von Krieg zu Frieden jedoch noch relativ gemäßigt sei. Auch die Entwicklungsprogramme würden vergleichsweise stark überwacht. 95 Ende 2010 wurde eine Antikorruptionskommission eingerichtet, von der Wirtschaftsminister (und PIEFZA-Vorsitzender) Hassan Abu-Libdeh und Landwirtschaftsminister Ismail Da’iq, die möglicherweise am meisten in Japans Agrarindustrieparkprojekt involviert waren, als erste der Korruption angeklagt wurden.96 JICA-Mitarbeiter betonten allerdings, dass diese Vorwürfe in keinerlei Zusammenhang zu japanischen Entwicklungsprojekten stünden.97 Nach dem Wahlsieg der Hamas, deren vergleichsweise integres Image maßgeblich von den Korruptionsvorwürfen gegen Arafat und seine Fatah profitierte, schränkte die internationale Gemeinschaft die Transparenz der Geldflüsse zusätzlich ein, indem sie an der PA vorbei Gelder in die Hände politischer Verbündeter kanalisierte. Gleichzeitig befand eine Weltbankstudie, dass der Grad der Korruption in der PA entgegen der allgemeinen Wahrnehmung im In- und Aus-

91 Brynen (2005), S. 138, Übersetzung SG. Vgl. auch Lasensky (2005), S. 48. 92 Brynen (2000), S. 140–146, Roy (2001), S. 6ff und Samara (2000), S. 24f. 93 Bouillon (2004), S. 147 und Le More (2005a), S. 993. 94 Khalidi (2005), S. 79. 95 Brynen (2000), S. 229. 96 AMAN (2011). 97 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011 und Suzuki, Interview, Ramallah, 6.10.2011.

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land vergleichsweise niedrig sei. Korruptionsvorwürfe dienten jedoch auch dazu, die Legitimität der Autonomiebehörde zu untergraben, und leisteten dem weitverbreiteten israelischen Urteil Vorschub, es gebe auf palästinensischer Seite »keinen Partner für den Frieden«.98 Taghdisi-Rad bemerkt, nicht weitere institutionelle Reformen in Anpassung an die Besatzungssituation würden am dringendsten benötigt, sondern vielmehr die Schaffung unabhängiger Institutionen.99 Das fortwährende Beharren auf Korruptionsbekämpfung, Kompetenzentwicklung (capacity building) und Reform der Institutionen auch in den Folgejahren habe die Glaubwürdigkeit sowohl der Geberorganisationen wie auch der Autonomiebehörde weiter untergraben und von der sich verschärfenden Notsituation der palästinensischen Wirtschaft abgelenkt.100 Der Friedensprozess bescherte den palästinensischen Gebieten keineswegs soziale Gerechtigkeit und demokratische Verhältnisse. Für die politischen und ökonomischen Eliten eröffneten sich zwar neue Handlungsspielräume in der regionalen Kooperation, die Mehrzahl der kleineren Unternehmen litt jedoch unter der asymmetrischen Beziehung zur israelischen Wirtschaft, der Abriegelung, wachsender jordanischer Konkurrenz und steigenden Preisen.101 Die zunehmende soziale Ungleichheit hatte Bouillon zufolge wiederum Auswirkungen auf den Friedensprozess selbst: »In many ways, the marginalization of local entrepreneurs and the monopolization of newly created business opportunities in collaboration with Israeli companies, contributed to a growing rejection of peace among the population. This discredited not only the PA leadership, but also the political process it pursued.«102

Die PA ging mit zunehmender Härte gegen ihre Kritiker vor, ließ Hoffnungen auf einen demokratischen Staat in weite Ferne rücken und verlor zusehends an Glaubwürdigkeit. Die steigende Unzufriedenheit mit dem Stillstand im Friedensprozess, zunehmender Arbeitslosigkeit sowie der Korruption und den Repressionen der Autonomiebehörde führte zu einer wachsenden Unterstützung für oppositionelle Gruppen wie die Hamas und schließlich zur Ablehnung des gesamten Friedensprozesses, die sich 2000 in der Al-Aqsa-Intifada manifestierte.103

98

Hever (2010), S. 14–17.

99

Taghdisi-Rad (2011), S. 197.

100 Taghdisi-Rad (2011), S. 178–183. 101 Bouillon (2004), S. 96, 144f. 102 Bouillon (2004), S. 144. 103 Bouillon (2004), S. 145–148.

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Diese Gegensätze müssen auch bei der Betrachtung der derzeitigen politischen Spaltung der palästinensischen Gesellschaft (und faktisch des Westjordanlandes und des Gazastreifens) berücksichtigt werden. Aus der oben beschriebenen politisch-ökonomischen Elite stammen die wichtigsten Kooperationspartner in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in den palästinensischen Gebieten, insbesondere, wenn es um Großprojekte wie etwa den Industriepark bei Jericho geht. Kritiker des japanischen Agrarindustrieparkprojekts argumentieren häufig, wie bei anderen ›Friedensprojekten‹ seien auch hier Großunternehmer die einzigen Nutznießer auf palästinensischer Seite. Hatada von der japanischen Botschaft in Tel Aviv berichtete, dass es in der Tat großes Interesse an dem Projekt seitens einiger palästinensischer Geschäftsmänner gegeben habe. Immer wieder sei es auch vorgekommen, dass Unternehmer mit der Bitte zu ihm gekommen seien, den Park doch an einem anderen Standort zu bauen.104 Zum Teil sind privates Lobbying in eigener (ökonomischer) Sache und politische Verhandlungsführung nicht mehr zu trennen. Karam (PASSIA) macht die Interessenspolitik des palästinensischen Chefunterhändlers Saeb Erekat, der direkt in die Verhandlungen über das japanische Projekt involviert ist, für die Auswahl des Standorts Jericho verantwortlich: »[…T]he former Palestinian foreign minister Nasser Qudwa […] personally attended the meeting in Tokyo the first time and was opposing to the idea of Jericho, while Saeb Erekat was for the Jericho thing because he’s from Jericho.« 105 Gesprächspartner vom japanischen Repräsentationsbüro sowie von JICA wiesen einen solchen Zusammenhang jedoch von sich.106 Diese Distanzierung passt zu der Skepsis, die ein von WikiLeaks veröffentlichtes Telegramm der US-Botschaft in Tokyo vom 27. August 2007 andeutet: »Until this meeting, Saeb Erekat – who is loyal to Abbas – has always taken the lead for the Palestinian Authority. It has now been decided that Dr. Samir Abdullah, Minister of Planning and Labor, will take the lead. Kanno explained that this makes sense as Erekat is more associated with political negotiations and the CPP [Corridor for Peace and Prosperity; Anm. SG] is an economic initiative which will hopefully transcend politics. In addition, Erekat comes from Jericho, and the Japanese are not too sad to see him out of the picture as they feared his local roots might lead to local political grandstanding with regard to the project, something Japan hopes to avoid.«107

104 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 105 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 106 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008, u. Sakamoto, Interview, Jericho, 22.1.2008. 107 WikiLeaks (2011c).

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Amerikanische Quellen berichten also, dass in Japan befürchtet worden sei, Erekat könne den Corridor for Peace and Prosperity für sich vereinnahmen und als seine eigene Leistung darstellen. Die Verbindung zu ausländischen Repräsentanten kann auch prestigeträchtig sein, wenn keine Entwicklungsgelder involviert sind, wie Farraj beschreibt. Der Dozent an der An-Najah-Universität in Nablus hat in Japan studiert, ist ein großer Japanliebhaber und organisiert oft japanbezogene Kulturveranstaltungen; mit den japanischen Funktionären in Palästina steht er in engem Kontakt: »For me, it’s power when the ambassador comes to Jenin, I’m riding his car, I’m going around for the governor, for the… I’m not invited by my government; I’m invited by the Japanese, which is power for me.«108 Persönliche Verbindungen zu japanischen Funktionären mögen also soziales Kapital einbringen; noch bleibt jedoch unklar, welches ökonomische Kapital vom JAIP angezogen wird. Zwar hätten einige palästinensische Firmen Interesse angemeldet, in den Park zu investieren, doch ob dieses Interesse sich in konkreten Taten niederschlagen werde, sei abzuwarten, wie Nakano (JICA) bemerkt.109 Zumindest die kooperierenden Betreiberfirmen entstammen erwartungsgemäß den großen palästinensischen Unternehmenskonglomeraten, die von engen personellen Verflechtungen geprägt sind: The Dead Sea and Palestinian Valley Development Company, kurz Aghwar Company, gehört zum 2003 gegründeten Palestine Investment Fund (PIF), der seine Aktiva auf 800 Millionen US-Dollar beziffert.110 Der Vorsitzende des Industrieparkprojekts Nabil as-Sarraf, ist nicht nur Vorsitzender der zweiten Betreiberfirma PRICO, er sitzt auch im Aufsichtsrat des PIF, der United Arab Investors Company und der jordanischen Kingdom Electricity for Energy Investments und ist Vorsitzender der AMTECH Technical Contracting Company sowie Vizevorsitzender von TAMEER Jordan Holdings. PRICO hat bereits diverse Großprojekte – Luxushotels, Einkaufszentren, Wohnanlagen und Ministeriumsgebäude – im Rahmen des Baubooms der letzten Jahre verwirklicht und gehört zum PADICO-Konglomerat, das nach eigenen Angaben über Einlagen in Höhe von 250 Millionen US-Dollar verfügt.111 Die Verbindungen zwischen palästinensischem und israelischem Großkapital werden von palästinensischer Seite äußerst kritisch beobachtet. Der Publizist Haddad betont unter Verweis auf eine Studie Issa Smerats an der Al-QudsUniversiät von 2011, dass palästinensische Investoren wesentlich mehr in Israel und in den israelischen Siedlungen investieren als in den palästinensischen Ge-

108 Farraj, Interview, Nablus, 2.10.2011. 109 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 110 PIF-Webseite. 111 PADICO-Webseite.

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bieten selber. So verwundere es nicht weiter, wenn die PA und hochrangige palästinensische Funktionäre nicht deutlicher Stellung gegenüber der israelischen Politik bezögen: »It’s class interest.« 112 Hierbei wird deutlich, dass politische und ökonomische Interessen in Israel/Palästina nicht immer zu trennen sind.

5.4 D IE G EBERLÄNDER Das vielfältige Engagement zahlreicher internationaler Institutionen und Geberländer in den palästinensischen Gebieten lässt Ibrahim von einem globalen Besetzungsprojekt sprechen: »The occupation of Palestine is, in essence, a global project […] and these contexts, in turn, radically affect the objectives and content of development strategies put forward in Palestine.«113 Die japanische Entwicklungspolitik gilt es in den Kontext anderer internationaler Interessen in dieser Arena einzuordnen. Das japanische Nachkriegsverhältnis zu den Staaten im Nahen Osten wurde lange Zeit von der Rohstoffabhängigkeit und der Teilnahme am ökonomischen Israelboykott dominiert. Mit japanischen Diversifizierungsstrategien in der Energieversorgung und der Verbesserung der Beziehungen zu Israel hat dieser Faktor bedingt an Bedeutung verloren. Nichtsdestotrotz bezieht Japan immer noch einen Großteil seines Erdöls aus dem Nahen Osten und ein gutes Verhältnis zu den Rohstofflieferanten wird weiterhin als eines der wichtigsten Motive der japanischen Nahostpolitik angesehen. Doch nicht nur im Hinblick auf das Öl ist die Region wichtig für die japanische Wirtschaft. Japanisches politisches Engagement im Nahen Osten wird auch als ein Mittel angesehen, die wirtschaftlichen Beziehungen zu erdölproduzierenden wie zu nicht erdölproduzierenden Ländern auszubauen.114 Außerdem sei ein stabiler Naher Osten wichtig für die Weltwirtschaft und damit auch für die japanische Wirtschaft: »Es geht nicht nur um Erdöl, sondern natürlich auch um die Stabilität im Nahen Osten. Japan ist weit entfernt, aber wenn sich der Nahe Osten stabilisiert, hat das verschiedenste Auswirkungen, etwa auf wirtschaftlicher Ebene… Die ganze Weltwirtschaft wird davon beeinflusst. Weil dadurch auch die japanische Wirtschaft unter den Konsequenzen leidet, ist die Stabilität im Nahen Osten wichtig.«115

112 Haddad, Interview, Beit Sahour, 5.10.2011. 113 Ibrahim (2011), S. 44. 114 Shabtai, Interview, Jerusalem, 13.1.2008. 115 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008.

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Wie bei der japanischen Truppenentsendung in den Irak (vgl. Kap. 3.5) wird auch im Fall der japanischen Entwicklungspolitik im Nahen Osten häufig der amerikanische Einfluss zur Erklärung herangezogen.116 Nicht zuletzt durch den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag ist die japanische Außenpolitik traditionell eng an die der USA gekoppelt. Nach Tidtens Einschätzung ist die neue japanische Außen- und Nahostpolitik zwar nicht nur zufällig in Übereinstimmung mit dem amerikanischen Bündnispartner, mittlerweile aber deutlich stärker auf die aktive Durchsetzung globaler japanischer Interessen ausgerichtet.117 Susser spricht von ›zwei widerstreitenden Kräften‹, die auf die japanische Entwicklungspolitik einwirkten: der politischen und ökonomischen Abhängigkeit von den USA einerseits und von arabischem Öl andererseits.118 Auch Mansour vom Planungsministerium der PA und Shabtai schätzen den amerikanischen Einfluss als sehr stark ein, wobei Shabtai ihn auch als wichtig bewertet, »um die antiisraelische Position der Japaner lange Zeit zu mäßigen.«119 Khalil von Stop the Wall Campaign vermutet, der japanische Corridor of Peace and Prosperity sei auf eine amerikanische Initiative zurückzuführen, zumal der ehemalige Premierminister Koizumi sehr pro-amerikanisch eingestellt gewesen sei und »die Japaner« in Palästina nichts ohne die Zustimmung »der Amerikaner« unternähmen. 120 Das Ausmaß des US-amerikanischen Gewichtes in der japanischen Nahostpolitik zeichnet sich in einem von WikiLeaks veröffentlichten Telegramm der US-Botschaft in Tokyo ab. Hier wird in paternalistischem Tonfall vom Drängen der Japaner auf eine einflussreichere Rolle im Friedensprozess, ihrer Sorge, möglicherweise wieder nicht eingeladen zu werden, sowie ihrer Befriedigung über die Anerkennung durch den Sondergesandten Blair berichtet: »Adachi provided Embassy of Tokyo Political Officer with a copy of [Japan’s Special Envoy for Peace in the Middle East, Anm. SG] Arima’s remarks at the AHLC meeting […] pointing out that Japan was the only country which specifically referred to the leadership of President Bush. 2. (C) Japan expects to be invited to the international conference to be held in November […]. Japan understands that the United States is very busy right now

116 Orr (1998), S. 144f. Ein japanischer JICA-Mitarbeiter in Syrien äußerte mir gegenüber einmal (in leicht angetrunkenen Zustand), in der Entwicklungspolitik im Nahen Osten würde Japan ohnehin immer nur den Vorgaben der USA folgen. 117 Tidten (2005). 118 Susser (2007), S. 11. Vgl. auch Abo-Kazleh (2009). Ähnlich äußerte sich Fukuyama (japanisches Vertretungsbüro in Ramallah) im Interview, Ramallah, 20.9.2011. 119 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008; Shabtai, Interview, Jerusalem, 13.1.2008. 120 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008.

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with a number of diplomatic initiatives, but hopes the invitation can come sooner, rather than later. […] Arima also held bilaterals with […] Special Envoy Tony Blair, who impressed the Japanese with his very in depth knowledge of their ›Corridor for Peace and Prosperity‹ initiative.«121

Die Koordination der Entwicklungszusammenarbeit verschiedenster Geberländer und Organisationen untereinander und mit der noch jungen Verwaltung der PA erweist sich als äußerst komplexe und schwierige Angelegenheit.122 Laut Mansour zeigen sich die Japaner wenig bereit, mit anderen Geberländern gemeinsam Entwicklungsprojekte zu unterhalten, am ehesten kämen noch die USA als Partner infrage.123 Zumindest offiziell wird jedoch von japanischer Seite große Kooperationsbereitschaft signalisiert.124 Seit 2010 finden zudem Kooperationsprojekte mit südostasiatischen Staaten wie Indonesien, Malaysia oder Singapur statt (vgl. Kap. 4.3). Laut Brynen und Le More ist die Entwicklungszusammenarbeit in Palästina außerdem geprägt von Konkurrenzkämpfen unter den Gebern, die um internationales Ansehen und regionalen Einfluss ringen, 125 und ihrem Wunsch, an der Lösung eines der »most high-profile conflicts of the planet« beteiligt zu sein.126 Karam sieht das japanische Palästina-Engagement vor allem in dem Bestreben begründet, das Potenzial für internationales Prestige zu nutzen, das der Nahostkonflikt birgt: »They were trying to share some responsibility on the dividend of peace with Europe and the US. The second component: they want to have a say in the Middle East conflict, whether it is Egypt or Jordan or Syria or Lebanon or Palestine. […] They don’t want to be absent of such basket.«127

Während Mansour Japan vergleichsweise große Einflussmöglichkeiten auf den israelischen Verhandlungspartner einräumt,128 sehen sowohl Hatada als auch Fukuyama vom japanischen Vertretungsbüro die Handlungsmöglichkeiten auf wirtschaftliche Zusammenarbeit beschränkt:

121 WikiLeaks (2011d). 122 Brynen (2000), S. 87-111. 123 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 124 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 125 Brynen (2000), S. 87-111. 126 Le More (2008), S. 172, Übersetzung SG. 127 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 128 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008.

156 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA »Auf politischer Ebene vermitteln kann nur Amerika. Das wissen auch alle, also, auch Japan weiß, dass es das nicht kann. Denn für Japan wäre es sehr schwierig, politischen Einfluss auf Israel auszuüben.«129 »Japan kann politisch nicht so viel bewirken, aber eine wirtschaftliche Rolle, na ja, im Nahostfriedensprozess erfüllt Japan nicht so eine Hauptrolle, aber um den Friedensprozess zu unterstützen, also das fängt schließlich bei der einfachen Hilfe für die palästinensische Wirtschaft an, wirtschaftliche Entwicklung, mit anderen Worten, Japan unterstützt die Zweistaatenlösung der internationalen Gemeinschaft […].«130

Bei der Madrid-Konferenz von 1991 hatte Japan einige wichtige Positionen wie etwa die Leitung der Umweltarbeitsgruppe übernommen und damit den Respekt aller Seiten gewonnen, meint Shabtai, der darin einen Durchbruch für die japanische Nahostdiplomatie sieht.131 Als im Jahr 2002 das ›Nahostquartett‹, bestehend aus der UNO, der EU, den USA und Russland, ins Leben gerufen wurde, zeigte auch Japan Interesse an einer Teilnahme. 132 Die palästinensische Seite schien dies zu unterstützen,133 doch die japanischen Ambitionen wurden enttäuscht: »The offer was declined. Actually, the United States told Japan, ›if you want to help, you can help in other ways, like contributing money‹, [lacht] which was an affront to the Japanese. […] In other words, they wanted to sit next to the table and they were told: ›You stay away!‹«134

Fukuyama vom japanischen Vertretungsbüro, der zuvor in Japan an der ersten Formulierung des Projektvorschlags beteiligt gewesen war, beschreibt diese Zurückweisung als einen wichtigen Faktor für die Entstehung des Corridor for Peace and Prosperity: In dem Projekt wurde auch ein anderer Weg gesehen, um mehr Druck auf die Verhandlungspartner im Konflikt auszuüben und eine einflussreichere Position einzunehmen, die den hohen Hilfszahlungen Japans würdig wäre.135 Der japanische Wunsch, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat einzunehmen, wird häufig neben dem Zugang zu natürlichen Ressourcen als Er-

129 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 130 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. 131 Shabtai, Interview, Jerusalem, 13.1.2008. 132 Andō (2003), S. 25 und Susser (2007), S. 10. 133 Curtin (2005b) und Shtayyeh (2002), S. 49. 134 Shabtai, Interview, Jerusalem, 13.1.2008. 135 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011.

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klärung für das verstärkte Engagement Japans im staatenreichen Afrika herangezogen.136 Auch in der Nahostpolitik wird dieses Ziel als eines der Hauptmotive angesehen, wie der Japanologe Sadan ausmalt: »What are the interests in the Middle East? Of course, oil. But now, you know, the Japanese want something much more than oil, they want international standing. UN security council permanent membership, right? This is their wet dream, you know. They get up at night and they think: ›Wow, this is a great dream!‹«137

In seinen Bemühungen, eine seinen Beitragszahlungen in multilateralen Organisationen entsprechende Einflussposition zu übernehmen, zeigt Japan seit 1969 Ambitionen auf einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat. Seit den 1990er Jahren, als Japan zum weltweit größten ODA-Geberland und einem der wichtigsten Beitragszahler für multilaterale Organisationen geworden war und sich auch personell an UN-Friedensmissionen beteiligte, hat das Streben nach einem ständigen Sicherheitsratssitz neuen Auftrieb erhalten.138 Im Hinblick auf dieses Vorhaben ist es für die japanische Regierung wichtig, durch besonderes Engagement etwa als Vermittler im Nahostkonflikt internationales Ansehen sowie arabisches und amerikanisches Wohlwollen zu gewinnen.139 Nishimura von der japanischen Botschaft in Beirut misst der Entwicklungszusammenarbeit für Japan besondere Bedeutung bei, da dieses – zumindest offiziell – über keine militärische Macht verfüge.140 Kommentatoren in der chinesischen Zeitung People’s Daily Online belächeln die japanischen Bemühungen allerdings eher: »[…A]ll parties clearly understand that economic cooperation cannot substitute for the Middle East peace process. In such circumstances, it seems unlikely for Japan to fulfil its dream to achieve political power through enhancing its economic posture and involvement in the Middle East region. In addition, the Middle East has always been game land of leading powers. The United States, the EU and Russia have kept a close eye on this region for so many years. They won’t allow Japan to put its foot in it by only providing economic aid. Even the United States, strategic ally of Japan, probably will just let Japan play a ›pocketbook‹ role instead of sucking up political influence in the region.«141

136 Burgschweiger (2008), S. 3 und Watanabe (2008), S. 17f. 137 Sadan, Interview, Jerusalem, 15.1.2008. 138 Akashi (2005), Kawakami (2007), Kitaoka (2007b), S. 15ff u. Penn (2007), S. 43ff. 139 Curtin (2005b+d). und Susser (2007), S. 11. 140 Nishimura, Interview, Beirut, 23.10.2007. 141 People’s Daily Online (2007).

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Unabhängig davon, wie stark der US-amerikanische Einfluss auf die japanische Nahostpolitik wirklich ist, wird deutlich, dass das japanische Engagement in Palästina sowohl auf regionalen als auch globalen Status und Einfluss abzielt. Auf regionaler Ebene dient dies der wirtschaftlichen – und möglicherweise auch politischen142 – Sicherheit Japans. Auf globaler Ebene geht es nicht zuletzt darum, Unterstützung für die Bewerbung um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Sorge um die Sichtbarkeit der japanischen Beiträge – von ›aid with a face‹ bis ›flying the flag‹ – zu verstehen (vgl. Kap. 3.4). Möglicherweise liegt hierin auch ein Grund für die relative Kooperationsunwilligkeit Japans mit anderen Geberländern: Die ehemalige UNDPMitarbeiterin Kuwata berichtet von in Kooperation mit europäischen Ländern durchgeführten Entwicklungsprojekten Japans in Afrika, bei denen die japanische Leistung vollkommen untergegangen und die ganze Anerkennung den Europäern zugekommen sei. Deswegen stehe man einer Kooperation mit anderen Geberländern eventuell zurückhaltend gegenüber.143 Wenn die Herkunft der entwicklungspolitischen Beiträge nicht entsprechend gewürdigt wird, kann schließlich auch kein Zugewinn an internationalem Status erwartet werden. Die Instrumentalisierung der Entwicklungszusammenarbeit für andere, politische Ziele auf internationaler Ebene bezeichnet Le More als ›low politics‹, mit der die Geberländer ihr mangelndes Durchsetzungsvermögen in den ›high politics‹ internationaler Verhandlungen etc. – vergeblich – zu kompensieren suchten. Sie konstatiert eine inverse Proportionalität des tatsächlichen politischen Einflusses eines Landes im Verhältnis zu seinem wirtschaftlichen Engagement.144 Die japanische Entwicklungspolitik scheint dieser inversen Logik zu entsprechen: Nachdem der japanischen Führung ein Platz am politischen Verhandlungstisch versagt wurde, blieb ihr nur noch die Fokussierung auf wirtschaftliche Projekte. Da die internationale Entwicklungszusammenarbeit so von externen Zielsetzungen, nämlich einer verbesserten Sichtbarkeit im Zentrum einer globalen Öffentlichkeit, gelenkt wird, bleiben die Bedürfnisse der palästinensischen Wirtschaft zweitrangig.145 Der Nahostkonflikt wird im Allgemeinen als äußerst bedeutsam nicht nur für die arabische, sondern für die ganze Welt und sogar als dauerhafte Bedrohung für den Weltfrieden angesehen. Die Beachtung, die der Konflikt findet, erscheint beinahe disproportional zur Größe der betroffenen Bevölkerung und Territorien, die auf diese Weise global mit großer Bedeutung auf-

142 Shabtai, Interview, Jerusalem, 13.1.2008. 143 Kuwata, Interview, Beirut, 17.10.2007. 144 Le More (2008), S. 172. 145 Hever (2010), S. 36 und Taghdisi-Rad (2011), S. 174–178.

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geladen werden. Von dieser Arena scheint sich jedoch niemand fernhalten zu können, der international etwas zu sagen haben will.

5.5 D ER JAPANISCHE E NTWICKLUNGSAPPARAT Die Rolle, die institutionelle Prozeduren innerhalb von Entwicklungsorganisationen, einheimischer politischer Druck und bestimmte Schlüsselpersonen für die Formulierung von Entwicklungspolitik spielen,146 soll hier im Hinblick auf das japanische Engagement in Palästina beleuchtet werden. Die Ministerialbürokratie verfügt in Japan über sehr großen Einfluss. Die elitäre Haltung japanischer Staatsbeamter, zusammengefasst unter dem Motto ›kanson minpi‹ (Hochachtung für Regierung und Verwaltung – Verachtung für das Volk),147 wird oft auf die Ursprünge des Verwaltungsapparates in der Meiji-Zeit (1868–1912) und die neuen Karrierechancen zurückgeführt, die sich für Absolventen von Eliteuniversitäten mit Auflösung der Ständegesellschaft der Edo-Zeit (1603–1868) eröffneten. Gerade in der Außenpolitik, einem von nicht öffentlichem und sehr spezialisiertem Wissen geprägten Bereich, sei der Informationsvorsprung und somit der Einfluss und Handlungsfreiraum der Bürokraten gegenüber den in der Regel nur kurzzeitig damit befassten Politikern noch heute sehr groß.148 Escobar hebt die Bedeutung institutioneller Praktiken für die Entstehung von (Entwicklungs-)Politik hervor.149 Letztere können auch dazu dienen, die persönliche Verantwortung einzelner Entscheidungsträger zu vermeiden. Der japanische Entwicklungsapparat im Sinne sämtlicher mit Entwicklungszusammenarbeit befasster öffentlicher Institutionen wurde in der Vergangenheit oft für seine starre Bürokratie und seine durch interministerielle Machtkämpfe verursachte Ineffizienz kritisiert.150 Als zeitaufwändig (wenn auch sehr partizipativ) gilt das in japanischen Organisationen verbreitete System der kollektiven Entscheidungsfindung durch ringi-sho (Umlaufakten), bei dem etwa ein Projektvorschlag von einem Untergebenen formuliert wird und dann solange in der zuständigen Abteilung zirkuliert und diskutiert wird, bis eine allgemeine Übereinkunft getroffen ist

146 Vgl. Brynen (2000), S. 14. 147 Nanami (2007), S. 3. 148 Rohde (2003), S. 34–49. 149 Escobar (1995), S. 105–113. 150 May (1989, S. 175) schrieb 1989, dass über 95 Prozent der entwicklungspolitischen Entscheidungen durch reine bürokratische Routineentscheidungen zustande kämen. Vgl. auch Nuscheler (1990), S. 81, Rix (1980) und Rohde (2003).

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und dem Abteilungsleiter zur Zustimmung vorgelegt wird. Sogenannte nawabari arasoi (Revierkämpfe) unter verschiedenen Ministerien haben in der Vergangenheit wiederholt zur Durchführung von Entwicklungsprojekten geführt, die aus Empfängerperspektive völlig unsinnig waren, nur weil Projekte in einem bestimmten Sektor dem jeweils zuständigen Ministerium einen größeren Anteil am ODA-Budget und an Einfluss generell verschafften. Die Verteilung der verschiedenen Förderformen (Kredite, Grants, technische Zusammenarbeit) auf unterschiedliche Behörden verhinderte einen kohärenten Gesamtzugang. 151 Tatewari, also die vertikale Aufgliederung der verschiedenen Abteilungen mit ihren jeweiligen genau abgezirkelten Zuständigkeitsbereichen, erschwert zusätzlich die Zusammenarbeit verschiedener Regierungsbehörden. 152 Eine längerfristige Planung des Entwicklungsprogramms für ein bestimmtes Land wird zudem dadurch behindert, dass das ODA-Budget für jedes zum 1. April beginnende Finanzjahr neu aufgestellt wird und teilweise starken Schwankungen unterliegt.153 Im ODA-Reformprozess seit den 1990er Jahren wurden Maßnahmen zur besseren Koordinierung und Rationalisierung der japanischen Entwicklungspolitik unternommen, so zum Beispiel die Zusammenlegung von OECF und Eximbank zur JBIC sowie die Unterstellung von JICA allein unter das Außenministerium, ihre Umwandlung in eine Selbstverwaltungskörperschaft und schließlich ihre Zusammenlegung mit JBIC. Hiermit vereinigt JICA nun alle Arten der japanischen Entwicklungszusammenarbeit in einer Institution, die wiederum einem einzigen Ministerium nachgeordnet ist (vgl. Kap. 3.4). Das japanische ODA-Budget stammt teilweise aus Steuergeldern und teilweise aus zaitō kikan sai (Anleihen aus nationalen Investitionsorganen z. B. von der Postbank und Rentenfonds) und chihō sai (Lokalanleihen). 154 Nach Einschätzung des japanischen Journalisten Okazaki sind diese Finanzflüsse sehr intransparent und bieten in einem Geflecht enger Beziehungen zwischen Präfekturverwaltungen, der LDP und der Baubranche gerade für höhergestellte Beamte gute Gelegenheiten der persönlichen Vorteilsnahme. Gleichzeitig könne die großzügige Vergabe von Entwicklungsgeldern auch Politikern die Möglichkeit bieten, ihr eigenes politisches Profil – nach außen wie nach innen – aufzuwerten. Dies sei der Fall gewesen, als der damalige Vize-Außenminister Kōmura Masahiko Ende der 1990er Jahre mit einer Reihe von Finanzhilfen im Gepäck auf Nahostreise gegangen sei. Kurze Zeit später wurde Kōmura dann Außenminister

151 Foerster (1995), S. 143f, 157-161. 152 Palanovics (2009), S. 132. 153 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 154 Kinoshita (2006), S. 267-281 und Raffer & Singer (1996), S. 105f, 111.

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(1998–1999 und zum zweiten Mal 2007–2008).155 Ein von WikiLeaks veröffentlichtes vertrauliches Telegramm der US-Botschaft in Tokyo, das von der Einweihungsveranstaltung des Corridor for Peace and Prosperity im Rahmen der dritten Conference for Confidence Building between Israelis and Palestinians berichtet, verweist süffisant auf persönliche Interessen einzelner Politiker: »Japan scored points with all parties, and FM Aso was clearly enjoying a moment in the peace process limelight, beaming throughout his press conference/reception. The local press seemed less taken by the proceedings, with one journalist confiding to Political Officer that he didn’t find the conference very interesting. Nevertheless, we predict that MOFA and JICA will continue to try to move steadily forward with the CPP. Although many speakers praised former Prime Minister Koizumi for initiating the CPP idea, FM Aso and the Abe Administration are now clearly invested in the project and will not want to see it fail.« [Herv. SG]156

Der Komplex von Politik, Verwaltung und Wirtschaft, zwischen denen in Japan enge Beziehungen bestehen, wird häufig als ›Eisernes Dreieck‹ bezeichnet. Die japanische Öffentlichkeit, Medien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen und NGOs (siehe unten) haben trotz einer Zunahme an Bürgerbewegungen und gesellschaftlichem Engagement nur wenige Einflussmöglichkeiten auf diese eingeschworene Gemeinschaft.157 Diese innigen Verbindungen werden durch die institutionalisierten Praktiken des shingikai (Beratungsausschuss) und des amakudari (›vom Himmel hinabsteigen‹) gefestigt: Hochrangige Beamte können hierbei nach ihrer Pensionierung – in der Regel nicht nach dem 55. Lebensjahr – auf einen hohen Posten in der Politik oder in einem privaten oder öffentlichen Unternehmen ›hinabsteigen‹, wobei sie sich finanziell meist verbessern. Vor der Pensionierung haben die Beamten also ein großes Interesse daran, gute Beziehungen zur Privatwirtschaft – möglichen Arbeitgebern – zu pflegen. Nach dem Übertritt in die Privatwirtschaft können sie mit ihren exzellenten Netzwerken gut weitere zwanzig Jahre lang die Kommunikation zu den Ministerien ebnen, häufig auch auf informellem Wege. Um aus diesem Mechanismus resultierende mögliche Korruption zu verhindern, ist Beamten der Wechsel zu einem privaten Unternehmen für zwei Jahre nach dem Ende der Beamtenzeit verboten, Ausnahmen sind jedoch möglich.158 Diese gesetzliche Wartefrist kann

155 Okazaki in persönlichem Emailverkehr und Gespräch, Berlin, 24.2.2008. 156 WikiLeaks (2011b). 157 Rohde (2003), S. 43f. 158 Foerster (1995), S. 144f, Orr (1990), S. 59–65 und Rohde (2003), S. 44f, 51f.

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auch durch die Anstellung in einer der zahlreichen Quasi-Nongovernmental Organizations oder kurz Quangos umgangen werden, die eine Art halbstaatlicher Unternehmen darstellen und stark in die Entwicklungszusammenarbeit – vor allem in der Planung und Durchführung von Projekten – eingebunden sind.159 Bereits hieraus ergeben sich große Interessensüberschneidungen von Bürokratie und Wirtschaft, die auch starken Einfluss auf die Formulierung und Implementierung der Entwicklungspolitik haben. Weitere Verbindungsglieder zwischen Staat und Wirtschaft sind vor allem das METI und der Wirtschaftsverband Keidanren. Die engen Verflechtungen von wirtschaftlichen und politischadministrativen Führungsgruppen sowie die Interessensgemeinschaft von Wirtschaft und Staat werden oft mit der Metapher ›Japan Inc.‹ oder ›Japan AG‹ beschrieben.160 Kritikern der japanischen Entwicklungspolitik zufolge sorgen auch nach der Einführung der generellen Lieferfreiheit informelle Mechanismen dafür, dass weiterhin ein Großteil der Aufträge im Rahmen japanischer Entwicklungsprojekte an japanische Firmen geht.161 Ein wichtiger solcher Mechanismus ist die Verwendung von japanischen Consulting-Firmen für die Erstellung von Länderstudien, Projektkonzeptionen und Machbarkeitsstudien. Auch im Fall des Corridor for Peace and Prosperity und des JAIP wurden die Machbarkeitsstudien von der traditionsreichen japanischen Consultingfirma Nippon Kōei durchgeführt. Der Werdegang dieser Firma ist bezeichnend für die Kontinuitäten von japanischem Kolonialismus, Reparationszahlungen und Entwicklungszusammenarbeit: Nippon Kōei hieß vor 1945 Chōsen Dengyō (Korean Electric Power Company) und war als japanische Firma bereits an der Planung und Durchführung japanischer kolonialer Infrastrukturprojekte etwa in Korea, Burma und Indonesien beteiligt. Nach Kriegsende führte Nippon Kōei diese Projekte in manchen Fällen in Form von Reparations- und Entwicklungsprojekten weiter.162 Während für die risikoreiche Rolle als Bauträger für den Agrarindustriepark palästinensische Firmen ausgewählt wurden, ist der Auftrag für den Bau der Solaranlagen vor Ort an eine japanische Firma gegangen, die wiederum palästinensische Subunternehmer engagiert hat.163 Es ist nicht zu vermuten, dass japanische Firmen sich in näherer Zukunft in den palästinensischen Gebieten niederlassen werden, auch nicht in Jericho. Der größte Profit aus dem Projekt fließt bisher dennoch an japanische Unternehmen: die Berater- und Ingenieursfirmen,

159 Foerster (1995), S. 168–176 und Nuscheler (1990), S. 64. 160 Nuscheler (1990), S. 62ff und Vernon (1983), S. 83–89. 161 Ensign (1992), S. 61 und Söderberg (1996). 162 Arase (1995), S. 81ff. 163 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011.

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die die Machbarkeitsstudien durchgeführt haben und an der Durchführung der Infrastruktur- und Landwirtschaftsprojekte beteiligt sind. Hamoudeh (Stop the Wall Campaign) vermutet ferner, dass sich durch die Zusammenarbeit mit Jordanien und Israel zukünftig Projektmöglichkeiten für japanische Firmen in den Bereichen Nuklearenergie, Wasseraufbereitung und erneuerbare Energien auftun und der Markt für japanische Produkte und Technologien wachsen werde.164 Lange Zeit basierte die japanische Entwicklungszusammenarbeit auf dem mittlerweile abgeschafften ›Request-first‹-Prinzip, nach dem ein Projekt nur vom Empfängerland beantragt werden kann. Da es jedoch für die jeweiligen Regierungen häufig schwierig war, einen Projektantrag vorzulegen, der die Zustimmung der japanischen Seite finden konnte, wurden bei der Antragsformulierung wiederum die Dienste japanischer Unternehmen in Anspruch genommen. 165 Auch die Installation von ausländischen Entwicklungsexperten in lokalen Regierungs- und Verwaltungsinstitutionen – wie die Entsendung eines japanischen Beraters zur palästinensischen PIEFZA – dient der Einflussnahme auf die Gestaltung der Projekte, da sie oft bei der Formulierung von Projektanträgen behilflich sind. 166 Die personelle Überforderung des japanischen Entwicklungsapparates gilt als weiterer Grund für den häufigen Einsatz von Consulting-Unternehmen.167 An dieser Stelle spielen auch die Quangos (siehe oben) eine große Rolle, zu denen zahlreiche Vereinigungen privater Consulting-Firmen gehören. Die Quangos, finanziert sowohl aus öffentlicher wie aus privater Hand, dienen als Bindeglieder zwischen Staat und Privatwirtschaft und beeinflussen die Auftragsvergabe an Forschungsinstitute und Consulting-Firmen. Letztere können wiederum in Länderstudien und Projektempfehlungen die sektorale Verteilung von Projekten steuern. Durch die Setzung gewisser technischer Voraussetzungen kann hierbei die Auftragsvergabe an japanische Unternehmen für die Durchführung des Projektes so gut wie sichergestellt werden.168 Nuscheler behauptet 1990 sogar, die Consulting-Industrie lebe »zu etwa 50 % von Aufträgen aus der Entwicklungsverwaltung«, ohne dies allerdings genauer zu belegen.169

164 Hamoudeh (2012), S. 6. 165 Ensign (1992) und Morikawa (1997), S. 135. 166 Vgl. Arases (1995, S. 93–107) Analyse der Beeinflussung thailändischer Wirtschaftsplanung und des Baus von Industrieparks durch japanische Experten. 167 Nuscheler (1990), S. 88. 168 Foerster (1995), S. 168–176. In der Vergangenheit setzten rivalisierende Ministerien jeweils eigene Quangos in der Projektfindung und -durchführung ein. 169 Nuscheler (1990), S. 64. Vgl. Arase (1995), S. 162f u. Söderberg (1996), S. 78ff.

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In der Vergangenheit gab es Beschwerden von palästinensischen Beamten über den exzessiven Einsatz ausländischer Experten, die häufig nur schlecht oder gar nicht Arabisch sprachen, sich mit den lokalen Gegebenheiten nicht auskannten, unbrauchbare Studien produzierten und deren Gehalt das der palästinensischen Partner um ein Vielfaches überstieg. Sie galten auch als eine Form von liefergebundener Entwicklungszusammenarbeit, da durch sie ein Großteil der Entwicklungsgelder zurück in das Geberland floss.170 Auch die Berater der japanischen Consultingfirma Nippon Kōei, die für die Erstellung der Machbarkeitsstudien für den Agrarindustriepark zuständig waren, sprachen nur Japanisch und Englisch und arbeiteten selbstverständlich mit Übersetzern, wie Khatib vom JICA-Büro in Jericho berichtet.171 Mansour vom palästinensischen Planungsministerium äußert sich wie folgt über die japanischen Experten in Jericho: »We have a lot of experts from Japan, you can see them in Jericho, half of the population is Japanese. […] They are spending a lot of money on Japanese experts, but I know that Japan will not work without a real information provided by a real… or a Japanese expert here to the government, who will make some recommendation… […] Okay, we know, their system is a bit different from other systems of Europe or others, but that’s okay.«172

Nach Einschätzung von Okazaki dient der geplante Agrarindustriepark in Jericho lediglich den Interessen der Politiker, politische Vorteile im Nahen Osten zu erlangen, und hilft der Privatwirtschaft, Profit aus dem Projekt zu schlagen. Lange Zeit sei Japan durch US-amerikanischen Druck dazu gezwungen gewesen, hauptsächlich humanitäre Hilfe zu leisten, was uninteressant für die Wirtschaft war. Im Dezember 2007 sei eine Delegation japanischer Wirtschaftsgrößen nach Israel gereist und habe Shimon Peres getroffen, der sich sehr positiv für japanische Investitionen in den palästinensischen Gebieten ausgesprochen habe. Letzten Endes sei es jedoch wahrscheinlich, dass das Projekt zum Scheitern verurteilt sei, worauf auch die Tatsache hindeute, dass die für das Projekt Verantwortlichen im Außenministerium und bei JICA im März 2008 ausgetauscht wurden. Dies schade dem Interesse der japanischen Politiker und Geschäftsleute allerdings wenig, da es für sie die beste Option sei, wenn lediglich die Gelder ausgegeben würden, auch ohne dass das Projekt tatsächlich abgeschlossen würde.173

170 Brynen (2000), S. 185f. 171 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 172 Mansour, Interview, 27.1.2008. 173 Okazaki in Emailverkehr und persönlichem Gespräch, Berlin, 24.2.2008.

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Entwicklungspolitische NGOs haben in Japan in der Vergangenheit eine untergeordnete Rolle gespielt.174 Die japanische ODA-Charta von 2003 sah jedoch eine engere Kooperation mit NGOs wie mit anderen zivilgesellschaftlichen Institutionen vor,175 und Hirata befand um die Jahrtausendwende japanische NGOs für mächtiger und vielversprechender denn je.176 Mit einer Reform der Gesetzgebung zu Non-Profit-Organisationen (NPO), zu denen die meisten NGOs gehören, wurden 1998 die Hürden für japanische Vereine, sich als NGO registrieren zu lassen und die Rechte einer juristischen Person wahrzunehmen, teilweise abgebaut. 177 Nach Rohdes Einschätzung zeigen sich bereits einige Bemühungen um die Einbeziehung von NGOs in die entwicklungspolitische Arbeit. Vor allem das Außenministerium bemühe sich darum, Consulting-Dienstleistungen an NGOs zu übertragen, um ihre eigene Agenda durchzusetzen und die Funktion der Außenwirtschaftsförderung zurückzudrängen. Der Verwaltungsapparat sei jedoch zu träge und die Strukturen zu starr für einen schnellen Wandel; auch sei die japanische NGO-Landschaft noch von vielen kleinen NGOs geprägt, die nicht als Partner infrage kämen.178 Zudem behindere die feste Verankerung des kanson minpi (siehe oben) eine Öffnung der Entwicklungspolitik für zivilgesellschaftliche Akteure. 179 Im Vergleich zu anderen Industriegesellschaften seien NGOs weniger an politischen Prozessen beteiligt und würden in der Öffentlichkeit kaum gehört, nähmen jedoch gleichzeitig Annäherungsversuche seitens der Regierung mit Skepsis auf, so Karrenbauer. Dennoch konnten außerstaatliche Akteure bisweilen Druck auf die öffentliche Entwicklungspolitik ausüben und die Öffentlichkeit für die Thematik sensibilisieren.180 Nanami berichtet von einem Verhältnis gegenseitigen Misstrauens zwischen staatlichem Entwicklungsapparat und NGOs; letztere dienten einerseits als Aushängeschild für eine reformierte Entwicklungspolitik ›with a face‹ und stellten andererseits trotz ihrer marginalisierten Position eine Herausforderung für die verantwortlichen Funktionäre dar.181 Morishita sieht als JICA-Mitarbeiter in einheimischen Protesten – nicht ohne Ironie – eine latente Gefahr für die ›sustainability‹ seiner Arbeit:

174 Nuscheler (1990), S. 98–101. 175 Sunaga (2004), S. 28f. 176 Hirata (2002). 177 Lancaster (2007), S. 121ff. 178 Rohde (2003), S. 185–189, 218–231. 179 Nanami (2007), S. 2ff. 180 Karrenbauer (2000), S. 187-196. 181 Nanami (2007).

166 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA »Also, wenn ein Problem auftritt, wenn etwas passiert, also, im Fall von Japan kommen dann ganz viele Leute, die sagen: ›Gegen ODA!‹ Auch die NGO-Leute unterstützen uns nicht, sondern legen uns Steine in den Weg. [lacht] Na ja, das liegt wohl im Charakter der Japaner. […] Auch wenn man etwas Gutes tut, beschweren die Japaner sich. [lacht] «182

Im Vergleich zu anderen Ländern, vor allem in Asien, sind in Palästina noch sehr wenige japanische NGOs tätig. Eine NGO namens Nippon International Cooperation for Community Development, die auch staatlich unterstützt wird, betreibt seit 2009 ein Olivenölprojekt in der Nähe von Tubas, andere (Japan Volunteer Center und Palestine Kodomo no Campaign) leisten humanitäre Hilfe im Gazastreifen.183 Die »Unterentwicklung der NGO-Bewegung« sowie das angebliche Desinteresse der japanischen Bevölkerung an Nord-Süd-Problemen werden nicht selten religiös-kulturell mit der »ideologischen Grundausstattung« 184 Japans erklärt. So wird beispielsweise kulturessentialistisch diagnostiziert, der japanischen Gesellschaft mangele es an einer brückenschlagenden missionarischen Tradition und dem Buddhismus an einer universellen Sozialethik vergleichbar mit der des Christentums, während der Schintoismus tendenziell rassistischnationalistisch sei.185 Häufig wird auch ein Mangel an öffentlich leicht zugänglichen Informationen über die japanische Entwicklungspolitik als Grund für soziales Desinteresse und geringe öffentliche Kontrolle angeführt. 186 Das japanische Mediensystem weist mit den kisha kurabu (Presseclubs) eine Besonderheit auf, die die Konformität der Berichterstattung mit der Regierungslinie verstärkt und den allgemeinen Zugang zu Informationen einschränkt: Verwaltungseinrichtungen und andere Institutionen erlauben in der Regel nur Journalisten, die ihrem jeweilige Presseclub angehören, an ihren Pressekonferenzen teilzunehmen. Die Akkreditierung zu diesen Presseclubs und somit der Zugang zu vielen Informationen ist sehr beschränkt und wird hauptsächlich Vertretern der großen Medienhäusern gewährt. Auf diese Weise wird auch der Zugang zu Informationen über die Entwicklungspolitik reguliert. Raffer und Singer relativieren hingegen, dass Japan im Vergleich zu anderen Geberländern ungewöhnlich viele Daten veröffentliche.187 Allerdings seien diese Daten meist schlecht aufbereitet, wodurch ihre vollständi-

182 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008. 183 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011. 184 Nuscheler 1990, S. 99, 109. 185 Lancaster (2007), S. 134f und Nuscheler 1990, S. 99f, 109. 186 Karrenbauer (2000), S. 192, Nuscheler (1990), S. 64, 83. 187 Raffer & Singer (1996), S. 103f.

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ge Auswertung mit extremem Aufwand verbunden sei.188 Es sei auch typisch, so der Journalist Okazaki, dass relevante Dokumente oft in englischer Sprache in den Archiven vor japanischen Lesern regelrecht ›versteckt‹, in einem möglichst schwer verständlichen Stil geschrieben und somit einer kritischen Öffentlichkeit weitgehend entzogen würden. 189 Nakano von JICA Palästina fragt sich denn auch, inwiefern die japanische Öffentlichkeit überhaupt über die Situation in Palästina/Israel im Bilde sei, ganz zu schweigen von Informationen über die dortige japanische Entwicklungszusammenarbeit.190

F AZIT : P OSITIONEN Von der Formulierung entwicklungspolitischer Leitlinien bis hin zur Auseinandersetzung um Detailfragen des konkreten Projekts sind eine Vielzahl und Vielfalt von Akteuren an der Aushandlung des Corridor for Peace and Prosperity beteiligt. Sie nehmen unterschiedliche Positionen ein, aus denen sich jeweils divergierende Handlungsmöglichkeiten ergeben. Die offene Multiplizität unendlicher Möglichkeiten wird durch konkrete Konstellationen eingeschränkt, aus denen heraus bestimmte Akteure effektiv Besetzungen vornehmen können, während andere Akteure ausgeschlossen werden. Im vorliegenden Fall wird deutlich, dass sich bestimmte – auch grenzüberschreitende – israelische und palästinensische Netzwerke von Großunternehmern und staatlichen Funktionären in besonders einflussreichen Positionen befinden. Daraus ergeben sich Interessenskonvergenzen, die sich in der Unterstützung für eine spezifische Form von Entwicklungs- und Kooperationsprojekten widerspiegeln. Sowohl in Palästina als auch in Israel sind eine zunehmende Marginalisierung weniger begünstigter Bevölkerungsgruppen sowie eine Vertiefung der sozialen Unterschiede festzustellen. Seit dem Beginn des Friedensprozesses sind große Summen an Entwicklungsgeldern in die palästinensischen Gebiete und an die Palästinensische Autonomiebehörde geflossen. Letztere wurde so zu einer Art Rentierstaat, der sich die Loyalität der Bevölkerung durch einen aufgeblähten Personalapparat, Gefälligkeiten und Korruption erkaufte. Zudem hatte die Autonomiebehörde eine Reihe von Quasi-Monopolen inne. In der palästinensischen Gesellschaft entstand eine dominante Führungsschicht aus PA-Funktionären und Großunternehmern mit guten Kontakten untereinander sowie zur israelischen Unternehmerschaft,

188 Rohde (2003), S. 46f. 189 Okazaki in Emailverkehr und persönlichem Gespräch, Berlin, 24.2.2008. 190 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011.

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Politik und Armee. Diesen Gruppen bieten sich im halb-rechtsfreien Raum dysfunktionaler israelisch-palästinensischer Handelsabkommen profitable – und auch illegale – Geschäftsmöglichkeiten. Für bestimmte israelische Geschäftsleute ergeben sich zudem lukrative Profitmöglichkeiten aus der Besatzungssituation selbst. Kleinere israelische Unternehmer hingegen sehen sich seit den 1990er Jahren häufig auf der Verliererseite von Kooperations- und Friedensprojekten, während gleichzeitig Sozialabbau und Liberalisierungspolitik dazu beitragen, die sozialen Disparitäten in der israelischen Gesellschaft deutlich zu verschärfen. Auch die Mehrzahl der palästinensischen Kleinunternehmer leidet unter der Abriegelungspolitik, den asymmetrischen Beziehungen zur israelischen Wirtschaft und steigenden Preisen. Eine mögliche Beteiligung von Firmen aus Israel und vor allem aus israelischen Siedlungen am Corridor-for-Peace-and-Prosperity-Projekt hatte auf palästinensischer Seite für großen Unmut gesorgt und wurde vorläufig ausgeschlossen, doch der strukturelle Einfluss der israelischen Behörden auf alle Aspekte des Kooperationsprojektes ist weiterhin nicht zu unterschätzen. Die Betreiberfirmen für den Industriepark entstammen großen palästinensischen Unternehmenskonglomeraten, während der Nutzen des Industrieparks für kleinere Unternehmen fraglich bleibt. Der Einfluss der palästinensischen Bevölkerung und zivilgesellschaftlichen Gruppen auf Entwicklungsdiskurse und -projekte ist ebenfalls begrenzt. Die palästinensische NGO-Landschaft ist von einer zunehmenden Professionalisierung geprägt und ist nun zu großen Teilen mehr mit der effektiven Projektakquise als mit einer sozialen Interessenvertretung befasst. Während die Interessen möglicher Landnutzer ohne formale Rechte kaum sichtbar werden, artikulieren politische Gruppierungen wie Stop the Wall Campaign ihren Protest immerhin hörbar genug, um für Irritationen auch auf japanischer Seite zu sorgen. Konform mit aktuellen entwicklungspolitischen Vorgaben werden zwar durchaus Gespräche mit lokalen Gemeinderäten und anderen zivilgesellschaftlichen Vertretern geführt, doch die grundlegende Vorgehensweise und Gestaltung des Projektes scheinen von deren Kritik nur marginal beeinflusst zu werden. Die japanische Entwicklungszusammenarbeit wurde lange Zeit für Abstimmungsprobleme und mangelnde Effizienz aufgrund von Ressortstreitigkeiten zwischen den zahlreichen beteiligten Ministerien und Behörden kritisiert. Auch nach der jüngsten ODA-Reform und der Unterstellung aller wichtigen Bereiche unter die Ägide der neuen JICA sind immer noch zahlreiche Institutionen in die Formulierung und Durchführung der japanischen Entwicklungspolitik involviert. Von großer Bedeutung sind hierbei die als ›Eisernes Dreieck‹ bezeichneten engen Verbindungen zwischen japanischer Politik, Bürokratie und Wirtschaft, die

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durch institutionelle Mechanismen wie das ›amakudari‹ gefestigt werden. Entsprechende personelle Seilschaften kommen ebenso in der verbreiteten Einbeziehung von Quangos und Consulting-Firmen bei der Formulierung von Projektanträgen und der Durchführung von Machbarkeitsstudien zum Tragen. Parallel zur Lage in Israel/Palästina üben also auch hier Netzwerke von Großunternehmern und Staatsfunktionären großen Einfluss aus. Auffällig ist zudem die Rolle hochrangiger Politiker – zum Beispiel Asō aus Japan, Erekat aus Palästina und Peres aus Israel –, die durch ihren Einsatz für den Corridor for Peace and Prosperity öffentlichkeitswirksam ihr Revier markieren. Im Kontrast zur Omnipräsenz entwicklungspolitischer NGOs in Palästina seit den Osloer Verträgen ist eine starke Involvierung japanischer NGOs bisher ausgeblieben. Die Einbeziehung entwicklungspolitischer NGOs in die offizielle Zusammenarbeit stellt in Japan insgesamt ein jüngeres Phänomen dar, das nicht zuletzt dem Zweck dient, der japanischen Entwicklungspolitik ein konkretes Gesicht zu verleihen (›aid with a face‹). Eine größere japanische Sichtbarkeit ist vor allem wichtig für die Funktion der Entwicklungs- als Symbolpolitik. Die disproportionale Aufmerksamkeit, die den palästinensischen Gebieten und dem Nahostkonflikt global zuteilwerden, weist auf die Bedeutung hin, die dem internationalen Engagement auf dieser Bühne zugemessen wird. Die Zurückweisung der japanischen Bemühungen um eine Teilnahme am Nahostquartett und eine maßgebliche Rolle im Friedensprozess wird in japanischen Botschaftskreisen als ein Grund für die Initiierung des Corridor for Peace and Prosperity genannt, der als japanische Friedeninitiative einen alternativen Kanal der Einflussnahme in der Region generieren soll. Die Sorge um die Sichtbarkeit der japanischen Beiträge stammt auch aus der historischen Erfahrung, als schnöder Finanzier der USamerikanischen Politik wahrgenommen und kritisiert zu werden. Die tendenzielle Marginalisierung auf dem internationalen Parkett drängt die japanische Außenpolitik somit zu einem ›pro-aktiven Pazifismus‹. Auf globaler Ebene geht es in der japanischen Nahostpolitik nicht zuletzt darum, Unterstützung für die Bewerbung um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu gewinnen.

6. Multiplizität der Besetzungen

Im Corridor for Peace and Prosperity und den damit verbundenen Maßnahmen findet eine Vielzahl von Besetzungsvorgängen statt. Sie können nicht losgelöst von grundlegenderen, strukturellen Prozessen der Raumaneignung in Palästina verstanden werden. Dementsprechend werden sie im Folgenden in thematische Bereiche gegliedert und analysiert. Im Kontext global verbreiteter Diskurse internationaler Entwicklungspolitik sind zunächst Entwicklungsdiskurse und -modelle von Bedeutung, die etwa die Etablierung von kooperativen Industrieparks und die Ausrichtung auf die Produktion von Exportgütern propagieren. In Anbetracht des politischen und ökonomischen Umfelds wirken diese Konzepte im palästinensischen Fall allerdings oft regelrecht absurd. Die besonderen ethischen Dilemmata der Entwicklungspolitik, die hier zutage treten, sollen jedoch nicht als Sonderfall behandelt werden, sondern vielmehr als überspitzte Phänomene, die bereits im herrschenden entwicklungspolitischen Paradigma selber angelegt sind. Als keineswegs unproblematisch erweist sich auch das Konzept von wirtschaftlichen Kooperationsprojekten, mit deren Hilfe eine Aussöhnung im regionalen Konflikt vorangebracht werden soll. Solche Friedensdiskurse, wie sie auch dem Corridor for Peace and Prosperity zugrunde liegen, spielen eine große Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit in Palästina/Israel, sind jedoch höchst kontrovers und in ihrer Legitimität nicht unumstritten. Im Zusammenhang mit der politischen Konfliktsituation ist in den palästinensischen Gebieten zudem eine verstärkte Schwerpunktlegung auf die Bekämpfung von Sicherheitsproblemen festzustellen, in englischsprachigen Kontexten häufig als ›securitization‹ der Entwicklungszusammenarbeit bezeichnet. Die Produktion von sicheren bzw. unsicheren Räumen in den fragmentierten palästinensischen Gebieten geht einher mit einem Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme, das Willkür und Rechtsfreiheit begünstigt. Die Folge ist eine besondere Dynamik bei der Aneignung von verschiedenartigen Ressourcen- und Raumzugängen. Antagonistische Rechtsansprüche beziehen sich nicht nur auf

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das Land als Oberfläche, sondern gestalten sich weitaus vielschichtiger: Auch unterirdische Wasserressourcen, Abwässer, Energieflüsse sowie Menschenströme, Straßen, Tunnel und Grenzübergänge werden zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Diese palästinensisch-israelischen Raumbesetzungen haben teilweise einen sehr spezifischen und lokalen Charakter. Der Corridor for Peace and Prosperity ist aber auch im Hinblick auf die Verhandlung japanischer Ansprüche von Bedeutung, wo er sowohl innenpolitische Handlungsressourcen für individuelle Politiker birgt als auch für außenpolitische Zwecke mobilisiert wird. Zentral sind hier Außenwirkung und Reputation japanischer Entwicklungspolitik im Allgemeinen sowie der Versuch, eine Sonderrolle im Nahen Osten, vor allem in Israel/ Palästina, zu behaupten.

6.1 E NTWICKLUNGSRÄUME : P RODUKTION VON ABSURDITÄT Die palästinensischen Gebiete sind in hohem Maße von global wirksamen Entwicklungsdiskursen geprägt, wie bereits in der Präsenz zahlreicher internationaler Entwicklungsorganisationen insbesondere in Ramallah deutlich wird. JICA ist hier neben vielen anderen Organisationen mit der Besetzung von Räumen beschäftigt, die zunehmend nicht mehr auf Jericho allein konzentriert sind. Neben allgemeinen ethischen und praktischen Problematiken sehen sich Geberländer und Entwicklungsorganisationen einigen Dilemmata gegenüber, die nicht zuletzt aus der militärischen Besatzungssituation rühren. Dilemmata der Besatzung So kann die Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, die israelische Besatzung dauerhaft tragbar zu machen bzw. die israelische Kontrolle ökonomisch auszuweiten. Halper vom Israeli Committee Against House Demolition spricht sich dezidiert gegen die Vermischung von politischer Arbeit und humanitärer Hilfe in Konfliktsituationen aus, da letztere sogar den Konflikt verlängern könne.1 In ihrer Untersuchung internationaler Entwicklungszusammenarbeit in Palästina spricht Le More mehrere Aspekte der Besatzungssituation an, die Geldgeber, Entwicklungs- und Hilfsorganisationen in eine schwierige Position bringen: Nicht nur zeigen Berechnungen, dass um die 45 Prozent der ausgegebe-

1

Halper (2005), S. 186.

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nen Entwicklungsgelder in die israelische Ökonomie fließen; die internationale Unterstützung für die von Gewalt, Abriegelung und Armut betroffene Bevölkerung verewigt möglicherweise den Konflikt und die militärische Besatzung, die an der Wurzel des Problems liegen.2 Ohne diese Hilfsmaßnahmen, die das Überleben der Bevölkerung, nicht aber eine langfristige Verbesserung der politischen, wirtschaftlichen oder auch nur der humanitären Lage3 gewährleisten, wäre die israelische Besatzung nicht so lange Zeit in ihrer jetzigen Form mit all ihren wirtschaftlichen Einschränkungen durchzuhalten gewesen.4 In dieser Form wirkt die internationale Entwicklungszusammenarbeit als »funktionale Ergänzung zum israelischen Sicherheits- und Kontrollregime«,5 so Krieger. Neben dem Argument, dass statt der Linderung der humanitären Folgen des Konflikts vielmehr politischer Druck auf die Konfliktseiten und insbesondere auf die israelische Regierung ausgeübt werden müsse, stehen die Verantwortlichkeiten des israelischen Staates für das Wohlergehen und die Versorgung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten nach internationalem humanitärem Völkerrecht im Mittelpunkt der Kritik. 6 Nach den Verfügungen des Vierten Haager Abkommens (Haager Landkriegsordnung, Art. 43) von 1907 und der Vierten Genfer Konvention (Art. 50, 55 und 56) von 1949 obliegen der Besatzungsmacht die Grundversorgung der unter Besatzung stehenden Bevölkerung und ihre Gesundheit, Sicherheit und Bildung. Mittlerweile haben sowohl der Internationale Gerichtshof als auch der Oberste Gerichtshof in Israel die Anwendbarkeit dieser Gesetze auf die besetzten palästinensischen Gebiete bestätigt. 7 Mit dem Abschluss der Osloer Verträge konnten die Geberländer theoretisch dieses Dilemma umgehen, da nun die Hilfe keine Unterstützung für die Besatzungsmacht darstellen, sondern für den zukünftigen palästinensischen Staat bestimmt sein sollte.8 Ist die Versorgung der besetzten Bevölkerung nicht ausreichend gewährleistet, so ist der Besatzer außerdem verpflichtet, internationale Hilfe in Anspruch zu nehmen und deren Arbeit zu unterstützen (IV. Genfer Konvention, Art. 59), was ihn jedoch nicht von seinen Versorgungspflichten entbindet (Art. 60).9

2 3

Le More (2005a), S. 993f. An dieser Stelle wird nicht streng zwischen humanitärer Hilfe und längerfristig angelegten Projekten unterschieden, da diese strukturellen Probleme auf beide zutreffen.

4

Shearer & Meyer (2005) und Taghdisi-Rad (2011), S. 158–163.

5

Krieger (2013), S. 52.

6

Ibrahim (2011), S. 59ff.

7

Shearer & Meyer (2005), S. 170.

8

Hever (2010), S. 22.

9

Vgl. zur Rolle internationalen Rechts in den besetzten Gebieten auch Falk (2006).

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Doch auch die Einhaltung letzteren Punktes ist nicht zufriedenstellend gewährleistet; ein beachtlicher Anteil am Budget internationaler Organisationen geht durch die israelischen Behinderungen verloren und wird für die schwierige Koordination der Projekte und Hilfsmaßnahmen mit den israelischen Behörden aufgebraucht.10 Viele Organisationen haben eigene Abteilungen eingerichtet, die ausschließlich für die Verhandlungen mit den israelischen Verwaltungs- und Sicherheitsstellen, die Beschaffung von Genehmigungen und das Manövrieren durch die vielfältigen Mobilitätseinschränkungen zuständig sind. Ein solcher alltäglicher Umgang mit der Besatzung, so naheliegend er auch im Tagesgeschäft von Entwicklungsprojekten in den palästinensischen Gebieten sein mag, birgt außerdem die Gefahr, zur Routine zu werden und damit die Besatzung zu normalisieren, anstatt sie grundlegend infrage zu stellen und zu kritisieren.11 Shearer und Meyer formulieren das Dilemma folgendermaßen: »For donors, the conundrum is whether to prolong current aid levels in the face of continued economic decline and mounting humanitarian need or to embark on a more robust, even confrontational, aid policy towards Israel in an effort to encourage it to assume its obligations.«12 Eine Einstellung der Hilfsprogramme könnte implizieren, bewusst die akute Verschlechterung einer ohnehin bereits sehr verwundbaren Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen und den politischen Konflikt auf ihrem Rücken auszutragen. Aus diesem Grund sind auch vehemente Kritiker internationaler Programme uneins in der Frage, ob die humanitäre Hilfe prinzipiell eingestellt werden müsse oder nicht. 13 In Reaktion auf die weitreichenden Zerstörungen im Gazastreifen während der israelischen Offensive 2008/09 veröffentlichte eine Reihe von palästinensischen Menschenrechtsorganisationen den Aufruf, »die Komplizenschaft internationaler Geber in den israelischen Verstößen gegen internationales Recht« zu beenden und nicht länger »die Konsequenzen einer illegalen Besatzung zu finanzieren«.14 Andere loben die Entscheidung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Ende 2003 seine humanitäre Hilfe im Westjordanland vorübergehend einzustellen, weil diese in den Verantwortungsbereich der Besatzungsmacht falle, auf deren Abriegelungspolitik die humanitäre Notlage überhaupt erst zurückzuführen sei.15

10 Hever (2010), S. 39 und Shearer & Meyer (2005), S. 168f. 11 Vgl. Anderson (2005). 12 Shearer & Meyer (2005), S. 169. 13 Vgl. etwa Murad (2012) und Alpher (2005, S. 156) für bzw. gegen einen Boykott. 14 PNGO et al. (2009), Übersetzung SG. 15 Shearer & Meyer (2005), S. 170f.

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Internationale Hilfs- und Entwicklungsprojekte, die ebenfalls zur Einhaltung internationalen Völkerrechts verpflichtet sind, bewegen sich selbst teilweise in einer rechtlichen Grauzone im Umgang mit der Besatzung. Insbesondere die Haltung gegenüber der israelischen Abriegelungspolitik im Westjordanland ist problematisch: Sollten zum Beispiel Wartehäuschen an Toren in der Sperranlage für Schulkinder gebaut werden, die von ihrer Bildungsstätte abgeschnitten wurden, oder zerstörte Infrastruktur repariert werden? Viele Entwicklungsorganisationen versuchen, die negativen Effekte der Mobilitätshindernisse zu lindern (vgl. Kap. 6.3 und 6.4), anstatt zum Beispiel gegen den vom Internationalen Gerichtshof für illegal befundenen Bau grundsätzlich vorzugehen. 16 Auch beim Wiederaufbau zerstörter Wohnhäuser und Infrastruktur ist das Problem, dass Israel als Besatzungsmacht und Schadensverursacher durch internationale Hilfe von seinen Kompensations- und Rekonstruktionspflichten entbunden und finanziell entlastet wird. Statt mehr Geld in solche Projekte zu stecken, sollten lieber politische Lösungen anvisiert werden, so die Meinung vieler Kritiker:17 »What’s the meaning of putting ten million euro in a [infrastructure] project, knowing that it will be destroyed or knowing Israel will not compensate you if it is destroyed or knowing that it will be depending on Israelis’ permission to do it and knowing that, in the first place, it is the Israelis’ responsibility to do it?«18

Die Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft und Verwaltung von internationalen Hilfsgeldern stellt ein weiteres Problem dar. Taghdisi-Rad kritisiert, dass Geberländer und -organisationen zunehmend in die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Autonomiebehörde eingegriffen und den Fokus vom Ausbau der Landwirtschaft und der verarbeitenden Industrie hin zur Stärkung von Institutionen, good governance und der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda verschoben haben.19 Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 sowie nach dem palästinensischen Antrag auf UN-Mitgliedschaft 2011 wurde die Erpressbarkeit der PA besonders deutlich, als nämlich internationale Hilfsgelder eingefroren wurden. Haddad kritisiert diese internationale Politik, der sich 2006 auch die japanische Regierung angeschlossen hatte, als schändliche Erpressung: »…these donations were used in a very shameful way in order to crush the Palestinian resistance and in order to crush the Palestinian spirit and soul and to save the Israeli con-

16 Shearer & Meyer (2005), S. 166, 171f. 17 Lasensky (2005), S. 58. 18 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 19 Taghdisi-Rad (2011), S. 183ff.

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dition.«20 Khalil von Stop the Wall Campaign interpretiert die Entwicklungspolitik in den zunehmend fragmentierten besetzten Gebieten ebenfalls als Mittel zur Kontrolle des palästinensischen Widerstands: »They are reshaping the economic sector here and bring it more under the Israeli control. And the Israelis know that if the Palestinians still have any kind of economical independence, the refusal of the occupation will continue. They want to make another three Gazas here in the West Bank, three major ghettos. […] So if the North was still resisting the occupation, ḫalaṣ [Schluss], we will destroy it economically as Gaza now.«21

Weizman beschreibt den Fall des Jeniner Flüchtlingslagers, das durch die israelische Invasion 2002 weitreichend zerstört worden war, woraufhin das Flüchtlingshilfswerk UNRWA beim Wiederaufbau sanitäre Anlagen und Wohnhäuser von Grund auf sanierte. Damit war für die Bewohner jedoch der temporäre Charakter des Lagers, der für ihr Recht auf Rückkehr bürgen sollte, nicht mehr gegeben.22 Seine neue Ordnung machte das Lager zudem deutlich lesbarer für die Besatzungsmacht; breite, von Panzern geschlagene Schneisen quer durch das Lager erleichtern nun den Zugang für das Militär. Lagerquist weist unter Bezugnahme auf Escobar darauf hin, dass sich in Palästina eine ursprüngliche Funktion der Entwicklungspolitik wiederhole. Ähnlich nämlich wie ›Entwicklung‹ zu Kolonialzeiten als Gegenmaßnahme gegen antikolonialistische Aufstände gedient habe,23 werde hier versucht, den palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung durch Entwicklung einzudämmen und zu kontrollieren.24 Industrieparks und Entwicklung ad absurdum Ohne dass wie oben sinistere Absichten unterstellt werden müssten, lässt sich der Corridor for Peace and Prosperity funktional in ökonomische Planspiele Israels für die palästinensischen Gebiete einordnen. Im Jahr 1989 wurde ein israelischer ›Entwicklungsplan‹ erstellt, in dessen Zentrum die Errichtung besonders abgeschirmter Industrieparks mit leichtem und sicherem Zugang zum israelischen Markt stand. Bis das Programm mit den Osloer Friedensverträgen unterbrochen wurde, war nur ein solcher Industriepark als eine israelische Enklave in Erez im Gazastreifen gebaut worden, doch bald wurde die Idee von der israeli-

20 Haddad, Interview, Beit Sahour, 5.10.2011. 21 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 22 Weizman (2008), S. 222. 23 Escobar (1995), S. 27. 24 Lagerquist (2003 u. 2002).

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schen Linken um Shimon Peres wieder aufgegriffen.25 Vorbild für diese Industrieparks war das Projekt des israelischen Unternehmers Stefan Wertheimer, dessen Modellindustriepark Tefen an der palästinensischen Grenze nahe Tulkarem nicht zuletzt auch für JICA-Delegationen ein Besichtigungsziel darstellt.26 Wertheimer errichtete hier 1985 seinen ersten Industriepark, den er wegen seiner Wohn-, Ausbildungs- und Kulturzentren als »kapitalistischen Kibbuz«27 betrachtet. Dem ersten Park folgten vier weitere in Israel und einer in der Türkei. Die Arbeiterschaft der israelischen Parks, allesamt in Gegenden mit großem arabischem Bevölkerungsanteil gelegen, soll als Integrationsvorbild möglichst ausgewogen mit Juden und nicht-jüdischen Israelis besetzt sein. So sollen die Industrieparks die friedliche Koexistenz fördern und langfristig einen Beitrag zum regionalen Frieden leisten (vgl. Kap. 6.2). Weitere Kooperationsprojekte mit der Türkei und in Zukunft auch mit arabischen Staaten waren geplant, ein Doppelprojekt in Rafah (Gaza) und dem benachbarten Kerem Shalom (Israel) liegt allerdings seit der zweiten Intifada auf Eis.28 Im Zusammenhang mit einem möglichen Engagement Japans im Nahostfriedensprozess lässt Galtung bereits 1994 in seinen Entwicklungsempfehlungen für den Gazastreifen der Fantasie freien Lauf: »[…G]ive that place a decent harbor, an economic zone, assembly factories for the goods of Japan and other nations and Israel would have a partner at their own level, and hence a chance of building peace not only on symbiosis, but on equity.«29 Nach den Entwicklungsplänen für die palästinensischen Gebiete der ersten Oslo-Jahre sollten insgesamt neun gemeinsame grenznahe Industrieparks gebaut werden, davon sechs im Westjordanland und drei im Gazastreifen, und dadurch mehr als 160 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Bis der Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada im Jahr 2000 derartigen Plänen zunächst ein Ende setzte, war lediglich der von PADICO betriebene Gaza Industrial Estate (GIE) in Karni im Gazastreifen in Betrieb genommen worden.30 Aufgrund der politischen Komplexitäten eines solchen Arrangements wurde das ursprüngliche Konzept von Grenzparks mit Arealen auf beiden Seiten der Grenze zunächst zugunsten einer Lösung komplett auf palästinensischem Boden aufgegeben.31 Als ein Hinderungsgrund für die Einrichtung

25 Lagerquist (2003), S. 7f und Le More (2008), S. 125. 26 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 27 Wertheimer zitiert nach Melby (2012). 28 Melby (2012) und Simmons (2005). 29 Johan Galtung im Vorwort zu Kuroda (1994a), S. x. 30 Baskin & Al-Qaq (1998) und Bouillon (2004), S. 88ff. 31 Baskin & Al-Qaq (1998), Hashai (2003) und Lindner (1999), S. 113.

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neuer Parks galt eine mangelnde Rechtssicherheit in den palästinensischen Gebieten, die potenzielle Investoren abschrecke. Von israelischer Seite wurde bedauert, dass nicht zu erwarten sei, dass die PA dem israelischen Staat eine weitreichende Kontrolle über die Parks einräumen würde, um die Investoren zu beruhigen.32 2004 erwähnte Sharansky in seinem von George W. Bush hochgelobten Buch »The Case for Democracy«, ein unversöhnlicher und diktatorischer Arafat habe seinen Vorschlag für jüdisch-arabische Joint Ventures in Industrieparks im Westjordanland abgelehnt.33 In den letzten Jahren sind die Industrieparkprojekte jedoch neu belebt worden und Länder wie Deutschland, die Türkei, Japan und Frankreich haben mit ihrer tatsächlichen Errichtung begonnen. Allerdings sind grenznahe Industrieparks – insbesondere als Entwicklungsprojekte – nicht unumstritten. Die mittelamerikanischen Maquiladoras (vor allem in Nordmexiko an der Grenze zu den USA) und andere freie Produktionszonen und Export Processing Zones werden seit den 1990er Jahren angesichts ökologisch, sozial und arbeitsrechtlich problematischer Produktionsbedingungen oft der ›Kehrseite der Globalisierung‹ zugerechnet.34 Solche Industriezonen befördern nur selten den Aufbau eigener Industrien in den sie beherbergenden Ländern und schaffen lediglich einige Arbeitsplätze, wenn auch meist unter schlechten Bedingungen.35 Der israelische Industriepark Nitzanei Shalom (Knospen des Friedens) nahe Tulkarem, der in den 1980er Jahren auf konfisziertem palästinensischem Land an der Grenze zu Israel erbaut wurde, ist ein solches Beispiel. Hier wurden gefährliche chemische Industrieanlagen in ein Gebiet außerhalb der eigenen Umweltschutz- und Arbeitsgesetze ausgelagert, in dem weder israelischer Mindestlohn noch Arbeiterschutz Geltung haben.36 Kritiker der Industrieparkprojekte in den palästinensischen Gebieten befürchten, dass diese nur für Betriebe ab einer bestimmten Größe von Interesse seien, die jedoch die meisten einheimischen Unternehmen nicht aufwiesen. So könnten vor allem – ausländische oder israelische – Großunternehmen die Vorteile der Industrieparks wie Steueranreize und eine gute Infrastruktur nutzen, zumal das Palästinensische Investitionsförderungsgesetz von 1998 ausländische Investoren und Großbetriebe unverhältnismäßig privilegiere. Auf diesem Wege würde keine Industrieförderung erreicht, sondern lediglich die palästinensische grenzüber-

32 Hashai (2003), S. 77f. 33 Sharansky (2004), S. 181. 34 Mutlak (2003), S. 53ff. 35 Lagerquist (2003), S. 12f. 36 Rapoport (2004).

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schreitende Pendelarbeit von Israel in die palästinensischen Gebiete verlagert.37 Samara kritisiert, solche Industrieparks behinderten den Aufbau der palästinensischen Industrie eher, als dass sie sie befördern würden: »By creating a globalized Palestinian economy and labor force, these border industrial zones will obstruct the development of the industrial sector inside the [West Bank and Gaza Strip; Anm. SG], which was already obstructed by the occupation. While the economy of the territories under direct occupation lacked an industrial core (each area being connected with the Israeli economy separately), under the PA it will be connected not only to the Israeli economy but to the border industrial zones as well. The expected industries will be labor intensive, export led, and low tech, with few controls (environmental etc.).«38

Khalil (Stop the Wall Campaign) befürchtet, dass die Arbeiter in den Industrieparks nur über palästinensische Arbeitsvermittlungsfirmen angestellt werden, die wiederum einen großen Anteil des Lohns als Kommission einbehalten.39 Außerdem bewegen sich die palästinensischen Arbeiter zwischen palästinensischer und israelischer Arbeitgeberseite in einem Raum ohne Rechtssicherheit und Ansprechpartner, stets in der Gefahr, ihre Sicherheits- und Arbeitsgenehmigungen willkürlich entzogen zu bekommen.40 Auch Bestimmungen im palästinensischen PIEFZA-Gesetz 41 zum legalen Sonderstatus der geplanten Industrie- und Freihandelszonen weckten Befürchtungen, die palästinensischen Arbeiter könnten in rechtsfreie Räume geraten.42 Die US-amerikanische Organisation National Labor Committee berichtet von katastrophalen Arbeitsbedingungen in den jordanischen Qualified Industrial Zones (QIZ), in denen mittlerweile hauptsächlich Arbeiter aus südostasiatischen Ländern wie Bangladesch beschäftigt sind.43 Essawi (Bisan) weist zudem auf die

37 Bahour (2010), Lagerquist (2003), S. 12, Lindner (1999), S. 114, 139 und Samara (2000), S. 26ff. 38 Samara (2000), S. 28f. 39 Nach diesem Prinzip ist auch die palästinensische Arbeit in den israelischen Siedlungen im Jordantal organisiert (Alinat [2007] und ILO [2010], S. 21). 40 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008, und ILO (2010), S. 19–22. 41 Die betreffenden Stellen beschäftigen sich zumindest auf den ersten Blick vor allem mit den Import- und Exportmodalitäten sowie Zöllen (PIEFZA Law, Art. 39 u. 40). 42 Bahour (2010). Zur Position der paläst. Gewerkschaften vgl. Bisan (2010c), S. 6f. 43 National Labor Committee (2006) und Riyahi (2010). In QIZ produzierte Güter konnten bei einer israelischen Produktionsbeteiligung im Rahmen des israelisch-amerikanischen Freihandelsabkommens steuerfrei in die USA exportiert werden.

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Gefahr hin, dass Investoren sich wie im Falle der QIZ die Steuerbefreiungen und andere Anreize zu Nutze machen und nach ein paar Jahren ihre Investitionen wieder abziehen könnten.44 Hanieh wertet die in Jordanien, Ägypten und Palästina errichteten bzw. geplanten Industrieparks als neoliberales Projekt zur Beherrschung und Integration des Nahen Ostens in den US-amerikanischen Markt bei gemeinsamer Ausbeutung billiger Arbeitskraft durch arabisches und israelisches Kapital.45 Auch andere kritisieren, dass sich die PA in ihrer Wirtschaftspolitik an einer neoliberalen Ideologie orientiere46 und sich auf die Anwerbung ausländischer Investitionen und inländischen Großkapitals konzentriere, anstatt die eigene Industrie zu fördern.47 Haddad vom Alternative Information Center kritisiert den Glauben von Weltbank, IWF und Geberländern an die Allmacht des freien Marktes: »…they condition that the private sector is the angel, the leader of the economic boom and development, and this is very dangerous.«48 Auch das Festhalten an exportorientierter Produktion sei »verrückt« angesichts der Abriegelung, Abhängigkeit und Lebensmittelknappheit – vor allem im Gazastreifen, wo die Mehrheit der Bevölkerung von Lebensmittelhilfen abhängig ist, so Khalil: »They are talking that this agro-industrial zone will be only for exportation and the products will not be sold in the West Bank. And that’s great, so you are talking about over 25 percent under poverty, 34 percent unemployment, and having a problem in food, and here to talk about exportation – this is crazy! […T]hey are talking about sweet peppers, cherry tomato, herbs […] It will be for a specific target group, mainly they are talking about airlines and high elite restaurants in the Gulf that need to have special kind of food that look so beautiful. […] And the sweet pepper they are talking about here, it will double the price per unit than we have here in the market. […] We have food problems in everything here. From meat, to sugar, to fruits, to feed, to everything. Iḥna, mnistaurid kull iššī taqrīban hunā. Ū mnistaurid min isrāʾīl aū ḫilāl isrāʾīl [Wir importieren fast alles hier. Und wir importieren von Israel oder über Israel.]. So it’s crazy to talk about independence, and in the end, if there was any kind of income from this agro-industrial zone, it will be spent on buying foods from the Israelis. So the raw material will be from the Israelis and the income will go back to the Israelis.«49

44 Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 45 Hanieh (2008). Vgl. auch Khalidi & Samour (2011) und Palestinian Grassroots AntiApartheid Wall Campaign (undatiert). 46 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 47 Khalidi & Samour (2011) und Samara (2000), S. 23–28. 48 Haddad, Interview, Beit Sahour, 5.10.2011. 49 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008.

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In Gaza hatte sich gezeigt, welche Gefahren dieser Ansatz birgt. Hier hatten sich viele Landwirte – nicht zuletzt auf Anregung von USAID – auf den Anbau von ›cash crops‹ wie Erdbeeren, Blumen oder Kirschtomaten für den Export spezialisiert. Durch die lang anhaltende Abriegelung des Gazastreifens konnten sie weder ihre Erzeugnisse verkaufen noch neue Inputs oder Treibstoff für ihre Kühlhäuser einführen. Schließlich wurden Blumen sogar als Tierfutter verkauft, während gleichzeitig die Bevölkerung unter bedrohlicher Lebensmittelknappheit litt. Allein die Verluste der Erdbeerproduzenten in der Saison 2007/08 werden auf sieben Millionen US-Dollar geschätzt.50 Der Gaza Industrial Estate steht seit Beginn der israelischen Blockade des Gazastreifens 2007 still; aus einer Industriezone an der Grenze im Norden des Gazastreifens hatten sich israelische Unternehmen bereits 2004 zurückgezogen, sodass diese Zone zu einem unbenutzbaren Niemandsland geworden ist.51 Statt eine ›Integration‹ der palästinensischen Wirtschaft in die Weltwirtschaft anzuvisieren, sollten Projekte zur Exportförderung vielmehr den Export von Überschussproduktion ermöglichen und auf Diversifizierungsstrategien setzen, so Taghdisi-Rad.52 Essawi betont, eine Umstellung auf exportorientierte Landwirtschaft werde sich unweigerlich in Form von Preissteigerungen und Verfügbarkeitsproblemen auf dem lokalen Markt niederschlagen; auch Arbeiter- und Bauernvereinigungen zeigten sich besorgt über die Ausrichtung des geplanten japanischen Agrarindustrieparks, der die Abhängigkeit von Israel nur noch steigern werde.53 Für eine wirtschaftliche Unabhängigkeit seien die Industrieparkprojekte denkbar ungeeignet, bemerkt Bahour. Schließlich seien sie von der Zustimmung und Kooperation der israelischen Regierung abhängig und außerdem auf eine komplementäre Integration in die stärkere israelische Wirtschaft ausgerichtet. Der Industriepark Atarot zwischen Jerusalem und Ramallah wird mittlerweile von der Sperranlage in zwei Hälften geschnitten und steht unter voller israelischer Kontrolle. 54 Auch die Arbeiterschaft im Erez-Park im Gazastreifen war streng von der israelischen Militärverwaltung überwacht worden; Anträge auf Arbeitsgenehmigungen hingen vom positiven Ergebnis einer israelischen Sicherheitsüberprüfung ab. 55 Tatsächlich hat der Bau der Sperranlage den Industrieparkprojekten neuen Aufwind gebracht. Eine Reihe von Industrieparks könnte in

50 Macintyre (2007b) und Weltbank (2008b), S. 9. 51 Bahour (2010). 52 Taghdisi-Rad (2011), S. 112. 53 Bisan (2010b). 54 Bahour (2010). 55 Bisan (2010a).

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Symbiose mit der Mauer entstehen und somit für die Sicherheitsvorkehrungen sorgen, die israelische Unternehmen für ihre Niederlassungen als notwendig erachten, seit in der zweiten Intifada die Anlagen in Gaza und bei Tulkarem mehrfach von Palästinensern attackiert worden waren. 56 Letztere Industriezone bei Tulkarem, Nitzanei Shalom, bedient sich schon jetzt der bis zu zehn Meter hohen Mauer, die die palästinensischen Arbeiter als Disziplinierungsinstrument per se in ihre Schranken weist, wenn sie diese durch ein Tor auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit passieren.57 Bahour spricht sogar von »economic prison zones«, die durch die Inkorporierung israelischer Kontrollinfrastruktur zur Normalisierung (vgl. Kap. 6.3) der Besatzung beitrügen.58 Ungeachtet der oben dargelegten Kritik stellen die grenznahen Industrieparks eine wesentliche Entwicklungsstrategie in den palästinensischen Gebieten dar, die von internationaler Seite stark gefördert wird. Lagerquist begründet die internationale Unterstützung für diesen Ansatz mit dessen konzeptioneller Nähe zum Integrationsprogramm für die Mittelmeeranrainerstaaten des BarcelonaProzesses.59 Der japanische Agrarindustriepark in Jericho steht an erster Stelle der Liste von ›Quick Impact Projects‹, die der damalige Sondergesandte des Nahostquartetts Tony Blair Ende 2007 als besonders förderungswürdige Entwicklungsinitiativen herausgestellt hatte; die Industrieparkprojekte in Tarqumiya und Al-Jalameh sind ebenfalls darunter.60 Die Industrieparks nahmen auch einen zentralen Platz im Palestinian Reform and Development Plan (PRDP) und auf den Investorenkonferenzen 2008 in Bethlehem bzw. Nablus ein. Auf der letzten Konferenz wurden Pläne für den Bau eines weiteren Industrieparks in Nablus bekanntgegeben.61 Während der französisch geförderte Industriepark bei Bethlehem mittlerweile in Betrieb ist, steht das Projekt in Al-Jalameh bei Jenin jedoch vor großen Problemen (vgl. Kap. 4.3). Israelische Behörden führen die Industrieparks etwa in Jenin, Tarqumiya und Jericho sogar selbst als Projekte auf, mit deren Unterstützung sie zur Entwicklung der palästinensischen Wirtschaft beitrügen. 62 Solche Industrieparkprojekte gehören also eindeutig zum Kanon der gängigsten internationalen wie regionalen Entwicklungsstrategien für die palästinensischen Gebiete. Zugleich tritt jedoch angesichts des Mangels an Selbstbe-

56 Rapoport (2004). 57 Algazi (2010). 58 Bahour (2010). 59 Lagerquist (2003), S. 9 mit Fn. 22. 60 Office of the Quartet Representative (2007), S. 2ff, 9–12. 61 Ma’an News Agency (2008). 62 MFA (2012), S. 48f.

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stimmung, Bewegungsfreiheit, industrieller Infrastruktur, politischer Stabilität und Autarkie (gerade im Bereich der Nahrungsmittelversorgung) in Palästina die Absurdität bestimmter Entwicklungspläne besonders deutlich zutage.

6.2 F RIEDENSRÄUME : N ORMALISIERUNG ODER K OOPERATION Projekt-, Organisations- und Veranstaltungsnamen in Palästina tragen überdurchschnittlich häufig das Schlagwort ›Frieden‹ im Titel, so auch das vorliegende Fallbeispiel. Diese Omnipräsenz macht Israel/Palästina diskursiv zu einem ›Friedensraum‹, in dem der Konflikt allgegenwärtig erscheint. Parallel zu einem globalen Trend wurde der Entwicklungszusammenarbeit seit den 1990er Jahren auch in Japan eine größere Bedeutung als friedensschaffendes Instrument zugeschrieben. Die japanische ODA-Charta von 2015 räumt dem Ziel der Friedenskonsolidierung eine Priorität in der Entwicklungszusammenarbeit ein (vgl. Kap. 3.5). Gerade in den besetzten palästinensischen Gebieten spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle. Als erstes JICA-Projekt wurde der Corridor for Peace and Prosperity über einen neu eingeführten ›Fast-track‹-Entscheidungsweg beschlossen; der japanische Journalist Odagiri spekuliert, die Kategorisierung als ›friedensschaffende Maßnahme‹ helfe wohl dabei, die Bearbeitungszeit wesentlich zu verkürzen.63 Der Botschaftsangehörige Hatada rechtfertigt die japanische Entwicklungszusammenarbeit auch als einen – wenn auch nur wirtschaftlichen – Beitrag zum Friedensprozess und zur Stabilität des Nahen Ostens insgesamt: »Wenn diese Leute arm sind und die Wirtschaft im Chaos versinkt, dann wird der Friedensprozess auf keinen Fall Fortschritte machen, denke ich. Deswegen leisten wir Hilfe für Palästina; die Stabilität der Wirtschaft ist eine notwendige Bedingung für den Friedensprozess. […] Es ist nicht so, dass allein dadurch der Friedensprozess Fortschritte macht. Dies ist nicht genug, aber es ist eine notwendige Bedingung.«64

Konditionalität Der Einsatz von Entwicklungsgeldern als friedensstiftende Maßnahme bezieht sich grundlegend auf drei Mechanismen, so Brynen. Erstens soll durch die Verbesserung der ökonomischen Situation in der Bevölkerung eine positivere Ein-

63 Odagiri (2008a), S. 23. 64 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008.

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stellung gegenüber dem Friedensprozess geschaffen werden. Nach Brynens Ansicht liegt hier allerdings eine Überbewertung der Ökonomie vor, da die Zustimmung in der Bevölkerung vielmehr von den politischen Entwicklungen des Friedensprozesses abhängig sei. Der zweite Mechanismus sei die Generierung von ökonomischen Anreizen zur Kooperation unter den Konfliktparteien, verbunden mit einer Zurückhaltung solcher Unterstützung im Fall von mangelnder Kooperations- und Reformbereitschaft. Diese Bindung der Hilfsleistungen an Bedingungen wird mit dem Begriff ›Konditionalität‹ umschrieben. Noch größeres Unbehagen als der Gebrauch von Hilfsgeldern als politisches Druckmittel bereite den Gebern jedoch der dritte Mechanismus, nämlich der Einsatz von Entwicklungsgeldern zur Generierung von Patronagebeziehungen unter verhandlungsbereiten politischen Führern (vgl. Kap. 5.3). Brynen wirft allerdings die Frage auf, ob Patronage nicht auch nützlich sein könne und Arafats Klientelsystem vielleicht lediglich zu instabil und anfällig gegenüber Geldkürzungen gewesen sei, um richtig eingesetzt werden zu können. Statt unter Berufung auf strikte Anti-Korruptionsrichtlinien die Augen vor diesem Aspekt von Entwicklungszusammenarbeit in Konfliktsituationen zu verschließen und ihn kategorisch abzulehnen, sollten solche Zusammenhänge besser untersucht werden.65 Essawi (Bisan) kritisiert, durch die Verteilung von Geldern an die Bevölkerung im Friedensprozess solle deren kollektiver Widerstand gebrochen werden; jeder einzelne verfolge so nur noch seine individuellen Interessen, bemühe sich zum Beispiel um einen Kredit für den Kauf einer Wohnung und verlöre darüber das gemeinsame Projekt eines unabhängigen Staates aus den Augen. 66 Darin sieht auch Haddad eine Motivation der Hilfsgelder: Durch die Linderung ihrer unmittelbaren Nöte sollten die Palästinenser dazu bewegt werden, ihren Widerstand aufzugeben. 67 Da eine politische Konditionalität schon seit langer Zeit nicht mehr gegenüber der israelischen,68 sondern nur gegenüber der palästinensischen Seite angewandt wurde, wird die Entwicklungszusammenarbeit auch als Instrument zur Unterdrückung und Kontrolle der Palästinenser angeprangert 69

65 Brynen (2005), S. 132ff, 141f. Aus inoffiziellen Gesprächsprotokollen vom Israelbesuch von Außenminister Asō 2007 geht hervor, dass Peres großen Wert auf eine ostentative Unterstützung für Palästinenserpräsident Abbas (Fatah) gelegt hatte, unter anderem durch den Corridor for Peace and Prosperity. Die Protokolle sind allerdings auf vertraulichen Wegen in meine Hände gelangt und nicht verifizierbar. 66 Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 67 Haddad, Interview, Beit Sahour, 5.10.2011. 68 Lasensky (2005), S. 44. 69 Vgl. Ibrahim (2011), S. 78f.

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oder aber der Mangel an Konditionalität generell beklagt.70 In den Jahren seit den Osloer Verträgen sei die ökonomische Tragfähigkeit eines unabhängigen palästinensischen Staates ganz entgegen der vorgesehenen Entwicklungspläne und roadmaps deutlich gesunken, und Entwicklungshelfer müssten nun der Tatsache ins Auge blicken, sich mitschuldig gemacht zu haben: »A great source of frustration for many aid actors is a sense that they have been complicit in, and used to support, diplomatic reluctance to face the facts, and that they have not done enough to compel their political masters to do so.«71 Die Dominanz des Friedensdiskurses habe ferner die eigentlichen Ziele der Entwicklungszusammenarbeit kompromittiert, wenn Geberländer der Aufrechterhaltung des Friedensprozesses zuliebe darauf verzichteten, mit größerem Nachdruck gegen israelische Abriegelungs- und Siedlungspolitik oder gegen den Aufbau eines undemokratischen und intransparenten Regierungsapparats durch die Palästinensische Autonomiebehörde zu protestieren (vgl. auch Kap. 6.1).72 Vertrauensbildende Maßnahmen Neben der Idee, dass die Behebung wirtschaftlicher und sozialer Probleme auch zur Lösung politischer Konflikte beitragen könne, wird häufig in der wirtschaftlichen Kooperation politischer Gegner ein Mittel zur Vertrauensbildung und Konfliktlösung gesehen. Funktionalistischen Theorien der Internationalen Beziehungen zufolge können apolitische Kontakte und Kooperationen etwa in den Bereichen von Handel, Industrie und Infrastruktur dazu beitragen, politische Differenzen zu überwinden und regionale Integration zu fördern. Bereits 1977 spricht beispielsweise Hirsch von der positiven Rolle, die private Unternehmer und wirtschaftliche Kooperationen für den politischen Friedensprozess im Nahen Osten spielen könnten. Bemerkenswerterweise zieht er als Beispiel für ein solches Kooperationsprojekt ausgerechnet den Bau eines Kanals zur Leitung von Meereswasser in das Tote Meer heran (vgl. Kap. 4.5).73 Mit dem neuen Schwung der europäischen Integration seit Mitte der 1980er Jahre hatten regionale Integrations- und Kooperationsprogramme dann Hochkonjunktur. Auch für den Entwurf des Friedensprozesses im Nahen Osten waren solche Ideen formgebend. Wertheimer, der milliardenschwere Vorreiter in der Etablierung israelischer Industrieparks (vgl. Kap. 6.1) ist ein prominenter Fürsprecher für die Idee gemeinsamer israelisch-palästinensischer Industrieparks. Das Buch über »The Te-

70 Roberts (2005), S. 24. 71 Keating (2005), S. 3. 72 Le More (2004), S. 216. Vgl. auch Shearer & Meyer (2005). 73 Hirsch (1977), S. 8–11.

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fen Model« ist voller in Schnörkelschrift gehaltener Sinnsprüche folgenden Kalibers: »Industry is, in effect, the weapon of peace.«74 Zur Illustration des großen Potenzials solcher Industrieparks für ungelöste Konfliktregionen dienen Grafiken, die zum Beispiel das Bruttosozialprodukt einzelner Länder unter dem Titel »With Industry there is no Incentive for Violence« in einen äußerst simplifizierten Zusammenhang stellen, der auch im Text nicht einleuchtend erklärt wird. Die reichen Länder Singapur und Finnland gelten hier als Vorbilder, während eine gesteigerte Wirtschaftsleistung in Irland und Südkorea als »Erfolgsgeschichte bei fortbestehenden Konflikt« betitelt wird, die potenziell auch im Nahen Osten möglich sein soll.75 Grenznahe Industrieparks böten sich außerdem als Arrangement für die Zeit nach einem zukünftigen Friedensschluss an, da sie eine Zusammenarbeit in einem geregelten Rahmen ermöglichten, der die Spannungen und Sicherheitsrisiken auf ein Minimum senke: »For the foreseeable future, it is most likely that even after a peace treaty is signed between Israel and the PA, only a ›cold peace‹ will prevail. Thus CBIPs [cross-border industrial parks] can serve as a mechanism to enable Israeli-Palestinian business cooperation by keeping friction between Israelis and Palestinians to a minimum. This pertains to daily contact between the populations as well as to minimizing border-control inspections of incoming and outgoing employees.«76

Bahour weist darauf hin, dass die Industrieparkprojekte von der inhärenten Grundannahme ausgingen, dass die Palästinenser diejenigen seien, die den Frieden gefährdeten und mit ökonomischen Mitteln befriedet werden müssten. 77 Stattdessen könnten die Industrieparks jedoch auch ein Weg sein, die Gründung eines palästinensischen Staates dauerhaft zu verhindern und stattdessen die Trennung der Bevölkerungsgruppen durch sterile, sicherheitsüberwachte Enklaven der ökonomischen Zusammenarbeit langfristig tragbar zu machen.78 Kritiker bemängeln generell die Entpolitisierung des Konflikts und die Ausblendung lokaler und regionaler Machtverhältnisse durch solche Ansätze der ökonomischen Kooperation. Wegen der dominanten Position Israels werde wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region keine gegenseitige, sondern vielmehr eine einseitige Abhängigkeit der arabischen Staaten bzw. der Palästinenser vom israelischen

74 Wertheimer zitiert nach Simmons (2005), S. 94. 75 Simmons (2005), S. 92. 76 Hashai (2003), S. 76. 77 Bahour (2010). 78 Vgl. auch Ibrahim (2011), S. 118.

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Staat zur Folge haben.79 Riyahi (Bisan) vertritt den Standpunkt, es sei trügerisch anzunehmen, man könne mit ökonomischen Kooperationsprojekten moderaten Palästinensern, die zu einem Friedensvertrag bereit seien, Rückendeckung geben. Vielmehr dienten solche Projekte nur dem Vorteil einer bestimmten Unternehmerschicht aus dem Privatsektor, die von den massiven ausländischen Hilfsgeldern profitiere. Die Abhängigkeit und Unterdrückung durch die israelische Seite würden in einem anderen formellen Rahmen unverändert fortgesetzt, während eine politische Lösung aufgrund solcher ökonomischer Arrangements in noch weitere Ferne rücke. 80 Auch Bouillon bezweifelt die friedensfördernde Wirkung ökonomischer Kooperationsprojekte im Palästina-Israel-Konflikt. In seiner Untersuchung der Rolle israelischer, jordanischer und palästinensischer Unternehmer im Nahostfriedensprozess zeigt er, dass die Kooperation sich in diesem Fall sogar nachteilig auf den Friedensprozess auswirkte und hauptsächlich den Interessen ökonomischer und politischer Eliten diente.81 Normalisierungsdiskurs Die enttäuschten Erwartungen einer ›Friedensdividende‹ bei der palästinensischen Bevölkerung (wie auch der israelischen Unterschicht), die sich im Verlauf des Friedensprozesses einer zunehmenden Marginalisierung ausgesetzt sah, trugen dazu bei, den Friedensprozess zu diskreditieren. So lautet zum Beispiel eine Zeile aus dem Lied »Mīn irḥābī?« (Wer ist hier der Terrorist?) der arabischisraelischen Rapgruppe DAM: »Anā miš ḍidd as-salām, as-salām ḍiddī.« (Ich bin nicht gegen den Frieden, der Frieden ist gegen mich.) In vielen arabischen Ländern dominiert daher ein Gegendiskurs, nämlich der Taṭbīʿ-Diskurs oder ›Normalisierungs‹- bzw. ›Anti-Normalisierungs‹-Diskurs. 82 Viele Menschen lehnen eine Normalisierung (taṭbīʿ) der Beziehungen zu Israel im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Annäherung ab, solange politische Fragen wie die Kontrolle über Land und Ressourcen und die staatliche Souveränität nicht geklärt sind. Wenn die Konfliktursachen nur in einem Mangel von Vertrauen und Verständigung zwischen den Völkern und Religionen gesucht würden, dann diene dies der Entpolitisierung des Konflikts und der Erhaltung des Status quo und damit der israelischen Dominanz. Es werde eine real nicht gegebene Gleichheit der Verhandlungspositionen von Israelis und Palästinensern postuliert und die Margina-

79 Bouillon (2004), S. 9–15, Le More (2004), S. 208f, und Samara (2000), S. 31. 80 Bisan (2010c), S. 2. 81 Bouillon (2004). 82 Zum ›Anti-Normalisierungs‹-Diskurs in Jordanien siehe etwa Bouillon (2004), S. 118, 135ff, in Ägypten vgl. Colla (2006).

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lisierung der palästinensischen Bevölkerung ignoriert. Lagerquist beschreibt diese Mechanismen bei der Entstehung des Gaza Industrial Estate (GIE), der auf eben solchen entpolitisierten Grundannahmen basierte: »In hindsight, the gap between the language that marketed the GIE and the realities that it obscured was fraught with problematic politics and tenuous assumptions. These included the notion that ›economic cooperation‹ between Israelis and Palestinians – even if based on starkly asymmetric power relations – was an inherently positive phenomenon.«83

Auch viele NGOs sehen sich unter Druck, Bezug zu diesem Friedensdiskurs herzustellen, der zum Kanon internationaler Geldgeber gehört. Ungeachtet einer andauernden gewaltsamen Konfliktsituation sind Versöhnungsprojekte, wie sie eigentlich in sogenannten ›post-conflict situations‹ von Bedeutung sind, politisch erwünscht und werden gezielt gefördert.84 Die Kategorisierung als post-conflict situation durch viele Hilfsorganisationen läuft jedoch Gefahr, die tatsächlichen politischen Verhältnisse zu verkennen und somit zur Aufrechterhaltung des israelischen Besatzungsregimes beizutragen. 85 Mittlerweile trifft das sinnentleerte Label ›peace‹ deswegen auf großes Misstrauen unter der palästinensischen Bevölkerung. Viele Friedensprojekte sehen sich dem Taṭbīʿ-Vorwurf ausgesetzt, wobei kooperative Projekte oft auch differenzierter betrachtet und diejenigen Initiativen vom Taṭbīʿ-Vorwurf ausgenommen werden, bei denen sich etwa Israelis und Palästinenser gemeinsam gegen die israelische Besatzung wenden. Zudem muss beachtet werden, dass es viele unterschiedliche Ausprägungen des TaṭbīʿDiskurses gibt und auch der Grad der Ablehnung normalisierter Beziehungen zu Israel differiert.86 Karam (PASSIA) bezieht folgende Position zu kooperativen Industrieparks: »I am against people-to-people projects; I am against projects where I keep Israelis governing my freedom of movement and decision. I’m against bringing them as de facto partner before I breath independence. […] I am for working together, but separately. We cannot be in the same bedroom. It’s too early. They hate me, I hate them. Yet, de facto, we live together in the same territory. […] Why should I give you any facilities on my own land, with my brothers, […] for what? […] You still have 11 000 Palestinian in the prison!

83 Lagerquist (2003), S. 18. 84 Nabulsi (2005), S. 124. 85 Murad (2011). 86 Salem (2005).

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You’re still confiscating my land in Jerusalem – why should I facilitate for your benefit and business and flourishing economy on my own expenses? Why should I?«87

Kritik an diesem Diskurs wirtschaftlicher Kooperation wird häufig als Friedensfeindlichkeit diskreditiert. Samara weist darauf hin, dass auch die Palästinensische Autonomiebehörde mittlerweile einen Diskurs mittrage, der in jedem Widerstand gegen die israelische Besatzung einen Widerstand gegen den Frieden sehe.88 Eine weitere Bewegung, deren Einfluss in den letzten Jahren stark gewachsen ist, ist die globale Kampagne für Boycott, Divestment and Sanctions89 gegen Israel und gegen an Siedlungen und der Besatzung beteiligte Firmen. 2011 sind daraufhin Boykottaufrufe in Israel kriminalisiert worden. Friedensprojekte Trotz aller Kritik sind solche Konzepte friedensfördernder Wirtschaftskooperation weiterhin en vogue. In einem Kooperationsprojekt von kleinerem Ausmaß exportieren etwa palästinensische und israelische Olivenbauern seit 2007 gemeinsam ihr Olivenöl mit Unterstützung der Japan External Trade Organisation (JETRO) unter der Marke ›Olives of Peace‹ nach Japan;90 die besten Beispiele für solche Kooperationsmodelle sind jedoch nicht zuletzt das Valley of Peace und der Corridor for Peace and Prosperity. Letzterer bewirbt seinen Beitrag zum Frieden in einer JICA-Fotogallerie sogar mit einem Foto von den Bauarbeiten an der Solaranlage für den Industriepark unter dem Titel »The Corridor of Peace [sic] in the Jordan valley bringing antagonistic neighbors closer together« (vgl. Abb. 3). Selbst wenn der Techniker, der sich zum Schutz eine Kufiya, ein traditionelles palästinensisches Tuch, um den Kopf gebunden hat, dem ungewohnten Blick von außen etwas abenteuerlich erscheinen mag, zeigt er keinen Antagonismus; Israelis scheinen nicht anwesend zu sein und es ist nicht zu erkennen, welche »antagonistischen Nachbarn« einander hier näher gebracht werden sollen, wie die Bildüberschrift behauptet – Palästinenser und Japaner? Dennoch wird diese Szene unweigerlich in einen Peace-building-Kontext gesetzt. Dass das Label ›Frieden‹ noch inflationärer als ›Entwicklung‹ gebraucht wird, ist zweifelsohne auch auf das Fehlen eben von ›Frieden‹ in dieser Region zurückzuführen.

87 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 88 Samara (2000), S. 25. 89 Vgl. Barghouti (2011). 90 Bisan (2010c), S. 3.

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Abbildung 3: Bauarbeiten an der Solaranlage des JAIP

Quelle: JICA (2012b), Bild 30: »The Corridor of Peace [sic] in the Jordan valley bringing antagonistic neighbors closer together.«

Zum Teil nahmen die Kooperationsprojekte wahrhaft bizarre Züge an, so etwa eine Maßnahme zur Förderung des Tourismus in Bethlehem, die zum beiderseitigen Nutzen dienen soll und zu Blairs ›Quick Impact Projects‹ zählt: »Facilitating access to Bethlehem by creating flexible ›tourist hours‹ or ›separate lanes‹ and strive for tourist-friendly checkpoints.«91 Touristen sollen also durch abgesonderte Durchgänge zügig durch die Checkpoints geschleust und möglichst auch noch vor dem schockierenden Erlebnis bewahrt werden, die Demütigung und Schikane palästinensischer Pendler mitzuerleben, die teilweise mehrere Stunden gedrängt in käfigartigen Warteschlangen ausharren müssen. Pointiert wurde diese zynische Herangehensweise durch ein riesiges, wenn auch etwas windschiefes Plakat mit der Aufschrift ›Peace be with you‹ – mittlerweile ersetzt durch ›Welcome to the City of Peace‹ –, das 2007 über dem wichtigsten Checkpoint nach Bethlehem aus Richtung Jerusalem hing (vgl. Abb. 4).

91 Office of the Quartet Representative (2007), S. 7. Zur Kritik an diesem Projekt siehe Stop the Wall Campaign (2008), S. 12–20.

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Abbildung 4: »Peace Be with You«, Checkpoint in Bethlehem

Foto: SG, Bethlehem, 25.12.2007.

Mit der Glaubwürdigkeit der Führungseliten haben auch die Friedensprojekte in Palästina ihre Überzeugungskraft verloren. Die Erwähnung des Corridor for Peace and Prosperity ruft hier meiner Erfahrung nach oft nur sarkastische Ablehnung hervor.92 Ähnlich verhält es sich mit Slogans wie »For Creation of [sic] Symbiotic Region«93, der die Rückseite einer JICA-Broschüre zum japanischen Regionalentwicklungsplan für Jericho ziert. Auch wenn der palästinensische Landwirtschaftsminister Da’iq behauptete, der Corridor for Peace and Prosperity sei ursprünglich ein palästinensisch-japanisches Kooperationsprojekt gewesen, in das Israel und Jordanien erst im Nachhinein mit hineingezerrt worden seien,94 so steht auf jeden Fall in den japanischen Projektstudien und -ankündigungen der Kooperations- und Friedenscharakter des Projekts im Vordergrund. Regelmäßige ›Four-Party-Meetings‹ zwischen Japan, der PA, Israel und Jordanien sollen als

92 Odagiri (2008a, S. 22) berichtet, ausländische Kommentatoren hätten »schnaubend über die Waghalsigkeit des Plans gelacht« (Übersetzung SG), bevor dieser von Tony Blair und dem Nahostquartett befürwortet wurde. 93 JICA (undatiert a). 94 Bisan (2010b).

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Transferprodukt des Projekts langfristig die regionale Zusammenarbeit fördern. Einige palästinensische Kritiker fordern jedoch den sofortigen Ausschluss der israelischen Seite, die stattdessen politisch unter Druck gesetzt werden solle.95 Der japanische Journalist Odagiri befürchtet, dass »die Gefahr groß ist, dass japanische Hilfe das Jordantal in die entgegengesetzte Richtung von ›peace and prosperity‹ treibt«, da sie vielmehr die israelische Besatzung stärker mache. 96 Auch Tartir vom Bisan Center for Research and Development mahnt, die Palästinenser müssten eine klare Position zur israelischen Rolle im Agrarindustrieparkprojekt beziehen, da Israel nicht gleichzeitig Partner und Besatzer sein könne.97 Von offizieller israelischer Seite wird das Projekt als wirtschaftliche Maßnahme zur Verbesserung des politischen Klimas begrüßt, wie dieses Telegramm der USamerikanischen Botschaft in Amman bestätigt: »(SBU) Israeli Embassy PolCouns (and acting DCM) Itai Bartov reconfirmed to EconOff on October 4 GOI [Government of Israel; Anm. SG] support for Peace Valley/Corridor programs as economic development tools to bolster improvements in the political climate. […] Noting that the Economic Office of the Israeli Ministry of Foreign Affairs was responsible for the initiative, he chided the Palestinians for always including political aspects to strictly economic discussions […].« [Herv. SG]98

Der israelische ›Tadel‹ in Richtung Palästinenser, immer wieder politische Aspekte in die rein ökonomische Diskussion einbringen zu wollen, macht jedoch deutlich, wie berechtigt die Kritik an solchen rein ökonomischen Kooperationsprojekten ist. In einer Konstellation, in der eine Seite die andere militärisch besetzt und in einem Zustand ökonomischer Abhängigkeit hält, kann es keine unpolitischen Entwicklungs- und Kooperationsprojekte geben. Die Entpolitisierung der Problematik durch eine Reduzierung auf ökonomische und technische Zusammenarbeit blendet die grundlegenden Ursachen aus und kann somit nicht zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts, sondern höchstens zu seiner Verfestigung beitragen.

95 Hamoudeh (2012), S. 18. 96 Odagiri (2009), S. 139, Übersetzung SG. 97 Tartir (2012), S. 13. 98 WikiLeaks (2011a).

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6.3 K RIEGSRÄUME : F RAGMENTIERTE S ICHERHEIT Abbildung 5: Haus ohne Aussicht

Foto: SG, Bethlehem, 25.12.2007.

Gefährliche Räume Neben dem ›Frieden‹ besetzt auch der Begriff ›Sicherheit‹ einen prominenten Platz in den Diskursen über die Situation in Israel und Palästina. Bei beiden Begriffen steht einer inflationären diskursiven Verwendung die gefühlte Irrealität ihrer Signifikate gegenüber. Das Schlagwort ›security first‹ kennzeichnet die Priorität der israelischen Sicherheit, die während des Friedensprozesses und allen Verhandlungen unbedingt zu wahren sei. Es ist selbstverständlich, dass die israelische Bevölkerung ein Recht auf Sicherheit und körperliche Unversehrtheit hat, und die Bedrohung sowohl der individuellen als auch der nationalen Sicherheit ist durchaus real. Gleichzeitig tragen die mit der nationalen Sicherheit Israels gerechtfertigten Maßnahmen maßgeblich dazu bei, in den palästinensischen Gebieten die Freiheit der Bevölkerung sowie wirtschaftliche Unternehmungen stark zu beeinträchtigen. Nicht von allen Seiten wird anerkannt, dass die israelische Abriegelungspolitik tatsächlich primär dem Sicherheitsinteresse dient. So befindet der Weltbankbericht von 2008: »Intertwined in this issue is the important matter of Israel’s security concerns, and its legitimate need to undertake action to that end. However, overwhelming evidence suggests that the current

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restrictions correlate primarily to settlement locations and expansions.«99 Eine Vielzahl von Techniken und Regulationen kommt in der israelischen Abriegelungspolitik zum Einsatz, doch die israelische Sperranlage, in Israel selbst in der Regel als ›Sicherheitszaun‹ bezeichnet, ist darunter die wohl offensichtlichste Materialisierung des Sicherheitsdiskurses im Westjordanland. Gerade in Ostjerusalem und den umgebenden Gebieten zerschneidet eine bis zu acht Meter hohe Mauer teilweise urbane Wohngebiete – sogar entlang der Mitte ganzer Straßenzüge. Überragt ein palästinensisches Haus direkt an der Mauer diese dennoch, so dürfen in den oberen Stockwerken keine Fenster mehr geöffnet werden (vgl. Abb. 5). Diese Sicherheitsinfrastruktur bewirkt vor allem eine Trennung von Bevölkerungsgruppen nach ethnischen und religiösen Kriterien. Durch die Abriegelungsmaßnahmen wird eine Bevölkerungsgruppe per se zum Sicherheitsrisiko für eine andere gemacht und Räume der Sicherheit bzw. der Unsicherheit produziert – gefährliche Räume, in denen wiederum bewachte Enklaven begrenzter Sicherheit vorstellbar sind.100 Prozesse dieser Art sind nicht auf die palästinensischen Gebiete oder den Nahen Osten beschränkt, sie vollziehen sich parallel zu einem globalen Phänomen der urbanen Segregation. Die gegenseitige Wahrnehmung in Palästina/Israel ist immer mehr von einem tatsächlichen, persönlichen Erleben der betreffenden Orte und Menschen entkoppelt, seitdem der Friedensprozess zu einer zunehmenden Trennung der Bevölkerungsgruppen geführt hat und sich diese kaum noch als Zivilisten und nur noch als Sicherheitsrisiken begegnen. Allerdings ist hier nicht allein eine Stadt betroffen, sondern eine ganze Region, ein ganzes Land, das in eingemauerte Räume der Unsicherheit und abgeschottete Inseln der Sicherheit zerfällt. Auch für das japanische Außenministerium stellen die besetzten palästinensischen Gebiete einen Raum hoher Unsicherheit dar, sodass japanische Entwicklungshelfer – mit Ausnahme unabhängiger NGO-Mitarbeiter – jeden Tag mit einem panzerglasgesicherten Jeep ins Westjordanland und abends wieder zurück nach Tel Aviv fahren müssen. Lediglich im Fall des neuen diplomatischen Vertretungsbüros in Ramallah zog dieses Arrangement so viel Kritik auf sich, dass mittlerweile (allein) der oberste japanische Repräsentant seinen Wohnsitz in Ramallah hat. Die relativ sichere und entspannte Situation in Jericho wird zudem als ein Grund dafür angeführt, dass dieser Ort als japanisches Hauptbetätigungsfeld in Palästina auserkoren wurde.101 Die Sicherheit der Investitionen in dieser

99

Weltbank (2008a), S. 11.

100 Hever (2010), S. 115. 101 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. Als weitere Gründe nennt Fukuyama vom Vertretungsbüro in Ramallah die Nähe zur jordanischen Grenze im Hinblick

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dennoch als riskant empfundenen Krisenregion soll durch den Zugang zu einer besonderen Risikoversicherung über die Weltbank gewährt werden. 102 Die Sicherheitshinweise des Außenministeriums, die verwaltungstechnischen Anweisungen der Behörde JICA und die alltägliche Praxis des Pendelns hinter Panzerglas prägen die palästinensischen Gebiete performativ als unsichere Räume. Enklaven der Sicherheit Den kooperativen Industrieparks entlang der Grünen Linie oder auf palästinensischem Boden liegt ebenfalls eine Sicherheitslogik zugrunde: Palästinensische Arbeiter stellen stets auch ein Sicherheitsrisiko für Israel dar, das am besten hinter Zäunen und Mauern eingedämmt wird. Hierfür sind eingegrenzte Industrieparks mit eigenem Sicherheitsregime, Durchsuchungsinstanzen und Passierscheinen bestens geeignet. Als ein Vorteil des Gaza Industrial Estate galt, dass dieser unabhängig von Abriegelungsmaßnahmen funktionieren sollte.103 Die Arbeiter des GIE in Gaza waren allerdings unter den ersten, die gezwungen wurden, sich dem neuen israelischen Passsystem unterzuordnen, mit dem die Bewegung der Palästinenser in den besetzten Gebieten besser überwacht werden sollte.104 Durch diesen Mechanismus konnten ›riskante‹ Personengruppen, die etwa ein Familienmitglied in israelischer Haft hatten, von Anfang an ausgeschlossen werden oder es konnte Personen, die man aus beliebigen anderen Gründen als problematisch einstufte, umgehend die Arbeits- und Zutrittserlaubnis zum Park entzogen werden. Auch Khalil (Stop the Wall Campaign) und Essawi (Bisan) befürchten, der Industriepark in Jericho könne letztlich dazu dienen, durch die Abhängigkeit von israelischen Arbeitsgenehmigungen für den Park eine noch stärkere Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben.105 Die Rolle des zunehmend ausgebauten und modernisierten Sicherheitsapparates der Autonomiebehörde im Westjordanland könnte also in Zukunft auch darin bestehen, der israelischen Seite bei der Sicherheitsüberprüfung palästinensischer Arbeiter für grenznahe Industrieparks zu assistieren.106 Nach den Osloer Verträgen hatte die PA einige Si-

auf mögliche palästinensische Exporte, die Verfügbarkeit von Land unter der Kontrolle und im Besitz der PA sowie frühere japanische Investitionen im Jordantal und in die Grenzübergänge nach Jordanien, z. B. die Sanierung der Allenby-Brücke. 102 Ford (2012). 103 Brynen (2000), S. 125 und Lagerquist (2003), S. 8. 104 Lagerquist (2003), S. 16f. 105 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008 und Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 106 Khalidi & Samour (2011), S. 15.

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cherheitsaufgaben von der israelischen Seite übernommen, war aber durch die Kollaboration mit der israelischen Armee in Sicherheitsfragen bei der eigenen Bevölkerung als verlängerter Arm der Besatzungsmacht in Misskredit geraten.107 Nach Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada war die mit speziellen Durchsuchungstechniken ausgestattete Grenzstation für die Aus- und Einfuhr von Gütern des GIE in Karni zum einzigen Grenzübergang für den Import und Export von Gütern im gesamten Gazastreifen umfunktioniert worden, während die Aktivitäten des GIE selbst zum Erliegen kamen.108 Die Beteiligung israelischer Firmen hatte also nicht, wie erhofft,109 dazu beigetragen, die Abriegelungsmaßnahmen abzumildern, die nun auch israelischen Geschäftsinteressen schadeten. Für den Agrarindustriepark in Jericho waren zum Erhebungszeitpunkt im September 2011 noch keine endgültigen Regelungen für den Umgang mit der Arbeiterschaft beschlossen worden, eine Form der Sicherheitsüberprüfung und der Einsatz eines Passierscheinsystems galt jedoch als wahrscheinlich und wird sogar als positiver Aspekt dargestellt:110 Mit speziellen Arbeitsgenehmigungen und Passierscheinen könnte den Arbeitern der Zugang zum Industriepark und das Passieren von Checkpoints erleichtert werden – ein klarer Vorteil gegenüber anderen Produktionsstandorten, der jedoch das Recht auf Mobilität nicht allgemein durchsetzt, sondern lediglich Privilegien innerhalb des Besatzungsrahmens verteilt. Die erste Machbarkeitsstudie zum Agrarindustriepark erwähnte verschiedene Lösungsmöglichkeiten, etwa ein besonderes Sicherheitsetikett für Produkte des Industrieparks oder technisch verbesserte Sicherheitsanlagen: »Practical approach [sic] to lessen movement restrictions would be a special agreement on free movement of goods applicable to industrial estates or the [sic] third party’s involvement in security services in order to clear security concerns for Israel.«111 Vereinbarungen über spezielle Sicherheitslabels und eine bevorzugte Behandlung der Waren für und aus dem Industriepark werden zusätzlich erschwert durch die israelische Weigerung, eine Zusage zu machen, bevor nicht die sich ansiedelnden Firmen und Industriezweige feststünden.112 Eine 2008 von der japanischen Botschaft in Tel Aviv in Auftrag gegebene Studie zur Mobilität in den palästinensischen Gebieten benennt eine Reihe technologischer und institutioneller Innovationen, um den Trans-, Im- und Export von Waren zu beschleunigen

107 Vgl. Hajjar (2005), S. 237, Ibrahim (2011), S. 113 u. Weizman (2008), S. 151-173. 108 Bouillon (2004), S. 90 und Lagerquist (2003), S. 17. 109 Peres Center for Peace (2006). 110 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 111 JICA (2007b), S. ES-5. 112 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011.

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und gleichzeitig die israelischen Sicherheitsvorkehrungen nicht zu beeinträchtigen. Dazu gehören »Secure-supply-chain«- und »Known-trader«-Programme nach den Vorgaben der Weltzollorganisation, computergesteuerte Observationsund Warnsysteme, GPS-Tracking und automatisierte Nummernschilderkennung sowie eine Aufrüstung der Scannertechnologie an Checkpoints und Grenzübergängen. 113 Ein Projekt von USAID zur Erleichterung von Handelsflüssen beschäftigt sich seit 2008 mit solchen infrastrukturellen und institutionellen Lösungsansätzen und die Weltbank visiert sogar die langfristige Entwicklung einer Handelsregion im Mashriq an, für die die Damiya-Brücke geöffnet und in Jericho ein Logistikzentrum eingerichtet werden könnte.114 Da sich die palettenweisen Sicherheitsuntersuchungen im Back-to-backVerfahren äußerst langwierig gestalten, sollen moderne, auf Container ausgerichtete Scanneranlagen Abhilfe schaffen. Der israelische Staat allerdings würde solche Scanner nicht anschaffen, gleichzeitig aber wegen seines Status als entwickeltes Land auch nicht als Empfänger japanischer Entwicklungsgelder infrage kommen. Deswegen müsste hier ein spezielles Arrangement geschaffen werden: Die Scanner müssten von der PA mit Entwicklungsgeldern angeschafft und dann den israelischen Sicherheitskräften zur Nutzung überlassen werden. Außerdem erhofft man sich von einer möglichen Einbindung privater israelischer Sicherheitsfirmen eine Beschleunigung des Abfertigungsprozesses.115 Die niederländische Regierung einigte sich 2012 mit Vertretern der palästinensischen und der israelischen Seite über die Anschaffung einer Containerscanneranlage für den Allenby-Grenzübergang – »a ray of light«116 für den Agrarindustriepark in den Augen einer Kommentatorin im Guardian. Auch die Verhandlungspartner von der PA zeigen bei der Erwägung solcher Möglichkeiten einigen Pragmatismus: »Of course, we are in the current situation. If this will help just make things go on, that’s okay. […] If an Israeli company, security company, if they will check the produce before packaging, that trucks… […] The issue here is to speed up the process, not to retard it. So if we are involving them, those trucks will just go just rapidly through the checkpoints and… You see? […] Involving them, we know that this will facilitate things. If this could be labelled for agro-industrial park in Jericho on the checkpoints… or the produce, the […] raw material comes from Jenin, for example, and it is labelled for the agro-industrial park, it goes through the checkpoint very rapidly – this is what we are aware of, actually.

113 University of California Institute on Global Conflict and Cooperation (2008). 114 IRIN (2011). 115 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. 116 Ford (2012).

198 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA […] Japanese side are promoting this idea, involving Israelis here or Israeli companies, private companies, actually, private security companies…«117 »You know, for example, if we bring some scanners, big scanners […] to check the trucks, it’s one of the solutions. The other solution is trust. You know, if I am talking about the case of industrial estate. The products, our products inside the industrial park and go directly to the border, it will be safe. Nothing. In front of our security or their security, it’s no problem, if there is a procedure, it can be arranged. […] Because you know, we want to encourage the people to come and to invest. If some people come and invest, and it damages the products, he will leave. But we have to find a solution for that procedure. […] And no problem for us to… just want to facilitate… for the people, eh… I am not talking political, I am talking economical now.«118

Entgegen diesem apolitischen Pragmatismus protestieren Kritiker des Projekts heftig gegen eine Vorgehensweise, die ihrer Meinung nach de facto die israelische Besatzung des Westjordanlandes anerkennt und durch ihre Arrangements dazu beiträgt, die Abriegelungspolitik aufrechtzuerhalten und langfristig zu zementieren.119 Diese Argumentation ist besonders plausibel, wenn es um Projekte zur Modernisierung von Checkpoints geht.120 Ferner wurde berichtet, dass die Installation neuer, von USAID finanzierter Fahrzeugscannertechnologie an einigen Übergängen die Mobilität von Gütern und Waren nicht verbessert, sondern lediglich eine weitere Überprüfung zum bereits bestehenden Sicherheitsprozedere hinzugefügt habe, während das Back-to-back-System bestehen blieb.121 Die neue von USAID gesponserte Sicherheitstechnologie beim Grenzübergang Allenby werde ebenfalls nicht zur Erleichterung der Mobilität eingesetzt; eine Exportsteigerung wie im japanischen Projekt vorgesehen sei auf diesem Wege aussichtslos, meint Hamoudeh (Stop the Wall Campaign).122 Gefährdete Räume Vor allem auch die Sicherheit der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland ist durch gewaltsame Auseinandersetzungen sowie durch Angriffe seitens des israelischen Militärs und zunehmend aggressiv vorgehender israelischer

117 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 118 Jaber, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 119 Al-Haq (2007), S. 2 und Stop the Wall Campaign (2007), S. 2. 120 Vgl. Lagerquist (2002). 121 Taghdisi-Rad (2011), S. 127f. 122 Hamoudeh (2012), S. 10ff.

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Siedlergruppen bedroht. Doch was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich ›Sicherheit‹? Traditionelle politikwissenschaftliche Sicherheitskonzepte wurden in den 1990er Jahren durch das alternative Konzept der Menschlichen Sicherheit (human security) ergänzt, das auch im »Human Development Report« des UNDP von 1993 vorgestellt wurde und mittlerweile den Jargon von Entwicklungs- und Hilfsorganisationen deutlich prägt. Das Engagement der ehemaligen JICAPräsidentin Ogata war darauf ausgerichtet, Japan zu einem Vorreiter in diesem Bereich zu machen (vgl. Kap. 3.4). Palanovics konstatiert allerdings eine Instrumentalisierung des Konzepts zur Rechtfertigung der japanischen Teilnahme am ›Krieg gegen den Terror‹ und eine Verknüpfung von außenpolitischer Sicherheitspolitik und den entwicklungspolitischen Schlagwörtern der ›human security‹ und des ›peace building‹.123 So wird Palästina auch in der Konzeptualisierung der japanischen Entwicklungspolitik zum Raum der (Un-)Sicherheit. Der Theorie nach bezieht sich ›human security‹ nicht allein auf den Schutz nationaler Grenzen vor äußeren Bedrohungen, sondern vielmehr auf die Sicherheit von Individuen und Gemeinschaften auch unabhängig von staatlichen Institutionen sowie auf die Prävention von Konflikten und humanitären Krisen. Neben politischen und gesellschaftlichen/kulturellen Aspekten spielen hier auch persönliche Unversehrtheit, wirtschaftliche und gesundheitliche Sicherheit, der Schutz vor Umweltschäden und die Nahrungssicherung eine wichtige Rolle. Mit der Konzentration auf ›traditionelle‹ Aspekte der Sicherheit, auf die Kontrolle über das Territorium, seine Grenzen und seine Bevölkerung, ist jedoch die zunehmende Deprivation der palästinensischen Bevölkerung in den Hintergrund getreten.124 In dieser Hinsicht sind die palästinensischen Gebiete eklatante Unsicherheitsräume. Sie besitzen jedoch keine festen, längs physischer Trennlinien verlaufenden Grenzen. Vielmehr bestehen in Israel/Palästina – je nach Rechtssubjekt und Region – Räume graduell unterschiedlicher Unsicherheit, die zugleich die Vielzahl der nebeneinander existierenden Rechtsräume widerspiegeln. Diese verschiedenen Rechtsräume sind teilweise fragmentiert, teilweise miteinander verschränkt oder hierarchisch angeordnet: so etwa die Sonderstatus der Bewohner des annektierten Ostjerusalem sowie nicht-jüdischer Israelis; innerisraelische Gerichtsbarkeit für israelische Staatsbürger auch in den besetzten Gebieten; die israelische Militärgerichtsverwaltung in den von Israel kontrollierten palästinensischen Gebieten mit ihren mehreren tausend Erlassen, Gesetzen und Verordnungen, die teilweise noch aus dem osmanischen Reich (1516–1917), der bri-

123 Palanovics (2009). 124 Bruderlein (2005).

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tischen Mandatszeit (1917/22–1948) und der ägyptischen bzw. jordanischen Herrschaft (bis 1967) stammen; zu guter Letzt die punktuelle Anrufung informeller Instanzen des islamischen oder beduinischen Stammesrechts bei der Schlichtung innerpalästinensischer Konflikte.125 Die palästinensischen Gebiete werden in zweifacher Hinsicht zu Räumen der Unsicherheit: als dunkle Räume des Terrors und der Gefahr auf der einen und als kriegsrechtlich verwaltete Räume mit äußerst unsicheren Existenzbedingungen für die dort lebende Bevölkerung auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz der Unsicherheit wird verstärkt durch das vielschichtige Nebeneinander von Rechtssystemen und die daraus erwachsende Willkür und Rechtsunsicherheit. Sicherheit ist zentraler Bestandteil jeder Verhandlungsagenda und legitimiert einen Großteil der israelischen Besatzungspolitik. Kooperative Industrieparkprojekte können als Element einer Sicherheitsarchitektur verstanden werden, die auf der Trennung von Bevölkerungsgruppen nach ethnisch-religiösen Gesichtspunkten basiert und der palästinensischen Bevölkerung Arbeitsplätze innerhalb eines überschaubaren und leicht kontrollierbaren Containerraums bietet.

6.4 R ESSOURCENRÄUME : K ONTROVERSE D ETAILFRAGEN Kontrolle über und Nutzungsrechte an Land und Wasser stellen zentrale Konfliktpunkte im palästinensisch-israelischen Konflikt dar. In der Auseinandersetzung wird mit historischen, religiösen, ethnischen oder moralischen Ansprüchen argumentiert, die teilweise mehrere tausend Jahre zurückreichen. Ihre Diskussion würde den Untersuchungsrahmen deutlich überschreiten; daher werden hier vor allem die eng mit dem Industrieparkprojekt verflochtenen Detailfragen thematisiert. Die Frage der Verfügungsgewalt über natürliche Ressourcen steht in enger Verbindung mit der Problematik der palästinensischen Autonomie und der Mobilität der palästinensischen Bevölkerung. Die auf verschiedene Ressourcenräume gerichteten Besetzungsprozesse sind in hohem Maße von exklusiven Territorialitäten und gewaltvollen Ordnungsmaßnahmen geprägt (vgl. Kap. 2.2). Land Im historisch, religiös und symbolisch schwer aufgeladenen Konflikt über die Territorialität des Landes bestehen höchst konträre und zum Teil exklusive Vor-

125 Vgl. Welchman (2009), Weizman (2008), S. 140f und Hajjar (2005).

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stellungen über das angemessene Verhältnis von Territorium und Bevölkerungen. So ist die Idee eines Transfers der arabischen Bevölkerung aus dem Westjordanland und Gaza – oder sogar aus israelischem Staatsgebiet – nie ganz aus dem israelischen politischen Diskurs verschwunden und hält sich genauso hartnäckig wie palästinensische Fantasien einer Auflösung des Staates Israel und der Vertreibung aller jüdischen Bewohner. Das ebene Jordantal, eine der tiefsten Gegenden der Erde, entspricht zwar nicht dem üblichen hügelförmigen Kolonisierungsziel 126 israelischer Siedler; dennoch ist der Raum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen, an denen auch die Siedlerbewegung einen großen Anteil hat. Zum einen ist die Gegend aufgrund ihrer günstigen klimatischen Bedingungen von großem landwirtschaftlichem Interesse; auch die hiesigen israelischen Siedlungen sind vor allem in der Landwirtschaft tätig und betreiben ausgedehnte Dattelplantagen. Zum anderen ist das Jordantal von herausragender strategischer Bedeutung und die Frage seines endgültigen Status in bisherigen Friedensgesprächen deswegen lange ausgeklammert worden. Für den israelischen Staat ist das Gebiet vor allem als eine Sicherheitszone vor möglichen arabischen Angriffen aus dem Osten von Bedeutung: »The region is considered crucial to Israel’s security because it serves as the eastern defensive shield against attack,«127 steht auf der Homepage des 2001 zur Unterstützung israelischer Siedlungen im Jordantal gegründeten Jordan Valley Development Fund. PASSIA-Gründer Karam beschreibt den Status des Jordantals folgendermaßen: »Israelis have always been using it as a buffer zone, clean area. No Palestinian should go there or have anything to do to the land or to have industrial areas, and the 4 000–5 000 settlers are in full control of the Jordan Valley. Now even in Taba, in Camp David – in any negotiation, the Israelis always close the file of the Jordan Valley. This is not negotiable – like Jerusalem. They will never […] open it.«128

Vom Allon-Plan bis hin zu den unilateralen Rückzugsplänen Sharons, Olmerts ›Convergence Plan‹ vom Frühjahr 2006 und jüngeren Regierungsäußerungen sind israelische Annexionsabsichten bekannt. Der Allon-Plan sah 1967 die Annexion des Jordantals und der palästinensischen Teile des Toten Meeres vor. Eine Linie von Siedlungen im Jordantal sollte durch eine zweite Siedlungslinie auf den Hängen oberhalb des Tals gesichert werden und ein weiterer Ring aus Sied-

126 Weizman (2008), S. 130–136. 127 Jordan Valley Development Fund (2008). 128 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008.

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lungen Jerusalem umschließen. Auch wenn der Allon-Plan nie offizielle Regierungslinie wurde, begannen bald israelische Siedlungen und Militärstützpunkte das Jordantal zu besetzen.129 Israelische Spitzenpolitiker haben immer wieder ihren Unwillen verkündet, die Kontrolle über die ›östliche Grenze‹ Israels aufzugeben. Sharon hatte 2003 sogar zwischenzeitlich verkündet, die Sperranlage im Westjordanland um eine östliche Mauer ergänzen zu wollen, die westlich des Jordantals verlaufen und es somit von den dichter besiedelten Gebieten des Westjordanlands abschneiden sollte.130 Nach der Annapolis-Konferenz 2008 hatte die damalige israelische Außenministerin Livni Pläne geäußert, auch nach einem möglichen Abzug aus dem Westjordanland eine Militärpräsenz im Jordantal beizubehalten. Diese Absichten wurden 2012 von Ministerpräsident Netanjahu wiederum bekräftigt.131 Gleichzeitig stellt das Jordantal die einzige nicht-israelische Grenze und Handelsroute des Westjordanlandes dar, ohne die die Realisierbarkeit eines souveränen palästinensischen Staates innerhalb einer Zwei-StaatenLösung kaum möglich wäre. Die besonders harten israelischen Restriktionen im Jordantal werden häufig als Teil israelischer Annexionspläne angesehen: »Israel’s permit regime in the eastern strip of the West Bank, together with statements of senior officials, give the impression that the motive underlying Israel’s policy is not based on military-security needs, but is political: the de facto annexation of the Jordan Valley.«132 Gerade im größtenteils zu Gebiet C gehörenden Jordantal wird die palästinensische Nutzung von Land und Wasser durch militärische Sperrgebiete, Siedlungsaktivitäten und ein restriktives System von Genehmigungen – für den Anschluss von Dörfern an elementare Infrastruktur, für den Bau von Gebäuden, Brunnen und Wasserleitungen und teilweise sogar für den Zugang zum Jordantal selbst – stark eingeschränkt (vgl. Kap. 4.4). Die zeitweise komplette Sperrung von Hauptstraßen wie der Nord-Süd-Verbindung Route 90 für Palästinenser, die Beschränkung der Ausfuhrmöglichkeiten nach Israel auf einen einzigen Grenzübergang, die israelische Kontrolle der Grenze zu Jordanien und langwierige, produktschädigende Kontrollen an internen Checkpoints erschweren nicht zuletzt die wirtschaftliche Nutzung des fruchtbaren Landstrichs. Auf diese Weise solle palästinensisches Leben so schwer wie möglich gemacht und das Jordantal langsam von Palästinensern befreit werden, befürchten auch israelische Kritiker:

129 Cook & Hanieh (2006), S. 340 und Weizman (2008), S. 66f, 106ff. 130 Anani (2006), S. 8f, B’Tselem (2006), Cook & Hanieh (2006), Friedman & Ofran (2008), Le More (2005a), S. 988ff und Stop the Wall Campaign (2007), S. 7. 131 Ravid (2012). Vgl. auch Krieger (2013), S. 30f. 132 B’Tselem (2006).

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»More broadly speaking, many Israelis still believe that the Jordan Valley must remain eternally part of Israel – the vital security buffer between Israel and Arab lands to the east. […] Israeli policies in the area, historically and through the present day, would appear to seek to minimize the number of Palestinians in the area, while maximizing Israeli control over the land and Israeli control over the transportation routes.«133 »The army swears that these prohibitions bear no relation to the politicians’ declarations that the valley will remain in Israel’s hands forever. But in practice, they are helping to empty it of Palestinians, in preparation for its official annexation to Israel.«134

Generell begibt sich jede Entscheidung darüber, ob ein Entwicklungsprojekt im autonomen Gebiet A, im gemeinsam verwalteten Gebiet B oder im israelisch kontrollierten Gebiet C angesiedelt wird, auf politisches Minenfeld. Im Jordantal verschärft das große Übergewicht von Flächen im Gebiet C gegenüber A diese Brisanz zusätzlich. Die Tendenz von internationalen Gebern, sich hauptsächlich in Gebiet A zu engagieren, wird allgemein kritisiert. So bemängelt Stop the Wall Campaign, dass die japanische Mülldeponie im Gebiet A der Stadt Jericho gebaut wurde, obwohl doch nur ein so kleiner Teil des Jordantals in Gebiet A falle und man nun den Müll in die historische Stadt Jericho karre.135 Umgekehrt wird jedoch auch Kritik an Projekten in Gebiet C geübt, da diese dann komplett unter israelischer Kontrolle stünden. Ein von WikiLeaks veröffentlichtes Telegramm der US-Botschaft in Tokyo vom 27. August 2007 gibt einen Einblick in die Auseinandersetzung über den geplanten Agrarindustriepark in Jericho: »The two major issues that have yet to be resolved are the exact location of the project and the Damiya Bridge ›package‹. Kanno explained that with regard to location, the Israelis originally wanted to place the project in ›Area C‹, while, not surprisingly, the Palestinians want it in ›Area A‹. The Palestinians then countered with a proposal to place it in a location that straddles both Areas A and C, with the catch being that the portion in Area C would be considered part of Area A. The Israelis have responded that if this is to be the case, the project will be indefinitely stalled while politicians debate whether to agree, and they are still recommending an Area C location.«136

133 Friedman & Ofran (2008). 134 Hass (2006). 135 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 136 WikiLeaks (2011c).

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Die palästinensische Position schien also den Bau des Parks in Gebiet A zu bevorzugen, während die israelische Seite das unter ihrer Kontrolle stehende Gebiet C befürwortete, was jedoch jegliche Arbeiten von israelischen Genehmigungen abhängig machen würde. Ein Weltbankbericht bemerkt, für die geplanten Industrieparks – etwa in Jericho, Tarqumiya oder Jalameh – geeignetes Land sei meist in Gebiet C gelegen, israelische Baugenehmigungen für diese Gebiete seien allerdings äußerst schwer zu erlangen. 137 Die Lage des zukünftigen Parks stellte eines der größten Probleme in den Verhandlungen dar und konnte lange Zeit nicht geklärt werden. Mansour vom Planungsministerium der PA berichtet allerdings teilweise abweichend vom oben angegebenen Botschaftstelegramm: »The Israeli side, in the beginning, […] gave their approval that an agro-industrial park can be built in the Jordan Valley in the area C […]. Last year, I think, six months ago, when […] the first feasibility [study] ended and they are supposed to identify the location, […] they put some suggestions. Israel refused most because they are located in area C. And Israel wanted them to be located in area A. And this area actually is reserved for urban development […] It is very limited and small. […] It’s a political situation. We have agreements, previous agreements. […] In this case, an area C can be transferred to area A. And they just wanted to put a stop to this. They wanted to be involved also in the whole process. […] Developing this area [C] is very important […] because it is a bit forgotten area. And we need to secure our sovereignty because the Israeli side and settlements are developing that area through agricultural activities and settlements and so on.«138

Khatib aus dem JICA-Büro in Jericho berichtet von weiteren Problemen in der Koordination mit der israelischen Seite bei der Auswahl des Projektareals: »One time when we requested from them, we said we have 1500 dunum from the Ministry of Waqf, about 150 hectares, but they refused because it’s in area C. […A]nd after that they requested us to go to another location on the cemetery, which is belonging to the Ministry of Tourism. There is hotel there. We go there. And after that they give a map to

137 Weltbank (2008a), S. 50. 138 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. Auch inoffizielle Gesprächsprotokolle vom Israelbesuch des damaligen japanischen Außenministers Asō im Jahr 2007 bezeugen den Nachdruck, mit dem der damalige israelische Verteidigungsminister Barak darauf bestanden habe, dass der Industriepark bei Jericho in palästinensisch verwaltetem Gebiet A errichtet werden müsse. Die Protokolle sind auf vertraulichen Wegen in meine Hände gelangt und nicht auf ihre Authentizität hin überprüfbar.

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Saeb Erekat and Saeb Erekat sent it to us: ›This is it,‹ and I told him: ›This is something not empty. This is being used by some people.‹ So the Israeli cheated us.«139

Probleme mit falschen Karten gab es bereits beim Bau der Kläranlage in Jericho, wobei hier der Fehler bei der palästinensischen Seite lag (vgl. Kap. 4.3). Letzten Endes wurde im Süden Jerichos in der Nähe einer alten Metallfabrik ein Gebiet von 115 Dunum öffentlichen Landes unter Kontrolle des Waqf-Ministeriums (Phase 1) mit weiteren angrenzenden 500 Dunum in Privatbesitz (Phase 2) in Gebiet A ausgewählt, das theoretisch in der Zukunft um weitere angrenzende 500 Dunum privaten Landes (Phase 3) in Gebiet C erweitert werden könnte. Die palästinensische Seite hat für die ersten beiden Phasen ihre Zustimmung gegeben. Auch die privaten Landbesitzer, die wohlhabende Husseini-Familie, hatten sich wohl damit einverstanden erklärt, das Land zu verpachten oder Teilhaber an dem Park zu werden;140 mittlerweile ist ein parlamentarischer Beschluss zu ihrer Enteignung und Kompensation gefallen.141 Eine israelische Zustimmung für das Areal in Gebiet C (dritte Phase) stand jedoch Ende 2011 noch aus. Fukuyama vom japanischen Vertretungsbüro in Ramallah bestätigte, dass Israel sich nicht bereit zeige, eine Umwandlung des Landes in Gebiet B oder sogar A zuzulassen, obwohl ein solcher Mechanismus im Paris-Protokoll vorgesehen ist.142 Wasser Neben dem Zugang zu Land ist vor allem der Zugang zu Wasserressourcen im Jordantal prekär. Nach von der Palestinian Water Authority 2012 veröffentlichten Zahlen liegt der palästinensische Wasserverbrauch im Westjordanland mit 70 Litern pro Kopf und Tag deutlich unter der von der Weltgesundheitsorganisation festgelegten absoluten Untergrenze von 100 Litern. 90 Prozent des Wassers aus

139 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. Eine JICA-Mitarbeiterin in Ramallah erzählte mir am Rande meines Treffens mit einem ihrer Kollegen von weiteren Problemen in der Kooperation mit der israelischen Seite, die z. B. lange keine und dann scheinbar versehentlich immer wieder die falschen Karten vom Jordanfluss herausgegeben hätten. Dies scheint ein verbreiteter Eindruck zu sein: Auch Tartir (2012, S. 7) berichtet, die verschiedenen technischen Koordinationskomitees würden von israelischen Teilnehmern immer wieder dazu benutzt, die palästinensische Seite zu täuschen; »they’re professionals at misleading us,« zitiert er einen »Palestinian official«. 140 Jaber, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 141 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011 und Farhat (PIEFZA) und Suzuki (PADECO), Interview, Ramallah, 6.10.2011. 142 Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011.

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den Grundwasserleitern westlich des Jordans gehen nach Israel und in die israelischen Siedlungen, wo der tägliche Durchschnittsverbrauch 300 Liter pro Kopf beträgt.143 Bei der Kontrolle über die Grundwasservorkommen im Westjordanland spielen die israelischen Siedlungen eine wichtige Rolle, da sie mehrheitlich oberhalb bekannter Wasservorkommen liegen und somit eine günstige Ausgangsposition bei eventuellen Endverhandlungen über einen zukünftigen palästinensischen Staat bilden. Eine Studie des Palästinensischen Ministry of National Economy und des Applied Research Institute Jerusalem (ARIJ) beziffert die indirekten Kosten der israelischen Restriktionen des palästinensischen Wasserzugangs im Jahr 2010 auf 23,4 Prozent des palästinensischen Bruttoinlandprodukts.144 Besonders für die Landwirtschaft im Jordantal stellt dies eine äußerst schwere Belastung dar. Vor diesem Hintergrund ist der Anbau von hochwertigen cash crops besonders problematisch, da er in der Regel den intensiven Einsatz von Wasserressourcen verlangt. Auch hinsichtlich der Wasserversorgung des geplanten Agrarindustrieparks konnte kein erhöhter palästinensischer Anteil an den Grundwasservorkommen des Jordantals durchgesetzt werden, zumal Israel ohnehin die Kontrolle über Brunnenbohrungen oder -vertiefungen im Gebiet C innehat. Stattdessen soll in der ersten Betriebsphase Wasser aus dem städtischen Wasserwerk Jerichos bezogen werden. In Zukunft muss möglicherweise dennoch, wie ursprünglich geplant, Wasser von der israelischen Wasserfirma Mekorot käuflich erworben werden, wenn nicht ausreichend alternative Wasserquellen erschlossen werden können (z. B. durch verstärkte Nutzung der Jerichoer Quelle ›Nr. 1‹) oder sich durch ein japanisches Projekt in der Landwirtschaft zusätzliche Wassereinsparungen erzielen lassen. Das Abwasser kann zumindest in den ersten Projektphasen in der neuen japanischen Kläranlage gereinigt werden. 145 Entwicklungsprojekte, die Umweltprobleme wie die Klärung von Abwässern angehen, werden zwar dringend benötigt, beinhalten jedoch eine gewisse Ambivalenz. Zum einen entheben sie die israelische Regierung der Verantwortung für die von ihr besetzten Gebiete, zum anderen wären Nutznießer solcher Projekte auch die israelischen Siedler, deren Abwässer ja ebenfalls geklärt werden müssen. »Nothing is done for free, especially in the Jordan Valley. Because it is a closed area, controlled from all sides. So whatever you do, it will benefit both,«146 beklagt Khalil von Stop the Wall. Essawi vom Bisan Center weist da-

143 Palestinian Water Authority (2012). Vgl. zur Wasserpolitik Trottier (1999). 144 Palestinian Ministry of National Economy & ARIJ (2011), S. 11–17. 145 Nakano Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 146 Khalil, Interview, Ramallah, 24.9.2011.

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rauf hin, dass sich jedes Entwicklungsprojekt, das in der Wasser- und Stromversorgung auf die Kooperation mit Israel baut, politisch erpressbar macht.147 Mobilität Palästinensisches Leben und Handeln kann erheblich von außen ›ferngesteuert‹ werden: durch Import- und Exportbeschränkungen und die Regelung der Warenund Menschenströme an den Außengrenzen sowie durch ein vielschichtiges Pass- und Lizenzsystem und Checkpointanlagen innerhalb des Westjordanlandes. Dieses System bezeichnet Halper als ›Matrix der Kontrolle‹, die den Gegner durch die Kontrolle wichtiger Schlüsselpunkte unbeweglich macht. Neben physischen Hindernissen erfolgt dies auch über bürokratische und legale Hürden: »What is the matrix of control? It is an interlocking series of mechanisms, only a few of which require physical occupation of territory, that allow Israel to control every aspect of Palestinian life in the Occupied Territories. […] Traditionally, Israel has created ›facts on the ground‹ through land expropriation and settlements. […] Yet a third set of control mechanisms, the most subtle of all, are those of bureaucratic or ›legal‹ nature. They entangle Palestinians in restrictions, which trigger sanctions whenever Palestinians try to expand their life space. […] The matrix of control, though it lends a benign and civil face to the occupation, is sustained only by raw military power.«148

Industrieparks betrachtet Halper neben militärischen Sperrzonen, Armeestützpunkten, Straßen, Checkpoints, Siedlungen, Sperranlagen usw. als ein weiteres Element der Kontrollmatrix, die in erster Linie die palästinensische Mobilität einschränkt.149 Allerdings ist die Mobilität von Menschen und Gütern von entscheidender Bedeutung für den Erfolg oder Misserfolg auch des japanischen Industrieparkprojekts. Die Mobilitätseinschränkungen gelten als ein Haupthindernis für jede wirtschaftliche Prosperität in den besetzten Gebieten und könnten das gesamte Projekt gefährden. Schließlich ist es für einen Agrarindustriepark außerordentlich wichtig, dass die für die Weiterverarbeitung im Park bestimmten Waren diesen auch erreichen und die Produkte wiederum ausgeliefert werden können, zumal ein großer Teil für den Export vorgesehen sein soll. Ursprünglich sollte der Agrarindustriepark weiter nördlich gebaut werden, nahe der nun geschlossenen Damiya-Brücke, über die früher Agrarprodukte einund ausgeführt worden waren. Da die israelische Seite sich jedoch allen Vorstö-

147 Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 148 Halper (2006), S. 62–64. 149 Halper (2006), S. 64.

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ßen zur Wiederöffnung der Damiya-Brücke – ganz zu schweigen vom Bau eines Flughafens im Westjordanland – widersetzte, soll der Export nun über die nahegelegene Allenby-Brücke abgewickelt werden, die bereits mit japanischen Geldern modernisiert worden ist. Allerdings ist auch hier der Warenverkehr stark eingeschränkt, weswegen auch politisch höchst problematische Maßnahmen wie die Aufrüstung von Checkpoints und die Einführung von Sonderregelungen für den Industriepark erwogen werden (vgl. Kap. 6.3). 150 Entwicklungsprojekte in den palästinensischen Gebieten haben stets gravierende politische und juristische Implikationen; augenscheinliche Erleichterungen für die Alltagsbewältigung können langfristig die Mobilität der palästinensischen Bevölkerung infrage stellen, wie Khalil von Stop the Wall am Beispiel von Krankenhäusern berichtet: »We have problem with the medical fund here in the West Bank. For example, there are many funds for building hospitals and building clinics in the villages. Which is good and bad at the same time. I mean, the people need a clinic. But historically, the big hospitals are in Jerusalem. And since they started funding these clinics and hospitals, they stopped sending people to the hospitals of East Jerusalem. So, okay, build a clinic, but also, for non-emergency cases, keep the pressure on the occupation to keep Jerusalem hospitals working. Both are not related to the occupation and not depending on the occupation, but in the end you are supporting isolating Jerusalem from the rest of the area.«151

Dieses Dilemma wird beim Straßenbau besonders deutlich. Im Jahr 2004 hatte Israel der internationalen Gebergemeinschaft einen umfassenden Plan zum Bau und zur Sanierung von Straßen im Westjordanland vorgelegt, der jedoch von palästinensischer wie internationaler Seite abgelehnt wurde. Der Plan wurde allgemein als ein System von palästinensischen Umgehungsstraßen verstanden, die eine Schließung der bestehenden Straßen für Palästinenser und deren ausschließliche Nutzung durch Israelis (hauptsächlich Siedler) ermöglichen sollten. Einige zentrale Verbindungsstraßen und Autobahnen sind bereits für Palästinenser gesperrt, andere Straßen erfordern eine besondere Erlaubnis und wieder andere werden immer wieder temporär geschlossen. Solche exklusiven Straßen zerteilen die palästinensischen Gebiete in immer kleinere Enklaven.152 In diesem Kontext stieß auch die 2008 von Japan über UNDP finanzierte Sanierung der Al-Mu’arrajat-Straße zwischen Jericho und Taybeh nahe Ramallah auf heftige Kritik. Allerdings war die Straße, die sich in steilen Bögen durch das

150 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011; Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. 151 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 152 Shearer & Meyer (2005), S. 172f und Krieger (2013), S. 29.

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Gebirge Richtung Jordantal windet, in einem sehr schlechten Zustand, sodass die palästinensische Seite ihrer Renovierung nicht widersprechen konnte. 153 Nun wächst aber die Befürchtung, dass die restaurierte Al-Mu’arrajat-Straße Israel die Schließung des Highway 45 und der Route 1 von Jerusalem nach Jericho, die Errichtung eines separaten Straßensystems nur für Palästinenser und letzten Endes auch die Annexion Ostjerusalems mit den großen israelischen Siedlungsblöcken um Ma’ale Adumim ermöglichen könnte.154 Diese Umgehungsstraße stelle zudem nicht nur einen Umweg dar, sondern verbrauche zusätzlichen Treibstoff durch die zu überwindenden Höhenmeter.155 Abbildung 6: »Improvement of the Existing Roads and Construction of Access Road A-2«

Quelle: JICA et al. (2009), S. ES-13, Abb. 9.

Für den Zugang zum Agrarindustriepark in Jericho hatte die israelische Seite vorgeschlagen, eine neue, separate Straße bis zum Allenby-Grenzübergang zu

153 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 154 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008 und Odagiri (2009), S. 139f. 155 Odagiri (2008b), S. 272.

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bauen. Da dies aber die endgültige, letztlich inakzeptable Schließung der Route 90 für Palästinenser implizieren würde, hat auch die japanische Seite diese Lösung abgelehnt. Die (Wieder-)Öffnung eines neuen Grenzübergangs wird wiederum von israelischer Seite kategorisch abgelehnt. Stattdessen wird der Industriepark nun nahe der Route 90 südlich von Jericho gebaut. Diese Lage wurde nicht zuletzt deswegen ausgesucht, weil man sich erhoffte, einen kurzen, direkten Zugang zur Route 90 zu schaffen (vgl. Abb. 6), über die innerhalb weniger Minuten der Grenzübergang an der Allenby-Brücke zu erreichen wäre.156 Das hätte möglicherweise auch den Anspruch auf eine dauerhafte palästinensische Nutzung der Straße gestärkt. Die Route 90 ist zwar mittlerweile nicht mehr komplett für Palästinenser gesperrt, doch für die Zugangsstraße zum Industriepark gibt es keine israelische Genehmigung. Zur Begründung werden verkehrstechnische Spitzfindigkeiten herangezogen: Es existierten bereits zu viele Kreuzungen und Einmündungen in die Route 90 in diesem Abschnitt, die teilweise noch aus der jordanischen Zeit stammten und mit israelischen Bestimmungen zur Verkehrssicherheit nicht vereinbar seien. Daher sei der Bau einer neuen Kreuzung ausgeschlossen. 157 Stattdessen soll die Verbindung durch das Stadtzentrum von Jericho und von dort zum Grenzübergang verlaufen, ein beträchtlicher Umweg, wie ein palästinensischer JICA-Mitarbeiter frustriert feststellt: »It’s about, yaʿnī, 35 kilometers, it’s something you know that frustration to the Palestinian, because so why Israelis participate? Like they want to be as a member of this Corridor for Peace and Prosperity, which is to establish agro-industrial park, so they should do something. But until now they didn’t do anything.«158

Im Aushandlungsprozess der widerstreitenden Rechtsansprüche um die Kontrolle von Ressourcen, palästinensische Selbstbestimmung und israelische Sicherheit gibt es auch von palästinensischer Seite immer wieder Versuche, bestimmte internationale Entwicklungsprojekte für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. So hat sich die PA häufig – gegen israelischen Widerstand – dafür eingesetzt, dass Projekte oder PA-Behörden am Rand von Jerusalem gebaut werden, um den palästinensischen Anspruch auf die Stadt zu bekräftigen. Auch Projekte im Straßenbau dienen teilweise als Mittel, die Expansion der israelischen Siedlungen im Westjordanland einzudämmen.159 Hatada von der japanischen Botschaft in Tel Aviv

156 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008. 157 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011. 158 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 159 Brynen (2000), S. 147f.

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berichtet davon, wie die palästinensische Seite versuche, das japanische Industrieparkprojekt als Verhandlungsmittel einzusetzen: »Because this is an agro-industrial park and the product which is now assumed or is presumed is agro-industrial products, like canned food or tomato juice. So the material should be collected from all over the West Bank. So there is the reason why we need free access and movement from all over the West Bank to Jericho. This is the Palestinian side’s argument. We support that, of course. So we can be involved in the argument between Israeli side and Palestinian side through this specific project […] to enhance international commitment or actually Japanese commitment to the peace process core issues.«160

Im Falle der Route 90 scheint dieser Ansatz gescheitert zu sein. Hatada ist jedoch der Meinung, die Einbindung israelischer Firmen in den Agrarindustriepark in Jericho sowie Japans Beteiligung könnten die palästinensische Verhandlungsposition gegenüber dem israelischen Staat – etwa was Bewegungsfreiheit und andere Genehmigungen angeht – verbessern. Entwicklungsprojekte in Palästina müssen sich zwangsläufig in einen aufgeladenen Kontext voller palästinensischer Ansprüche einordnen: Ansprüche auf einen Zugang zu den natürlichen Ressourcen des Landes und auf interne wie externe Bewegungsfreiheit sowie Forderungen nach einem Recht auf Selbstbestimmung. Demgegenüber steht der israelische Sicherheitsdiskurs, der die israelische Besatzungs- und Außenpolitik dominiert und legitimiert. Eine besondere Rolle spielt die Auseinandersetzung um die Zugangsrechte zu Land und Wasser vor allem im Jordantal, das unter spezieller israelischer Kontrolle steht. Gleichzeitig schaffen Entwicklungsprojekte auch neue Handlungsmöglichkeiten für beide Konfliktseiten. Dies wird deutlich etwa am Beispiel von Straßenbauprojekten, die sowohl der Festigung israelischer Siedlungsinfrastruktur als auch deren Eindämmung dienen können. Verschiedene Akteursgruppen versuchen also, ein Entwicklungsprojekt als Hebelpunkt zur Aneignung und Prägung bestimmter Räume zu instrumentalisieren und durch die Einflussnahme auch auf Detailfragen weiterreichende Raumbesetzungen vorzunehmen.

160 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008.

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6.5 J APANRÄUME : V ERHANDLUNG JAPANISCHER ANSPRÜCHE Im vorhergehenden Kapitel standen vor allem die Ansprüche der Hauptkonfliktparteien im Vordergrund: das Ringen von Palästinensern und Israelis um die Besetzung von Territorien, Wasseradern, Straßen und Grenzen. Entwicklungsprojekte werden teilweise sowohl von palästinensischer wie auch von israelischer Seite instrumentalisiert, um die Kontrolle über bestimmte Räume zu gewinnen und zu verfestigen. An diesem Aushandlungsprozess sind jedoch auch andere Akteure wie die Geberländer und Entwicklungsorganisationen beteiligt. Sie besetzen keine Territorien militärisch, aber sie kreieren Einflussräume durch Entwicklungsprojekte und Friedensinitiativen. Der Nahostkonflikt ist eine Arena, in der sich Staaten oder auch einzelne Politiker bewähren und profilieren können. Wegen der großen Abhängigkeit Japans von Ölimporten kommt dem Nahen Osten eine besonders große Bedeutung zu, wie im starken Anstieg der diplomatischen und entwicklungspolitischen Bemühungen um diese Region nach den Ölkrisen in den 1970er Jahren deutlich wurde (vgl. Kap. 3.2). Als eine weitere starke Motivation für das japanische Engagement im Nahostfriedensprozess gilt ferner das Streben nach einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat. Mit einer ostentativen Entwicklungspolitik und sogar unter dem verfassungsmäßig fragwürdigen Einsatz des Militärs sollen Japans Beiträge über die Rolle eines stillen Zahlmeisters hinaus internationale Anerkennung erlangen (vgl. Kap. 3.5). Anfang der 1990er Jahre malt sich Kuroda voller Optimismus zukünftige Verdienste Japans um eine »Renaissance der semitischen Zivilisation« aus: »[…H]aving played a catalyst role, Japan would earn its rightful place in world history for the first time.«161 Japan soll also zum ersten Mal seinen ›rechtmäßigen Platz‹ in der Welt einnehmen und als Friedensstifter in die Annalen eingehen. Allerdings lassen Einschränkungen im Gebrauch seiner militärischen Macht, die unausgewogene Allianz mit den dominanten USA und eine historische Unerfahrenheit in der Region immer wieder Zweifel an den Erfolgsaussichten der japanischen Nahostpolitik aufkommen. Wie kann Japan auf dem diplomatischen Parkett dieses Manko kompensieren? In der Diskussion um Japans Rolle im Nahen Osten wird häufig eine Sonderrolle gerade im Vergleich zu den USA und den europäischen Ländern postuliert. Auf diese Weise besetzt Japan einen speziellen Platz in der Entwicklungs- und Friedenspolitik im Nahen Osten – jedoch nicht immer erfolgreich oder positiv, wie im zweiten Teil dieses Kapitels ausgeführt wird.

161 Kuroda (1994a), S. 103.

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Entwicklungsvorbild Japan Hinsichtlich seiner entwicklungspolitischen Rolle ist oft die Rede von einer Vorbildfunktion Japans für die arabischen Länder. Publikationen wie »Von Japan lernen? Die Relevanz seiner Erfahrungen für die Entwicklungsländer heute«162, »Economic and Policy Lesson from Japan to Developing Countries«163 oder sogar »Factors of Economic Success in Japan and Asia: Implications for the West Bank and Gaza Strip«164 gehen der Frage nach, welche übertragbaren Lehren sich aus der Entwicklung Japans ziehen ließen. Japan genieße die Hochachtung der Araber dafür, dass es sich als asiatisches Land nicht habe kolonialisieren lassen und selbst zu einer Großmacht geworden sei. Für die arabischen Länder sei es daher von großem Wert, aus Japans Erfahrungen zu lernen, so der Tenor.165 Diese Position spiegelt die pan-asiatischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und muslimische Hoffnungen auf einen antikolonialen Kampf an der Seite eines zum Islam konvertierten Japans wider.166 Gleichzeitig dient Japan den arabischen Ländern auch als Spiegel; insbesondere ägyptische Intellektuelle haben immer wieder untersucht, warum die arabischen Länder nicht eine ähnliche Entwicklung durchgemacht haben wie Japan: was sie sozusagen ›falsch gemacht‹ haben. 167 Japan könne den nahöstlichen Ländern am eigenen Beispiel auch zeigen, dass man als nicht-westliches Land traditionelle und moderne westliche Werte vereinen könne.168 Die essentialisierende Dichotomie von imaginierten asiatischen und westlichen Werten und Entwicklungslinien evoziert ähnlich wie die in den 1990er Jahren aufgekommene ›Asian-values‹-Debatte (vgl. Kap. 3.3) die Vorstellung eines gemeinsamen asiatischen Charakters, den Japan mit dem Nahen Osten teile. Die Vergleichbarkeit japanischer mit palästinensischen Erfahrungen wird zudem häufig aus der angeblich ähnlichen Ausgangsposition abgeleitet: Schließlich habe Japan sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in einer desaströsen Lage befunden und sei wie die palästinensischen Gebiete besetzt worden.169 Nakano

162 Herbinger (1985). 163 Toyoda et al. (2011). 164 Hatanaka (1999). 165 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008, Abo-Kazleh (2009), S. 188 und Hamza (2004), S. 40–45. 166 Vgl. Aydin (2007), Kowner (2007), Saaler & Szpilman (2011a), Saaler & Koschmann (2007) und Worringer (2007). 167 Abaza (2002), S. 19 und Asō (2007). 168 Nakamura (2006), S. 27. 169 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008.

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(JICA) berichtet, er erfahre von palästinensischer Seite häufig eine positive Reaktion verbunden mit Bewunderung für die japanische Nachkriegsentwicklung. 170 Den Menschen im heutigen Nahostkonflikt deutlich zu machen, dass auch aus einer so schwierigen Situation heraus der Aufstieg zu großer wirtschaftlicher Prosperität innerhalb kürzester Zeit nach Friedensschluss möglich sei: genau darin könne die besondere Rolle Japans bestehen, dessen direkter politischer Einfluss im Nahen Osten ansonsten begrenzt sei, so ein israelischer Kommentator. 171 Zudem könne laut Kuroda die große Freundschaft, die heutzutage die ehemaligen Erzfeinde USA und Japan verbinde, ein strahlendes Vorbild für Israelis und Palästinenser sein. 172 Ein weiterer israelischer Journalist kommentiert das aktuelle Corridor-for-Peace-and-Prosperity-Projekt ebenfalls unter Bezugnahme auf eine historische Läuterung Japans: »That such a simple, yet brilliant, idea comes from the Japanese should not surprise us. Being one of the aggressors of the world 70 years ago, the Japanese people suffered the worst punishment of modern warfare. In one of the most awesome transformations in human history, they became pacifist people who have since funneled their national and individual energy into productive channels. Why can’t we Middle Eastern nuts just become Japanese?«173

Neutrales Japan Ein weiterer Topos besteht in dem Argument, Japan nehme eine spezielle Stellung in dieser Region ein, da es im Gegensatz zu europäischen Ländern und den USA keine historischen Altlasten mitbringe.174 Das Vertrauensverhältnis zu Japan sei noch nie gebrochen worden, weswegen Japan eine einzigartige Rolle übernehmen könne, so der Botschaftsangehörige Hatada. 175 Unter Rückbezug auf die antikolonialistische Führungskraft, die Japan zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugeschrieben wurde, weist Kuroda darauf hin, dass Japan im Gegensatz zu anderen entwickelten Nationen nicht Gegenstand der »normalen Ängste der Araber« sei: »The normal fear the Arabs have of advanced nations is absent in the case of Japan. They in fact feel an affinity to the Japanese as fellow Asians who have fought against Western imperialism. They point to the clean

170 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011. 171 Eldar (2002), S. 42ff. 172 Kuroda (1994a), S. 45. 173 Dromi (2007). 174 Dowty (2000), S. 74, Hamza (2004), S. 44 und Naruse (2007), S. 4. 175 Hatada, Interview, Tel Aviv, 29.1.2008.

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records Japan has in the Middle East.« 176 Der ehemalige japanische Premier Asō Tarō beschrieb in seiner Zeit als Außenminister eine solche asiatische Sonderrolle mit wenig diplomatischen Worten, wie der britische Guardian berichtet: »Taro Aso, Japan’s foreign minister, risked upsetting his country’s strongest ally by suggesting US diplomats in the Middle East would never solve the region’s problems because they have ›blue eyes and blond hair‹. Mr Aso, a straight-talking nationalist, said the Japanese, on the other hand, were trusted because they had ›yellow faces‹ and had ›never been involved in exploitation there, or been involved in fights or fired machine guns‹.«177

Dieser (fehlende) historische Hintergrund scheint auch die Wahrnehmung der japanischen Entwicklungspolitik in Palästina zu beeinflussen: »Here, simple people in the streets are asking: why is this country helping us? We know that France has some responsibility, historical responsibility towards Palestinians, UK okay, USA okay, sometimes, actually, they are providing assistance to Palestine to help Israel, not us. […] Japan has different reasons from others.«178

Die vermeintliche Neutralität Japans eröffne dem Land größere Handlungsfreiheit und ermögliche die Durchführung heikler Projekte, die sich etwa die USA nicht erlauben könnten. So äußerte sich der JICA-Repräsentant für Jordanien in einem Zeitungsartikel über ein japanisches Kooperationsprojekt, bei dem jordanische Bauern in Israel Anbautechniken erlernen.179Auch eine Selbstdarstellung von JICA sieht gerade den fehlenden japanischen Einfluss als besondere Stärke: »Japan has few historical connections with the Middle East. Its name is rarely mentioned in political and military discussions […]. And despite a low-key approach which means its role goes largely unnoticed in most parts of the world, JICA has become a key, almost ›silent partner‹ in promoting regional development to ensure political and social equality. […] ›We have received many offers from international society but most countries have (hidden) political motivations,‹ declared Egyptian Planning and International Cooperation Minister Fayza Aboulnaga. ›Japan has provided serious assistance to Arab countries without political intervention. That’s why we ask Japan for help.‹«180

176 Kuroda (1994a), S. 75. 177 McCurry (2007). 178 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 179 Tanaka Toshiaki zitiert in Dudley (2012). 180 JICA (2012a).

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In Bezug auf den Konflikt mit Israel wird Japan von einem israelischen Kommentator eine neutrale Schlichterrolle im Gegensatz zu den westlichen Ländern zugesprochen, deren antisemitische Vorgeschichte auch ihr Urteilsvermögen emotional belaste: »Japan kann eine Führungsrolle darin übernehmen, die politische Analyse des Konflikts in Israel/Palästina aus der emotionalen Sehbehinderung des Westens zu befreien, und dadurch den Frieden im gepeinigten Nahen Osten voranbringen.«181 Allerdings gibt es durchaus auch Zweifel an der neutralen Mittlerposition Japans, das eine ambivalente Rolle einnimmt. Es wird sowohl als zu pro-arabisch als auch als den USA hörig und damit zu israelfreundlich182 kritisiert. Nach ersterer Sichtweise ist der japanische Staat vor allem durch seine Beteiligung am Israelboykott historisch vorbelastet. 183 Die internationale Gemeinschaft sei auf Japans finanziellen Beitrag angewiesen, um die Kosten für einen Friedensschluss im Nahen Osten zu tragen, doch wenn Japan hier eine einflussreiche Rolle einnehmen wolle, dürfe es anders als im Golfkrieg nicht nur den Zahlmeister der USA, einen »rich American poodle« spielen, ist Kuroda überzeugt. 184 Zugleich gerät Japans sprichwörtliche Zurückhaltung im Nahen Osten schnell in den Verdacht der Konfliktscheue und Hasenfüßigkeit gegenüber dem israelischen Besatzungsregime: »[…C]ompared with the Americans they [JICA, Anm. SG] have no any impact or influence on the Israeli, and also they are not putting themselves into this matter because they are not, yaʿnī [das heißt], involved in this. […] They are restrictive in talking about politics. […] Because I think in their mentality, in their life, they don’t want to go ahead with something, you know, they are afraid. But we are not afraid. But Japan, if I had to tell you about Japan, Japan is not like 100 percent independent’s view. The American base is there, so maybe America will influence in Japan’s decision, because until now yaʿnī, I think that Japan has not behaved unless America will tell them.«185

Das Drängen darauf, der japanische Beitrag müsse international besser zur Geltung gebracht werden, bildete den Hintergrund der Auseinandersetzung um die Weltbankstudie von 1993, in der das japanische Entwicklungsmodell eines

181 Rabkin (2010), S. 2. Übersetzung der japanischen Übersetzung SG. Nakano (Interview, Ramallah, 19.9.2011) von JICA relativiert allerdings die Relevanz einer solchen vermeintlichen Neutralität für die alltägliche Projektarbeit. 182 Hamza (2004), S. 43. 183 De Boer (2005), und Cohen (2005). 184 Kuroda (1994a), S. 64ff, 77, 97-102. 185 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011.

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staatsgelenkten Kapitalismus anerkannt werden sollte (vgl. Kap. 3.3). Japan beanspruchte auch hier eine gewisse Sonderrolle als einziges großes Geberland, das nicht dem Westen zugeordnet wurde, immer wieder vom Mainstream der anderen Länder abwich und auf einen eigenen Entwicklungsweg hinwies. Ein japanischer ›Sonderweg‹ in der Entwicklungspolitik wird auch noch im DACPeer-Review von 2010 anerkannt.186 Nach der Herausgabe des Peer Review hatte JICA beim Overseas Development Institute (ODI) in London eine Studie in Auftrag gegeben, um herauszuarbeiten, »how Japan can enhance its profile and influence within an increasingly competitive marketplace.« 187 Die Studie identifiziert diese Sonderrolle als eine der großen Stärken, einen »Mehrwert« der japanischen Entwicklungspolitik. 188 Diese hat im Laufe der letzten Jahrzehnte mit ihren Abweichungen vom internationalen Konsens der Geberländer viel Kritik, aber auch einiges Lob auf sich gezogen. Kritische Stimmen In Japan mehrten sich in den 1990er Jahren die kritischen Stimmen. Der Anteil der Japaner, die in offiziellen Meinungsumfragen ein aktives Vorantreiben der Entwicklungspolitik befürworteten, ist seit 1991 von 41,4 Prozent konstant gesunken auf 18,7 Prozent im Jahr 2004. Erst in den letzten Jahren ist wieder ein Anstieg zu verzeichnen. So pendelte zwischen 2008 und 2011 der Wert um die 30-Prozent-Marke. Gleichzeitig ist der Anteil der Stimmen, die Entwicklungszusammenarbeit in möglichst kleinem Rahmen gehalten sehen wollen, von unter zehn Prozent auf bis zu 25 Prozent in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende gestiegen, danach jedoch wieder etwas abgefallen. Interessanterweise lässt sich ein zeitweiliger Wandel in den Begründungen der ODA-Gegner erkennen: Das immer noch führende Argument einer schlechten wirtschaftlichen Lage im eigenen Land verlor zwischenzeitlich an Bedeutung gegenüber der Kritik an mangelnder Transparenz. In den letzten Jahren haben sich die Sorge um die japanische Wirtschaft (um die 75 Prozent) und die Bedenken wegen der schlechten Haushaltslage (um die 55 Prozent) jedoch wieder bei sehr hohen Werten eingependelt. Schlechte Ergebnisse der japanischen Entwicklungszusammenarbeit und das Gefühl, die japanischen Hilfsleistungen würden von den Empfängerländern nicht genügend gewürdigt, schlagen mit jeweils um die 30 Prozent zu Buche.189

186 DAC (2010), S. 28ff. 187 Rocha Menocal et al. (2011), S. 5. 188 Rocha Menocal et al. (2011), S. 33f. 189 Naikakufu daijinkanbō seifu kōhōshitsu, seronchōsa tantō (Regierungspressestelle Ministerialsekretariat im Kabinettsbüro, Meinungsforschungsstelle) (2011). In der

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Mangel an Transparenz und parlamentarischer Kontrolle sowie fehlende Einbindung von NGOs in die Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Kap. 5.5) wurden auch von ausländischer Seite her immer wieder bemängelt.190 Der Journalist Odagiri vermutet, dass bereits vor einer politischen Entscheidung zentrale Planungen für den Corridor for Peace and Prosperity von JICA eigenmächtig in Kompetenzüberschreitung unternommen und somit demokratische Entscheidungsprozesse unterlaufen worden seien.191 Demgegenüber spekuliert Liz Ford vom Guardian, das relative Desinteresse innerhalb der japanischen Bevölkerung und entsprechend geringerer Legitimationsdruck hätten es der japanischen Regierung ermöglicht, ein so riskantes Projekt in Angriff zu nehmen: »Unlike the UK’s Department for International Development or the US agency for international development, USAid, Japan is not as concerned with justifying its aid expenditure to the taxpayer, so [sic] will invest in projects that could be considered risky.«192 Innerhalb der japanischen Entwicklungszusammenarbeit im Nahen Osten nimmt Palästina zwar einen zentralen Platz ein, inwieweit dieses Engagement in Palästina bei der japanischen Bevölkerung bekannt ist, bleibt allerdings fraglich. Ohnehin sei das Wissen um die Region eher wenig verbreitet, von daher sei auch das Bewusstsein für die Entwicklungspolitik eher eingeschränkt, so die Einschätzung von JICA- und Botschaftsangehörigen.193 Auf internationaler Ebene wurden der japanischen Entwicklungszusammenarbeit oft eine zu starke Orientierung am wirtschaftlichen Interesse des eigenen Landes, ökologische und soziale Rücksichtslosigkeit sowie mangelnde Transparenz und Qualität vorgeworfen. Die Anschuldigung, der Exportförderung zu dienen und als eine Art Vorinvestition für nachfolgende japanische Auslandsinvestitionen zu fungieren, wurde in der Vergangenheit nicht zuletzt durch einen hohen Anteil von Budgetposten begründet, die an japanische Auftragnehmer gebunden waren.194 Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte Japan internationale Abkommen unterzeichnet und die notwendigen legislativen Schritte zur Aufhebung der Lieferbindung von Krediten unternommen.195 Mittlerweile ist ein sehr großer

jüngeren Meinungsumfrage von 2012 fehlt die Frage nach der Entwicklungszusammenarbeit. 190 Nuscheler (1990), S. 64, 81ff, 98–101. 191 Odagiri (2009), S. 133f. 192 Ford (2012). 193 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011; Fukuyama, Interview, Ramallah, 20.9.2011. 194 Ensign (1992). 195 Rix (1980), S. 39.

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Anteil japanischer Kredite in der Entwicklungszusammenarbeit nicht liefergebunden und laut Sunaga gingen 1999 weniger als 30 Prozent der Aufträge an japanische Firmen.196 Dennoch argumentieren Kritiker, die Profite der japanischen Unternehmen würden durch informelle Mechanismen wie etwa den Einsatz japanischer Consulting-Firmen im Projektfindungsprozess, japan-spezifische technische Standards oder die Vergabe an ausländische Niederlassungen japanischer Mutterkonzerne gesichert.197 Japan soll 2004 seinen Vergabeprozess vollständig den Praktiken der Weltbank angeglichen haben.198 Der DAC-Peer-Review von 2010 bemängelt jedoch, dass Japan zwar 2008 den DAC-Durchschnitt von 81 Prozent ungebundener ODA-Gelder um drei Prozent überschritten habe, aber auch Gelder als ungebunden angebe, für deren ersten Auftragnehmer – wie bei vielen Grants – eine japanische Firma vorgeschrieben ist, solange die Auswahl der Subunternehmer freistünde.199 Mit dem wirtschaftlichen Eigeninteresse, aber auch mit politischen Zielen im Rahmen einer als ›Scheckbuch-Diplomatie‹ diskreditierten Außenpolitik wurde häufig auch die japanische Vorliebe für große Infrastrukturprojekte erklärt. 200 In Verbindung mit der Kritik, der Schenkungsanteil in der japanischen Entwicklungszusammenarbeit (sowie der Anteil der ODA im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt) sei zu niedrig und die Kreditbedingungen vergleichsweise hart, steht der Vorwurf, Japans Entwicklungszusammenarbeit sei zu wenig auf Armutsbekämpfung ausgerichtet. Japan hat den geringsten Schenkungsanteil an der gesamten bilateralen ODA unter allen DAC-Ländern; im Jahr 2008 lag der Kreditanteil bei immer noch 47 Prozent. 201 Japan begründet diese Praktiken mit eigenen Erfahrungen (etwa mit dem Bezug von Weltbank-Krediten nach dem Zweiten Weltkrieg) und einer vermeintlich besseren Arbeitsmoral bei rückzahlbaren Krediten, wurde jedoch als größtes ODA-Gläubigerland vom DAC aufgefordert, sich mehr um Schuldenerlasse und Nachhaltigkeit zu bemühen.202 Bei der Durchsicht westlicher wissenschaftlicher Arbeiten fällt auf, dass häufig das Bild einer merkantilistisch orientierten, korrupten und heimlichtuerischen

196 Sunaga (2004), S. 7. Auch Islam (1991), S. 203–209, Raffer & Singer (1996), S. 197f und Söderberg (1996) wenden sich gegen den Vorwurf der Lieferbindung. 197 Ensign (1992), S. 61 und Nuscheler (1990), S. 52f. 198 Degnbol-Martinussen & Engberg-Pedersen (2003[2005]), S. 58f, Lancaster (2007), S. 120 und Söderberg (2000), S. 114f. 199 DAC (2010), S. 69–72. 200 Nuscheler (1990), S. 56–72. 201 DAC (2010), S. 48. 202 DAC (2004), S. 21–24, 35 und Raffer & Singer (1996), S. 108, 117f.

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japanischen Entwicklungspolitik heraufbeschworen wird, die brutal die Interessen der eigenen Wirtschaft im Ausland verteidigt – unbekümmert um soziale und ökologische Schäden, Menschenrechtsverletzungen der Empfängerregierungen oder eine zunehmende Verschuldung der Empfänger. Diese Tendenz trifft vor allem auf ältere Arbeiten zu, doch auch jüngere Untersuchungen nehmen hierauf – wenn auch nicht immer unkritisch – Bezug. Schlagwörter wie ›Japan Inc.‹, ›der hässliche Japaner‹, ›ökonomisches Tier‹ oder ›Scheckbuch-Diplomatie‹ sind hierbei Allgemeinplätze. Der japanischen Gesellschaft wird unter Rückgriff auf stark vereinfachende, pseudo-japanspezifische Aussagen über Religion und Mentalität ein Mangel an internationaler Solidarität zugeschrieben; Nuscheler belehrt herablassend: »Freundschaft ist nicht käuflich zu erwerben.«203 Die Vorwürfe mögen in Teilen nicht unberechtigt sein. Doch gerade die besonders harsche US-amerikanische Verurteilung der japanischen Entwicklungspolitik wird angesichts ähnlicher Praktiken von USAID als ungerecht empfunden. Ensigns Hauptvorwurf etwa richtet sich dagegen, dass nur wenige USamerikanische Firmen Aufträge in kreditfinanzierten japanischen Projekten bekommen hätten, woraus sie schließt, die japanischen ODA-Kredite seien immer noch praktisch liefergebunden.204 Raffer und Singer wiederum bemängeln umgekehrt, dass in den USAID-Abteilungen für internationale Geberkoordination und internationalen Handel und Investitionen keine Person beschäftigt sei, die sich genügend mit Japan auskenne oder Japanisch spreche, um die japanische ODA angemessen zu beurteilen.205 Die bis ins Rassistische abgleitende Diskreditierung japanischer Entwicklungspolitik (ökonomischer Eigennutz, mangelnde Umwelt- und Sozialstandards etc.) muss außerdem vor dem Hintergrund internationaler Handelsrivalitäten, vor allem mit den USA, gesehen werden.206 Morishita von JICA Palästina beklagt ein euro-amerikanisches Bewertungskartell: »Da macht dann so eine europäische Organisation von irgendwoher ein Assessment […] Na ja, und ›gut‹ soll dann zum Beispiel heißen, dass diese Hilfe am nützlichsten ist, und da vergeben sie willkürlich Punkte. Damit haben wir ein echtes Problem. Also, da stimmt nämlich wirklich etwas nicht. In Amerika und Europa gibt es so etwas, Notenpunkte und so. Wenn man damit bewertet, dann werden diejenigen ganz schlecht bewertet, die andere Modalitäten, andere Vorgehensweisen oder eine andere Philosophie haben.«207

203 Nuscheler (1990), S. 109. 204 Ensign (1992). 205 Raffer & Singer (1996), S. 107f. 206 Merviö (1995), S. 217ff. 207 Morishita, Interview, Jericho, 22.1.2008.

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Doch ist das internationale westliche Echo nicht durchgehend negativ. So sieht Söderberg die japanische Entwicklungszusammenarbeit in Asien als großen Erfolg für japanische ›soft power‹ an, da die Entwicklungspolitiken Chinas, Südkoreas und Thailands stark von den Erfahrungen mit dem japanischen Vorgehen im eigenen Land geprägt worden seien und dessen Modell nun wiederum in eigenen Programmen weiterverbreiteten.208 Die Vermittlerrolle Japans in der Einbindung neuer asiatischer Geberländer und die Initiierung von Süd-Süd-Projekten werden im DAC-Peer-Review von 2010 ausdrücklich lobend hervorgehoben. Bei der Koordination verschiedener Geberländer wird jedoch geraten, Japan solle sich in internationalen Foren mehr Gehör verschaffen. 209 Auch die ODI-Studie von 2011 sieht in der innovativen Einführung dreiseitiger Kooperationen einen bedeutenden »Mehrwert« der japanischen ODA, mit dem sich Japan auf dem »Marktplatz« der internationalen Entwicklungszusammenarbeit etablieren könne.210 Die Folgestudie stellt fest, dass die Formen und Besonderheiten der japanischen Entwicklungszusammenarbeit der Weltöffentlichkeit kaum bekannt seien und einige ausländische Kritikpunkte auch auf interkulturellen Missverständnissen, Stereotypen und Informationsdefiziten fußten. Japan solle sich in internationalen Diskussionen sowie in der bilateralen Politikberatung mehr einbringen und habe einige Probleme bei der Vermarktung seiner Programme, darunter auch profane Sprachbarrieren und unattraktive englisch- oder französischsprachige Internetauftritte der JICA-Länderbüros.211 Japan in Palästina Als Palästinenser in einer Umfrage 1999 das Geberland nennen sollten, das am meisten zur palästinensischen Wirtschaft beitrage, belegte Japan den ersten Platz, obwohl es sich nach tatsächlichen Auszahlungen mit der EU die zweite Stelle nach den USA teilte. 212 Umfragewerte des Development Studies Programme der Universität Birzeit aus dem Jahr 2004 zeigen ebenfalls eine etwas größere Akzeptanz für Wiederaufbauhilfe für Gaza aus Japan und anderen asiatischen Geberländern (73 %) im Vergleich zu europäischen Staaten (68 %) oder den USA (27 %). 213 Auch Mansour vom Planungsministerium drückt seine Wertschätzung für die japanische Entwicklungszusammenarbeit aus, kritisiert

208 Söderberg (2011). 209 DAC (2010), S. 66–69. 210 Rocha Menocal et al. (2011), S. 31–35. 211 Wild et al. (2011), S. 9–14. 212 Brynen (2000), S. 198f. 213 Said (2005), S. 106. Daten stammen aus DSP, Survey No. 17, June 2004.

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jedoch ihre Unverbindlichkeit in der Planung und Langsamkeit in der Umsetzung.214 Shtayyeh von der PA hingegen schreibt, Japan halte seine Versprechen meist, die Projekte ließen nichts zu wünschen übrig und würden stets pünktlich durchgeführt.215 Laut Khalil von Stop the Wall Campaign hat sich Japan in der Vergangenheit sehr um die Palästinenser verdient gemacht, er könne sich nicht vorstellen, dass sie diese gute Beziehung zerstören wollten. Allerdings hätten sie keine angemessene Vorstellung von den Komplikationen im Zusammenhang mit Vorhaben wie dem Corridor for Peace and Prosperity, da sie noch neu in der Region seien.216 Nach Meinung Tsunodas, eines externen japanischen Beraters, der in einem Tourismusprojekt von JICA in Jericho arbeitet, fehlt der japanischen Entwicklungspolitik in Palästina eine kohärente Strategie und Präsenz: »Mehr als die hiesigen Bedürfnisse ist von Bedeutung, was man als ›politische Angelegenheiten‹ bezeichnet. Wenn es darum geht, wie viel Hilfe die jetzige japanische Regierung in Palästina leistet, oder vielmehr leisten muss, nicht wahr, dann treten manchmal bestimmte Schwachpunkte auf: Dann kommen Aspekte von politischen Abschätzungen auf, es wird etwas gemacht, was eigentlich nicht notwendig ist, etwas unterlassen, das eigentlich notwendig wäre, oder sich an der Beziehung zu Amerika orientiert. Oder was heißt Schwachpunkte – wenn es wirklich um politische Angelegenheiten ginge, dann könnte die japanische Regierung schon richtig Präsenz zeigen, finde ich. Aber sie hat eben kaum Präsenz, und in dem Moment, wie soll ich sagen, habe ich persönlich schon das Gefühl, dass die Strategie eben doch ziemlich mager ist.«217

Manche Kommentatoren betonen, dass die japanische Regierung ihre Entwicklungszusammenarbeit im Vergleich zu den USA in geringerem Maße als politisches Druckmittel gegenüber den Palästinensern einsetze (»aḫaff siyāsīyan«).218 Als höflich und zurückhaltend wird die japanische Arbeitsweise gelobt und der Japan-Alumnus Farraj hebt positiv hervor, dass Japaner eben schüchtern seien und nicht überall Tafeln zur Bekanntmachung ihrer Projekte und Hilfsleistungen aufstellten – ganz im Gegensatz zu USAID: »The Americans put a huge ›We are the money, we are the god of the earth‹.«219 Zugleich wird jedoch eine stärkere politische Stellungnahme gegen die israelische Besatzungspolitik gewünscht:

214 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 215 Shtayyeh (2002), S. 46. 216 Khalil, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 217 Tsunoda, Interview, Jericho, 3.10.2011. 218 Essawi, Interview, Ramallah, 8.10.2011. 219 Farraj, Interview, Nablus, 2.10.2011.

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»[…T]he Japanese in general, they are not from the donors who are involved directly in politics. They are usually trying to say we are far away from politics – but this is politics, of course. […] And they are not in contradiction with condition of the donation under the Israeli occupation. They are promoting the [peace] process itself. It seems to me sometimes they are, I don’t know, there on the ground they are more polite people, maybe in the communication and the way they are working, yaʿnī [das heißt]. They are just concentrate on our peace. […] But in general they are part from the cake. You can’t separate them despite the people that are working directly, they are caring, but we know that the government has its policy. And they are not in contradiction with the Israeli occupation, they are supporting the American policy in the region and they are not in any fight with this strategy of the USA. […] We are not asking them to be against Israel, but at least to be more logic approach.«220

Eine häufig als zu zögerlich, halbherzig und inkonsistent wahrgenommene japanische Nahostpolitik wird zuweilen mit der Unerfahrenheit Japans in der Region entschuldigt.221 Der Topos japanischer Ahnungslosigkeit und Naivität durchzieht die Kommentare zur japanischen Nahostpolitik allgemein und speziell im Hinblick auf das Agrarindustrieparkprojekt in Jericho: Karam (PASSIA) nennt Japan »politically illiterate«, Stark (IPCRI) befindet ihre lokales Wissen für »poor«, und Brown von Stop the Wall Campaign meint: »They don’t have any kind of grasp of the political situation or really of what they are dealing with. They’re very naive about what it is they’re coming into.« 222 Auch der letzte DAC-Bericht kritisiert einen Mangel an entwicklungs- und landesspezifischen Fach- und Sprachkenntnissen beim zuständigen japanischen Personal.223 Nakano (JICA) berichtet, dass in der Vorbereitung auf den Einsatz in den palästinensischen Gebieten keine gesonderte Schulung der japanischen JICA-Mitarbeiter etwa in interkultureller Kommunikation stattfinde,224 und der Journalist Odagiri weist auf mangelnde Ortskenntnisse auch bei beauftragten japanischen Beratern hin. 225 Immer wieder heißt es, die japanische Mentalität sei befremdlich und schwer zu verstehen, wie etwa Mansour vom palästinensischen Planungsministerium findet: »Sometimes I cannot understand the mentality of Japan. It’s been

220 Haddad, Interview, Beit Sahour, 5.10.2011. 221 Hamza (2004), S. 43f und Shaoul (1999). 222 Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008, Stark, Interview, Jerusalem, 17.1.2008 und Brown, Interview, Ramallah, 12.1.2008. 223 DAC (2010), S. 59f und Nuscheler 1990, S. 85f, 91–95. 224 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011. 225 Odagiri (2009), S. 134.

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four years that I’ve been working with them but they’re hard to understand also. Their real mentality.«226 Der israelische Japanologe Sadan sucht historische und kulturelle Wurzeln für japanisches diplomatisches Ungeschick und zieht Parallelen zu den Vermittlungsversuchen im Iran-Irak-Krieg. Dem Industrieparkprojekt räumt er jedoch bessere Chancen ein: »And they want to be praised as peacemakers, they want to but they don’t know how. […] They always make mistakes so they spend a lot of money, all over the world, not only in the Middle East, to get nothing for it. All the people continue to hate them. […] You know, the sakoku, they never had good international relations, they don’t understand the world at times. And there was the war between Iran and Iraq, they tried to mediate. And both sides, you know, cursed them. [lacht] They didn’t know how to do these things. […] They cannot understand, you know, trouble over a religious issue. And they don’t know the languages, they don’t know the culture, so they always depended on others. […] Maybe the Jordan project, they will succeed in something. They build bridges, you know…«227

Lange Zeit war von palästinensischer Seite kritisiert worden, in der japanischen Entwicklungszusammenarbeit folge eine Machbarkeitsstudie der anderen, jahrelang würden Unmengen japanischen Geldes ausgegeben, ohne dass ein Fortschritt festzustellen sei oder die Mittel überhaupt bei der palästinensischen Seite ankämen (vgl. Kap. 5.1).228 Seit der Agrarindustriepark langsam Form anzunehmen beginnt, habe die lokale Bevölkerung wieder mehr Vertrauen in das Projekt, so ein palästinensischer JICA-Mitarbeiter. 229 Im Guardian wurde wohlwollend über das Projekt berichtet230 und auch in einem ›Investment-Blog‹ »JICAs Erfolg und Geduld« als ein »Grund zur Hoffnung« bezeichnet.231 Anlässlich der Eröffnungszeremonie für die Solaranlage auf dem Industrieparkgelände titelt ein Bericht einer involvierten japanischen Stiftung überschwänglich: »Japan’s Light Reaches to the [sic] Palestine.«232 Auch bei der japanischen Regierung scheint es aber zwischenzeitlich erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten des Industrieparkprojektes gegeben zu haben, wie Fukuyama vom japanischen Vertretungsbüro im Guardian zitiert wird: »[Fukuyama] says, however, that there has

226 Mansour, Interview, Ramallah, 27.1.2008. 227 Sadan, Interview, Jerusalem, 15.1.2008. 228 Vanheule (2011), S. 15f. 229 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 230 Ford (2012). 231 Smith (2012), Übersetzung SG. 232 Qattawi (2012).

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been nervousness within the Japanese government about continuing with the project, which he admits is a way for Japan to flex its muscles in the region, not being a member of the Quartet on the Middle East…«233 Erneut wird auf die Funktion des Projekts als Hebelpunkt der japanischen Einflussnahme im Nahostkonflikt und in der gesamten Region hingewiesen. Die Idee, Japan könne sich durch die Unterstützung eines ›wirtschaftlichen Friedens‹ eine internationale Vorreiterrolle sichern und möglicherweise sogar eine Neuaufteilung der Macht im Nahen Osten zu seinen Gunsten beeinflussen, bezeichnet Odagiri angesichts der Entwicklungen vor Ort als »Irrsinn« und bloße »Einfältigkeit«.234 Durch die Besetzung eines palästinensischen Raumes soll die bisher mäßig erfolgreiche japanische Präsenz im Nahen Osten gestärkt werden. Diese Funktion kann jedoch nur erfüllt werden, wenn bekannt gemacht wird, von wem oder woher Entwicklungsgelder kommen und Projekte durchgeführt werden. Abbildung 7: Plakette Jericho Training Center

Foto: SG, Jericho, 22.1.2008.

Nakano von JICA begründet diesen Fokus auf Sichtbarkeit auch damit, dass es sich schließlich um Steuergelder handle:

233 Ford (2012). 234 Odagiri (2009), S. 140, Übersetzung SG.

226 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA »Die japanische Regierung legt natürlich schon Wert darauf, dass deutlich rübergebracht wird, dass es sich um japanische Hilfe handelt, dafür sollen wir sorgen. Na ja, es handelt sich natürlich auch um das Geld der Steuerzahler, deswegen sollte das schon richtig rüberkommen, dass dies Hilfe von den Menschen in Japan ist.«235

Auch wenn die japanischen Beschilderungen nicht das Ausmaß der USAIDWerbeplakate annehmen, wird doch einiger Wert auf die Sichtbarkeit der japanischen Entwicklungsprojekte gelegt (vgl. Abb. 7). Dazu trägt auch die Fokussierung der japanischen Projekte auf Jericho und das Jordantal bei. Durch die Konzentration der Aktivitäten auf einen begrenzten Raum steigt die generelle Sichtbarkeit japanischer Projekte in Palästina. Khatib vom JICA-Büro in Jericho beschreibt diese Strategie als erfolgreich: [SG:] Why is Japanese aid focusing on Jericho and the Jordan Valley? [Khatib:] The Japanese, as you know, want their assistance to be appeared, and they want to see the impact of their work or assistance to the Japanese taxpayer and to their government of Japan and also the Palestinian. So it’s better to focus on one area, not to distribute it and scatter your assistance, because our needs as a Palestinian are unlimited. […] And also this is from point of view, from the impact, it will be much more, when you’re focusing on one area. For the two sides, for the Palestinian and the Japanese taxpayer.236

Sicherlich findet die Fokussierung auch eine entwicklungspolitische Begründung darin, dass die einzelnen Projekte einen kohärenten Ansatz ermöglichen und sich wechselseitig synergetisch verstärken. 237 Allerdings scheint für die Außenwirkung nicht unbedingt der Inhalt der Projekte von Bedeutung zu sein, sondern vielmehr ihre demonstrativ große Zahl und Präsenz in Jericho: »Was die anderen Geber hier angeht, so denke ich, dass es zu einem gewissen Grad… also, ich denke, dass es weit bekannt ist, dass Japan sich in Jericho engagiert. Ob dies in der Form des JAIP oder des Corridor verstanden wird oder nicht, sei dahingestellt, aber ich denke schon, dass durchaus der Eindruck besteht, dass JICA in Jericho aktiv ist.«238

Erfolgreich war die japanische Entwicklungspolitik also insofern, als sie symbolisch einen Raum in Jericho und im Jordantal okkupiert und damit eine gewisse

235 Nakano, Interview, Ramallah, 19.9.2011. 236 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 237 Khatib, Interview, Jericho, 15.9.2011. 238 Nakano, Interview, Tel Aviv, 9.9.2011.

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japanische Einflusssphäre in Palästina geschaffen hat. Allein durch die jahrelange Präsenz japanischer Entwicklungsexperten, Diplomaten und Techniker in Jericho und Umgebung hat ein performativer Besetzungsprozess stattgefunden. Die Deklarierung des Corridor for Peace and Prosperity als Friedensinitiative, die Bemühungen um große Sichtbarkeit der Entwicklungsprojekte und die Behauptung einer japanischen Sonderrolle im Nahen Osten zielen ferner darauf ab, auch einen Platz im Nahostfriedensprozess zu besetzen. Wie das kritische Echo auf die japanische Entwicklungspolitik und die japanische Haltung im Nahostkonflikt zeigt, ist diese Besetzung jedoch nicht durchgehend erfolgreich, sondern vielmehr Gegenstand konfliktreicher Aushandlungsprozesse.

F AZIT : AUSHANDLUNGEN Im Corridor for Peace and Prosperity werden sowohl durch global wirksame Diskurse als auch entlang lokaler infrastruktureller Detailfragen Raumbesetzungen vorgenommen. Durch den spezifischen palästinensischen Kontext, die israelische Besatzung, den Aufbau einer Entwicklungsökonomie und die Involvierung zahlreicher internationaler Akteure sind die Möglichkeiten der Besetzungen bereits stark vorstrukturiert. Die offene Multiplizität der möglichen Geschichten wird eingeschränkt durch diese Strukturierungen, die die neuen Besetzungen in bestimmte Bahnen lenken. Dennoch ist die Aushandlung zu einem gewissen Grad weiterhin offen, verschiedene Geschichten und Verlaufslinien treffen aufeinander, Akteure versuchen ihre Ansprüche durchzusetzen, unterwandern andere Aneignungsversuche und produzieren multiple Besetzungen auf verschiedenen, miteinander verschränkten Ebenen. Die entwicklungspolitischen Wirtschaftsmodelle und Handlungsvorgaben, die in den palästinensischen Gebieten propagiert werden, stehen in den meisten Fällen in Übereinstimmung mit einem globalen neoliberalen Mainstream, führen diesen jedoch im regionalen Kontext ad absurdum. Seit der Initiierung großangelegter internationaler Entwicklungsprogramme in Palästina werden grenznahe, kooperative Industrieparks als ein erfolgversprechendes Modell zur Linderung der Arbeitslosigkeit und zur Förderung palästinensischer Industrien vorangetrieben. Allerdings sind die entwicklungspolitischen Vorteile solcher Industrieparks nicht unumstritten – vor allem, da sie die fortgesetzte Ausnutzung billiger Arbeitskraft ermöglichen, durch ihre Exportorientierung nicht zur Versorgung der von Lebensmittelimporten abhängigen Bevölkerung beitragen und die Besatzungs- und Abriegelungspolitik dauerhaft tragbar machen könnten. Angesichts der prekären Wasserversorgung im Jordantal und der mangelnden Planungs-

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sicherheit wegen israelischer Mobilitätshindernisse und Handelsbarrieren birgt gerade der wasserintensive Anbau hochwertiger Agrarprodukte für die Weiterverarbeitung und Verpackung im Agrarindustriepark und den anschließenden Export besondere Risiken. Weitere Dilemmata internationaler Entwicklungspolitik werden durch die besondere politische und administrative Situation in Palästina verschärft; die extreme Abhängigkeit der Autonomiebehörde von Auslandshilfen macht sie politisch erpressbar und internationale Hilfs- und Entwicklungsagenturen müssen sich stets der Frage stellen, ob sie durch ihre Aktivitäten nicht die Besatzungsmacht Israel von ihren Verantwortlichkeiten entheben und die Besatzung normalisieren und perpetuieren. Die geplanten Industrieparkprojekte in den besetzten palästinensischen Gebieten haben noch eine zweite Komponente, die mit einem weiteren wirkungsvollen Diskursstrang in Zusammenhang steht: Auch der Corridor for Peace and Prosperity sollte als regionales Kooperationsprojekt zum Erfolg des israelischpalästinensischen Friedensprozesses beitragen. Solche Friedensdiskurse befürworten die Zusammenarbeit der Konfliktparteien in ökonomischen Bereichen, um abseits aller politischen Probleme Vertrauen aufzubauen und über wirtschaftliche Projekte Interessensgemeinschaften herzustellen. Auf palästinensischer Seite hat sich jedoch mittlerweile ein starker Gegendiskurs formiert, der sich gegen die (vorzeitige) Normalisierung der Beziehungen zu Israel wendet, die entpolitisierenden Effekte solcher Projekte kritisiert und die Prämisse zweier ebenbürtiger Konfliktpartner bestreitet. Da die bisherige Entwicklungs- und Friedenspolitik zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht eher Verschlechterungen für einen Großteil der Bevölkerung sowohl in Palästina als auch in Israel gebracht hat, hat eben diese Politik an Glaubwürdigkeit und Unterstützung verloren. Die zunehmende ökonomische Marginalisierung vor allem in den palästinensischen Gebieten trägt ebenso wie der Besatzungsalltag, der gewaltsame Konflikt und die aus dem vielschichtigen Nebeneinander verschiedener Rechtssysteme erwachsende Rechtsunsicherheit zur prekären Lebenssituation der Bevölkerung bei. Angst vor Gewalt und die Sorge um Sicherheit prägen das Leben in Palästina/Israel in erheblichem Maße. Gleichzeitig werden die palästinensischen Gebiete in Sicherheitsdiskursen zu Räumen der Unsicherheit, des Terrors und der Gefahr, die unter Kontrolle gebracht und eingedämmt werden müssen. Seit den Osloer Verträgen wird eine Sicherheitsarchitektur aufgebaut, die auf der Trennung der Bevölkerungsgruppen nach ethnisch-religiösen Gesichtspunkten gründet und die Gefahren der dunklen palästinensischen Räume des Terrors in überschaubare und disparate Enklaven bannt. Kooperative Industrieparkprojekte wie der Corridor for Peace and Prosperity können als Element einer solchen Si-

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cherheitsarchitektur verstanden werden, die die palästinensische Arbeitskraft in kontrollierte Sonderzonen außerhalb des israelischen Staatsgebiets sperrt. Entwicklungsprojekte haben besonders in den palästinensischen Gebieten politische Implikationen und müssen immer in den Kontext der antagonistischen Rechtsansprüche auf den Zugang zu Ressourcen, Bewegungsfreiheit und die Kontrolle über verschiedengestaltige Räume eingeordnet werden. Jedes infrastrukturelle Detail und jede organisatorische Entscheidung wird hierbei zu einem höchst sensiblen und kontroversen Streitpunkt, anhand dessen weitreichende Raumbesetzungen ausgehandelt werden. Der Bau neuer Straßen etwa birgt die Gefahr, die Sperrung bestehender Straßen für Palästinenser zu ermöglichen; die Modernisierung von Checkpoints zur schnelleren Abfertigung von Personen und Waren zementiert die israelische Besatzung. Gleichzeitig versucht auch die palästinensische Seite, Entwicklungsprojekte für die Durchsetzung ihrer Ansprüche zu instrumentalisieren und etwa die Umschreibung eines Stücks Land in israelisch kontrolliertem Gebiet C zu gemeinsam kontrolliertem Gebiet B oder die Wiederöffnung eines weiteren Grenzübergangs für den Export von Agrarprodukten zu erreichen. Die politischen Implikationen entwicklungspolitischer Interventionen sind besonders kritisch im Jordantal, wo palästinensische Verfügungsrechte und Bewegungsfreiheit durch weiträumige militärische Sperrgebiete, israelische Siedlungen, Naturreservate und ein restriktives Genehmigungsregime in überdurchschnittlichem Maße eingeschränkt sind. Durch die Fokussierung der japanischen Entwicklungszusammenarbeit auf Jericho und das Jordantal hat auch eine japanische Besetzung des Gebiets stattgefunden; das alltägliche Auftreten japanischer Entwicklungsexperten, Diplomaten und Ingenieure über Jahre hinweg hat Sichtbarkeit hergestellt und performativ einen japanischen Einflussraum in Palästina geschaffen. Der Corridor for Peace and Prosperity birgt somit auch Schauplätze japanischer Politik, sowohl in dem Sinne, dass er innenpolitische Handlungsressourcen für individuelle Politiker enthält, als auch im Hinblick auf die außenpolitischen Funktionen der japanischen ›Friedensinitiative‹. Die japanische Entwicklungspolitik sowohl im Allgemeinen wie auch in Palästina sieht sich immer noch heftiger Kritik von innen wie von außen ausgesetzt, die oft als ungerecht empfunden wird. Eine diskursiv konstruierte Sonderrolle Japans in der internationalen Entwicklungspolitik sowie als Vorbild und Vermittler ohne historische Altlasten wird – gerade auch von japanischer Seite – oft bemüht und dient nicht zuletzt der Legitimierung einer einflussreichen Position, die die japanische Regierung im Nahen Osten besetzen will.

7. Besetzungen

Ausgehend von der Annahme, dass Entwicklungsprojekte Produkte diskursiver Aushandlung sind, die raumwirksame Interventionen darstellen und Raumbesetzungen verschiedener Qualität und Reichweite vornehmen, hat diese Arbeit ein aktuelles Projekt der japanischen Entwicklungszusammenarbeit in Palästina untersucht. Trotz eines stark verzögerten Projektfortschritts und spärlicher physischer Manifestationen dient der Corridor for Peace and Prosperity als Vorzeigeinitiative für eine aktivere japanische Außenpolitik im Nahen Osten, wo auch Japan eine bedeutendere und sichtbarere Position einzunehmen versucht. Das Missverhältnis zwischen seiner Repräsentation als Flaggschiffprojekt der japanischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik auf der einen und der relativen Unbekanntheit und Erfolglosigkeit des Vorhabens auf der anderen Seite weist darauf hin, dass solche Raumbesetzungen nicht immer an der intendierten Stelle und in der vorgesehenen Form wirksam werden. Die Untersuchung geht davon aus, dass diese Besetzungen nicht unbedingt das angestrebte Ergebnis einer bewussten Intervention darstellen müssen und dass sich Vorgänge außerdem fern des Interventionsortes – ohne die physische Kopräsenz verschiedener Akteure – in großer physischer oder sozialer Entfernung räumlich niederschlagen können. Des Weiteren liegt der Arbeit die Hypothese zugrunde, dass solche Besetzungen nicht notwendigerweise offensichtliche physische Gestalt annehmen müssen, sondern auch in performativer und diskursiver Form vorgenommen werden, wobei eine scharfe Trennung dieser Ebenen nicht in allen Fällen praktikabel oder sinnvoll ist. Um genauer zu analysieren, wie solche Besetzungsprozesse ablaufen, wird dennoch eine Kalibrierung vorgenommen und unterschieden zwischen Aspekten, die (1) primär diskursiv, (2) hauptsächlich performativ oder (3) vor allem durch Materialisierungen konfiguriert werden (vgl. Kap. 2.2). Diskurstheoretische Ansätze der postdevelopmentalists werden hier mit raumtheoretischen Ansätzen verknüpft, die von der sozialen Konstitution von Räumen und deren gesellschaftlicher und politischer Wirksamkeit ausgehen. Die

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Betrachtung von Raum als Produkt konflikthafter gesellschaftlicher Aushandlung schließt die Annahme ein, dass eine zunächst unbegrenzte Multiplizität von Akteuren in einem ergebnisoffenen Prozess aufeinandertrifft und eine Multiplizität von resultierenden Besetzungen möglich ist. Die konkrete Konstellation verschiedener Akteure (und ihrer Geschichten bzw. ›Verlaufslinien‹) bringt bestimmte Raumbesetzungen aus einer offenen Multiplizität von Besetzungen hervor, ist jedoch nicht alternativlos und somit erklärungsbedürftig. Gerade da Entwicklungsprojekte eine allgemeine Tendenz zur Erzeugung von bestimmten ›Instrument-Effekten‹ aufweisen, stellt sich die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass gerade die beobachteten Besetzungen und nicht alternative Möglichkeiten vorgenommen werden. Wieso ist immer wieder eine Entpolitisierung von gesellschaftlichen Problemlagen oder die Ausbreitung einer bestimmten Form von administrativer Macht in Entwicklungsprojekten festzustellen? Allerdings würde wohl kaum ein Kommentator der internationalen Entwicklungspolitik in Palästina zuallererst eine besonders große Offenheit der Situation konstatieren. Die Aushandlung der verschiedenen und vielschichtigen Besetzungen stellt zwar zu einem gewissen Grad weiterhin einen offenen Prozess dar, in dem verschiedene Akteure darum bemüht sind, ihre Ansprüche durchzusetzen und andere Aneignungsversuche zu unterwandern, aber die Entwicklungspfade und Möglichkeiten der Besetzungen sind durch den spezifischen Kontext bereits stark vorstrukturiert und eingeschränkt. Für das Verständnis der Ereignisse muss dieser Kontext der verschiedenen Akteurskonstellationen und ihrer unterschiedlichen Besetzungsmöglichkeiten also in die Analyse einbezogen werden. In den obenstehenden Kapiteln hat die Betrachtung der beteiligten Akteursfelder und vielschichtigen Besetzungsprozesse gezeigt, dass verschiedene Teilaspekte des Entwicklungsprojektes sich verknüpfen mit dem spezifischen politischen und ökonomischen Kontext der Besatzungssituation in den palästinensischen Gebieten sowie der internationalen Interventionen in der Region. Erst in diesem Zusammenhang sind die speziellen Dynamiken zu verstehen, die sich von der kontroversen Aushandlung kleinster Projektdetails bis hin zu weitreichenden Fragen der Raumnutzung und -kontrolle ergeben. Gleichzeitig lassen sich auch universelle Tendenzen identifizieren darin, wie Entwicklungsdiskurse und (raum-)planerische Eingriffe ihre Interventionsobjekte erschaffen, sich wirkungsvoll in diese Räume einschreiben und sie mit einer bestimmten Grammatik belegen. Dass die spezielle politische Lage in Palästina das Potenzial zu besonders kontroversen Problemstellungen und ethischen Ambivalenzen birgt, macht Palästina nicht unbedingt zu einem Sonderfall, sondern vielmehr zu einem Verstärker, der bestimmte Effekte der internationalen Entwicklungspolitik in zugespitzter Form aufzeigt.

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Zuallererst muss die internationale Entwicklungszusammenarbeit in Palästina als ein diskursiver Besetzungsprozess betrachtet werden, in dem ein geographisch und politisch definiertes Gebiet zu einem zu entwickelnden Raum wird. Aus einer Position externalisierter Rationalität heraus werden bestimmte Defizite und Entwicklungspotenziale identifiziert, die sich hauptsächlich auf wirtschaftliche Bereiche beziehen, im Hinblick auf den Aufbau staatlicher Institutionen eines zukünftigen palästinensischen Staates zusätzlich einen (sicherheits-)politischen Fokus haben und im Zuge globaler Trends in der Entwicklungstheoriedebatte auch humanitäre, soziale und kulturelle Aspekte berücksichtigen sollen. Im Gegensatz zu Deutschland ist Japan kaum am Aufbau von Polizei- und Sicherheitskräften für die Palästinensische Autonomiebehörde beteiligt, engagiert sich jedoch schwerpunktmäßig in einem anderen Bereich, der vom Nahostquartett unter Tony Blair als besonderer Fokus herausgestellt wurde: der Förderung der Privatwirtschaft und Industrie durch den Aufbau von Industrieparks. Entwicklungsmodelle Das Konzept solcher – meist grenznaher und kooperativer – Industrieparks nimmt also einen prominenten Platz im entwicklungspolitischen Diskurs für die palästinensischen Gebiete ein, ist jedoch keineswegs unumstritten und hat global berüchtigte Vorbilder wie die mittelamerikanischen Maquiladoras oder die jordanischen QIZ. Gerade im palästinensischen Fall drohen kooperative Industrieparks die strukturelle Ungleichheit in den Verflechtungen der israelischen und der palästinensischen Wirtschaft fortzuschreiben. So wird die Ausnutzung billiger palästinensischer Arbeitskraft weiterhin ermöglicht, ohne große Perspektiven für den Aufbau eigener palästinensischer Industrien zu bieten. Seine Exportorientierung macht den geplanten Agrarindustriepark in Jericho zudem sehr anfällig für israelische Grenzschließungen und andere Abriegelungsmaßnahmen, während die hier produzierten cash crops wenig zur Versorgung der von Nahrungsmittelimporten und -hilfen abhängigen Bevölkerung beitragen könnten. Diese Gefahren lassen sich am Schicksal ähnlicher Projekte im mittlerweile dauerhaft isolierten Gazastreifen deutlich erkennen. Solcher Bedenken zum Trotz dominieren vergleichbare neoliberale Entwicklungsmodelle immer noch den Entwicklungsdiskurs und die internationale Entwicklungszusammenarbeit in Palästina, wo kritische Stimmen bereits zum Boykott ausländischer Hilfsleistungen und Entwicklungsprojekte aufrufen. Rottenburg erklärt die Produktion solch absurder Projektresultate nicht durch die Handlungen bestimmter – an ihrer Entwicklungsaufgabe scheiternder – Akteure, sondern durch Prozesse der Wissensproduktion und –verhandlung, die in der Entwicklungszusammenarbeit selber angelegt sind: In der Kommunikation der

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Projektbeteiligten und in der Aushandlung ihrer Beziehungen und Entscheidungen werden durch die Verwendung von ›Metacodes‹ Repräsentationen und Wissenssysteme objektiviert, um die hegemoniale Position der Geberseite auszublenden und somit die Möglichkeit der Kooperation aufrechtzuerhalten. 1 In Palästina treten solche Mechanismen der Wissensproduktion und Wirkmächtigkeit globaler Entwicklungsmodelle vor dem Hintergrund multipler Ungleichheiten besonders deutlich zutage. Sie müssen als primäre diskursive Besetzungsprozesse verstanden werden, die Räume mit einer grundlegenden Ordnung belegen und innerhalb dieser ›Entwicklungsgrammatik‹ gravierende Eingriffe in Wirtschaft, Politik, Ressourcenverteilung und Sicherheitsregime ganzer Regionen und Gesellschaften ermächtigen, ohne sich als entsprechend manifeste Interventionen selbst zu offenbaren. Das palästinensische Beispiel zeigt also Mechanismen auf, die sich auch in anderen Entwicklungsprojekten erkennen lassen, insbesondere in den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des IWF: Letztere haben seit den 1980er Jahren in einer Reihe hochverschuldeter arabischer Ländern neoliberale Reformen durchgesetzt, und zwar den sukzessiven Abbau von staatlichen Subventionen zum Beispiel für Lebensmittel und Energieversorgung, massive Stellenstreichungen im öffentlichen Sektor und die Privatisierung staatlicher Betriebe und Infrastruktur. Die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen haben bereits in der Vergangenheit wiederholt zu politischen Unruhen wie den sogenannten ›Brotpreisaufständen‹2 geführt und müssen als ein zentraler Faktor für die Umbrüche in der arabischen Welt seit 2011 betrachtet werden. Während die Hamas im Gazastreifen eine alternative Widerstandsökonomie entwirft, die auf islamischen Prinzipien basiert und die staatskapitalistischen Mechanismen der Autonomiebehörde ablehnt,3 folgt diese im Westjordanland generell den westlichen Entwicklungsleitlinien des Washington Consensus. Das neoliberale Programm mit dem Titel »Ending the Occupation, Establishing the State«, das der ehemalige Premierminister Fayyad (ein früherer Weltbankmitarbeiter und Repräsentant des IWF bei der PA) 2009 vorgestellt hat, illustriert diesen Trend. Es bleibt jedoch unklar, wie die Empfehlungen von Sozialabbau, Investitionsförderung und internationalem Handel nach dem Vorbild von Freihandelszonen wie Hongkong oder Singapur sowie die Ausnutzung des »komparativen Vorteils billiger, gut ausgebildeter Arbeiterkräfte« angesichts der israelischen Besatzungs-

1

Rottenburg (2002).

2

Vgl. Gertel (2010).

3

Hofmann (2011), S. 162.

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und Blockadepolitik überhaupt fruchten können.4 Trotz ordnungsgemäßer Budgetkürzungen ist die Haushaltslage der Palästinensischen Autonomiebehörde düsterer denn je und der Aufbau eigener Industrie- und Wirtschaftszweige in weiter Ferne. Entwicklungspraxis und Japans Sonderrolle Die diskursive Festschreibung entwicklungspolitischer Vorgaben wird verstärkt durch eine performative Alltagspraxis in den Entwicklungsinstitutionen, die sich an gewohnten Verfahrensweisen und bürokratischen Vorschriften orientiert und ihren Interventionen somit eine gewisse Selbstverständlichkeit verleiht. Institutionelle Mechanismen und bürokratische Routinen tragen dazu bei, das Zustandekommen von Entscheidungen und insbesondere deren Willkürlichkeit unsichtbar zu machen und soziale Akteure und handelnde Personen hinter dem Anschein eines rationalen Planungsprozesses zu verstecken. 5 Strukturell verfestigte Verfahrensweisen prägen in besonderem Maße die Form und Verteilung der japanischen Entwicklungszusammenarbeit – die Arena, in der Akteure im japanischen ›Eisernen Dreieck‹ aus Bürokratie, Regierung und Großunternehmertum ihre Reviere abstecken und auch Besetzungen palästinensischer Räume vornehmen. Von Beginn an stand die japanische Entwicklungspolitik unter dem Einfluss der eigenen Wirtschaft, doch diese relativ einseitige Orientierung wurde mit der Zeit zumindest teilweise aufgegeben. So wurde etwa die Liefergebundenheit von ODA-Krediten an japanische Auftragnehmer auf internationalen Druck hin schrittweise gelöst. Noch immer ergeben sich jedoch durch die engen Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Bürokratie in Japan – zum Beispiel durch die Praxis des amakudari und durch die Rolle von Keidanren, der Quangos und des METI im Entwicklungsapparat – zahlreiche Einfluss- und Gewinnmöglichkeiten für die Privatwirtschaft. Vor allem Consulting-Firmen profitieren von ihrer starken Einbindung in Prozesse der Projektfindung und -durchführung und können wiederum als informeller Mechanismus der Lieferbindung bereits in der Antragsformulierung dafür sorgen, dass japanische Unternehmen als Auftragnehmer ausgewählt werden. Auch innerhalb der Bürokratie des Entwicklungsapparates können beteiligte Akteure – vor allem höhere Funktionäre – Eigeninteressen verfolgen: So bieten undurchsichtige Finanzkanäle Möglichkeiten zur persönlichen Vorteilsnahme und Politiker können durch die Verteilung großer ODA-Pakete im Ausland ihr politisches Profil schärfen. Angesichts der großen Macht der Ministerialbürokratie und der mangelnden parlamentarischen Kontrol-

4

Bond (2011) und Khalidi & Samour (2011).

5

Vgl. auch Escobar (1995), S. 118–123.

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le werden der japanischen Entwicklungspolitik zudem Demokratiedefizite bescheinigt. Zwischen einzelnen Behörden des Entwicklungsapparates finden ständige Revierkämpfe (nawabari arasoi) statt, wobei diese Ressortrivalitäten durch die jüngsten Reformen und die Schaffung der ›neuen JICA‹, die alle entwicklungspolitischen Funktionen unter dem Dach einer einzigen Agentur vereint, in Zukunft vielleicht abgeschwächt werden. Weitere institutionelle Mechanismen, die sich auf die Formulierung der japanischen Entwicklungspolitik auswirken, sind der jährliche Budgetzyklus und das Ringi-sho-Entscheidungssystem, das auch dazu beiträgt, die persönliche Verantwortung einzelner für Entscheidungen zu vermeiden (vgl. Kap. 5.5). Weit entfernt von Palästina und dem gesamten arabischsprachigen Raum finden bürokratische und institutioneninterne Besetzungsvorgänge statt, die eng mit der Verteilung von Ressourcen und dem Abstecken von Einflusssphären zusammenhängen. Vordergründig haben diese Raumbesetzungen kaum etwas mit den Verhältnissen in Palästina/Israel zu tun, sie sind vielmehr Teil innerjapanischer Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Unternehmen, Behörden und Politikern. Sie bleiben jedoch keineswegs ohne Auswirkungen in Palästina, wo sie sich als sachliche und objektive Ergebnisse rationalisierter, institutioneller Entscheidungsprozesse darstellen, die sich an den palästinensischen ›Entwicklungsbedürfnissen‹ orientieren. Eine Reihe von Geberländern verfolgt Industrieparkprojekte im palästinensischen Westjordanland und hat hierbei die Gebiete regelrecht untereinander aufgeteilt. War Deutschland zunächst in der Nähe von Jenin aktiv, so hat Frankreich einen Industriepark bei Bethlehem gebaut und Japan sich Jericho und das Jordantal als Hauptbetätigungsfeld auserkoren. Das wichtigste Argument für diese Wahl von japanischer Seite scheint der vergleichsweise hohe Grad an Sicherheit und Stabilität in der Stadt zu sein (vgl. Kap. 6.3). Die jahrelange Präsenz japanischer Entwicklungshelfer, Techniker und Diplomaten hat deutlich dazu beigetragen, Jericho als japanischen Entwicklungsraum zu prägen und diesen Eindruck auch unter den anderen Geberländern zu verbreiten. Bei diesem Besetzungsprozess stehen also neben diskursiven vor allem performative Aspekte im Vordergrund. Mit Slogans wie ›aid with a face‹ und ›flying the flag‹ (vgl. Kap. 3.4) ist ein verstärktes Flaggezeigen zur Handlungsmaxime japanischer Entwicklungszusammenarbeit geworden. Die Sichtbarkeit der japanischen Aktivitäten wird verstärkt durch die Konzentration der japanischen Entwicklungsprojekte auf die Stadt Jericho und das Jordantal – ein Ansatz, der neben einer synergetischen Kohärenz der Projekte eben diese demonstrative Wirkung zum Ziel hat. Die performative Raumwirksamkeit des alltäglichen Auftretens stellt also zu einem gewissen Grad einen intendierten Besetzungsvorgang dar.

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Ein weiterer – hauptsächlich diskursiver – Besetzungsprozess vollzieht sich im Rahmen japanischer Selbststilisierung als historisch und ethnisch exklusiver Player auf dem nahöstlichen Spielfeld. Alleinstellungsmerkmale gegenüber anderen Geberländern werden herangezogen und asiatische Gemeinsamkeiten betont. Japan wird eine Sonderrolle zugeschrieben, deren konstruierte Charakteristika teilweise an Motive des nihonjin-ron (vgl. Kap. 6.5) erinnern: ›Gelbgesichter‹ ohne befremdende »blue eyes and blond hair«6, ein neutraler Vermittler ohne historische Altlasten, seit dem Sieg gegen Russland 1905 ein fortschrittliches Entwicklungsvorbild für andere asiatische Länder und zudem mit seinen vom entwicklungspolitischen Mainstream abweichenden Herangehensweisen ein Wegbereiter in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. In der internationalen Gebergemeinschaft beanspruchte Japan zu Beginn der 1990er Jahre zum ersten Mal eine intellektuelle Führungsrolle, als es im Konflikt um den Ostasienbericht die Entwicklungsparadigmen der Weltbank herausforderte (vgl. Kap. 3.3). Ein Ziel der japanischen Außen- und Entwicklungspolitik in den letzten Jahren ist die Erlangung eines festen Sitzes im UN-Sicherheitsrat. Gleichzeitig ermöglicht die Entwicklungszusammenarbeit dem Land, seine Beziehungen zu den wichtigsten Energielieferanten zu pflegen und seine wirtschaftlichen Interessen in der Region zu wahren. Um diese strategische Komponente wurde die japanische Entwicklungszusammenarbeit bezeichnenderweise vor allem nach der ersten Ölkrise von 1973, einem einschneidenden Ereignis in der japanischen Nachkriegsgeschichte, erweitert. An der Konstruktion einer japanischen Sonderrolle sind insbesondere auch japanische Politiker aktiv beteiligt, die ein größeres Gewicht des Landes im Nahostfriedensprozess beanspruchen und in diesem Rahmen den Corridor for Peace and Prosperity als eigene japanische Friedensinitiative bewerben. Die vergleichsweise reaktive Außenpolitik der Vergangenheit soll zugunsten eines selbstbewussteren, ›pro-aktiveren‹ Auftretens aufgegeben werden, etwa durch den Einsatz der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte in ausländischen Krisengebieten oder eben die Durchführung aufsehenerregender Entwicklungs- und Friedensprojekte im Nahen Osten. Allerdings kursieren in den Bewertungen japanischer Entwicklungszusammenarbeit noch immer alte Vorbehalte und ethnisierende Stereotypien: So werden Japaner in Palästina nicht selten als ahnungslose, naive und etwas eigenartige Fremdlinge beschrieben; ihre Entwicklungszusammenarbeit im Allgemeinen diene nur der Förderung der eigenen Exportwirtschaft, sei ineffektiv, intransparent und von schlechter Qualität. Solche Kritik wird in Japan häufig als ungerecht empfunden, was zu den forcierten Bemühungen um Imagepflege beiträgt –

6

Asō Tarō zitiert in McCurry (2007).

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wie sie etwa in der großen medialen Präsenz zu Beginn des geplanten Agrarindustrieparks sichtbar wird. Die gemischte Resonanz, auf die die japanischen Bemühungen in Palästina treffen, weist jedoch darauf hin, dass die japanische Besetzung von Entwicklungsräumen in Palästina nur teilweise erfolgreich ist und Gegenstand kritischer Aushandlungen bleibt. Raumbilder und Entpolitisierung Der Corridor for Peace and Prosperity fügt sich ein in das Konzept des Arc of Freedom and Prosperity (vgl. Kap. 3.5) des ehemaligen Außenministers Asō Tarō, das für die oben geschilderte aktivere Außenpolitik stehen soll und mit einer symbolträchtigen Darstellung (vgl. Abb. 8) illustriert wird: In heiligenscheinähnlicher Ästhetik legt sich ein strahlendes, goldenes Band gemeinsamer Werte von Freiheit und Wohlstand von Japan ausgehend um den eurasischen Kontinent und umschließt dabei auch den Nahen Osten. Dieses Raumbild erinnert nicht nur an die Achsenrhetorik des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush, sondern weckt auch Assoziationen an die ›Asian-values‹-Debatte, die in den 1990er Jahren Hochkonjunktur hatte (vgl. Kap. 3.3). Saaler und Szpilman sehen darin allerdings eine neue Form des Pan-Asianismus, der auch ultranationalistische Politiker wie der ehemalige Bürgermeister von Tokyo Ishihara Shintarō anhängen, um ihren anti-westlichen Ressentiments Ausdruck zu verleihen bzw. den japanischen Imperialismus des letzten Jahrhunderts im Nachhinein in ein positiveres Licht zu rücken.7 Die Rufe nach einer ›Rückkehr nach Asien‹ in den 1990er Jahren können auch als eine neue Form des Kulturessentialismus gewertet werden, die teilweise den nihonjin-ron ersetzt oder modifiziert.8 Das Postulat eines gemeinsamen asiatischen Kulturerbes ist zentraler Bestandteil der von japanischen Politikern beanspruchten, selbstexotisierenden Sonderrolle Japans im Nahen Osten. Karten und andere visuelle Darstellungsmittel sind machtvolle Repräsentationsformen, mit denen spezifische und auch höchst politische Raumbilder quasi wortlos, intuitiv und damit besonders wirkungsvoll transportiert werden können. Das Spektrum kartographischer Darstellungen der Region Israel/Palästina stellt angesichts der antagonistischen Territorialansprüche auf diese Gebiete bereits ein Politikum an sich dar und enthält viele höchste exklusive Versionen, die konkurrierende Ansprüche ausschließen, so etwa Karten von ›Großisrael‹ oder ›Gesamtpalästina‹.

7

Saaler & Szpilman (2011b), S. 68–71.

8

Vgl. Nakata Steffensen (2000).

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Abbildung 8: »Arc of Freedom and Prosperity«

Quelle: MOFA (2007b), S. 2.

Die Darstellung des Jordantals und des Toten Meeres im Werbefilm für das Valley-of-Peace-Projekt (vgl. Kap. 4.5) wiederum zeichnet sich durch seine Ausblendung jeglicher politischer Grenzen und Zuschreibungen aus. Der dadurch erreichte entpolitisierende Effekt wird verstärkt durch die Fokussierung auf eine natürliche Problematik – das Austrocknen des Toten Meeres und eine karge Wüstenlandschaft – und ihre technischen Lösungsmöglichkeiten: den Bau eines Kanals, von Wasserentsalzungsanlagen, umweltfreundlichen Kraftwerken, Verkehrsadern und touristischer Infrastruktur. Die Animation des Films folgt dem geplanten Kanalbau aus der Vogelperspektive auf dem Flug gen Norden und verwandelt die karge braune Wüste in blühende grüne Landschaften mit blauen Gewässern – sogar inklusive eines zoologischen Gartens. Durch die Behebung der naturräumlichen Problemursachen werden ein wirtschaftlicher Aufschwung, eine aktive Freihandelszone, großflächige Agrarwirtschaft und moderne Urbanität entlang des Kanals und des Toten Meeres versprochen; schließlich werde die

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erfolgreiche Kooperation die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen bilden und auch das friedliche Zusammenleben der Anrainervölker befördern. Gegen Ende des Präsentationsfilms wehen israelische, jordanische und palästinensische Flaggen einträchtig vor einem schicken Hotel- und Konferenzzentrum; traditionell arabisch und modern gekleidete Männer schütteln sich jovial die Hände.9 Keine politischen Grenzen oder spezifischere Indikatoren dessen, wer welche Form der Kontrolle über welches Gebiet ausübt, sind in den Bildern zu erkennen. Diese Repräsentation vermittelt den Eindruck, die Lösung technischer und physischer Probleme könne sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Probleme und Konflikte der Region beheben. In welchen politischen und sozialen Kontext sich die Zukunftsutopie hineinbegibt, welche Machtverhältnisse vorherrschen und wer die größte Kontrolle über den Raum und somit auch die Projektimplementierung ausübt, bleibt jedoch unklar. Einen Gegenentwurf stellt die Karte »L’Archipel de Palestine Orientale« von Julien Bousac dar, die 2009 in der französischen Zeitung Le Monde Diplomatique abgedruckt wurde. Auf der Grundlage von Kartenmaterial der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem und vom Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UNOCHA) präsentiert diese Karte das palästinensische Westjordanland als ein fragmentiertes Archipel disparater Inselchen. Meere israelisch kontrollierter Gebiete trennen die Abschnitte unter vollständiger oder teilweiser palästinensischer Kontrolle. Besonders auffällig ist die separate Lage der ›Ostinsel‹ (Ile de L’Est) mit der Stadt Jericho, die relativ einsam im ›Jordanischen Ozean‹ (Océan Jordanique) liegt – das Jordantal ist ein großer Ozean israelischer Kontrolle. Auf den ersten Blick erscheint die natürliche Landschaftsrepräsentation aus dem Werbefilm intuitiv realitätsnäher; sie entspricht den aus Satellitenbildern, Google Earth und eigenen Landschaftserfahrungen gebildeten Seherwartungen eher als die verfremdete Archipelversion. Das Beige des Sandes, das Blau des Wassers, das sich mit der technischen Lösung ausbreitende Grün der Pflanzen – all diese Eindrücke korrespondieren mit den unausgesprochenen Erwartungen an einen Naturraum und entsprechenden Sehgewohnheiten von Menschen, denen das Lesen von Landkarten mit den entsprechenden Kodierungen zur zweiten Natur geworden ist. Für die einheimische Bevölkerung jedoch trifft möglicherweise die verfremdete Archipelkarte genauer die gelebte Alltagserfahrung, die weniger von frei durchquerbaren Wüsten-, Fluss-, Tal- und Gebirgsfluchten geprägt ist als von der Kompartimentierung in abgeschottete kleine Souveränitätsinseln, die nicht immer gut durch Verkehrsadern miteinander verbunden und erreichbar sind.

9

Viewpoint (2007).

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Die bildliche Repräsentation des Westjordanlands in den beschriebenen Entwicklungsvisionen bildet diese Geographien der Ungleichheit und Unfreiheit nicht ab. Die Vermittlung und Verbreitung bestimmter Raumsemantiken durch kartographische Darstellungen stellt einen wirkungsmächtigen Bestandteil diskursiver Besetzungsprozesse dar, die zum entpolitisierenden Effekt entwicklungspolitischer Rhetorik beitragen. Auch Projektbroschüren für den Corridor for Peace and Prosperity präsentieren eine grobe Markierung von möglichen – oft illusionären – Exportkorridoren und weiträumig eingekreisten Bereichen für »confidence building«. Die Darstellungen von Zielländern und Projektgebieten in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tendieren dazu, diese als einen abgeschlossenen, naturgegebenen Raum zu reifizieren und dabei die aktive Rolle der Entwicklungsorganisationen selbst diskursiv zu verschweigen. 10 Die Repräsentation problematischer Räume konzentriert sich dabei auf physische und technische Missstände, statt nach Ursachen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen und politischen Unterdrückungsregimes zu suchen – ein Effekt, den Ferguson als »anti-politics machine«11 bezeichnet (vgl. Kap. 2.1). Der Wassermangel im Jordantal und das Austrocknen des Toten Meeres, das durch ein gigantisches Milliardenprojekt behoben werden soll, sind beispielsweise keineswegs rein natürliche Probleme, sondern liegen in menschlichem Handeln, etwa in der übermäßigen Wasserentnahme aus dem Oberlauf des Jordans, begründet. Die Betrachtung durch eine technizistische Brille verliert aus den Augen, wer Kontrolle über die Wasserressourcen ausübt und Genehmigungen zum Brunnenbau ausstellt sowie welche gesellschaftlichen und politischen Ursachen und korrespondierenden Lösungsmöglichkeiten bestehen. Im palästinensischen Kontext, der vom destruktiven Einfluss der israelischen Besatzungs- und Abriegelungspolitik auf die Wirtschaft geprägt ist, zeigen sich allerdings auch spezielle Dilemmata der Entwicklungspolitik. So besteht die Gefahr, dass die internationale Entwicklungszusammenarbeit zur Aufrechterhaltung der Besatzung beiträgt, indem sie sie auf Dauer tragbar macht und die Besatzungsmacht von ihren eigentlichen Verpflichtungen gegenüber der besetzten Bevölkerung entbindet. Internationales Recht wird zu einer weiteren Arena, in der beständig die Legitimität der israelischen Palästinapolitik, des Mandats der PA und nicht zuletzt auch der internationalen entwicklungspolitischen Interventionen verhandelt wird. Entwicklungsdiskurse tragen dazu bei, die grundlegenden Probleme der palästinensischen Wirtschaft – nämlich die politischen Ursachen, die israelische Besatzung und Abriegelung sowie eine dualistische

10 Vgl. auch Mitchell (1995)/(2002), S. 209–243. 11 Ferguson (1994).

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Gesellschaftsstruktur – unsichtbar zu machen, indem sie auf technische Probleme mit technischen Lösungsmöglichkeiten – seien es Industrieparks oder mit modernen Scannern aufgerüstete Checkpoints – reduziert werden.12 Krieg und Frieden Der politische Konflikt in Israel/Palästina prägt die internationale Entwicklungszusammenarbeit auch insofern, als sie seit Beginn des Friedensprozesses eng mit dem regionalen Diskurs um Frieden und grenzübergreifende wirtschaftliche Zusammenarbeit verknüpft ist: Wirtschaftliche Entwicklung und die Kooperation auf geschäftlicher Ebene sollen dazu beitragen, ökonomische Anreize für politische Kompromisse zu schaffen, wirtschaftliche Allianzen zu schmieden und durch die unpolitische Kooperation Vertrauen und Interessensgemeinschaften zu bilden (vgl. Kap. 6.2). Gerade die Omnipräsenz des Schlagworts ›Frieden‹ etwa in Projekt-, Organisations- und Veranstaltungsnamen lässt den Konflikt allgegenwärtig erscheinen. Diskursiv wird Israel/Palästina so – wenn auch in einer pervertierten Form – zum ›Friedensraum‹. Auch das untersuchte Fallbeispiel trägt – ähnlich wie das Valley of Peace – das Label ›peace‹ im Titel: der Corridor for Peace and Prosperity. Es wird jedoch nicht eindeutig ersichtlich, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit bisher überhaupt eine friedensfördernde Wirkung bewiesen hat. Vielmehr nehmen die Stimmen zu, die eben solche Friedens- und Kooperationsprojekte für die zunehmende Marginalisierung weiter Bevölkerungsteile und für deren letztendliche Ablehnung des Friedensprozesses verantwortlich machen. Es sind gerade die Verflechtungen der palästinensischen mit der israelischen Wirtschaft, die zur ökonomischen Abhängigkeit Palästinas, der wirtschaftlichen Stagnation, den horrenden Verbraucherpreisen und hohen Arbeitslosenquoten beitragen. Diese Situation hat sich durch die Abkommen des Osloer Friedensprozesses noch verschlimmert. Der Entpolitisierungseffekt der Entwicklungspolitik erfährt geradewegs eine Verstärkung durch Friedensdiskurse, die handfeste territoriale und wirtschaftliche Grundstrukturen des Nahostkonflikts hinter dem Bild zweier irrationaler, hitzköpfiger und ebenbürtiger Streitparteien zurücktreten lassen. Auf arabischer Seite hat sich ein starker Gegendiskurs, der Taṭbīʿ-Diskurs gebildet, der eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel vor einer Lösung des politischen Konflikts ablehnt. Diese Position wird nicht selten unter Extremismusverdacht gestellt und als friedensfeindlich, islamistisch oder terroristisch diskreditiert. Auch im Westjordanland sehen sich Gegner der gegenwärtigen PA-Politik

12 Vgl. auch Lagerquist (2003, S. 6), der zu einem ähnlichen Urteil über Industrieparkprojekte in den palästinensischen Gebieten kommt.

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(und letzten Endes des Friedensprozesses) immer härteren Repressionen ausgesetzt; die Meinungs- und Pressefreiheit wird zunehmend eingeschränkt. Entwicklungs-, Friedens- und wirtschaftliche Kooperationsprojekte bieten im halb-rechtsfreien Raum dysfunktionaler israelisch-palästinensischer Handelsabkommen und willkürlicher Besatzungspolitik zahlreiche Profitmöglichkeiten für einflussreiche Netzwerke palästinensischer und israelischer Geschäftsleute, Politiker und Militärs (vgl. Kap. 5.2 und 5.3). PA-Funktionäre und ihnen nahestehende Unternehmer konnten sich in den 1990er Jahren beim Import von Gütern wie Zement und Tabak in monopolähnliche Positionen bringen. Für israelische Unternehmer, die sich teilweise auch öffentlich stark für den Friedensprozess einsetzten, war dieser außerdem wichtig, um den internationalen Israelboykott zu beenden, neue Absatzmärkte zu erschließen und ausländische Investoren anzulocken. Im Fall der neuerdings blühenden israelisch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen beispielsweise scheint die Strategie gut aufgegangen zu sein. Zusätzlich ergeben sich aus der Besatzungssituation in Verbindung mit dem israelischen Sicherheitsdiskurs profitable Betätigungsfelder etwa für israelische Sicherheitsund Logistikfirmen, die die Abwicklung und den Transport palästinensischer Waren übernehmen und deren Einbindung auch für den Agrarindustriepark bei Jericho im Gespräch ist. Für kleine und mittlere Unternehmen in den palästinensischen Gebieten (und auch in Israel) brachte der Friedensprozess eher eine zusätzliche Marginalisierung mit sich. Ihre Handlungsspielräume laufen Gefahr, durch ein Projekt wie den geplanten Agrarindustriepark in Jericho zusätzlich eingeschränkt zu werden, wenn zukünftige Investitionen immer mehr auf solche privilegierten Infrastrukturinseln beschränkt werden, die für Betriebe kleinerer Größe nicht vorgesehen sind. Auch für die palästinensische Bevölkerung werden aller Voraussicht nach lediglich schlecht bezahlte Arbeitsplätze im Industriepark entstehen. Als Arbeitern drohen den Menschen weitere Einschränkungen durch die besseren Kontrollmöglichkeiten in solchen Industrieparks – nicht zuletzt auch durch die geplante Beteiligung von Arbeitsvermittlungsfirmen und die mögliche Einführung von speziellen Passierscheinen durch die israelische Militärverwaltung. In dieser Hinsicht können die Industrieparkprojekte in den palästinensischen Gebieten zu einem integralen Teil der israelischen Sicherheitsarchitektur werden, der es beispielsweise erlaubt, Palästinenser für israelische Firmen arbeiten zu lassen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, ihnen die Einreise nach Israel selbst zu genehmigen. Um wenigstens partielle Mobilität und Exportfähigkeit zu gewährleisten, sollen im Rahmen von Entwicklungsprojekten Scanner und andere Sicherheitstechnologie an Checkpoints und Grenzübergängen aufgerüstet werden.

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In Bezug auf den Corridor for Peace and Prosperity und andere internationale Entwicklungsprojekte im Jordantal vertritt Vanheule allerdings die Meinung, dass hier weniger der Aspekt der ›Entwicklung‹ als technokratisches Mittel der Bevölkerungskontrolle von Bedeutung ist als das Bedürfnis der Geberländer, einen gewissen Schein aufrechtzuerhalten. Die israelische Besatzung habe es schließlich weder nötig, ihre bereits ausreichend etablierte Kontrolle über das Jordantal durch Entwicklungsprojekte zu festigen, noch trügen die häufig gescheiterten Entwicklungsprojekte in irgendeiner Form zur Befriedung der Bevölkerung bei, die vielmehr ihrer Wut über solche Projekte oft genug Ausdruck verleihe. Das erkläre auch, warum Israel allgemein als Haupthinderungsgrund für den Fortschritt bei der Etablierung des japanischen Agrarindustrieparks angesehen wird, obwohl sich das Projektdesign in vielerlei Hinsicht nach israelischen Interessen auszurichten scheine. 13 Viele Kritiker vertreten ebenfalls die Meinung, dass internationale Entwicklungsprojekte in den palästinensischen Gebieten eher als Feigenblatt für das Scheitern des Friedensprozesses und für die ambivalente Haltung der internationalen Gemeinschaft im Hinblick auf die israelische Besatzung dienen. 14 Der Erklärungsansatz ist durchaus überzeugend; allerdings sind es nicht nur die Geberländer und internationalen Entwicklungsorganisationen, die den Schein aufrechterhalten, selbst das israelische Außenministerium präsentiert die Industrieparkprojekte als einen Teil seiner ›Unterstützung‹ für die palästinensische Bevölkerung.15 Unsicherheit und performative Normalisierung Generell spielen Sicherheitsaspekte sowohl in der israelischen Palästinapolitik als auch in der zunehmenden ›securitization‹ der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Palästina eine gewichtige Rolle, etwa bei der Aufrüstung von Scannern und anderen Sicherheitstechnologien, dem Training und der Ausstattung von Sicherheitskräften der Palästinensischen Autonomiebehörde und deren Kooperation mit der israelischen Seite. Auch in der japanischen Entwicklungspolitik findet eine Verknüpfung von außenpolitischer Sicherheitspolitik (›Krieg gegen den Terror‹ etc.) und entwicklungspolitischen Konzepten der ›menschlichen Sicherheit‹ und des ›peace building‹ statt. Während einerseits die Lebensbedingungen für die palästinensische Bevölkerung von zahlreichen Unsicherheiten geprägt sind, die teilweise direkt Leib und Leben bedrohen, werden die palästinensischen Gebiete andererseits als dunkle Terror- und Gefahrenräume dis-

13 Vanheule (2011), S. 18ff. 14 Vgl. etwa Ibrahim (2011), Le More (2008), Taghdisi-Rad (2011) u. Vanheule (2011). 15 Ministry of Foreign Affairs, Israel (2012).

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kursiv mit Unsicherheit besetzt (vgl. Kap. 6.3). Auf subtilere Weise findet diese Besetzung auch performativ statt, etwa durch racial profiling und die Kategorisierung von Sicherheitsrisiken nach ethnischen Gesichtspunkten seitens israelischer Sicherheitskräfte16 oder durch das Auftreten und die Sicherheitsstandards internationaler Organisationen. JICA-Mitarbeiter, die täglich in panzerglasgeschützten Jeeps vom sicheren Hafen Tel Aviv nach Jericho – in ›die Gebiete‹ – pendeln, tragen somit unabsichtlich durch ihre Handlungen und Bewegungsmuster zur Besetzung der palästinensischen Gebiete als unsichere Räume bei. Komplementär zu den Sicherheitsvorkehrungen der Ausländer haben die alltägliche Praxis des Checkpointüberquerens, das stundenlange Anstehen, das Gedränge, die Durchsuchungen, die Ausweiskontrollen, die Willkür der Soldaten, die Unberechenbarkeit von fliegenden Checkpoints und die Abhängigkeit von speziellen Ausweispapieren, Sonder- und Reisegenehmigungen den Habitus vieler Palästinenser geprägt. Das Gefühl der Unsicherheit ist so dominant, dass viele sich in vorauseilendem Gehorsam selbst in ihrer Mobilität einschränken, auch wenn für den Moment die Straßen vergleichsweise frei sein mögen. Viele Palästinenser haben die Besatzung schon so weit verinnerlicht, dass sie vorsichtshalber Hauptstraßen umgehen und lieber auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, da sie ohnehin davon ausgehen, unterwegs vielen Hindernissen zu begegnen.17 Oder sie vermeiden es nach Möglichkeit gleich, bestimmte längere Strecken zurückzulegen, selbst wenn die betreffenden Checkpoints und Straßensperrungen in diesem Moment nicht aktiv oder sogar abgebaut sind. Die Ungewissheit und allgemeine Rechtsunsicherheit verstärken das Gefühl des Ausgeliefert- und Eingeschlossenseins zusätzlich (vgl. Kap. 6.3).18 Der Alltagspraxis in Entwicklungsorganisationen im Umgang mit der Konfliktsituation in Palästina kommt ebenfalls eine performative Besetzungsfunktion zu. Durch die routinierte Bewältigung der fortgesetzten Hindernisse und Schwierigkeiten, die der Entwicklungszusammenarbeit in Palästina aus den legalen, administrativen, physischen und praktischen Einschränkungen durch die israelische Besatzungspolitik erwachsen, wird letztere zum Teil des Alltagsgeschäftes gemacht und dadurch normalisiert. Im Kampf um kleine bürokratische Siege, etwa für eine Baugenehmigung oder eine minimale Anpassung des Sperranlagenverlaufs, kann schnell das große Ganze der Besatzungspolitik aus den Augen verloren werden.19 Kritiker wenden sich dementsprechend dagegen, in der Ent-

16 Vgl. Hever (2010), S. 162f. 17 Shearer & Meyer (2005), S. 173. 18 Weizman (2008), S. 160f, 201–236. 19 Vgl. Anderson (2005), S. 145f.

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wicklungszusammenarbeit überhaupt Genehmigungen von israelischer Seite – im vorliegenden Fall zum Beispiel für den Bau von Zufahrtsstraßen, die Nutzung der Route 90 oder die Bewirtschaftung von Baugrund – anzufordern und dem Besatzungsregime somit zu einer gewissen Legitimität zu verhelfen.20 Der alltägliche Umgang mit den bürokratischen Hürden der israelischen Militärverwaltung führt auch zu einer Gewöhnung daran, dass in ein und demselben Territorium für bestimmte Bevölkerungsgruppen ganz andere Rechte und Gesetze gelten. In den palästinensischen Gebieten herrscht ein vielschichtiges Nebeneinander von Rechtssystemen, das großer Rechtsunsicherheit und Willkür Vorschub leistet. Diese Rechtsräume sind fragmentiert, teilweise miteinander verschränkt oder hierarchisch angeordnet (vgl. Kap. 6.3). Die Einteilung von Bevölkerung und Räumen in unterschiedliche Gruppen – etwa gemäß den Zonierungen der Osloer Friedensverträge oder nach Terrorismuspotenzial, ermittelt anhand demographischer und anthropologischer ›Risikofaktoren‹ – bezeichnet Hanafi als »segmentation« im Sinne einer Machttechnik Foucault’scher Biopolitik. Die weiträumige Zerstörung von palästinensischem Wohnraum und Anbauflächen, den Ausbau israelischer Siedlungen, die Institutionalisierung ökonomischer Abhängigkeiten sowie die Willkür und Unberechenbarkeit des Ausnahmezustands identifiziert Hanafi als weitere israelische Besatzungspraktiken nach der Logik des »spatio-cide«: Dieses Prinzip ziele weder auf die Vernichtung noch auf die Integration der palästinensischen Bevölkerungsteile unter israelischer Besatzung ab, sondern nehme vielmehr das Land selbst ins Visier. »Spatio-cide« wird damit als auf das Land ausgerichtete Politik konzeptualisiert, die letzten Endes bestrebt ist, palästinensischen Raum zu vernichten und das ›freiwillige Umsiedeln‹ der palästinensischen Bevölkerung zu erzwingen. 21 Hiermit ist also eine langfristige, vor allem performative Praxis angesprochen, die jedoch in letzter Instanz auf den materiellen Raum abzielt. Das Ringen um Land, Wasser und andere natürliche Ressourcen sowie interne und externe Mobilität steht im Mittelpunkt des Nahostkonflikts; mit teilweise Jahrtausende zurückreichenden historischen, religiösen, ethnischen oder moralischen Ansprüchen werden diskursive Raumbesetzungen vorgenommen. Von besonderer Relevanz sind diese Streitfragen im Jordantal, dessen Nutzung für Palästinenser in überdurchschnittlichem Maße eingeschränkt ist (vgl. Kap. 4.4). Diese Auseinandersetzung wird allerdings nicht nur diskursiv vorgenommen, sondern findet auch performativ in alltäglichen Handlungen statt: Palästinensische Bauern bestellen trotz Zugangsschwierigkeiten weiterhin ihre Ländereien

20 Z. B. Karam, Interview, Jerusalem, 28.1.2008. 21 Hanafi (2012).

B ESETZUNGEN

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und verhindern somit eine Enteignung; israelische Siedler lassen ungeklärte Abwässer von den Hügeln in tiefergelegene Beduinensiedlungen fließen; palästinensische Bewohner des Jordantals errichten auch ohne israelische Baugenehmigung Häuser in Gebiet C und bauen diese nach ihrer Demolierung wieder auf; israelische Siedler und andere Staatsbürger durchfahren das Westjordanland auf exklusiven Straßen und bekräftigen damit einen israelischen Anspruch auf diese Räume; palästinensische Viehhalter und Bauern führen ihre Tiere auch ohne offizielle Landtitel auf freie Landflächen zum Weiden oder bestellen diese – wie es etwa bei der inoffiziellen Nutzung des Grundstücks für den Jericho AgroIndustrial Park der Fall war. Verhandlung materieller Ressourcenzugänge Neben den performativen Aspekten sind es aber gerade bei der Aneignung von Ressourcen und Infrastrukturen materielle Besetzungsprozesse, die in letzter Instanz zum Tragen kommen. Es ist eine Kombination aus administrativen und vor allem physischen Barrieren – Mauern, Zäunen, Erdwällen, Checkpoints, Toren, Straßen oder Tunneln –, die Halpers »matrix of control« bilden (vgl. Kap. 6.4). Diese schneidet den Gazastreifen ab, teilt das gesamte Westjordanland in kleine Kantone und Enklaven auf, die die Mobilität der Palästinenser eindämmen und leicht kontrollierbar machen, und ermöglicht es, »zwar getrennte, doch überlappende National-Geografien miteinander zu verweben – zwei territoriale Netze, die sich auf demselben Gebiet in drei Dimensionen überschneiden, ohne einander kreuzen oder berühren zu müssen«:22 Israelische Siedlungen spicken die Hügelkuppen und legen mit Sicherheitszonen und exklusiven Straßen ein Netz über die Region; Drohnen und andere Überwachungstechnik beobachten das Geschehen aus der Luft und aus Wachtürmen; Absperrungen verhindern den Zugang zu tieferen Brunnen im Jordantal. Auch internationale Entwicklungsprojekte besetzen Räume physisch – am deutlichsten wird dies durch die zahlreichen Informationstafeln entlang von Straßen und an Projektstätten, durch die sich vor allem USAID, aber auch andere Geberländer und -organisationen auszeichnen. Dieses ›flying the flag‹ ist auch offizielle japanische ODA-Politik, es ist jedoch weniger generell im öffentlichen Raum als vielmehr vor allem an den betreffenden Projektlokalitäten zu beobachten. Neben den performativen Raumbesetzungen in Jericho durch die jahrelange Präsenz japanischer Entwicklungsexperten, Diplomaten und Politiker nimmt der japanische Agrarindustriepark langsam auch materiell Form an; Ende 2012 wurden die ersten sichtbaren Bauwerke eingeweiht: eine Solaranlage am Rande des Projektgeländes.

22 Weizman (2008), S. 199.

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Der Standort des Projektgeländes, der Verlauf zukünftiger Zugangsstraßen, seine Wasser- und Energiequellen und die Installation der entsprechenden Infrastruktur, all diese Detailfragen stellen höchst sensible Konfliktthemen dar, auf die verschiedene Seiten versuchen Einfluss zu nehmen (vgl. Kap. 6.4). Proteste aus der Bevölkerung – etwa von lokalen Gemeinderäten, Aktivisten und NGOs – gegen das geplante japanische Projekt im Jordantal kommen im Aushandlungsprozess kaum zu Wort. Allerdings lassen sich bestimmte Abstufungen darin erkennen, wessen Stimme gehört wird. Je nach Renommee der institutionellen Zugehörigkeit des Sprechers wird er zum Beispiel in unterschiedlichem Maße von JICA und der japanischen Botschaft als Dialogpartner überhaupt in Betracht gezogen: eine Verknappung der sprechenden Subjekte. Dieser Ausschluss ist allerdings niemals vollständig; über das subversive Potenzial von Alltagshandeln hinaus kommt es durchaus vor, dass oppositionelle Gruppierungen in Palästina eine Gegenmacht aufbauen und nicht nur populären Protest kanalisieren, sondern auch an offizielle Institutionen appellieren. So haben zivilgesellschaftliche Gruppen beispielsweise erfolgreich beim Worldbank Inspection Panel gegen das Kanalprojekt vom Roten zum Toten Meer Einspruch erhoben (vgl. Kap. 4.5). Neue Handlungsräume schwächerer Parteien sind größtenteils auf kleinteilige Erleichterungen im alltäglichen Daseinskampf beschränkt. Palästinensische Versuche, Entwicklungsprojekte wie den Corridor for Peace and Prosperity zu instrumentalisieren, um Rechtsansprüche durchzusetzen, zielen etwa auf die Umwidmung einer Fläche Land von Gebiet C zu Gebiet B, einen erweiterten palästinensischen Zugriff auf Grundwasservorkommen oder die Eindämmung von israelischen Siedlungen durch die strategische Positionierung eines Projektes. Solche Bemühungen erweisen sich aber gegenüber den weitreichenden Blockademöglichkeiten des Besatzerregimes als sich perpetuierender Kleinkrieg, der die grundlegenden Machtverhältnisse nicht zu ändern vermag. So wurde der Vorstoß im Jahr 2006, die zum damaligen Zeitpunkt für Palästinenser gesperrte Nord-Süd-Achse der zentralen Route 90 durch das Jordantal mittels einer Zugangsstraße zum zukünftigen Industriepark wieder zugänglich zu machen, unter Rückgriff auf einen Verkehrssicherheitsplan seitens der israelischen Verwaltung abgeschmettert. Durch das japanische Engagement und das kooperative Industrieprojekt sollte die palästinensische Mobilität im Jordantal generell verbessert werden, doch japanisch finanzierte Straßensanierungen könnten zu brandneuen Straßensperrungen führen. Technische Modernisierungen, als Reiseerleichterungen konzipiert, verbessern letzten Endes die repressiven Kontrollmöglichkeiten und befördern die Zementierung der Besatzung auf materieller wie formeller Ebene. Minimale Erfolge werden somit zu Bumerangs verschärfter Ohnmacht und Unterdrückung.

B ESETZUNGEN

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Reichweite und ›Instrument-Effekte‹ Verschiedene Akteursgruppen versuchen, ein Entwicklungsprojekt als Hebelpunkt zur Aneignung und Prägung bestimmter Räume zu instrumentalisieren und durch die Einflussnahme auch auf physische Detailfragen eines Projektes weiterreichende Raumbesetzungen vorzunehmen. Die Anstrengungen reichen hinab bis in Mikrobereiche, etwa als Manipulation von Kartenmaterial und die inkorrekte Ausweisung von Grundstücken. Solche äußerst lokalspezifischen, kleinräumigen Auseinandersetzungen und Rangeleien verkoppeln sich mit Entscheidungen, die in Tokyo oder New York getroffen werden und teilweise ganz andere Räume im Visier haben. Inner- und interministerielle Ressortrivalitäten und Zuständigkeitsstreitigkeiten, die Agenden einzelner Politiker und Unternehmer, innen- und außenpolitische Geltungsbedürfnisse und Ambitionen stoßen in Japan Besetzungsprozesse an, die sich kaum an den Verhältnissen in Israel/ Palästina orientieren und dennoch vor Ort äußerst raumprägende Wirkung haben können. Umgekehrt können Ereignisse in Palästina Folgen für die Karrieren einzelner Politiker und Bürokraten oder – wie in der Vergangenheit – für die gesamte japanische Energieversorgung haben. Diese Beobachtung bestätigt die Hypothese, dass Raumbesetzungen auch ohne die Kopräsenz verschiedener Akteure und fern ab vom Schauplatz der Intervention stattfinden können. Ein japanisches Prestigeprojekt, dessen Prioritäten von ganz anderen Interessen beeinflusst sein mögen, kann so durch seinen Umgang mit Detailfragen wie dem Straßenbau, der Wasserversorgung oder dem Sicherheitskonzept dazu beitragen, bestimmte Raumansprüche zu stärken und andere zu schwächen. Das grundsätzliche Design und Konzept des Projektes, orientiert am entwicklungspolitischen Mainstream und Teil einer tagespolitischen Liste von ›Quick Impact Projects‹, laufen ferner Gefahr, die israelische Besatzung, und damit eine Grundursache für die ökonomische Misere in Palästina, auf einem dauerhaft tragbaren Niveau zu halten, indem sie sich mit der politischen Situation zu arrangieren versuchen, anstatt sie grundlegend infrage zu stellen. Solche Konsequenzen (wie die Aufrechterhaltung der israelischen Besatzung) entsprechen nicht den Intentionen japanischer Außen- und Entwicklungspolitik, sondern sind unbestellte ›Instrument-Effekte‹ des Entwicklungsdiskurses selber. Hinzu kommt dessen technokratisches, ökonomistisches und naturräumliches Apriori, das die politische Machtfrage hinter einer Fassade wissenschaftlicher Objektivierung zum Verschwinden bringt. Besetzungen finden gleichzeitig 1) diskursiv, 2) performativ und 3) physisch statt: In einem typischen diskursiven Besetzungsvorgang werden diese Probleme als Entwicklungs- bzw. als Friedensprobleme aufgefasst und die palästinensischen Gebiete als Räume dargestellt, die einer internationalen Intervention be-

250 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA

dürfen bzw. deren Einwohner zur Kooperation überredet werden müssen. Diese Besetzungen werden sowohl von lokal anwesenden Akteuren als auch von weiter entfernt agierenden Experten und Politikern vorgenommen, die Studien erstellen, Wissen über Entwicklung und Entwicklungsräume produzieren bzw. Budgetentscheidungen und Projektpläne absegnen. Institutionelle Mechanismen in Verwaltungsbehörden, Entwicklungsorganisationen und Beratungsfirmen sowie die Verfestigung von entwicklungspolitischen und bürokratischen Prozeduren spielen hierbei als performative Handlungen ebenfalls eine Rolle; letztere sind jedoch von einer anderen Qualität, wenn die handelnden Akteure am Ort der Besetzungen selbst anwesend sind. Die alltägliche Praxis etwa der Raumaneignung oder der Sabotage auch durch marginalisierte Akteure enthält ein äußerst subversives Potenzial. Häufig sind dies kaum augenscheinliche Handlungen, deren Widerständigkeit auf den ersten Blick schwer zu erkennen ist. In Form von Alltagspraktiken – von Bayat als »quiet encroachment of the ordinary« (stilles Vordringen des Alltäglichen)23 bezeichnet – bedürfen solche Handlungen keiner politischen oder ideologischen Führung oder Intention, um wirksam zu werden. Sicherheitsvorkehrungen und Verhaltensstandards spielen auch eine Rolle darin, die diskursive Besetzung von Räumen mit Sicherheitsrisiken performativ zu untermauern. Eine performative Raumaneignung und -besetzung wird ferner von Entwicklungsorganisationen und -agenturen vorgenommen, die sich in Palästina regelrecht einzelne Territorien sichern und mit Ankündigungstafeln und Nationalflaggen markieren. Die dauerhafte Präsenz und das alltägliche Auftreten internationaler Entwicklungsexperten tragen ebenso zu der Besetzung bei wie die physischen Aspekte der Entwicklungsprojekte. Entwicklungs- und Friedensdiskurse kombinieren sich im vorliegenden Fallbeispiel mit einer diskursiv konstruierten Sonderrolle Japans im Nahen Osten und materialisieren sich etwa in neuen infrastrukturellen Arrangements. Physische Besetzungen werden in den palästinensischen Gebieten am offensichtlichsten in Form der israelischen Sicherheits- und Siedlungsarchitektur, die einen äußerst exklusiven Charakter hat und neben Sicherheitsaspekten offen die Aneignung von Räumen und den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen zum Ziel hat. Legitimität und Exklusivität Im Gegensatz zu Yiftachels ›gray spaces‹24, die in einem Zwischenraum zwischen den ›hellen Räumen‹ der Legalität und Anerkennung und den ›dunklen Räumen‹ der Rechtlosigkeit und Zerstörung schweben und den palästinensischen

23 Bayat (2010). 24 Yiftachel (2009).

B ESETZUNGEN

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Kontext gut beschreiben (vgl. Kap. 2.2 u. 6.3), streben Entwicklungsprojekte in der Regel eine Etablierung von Räumen der Legalität und Ordnung an. Sie versuchen, ihre Eingriffe diskursiv zu legitimieren, Räume zu ordnen und lesbar zu machen und etwa in Form von Industriezonen Inseln der Rechtstaatlichkeit bzw. sogar eines bevorzugten Rechtsstatus zu kreieren – wobei an den Rändern weitere dunkle oder graue Räume entstehen mögen. Im Falle der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte in jordanischen QIZ etwa bestehen diese grauen Räume auch im Inneren der Parks; es bleibt abzuwarten, wie der rechtliche Status der palästinensischen Arbeiterschaft für den Agrarindustriepark bei Jericho geregelt wird. Generell erfolgt in der Besetzung durch Entwicklungsprojekte – zumindest in der expliziten Form von Projektplänen und Entwicklungsstrategien – ein stärkerer Versuch der Legitimierung als bei einer militärischen Besatzung und Besiedlung, die gezielt auf die dauerhafte Exklusion bestimmter Gruppen hinwirkt. Über Legitimität im Sinne einer demokratischen Legitimierung verfügen die meisten Entwicklungsprojekte dennoch kaum. Scott hat vier Elemente herausgestellt, die für die Durchführung tiefgreifender Transformationen von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen notwendig seien: ein administrativer Ordnungszugriff auf Natur und Gesellschaft, eine hoch-modernistische Ideologie, ein autoritärer Staat und eine marginalisierte Zivilgesellschaft.25 Bis auf den autoritären Staat, der hier eine etwas abgewandelte – wenn auch nicht weniger autoritäre – Form der Herrschaft annimmt, können diese Elemente im palästinensischen Fall mit Leichtigkeit gefunden werden. Der Agrarindustriepark stellt den modellhaften Ordnungsversuch der Gesellschaft dar, der mit entwicklungspolitischen Aspirationen und der kombinierten autoritären Herrschaft von PA und israelischer Militärverwaltung daran geht, die Situation der Bevölkerung zu verbessern, ohne dass die lokalspezifischen Bedürfnisse und die Stimmen der Zivilbevölkerung ausreichend Beachtung finden. Wenn das Projekt jedoch nach seinen eigenen Maßstäben scheitern sollte, kann das auf einen Mangel an mehreren der Elemente zurückgeführt werden: So ist die autoritäre Herrschaft möglicherweise doch zu disparat, um eine solche Ordnungsintervention durchzuführen, und die Zivilgesellschaft stärker, als sie auf den ersten Blick erscheint. Zudem findet Widerstand im Kleinen statt – in der Besetzung und informellen Aneignung bestimmter Räume, der Sabotage bürokratischer Vorgänge oder der Umgehung von Institutionen und Kontrollmechanismen. Die Auswahl der Geschäfts-, Gesprächs- und Verhandlungspartner bei Entwurf und Durchführung eines internationalen Entwicklungsprojekts trägt allerdings auf performativer Ebene dazu bei, bestimmte Machtverhältnisse durch-

25 Scott (1998), S. 2–6.

252 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA

zusetzen. Der Ausschluss bzw. die Marginalisierung bestimmter Sprecherpositionen – zum Beispiel informeller Landnutzer oder politischer Aktivisten, die sich jenseits bestimmter Friedensdiskurse bewegen – verleiht diesen Besetzungsprozessen einen Grad an Exklusivität, der durch die vorherrschenden Verhältnisse verstärkt wird. Der Aspekt der Gewalt in der Ziehung von Grenzen und der Etablierung von Territorien tritt in Palästina deutlich zutage. Ähnlich den entwicklungspolitischen Wirtschaftsmodellen und Projektplänen bewirken auch die geographischen Techniken der Karten und Kataster eine Entpolitisierung sozialer Verhältnisse.26 Deutlich wird dies in der Unsichtbarkeit der Bauern, die ohne verbriefte Landrechte das Projektgrundstück bei Jericho landwirtschaftlich genutzt hatten und deren Existenz offiziell nie zur Sprache kommt. Es sind gewisse Überschneidungen der diskursiven Deutungsmacht und Definitionshoheit zum einen und der Handlungsmacht im Performativen und Physischen festzustellen. Allerdings haben sich auch einflussreiche Gegendiskurse – etwa gegen ›Normalisierung‹ – etabliert, die eine enorme Mobilisierungskraft entwickeln können und ihrerseits bestimmte Ausschlussmechanismen nach sich ziehen. ›Niemandsländer‹ im Sinne von Baduras utopischen Räumen, die nicht dauerhaft besetzbar sind und sich einer normativen Fixierung entziehen,27 sind in keinem der untersuchten Besetzungsvorgänge angelegt. Sie sind höchstens in einem entgegengesetzten Sinne als verlorene Gebiete, als unzugängliche und unbewohnbare Niemandsländer zwischen der Grünen Linie und der israelischen Sperranlage im Westjordanland zu finden. Die meisten Besetzungen beinhalten eine explizite Exklusion und auch die Industrieparkprojekte streben die Neuordnung des Raumes und seine Zweckbestimmung nach ganz genauen normativen Vorstellungen an. Elastizität und Reversibilität Die relative Rechtsunsicherheit und Willkür in den palästinensischen Gebieten bedeutet nicht etwa, dass diese weniger normativ belegt und geordnet seien, vielmehr sind sie überbesetzt mit rechtlichen Normen. Ebenso wie das Recht, das temporär aufgehoben oder selektiv und punktuell angewendet und dessen Grenzen willkürlich verschoben, eingeengt oder ausgeweitet werden können, verharren selbst die rigiden Mauern und Zäune, die Checkpoints und Erdwälle nicht in einer starren Form, sondern stellen vielmehr ein elastisches Gebilde dar: Der Verlauf der israelischen Sperranlage wird je nach Gerichtsurteil um einige Meter verschoben; in Reaktion auf internationale humanitäre Bedenken werden

26 Blomley (2003). 27 Badura (2004).

B ESETZUNGEN

| 253

Soldaten von manchen Checkpoints abgezogen und andernorts für einige Stunden ›fliegende‹ Checkpoints eingerichtet. An der Grundproblematik ändert sich nicht viel, die Situation der Abschottung besteht fort. Weizman sieht in ihrer Elastizität eine Stärke für den Fortbestand der israelischen Sperranlage, die mit jeder Verlaufsänderung und Grenzkorrektur mehr die Opposition absorbiert und an Beständigkeit gewinnt, als sie nicht grundsätzlich in ihrer Existenz und Legitimität hinterfragt wird.28 In ähnlicher Weise verhalten sich Entwicklungsprojekte, wenn sie sich darum bemühen, Einzelaspekte der Besatzungssituation zu verbessern oder das Leben in den besetzten Gebieten erträglicher zu machen. Gleichzeitig schaffen bestimmte physische Besetzungen trotz bzw. wegen ihrer Elastizität eine gewisse Persistenz und Beharrlichkeit – sie stellen ›facts on the ground‹ dar, deren Reversibilität mit der Zeit immer weiter abnimmt. Die israelische Besatzung und Besiedelung wird häufig als vorübergehend dargestellt; damit werden viele Aspekte dieser Besetzungen nach israelischem Recht legalisiert und dadurch auch verlängert. Das gleiche gilt jedoch umgekehrt für die palästinensischen Flüchtlingslager sowohl in den palästinensischen Gebieten wie auch in den umliegenden Staaten: Jedes Umsiedlungs- oder Sanierungsprojekt wird argwöhnisch beäugt, da eine Auflösung der Lager oder ihre Transformation in einen lebenswerten Stadtteil eine Resignation, ein Sich-Abfinden mit dem Status Quo und somit eine Aufgabe des Rechts auf Rückkehr zu implizieren scheint.29 Der Temporalität und dem vorübergehenden Charakter der Raumbesetzungen wird somit in beiden Fällen große politische Bedeutung beigemessen. Die japanische Präsenz in Jericho hingegen, die durch das kontinuierliche und wiederholte Auftreten japanischer Entsandter konstituiert wird, kann mit der nächsten schweren (Sicherheits-)Krise abrupt beendet werden und hat in dieser Hinsicht einen sehr temporären Charakter. Der Corridor for Peace and Prosperity erweist sich allerdings – ungeachtet eines sehr langsamen Fortschritts und obwohl seine Stilllegung angeblich schon zur Diskussion stand – als durchaus elastisch und persistent; aller Kritik zum Trotz wird er immer weiter geführt. Viele Entwicklungsprojekte zeigen einige Elastizität in ihrer Fähigkeit, Opposition zu inkorporieren, Projektgegner in ›stakeholder meetings‹ formal einzubeziehen und trotz aller Kritik relativ ungehindert fortzufahren wie bisher. Die Positionspapiere, Konferenzen und Vortragsreisen (bis nach Japan) der Gegner des Corridor for Peace and Prosperity scheinen zumindest keinen nachhaltigen Effekt gehabt zu haben. Auch die Dreifachkatastrophe in Japan im Jahr 2011, die

28 Weizman (2008), S. 192f. 29 Weizman (2008), S. 116–119, 244–247.

254 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA

schwere japanische Haushaltskrise und die Kürzungen im ODA-Haushalt haben dem Projekt keinen Abbruch getan. Der Corridor for Peace and Prosperity hatte neben einigen Zugangsstraßen, einem Solarpark und der Erschließung des Baugrundes allerdings bis Ende 2012 noch nicht viele physische Materialisierungen gezeitigt. Es ist eine Form bürokratischer und administrativer Persistenzen, die hier möglicherweise eine schnelle Reaktion auf die Ereignisse verhindert und so als Machttechnologie zum Erhalt des Projekts fungiert. Letzten Endes kann angesichts der instabilen Lage und der zunehmenden Spaltung der palästinensischen Gesellschaft nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der japanische Agrarindustriepark bei Jericho tatsächlich dauerhaft in Betrieb kommen wird, auch wenn im letzten Jahr doch Fortschritte erzielt worden sind. Möglicherweise ist diese Frage jedoch zweitrangig für die japanische Symbolpolitik, da der Corridor for Peace and Prosperity in den Anfangsjahren einiges Interesse und internationale Anerkennung als ›japanische Friedensinitiative‹ erfahren hat: Auch wenn der Bekanntheitsgrad heute nicht ganz den Erwartungen der japanischen Urheber entsprechen mag, hat das Projekt zumindest als diskursives Konstrukt in einer virtuellen Form bereits sehr reale Gestalt angenommen und japanische Entwicklungsräume in Palästina besetzt.

Verzeichnisse

V ERZEICHNIS

DER GEFÜHRTEN I NTERVIEWS

Interviewpartner (*Pseudonym)

Institutionszugehörigkeit des Interviewten

Ort des Interviews

Datum des Interviews

ESSAWI, Rabie*

Bisan Center for Research and Development

Ramallah

8.10.2011

FARHAT, Reem* & SUZUKI Takushi*

PIEFZA, PA PADECO (Consulting)

Ramallah

6.10.2011

FARRAJ, Karim*

An-Najah University

Nablus

2.10.2011

FUJITA Keiko*

Ritsumeikan University

Kyoto

16.1.2006

FUKUYAMA Satoru*

Japanisches Vertretungsbüro Ramallah

Ramallah Ramallah

20.9.2011 28.9.2011

HATADA Hironori*

Japanische Botschaft Tel Aviv

Tel Aviv

29.1.2008

HADDAD, Fadi*

Alternative Information Center

Beit Sahour

5.10.2011

JABER, Ramzi*

PIEFZA

Ramallah

27.1.2008

KARAM, Walid*

PASSIA

Jerusalem

28.1.2008

KHALIL, Tareq*

Stop the Wall Campaign

Ramallah Ramallah

12.1.2008 24.9.2011

256 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA

KHATIB, Ibrahim*

JICA

Jericho

15.9.2011

KUWATA Yōko*

American University Beirut

Beirut

17.10.2007

MANSOUR, Ashraf*

Ministry of Planning, PA

Ramallah

27.1.2008

MORISHITA Tarō*

JICA

Jericho

22.1.2008

NAKANO Ken*

JICA

Tel Aviv Ramallah

9.9.2011 19.9.2011

NISHIMURA Takao*

Japanische Botschaft Beirut

Beirut

23.10.2007

OKAZAKI Shun*

[freier Journalist]

Berlin

24.2.2008

SADAN, Jonathan*

Hebrew University

Jerusalem

15.1.2008

SHABTAI, Nadav*

Hebrew University

Jerusalem

13.1.2008

SHEMER, Yael*

Tel Aviv University

Tel Aviv

26.9.2011

SULEIMAN, Majed*

Al-Haq

Ramallah

12.1.2008

TANAKA Hiroyuki*

Japan Center for Middle Eastern Studies

Beirut

15.10.2007

TSUNODA Kōtarō*

Consultant/Ministry of Tourism, Jericho, PA

Jericho

3.10.2011

STARK, Brian*

IPCRI

Jerusalem

17.1.2008

V ERZEICHNISSE

| 257

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AHLC CPP DAC EPA GIE IPCRI IWF JAIP JBIC JETRO JICA JSDF LDP METI MITI MOFA OAPEC ODA OECD OECF PA PADICO PIEDCO PIEFZA PIF PKO PLO PRDP PRIDE QIZ TIM UNDP (UN)OCHA UNRWA USAID

Ad Hoc Liaison Committee Corridor for Peace and Prosperity Development Assistance Committee (der OECD) Economic Planning Agency Gaza Industrial Estate Israel-Palestine Center for Research and Information Internationaler Währungsfonds Jericho Agro Industrial Park Japan Bank for International Cooperation Japan External Trade Organisation Japan International Cooperation Agency Japan Self-Defense Forces Liberaldemokratische Partei Japans Ministry of Economy, Trade and Industry, Japan Ministry of International Trade and Industries, Japan Japanisches Außenministerium (Ministry of Foreign Affairs) Organization of Arab Petroleum Exporting Countries Official Development Assistance Organisation for Economic Co-operation and Development Overseas Economic Cooperation Fund Palästinensische Autonomiebehörde Palestine Development and Investment Company Palestine Industrial Estates Development Company Palestinian Industrial Estates and Free Zones Authority Palestine Investment Fund Peacekeeping Operation Palestine Liberation Organisation Palestinian Reform and Development Plan Partnership for Regional Investment Development & Employment Qualified Industrial Zone Temporary International Mechanism United Nations Development Programme (UN) Office for the Coordination of Humanitarian Affairs United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East United States Agency for International Development

258 | BESETZUNGEN – J APANISCHE ENTWICKLUNGSRÄUME IN PALÄSTINA

G LOSSAR JAPANISCHER B EGRIFFE Umschrift nach Hepburn abura gaikō amakudari arabu gaikō bakufu chihō sai dai tōa kyōeiken datsu-A dokuritsu gyōsei hōjin gaiatsu gankō keitai hattenron heiwa to han’ei no kairō (kaihatsu) enjo kanson minpi keizai kyōryoku kisha kurabu kokueki naiatsu nawabari arasoi nihon(jin)-ron Nippon Keizai Dantai Rengōkai ringi-sho sakoku seikei bunri sekkyokuteki heiwashugi shien shingikai tatewari zaitō kikan sai

Kanji und Kana 油外交 天下り アラブ外交 幕府 地方債 大東亜共栄圏 脱亜 独立行政法人 外圧 雁行形態発展論 平和と繁栄の 回廊 (開発)援助

MIT

K ANJI

Übersetzung Öldiplomatie ›vom Himmel hinabsteigen‹ Arabien-Diplomatie ›Shogunat‹, Militärregierung Lokalanleihen Großostasiatische Wohlstandssphäre Ausstieg aus Asien independent administrative institution Druck von außen Entwicklungstheorie der Gänseflugformation (›Gänseflug-Modell‹) Corridor for Peace and Prosperity

経済協力 記者クラブ 国益 内圧 縄張り争い 日本(人)論 日本経済団体連 合会 稟議書 鎖国 政経分離

(Entwicklungs-)Hilfe ›Hochachtung für Regierung & Verwaltung, Verachtung für das Volk‹ Wirtschaftszusammenarbeit Presseclub nationales Interesse, Landeswohl Druck von innen Revierkampf Japan(er)diskurs Verband der japanischen Wirtschaftsorganisationen (Keidanren) Umlaufakte Landesabschließung Trennung von Wirtschaft & Politik

積極的平和主義

pro-aktiver Pazifismus

官尊民卑

支援 審議会 縦割り 財投機関債

Unterstützung Beratungsausschuss vertikale Aufgliederung Anleihen aus nationalen Investitionsorganen

V ERZEICHNISSE

| 259

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Sozial- und Kulturgeographie Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.) Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung April 2017, ca. 400 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3218-7

Nicolai Scherle Kulturelle Geographien der Vielfalt Von der Macht der Differenzen zu einer Logik der Diversität August 2016, 298 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3146-3

Iris Dzudzek Kreativpolitik Über die Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen Juli 2016, 388 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3405-1

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Sozial- und Kulturgeographie Raphael Schwegmann Nacht-Orte Eine kulturelle Geographie der Ökonomie Januar 2016, 180 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3256-9

Veronika Selbach, Klaus Zehner (Hg.) London – Geographien einer Global City Januar 2016, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2920-0

Antje Schlottmann, Judith Miggelbrink (Hg.) Visuelle Geographien Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern 2015, 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2720-6

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