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German Pages 280 [294] Year 2012
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Mit Beiträgen von
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Ivana Cornejová Friedrich Edelmayer Margarete Grandner Zdenek Hojda Michael John Ivan Klimeš Árpád von Klimó Ota Konrád Nina Lohmann Petr Mareš Siegfried Mattl Anita Pelánová Jirí Pešek Jirí Rak Oliver Rathkolb James Shedel Germain Weber
Über die österreichische Geschichte hinaus Festschrift für Gernot Heiss zum 70. Geburtstag Herausgegeben von
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Friedrich Edelmayer, Margarete Grandner, Jirí Pesek und Oliver Rathkolb
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ISBN 978-3-402-13010-0
Edelmayer/Grandner/Pešek/Rathkolb (Hgg.) • Über die österreichische Geschichte hinaus
Festschriften sind in den letzten Jahren etwas aus der Mode gekommen, zu Unrecht: Sie können einen wichtigen Beitrag zur Reflexion über das Werk einer zu ehrenden Person und zu dessen Kontextualisierung leisten. Im vorliegenden Band haben sich einige österreichische, tschechische, deutsche und US-amerikanische Freundinnen und Freunde von Gernot Heiss, Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien, zusammengeschlossen, um anlässlich dessen 70. Geburtstages am 12. November 2012 seine persönlichen und wissenschaftlichen Leistungen als Historiker in ihrer Breiten- und Tiefenwirkung zu dokumentieren und damit eine ungewöhnliche und offene Historikerpersönlichkeit zu ehren. Der Reigen der Beiträge spannt sich von der Geschichte der Frühen Neuzeit bis hin zur zeitgenössischen Kulturgeschichte und spiegelt das breite Oeuvre und die vielfältigen wissenschaftlichen Interessen des Geehrten wider.
FESTSCHRIFT FÜR GERNOT HEISS
Univ.-Prof. Dr. Gernot Heiss an der Karls-Universität in Prag im Mai 2012 Foto: © Nina Lohmann
Über die österreichische Geschichte hinaus Festschrift für Gernot Heiss zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Friedrich Edelmayer, Margarete Grandner, Jiří Pešek und Oliver Rathkolb
Gedruckt mit Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien Gedruckt mit Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: über abrufbar. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2012 Die Autorinnen und Autoren der Beiträge Verlag: Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und © 2012 . Die Autorinnen und Autoren der Beiträge der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. ISBN 978-3-402-xxxxx-x Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Satz: Friedrich Edelmayer, Wien Satz: Wien Druck:Friedrich Druckhaus Edelmayer, Aschendorff, Münster Umschlagbild: von Othmar Zechyr,1987. 1987. Der Titel »Heuhaufen« Umschlagbild: GraphikGraphik von Othmar Zechyr, Derursprüngliche ursprüngliche Titel »Heuhaufen« wurde gestrichen und in »Med. Berg« abgeändert. wurde gestrichen und in »Med. Berg« abgeändert. Sammlung Margarete Grandner, Foto Katharina Arnegger
Sammlung Margarete Grandner, Foto Katharina Arnegger Druck: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster, 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier oo ISBN 978-3-402-13010-0
INHALT VORWORT
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ZDENĚK HOJDA Die Reiseinstruktion Humprecht Johann Czernins für seinen Sohn Hermann Jakob als Anleitung zum ordentlichen Leben
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FRIEDRICH EDELMAYER Der habsburgisch-französische Konflikt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert
27
JAMES SHEDEL Monarchy, Image, and Authority: France and Austria on the Eve of Revolution
45
JIŘÍ PEŠEK – NINA LOHMANN Guido Goldschmiedt (1850–1915). Ein jüdischer Chemiker zwischen Wien und Prag
79
IVAN KLIMEŠ – JIŘÍ RAK K. u. k. tableaux vivants
111
ANITA PELÁNOVÁ Bildende Kunst zwischen Prag und Wien in den Jahren 1918–1939
121
OTA KONRÁD Der Historiker als Prophet? Die Zukunftsvisionen in der österreichischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit
137
MICHAEL JOHN Profiteure und »Hyänen«, sozialer Neid und organisierter Raub. »Arisierung« und Vermögensentzug in der »ostmärkischen« Provinz
151
PETR MAREŠ »Die goldene Stadt« von Veit Harlan. »Schlechtes Blut«, Deutsche und Tschechen
179
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Inhalt
OLIVER RATHKOLB »Geschichte(n) einer Karte«. Anmerkungen zur Wechselbeziehung zwischen Nationalsozialismus und Künstlern am Beispiel von Herbert von Karajans NSDAP-Mitgliedschaft
191
ÁRPÁD VON KLIMÓ Die Gehirnwäsche des Kardinals. Zur Repräsentation des Falles Mindszenty in westlichen Spielfilmen (1950–1955)
215
SIEGFRIED MATTL Die Geschichte, der Film und ihr gemeinsamer Vorraum: Eine spannungsreiche Beziehung
229
IVANA ČORNEJOVÁ Die Jesuiten in der heutigen tschechischen Gesellschaft
241
GERMAIN WEBER Ob Geschichte geschrieben wird? Überlegungen zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
249
JIŘÍ PEŠEK Interview mit Gernot Heiss am 18. Juni 2012
259
AUSWAHL AUS DEN SCHRIFTEN VON GERNOT HEISS
277
MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DES BANDES
287
VORWORT Festschriften sind in den letzten Jahren etwas aus der Mode gekommen, zu Unrecht: Sie können einen wichtigen Beitrag zur Reflexion über das Werk einer zu ehrenden Person und zu dessen Kontextualisierung leisten. Im vorliegenden Band haben sich einige Freundinnen und Freunde von Gernot Heiss zusammengeschlossen, um anlässlich dessen 70. Geburtstages am 12. November 2012 seine persönlichen und wissenschaftlichen Leistungen als Historiker in ihrer Breiten- und Tiefenwirkung zu dokumentieren und damit eine ungewöhnliche und offene Historikerpersönlichkeit zu ehren. In dem in diesem Band veröffentlichten Interview, das der Prager Historiker Jiří Pešek mit Gernot Heiss im Frühsommer 2012 führte, wird deutlich, dass Historikerkarrieren auch aus recht fernliegenden Gründen entstehen können. Das Jugendbildnis des Wissenschaftlers zeigt einen aus einer Ärztefamilie stammenden, angehenden Gastwirt mit beträchtlichen beruflichen Erfahrungen, Reiselust und schöngeistigkünstlerischen Ambitionen, aber auch mit kritischem Geist, der ihn letztlich zum Studium der Geschichte führen sollte. In der Geschichtswissenschaft war es zunächst die Frühe Neuzeit in der im Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung dominanten Form der Bearbeitung archivalischer Quellen zur Österreichischen Geschichte, die Gernot Heiss unter der Leitung seines Doktorvaters, Erich Zöllner, in ihren Bann zog. Die frühneuzeitliche Ära in der Geschichte des Hauses Habsburg, die das Thema der Dissertation von Gernot Heiss über Maria von Ungarn und Böhmen war, wird in dieser Festschrift mit dem Beitrag über den habsburgisch-französischen Konflikt und jenen über Frankreich und Österreich am Vorabend der Revolution von 1789 wieder aufgegriffen. Sowohl Friedrich Edelmayer als auch James Shedel nehmen dabei mit den Fragen nach den Besonderheiten der Dynastie, ihrer (Selbst-)Repräsentation und den historiographischen Auseinandersetzungen außerdem weitere Perspektiven auf, die Gernot Heiss in seinem wissenschaftlichen Schaffen besonders interessieren. Zum frühneuzeitlichen Schwerpunkt gehören auch die Studien von Gernot Heiss zur Geschichte des Bildungswesens, damit eng verbunden die Geschichte von Adelsreisen und vor allem jene der Jesuiten. Dieser Themenbereich wird hier in verschiedenen Facetten angesprochen. Zdeněk Hojda setzt sich mit den Reiseinstruktionen Humprecht Johann Czernins für dessen Sohn Hermann Jakob auseinander, die in besonders deutlicher Weise die Hintergründe und Absichten dieser
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Vorwort
Texte in Hinblick auf das Ziel solcher Kavalierstouren zeigen. Ivana Čornejová wirft einen kritischen Blick auf das Bild der Jesuiten in der tschechischen Gesellschaft heute, das ironischerweise nur wenig Platz für die bildungspolitische Bedeutung des Ordens in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart zu haben scheint. Im Gegenzug rückt sie historische Forschungen zur Societas Iesu in den Mittelpunkt, wie sie auch von Gernot Heiss insbesondere in seiner Habilitationsschrift vorgelegt worden sind. Eine Verbindung zwischen der Frühen Neuzeit und der jüngeren und jüngsten Vergangenheit besteht auch – wenngleich in anderer Weise – im Werk von Gernot Heiss. Seine Arbeiten zum 20. Jahrhundert kreisen zu einem guten Teil um Themen der Bildung und der Bildungsorganisation, aber auch um Fragen der Vermittlung von Inhalten und um deren Formen, die ihn auch im Kontext der Frühen Neuzeit interessieren. Im Zentrum dieser Forschungen von Gernot Heiss steht zweifellos die Reflexion über sein eigenes Metier, die Historiographie. Immer wieder hat Gernot Heiss die Konstrukte einer Meistererzählung der Österreichischen Geschichte und insbesondere ihrer großdeutschen Bestandteile unter die Lupe genommen. Ota Konrád nimmt hier diesen Ball in origineller Weise auf und betrachtet österreichische Historiker der Zwischenkriegszeit als »Propheten«, als Seher, die ein Bild der Zukunft des 1918 auf einen Rest reduzierten Landes entwerfen und dabei ihre ideologisch-politischen Standpunkte preisgeben. Jiří Pešeks und Nina Lohmanns Beitrag zu dieser Festschrift über Guido Goldschmiedt präsentiert ein Thema der Wissenschaftsgeschichte im (langen) 20. Jahrhundert. Er zeigt die Rahmenbedingungen einer »Wanderschaft« im Wissenschaftsbetrieb im fin de siècle zwischen Wien und Prag und nicht zuletzt die Situation des – wegen seiner jüdischen Herkunft – tendenziell marginalisierten Chemikers Guido Goldschmiedt auf. Jiří Pešek und Nina Lohmann stellen damit eine Verbindung zu den zahlreichen Studien von Gernot Heiss her, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus an österreichischen Universitäten und insbesondere an der Universität Wien auseinandersetzen, mit dem Kontext, in dem Verfolgung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Hochschullehrer offenbar ohne größere Probleme möglich waren, und mit den Schwierigkeiten, mit denen die Zweite Österreichische Republik im Umgang mit den »Altlasten« nach 1945 konfrontiert war. Die Geschichte des Nationalsozialismus in anderen Zusammenhängen ist Thema der Beiträge Michael Johns und Oliver Rathkolbs. Während Michael John sich mit den nationalsozialistischen Umtrieben in der österreichischen Provinz, insbesondere in dem in der NS-Zeit auch ehemals südböhmische Bezirke umfassenden »Gau Oberdonau« auseinandersetzt und mehrfach das auch von Gernot Heiss behandelte Problem der »Österreicher« mit den reichsdeutschen Nationalsozialisten
Vorwort
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aufgreift, widmet sich Oliver Rathkolb der unter politischem Blickwinkel betrachtet kuriosen Laufbahn des »gottbegnadeten« Herbert von Karajan. Rathkolb berührt hier in mehrfacher Weise das historiographische Werk von Gernot Heiss. Er behandelt sein Thema einer Verstrickung in den Nationalsozialismus methodisch im Stil einer Archivforschung und er greift mit der Kunst und dem Künstler einen Gegenstand auf, der dem Jubilar sehr wichtig ist. Wie dem in diesem Band abgedruckten Interview mit Gernot Heiss zu entnehmen ist, liegt der Schwerpunkt seiner Kunstinteressen auf Bildender Kunst der Moderne. Anita Pelánová steuert zu diesem Bereich einen spannenden Text bei, der die jeweilige Situation in Prag und Wien in der Zwischenkriegszeit vergleicht, Verbindungen und Trennungen ausweist und insbesondere dem Status neuer Strömungen in den beiden Hauptstädten nachgeht. Eine andere Kunstform, die Gernot Heiss – zumindest in den letzten 25 Jahren – wohl ebenso fasziniert hat wie die Bildende Kunst, ist der Film. Er beschäftigt sich damit als Historiker, sieht Filme als Quelle und arbeitet mit ihnen mit den Methoden der Geschichtswissenschaft. In diesem Sinne betrachten Ivan Klimeš und Jiří Rak in dieser Festschrift das schließlich nicht realisierte Projekt nordböhmischer Kinobesitzer, Kaiser Franz Josef I. ein filmisches Denkmal nach Art der »Lebenden Bilder« zu setzen. Petr Mareš beschäftigt sich mit dem berühmt-berüchtigten Film Veit Harlans »Die goldene Stadt« und analysiert die im Film transportierten (ambivalenten) nationalpolitischen Zuschreibungen. Árpád von Klimó vergleicht zwei Produktionen aus den 1950er Jahren, die im Kontext des Kalten Krieges den »Fall Mindszenty« zum Inhalt haben. Anders ist der Zugang Siegfried Mattls, der in der Kategorisierung von Filmwissenschaftlern, die Gernot Heiss im hier abgedruckten Interview trifft, wohl eher der französischen Richtung zuzuordnen ist. Siegfried Mattl steuert hier allerdings einen Text bei, der höchst lohnend zentrale Fragen im Umgang der Historie mit dem Film aufgreift. Was einerseits die »traditionelle«, akten- und schriftbasierte Historiographie konstruiert und wie sie das tut, was andererseits die Filmgeschichte und vor allem auch die Historiographie, die sich des Films als Quelle bedient, tun und wie, steht ebenfalls seit wenigstens 25 Jahren im Zentrum der filmhistorischen Überlegungen von Gernot Heiss. Der Beitrag Germain Webers zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen weist schließlich auf eine Eigenschaft von Gernot Heiss hin, die in seinem wissenschaftlichen Werk zwar durchaus vorhanden ist, aber vielleicht noch stärker in seinen Aktivitäten als Angehöriger der Universität und als Bürger zum Ausdruck kommt. Wissenschaftler sollten sich nicht, wie das in mehreren seiner Aufsätze über manche österreichischen Historiker des 20. Jahrhunderts gezeigt wird, irgendwelchen Ideologien verschreiben und dafür kämpfen,
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Vorwort
aber sie haben sich politisch und moralisch verantwortungsvoll zu den Themen ihrer Zeit zu Wort zu melden. Gernot Heiss hat dies zum Beispiel mit seiner Initiative getan, eine Gedenktafel für Moritz Schlick an der Philosophenstiege des Hauptgebäudes der Universität Wien anzubringen, dem Ort, wo dieser 1936 ermordet wurde, oder mit dem lange vor der Samtenen Revolution gestellten, aber leider vergeblichen Antrag an den Senat der Universität Wien, Václav Havel ein Ehrendoktorat zu verleihen. Sein kritisches zivilgesellschaftliches wie wissenschaftliches Engagement erstreckt(e) sich auch auf die Frage nach dem Umgang mit Migranten und Flüchtlingen in Österreich, wie nicht zuletzt die von ihm mitinitiierten Bände »Schmelztiegel Wien – einst und jetzt« oder »Asylland wider Willen« zeigen. Die Beiträge in dieser Festschrift für Gernot Heiss zum 70. Geburtstag sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet, um nicht nur die Vielfalt an Themen, sondern auch die große Zeitspanne, zu welcher der Jubilar geforscht hat, zu dokumentieren. Die Zusammenarbeit von tschechischen und österreichischen Kolleginnen und Kollegen bei diesem Band soll die Verdienste unterstreichen, die sich Gernot Heiss in der akademischen Kooperation zwischen den beiden Ländern erworben hat. Das HerausgeberInnenteam dankt Frau Agnes Meisinger für die redaktionelle Unterstützung und Univ.-Prof. Dr. Hubert C. Ehalt (Wien Kultur) und Dekan Univ.-Prof. Dr. Michael Schwarz für die finanzielle Förderung der redaktionellen und verlegerischen Herstellung. Alle an diesem Band beteiligten Autorinnen und Autoren kennen Gernot Heiss seit vielen Jahren, auch die schwankende Schreibung seines Familiennamens – mit doppeltem »s« oder mit »scharfem ß« – hat dabei keine Probleme verursacht: wir haben uns entschieden, in dieser Publikation durchgängig die Doppel-s-Schreibung anzuwenden. Wir schätzen Gernot Heiss als Kollegen, mit dem gemeinsam zu forschen und zu lehren immer eine Freude war und ist. Wir schätzen ihn als einen Historiker, der auch »unangenehme« Themen gegen den Zeitgeist anspricht und reflektiert. Entsprechend konsequent ist seine Position, die sich nicht nur gegen eine Fortsetzung nationaler Geschichtsschreibung ausspricht, sondern auch einer neuen Meistererzählung der »Festung Europa« sehr skeptisch gegenübersteht. Herzlichen Glückwunsch! Wien und Prag, im August 2012 Friedrich Edelmayer – Margarete Grandner Oliver Rathkolb – Jiří Pešek
ZDENĚK HOJDA
Die Reiseinstruktion Humprecht Johann Czernins für seinen Sohn Hermann Jakob als Anleitung zum ordentlichen Leben »Dahero, weilen alle andere scientien, exercitia, höfflichkeiten undt dergleichen nur lari fari, zwar ornamenta, aber nichts solidi, nur allein das judicium, wann undt was zue thuen oder zu unterlaßen, zu reden oder zue schweigen, in summa, wie es die wällischen wohl definiren, saper far il fatto suo, allein das principale ist, undt daß allein einen menschen zue avanzament am meisten helffen kan, [...] nemblichen, wann einer sale in zucca, das saltz im saltzfaß, id est, das gehirn im kopf hat, undt solches recht zu gebrauchen weist, das haben, gehet Gott lob dem Hermann nicht ab, das wißen zu gebrauchen aber, wie ein jeder, mueß auch er erst lernen.«1
Und am besten lernt man so etwas »in umbgehen mit dergleichen vernünfftigen, gescheiten leuthen«. Reisen im jugendlichen Alter bietet dazu die beste Gelegenheit, weil »was hernacher der Hans nicht lernen wurde, jetzo noch der Hänsel zu Florentz undt folgendtß zue Rom lerne«.2 Mit diesen am Ende der Reiseinstruktion erhaltenen Worten schickte Humprecht Johann Czernin (1628–1682) seinen älteren Sohn Hermann Jakob (1659–1710) 1678 in die Welt los3 und drückte damit zugleich aus, was er im Leben für wichtig hielt.4 1
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Státní oblastní archiv in Třeboň, Abteilung Jindřichův Hradec, Familienarchiv Czernin, Kart. 260, fol. 42v. – Künftig zitiert als FACz mit der Nummer des jeweiligen Kartons und den Folioangaben. FACz 260, fol. 43r. Der Autor dieses Beitrags bereitet gemeinsam mit Eva Chodějovská und Alexandra Tesaříková eine kommentierte Edition – mit einer Übersetzung ins Tschechische – des Tagebuchs von der Kavalierstour Hermann Jakob Czernins vor, die dieser in den Jahren 1678 bis 1682 unternahm. Das Tagebuch wird in der Nationalbibliothek Prag, Sign. XXIII F 30 und XXIII F 43, aufbewahrt. Die folgenden Hinweise auf diese Quelle werden hier kurz nur als »Tagebuch plus Datum« zitiert. An dieser Stelle sind einfallsreiche Studien von Gernot Heiss zum Thema Bildung und Erziehung junger Adeliger im 16. und 17. Jahrhundert, vor allem aber zu ihren Kavalierstouren, zu erwähnen. Vgl. Gernot HEISS, Integration in die höfische Gesellschaft als Bildungsziel. Zur Kavalierstour des Grafen Johann Sigmund von Hardegg 1646/50, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 48 (1982–1983), 99–113; DERS., »Ihro keiserlichen Mayestät zu Diensten … unserer ganzen fürstlichen Familie aber zur Glori.« Erziehung und Unterricht des Fürsten von Liechtenstein im Zeitalter des Absolutismus, in: Evelin OBERHAMMER (Hg.), Der ganzen Welt ein Lob und Spiegel. Das Fürstenhaus Liechtenstein in der frühen Neuzeit, Wien–München 1990, 155–181; DERS., Bildungsreisen österreichischer Adeliger in
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Zdeněk Hojda
Reiseinstruktionen für junge Kavaliere setzen sich üblicherweise aus Wünschen, Befehlen und Regeln zusammen, die vom Vater oder Vormund eines jungen Herrn vor seinem Reiseantritt in fremde Länder schriftlich verfasst wurden.5 Die Instruktion von Humprecht Johann Czernin an seinen älteren Sohn unterscheidet sich aber in einigen Aspekten von den gewöhnlichen Instruktionen für eine Kavalierstour, vor allem durch ihre Form: sie wurde nicht gesamt vor Hermann Jakobs Abreise niedergeschrieben und bildet somit keine homogene Einheit. Sie entstand allmählich während der Kavalierstour des Sohnes, reagierte aktuell auf ihren Verlauf und ihre Entwicklung und hat dadurch, im Vergleich zu der Mehrheit der allgemein verfassten Instruktionen, einen konkreteren Inhalt. Graf Humprecht sandte diese Instruktion als Anlage in den Briefen an den Hofmeister Bockelkamp oder direkt in den Briefen an seinen Sohn. Erst nach dem Reiseabschluss wurde sie komplett abgeschrieben und zu einem einheitlichen Text gebunden.6 Diese Entstehungsweise beeinflusste wesentlich die Stilistik der Instruktion Czernins. Sie ist kein normativer Text wie andere Instruktionen, sie wurde eher in einer freien und informellen Sprache der Privatkorrespondenz verfasst. Zudem diktierte Humprecht Johann die Instruktion seinem Sekretär, so dass der Text den freien Sprachstrom des Gesprochenen widerspiegelt. Es gibt keine feste Abgrenzung zwischen der Instruktion und den eigentlichen Briefen. Manche früher in der Instruktion angedeuteten Ratschläge und Anleitungen werden vom Grafen in seinen Briefen weiter ausgeführt oder präzisiert, der eine Text folgt spontan dem anderen.
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der Frühen Neuzeit, in: Lenka BOBKOVÁ/Michaela NEUDERTOVÁ (Hg.), Cesty a cestování v životě společnosti, Ústí nad Labem 1997, 251–268; DERS., Erziehung und Bildung politischer Eliten in der frühen Neuzeit. Probleme und Interpretationen, in: Elmar LECHNER/Helmut RUMPLER/Herbert ZDARZIL (Hg.), Zur Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Probleme und Perspektiven der Forschung, Wien 1992, 459–470; DERS., Bildungs- und Reiseziele österreichischer Adeliger in der Frühen Neuzeit, in: Rainer BABEL/Werner PARAVICINI (Hg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, Ostfildern 2005, 217–235. Zu den Reiseinstruktionen für Kavalierstouren vgl. Mathis LEIBETSEDER, Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln–Weimar– Wien 2004, 39–46; in der tschechischen Fachliteratur bis jetzt nur Alessandro CATALANO, L’Educazione del Principe: Ferdinand August Leopold von Lobkowitz e il suo primo viaggio in Italia, in: Porta Bohemica 2 (2003), 104–127; Tomáš FOLTÝN, Cestovní instrukce jako pramen k dějinám kavalírských cest (1640–1740), in: Celostátní studentská vědecká konference Historie 2005, Liberec 2006, 74–116; DERS., Výchova barokních knížat: Lobkovicové, cestovní instrukce a kavalírské cesty, in: Porta Bohemica 4 (2007), 163–180. FACz 260, fol. 45–64. Ähnlich entstand auch die Instruktion für Graf Humprechts jüngeren Sohn Thomas, der seine Grand Tour im Frühling 1681 antrat. Ihre Kopie wird im Familienarchiv Czernin in einem unnummerierten Karton (1678–1690), fol. 487r–503v, aufbewahrt.
Die Reiseinstruktion Humprecht Johann Czernins
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Es gibt zwei Instruktionen für Hermann Jakob. Eine kurze Instruktion scheint früher entstanden zu sein, sie wurde weder datiert noch vollendet. Dieser auf einem Blatt niedergeschriebene Text ist eine eigenartige Mischung von wesentlichen und weniger wesentlichen Ratschlägen.7 Für den ersten Reiseabschnitt durch das Reich, anschließend dann durch Venetien und nach Bologna wurde ein erster Teil einer anderen Instruktion ausgearbeitet. Dieser Text wurde mit der Invokation des Namen Gottes begonnen und knüpfte mehr oder weniger an weitere Instruktionsteile an, die dann immer mit der Überschrift »continuatio instructionis« eingeleitet wurden. Diese mehrteilige »große« Instruktion ist auf Deutsch geschrieben, wobei sie einige relativ breite Abschnitte auf Lateinisch und Italienisch enthält. Der erste Instruktionsteil ist nicht datiert, er wurde noch vor der Abreise von Hermann Jakob und seiner Begleitung verfasst.8 Die weitere Instruktionsfortsetzung mit den Anweisungen für den Aufenthalt in Florenz war auf dem Schloss Petrohrad (Petersburg) mit dem 16. Mai 1679 datiert und wurde nach Bologna9 gesandt. Die Instruktion für die Reise von Florenz nach Rom vom 2. September 1679 wurde aus Prag nach Florenz10 geschickt, die Fortsetzung dieser Instruktion vom 7. Oktober 1679 erhielt Hermann Jakob erst nach der Ankunft in Rom, wohin sie über Florenz gelangte.11 Die Instruktion für die Reise von Rom nach Turin und für den Turiner Aufenthalt ist auf den 28. August 168012 in Kosmonosy (Kosmonos) datiert und wurde noch später von Graf Humprecht in einer beigelegten Kopie im Brief an Hofmeister Bockelkamp vom 4. September 168013 aktualisiert; in beiden Fällen wurde sie nach Rom gesandt. Der letzte Instruktionsteil für die Reise durch Südfrankreich und Spanien ist auf den 27. Juni 1681 in Kosmonosy datiert und wurde nach Turin14 geschickt. Es wurde darin eine Fortsetzung der Instruktion, die nach Madrid gesandt werden und Anweisungen für die Frankreichreise von Hermann Jakob enthalten sollte, angedeutet. Diese Fortsetzung wurde aber von dem am 13. März 1682 plötzlich verstorbenen Grafen Humprecht nie geschrieben. Trotzdem gehört die Instruktion von Czernin zu den umfangreichsten ihrer Art.15 7
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Sie wurde auf Latein verfasst, aber zum Schluss wechselt Humprecht Johann plötzlich mitten im Satz ins Deutsche. Dieser Text wurde nicht in die »große Instruktion« aufgenommen, über die weiterhin die Rede sein wird. Vgl. FACz 258, fol. 330. FACz 260, fol. 66r–67r. FACz 260, fol. 41r–44v. FACz 258, fol. 39r–40v. FACz 259, fol. 41r–43r. Diese Instruktion erwähnt Graf Humprecht in seinem Brief vom 11. Oktober 1679, FACz 258, fol. 199r+v. FACz 259, fol. 4r–7v; datiert »die magno Patri Augustino sacra«. FACz 258, fol. 213v–214r. Hier änderte Humprecht Johann die Instruktion über den Eintritt in die Turiner Akademie. FACz 260, fol. 70r–73v. Die Kopie »Länder-Reis-Instruction« ist ein vergoldetes, gebundenes Heft mit 35 Seiten. Es ist mit einem aufgeklebten Etikett ausgestattet. FACz 260, fol. 45–64.
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Zdeněk Hojda
Die Reiseinstruktion für den Sohn Humprecht Johanns weist keine besonders hervorragenden stilistischen Merkmale auf. Wie bereits erwähnt wurde, ist die Instruktion in einer lebendigen Sprache verfasst und gleicht eher einem Gedankenstrom, der dem Grafensekretär, wahrscheinlich Václav Hruška – oder dem Hauptmann Jan Procházka –, zum Niederschreiben diktiert wurde, als einem durchdachten und konzeptuellen normativen Werk. Die Instruktion darf deswegen nicht isoliert von der restlichen Korrespondenz zwischen Böhmen und der Reisegruppe interpretiert werden. Ein weiteres Merkmal der Instruktion Czernins ist die Tatsache, dass sie häufig auf eigenen Erfahrungen des Grafen Humprecht basiert. Aus seinen ausgezeichneten Kenntnissen des italienischen Milieus schöpfte Humprecht Johann eine Menge an praktischen Ratschlägen. Vor allem empfahl er den Sohn vielen Freunden und guten Bekannten aus den Zeiten seiner venezianischen Botschaft (1660–1663), bei denen Hermann Jakob einen Besuch abstatten und Grüße bestellen sollte und die er um Rat oder Hilfe bitten konnte. Das bedeutet aber nicht, dass Humprecht Johanns Kenntnisse nur auf dem Stand aus der Zeit seiner eigenen Kavalierstour und seiner diplomatischen Tätigkeit in Italien waren. Es ist offensichtlich, dass der Graf die Tour für den Sohn nicht als »Kopie« seiner eigenen Reise plante – wie es sonst manchmal geschah16 – und dass er über die aktuelle Lage auf der Apenninenhalbinsel gut orientiert war.17 Prägend war für die »große« Instruktion Czernins außerdem die Tatsache, dass der Graf nicht nur den Reiseverlauf, sondern auch den sehr detaillierten Zeitplan bestimmte. Daraus kann man schließen, dass es ohne die Kenntnisse der Instruktion wenig Sinn hat, sich Fragen nach den Gründen der konkreten Route Hermann Jakobs und nach der Aufenthaltsdauer in der einen oder anderen Stadt zu stellen. Alles wurde durch den Willen des Vaters bestimmt und für Improvisation blieb nicht viel Raum übrig. Wenn man die Instruktion mit dem Tagebuch vergleicht, stellt man fest, dass die Abweichungen von dem vorgeschriebenen Zeitplan gering waren. Auf der anderen Seite war Humprecht Johann ein weiser Vater und wusste, wann man die Initiative anderen überlassen sollte, sei es aus 16
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Am Beispiel Dietrichstein zeigt das Jiří KROUPA, Dietrichštejnové v polovině 17. století a model tzv. kavalírské cesty, Historická Olomouc a její současné problémy IV, Olomouc 1983, 109–117; DERS., Mikulovské a evropské kořeny josefinismu, in: Studie Muzea Kroměřížska 79 (1979), 59–69. Dies ist zum Beispiel in denjenigen Instruktionsabschnitten zu beobachten, die Graf Humprechts Wissen über die neulich gegründeten Adelsakademien in Parma und Turin bezeugen. Im Falle von Turin änderte er sogar innerhalb von einer Woche seine ursprüngliche Empfehlung zu Distanz zur Akademie und zu bloßer Teilnahme an den Übungen auf das genaue Gegenteil, »nachdem ich in dießen 8 tagen von der fürtreffligkeit und ganz noblen manier der academi bin berichtet worden«. Hier wird nach der Anmerkung zur Instruktion vom 28. August 1680, eingeführt mit Abkürzung »N[ota] B[ene]« in der Instruktionskopie, zitiert. FACz 260, pag. 26.
Die Reiseinstruktion Humprecht Johann Czernins
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praktischen oder erzieherischen Gründen.18 Zu den praktischen Gründen gehörte das Bewusstsein, dass man beispielsweise in einer italienischen Stadt die Wahl einer geeigneten Gaststätte oder eines festen Kutschers aus der Ferne nicht beeinflussen konnte. Er wies Hermann Jakob einige Male darauf hin, die Situation vor Ort zu beurteilen oder sich nach anderen Kavalieren zu richten, wobei er seine Angelegenheiten immer »vernünftig«19 zu ordnen hatte. Außer an den Hofmeister delegierte er oft seine väterlichen »Kompetenzen« auch an seine engen Freunde, zum Beispiel an Monsignor Emerix de Mathijs, den Auditor bei der Rota Romana und kaiserlichen Gesandten bei der Kurie, oder an den kaiserlichen Gesandten Marquis De Grana in Madrid. Zu den erzieherischen Gründen gehört wohl Humprecht Johanns Entscheidung, dem Sohn einen angemessenen Raum und Gelegenheit für das Einbringen eigener Ideen zu geben. So verlangte er die Zusendung einer Proposition, in der Hermann Jakob mit seinem Hofmeister »nach ihrem genio« vorschlagen sollte, womit sich der junge Czernin während seines Jahres in Rom »außerhalb der höff practicirung undt der videndorum besichtigung«20 beschäftigen wollte. Vor dem Abschluss des Rom-Aufenthaltes überließ der Graf seinem Sohn sogar die Entscheidung darüber, ob er den Aufenthalt in Rom verlängern oder lieber laut der ursprünglichen Instruktion nach Turin in die Akademie gehen wollte.21 Ähnlich forderte er die Vorlage des Plans für die Reise durch Spanien, die dann Hermann Jakob nach Beratung mit Marquis De Grana22 im Januar und Februar 1682 unternahm. Der Hauptgrund für diese Beratung war, dass der Vater wenig Wissen über und Erfahrung mit dem spanischen Milieu hatte. In allen anderen Fällen galt aber, dass die übermittelten »Vorhaben« einer definitiven väterlichen Bewilligung unterlagen.23 18 19
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Zur Problematik der Entscheidungskompetenzen auf Kavalierstouren vgl. LEIBETSEDER, Die Kavalierstour, S. 46–53. »[…] sondern sich vorderst wohl informire, wie andere vernünft- undt würtschaftlich ihre sachen anstellende nicht nur teutsch, sondern auch frembde italianische, nur auf eine zeit lang aldar sich aufhaltende cavalier machen.« Auszug aus der Instruktion für Rom, FACz 259, fol. 42r. FACz 259, fol. 43r. Brief von Humprecht Johann an seinen Sohn Hermann Jakob vom 18. September 1680, FACz 258, fol. 275r+v, fol. 277r. Nach der Ankunft in Madrid sollte sich Hermann Jakob »von wohl peritis ein projectl«, eine etwa dreiwöchige Tour mit der Auflistung der einzelnen zu besuchenden Städte und deren Entfernungen sowie die dafür benötigte Zeit zusammenstellen lassen. Dieses Projekt und die Stellungnahme von De Grana dazu sollte er so bald wie möglich dem Vater zusenden. Vgl. FACz 260, fol. 71v. Der Reiseplan ist zwar nicht erhalten, aber über die Tagebücher weiß man, dass die Reise länger dauerte als von Graf Humprecht vorgesehen, nämlich mehr als sieben Wochen. So verlangt Humprecht Johann eine frühzeitige Übermittlung der Pläne für Rom, damit sie »mit meiner vätterlichen gutbefindung desto ehender placidiren« konnte, FACz 259, fol. 43r. Und bezüglich der Reise durch Spanien versprach Graf Humprecht: »mein sentiment des tour halber« werdet ihr um die Weihnachtszeit erhalten, FACz 260, fol. 72r.
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Zdeněk Hojda
Es war aber nicht immer so und nicht bei allen jungen Kavalieren. Zum Beispiel schrieb Rudolph Ignaz Wrabsky am 24. Juni 1681 vertraulich an seinen Freund Hermann Jakob nach Turin24 über das Gespräch mit dem Hofmeister von Ferdinand Leopold Sporck, dass General Johann von Sporck seinem Sohn und seinem Hofmeister völlige Freiheit bezüglich der Fortführung der Kavalierstour überlasse. Wie wir wissen, entschied sich dann Sporck, nach Spanien zu gehen, und schloss sich Anfang Oktober in Lyon Hermann Jakob an. Somit kommen wir auch zur Frage über die Grenzen der Entscheidungsmöglichkeiten Graf Humprechts, über die er gut Bescheid wusste. Mit der sehr guten Kenntnis der Reichsverhältnisse und der fast intimen Vertrautheit mit der italienischen Welt kontrastiert die oberflächliche Information über die Länder, in die die weitere Reise des Sohnes führte. Humprecht Johanns landeskundliches Wissen über Südfrankreich oder über die Iberische Halbinsel war sehr ungenau. Der Graf wusste zwar, welche Orte Hermann Jakob besuchen sollte, er kannte aber nicht ihre genaue Lage oder ihre wirklichen Entfernungen.25 Seine Anweisungen dazu sind notwendigerweise nur sehr allgemein. Frömmigkeit, Sicherheit und Gesundheit Die väterlichen (katholischen) Instruktionen wurden üblicherweise mit der Mahnung zur Frömmigkeit eingeleitet, damit die jungen Herren nicht einmal auf Reisen die Erfüllung der Religionspflichten vernachlässigten. Obwohl es solche Anweisungen auch in Humprecht Johanns Instruktion gibt, werden sie nicht besonders stark akzentuiert. Wie aus dem Tagebuch herauszulesen ist, verrichtete der reisende Hermann Jakob fast täglich seine Andacht. Der Vater wusste wohl, dass er sich in dieser Hinsicht auf den Sohn verlassen konnte. Er wies ausdrücklich nur auf den Tag des Heiligen Wenzeslaus hin, den Hermann Jakob gerade im Ausland wegen einer gewissen Heimatbindung nicht vergessen sollte. Am 28. September jedes Jahres sollte er die Kommunion empfangen.26 24
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»Přitom nejčko právě pan Amsterroth dostal psaní od nejvyššího lejtnanta, v kterým stojí, aby jen psal, kam mají mu peníze poslat, že je ze všem spokojen, jesli chce do Špajnel [!], nebo do Frankrejchu nebo do Vlach jeti, který mně f confidentzi přečíst dal, a já panu hrab[ěti] to oznamuji, aspectans, aspectabo responsum a Parisi en confidentia scriptum.« FACz 260, fol. 76r. Sehr gut ersichtlich ist dies im Fall des Reiseplans für Frankreich, FACz 260, fol. 70r. Zum Beispiel in der Instruktion an Bockelkamp vom 2. September 1679: »Nachdeme mein lieber sohn Hermann alß ein Böhm seines vatterlandes heyligen königs (damit er ihme wiederumb in daßelbe glücklich zuruckzukommen verhelfe) in der frembde sich desto mehrerß erinnerendt festag mit der heyl. communion undt anderen andachten […] gefeyert.« FACz, unnum. Kart., fol. 39r; oder in der Instruktion vom 28. August 1680: »Mein sohn Hermann nach verrichter alß trewer patriot den 28. Septembris am fest seines heyl. königß Venceslai (damit er ihme in sein landt gesundt wiederzukommen bey Gott erbitte) […] andächtiger beycht und communion […]«, FACz 259, fol. 4r. Eine konkrete Ausübung der Devotion bestimmte Humprecht Johann zum Beispiel für den Besuch in Loretto, und zwar
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Der Kirchenkalender war dann oft ausschlaggebend für die Zusammenstellung des zeitlichen Routenplanes, der manchmal sehr detailliert gestaltet wurde. Der Plan bestimmte zum Beispiel, zu welchem Festtag Hermann Jakob in welcher Stadt anzukommen hatte. Sollte der Aufenthalt in einer Stadt auf einen bedeutenden oder örtlich wichtigen27 Feiertag fallen, wurde dem Sohn von Graf Humprecht sogar die Anwesenheit bei ganz konkreten Gottesdiensten vorgeschrieben. Als Beispiel dafür ist der zweite Besuch von Bologna zu nennen.28 Für den Aufenthalt in Madrid riet der Vater seinem Sohn, noch vor Lichtmess von der Tour durch Spanien zurückzukehren, so dass er dieses Fest, den Karneval und vor allem wichtige Fastenpredigten in der Osterzeit und »allerley curieuse artliche spanische devotiones« nicht verpasse.29 Ein wichtiges Instruktionsthema stellten Sicherheit und Gesundheit auf Reisen dar.30 Wie jeder Vater zeigte auch Humprecht Johann große Sorgen über den problemlosen Reiseverlauf seines ältesten Sohnes und bemühte sich, den unangenehmen oder gefährlichen Situationen, die den Sohn hätten gefährden können, vorzubeugen. Deshalb warnte er Hermann Jakob vor Straßenräubern oder auch vor ungesunder Ernährung. Wohl am schärfsten lauteten die Verbote der übermäßigen körperlichen Anstrengung während der Sommerhitze und die Empfehlung, den Aufenthalt in Rom in dieser Zeit zu meiden, weil in einer großen Agglomeration die Hitze im Sommer als besonders unerträglich galt.31 Große Befürchtungen herrschten vor der ungesunden oder gar vergifteten Luft, für die Mantua und vor allem die »maremme« in der Toskana
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Generalbeichte und Kommunion, obwohl er sonst vom langen Verweilen an diesem Wallfahrtsort abriet. Vgl. FACz 259, fol. 4r. Sehr deutlich empfahl Humprecht Johann zum Beispiel das Fronleichnamsfest in Ferrara, das Fest des Heiligen Johannes des Täufers in Florenz, den Allerseelentag in Bologna oder das angeblich pompös gefeierte Fest der Heiligen Drei Könige in Turin. »[…] und alda zu Bologna mit Gottes hülf NB. unfeylbar längst den 30. Octobris anlangen, umb vor denen festivitatibus etwas außrasten, […] sodann denenselben festis mit andacht und attention fleißig aldahr beywohnen, alß vorderst denen primis vesperis, darauf 1. Novembris ipsae festivitati Omnium Sanctorum, nachmittag denen vigilien Fid[elium] Defunctorum, sodann den 2. Novembris Aller Seelen, 3. Novembris sontagßandacht, und einer oder anderer visitae, undt letzlich den 4. Novembris der zweifelßohne dorthen gar solemniter haltender festivitet Sancti Caroli Boromei abwarten.« FACz 259, fol. 4r. Hermann Jakob kam in Bologna dann erst am 6. November an. FACz 260, fol. 72r. Vgl. Wolfgang NEUBER, Der Arzt und das Reisen. Zum Anleitungsverhältnis von Regimen und Apodemik in der frühneuzeitlichen Reisetheorie, in: Udo BENZENHÖFER/Wilhelm KÜHLMANN (Hg.), Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit, Tübingen 1992, 94–113. Hermann Jakob sollte von Florenz erst am 9. Oktober abreisen. Falls es bis dahin in Rom aber nicht ordentlich geregnet haben sollte, konnte er die Abreise vertagen, bis die Luft ausreichend frisch sein würde; FACz 258, fol. 39r. Den Sommer im folgenden Jahr verbrachte Hermann Jakob aber in Rom.
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berüchtigt waren.32 Als eine Art von Kuriosität ist der Abschnitt über das Perückentragen in der »kleinen« lateinischen Instruktion zu betrachten. Der Vater empfahl die Perücke nicht, da sie vorzeitige Kahlköpfigkeit verursachen würde.33 Um dem reisenden Sohn unnötigen Ärger und Verzögerungen unterwegs zu ersparen, erinnerte Graf Humprecht an regelmäßige Erneuerungen und Bestätigungen der Gesundheitszeugnisse, die während der Zeit von Pestepidemien im Heiligen Römischen Reich und den böhmischen Ländern besonders wichtig waren. Trotzdem hatte Hermann Jakob einige kleinere Schwierigkeiten an der Grenze des Herzogtums Modena.34 In Bezug auf die politische Sicherheit machte sich Humprecht Johann Sorgen vor allem über den französischen Reiseabschnitt. Das Frankreich Ludwigs XIV. war in einem fast ununterbrochenen Konflikt mit dem Kaiser und die Stellung der »deutschen Kavaliere« auf Reisen in Frankreich war deshalb heikel.35 Der junge Czernin sollte sich in Frankreich nicht allzu sehr interessiert für große Festungen zeigen, er sollte überhaupt gar so auftreten, dass man hätte erkennen können, »daß der Hermann bloß ein junger, die frembde länder besuchender undt kein etwas negotiirender oder kriegßchargen suchender oder sonst etwann suspecter cavaglier seye«.36 Dazu gehörte auch der Ratschlag, dass sich Hermann Jakob gut mit den notwendigen Dokumenten für den französischen Reiseabschnitt ausrüsten sollte. In Turin sollte er sich durch den französischen Gesandten um den königlichen Pass bewerben und die Regentin von Savoyen sollte er »pro superabundanti cautela« um einen Pass mit der Angabe der an der dortigen Akademie verbrachten Zeit bitten.37 Wegen einer weiteren Reise nach Frankreich und wegen eines geplanten mehrmonatigen Aufenthalts in Paris sollte er ebenfalls versuchen, zum französischen Gesandten in Madrid vorzudringen, aber nur mit Kenntnis und Bewilligung des kaiserlichen Gesandten De Grana, »sine qua nihil!«38 In diesen Aussagen wird die Unsicherheit deutlich, mit der das Reisen der Jungen aus kaiserlichen Ländern nach Frankreich verbunden war. 32 33 34 35 36 37
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FACz 260, fol. 44v. FACz 258, fol. 330. Als ein Reichsangehöriger war er den Grenzbeamten verdächtig, auch wenn er aus Rom und nicht aus Mitteleuropa kam. Vgl. Tagebuch, 10. Oktober 1680. Einige Kavaliere, wie zum Beispiel Johann Maximilian Thun auf seiner Kavalierstour in den Jahren 1692–1695, verzichteten sogar auf den französischen Reiseabschnitt. FACz 260, fol. 72v. »So können sie eben von Savoyischen hoff, id est von dem Hertzog oder Madama, gleich bey ihrer abreys auf ein ordentlichen paß mit der inserierung der in der dorthigen Academie zuegebrachter zeit pro superabundanti cautela nehmen.« FACz 260, fol. 72v. FACz 260, fol. 71v. Wie wir von seinem Reisetagebuch wissen, traf Hermann Jakob zwar mehrmals die französischen Gesandten Abt D’Estrades in Turin und Marquis La Vauguyon in Madrid, erlangte aber den französischen königlichen Pass nicht. Vgl. den Brief an den Vater aus Madrid vom 5. März 1682, FACz, unnum. Kart., fol. 515r–517r.
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Eine besondere Gefahr stellten Frauen dar. In der Turiner Instruktion äußerte sich Graf Humprecht dazu ausführlich und mit großen Sorgen. Der junge Mann solle lieber das Gespräch mit den Frauen meiden, weil daraus »nicht allein vielmahl accidit in puncto, quod non speratur in anno«, und so spare er noch unnötige Kosten. Italienerinnen und Französinnen hätten andere Sitten, »in Teutschlandt conversiret man mit den damessen gantz auf eine andere weys«. Humprecht Johann sprach vermutlich aus eigener Erfahrung.39 Hermann Jakob sollte ebenfalls jegliche Verpflichtungen meiden, durch die er nicht nur den alten Vater ins Grab bringen, sondern auch für sich selbst lebenslanges Leid herbeiführen könne.40 Diese präventiven Ratschläge ergänzen interessanterweise die Anleitungen, die einige Jahre später dem jungen Johann Maximilian Thun – auch in Bezug auf Turin – gegeben wurden. Sein Vater verbat ihm die Damengesellschaft nicht ganz, denn durch solche Salonbesuche könne ein junger Mann richtiges Benehmen und gute Manieren lernen. Dem Hofmeister wurde dann ans Herz gelegt, sich nur solche Gesellschaften empfehlen zu lassen, die einen guten Ruf hätten, wo sich nur verheiratete Frauen treffen und wo keine Spiele, sondern nur geistvolle Konversation betrieben werde.41 Eine delikate Etappe im Reiseplan des Sohnes Humprecht Johanns war der Besuch bei seiner Mutter in Mantua. Der Vater konnte ihm Mantua nicht direkt verbieten, er bemühte sich aber, den dortigen Aufenthalt auf eine möglichst kurze Zeit zu beschränken. Hermann Jakob sollte sich nur zehn Tage dort aufhalten und so bald wie möglich seine Reise fortsetzen, wann es »con buona maniera e gratia sein kann, würklich wegreysen«.42 Sollte dies aber irgendeinen Unmut hervorrufen, durfte er ein paar Tage länger bleiben. Einen ähnlichen Verlauf hatte auch der zweite Besuch in Mantua anderthalb Jahre später, als Hermann 39
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Humprecht Johann Czernin heiratete im Jahre 1652 die italienische Hofdame der Kaiserin Eleonora Gonzaga, Diana Maria Ippoliti da Gazoldo. Im Jahre 1666 trennte sich das Ehepaar voneinander und Diana Maria kehrte zurück nach Mantua, wo ihre Verwandtschaft lebte. »[...] nicht allein einen armen alten vatter vor der zeit inß grab bringen, sondern den armen in dergleichen finezzen unerfahrnen jungen polastro selbst, auf alle sein tag oder mortificato undt unglückseelig, oder sich ja wieder außzuwickeln hundert chagrin mühe undt spesen machen!« FACz 259, fol. 7r–v. »H[err] Feldmarschalk Caprara und H[err] Graff Breuner sein der meinung, dass man sicher in die geselschaft bey Madame de la Rocca und Princesse de la Cisterna gehn konte, allwo sich nur lauter verheyrate[te] Damen einfunden, mer umb d[en] discurs als das spielen«, schreibt Hofmeister Johann Christoph Zighel an Grafen Maximilian Thun im Brief vom 28. März 1693. Im Schreiben vom 25. April 1693 kommt er auf dieses Thema zurück: »[...] dass erstemal zu der Madama della Rocca, morgen dürfte dergleichen auch bey der Princessin Franca Villa besehen, welche zwey gesellschaft reputirlich und nicht spiel, noch anderst verfurlig gehalten werden.« Státní oblastní archiv in Litoměřice, Abteilung Děčín, Familienarchiv Thun-Hohenstein (Klösterle), Kart. 89, Sign. W II 14/2. Undatierter erster Teil der »großen« Instruktion, FACz 260, fol. 67r.
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Jakob auf der Durchreise von Rom nach Turin war.43 In den Instruktionen des Grafen Humprecht kann man eine gewisse Nervosität beobachten, die die Vorstellung eines längeren Aufenthalts des Sohnes unter den Verwandten mütterlicherseits verursachte. Hermann Jakob sollte sich nicht zu allzu vielen Audienzen einladen lassen und nur die gesellschaftlich unvermeidlichen besuchen. Sein Benehmen sollte nicht zu vertraulich sein und er sollte nicht zu viel über seine weiteren Reisepläne verraten.44 Wie man aus einem Brief von Thomas Zachäus Czernin († 1700) weiß, der seine Mutter im Mai und Juni 1681 besuchte, waren Befürchtungen solcher Art nicht unberechtigt. Diana Marie sprach mit Thomas über den zweiten Besuch seines Bruders, bei dem sie ihm angeblich die wahren Gründe der Trennung von Graf Humprecht anvertraut hatte. Thomas befürchtete sogar, der Vater könnte, falls er dies erfahren würde, Hermann Jakob von seiner Reise zurückrufen.45 Für die Verkürzung des Aufenthaltes in Mantua nutzte Humprecht Johann verschiedenste Argumente: vom ungesunden Klima bis zur Störung des Reiseplans. In Wirklichkeit aber erfüllte Hermann Jakob in diesem Punkt nicht wortwörtlich den väterlichen Wunsch. Vor allem seinen zweiten Aufenthalt in Mantua verlängerte er um eine ganze Woche, was mit der Erkrankung der Mutter zu entschuldigen war. Die Ökonomie der Kavalierstour In der Instruktion nehmen Ratschläge und Wünsche wirtschaftlicher Art viel Raum ein. Dabei handelt es sich für Reiseinstruktionen um nichts Ungewöhnliches, beim engen Etat vieler Kavaliere war das in der Regel so. Der junge Czernin wurde aber nicht wie viele andere reisende Kavaliere gezwungen, »Bettelbriefe« nach Hause zu schreiben. Er wurde finanziell viel besser als die meisten seiner Standesgenossen abgesichert. Sein Budget in der Höhe von über 6000 rheinischen Gulden jährlich46 ermöglichte ihm eine ehrenvolle Repräsentation. Dennoch fordert Humprecht Johann in seiner Instruktion zur bedachtsamen Sparsamkeit und überhaupt zum vernünftigen Umgang mit Geld auf. Darunter verstand man vor allem die richtige Wahl der Unterkunft bei langen Aufenthalten. Die Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung bildeten normalerweise den größten Betrag auf den Kavalierstouren.47 Graf 43
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»Aldahr auf das NB. allerlängste sich biß inclusivè mittwoch den 4. Decembris Sanct Barbara fest und gar nicht mehr aufhalten, dahero lieber zeitlicher und per exempel schon am montag den 2. Decembris weg zu reysen.« Vgl. den Brief von Humprecht Johann an Hermann Jakob vom 2. Mai 1679, FACz 258, fol. 316r–v, 318r. Schreiben von Thomas Zacheus an seinen Bruder vom 9. September 1681, FACz, unnum. Kart., fol. 462r–463v. In der Instruktion vom 27. Juni 1681 erwähnt Humprecht Johann den Betrag von 6150 rheinischen Gulden jährlich. Vgl. zum Beispiel LEIBETSEDER, Die Kavalierstour, 215–219; oder die Analyse der Ausgaben von Franz Karl und Wratislaw Maximilian Grafen Wratislaw von Mitrovic,
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Humprecht empfahl meistens die Anmietung einer Unterkunft mit Verpflegung (genannt »kosthaus«, »dozzina«, »camera locante«), er warnte außerdem vor den längeren Aufenthalten in öffentlichen Gasthäusern. Es sei ebenfalls nicht gut, ein ganzes Haus zu mieten und sich auf eigene Kosten zu verpflegen, die Haushaltsführung nehme zu viel Zeit in Anspruch und lenke von anderen nützlichen Dingen ab. Als ideal galt dem Vater das Teilen einer gemeinsamen Adresse mit einem anderen wohlerzogenen Kavalier, wie es seinem Sohn in Salzburg gelungen war.48 In Rom schien es nicht ratsam, eine Wohnung in der Nähe der Piazza di Spagna oder in der Via Condotti zu suchen, da dort die meisten Adeligen aus dem Heiligen Römischen Reich wohnten. Es sei besser, sich bei den sogenannten »speditioneri« umzusehen, also bei Agenten oder Advokaten verschiedener fremder Fürsten und Bischöfe oder bei anderen »reputirliche[n] leute[n]«, so bei Trägern von kleineren Kurialämtern. Sie hatten ihre eigenen Häuser oder kleine Paläste und konnten vielleicht ein ganzes Stockwerk vermieten, ohne sich einschränken zu müssen, wenn der Vermieter über keine große »famiglia« – also Personal, Bedienstete – verfüge. Zudem würden solche Leute »continuè den röm[ischen] hoff oder tribunalien practiciren und alle römische sachen gleichsamb in fingern haben«49, und so wäre es möglich, von ihnen »gut reden« zu lernen, zeitig wichtige Neuigkeiten zu erfahren und auch zu Hause das »Praktizieren«50 bei Kardinälen und Gesandten zu üben. Deutlich und wiederholt warnte Graf Humprecht vor der langfristigen Anmietung einer Kutsche. Hermann Jakob sollte eine solche nur dann mieten, wenn er sie wirklich benötigte. In Rom sei es am besten, einen einzigen Kutscher zu haben, der sich in der Stadt gut auskenne – meistens seien das Burgunder – und mit ihm dann eine monatliche Bezahlung zu vereinbaren, je nachdem, wie oft er tatsächlich fahren müsste.51 Nicht weniger deutlich warnte Humprecht Johann vor der Anstellung weiterer Bediensteter. Eine Ausnahme war dann die Erlaubnis, zwei Diener für den Rom-Aufenthalt zu beschäftigen.52 Man muss dabei die
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die von Roman KOLEK in seiner unpublizierten Seminararbeit Cestovní účty kavalírské cesty Vratislavů z Mitrovic do Itálie a Francie (1679–1700) ausgearbeitet worden ist. Der Anteil der Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung lag meistens zwischen 36–38 Prozent der gesamten Reisekosten. Siehe die Instruktion vom 16. Mai 1679, FACz 260, fol. 41v. In Salzburg wohnte er gemeinsam mit Graf Auersperg; siehe Tagebuch, 28. Februar 1679. Siehe die Instruktion vom 7. September 1679, FACz 259, fol. 41v. Mit Sicherheit kann man sagen, dass sich für diese Form von Unterkunft Thomas Zacheus in Rom entschied. Unter dem »Praktizieren« versteht man die Begleitung (das Corteggiren) von höheren Würdenträgern in der Stadt, zur Kurie oder zur Messe, oder eventuell auch den Besuch ihrer Anticamera zur Konversation. FACz 259, fol. 42r. FACz 259, fol. 42v. Ähnliche Warnungen findet man in der Turiner Instruktion. Sogar der Sohn von Herzog Montecuccoli, der sehr geehrt worden sei, sei während
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Tatsache beachten, dass vorsichtiger Umgang mit Geld einer der pädagogischen Zwecke der Reise war, eine Art Vorbereitung für die zukünftige Verwaltung des großen fideikommissarischen Besitzes. Keinesfalls sollte aber Hermann Jakob an Korrespondenz mit der Heimat sparen, dafür bekam er vom Vater zusätzliche 60 Gulden jährlich. Studium und Sozialisierung Graf Humprecht äußerte sich in der Instruktion sehr ausführlich zu dem eigentlichen Ziel der Reise, und zwar zum Studien- und Gesellschaftsprogramm des Sohnes. Das Studium oder die Exerzitien für Adelige kamen in den Reiseplänen dann vor, wenn der junge Kavalier vorhatte, sich über eine längere Zeit, am besten über mehrere Monate, an einem einzigen Ort aufzuhalten. Im Falle von Hermann Jakob konzentrierten sich diese Aktivitäten auf Florenz, Rom und vor allem auf Turin und die dortige Adelsakademie. Dagegen sollte Hermann jeden Aufenthalt an der Universität in Siena meiden, wo Humprecht Johann einmal »consigliere« der deutschen Nation – »capo della natione alemana«, wie er selbst sagte – gewesen war. Er lehnte die Anwesenheit des Sohnes in Siena wegen der Trinkereien der dortigen jungen Herren ab.53 Zum Studium mit den bezahlten Lehrern sollte er seinen fünfmonatigen Aufenthalt in Florenz nutzen. Dabei wünschte der Vater vor allem die Briefkunst in italienischer Sprache54, europäische Geschichte, Erdkunde55 und »explicationes politices«, also Politikwissenschaften, unter denen die zeitgenössische Theorie überwiegend Staatswissenschaft verstand. »Per puro gusto« sollte Hermann Jakob Gitarre oder irgendein anderes Instrument spielen lernen. Dagegen riet der Vater von physischen Exerzitien wie dem Reiten, Fechten und Tanzen ab, deren Ausübung in der Sommerhitze für Hermann Jakob sogar schädlich hätte sein können.56 Man rechnete damit, dass er sich den adeligen Exerzitien an der Turiner Akademie, vor allem aber während seines zukünftigen
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seines Aufenthalts in Turin nur mit einem Bediensteten, und zwar mit dem Bruder des Kammerdieners Hermann Jakobs namens Hennigsen, ausgekommen, schreibt Humprecht Johann, FACz 259, fol. 6v. »[...] aldar sich zwey oder längist überflüßig drey tag (dann mehrere zeit unnöthig währe) aufhalten und außrasten, vor der aldortigen jungen herrn starcken trincken.« FACz 258, fol. 39v. »Erstlich die vornehmbste lehr die wällische concept und omnis generis brief schreibung, so einem zu tractirung inß künftig aller negotien nicht nur schriftlich, sondern sensim dadurch auch wohl beredet und also zue allen capace machet, und dadurch den verstand, vernunft und judicium gewaltig eröffnet, acuiret und überauß perficiret, und ich, nach Gottes seegen, den grösten nutzen und meine aufkommung, auch artem so viel sachen guberniren und negotiiren zu können, am meisten der erlernung der wällischer kräftiger, nervoser undt sich wohl explicirender concepten zurechnen kann.« FACz 260, fol. 43r. »[...] der europaeischen land-charten explicirung, welche zu recht capirung der historien unumbgänglich nöttig.« FACz 260, fol. 43v. FACz 260, fol. 43v–44r.
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Aufenthaltes in Paris widmen würde. Fallweise waren Exerzitien mit engagierten Lehrern in Rom vorgesehen, falls er seinen dortigen Aufenthalt verlängern sollte. Auch ohne dass es die Instruktion explizit erwähnt, wurde mit dem Studium von Fremdsprachen gerechnet. Es ist interessant, dass, obwohl Graf Humprecht in seiner kurzen Instruktion das Schreiben des Tagebuches in der Sprache des gerade besuchten Landes nicht verlangte57, sich Hermann Jakob gewissenhaft daran hielt. Noch wichtiger als das Bildungsprogramm der Grand Tour war der Sozialisierungszweck der Reise, die Aneignung solcher kommunikativer und kultureller Kompetenzen, die dem jungen Adeligen eine vollkommene Integration in den Gesellschaften an den jeweiligen europäischen Höfen vereinfachen sollten. Auch in dieser Hinsicht brachte die Instruktion viele gute Ratschläge. Nach der Ankunft an einem neuen Ort sollten Hermann Jakob die Freunde des Vaters behilflich sein. Mit ihrem Rat und ihrer Hilfe sollte er wichtige Würdenträger des jeweiligen Hofes kennenlernen. Und durch sie sollte er dann – »tanquam lumen de lumine«58, so wie die Flamme einer Kerze zu einer anderen übergeht – Zugang zu den höher gestellten Personen und zu den Audienzen bei diesen gewinnen. Sollte er den Zugang zu den Vorzimmern des Hofes gewonnen haben – dies war das erste, worum er sich zum Beispiel in München, Florenz oder Turin bemühte –, sollte er fleißig zur Hofkonversation hingehen, zeitgemäß gesagt: »den hof practiciren«. Sehr trefflich drückte Humprecht Johann den Sinn dieser Besuche in seiner Instruktion für Modena aus: »aulam illam [...] non solum ad cognoscendum illos Principes et primariores eorum ministros, sed etiam ad acquirendam ad minimum aliqualem [...] aulae et gubernii morumque ejusdem status et loci informationem et notitiam«.59 Besonders gründlich führte der Vater den Sohn dort, wo er sich am besten orientiert glaubte. Eine große und zu dieser Zeit wohl nicht mehr verdiente Wertschätzung der toskanischen Regierung seitens des Vaters führte sogar dazu, dass er eine präzis formulierte Rede verfasste, mit der sich der junge Czernin beim Großherzog vorstellen sollte.60 Er sollte nicht nur erreichen, wie einmal 57
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»Diarium, summè desidero, [...] etiam subinde causas, conscribat. Ille autem semper describat in qualicunq[ue] idiomate, etiam mixto prout facilius venerit, nec opus est selectorum verborum vel ornatorum conceptuum studio se faticare, scribatur prout occurrerit solummodo ingenuè et diligenter pro possibili nihil omittendo.« FACz 258, fol. 330. Diese Metapher über die Verbreitung der sozialen Netzwerke benutzte Humprecht Johann in der Instruktion mehrmals; vgl. FACz 260, fol. 42r und fol. 70v; FACz 259, fol. 42v. FACz 259, fol. 4v. »Der erster [!] audientz bey dem Großhertzog, wie auch bey denen höhern ministern, discurs solle bey substantia seyn: Che doppo haver mio padre nella sua gioventù, quando ha studiato e fù capo della Natione alemanna in Siena, ricevuto non solo dal Ser[enissi]mo Prencipe Mathia ivi all’hora governante, ma anche dall’istesso Sereniss[i]mo Gran Duca Padre dell’adesso regnante Sereniss[i]maa Altezza molte e
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Humprecht Johann61, in die »Familie« des Großherzogs aufgenommen zu werden, sondern auch die Möglichkeit erlangen, eine gut geführte oder sogar vorbildliche Staatsverwaltung »von innen« zu beobachten.62 Jeder Hof hatte seine spezifische Atmosphäre, seine eigene Ordnung und manchmal auch seine eigenen Manieren. In Rom war es wichtig, sich erst inkognito eine Unterkunft zu suchen. Keine Besuche sollten gemacht oder empfangen werden, solange Hermann Jakob dafür keine dauerhafte und passende Wohnung hatte.63 Er sollte sich auch nicht mit Besuchen bei Kardinälen und anderen Würdenträgern der Kurie beeilen und keinesfalls vorzeitig um eine Audienz beim Papst bitten, sondern warten, »biß mann sich erst mehr italianizirt«.64 Dabei sollte er sich in allen Angelegenheiten auf den Rat und die Hilfe von Monsignor Emerix verlassen, Humprecht Johanns guten Freund.65 Ähnlich durfte er sich in Madrid mit vollem Vertrauen an den dortigen kaiserlichen Gesandten Marquis De Grana wenden, der ihm den Weg zu den königlichen Audienzen bereiten konnte.66 Aber auch in Madrid sollte er nicht voreilig vorgehen. Hermann Jakob selbst beschränkte in den ersten Tagen sein Programm und legte sich selbst eine Art von Zurückhaltung
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tante gratie, che quell’obligatione contratta in gioventù lo ha sempre fatto e fa viver in singolariss[i]ma veneratione e divotione verso la Sereniss[i]maa Casa e persona di S[ua] A[ltezza] come tutti li suoi ministri, stati tanto alla corte Cesarea, che a Venetia durante colà la sua ambasciata lo attestaranno, e perciò volendo inserir li medesimi riverentiss[i]mi sentimenti anche ne’ suoi posteri, haveva anche fatto a me, suo figlio, preferir in Italia il soggiorno in questa Sereniss[i]ma a qualsivoglia altra corte per poter haver occasione d’inchinarmi a un si Gran Prencipe dei primi potentati d’Italia e meritar la sua benigniss[i]ma gratia e padronanza, alla quale con tutta humiltà riverentiss[imamen]te mi rassegno.« FACz 260, fol. 42r–v. »[...] und sodann folgendtß durch die gantze aldorthen sich befindende zeit gleichsamb nicht mehr vor frembde, sondern vielmehr vor einheymische deß aldortigen hoffs domestichetß [!], ja des Großhertzogß selbst, wann er sehen wird, daß der Hermann manirlich undt nicht kindisch, schamhaft oder unberedet, oftere vorlaßungen, auch etwann, wie mir geschehen, auf unterschiedliche weydmannschaft, fischerey und spatzier außfarthen mitnehmungen haben können.« FACz 260, fol. 42v. »Dann die dortige nation, hoff und guberno zue friedenß- und kriegßzeit, die sowohl in privatis alß publicis durch witz undt vernunft richtet, was andere durch große macht und profusion gantzer schätz nicht zue wegen bringen können, also vor die gescheiteste regulirteste in Europa gehalten werden.« FACz 260, fol. 42v. »Zu Rom, was die loggirung anbelanget, solle mein lieber sohn im anfang ehender in einer, wenngleich nicht allerdingß gelegener kost oder alloggiament gleichsamb all’incognito, id est privatam[en]te, ohne sich zu erkennen [geben] = weniger visitengebung oder annehmung, lieber umb etwas länger sich aufhalten und einer stätter permansion rechtschaffen und cum consideratione nachsuchen, alß sich dißfals etwan praecipitiren oder übereylen.« FACz 259, fol. 41r. »Mit der bei Ihro Heyligkeit audientz nehmung undt der Cardinal patronen oder bapstlicher freundtschaft besuchung darf nicht geeylet, sondern biß man sich erst mehr italianizirt und der römischer breuch, cortesien, accortezzen undt disinvolturen kündiger wird, aufschieben.« FACz 259, fol. 43r. FACz 258, fol. 39v. FACz 260, fol. 71r+v.
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auf, die unter anderem mit der Sorge um die richtige spanische Bekleidung begründet wurde. Interessant sind Humprecht Johanns Ansichten zum Savoyer Hof in Turin, den er aus eigener Erfahrung nicht kannte. Laut seinen Informationen sollte dieser zu den prächtigsten und ordentlichsten und unter dem jungen Herzog Vittorio Amedeo II. auch zu den lustigsten Höfen gehören. Er sollte sogar den königlichen Höfen gleichen.67 Die Erfahrungen Hermann Jakobs bestätigten das. Dank der engen Verbindungen zwischen der regierenden Familie und der Adelsakademie verbrachte er in Turin im Vergleich zu anderen Residenzstädten die meiste Zeit direkt bei Hof. Die Instruktion widmete sich nur gelegentlich und nebenbei den Sehenswürdigkeiten, Antiquitäten oder Kirchen, die Hermann Jakob besichtigen sollte, denn sie wollte keinen Reiseführer ersetzen.68 In einem nach München adressierten Brief vom 10. Februar 1679 lobte Graf Humprecht den Sohn sogar dafür, dass er sich nicht Sehenswertes anschaue, sondern fleißig bei Hof »prakticirt[e]«.69 Das bedeutete aber nicht, dass man mit der Besichtigung von allerlei Interessantem im Reiseplan nicht gerechnet hätte. Zum Beispiel forderte in der »kurzen« Instruktion Graf Humprecht den Sohn auf, sich jede Stadt zuerst von oben, von einem Turm aus, anzusehen.70 Das Besondere an der Instruktion Humprecht Johann Czernins ist die Vermittlung seiner Lebenseinstellung, die die Instruktion an verschiedenen Stellen prägt. Als Vermächtnis an den Sohn kann man die Worte verstehen, die den an den Hofmeister Bockelkamp adressierten Anweisungen für den spanischen Aufenthalt folgen: »ich nimb nichts mit mihr auf die ander welt, sondern die von Gott bißhero gesegnete große machina bleibet ihme, würdt er sie aber nicht so, undt mit solcher circumspection undt attention, wie ich führen wißen, oder die aplication, sorg undt mühe dabey nicht haben wollen, so wirdt darauß nuhr ein chaos, undt ihme ein verwürter unglückseeliger laberinth [!] werden, warinnen ihme pur allein die blose, wann gleich in der höchster perfection erlehrnete exercitia oder andere dergleichen (so doch auch nuhr so lang alß nuhr die jugendt 67
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»[...] welcher jetzo aldahr der schönster, prächtigster, regulirtester undt bey diesen jungen Fürsten auch der lustigister, und einem jeden königlichen zue vergleichen ist.« FACz 259, fol. 6v–7r. Wenn der Graf ausnahmsweise auf konkrete Orte – zum Beispiel auf Kirchen, in denen das Konzil von Trient stattgefunden hatte, auf das Amphitheater von Verona, auf die »schöne weltberühmbte Cartaus« bei Pavia oder auf den Wallfahrtsort von Maria Magdalena in Sainte Baume – aufmerksam machte, tat er es eher nebenbei. »Ist mihr auch lieb zu vernehmen, daß du in deinen reysen nicht bloß die häuser und mawer anschawest, sondern auch, was sich in ein und andern ort thuen lasset, practicirest.« FACz 258, fol. 65r. »Turres vel alia loca eminentia, sed NB. solummodo ea, quae sine incommoditate (absit autem vel cum minimo periculo), id est bonis scalis auf rechten sichern verschloßenen und nicht entwann offenen, schwindelhaftigen oder gar nur gemeynen leytern, totaliter securè ascendi possunt.« FACz 258, fol. 330. Man kann sagen, dass sich Hermann Jakob gewissenhaft daran hielt.
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Zdeněk Hojda tawern) nobilitatis zwahr ornamenta nichtß helffen werden, sondern die solida, die solida [!], das judicium undt rerum gerendarum modi, quibus per lecturam et applicationem ad serias homo labore (et non infusa ex coelo scientia) imbuitur, dieselben allein müßen nach Gottes seegen (dahero heist eß: Ora et labora) zu eines menschenß vernunft, aestimation et respect, undt consequenter befürderung oder ja wenigst conservirung seines status das beste thuen, ohne welcher dreyen sostegni undt gaben Gottes (zu welchen aber sagt das alte sprichwort: hilffst dir selbst, so hilfft dir Gott) sonsten nichtß müheseeligereß seyn kan alß ein reicher mensch.«71
Diese Ratschläge sind umso mehr als Vermächtnis zu verstehen, als Graf Humprecht Johann kurz nach dem Verfassen des letzten Instruktionsabschnittes am 13. März 1682 unerwartet verstarb. Übersetzung: Markéta Vysloužilová
71
In der Instruktion vom 27. Juni 1681, FACz 260, fol. 73r+v.
FRIEDRICH EDELMAYER
Der habsburgisch-französische Konflikt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert Wenige Konflikte im frühneuzeitlichen Europa hielten sich so hartnäckig wie jener zwischen den Habsburgern und den Herrschern des frühneuzeitlichen Frankreich, seien es nun die Könige aus dem Haus Valois oder später die Bourbonen. Gerade in der älteren und nationalistischen österreichischen Literatur taucht in diesem Zusammenhang manchmal sogar der reichlich unnötige Begriff der »Erbfeindschaft«1 auf, um das Verhältnis zwischen den Dynastien zu charakterisieren. Zwar gab es zwischen den beiden Zweigen des Hauses Habsburg, dem spanischen und dem österreichischen, und den französischen Herrschern immer wieder Friedensschlüsse, die auch durch dynastische Heiraten bekräftigt wurden, doch regierte in den habsburgisch-französischen Beziehungen selten die Göttin Venus, sondern viel häufiger der Gott Mars. Im Folgenden soll versucht werden, einen groben Überblick über das habsburgisch-französische Verhältnis bis zum 18. Jahrhundert zu geben. Vorausgeschickt werden muss, dass die Ursachen des habsburgischfranzösischen Dauerkonflikts im späten 15. Jahrhundert zu suchen sind, mit dem daher die nachfolgende Darstellung eingeleitet werden soll. Im Laufe der Zeit vermischten sich verschiedene Konfliktfelder zu einem nahezu unentwirrbaren Knäuel, erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entspannte sich die Situation. Gehen wir zurück in das Jahr 1440. Damals wählten die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs den (Erz-)Herzog von Österreich zum Römischen König, im Jahre 1452 wurde dieser als Friedrich III. (1415– 1493) vom Papst zum Kaiser gekrönt.2 Einer der Gründe für die Wahl Friedrichs war gewesen, dass dieser Habsburger nur über einen sehr beschränkten Territorialbesitz im äußersten Südosten des Heiligen Römischen Reichs verfügte – Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain –, und somit die Gefahr gering schien, dass er sich machtvoll in die Belange 1
2
Der vorliegende Beitrag beruht auf einem Vortrag, den ich auf dem Internationalen Kolloquium »›Erbfeindschaften‹ in Europa – Entstehung, Folgen, Überwindung« (2.–4. April 2004) auf der Europäischen Akademie in Otzenhausen im Saarland gehalten habe. Meinem Kollegen Mag. Dr. Thomas Angerer danke ich, dass er mich damals auf neue Forschungswerke aufmerksam gemacht hat. Vgl. zu diesem Herrscher Heinrich KOLLER, Kaiser Friedrich III. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2005.
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der Reichsfürsten einmischen würde. Doch auch wenn die Reichspolitik Friedrichs III. in der Forschung durchaus kontrovers diskutiert wird, steht doch außer Zweifel, dass er schon allein deshalb ein attraktiver Allianzpartner für Fürsten inner- und außerhalb des Reichs war, weil er eben die Kaiserwürde innehatte. Einer dieser Fürsten war der burgundische Herzog Karl der Kühne (1433–1477), der – aufbauend auf dem Werk seiner Vorgänger – einen mächtigen Territorialverband geschaffen hatte, der grob gesprochen die heutigen Niederlande, Belgien, Luxemburg und einen beträchtlichen Teil des Ostens des heutigen Frankreich umfasste.3 Die von Karl regierten Territorien waren teilweise Lehen des Heiligen Römischen Reichs, teilweise waren sie Lehen der französischen Krone, mit der der Herzog permanent im Konflikt lag. Es verwundert daher nicht, dass er die Nähe zum Reichsoberhaupt suchte. Dazu bewog ihn wohl auch die Tatsache, dass er nur eine einzige Tochter hatte, er benötigte die kaiserliche Unterstützung, um den burgundischen Territorialbesitz ungeschmälert an diese und ihren künftigen Ehemann übergeben zu können. Zwar scheiterten erste habsburgisch-burgundische Verhandlungen über eine Eheschließung 1473 in Trier, doch nach dem Tod des Herzogs während der Belagerung der lothringischen Hauptstadt Nancy gelang es dem Sohn Friedrichs III., Erzherzog Maximilian (1459–1519), dem späteren Kaiser Maximilian I.4, sich im August 1477 in Gent mit Maria von Burgund (1457–1482) zu vermählen. Der reiche burgundische Territorialbesitz wurde fortan vom Haus Habsburg regiert. Die Habsburger verließen mit dieser Hochzeit die territoriale Enge der alpinen Täler und konnten die von ihnen kontrollierten Länder im Heiligen Römischen Reich beträchtlich erweitern. Doch erwarben sie nicht nur ausgedehnte Territorien, sondern übernahmen auch den Konflikt der burgundischen Herzöge mit dem französischen König als oberstem Lehnsherrn vieler der burgundischen Lehen. Maximilian I. kämpfte denn auch die folgenden Jahre bis zum Frieden von Arras (1482) gegen Ludwig XI. (1423–1483) um den Erhalt des burgundischen Erbes, was ihm nicht vollständig gelang. 1477 kann somit als die Geburtsstunde des habsburgisch-französischen Konflikts bezeichnet werden. 1486 wurde Maximilian I. zum Römischen König gewählt, 1493 starb sein Vater Friedrich III. – Maximilian wurde damit zum unbestrittenen Oberhaupt des Heiligen Römischen Reichs. Schon bald tat sich neben den Niederlanden ein neues Konfliktfeld mit Frankreich auf, nämlich Italien. Der Norden der Apenninenhalbinsel gehörte zum Lehnssystem des Heiligen Römischen Reichs, doch waren die lehnsrechtlichen Bande 3 4
Zu diesem zuletzt Klaus OSCHEMA/Rainer C. SCHWINGES (Hg.), Karl der Kühne von Burgund. Fürst zwischen europäischem Adel und der Eidgenossenschaft, Zürich 2010. Hermann WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, 5 Bde., Wien 1971–1986.
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schon sehr dünn geworden. Diesen Zustand trachtete Maximilian I. zu ändern. »Non volo Italia, quae mea est, deveniat ad manus alienas.« – »Ich will nicht, dass Italien, das mir gehört, in die Hände von irgendeinem anderen fällt.«5 Mit diesen Worten in holprigem Latein erklärte Maximilian I. um das Jahr 1500 dem französischen Botschafter die Grundlinien seiner Außenpolitik. »Italia est mea« ist als eines der Leitmotive der Italienpolitik Maximilians I. zu betrachten, der immer wieder versuchen sollte, die Macht des Heiligen Römischen Reichs in Italien zu stärken. Seine diesbezüglichen Ambitionen gerieten hier allerdings neuerlich in Konflikt mit jenen des französischen Königs, mit dem die Beziehungen auch deshalb getrübt waren, weil Maximilian versucht hatte, Anne de Bretagne zu heiraten und dieses Territorium gemeinsam mit England in eine antifranzösische Allianz einzubinden. Der Konflikt zwischen Habsburg und Frankreich kulminierte, als Karl VIII. (1470–1498) 1494 die Alpen überschritt und in Italien einmarschierte.6 Maximilian wurde von diesem Einmarsch überrascht, hatte er doch 1493 mit Frankreich den Frieden von Senlis abgeschlossen und gehofft, Karl VIII. ruhig gestellt zu haben.7 Der französische König konnte im Februar 1495 ungehindert bis Neapel vordringen, zog sich allerdings nach dem Abschluss der antifranzösischen Heiligen Liga zwischen dem Papst, Maximilian I., den späteren Katholischen Königen Ferdinand II. von Aragón (1452–1516) und Isabel I. von Kastilien (1451–1504) sowie Venedig und Mailand wieder aus Italien zurück. Die Lage in Italien ebenso wie jene in den Niederlanden führte dazu, dass sich das iberische Haus der Trastámara um einen Bündnispartner gegen Frankreich umsah. Ferdinand von Aragón stritt sich nicht nur mit dem französischen König im Süden der Apenninenhalbinsel, sondern auch an der Pyrenäengrenze, wo die Franzosen bis 1473 die Grafschaften Rosselló/Roussillon und Cerdanya/ Cerdagne okkupiert, 1493 allerdings wieder an die Aragonesen verloren hatten.8 1495/1496 schlossen die Häuser Trastámara und Habsburg eine folgenschwere Heiratsallianz, die schließlich das Haus Österreich zur Regierung der spanischen Monarchie bringen sollte. Denn da alle spanischen Thronfolger in jungen Jahren verstarben, erbte der Enkel der Katholischen Könige und Maximilians I., der spätere Kaiser Karl V. 5 6 7
8
WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 2 (1975), 26. Pierre DESREY, Histoire de Charles VIII et de la conquête du royaume de Naples, Clermont-Ferrand 2007. Ausführlich bei Friedrich EDELMAYER, Italia y el Sacro Imperio en la época de Maximiliano I, in: Giuseppe GALASSO/Carlos José HERNANDO SÁNCHEZ (Hg.), El reino de Nápoles y la monarquía de España. Entre agregación y conquista (1485– 1535) (Real Academia de España en Roma), Madrid 2004, 551–559. Vgl. zuletzt Friedrich EDELMAYER, Der Pyrenäenraum, in: INSTITUT FÜR EUROPÄISCHE GESCHICHTE (IEG) (Hg.), Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2011-08-18, URL: http://www.ieg-ego.eu/edelmayerf-2011-de URN: urn:nbn:de:0 159-2011080834 (4. 8. 2012), 10.
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(1500–1558)9, nicht nur die burgundischen Länder (1515), sondern auch sämtliche Territorien der spanischen Monarchie (1516).10 In Frankreich begannen sich erstmalig Einkreisungsängste breit zu machen. 1503/1504 hatten die Aragonesen auch Neapel erobert, die Süditalienpolitik Ludwigs XII. (1462–1514) war somit gründlich gescheitert. 1512 hatte Ferdinand der Katholische das Königreich Navarra südlich der Pyrenäen annektiert und 1515 diese Territorien in die kastilische Monarchie inkorporiert.11 Mit dem Regierungsantritt Karls V. in den einzelnen der oben genannten Länder verbanden sich somit durch die Person des Herrschers fünf ursprünglich getrennte Konfliktfelder zu einem einzigen: der habsburgisch-französische Konflikt um die Vorherrschaft in Italien, der französisch-aragonesische Konflikt um die Herrschaft über Süditalien, der burgundisch-französische Konflikt um die territorialen Grenzen und die lehnsrechtliche Situation der Niederlande, der kastilisch-französische Konflikt um die Pyrenäengrenze in Navarra sowie der aragonesisch-französische Konflikt um die Pyrenäengrenze in Katalonien. Diese Konfliktsituation wurde noch potenziert, als Maximilian I. 1519 starb, Karl auch die österreichischen Territorien erbte und die Kurfürsten zur Wahl eines neuen Römischen Königs schritten. Damals kandidierte nicht nur Karl, der Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, König von Kastilien-León und aller aragonesischen Territorien zwischen Valencia und Neapel, sondern auch Franz I. (1494–1547), König von Frankreich.12 Die Bestechungsgelder der Habsburger überzeugten die Kurfürsten. Karl wurde zum König gewählt. Als Karl V. hatte er auch die Lehnsrechte des Heiligen Römischen Reichs gegen Frankreich zu verteidigen – der habsburgischfranzösische Konflikt trat in eine neue Phase. Bis zum Jahre 1700, dem Aussterben der Habsburger in Spanien, oder dem Jahre 1714, dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs, mit dem sich die Bourbonen zwar in Spanien, nicht aber in Italien und den gesamten spanischen Niederlanden festsetzen konnten, blieb eine der Leitlinien der französischen Politik gegenüber den Habsburgern die Befreiung Frankreichs von der habsburgischen Umklammerung. Denn auch wenn im Heiligen Römischen Reich und in Spanien zwei verschiedene Zweige der Familie herrschten, betrachtete sich die Casa de Austria doch als ein einziges zusammengehöriges Herrscherhaus, die Mitglieder der Familie arbeiteten mehrheitlich eng zusammen und bekräftigten den Zusammenhalt durch Heiraten in allen Generationen, was als eine 9 10
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Alfred KOHLER, Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 32001. Vgl. allgemein Friedrich EDELMAYER, Die spanische Monarchie der Katholischen Könige und der Habsburger (1474–1700). In: Peer SCHMIDT (Hg.), Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart 22004, 123–207. EDELMAYER, Der Pyrenäenraum, 13f. Vgl. Robert J. KNECHT, Renaissance Warrior and Patron. The Reign of Francis I, Cambridge, UK 1994.
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der Ursachen dafür anzusehen ist, dass das Haus Habsburg schließlich mit Karl VI. 1740 im Mannesstamm ausstarb. Doch zurück zum habsburgisch-französischen Konflikt. Während der Regierungszeit Karls V. befanden sich die Habsburger lange Jahre im Krieg gegen die französische Krone. Der erste Konflikt brach bereits 1521 aus und endete erst acht Jahre später. Spektakulär in diesem Krieg war besonders die Schlacht von Pavia 1525. Damals geriet Franz I. in kaiserliche Gefangenschaft. Der Friede von Cambrai 152913 läutete zwar eine längere Friedensperiode ein, die 1530 zusätzlich durch eine Ehe zwischen Franz I. und Eleonore von Österreich (1498–1555), der Schwester Karls V., bekräftigt wurde – für Franz I. war dies seine zweite Ehe –, doch 1542/1543 brach neuerlich ein Krieg aus, der 1544 mit dem Frieden von Crépy beendet wurde. Am Ende der Regierung des Kaisers kam es abermals zum Krieg. Als die spanischen Tercios – schon unter Philipp II. (1527–1598)14 – 1557 die Schlacht von St. Quentin gewannen, entschlossen sich beide Seiten zu Friedensverhandlungen. Den 1559 unterschriebenen Frieden von Cateau-Cambrésis15 bekräftigte man neuerlich durch eine Heirat: Philipp II. von Spanien verehelichte sich in dritter Ehe mit Isabel von Valois (1545–1568). Dies war eine deutliche Zäsur im habsburgisch-französischen Verhältnis. Das Tauwetter zwischen den Häusern Habsburg und Valois wurde 1570 noch zusätzlich bekräftigt durch die Ehe Elisabeths von Österreich (1554–1592), der Tochter von Philipps II. Schwester Maria (1528–1603) und Kaiser Maximilians II. (1527–1576), mit König Karl IX. von Frankreich (1550–1574). In all den habsburgisch-französischen Kriegen unter Karl V. lassen sich mehrere Konfliktfelder ausfindig machen. Fortgeführt wurde der Streit aus der Zeit Maximilians I. um die Vorherrschaft in Italien und um die Grenzen der habsburgischen Niederlande. Der Konflikt wurde also in der Mitte Europas und im Norden Italiens ausgetragen, während es an der Pyrenäengrenze, von Ausnahmen abgesehen, ruhig blieb. Dort gab es seit den Eroberungen Ferdinands II. von Aragón klare und natürliche Grenzen, die Tore von Frankreich nach Spanien waren verriegelt. Es war aber nicht nur ein Streit um territoriale Grenzen oder um Lehnsrechte, sondern auch einer um politische Ideen. Karl V. als Kaiser hatte die Macht, seinen Traum einer Universalmonarchie16, die über allen anderen 13 14 15 16
Online: http://pares.mcu.es/ParesBusquedas/servlets/Control_servlet?accion=3& txt_id_desc_ud=2217244 &fromagenda=N (4. 8. 2012). Vgl. Friedrich EDELMAYER, Philipp II. Biographie eines Weltherrschers (Kohlhammer Urban-Taschenbücher 630), Stuttgart 2009. Online: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k93775c.image.f21.langEN (4. 8. 2012). Franz BOSBACH, Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 32), Göttingen 1988. Die Verfolgung der Idee der Universalmonarchie wurde den Spaniern auch später vorgeworfen: Peer SCHMIDT, Spanische Universalmonarchie oder »teutsche Libertet«. Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges (Studien zur modernen Geschichte 54), Stuttgart 2001.
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Monarchien Europas und der Welt stand, zu verfolgen, der einzige ernsthafte Konkurrent im christlichen Europa auf dem Weg zur Verwirklichung einer kaiserlichen Weltherrschaft war der König von Frankreich. Nur dieser hatte die Ressourcen, dem kaiserlichen Vormachtanspruch zu trotzen, allerdings um den Preis einer engen Kooperation mit dem Osmanischen Reich, einem der Hauptgegner der karolinischen Politik. Religiöse oder konfessionelle Skrupel hatte der Rex Christianissimus hier ebenso wenig wie bei seiner Unterstützung der Protestanten im Heiligen Römischen Reich. In der internationalen Politik zählte die Konfession nicht so viel, wie immer wieder angenommen wird, auch wenn die Herrscher zeitweise religiöse Motive vorschoben, um politische Ziele zu erreichen. Dies zeigt sich auch in der Politik Philipps II., des Sohnes Karls V., der an protestantische Reichsfürsten Pensionen zahlte, um sie für eine Politik der Neutralität im Niederländischen Freiheitskrieg zu gewinnen.17 Das Jahr 1559 stellte, wie erwähnt, eine Zäsur in den habsburgischfranzösischen Beziehungen dar, die längere Phase des Friedens wurde durch dynastische Heiraten zwischen Madrid und Versailles sowie zwischen Wien und Versailles abgesichert. Wichtig ist, dass die Madrider und die Wiener Habsburger zwar zeitweise getrennte Wege der Politik gingen, aber im Großen und Ganzen auf den Zusammenhalt des Hauses achteten. Wenn John C. Rule die Jahre des spanisch-französischen Verhältnisses zwischen 1559 und 1714 in sechs Phasen einteilt18, so gilt diese Einteilung für das Verhältnis der österreichischen Habsburger zu Frankreich nicht wirklich.19 Nur während der ersten Phase, die nach Rule bis 1589 dauerte, gibt es eine Übereinstimmung. Zwischen den Valois und den Habsburgern 17
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Friedrich EDELMAYER, Söldner und Pensionäre. Das Netzwerk Philipps II. im Heiligen Römischen Reich (Studien zur Geschichte und Kultur der Iberischen und Iberoamerikanischen Länder / Estudios sobre Historia y Cultura de los Países Ibéricos e Iberoamericanos 7, Wien–München 2002), 203–224. John C. RULE, The Enduring Rivalry of France and Spain ca. 1462–1700, in: William R. THOMPSON (Hg.), Great Power Rivalries, Columbia, SC 1999, 31–59, spricht von zwei langen Zyklen zwischen 1559 und 1635 sowie zwischen 1635 und 1714, die ihrerseits in sechs Unterzyklen eingeteilt werden können: 1559 bis 1589 bilden einen Unterzyklus von dreißig Jahren, während dem es keine deklarierten Kriege gab; 1589 bis 1598 war eine Phase mit nicht deklarierten und deklarierten Kriegen; 1598 bis 1635 gab es bis auf die zweieinhalb Jahre des Erbfolgekriegs um Mantua Frieden; 1635 bis 1659 bilden einen 24-jährigen Kriegszyklus; während der 28 Jahre zwischen 1659 und 1697 gab es mehr als 17 Jahre lang Krieg; zwischen 1697 und 1714 bildeten Frankreich und Spanien eine Allianz, der sich allerdings Katalonien widersetzte. Das Modell von Rule ist schon deshalb auf das gesamte Haus Habsburg nicht anwendbar, weil ab 1701 zwischen den österreichischen Habsburgern und den Bourbonen der Krieg um das spanische Erbe tobte. Vgl. auch Jean BÉRENGER, Le conflit entre les Habsbourg et les Bourbons (1598–1792), in: Revue d’histoire diplomatique 116/3 (2002), 193–232. Zu diesem Themenkomplex unverzichtbar ist das hervorragende Buch von Jeroen DUINDAM, Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550– 1780, Cambridge, UK 2003.
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herrschte zumindest nach außen hin Friede, obwohl es immer wieder von beiden Seiten Störversuche gab. Zu diesen sind die hugenottischen Anstrengungen zu zählen, sich am Beginn der sechziger Jahre in Florida festzusetzen, obwohl hier das Haus Valois nur mit Einschränkungen involviert war20, oder die französische Unterstützung einer antihabsburgischen osmanischen Außenpolitik sowohl während des 16. als auch im 17. Jahrhundert. Zweifellos war die französische Monarchie in ihrem Aktionsradius damals eingeschränkt, tobten doch in Frankreich die Religionskriege. Friede zwischen Habsburg und Valois herrschte also nur deshalb, weil die französische Monarchie gar nicht die Kapazitäten für eine offensive Außenpolitik frei machen konnte. Die spanische Monarchie stand außerdem auf dem Höhepunkt ihrer Macht, dass sich die Valois in den niederländischen Freiheitskrieg einmischten, fiel hier nicht sonderlich ins Gewicht. Wien und – unter Rudolf II. (1552–1612) – Prag waren mit anderen Dingen beschäftigt, mit dem Osmanischen Reich oder mit der Reichspolitik und sonnten sich im Bewusstsein der Unterstützung durch Madrid. Wenn Habsburg und Valois in Mitteleuropa aufeinander prallten, geschah dies eher auf Nebenschauplätzen, beispielsweise während des Zweiten Polnischen Interregnums ab 1572. Damals setzte sich zum Missfallen Wiens und Madrids der französische Kandidat, der spätere französische König Heinrich III. (1551–1589), gegen den habsburgischen durch.21 Rule sieht einen tiefen Einschnitt im spanisch-französischen Verhältnis im Jahre 1589, mit dem ein zweiter Abschnitt begann.22 Von da an herrschte bis 1598 zwischen beiden Reichen eine Phase des erklärten und nicht erklärten Krieges. Was war geschehen? 1589 fiel Heinrich III., der letzte der Valois, einem Attentat zum Opfer. Der nächste in der Erbfolge Frankreichs war der Bourbone Heinrich von Navarra (1553– 1610), als französischer König Heinrich IV.23 Der Fürst von Béarne, wie er in spanischen Quellen genannt wird, weil in der Diktion Madrids ja der einzig legitime König Navarras Philipp II. war, hatte nach Ansicht der Habsburger einen groben Makel – er war Protestant.24 Philipp II. unterstützte daher aktiv die französischen Katholiken gegen den König, ignorierte das salische Erbrecht in Frankreich, proponierte seine Tochter aus der Ehe mit Isabel von Valois, Isabel Clara Eugenia (1566– 1633), für den französischen Thron und legte nach Paris eine 20
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Zuletzt dazu Friedrich EDELMAYER, Freibeuter im Dienste ihrer Könige. Die Karibik im 16. Jahrhundert, in: Andreas OBENAUS/Eugen PFISTER/Birgit TREMML (Hg.), Schrecken der Händler und Herrscher. Piratengemeinschaften in der Geschichte (Expansion • Interaktion • Akkulturation. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt), Wien 2012, 61–76, hier 63f. Christoph AUGUSTYNOWICZ. Die Kandidaten und Interessen des Hauses Habsburg in Polen-Litauen während des Zweiten Interregnums 1574–1576 (Dissertationen der Universität Wien, Neue Folge 71), Wien 2001. RULE, The Enduring Rivalry, 41. Jean-Pierre BABELON, Henri IV, Paris 42010. EDELMAYER, Philipp II., 258–263, hier 259.
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spanische Besatzung, um die katholische Stadt vor dem hugenottischen König zu schützen. Doch Heinrich IV. konvertierte wieder einmal, diesmal zum Katholizismus (»Paris vaut bien une messe« – »Paris ist eine Messe wert«), und wurde 1594 in Chartres gesalbt. Schließlich schlossen Spanien und Frankreich 1598, wieder auf der Basis der Verträge von 1559, den Frieden von Vervins. Der habsburgische Kaiser im Heiligen Römischen Reich hatte sich aus dem Konflikt herausgehalten, führte er doch seit 1593 seinen Heiligen Krieg gegen die Osmanen. Die beiden habsburgischen Familienzweige stärkten in jenen Jahren ihre dynastischen Allianzen. Das Jahr 1599 sah zwei neue innerhabsburgische Hochzeiten: Philipp III. von Spanien (1579–1621)25 heiratete Margarete von Österreich (1584–1611), die Tochter Erzherzog Karls von Innerösterreich (1540–1590), Erzherzog Albrecht (1559–1621) verehelichte sich mit seiner Cousine Isabel Clara Eugenia.26 Zwischen 1598 und 1635 gab es auch zwischen den Habsburgern und den Bourbonen27 eine relativ lange Periode des Friedens, die nur kurzfristig durch den mantuanischen Erbfolgekrieg zwischen 1628 und 1631 unterbrochen wurde. Zur Aufrechterhaltung des Friedens dienten wieder einmal Matrimonialverbindungen, denn 1615 gab es eine Doppelhochzeit: Ludwig XIII. (1601–1643) heiratete Ana de Austria (1601–1666), die Tochter Philipps III. von Spanien, der spätere König Philipp IV. (1605– 1665) wurde mit Isabel de Bourbon (1602–1644), der Schwester Ludwigs XIII., vermählt. Die Interessengegensätze zwischen den Habsburgern und den Bourbonen konnten durch diese Eheschließungen dennoch nicht ganz ausgeräumt werden, es entstand keine neue habsburgischfranzösische Achse. Vielmehr blieb die Kooperation zwischen Madrid und Wien weiterhin ganz eng – María Ana de Austria (1601–1646), die Schwester Philipps IV., heiratete 1631 den späteren Kaiser Ferdinand III. (1608–1657) –, die spanische Unterstützung im Dreißigjährigen Krieg für Kaiser Ferdinand II. (1578–1637) war bis zum Prager Frieden von 1635 kriegsentscheidend.28 Beide Zweige des Hauses Habsburg konnten politische und militärische Erfolge verbuchen. Doch allmählich wendete sich 25
26 27 28
Zu diesem vgl. zuletzt das umfangreiche Werk (4761!! Seiten) von José MARTÍNEZ MILLÁN/Maria Antonietta VISCEGLIA (Hg.), La monarquía de Felipe III, 4 Bde., Madrid 2008. EDELMAYER, Philipp II., 262–265. Zu diesen neuerdings Klaus MALETTKE, Die Bourbonen, Bd. I: Von Heinrich IV. bis Ludwig XIV. (1589–1715), Stuttgart 2008. Ausführlich bei Friedrich EDELMAYER, Gli Asburgo e l’Europa: Ferdinando II e Ferdinando III (1619–1657). In: COMUNE DI GORIZIA (Hg.), Gorizia Barocca. Una città italiana nell’impero degli Asburgo, Mariano del Friuli 1999, 21–35; zu den Finanzen vgl. Antonio José RODRÍGUEZ HERNÁNDEZ, Financial and Military Cooperation between the Spanish Crown and the Emperor in the Seventeenth Century, in: Peter RAUSCHER (Hg.), Kriegsführung und Staatsfinanzen. Die Habsburgermonarchie und das Heilige Römische Reich vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des habsburgischen Kaisertums 1740, Münster 2010, 575–602.
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das Blatt, denn der Nachschub an Silber aus der Neuen Welt ging bereits ab 1600 gravierend zurück, der Aktionsradius der habsburgischen Politik wurde dadurch beträchtlich eingeschränkt. 1635 trat außerdem das Königreich Frankreich unter Ludwig XIII. in den Dreißigjährigen Krieg ein.29 Die französische Politik wurde damals von Kardinal Richelieu geleitet, dem es bis 1629 gelungen war, die Vorrechte der protestantischen Hugenotten und jene des rebellischen Hochadels zu beseitigen. Richelieu, ein unbedingter Anhänger der Idee der Staatsraison, griff die alten außenpolitischen Zielsetzungen wieder auf, nämlich die Befreiung Frankreichs aus der Umklammerung durch die Casa de Austria. Seine antihabsburgische Politik war in erster Linie jedoch eine antispanische. Deutlich zeigt der französische Kriegseintritt 1635 gegen die Habsburger, dass dynastische Hochzeiten als Mittel des Konfliktmanagements untauglich geworden waren. Für Frankreich war es von Vorteil, dass die Unzufriedenheit mit der habsburgischen Politik nicht nur im Reich beträchtlich war, sondern auch auf der Iberischen Halbinsel. Diese Unzufriedenheit spitzte sich besonders in Portugal und in Katalonien zu. Die Portugiesen konnten denn auch ab 1640 mit französischer Unterstützung die habsburgische Herrschaft abschütteln. In Katalonien hatten sich bereits seit der französischen Kriegserklärung von 1635 die Probleme verdichtet. Es lagen dort ab jenem Jahr starke Militäreinheiten, was die Unzufriedenheit der Bevölkerung wegen der Einquartierungen und der Zwangseintreibung von Lebensmitteln und Viehfutter durch die Soldaten noch verstärkte. 1640 brach schließlich die offene Rebellion aus.30 Als die königlichen Truppen rasch große Teile des aufständischen Fürstentums erobern und militärisch besetzen konnten, riefen die Katalanen die »Katalanische Republik« aus, die sich, als der Vormarsch weiterging, 1641 Ludwig XIII. unterstellte. Auf der Iberischen Halbinsel blieb in den folgenden Jahren die Rückeroberung des abtrünnigen Territoriums eines der ersten politischen Ziele. Sie gelang aber erst endgültig, als sich 1652 Barcelona ergab. Mit beigetragen zum Sieg der königlichen Truppen hat sicher die Frustration der Katalanen über die Franzosen, deren Einquartierungen als mindestens so belastend empfunden wurden wie jene Philipps IV. Wichtig ist, dass in dieser Phase des spanisch-französischen Konflikts, die bis 1659 dauern sollte, die viel zitierte Einheit des Hauses Österreich geschwächt wurde, wenn nicht gar auseinanderbrach. Wien und Madrid mussten aufgrund der jeweils verschiedenen geopolitischen Situation unterschiedlich auf den französischen Kriegseintritt reagieren, Kaiser Ferdinand III. opferte in den Westfälischen Friedensverträgen 1648 die enge Zusammenarbeit mit Spanien. Er musste sich verpflichten, 29 30
Zum Folgenden vgl. EDELMAYER, Die spanische Monarchie, 189–194. Noch immer lesenswert der »Klassiker« von J[ohn] H[uxtable] ELLIOTT, The Revolt of the Catalans. A Study in the Decline of Spain (1598–1640), Cambridge, UK 32001.
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seinen Schwager Philipp IV. nicht mehr gegen den französischen König zu unterstützen. Den Bruch in der innerhabsburgischen Zusammenarbeit konnte auch eine neuerliche Verwandtenhochzeit 1649 nicht mehr wirklich kitten, nämlich jene zwischen Philipp IV. und seiner Nichte Maria Anna von Österreich (1635–1696), der Tochter von Philipps IV. Schwester María Ana und Ferdinands III. Im Zuge der Kämpfe im Dreißigjährigen Krieg hatten die österreichischen Habsburger sämtliche ihrer Besitzungen im Elsass an Frankreich verloren, die spanischen Habsburger hatten einige empfindliche Niederlagen gegen Frankreich auf dem niederländischen Kriegsschauplatz erlitten. Den Franzosen war es während des Krieges gelungen, das spanische Kommunikationssystem im Heiligen Römischen Reich zwischen Mailand und den Niederlanden so nachhaltig zu unterbrechen, dass keine Truppen mehr nach Norden geschickt werden konnten.31 Die Konsequenz waren spanische Gebietsverluste in den Niederlanden. Die Westfälischen Friedensverträge brachten eine Konsolidierung für die österreichischen Habsburger, nicht aber für die spanischen. Madrid konnte 1648 mit den Niederlanden Frieden schließen, aber der Krieg mit Frankreich ging weiter. Die Spanier verloren schließlich nicht zuletzt deshalb den Krieg, weil die Franzosen mit England eine antispanische Allianz geschlossen und die Engländer 1657 die spanische Silberflotte versenkt hatten, was für Spanien bedeutete, zwei Jahre ohne Edelmetallnachschub aus der Neuen Welt auskommen zu müssen.32 Der lange Krieg endete für die spanischen Habsburger erst 1659 mit dem Pyrenäenfrieden33 und brachte den Verlust der Grafschaften Rosselló/Roussillon, Conflent und des Nordteils der Cerdanya/Cerdagne an der Mittelmeerküste sowie des größten Teiles des Artois, sowie von Teilen Flanderns, des Hennegaus und Teilen Luxemburgs in den Niederlanden. Die Hoffnung, nach dem Frieden mit Frankreich Portugal wieder erobern zu können, erfüllte sich nicht, unterstützten doch sowohl die Engländer als auch die Franzosen tatkräftig die Portugiesen. 1659 war damit das spanische Hegemonialsystem in Europa endgültig zusammengebrochen, und obwohl es Frankreich nicht gelungen war, die spanische Vorherrschaft in Italien zu beenden, begann eine kurze Epoche der französischen Hegemonialbestrebungen. Der Friede von 1659 sollte auch beträchtliche Auswirkungen auf den Wettlauf um das spanische Erbe gegen Ende des Jahrhunderts 31
32 33
Vgl zuletzt Katharina ARNEGGER, Der Einfluss Spaniens auf die Herrschaften Vaduz und Schellenberg. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 108 (2009), 184–210; Geoffrey PARKER, The Army of Flanders and the Spanish Road, 1567–1659. The Logistics of Spanish Victory and Defeat in the Low Countries’ Wars (Cambridge Studies in Early Modern History), Cambridge, UK 22004. José Ignacio de BENAVIDES, Las relaciones España–Inglaterra en los reinados de Felipe III y Felipe IV (Biblioteca diplomática española. Sección estudios 32), Madrid 2011. EDELMAYER, Der Pyrenäenraum, 19f.
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haben, vor allem deshalb, weil im Friedensvertrag auch die Ehe zwischen Ludwig XIV. (1638–1715) und María Teresa de Austria (1638– 1683), der ältesten Tochter Philipps IV., paktiert worden war. Trotz des neuen Ehebündnisses bekriegten sich die spanische Monarchie und Frankreich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts im Rahmen der so genannten Reunionskriege noch vier Mal. Die einzelnen Friedensschlüsse von Aachen (1668)34, Nimwegen (1678/1679)35, Regensburg (1684)36 und Rijswijk (1697) brachten neuerliche Territorialverluste für die spanische Monarchie – es gingen nicht nur weitere Teile der spanischen Niederlande an Frankreich verloren, sondern im zweiten der genannten Friedensschlüsse auch die Freigrafschaft Burgund. Im letzten dieser Kriege belagerten und eroberten die Franzosen 1697 auch Barcelona. Dieses Ereignis, ebenso wie die harte Steuerpolitik Frankreichs in den 1659 erworbenen katalanischen Territorien am Mittelmeer trugen dann viel dazu bei, dass im Spanischen Erbfolgekrieg gerade die Katalanen besonders treu zum habsburgischen Thronprätendenten hielten und sich gegen die Monarchie Philipps V. (1683–1746) aus dem Haus Bourbon aussprechen sollten. Doch zurück zu den österreichischen Habsburgern: Seit 1657/1658 regierte in den österreichischen Ländern und im Reich Leopold I. (1640–1705).37 Auch dieser Kaiser hatte mit der expansiven Politik Frankreichs unter Ludwig XIV. zu kämpfen, denn die Reunionskriege richteten sich nicht nur gegen die spanischen Niederlande, sondern auch gegen andere Territorien des Reichs. Zusätzlich intensivierte Frankreich seine Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich, das seinerseits die habsburgischen Territorien in Ungarn bedrohte. Die Doppelbedrohung des Kaisers aus dem Osten und dem Westen wurde bereits beim ersten Reunionskrieg ab 1667 sichtbar. Leopold I. beteiligte sich zwar zeitweise an den wechselnden europäischen Allianzen gegen das Königreich Frankreich, was bedeutende finanzielle und militärische Kapazitäten band, gleichzeitig gab es aber auch Verhandlungen mit Ludwig XIV. über eine mögliche Aufteilung der spanischen Monarchie. Denn es war absehbar, dass der dortige Zweig des Hauses Habsburg mit König Karl II. (1661–1700) aussterben würde. Die zumindest am Beginn der Regierung Leopolds I. tendenziell Frankreich freundliche 34 35
36 37
Der Text des Friedensvertrages findet sich unter http://www.ieg-mainz.de/likecms /likecms.php?site=anthology.htm&dir=&treaty=225&anth=326 (4. 8. 2012). Zu diesem neuerdings Matthias KÖHLER, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 3), Köln–Weimar–Wien 2011. Der Text findet sich unter http://www.ieg-mainz.de/likecms/likecms.php?site=ant hology.htm&dir=&treaty=242&anth=270 (4. 8. 2012). Das Folgende ausführlich bei Friedrich EDELMAYER, L’ascesa di una grande potenza. La monarchia asburgica da Leopoldo I a Carlo VI (1657–1740). In: COMUNE DI GORIZIA (Hg.), Gorizia Barocca. Una città italiana nell’impero degli Asburgo, Mariano del Friuli 1999, S. 75–105.
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oder zumindest unentschiedene Politik des Wiener Hofes hängt wohl mit einer gewissen Orientierungslosigkeit in den außenpolitischen Zielsetzungen des Kaisers zusammen, der finanziell nicht in der Lage war, einen permanenten Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und das Osmanische Reich zu führen. Denn Frankreich ermunterte die Osmanen, den Kaiser neuerlich anzugreifen, 1683 belagerten sie Wien zum zweiten Mal. Als der osmanische Vorstoß gescheitert war, schritten die christlichen Truppen zur Gegenattacke. Hier war vor allem die Unterstützung durch polnische Einheiten unter König Jan III. Sobieski von größter Bedeutung. Die Offensive in Ungarn war zunächst sehr erfolgreich, blieb dann aber stecken, weil an der Westgrenze des Heiligen Römischen Reichs neuerlich Krieg mit Frankreich ausgebrochen war, der die kaiserlichen Kräfte ab 1688 nicht unbeträchtlich band.38 Auch sonst vermischten sich, wie zuvor im Dreißigjährigen Krieg, einzelne Konflikte zu einem immer größere Teile Europas tangierenden Krieg. Ludwig XIV. ließ im Herbst 1688 auch den niederländischen Generalstaaten den Krieg erklären, die ihrerseits eine Allianz mit dem Kaiser und verschiedenen Reichsfürsten schlossen. Und auch der neue englische König, Wilhelm III. von Oranien, trat dieser Allianz gegen Frankreich bei, die sich fortan die »Große Allianz« nannte. Damals entstanden jene antifranzösischen Bündnisstrukturen zwischen Habsburg, den Niederlanden und England, die bis 1756 im Wesentlichen halten sollten. Später schlossen sich aber auch noch Spanien und der Herzog von Savoyen an. Ziel war es, neuerlich die territorialen Verhältnisse zu schaffen, die in den Westfälischen Friedensverträgen von 1648 und im Pyrenäenfrieden von 1659 vereinbart worden waren. Für Kaiser Leopold I. von Bedeutung war ein geheimer Zusatzartikel im Allianzvertrag von 1689, in dem sich die Niederlande und England verpflichteten, beim absehbaren Aussterben der spanischen Linie der Casa de Austria den österreichischen Habsburgern bei der Durchsetzung ihrer Erbansprüche auf die spanische Monarchie behilflich zu sein. Der Krieg gegen Frankreich, der bald auch zu einem Krieg in Norditalien und in Spanien sowie in Indien – wegen der dortigen divergierenden kolonialen Interessen zwischen Frankreich und den Niederlanden – wurde, zog sich nicht nur lange Jahre hin, sondern brachte auch weder für den Kaiser noch das Heilige Römische Reich die Rückgabe aller von Frankreich in früheren Kriegen eroberten Territorien. Als 1697 der Friede von Rijswijk39 abgeschlossen wurde, musste Ludwig XIV. zwar viele seiner Reunionen zurückgeben, konnte aber die alte Reichsstadt Straßburg/ 38
39
Vgl. Grete KLINGENSTEIN/Gernot HEISS (Hg.) Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1789: Konflikt, Entspannung und Austausch (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 10), Wien–München 1983. Heinz DUCHHARDT/Matthias SCHNETTGER/Martin VOGT (Hg.), Der Friede von Rijswijk 1697 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 47), Mainz 1998.
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Strasbourg behalten. Das wichtigste Ergebnis war aber wohl, dass mit diesem Friedensschluss die französischen Hegemonialbestrebungen endgültig gebremst werden konnten. In Europa hatte sich damit das Prinzip des sogenannten »Gleichgewichts der Kräfte« nicht nur behaupten, sondern sogar verfestigen können. Dieses Prinzip besagte, dass im gesamten europäischen System ausgewogene Verhältnisse herrschen, also Hegemonialbestrebungen einzelner Mächte zum Schaden der Nachbarn unterbunden werden sollten. Das Festhalten an diesem Prinzip erklärt viele der Ereignisse im nächsten gesamteuropäischen Krieg, dem Spanischen Erbfolgekrieg. Er sollte die Zukunft des österreichischen Zweiges der Casa de Austria ganz wesentlich beeinflussen und seine Ergebnisse machten für die Wiener Habsburger endgültig den Weg frei zur Großmacht.40 Kurz vor seinem Tod, im Oktober 1700, unterschrieb Karl II. ein neues Testament, in dem Philipp von Anjou, ein Enkel Ludwigs XIV. und der spanischen Infantin María Teresa, als alleiniger Erbe der spanischen Monarchie bestimmt wurde. Allerdings war die Erbschaft an eine Bedingung geknüpft: Die französische und die spanische Monarchie durften niemals miteinander vereint werden. In den folgenden Wochen verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Königs, am 1. November 1700 starb er. Bereits zwei Wochen später ließ Ludwig XIV. seinen Enkel Philipp von Anjou zum neuen spanischen König proklamieren. Alle Teilungsverträge über die spanische Monarchie, die England, die Niederlande und Frankreich miteinander abgeschlossen hatten, waren damit hinfällig. Erzherzog Karl (1685–1740), der Sohn Kaiser Leopolds I., ging leer aus. Europa stand am Rande eines neuen Krieges.41 Kaiser Leopold I. dachte nach dem Empfang der Nachricht vom Tod seines spanischen Verwandten und der Proklamation Philipps von Anjou zunächst daran, die italienischen Besitzungen der Spanier für die Casa de Austria zu sichern. Noch im November 1700 wurde Prinz Eugen von Savoyen zum Oberbefehlshaber jener Armee ernannt, die nach Mailand und Süditalien marschieren sollte. Gleichzeitig gab es in Wien auch Erwägungen, die gesamte spanische Monarchie für die Casa de Austria zu erwerben, denn, so argumentierte man, es drohe eine vollständige Hegemonie der französischen Monarchie über Europa. Rasch war bekannt geworden, dass Ludwig XIV. sämtliche Erbansprüche seines Enkels auf 40 41
Vgl. Gernot HEISS, »Österreichs Aufstieg zur Großmacht« – sollen wir ihn heute noch feiern?, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 12 (1982), 121–125. Zum Folgenden neuerdings Friedrich EDELMAYER, Grosse Kriege in Europa am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Rainer VOLLKOMMER/Donat BÜCHEL (Hg.), Das Werden eines Landes, 1712–2012, Vaduz 2012, 175–200; Stefan SMID, Der Spanische Erbfolgekrieg. Geschichte eines vergessenen Weltkriegs (1701–1714), Köln–Wien 2011; Friedrich EDELMAYER/Virginia LEÓN SANZ/José Ignacio RUIZ RODRÍGUEZ (Hg.), Hispania – Austria III: Der Spanische Erbfolgekrieg / La Guerra de Sucesión española (Studien zur Geschichte und Kultur der Iberischen und Iberoamerikanischen Länder / Estudios sobre Historia y Cultura de los Países Ibéricos e Iberoamericanos 13), Wien–München–Alcalá de Henares 2008.
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die französische Monarchie Ende Dezember 1700 ebenfalls bestätigt hatte, so dass die Gefahr einer Vereinigung Frankreichs und Spaniens nicht mehr von der Hand zu weisen war. Die Wiener Habsburger verwendeten also nun aus propagandistischen Gründen dieselben Argumente von einer drohenden Vorherrschaft der Bourbonen in Europa, die diese und die Valois vor allem im 16. Jahrhundert gegen die Habsburger ins Treffen geführt hatten. Folgerichtig wurde Erzherzog Karl 1703 in Wien ebenfalls zum spanischen König proklamiert, landete ein Jahr später auf der Iberischen Halbinsel und residierte ab 1705 in Barcelona. Er verließ Spanien erst wieder, als ihn die Kurfürsten 1711 zum Kaiser wählten. Auf die einzelnen Ereignisse im Spanischen Erbfolgekrieg ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Wichtig ist, dass 1713/1714 endlich Friede geschlossen wurde. Mit diesen Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt und Baden im Aargau42 veränderte sich das territoriale Gefüge Europas beträchtlich. Die Casa de Austria erhielt aus dem Erbe der spanischen Monarchie die südlichen Niederlande, also das heutige Belgien und Luxemburg, in Reichsitalien das Herzogtum Mailand, dann Mantua, das der dortige Herzog im Krieg an Frankreich abgetreten hatte, und Mirandola, sowie die Königreiche Neapel und Sardinien. Savoyen konnte damals Sizilien erwerben. Karl VI. anerkannte stillschweigend Philipp V. als König von Spanien, führte selbst aber ebenfalls diesen Titel weiter. Neben der Habsburgermonarchie war England, oder Großbritannien, wie die Monarchie ab der Union mit Schottland 1707 hieß, der große Gewinner des Krieges. Denn die Briten hatten die Franzosen in Übersee zurückdrängen, sich große Handelsvorteile in Spanisch-Amerika verschaffen und auch strategisch wichtige Stützpunkte, wie die Insel Menorca und den Felsen von Gibraltar, erwerben können. Frankreich dagegen hatte außer der Etablierung seiner Dynastie in Spanien nichts erreicht, denn eine Verbindung zwischen Spanien und Frankreich wurde auf immer untersagt. Karl VI. hatte nun die militärischen Kapazitäten frei, neuerlich und expansiv gegen das Osmanische Reich vorzugehen. Hier war er auch erfolgreich. Doch die letzten beiden Jahrzehnte seiner Regierungszeit auf dem Feld der internationalen Politik können nicht als imponierend bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil machte sich allenthalben eine gewisse Krisenstimmung breit, die nicht zuletzt damit zusammenhing, dass der Kaiser, der keine Söhne hatte, bei all seinen politischen Aktionen im Auge hatte, die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion, das Recht der weiblichen Erbfolge, durch die europäischen Mächte zu erreichen. Die daraus resultierende unsichere Politik brachte keine Erfolge, sondern führte neuerlich zu Gebietsverlusten. Besonders deutlich wurde dies in Italien, wo die Habsburgermonarchie eigentlich zur dominierenden politischen 42
Alle Friedensverträge sind online zu finden unter http://www.ieg-mainz.de/likecm s/likecms.php?site=site.htm&dir=&ieg2sess=sd1lnu97k6js75mo1g165j0ll6&nav=85 (4. 8. 2012) auf der Homepage des Instituts für Europäische Geschichte Mainz.
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Macht aufgestiegen war, und das auf Kosten der spanischen Bourbonen. In Madrid reifte daher bald der Entschluss, die verlorenen italienischen Gebiete zurückzuerobern. Treibende Kraft dieser Politik war neben der Königin Isabel Farnese, der zweiten Gemahlin Philipps V., der Minister Giulio Alberoni. Vor allem sollten die Söhne der Farnese, die in Spanien nicht erbberechtigt waren, versorgt werden. Mit der Landung spanischer Truppen in Neapel und Sardinien im Jahre 1717 begann in Italien neuerlich ein Krieg. Dieses Mal bildete sich ein Bündnis zwischen Karl VI., England, Frankreich und Savoyen gegen die Spanier. Die Auseinandersetzungen endeten 1720 mit dem Austausch von Sardinien und Sizilien zwischen Savoyen und der Casa de Austria, den Söhnen der Farnese wurden Parma, Piacenza und die Toskana versprochen. Der Kaiser musste damals offiziell auf seine Ansprüche auf den spanischen Thron verzichten. In den letzten Jahren der Regierung Karls VI. kam es neuerlich zu einem Krieg mit Frankreich.43 1733 war König August von Polen verstorben. Frankreich und Spanien unterstützten Stanisław Leszczyński, der auch zum König gewählt wurde. Daraufhin marschierten russische Truppen in Polen ein, die auf der Seite des Sohnes von König August standen, dem Kurfürsten August III. von Sachsen. Auch Karl VI. unterstützte den Kurfürsten, was Frankreich, Savoyen-Sardinien und Spanien zum Anlass nahmen, der Habsburgermonarchie den Krieg zu erklären. In Frankreich war damals schon bekannt, dass der Herzog von Lothringen, Franz Stephan (1708–1765), der aussichtsreichste Heiratskandidat für die Kaisertochter Maria Theresia (1717–1780) war. Diese Ehe hätte bedeutet, dass die habsburgische Familie, die dann ja auch Lothringen regiert hätte, neuerdings vor den Toren von Paris stand. Frankreich griff daher Lothringen an, die Savoyer und Franzosen marschierten außerdem im habsburgischen Mailand ein, Spanien in Neapel und Sizilien. Da sich Großbritannien und die Niederlande neutral verhielten, hatte Karl VI. als einzigen Verbündeten Russland, dessen Truppen fern waren. Der Rest war neben einigen Schlachten klassische Kabinettspolitik: Die Habsburgermonarchie musste 1735 auf Neapel und Sizilien verzichten, die an den Sohn von Isabel Farnese, Carlos, abgetreten wurden, Savoyen erhielt Teile des Herzogtums Mailand (Novara, Tortona), die Casa de Austria dafür Parma und Piacenza. Stanisław Leszczyński bekam statt seines polnischen Königreichs Lothringen, das nach seinem Tod an Frankreich fallen sollte, Franz Stephan von Lothringen wurde als Ersatz für den Verlust seines Stammlandes die Toskana übergeben, und in Polen setzte sich der Kandidat Wiens, der sächsische Kurfürst, als König durch. Gegen eine Ehe des neuen Großherzogs von Toskana mit Maria Theresia hatte danach niemand mehr etwas einzuwenden. Der gesamte 43
Vgl. Paul W. SCHROEDER, A Pointless Enduring Rivalry. France and the Habsburg Monarchy, 1715–1918. In: William R. THOMPSON (Hg.), Great Power Rivalries, Columbia, SC 1999, 60–85.
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Konflikt ist ein Musterbeispiel dafür, wie sehr sich die europäische Politik vernetzt hatte, doch auch dafür, wie einfach es im 18. Jahrhundert geworden war, Länder und Dynastien großräumig auszutauschen. Im Oktober des Jahres 1740 verstarb Karl VI. Mit ihm erlosch das Haus Habsburg im Mannesstamm. Die Habsburgermonarchie wurde künftig vom Haus Habsburg-Lothringen regiert. Am Antagonismus zwischen Frankreich und Österreich änderte sich zunächst nichts. Die alten Feindbilder blieben bestehen. Frankreich unter Ludwig XV. (1710–1774)44 und Spanien unter Philipp V. nahmen daher auch an der Seite Preußens und anderer Mächte am sogenannten Österreichischen Erbfolgekrieg teil, der 1740 ausgebrochen war. Als 1748 in Aachen Frieden geschlossen wurde45, verlor Österreich endgültig große Teile Schlesiens an Preußen sowie Parma, Piacenza und Guastalla an die spanischen Bourbonen. Allerdings sollte dieser Krieg einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Habsburgern und den Bourbonen bringen. Schon seit dem Tod Ludwigs XIV. hatte es seitens Wiens immer wieder Bemühungen gegeben, das Verhältnis zu Frankreich zu entkrampfen. Wenzel Anton Graf von Kaunitz-Rietberg, der nach dem Österreichischen Erbfolgekrieg die Wiener Politik maßgeblich leitete, strebte einen Wechsel des traditionellen österreichischen Bündnissystems mit den Niederlanden und Großbritannien an und suchte eine Verbesserung der Beziehungen zu Frankreich. Als es ab 1754 in Nordamerika zu Zusammenstößen zwischen Frankreich und Großbritannien kam und Preußen sich an Großbritannien annäherte, schlossen Wien und Versailles 1756 erst einmal eine Defensivallianz, im Herbst 1756 dann endgültig ein Bündnis gegen Großbritannien und Preußen. Der sogenannte Siebenjährige Krieg, der damals ausbrach, endete mit einer Niederlage Frankreichs und auch Österreichs, doch die Allianz zwischen Versailles und Wien blieb bestehen. In Europa festigte sich mit dem Frieden von Paris (1763) die Pentarchie der Großmächte Großbritannien, Frankreich, Österreich, Preußen und Russland.46 Das neue Tauwetter zwischen Wien und Versailles wurde durch eine dynastische Heirat bestärkt, da Marie Antoinette (1755–1793), die Tochter Maria Theresias, 1770 den französischen Dauphin und späteren König Ludwig XVI. (1754–1793) heiratete, aber diese Ehe hatte keine große Bedeutung mehr für die Aufrechterhaltung der Allianz. Die internationale Politik im 18. Jahrhundert war nicht mehr auf den Abschluss von Heiratsbündnissen angewiesen. Zweifellos blieben die Beziehungen zwischen 44 45 46
Zum Folgenden Klaus MALETTKE, Die Bourbonen, Bd. II: Von Ludwig XV. bis Ludwig XVI. (1715–1789/1792), Stuttgart 2008. Auch alle Verträge von Aachen finden sich online auf der Homepage des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Vgl. Heinz DUCHHARDT, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), Paderborn 1997.
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Österreich und Frankreich bis zur Französischen Revolution freundschaftlich. Der nahezu dreihundert Jahre währende Konflikt zwischen Habsburg und Frankreich unter den Valois und Bourbonen hatte ein vorläufiges Ende gefunden. Als abermals Krieg zwischen Österreich und Frankreich ausbrach, hatten die Bourbonen in Frankreich nichts mehr zu bestimmen. Fast ist es als eine Ironie des Schicksals zu betrachten, dass 1793 der bourbonische König und die habsburgisch-lothringische Königin, Nachkommen zweier Häuser, die sich Jahrhunderte lang bekriegt hatten, ein gemeinsames Schicksal auf den Pariser Guillotinen erwartete. * Der Dauerkonflikt zwischen den Habsburgern und den französischen Valois sowie Bourbonen war im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts entstanden, als beide Mächte in den Niederlanden und in Italien aufeinanderprallten. Als die Habsburger auch in den spanischen Ländern die Kronen erlangten, machten sich in Frankreich Einkreisungsängste breit sowie die Furcht vor einer habsburgischen Universalmonarchie. Derartige Ängste wurden bis zum Spanischen Erbfolgekrieg am Beginn des 18. Jahrhunderts immer wieder politisch instrumentalisiert. Dynastische Heiraten als Mittel zur Entschärfung des Konfliktes erwiesen sich besonders im 17. Jahrhundert als gänzlich untauglich, wie es vor allem unter Ludwig XIII. und Ludwig XIV. deutlich wurde. Erst im 18. Jahrhundert begann sich der habsburgisch-französische Antagonismus schrittweise zu entschärfen. Dazu trug wesentlich bei, dass Preußen, Russland und Großbritannien politisch mächtiger wurden und ein Gleichgewicht der großen Mächte in Europa entstand. Der Konflikt zwischen Habsburg und Frankreich war nur so lange ein ganz Europa überschattendes Problem, so lange keine andere europäische Kraft die politische Macht hatte, im Wettkampf zwischen Habsburg und Frankreich entscheidend mitzumischen. Die Entstehung der europäischen Pentarchie bedeutete denn auch das Ende der Feindschaft zwischen Frankreich und den Habsburgern. Eines allerdings zeigt dieser kurze Abriss des habsburgisch-französischen Verhältnisses deutlich: Die Konflikte zwischen den beiden Systemen können nicht unter dem Begriff von »Erbfeindschaften« subsumiert werden. Vielmehr basierten die Probleme zwischen den beiden Machtblöcken auf den typischen dynastischen Konflikten innerhalb des sich formierenden frühneuzeitlichen Staatensystems. Daher versuchten die Repräsentanten der konkurrierenden Herrscherfamilien auch immer wieder, ihre Auseinandersetzungen mit dem Mittel der dynastischen Politik, also durch Heiraten, beizulegen. Miteinander verschwägerte Familien fanden immer wieder Möglichkeiten, ihre Konflikte beizulegen. »Erbfeindschaften« in Europa entstanden erst mit der Partizipation breiterer Segmente der Bevölkerung an den politischen Entscheidungsprozessen seit der Französischen Revolution.
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Friedrich Edelmayer HABSBURGER Friedrich III. Eleonore von Portugal ╚═════ ∞ 1452 ═════╝ Maximilian I. Maria von Burgund ╚═════ ∞ 1477 ═════╝ Philipp I. Johanna von Kastilien ╚═════ ∞ 1496 ═════╝
VALOIS Franz I. Eleonore von Kastilien ╚═════ ∞ 1530 ═════╝
Karl V.
Ferdinand I.
Heinrich II. Karl IX. Isabel Philipp II. Maria Maximilian II. Erzherzog Karl ║ ╚═ ∞ 1559 ═╝║ ╚═ ∞1548 ══╝ ║ ∞1570 ║ ║ ║Isabel Clara Eugenia ╚════ Anna Elisabeth Albrecht Ferdinand II. ╚═════║════════ ∞1570 ═════════╝ ║ ╚═══════════ ∞1599 ════════════╝ BOURBONEN Heinrich IV. Philipp III. Margarete ╚═══════════════ ∞ 1599 ═══════════════╝ Ludwig XIII. Ana ╚══ ∞ 1615 ══╝
Isabel Philipp IV. María Ana Ferdinand III. ╚══ ∞ 1615 ══╝║ ╚══ ∞ 1631 ══╝ ∞ 1649 ╚═══ Maria Anna
Ludwig XIV. María Teresa ╚══ ∞ 1660 ══╝
Karl II.
Eleonore von Margarita Teresa Leopold I. Pfalz-Neuburg ╚══ ∞ 1666 ══╝ ╚══ ∞ 1676 ══╝
Louis de France (+ 1711) Louis de France (+ 1712) Ludwig XV.
Philipp V. von Spanien
Karl VI.
Maria Theresia Franz I. Stephan von Lothringen ╚═══════ ∞ 1736 ═══════╝
Louis de France (+ 1765) Ludwig XVI. Marie Antoinette ╚═════════ ∞ 1770 ══════════╝ Die Heiraten der Habsburger mit den Valois und den Bourbonen sowie die innerhabsburgischen Hochzeiten. Doppellinien bedeuten Eheverbindungen, angegeben wird jeweils das Jahr der Hochzeit; Pfeile weisen auf die jeweiligen Kinder hin. Im Fall von Kaiser Ferdinand II. und Margarete als Kinder von Erzherzog Karl von Innerösterreich sowie bei Kaiser Leopold I. und Maria Anna als Kinder von Kaiser Ferdinand III. stehen die Geschwister aus Gründen der Graphik nicht in einer einzigen Zeile. Um die Graphik nicht unübersichtlich zu machen, wurden Heiraten beispielsweise mit den Häusern der Wittelsbacher oder Savoyer nicht integriert. – Gestaltung: Friedrich Edelmayer.
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Monarchy, Image, and Authority: France and Austria on the Eve of Revolution In 1837 Hans Christian Andersen published his famous story, “The Emperor’s New Clothes”, a cautionary tale about the capacity of the powerful for self-deception and its consequences. The main character is an emperor so vain and devoted to his own sartorial splendor that he neglects his duties as ruler and spares no expense on his wardrobe. His weakness for clothes causes him to fall victim to two charlatans who claim they can weave cloth of exceptional beauty that also possesses the quality of being invisible to anyone who was unfit for their office or stupid. Believing garments from this cloth will make him appear more magnificent than he already does and enable him to detect the incompetent from among his officials and servants, the emperor commissions the two charlatans to weave their cloth and gives them huge sums of money to do so. Those sent to examine the work of the weavers can see nothing, but are afraid to admit this to themselves or the emperor lest they be labeled unfit so, they praise the beauty of the cloth. When the clothes supposedly made from this wondrous cloth are delivered even the emperor is afraid to admit he cannot see them, but the strength of his pride and the sycophancy of courtiers encourage the emperor to see what does not exist and to parade through his capital naked. Intimidated at first by the knowledge of what they were supposed to see, his people encourage the emperor’s self-deception by praising his “new clothes” until a child cries out that he has nothing on. This truth coming from the mouth of an innocent spreads among the people and now the emperor too must admit to himself that he is wearing nothing, but once committed to the original deception he and his courtiers feel compelled to continue the procession as if the clothes were real.1 Although the story ends at the moment of the emperor’s selfrealization that he has been party to his own humiliation, the fact that he goes on with the parade in front of his now incredulous people suggests that he may not have learned much from his experience. His insistence on acting as if nothing has happened seems to be a conscious effort to maintain his image of imperial authority at all costs. There is no recognition that a change in circumstances should lead to a change in behavior or 1
Hans Christian ANDERSEN, The Emperor’s New Clothes, URL: http//www. bartleby.com/17/3/3.html (3. 1. 2012).
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that a failure to do so might lead to worse damage, not only to the image of authority but to its reality. Of course, in Andersen’s story this is an issue faced by an imaginary monarch, but historically it is one that has been of very real concern to those who occupy a throne. The actions of a ruler affect the way he or she is perceived by his or her subjects which, in turn, can affect the authority of the ruler and the power it represents. A ruler’s image is more than just the stuff of a children’s story. It can affect the fate of kings, emperors, dynasties, and states. Examining the image of a monarch and its impact, therefore, can serve as a useful perspective in understanding the success or failure of specific monarchs and their reigns. Two cases that lend themselves to such an examination are the late eighteenth century monarchs of the Bourbon and Habsburg dynasties. As two of the oldest and most prestigious dynasties in Europe, the Bourbons and Habsburgs, respectively, ruled France and Austria.2 They had also been traditional rivals and enemies, in particular since the seventeenth century when from 1674 until the Peace of Rastatt in 1714 Austria had been the rallying point of the great coalitions organized to stop the hegemonic ambitions of Louis XIV. Although Austria emerged from its struggles with France and its earlier re-conquest of Hungary from the Turks with a reputation as one of Europe’s great powers, its old opponent was still generally regarded as the continent’s strongest and most ambitious state. Yet both monarchies enjoyed images of power that were less than deserved. In reality the Habsburgs ruled over a loose collection of inherited territories that were poorly administered, inefficiently taxed, and protected by an army too small for its task, while the Bourbons too were chronically overextended financially, lacked effective leadership after the death of Louis XIV, and from 1750 forward were harassed by the nobles of their parlements. Until roughly the middle of the eighteenth century both dynasties and their states were fortunate that events did not draw attention to their relative lack of “clothing”. They benefitted from successes and reputations based on the recent past and from the lack of external or internal setbacks that could change how they were perceived. After 1740 and into the period of the French Revolution, however, the challenges faced by both the Bourbons and the Habsburgs would severely test their ability to have image correspond to reality and to ensure that the correspondence was perceived as positive. The degree to which the effective authority of each dynasty was connected with its image was far from negligible. By 1789–1790 the then rulers of France and Austria, Louis XVI and Joseph II, each faced major crises, but only the Habsburg had constructed an image sufficiently positive that his dynasty and its authority could survive. Why this disparity in image came to be and should have been so significant is the subject of what follows. 2
For the sake of convenience, the diverse realms ruled by the Habsburg dynasty will be referred to collectively as Austria.
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While the desire of rulers to construct and project a positive image of themselves and their actions can be traced forward in history from the self-glorification of the pharaohs, this phenomenon as it relates to France and Austria in the period under examination has its most relevant origins in the reign of Louis XIV. As Peter Burke has pointed out, Louis XIV put together a propaganda and cultural machine aimed at magnifying his personal and political gloire that was unprecedented in Europe up to that time. Artists, architects, scholars, and writers all contributed to the “fabrication” of the “sun king”.3 The historical sociologist Norbert Elias even went so far as to argue that Louis’ elaborate and self-centered court and ceremonies made Versailles not only a means of politically emasculating the nobility, but also a model for the creation of civility.4 The combination of his successful absolutism at home and military victories abroad gave substance to his carefully cultivated image as Europe’s greatest monarch. Whether out of admiration or intimidation, Louis XIV’s image of monarch and monarchy as glorious and triumphant was copied by other rulers and none so assiduously as the states of the Holy Roman Empire5 and among them no other on so ambitious a scale as Austria.6 To emphasize the greater status of the Habsburg emperor in comparison to a mere king of France, Leopold I had Johann Bernhard Fischer von Erlach draw up plans in 1690 for a colossal version of what became the more modest palace of Schönbrunn.7 Though not meant as a replica of Versailles, even if the money had been available to make it so, it was certainly intended to beat Louis at his own game of monarchic representation. In ceremonial terms, however, the Habsburgs needed no lessons from the Bourbons in portraying their grandeur as rulers, the use of the so-called Spanish ceremonial style adapted from their cousins provided a highly formalized etiquette that left no doubt as to the hierarchical structure of the imperial court. This competition of image was also pursued in less tangible form on the level of dynastic descent. Thus, Louis’ Bourbon pedigree boasted a saint and the designation of “most Christian king”8, while the 3 4
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See Peter BURKE, The Fabrication of Louis XIV, New Haven–London 1992. For the full argument see Norbert ELIAS, The Court Society, New York 1983; also, for a critical reassessment of his argument see Jeroen DUINDEM, Norbert Elias and the History of the Court: Old Questions, New Perspectives, in: Reinhardt BUTZ/ Jan HIRSCHBIEGEL/Dietmar WILLOWEIT (Hg.), Hof und Theorie. Annäherung an ein historisches Phänomen, Köln–Weimar–Wien 2004, 91–103. For a full discussion of the conditions that gave rise to the absolutist pretensions of German courts and their rulers after 1648 see Rudolf VIERHAUS, Germany in the Age of Absolutism, trans. Jonathan B. Knudson, Cambridge, UK–New York 1988. For a full discussion of the rivalry and preeminence of the Bourbon and Habsburg courts see Jeroen DUINDAM, Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780, Cambridge, UK 2003. Thomas DA COSTA KAUFMANN, Court, Cloister, and City. The Art and Culture of Central Europe 1450–1800, Chicago 1995, 290–291. John HARDMAN, Louis XVI, New Haven, Conn.–London 1993, 1.
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Habsburgs could claim descent from Aeneas and the religious distinctions associated with “pietas Austriaca”.9 By the deaths of Leopold in 1705 and Louis in 1715 the importance of image to rulers in Europe and, especially to the rival houses of France and Austria, was well established. In general terms, the core around which both the French and Austrian monarchies had built their image was absolutism, but the reality of what that term meant in Versailles and Vienna was not identical nor were the models of rule derived from it and their relevance to changing concepts of governance and the state. At the time that Louis XIV is supposed to have said “l’état, c’est moi” the political power it implied was far from total. In the French case, it expressed the determination of the king to exclude an often rebellious nobility from sharing power over the state’s narrow sphere of functions comprised largely of foreign policy, war, administration, and the financing of the state. Its essence was the “theoretical legislative self-sufficiency of the decisions taken by ‘the king in his Council’”10 which, when registered by the Parlement of Paris, became law. In theory Louis ruled by “divine right”, his legitimating selection by God, but so did virtually all other rulers in Europe and, like them, his power and authority was ostensibly limited by his “Christian conscience” and the largely undefined and unwritten constitution of the realm.11 Clearly, Louis XIV did not wield absolute power in a literal sense, but only relative to the condition of royal authority before his reign, yet he was able to project an image at home and abroad of unprecedented power. In part this perception has to do with his success in war, subsequent acquisition of territory, and his exceptional 54 years (1661–1715) of personal rule, but all this was also incorporated along with the other ingredients that made the “fabrication” of his largerthan-life image possible. It must also be said, however, that Louis XIV had enormous and exceptional personal skill as a ruler which was crucial to make the image seem real. Neither his Habsburg rivals nor his successors shared these qualities. In the Austrian context absolutism and the image of the ruler connected with it was not on a par with the French variety. When Louis XIV died in 1715 the Habsburg monarchy appeared as if it was a power equal to its Bourbon rival. The successes of Leopold I and his son Joseph I had created this perception, but the reality inherited by their successor, Charles VI, was quite different. Victory in the wars with France and the Ottoman Empire, the re-conquest of Hungary, and the building boom of palaces and monuments in post-1683 Vienna gave the appearance of a triumphant state ruled by a monarch able to exert a degree of 9
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For the mythic descent of the Habsburgs and their fabled piety see Marie TANNER, The Last Descendant of Aeneas: The Hapsburgs and the Mythic Image of the Emperor, New Haven, Conn. 1993; and Anna CORETH, Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, München 1960. HARDMAN, Louis XVI, 1–2. Ibid.
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political control equal to the absolutism of Louis XIV. To be sure, as Holy Roman Emperor, Charles VI and, by extension, the Habsburg dynasty enjoyed enormous prestige among their fellow European monarchs which was also enhanced by the crowns of Bohemia and Hungary, as well as the multiple titles associated with their other territories. Unfortunately, neither Charles nor his two immediate predecessors qualified as absolute rulers. The circumstances of good fortune in war and the service of able officials, such as Prince Eugene of Savoy and Christian Julius Schierl von Schierendorf, substituted for the presence of a single ruler capable of asserting a clear and consistent vision of personal rule. Joseph I might have qualified as such a figure, but his early death eliminated that possibility.12 The collective realm of the Habsburgs was also an impediment to realizing any achievement of real absolutism of the French type. The Thirty Years War had eliminated the possibility of all but a weak consensual rule over the princes of the Empire, while in the hereditary lands that constituted Austria proper, the degree of effective control varied considerably and was determined by traditional rights and the taxation power of the diets controlled by the local nobility. Under Charles VI even the dynastic succession was in danger when only a daughter, the future Maria Theresia, was left to follow him. The necessity of gaining acquiescence to her legitimacy at home and abroad through the instrument of the Pragmatic Sanction served to indicate that the very existence of the dynasty as a ruling house was less than secure. All of this meant that the Habsburgs were hardly qualified to be the Central European counterparts to Bourbon absolutism and by 1740 their neighbors had come to the same conclusion. The well-known attack by Frederick the Great in violation of the Pragmatic Sanction, and the subsequent outbreak of the War of the Austrian Succession were the result of a realization by rival states that what seemed like a strong and powerful monarchy was far from it. Once that image was punctured by Prussian victories and Austria came close to collapse the discrepancy between image and reality had to be confronted and erased. Austria had to become a form of absolute monarchy in fact as well as in image or it would cease to exist. Ironically, it was the near death experience of the war that gave new life to the monarchy and allowed it to become an exemplar of a new kind of absolutism, one that historians generally have termed “enlightened despotism”. The need to restructure itself to survive ultimately meant that the monarchy would have to adopt a new raison d’être and this was found in the ideas of the Enlightenment. Ministers and advisers, such as Count Wenzel Anton von Kaunitz, Gerhard van Swieten, and Joseph von Sonnenfels, combined governmental skill with the rationalist vision of eudaimonian reform from above that would help to legitimate the unprecedented 12
For a full evaluation of Joseph I and his unrealized potential see Charles INGRAO, In Quest and Crisis: Emperor Joseph I and the Habsburg Monarchy, West Lafayette, Ind. 1979.
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concentration of power and authority in the hands of their Habsburg masters that developed after 1740. Once the ideas of the Enlightenment were harnessed to the needs of the Austrian state and its rulers the irony of history was once again on the side of the Habsburgs that a movement so closely identified with France should end up serving the ends and magnifying the reputation of its greatest rival. The rational eudaimonian character of monarchy advocated by the Enlightenment became as intrinsic to the identity of Austria’s Habsburg rulers as it remained alien to that of France’s Bourbon kings. Where Louis XV lacked an understanding of its existence and Louis XVI showed a lack of sympathy for its ideas Maria Theresia’s hostility toward the Enlightenment rarely stood in the way of its application for the good of the state while Joseph II willingly decreed programs of reform based on the principle of mutual benefit for ruler and ruled alike. Embracing constructive change also had the effect of altering the relations between the two monarchies such that it came to be in the interest of Bourbon France to conclude an alliance with Habsburg Austria thereby reversing centuries of hostility in what the textbooks still refer to as the “diplomatic revolution” of 1756. The subsequent marriage of Archduchess Marie Antoinette to the future Louis XVI in 1770 further underscored the French perception of how important it was to cement its connection with Austria. From the Austrian side the alliance between the two dynasties certainly brought military and international advantages, but, as one historian has characterized it, in reality “… 1756 had shackled the Monarchy to a decaying power …”13 and when the crisis of 1789 led to revolution in France both Joseph and the future Leopold II felt justified in pronouncing rather superior and less than sympathetic judgments on the failings of leadership and the course of events that followed.14 By comparison, Austria projected the image of not only a successful state, but of one that was perhaps worth emulating. Although the last years of Joseph’s reign would show that adopting enlightened rule was not an unalloyed success, by the late eighteenth century it was still more in keeping with the contemporary vision of monarchy advocated by the Enlightenment15 than the more than century old legacy of absolutism that had led Louis XVI into political crisis and disaster. This descent from greatness of one monarchy and ascent of status of the other along with what the process indicated about legitimacy and authority can be seen in the different levels of image each projected along the way. 13 14 15
Timothy C. W. BLANNING, Joseph II, London–New York 1994, 38. See Adam WANDRUSZKA, Leopold II., vol. 2, Wien 1965, 190; and BLANNING, Joseph II, 203. Whether referring to works as diverse as John Locke’s Second Treatise on Government (1689), Voltaire’s Letters on England (1733) and Montesquieu’s Spirit of the Laws (1748), or Karl Anton von Martini’s A Teaching Concept of General Constitutional Law [Lehrbegriff des allgemeinen Staatsrechts] from 1783 it is clear that Austrian governmental theory and practice came closer to the ideas found in these and other works of the period far more than what existed in France.
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Figure 1: Hyacinthe Rigaud, Louis XIV (1701), Louvre, Paris
In the Bourbon case the absolutist legacy left by Louis XIV had included a royal image of unparalleled splendor that was meant to be the natural expression of the king’s actual power and divine authority. Visually, this is strikingly expressed in what is perhaps the most famous royal portrait in European history, Hyacinthe Rigaud’s “Portrait of Louis XIV, King of France” painted in 1701 when Louis was about 63. Aside from showing off his handsome legs, Louis stands before his
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throne on a raised platform amidst luxurious surroundings while wearing his elaborate blue, gold, and ermine lined robes of state. He rests his right arm somewhat casually on the base of his upended fleur-de-lis scepter. Lying next to it are the crown and the sceptered “hand of justice” depicted as a left hand with the raised two fingers customary for making the Catholic sign of the cross. At his side Louis wears Joyeuse the supposed sword of Charlemagne and around his neck is the chain and insignia of the Order of the Holy Spirit. Finally, staring out from the top center of the painting Louis’ face bears an expression of almost quotidian selfconfidence that seems to indicate that both he and the viewer share the common knowledge of how magnificent a king he is. To express such magnificence in their own right and to have it depicted with the same skill was the ambition of his successors Louis XV and Louis XVI, but neither of them could realize it. Both men had portraits of state showing themselves in variations of the same kingly pose, in the midst of equal luxury, wearing the same robes, showing the same regalia, and attempting expressions meant to convey a similar yet unique matter-of-fact confidence of their own. Unfortunately for them, the more they tried to continue in the footsteps of Louis XIV as absolute rulers and to project the same image the more both attempts seemed like efforts to maintain a desperate continuity with a formula for power that was out of date. Certainly, the inadequacy of the absolutist model was already evident during the regency of Philippe, Duke of Orleans, who ruled in the name of Louis XV until the great grandson of the “sun king” reached his majority at thirteen. Without a strong king that model had no guarantee of continuation and through the initiative of the Regent an effort was made to undermine it by reintroducing the high nobility into the top councils of government at the expense of Louis XIV’s ministerial system. At the same time the Regent tried to solve the state’s chronic lack of money by allowing a dubious Scottish financier, John Law, to set up a kind of central bank using the income of France’s colonial companies as collateral for the sale of shares to raise capital. Both projects failed, but not without consequences for the monarchy.16 The Regent’s policy of encouraging the political role of the nobility led to reintroducing into the Parlement of Paris the right of preregistration remonstrance regarding edicts, a right which undercut royal control of that institution and, therefore, weakened the absolutist legacy. Similarly, failure of Law’s bank scheme through mismanagement and fraud so discredited any idea of a central bank that it contributed substantially to making it all but impossible for either Louis XV or Louis XVI to reform state finances in order to have the means to assert the independence in domestic and foreign affairs that, in theory, an absolute monarch should 16
For a discussion of the Regency see James B. COLLINS, From Tribes to Nation. The Making of France 500–1799, London 2002, 424–425, 454–455.
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have. These misfortunes, however, only grew worse under the personal rule of a mature Louis XV. Although an intelligent man, Louis XV seems never to have understood either the traditional basis of his legitimacy or the changing views of monarchy that were emerging during his reign and which threatened that very legitimacy. This situation meant also that he lacked the ability to understand that the absolutist monarchy he had inherited had contracted a sickness unto death, yet the first and most serious symptom of this sickness derived from the king himself. Like other monarchies, that of France rested on the principle of divine right which gave it a sacral character and made its authority to rule legitimate. Moreover, absolutism had been incorporated into this tradition by Jacque-Bénigne Bossuet, Bishop of Meaux, in his 1679 work, “Politics taken from the Holy Scripture”, in which the direct relationship between the prince and God and the power derived therefrom were strongly argued.17 It was Louis XV’s lecherous behavior that first brought the sacral character of the king into question. So flagrant were his sexual escapades and insincere his acts of contrition that in 1739, 1740, and 1744 his personal confessor refused the king communion at Easter which not only belied his relationship with God, but also canceled, albeit temporarily, his ability to give his supposedly healing touch for scrofula.18 This was an unheard of public humiliation that damaged Louis XV’s reputation to the extent that as late as 1769 his daughter, Louise, entered a Carmelite monastery as an act of expiation for her father’s sins.19 A further decline in the sacral character of his person and office was brought about by the clergy and nobility through their political conflicts over royal policy. The issue of whether the papal bull Unigenitus condemning Jansenism should be incorporated into French law spurred the parlements to oppose it as a foreign imposition on the undefined constitutional law of France, the first of several disputes that basically challenged the absolute authority of the crown to make law and, indirectly, its divine character. For its part the Church, while glad of Louis XV’s support of Unigenitus, in the course of his reign diminished his sacral aura by criticizing the monarchy’s growing unwillingness to treat religious infractions as crime or exempt Church property from taxation.20 Begun in the 1750s, these conflicts had been waged publicly and may have provoked the attempted assassination of Louis XV in 1757 by Robert-François Damien, a deranged former servant of members of the Parlement of Paris. Damien claimed he was acting on behalf of the public welfare, 17 18 19 20
Ibid., 389–390. Ibid., 481, 511. Jeffrey W. MERRICK, The Desacralization of the French Monarchy in the Eighteenth Century, Baton Rouge, La.–London 1990, 20. See COLLINS, Tribes to Nation, 426; and the general argument plus the points made on the pages mentioned in MERRICK, Desacralization, 25–26, 36–48.
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denied the king’s inviolability and, by extension, the sacredness of his person. Despite the public revulsion expressed by all parties at the attempt to kill the king and the affirmation of his divine legitimacy that accompanied it, that such expressions were also coupled with claims Damien’s crime was “alien” and the work of a “fanatic” suggested an awareness that the open struggles between king, clergy, and nobles had taken their toll on the sacral identity of the French monarch and monarchy.21 A further blow to the sacral image of the French monarchy was the growth of Enlightenment ideas that were skeptical of the divine nature of monarchs and their sovereign authority.22 It was precisely during Louis XV’s reign that the most influential disseminator of Enlightenment ideas, the Encyclopédie of Denis Diderot and Jean le Rond d’Alembert was published in 1751–1772 and distributed throughout Europe. Even the king’s grandson and successor, the future Louis XVI, in the spirit of knowing the enemy, used his first regular allowance to buy it.23 Yet neither the Encyclopédie nor any of the weightier works on political theory penetrated the thinking of Louis XV or his circle.24 Unfortunately for the future of Bourbon absolutism this was not the case among the educated and politically active segments of the population. Although in the articles of the Encyclopédie that dealt with topics on government and kingship a fundamental bias in favor of monarchy is evident, the type of monarchy it favors is removed from that created by Louis XIV. To be sure, absolute monarchs are not overtly condemned, but the conditional nature of their power and authority is emphasized by references to the limits placed upon them by the original popular will that made them rulers and the obligation of all good sovereigns to observe and place themselves under the rule of law. Reason rather than divine guidance is adduced as the means to produce good government and rulers fit to be philosopher kings.25 Of course, no Bourbon king saw himself as anything other than benevolent and a source of just laws he 21 22 23 24
25
MERRICK, Desacralization, 100–104. Ibid., 166–167. HARDMAN, Louis XVI, 20. How alien Enlightenment ideas were to the king and court can be symbolized by René de Maupeou whose attempt at the end of Louis XV’s reign to abolish the parlements and institute other judicial reforms has led to him often being interpreted as an enlightened chancellor when he was, in fact, unsympathetic to the movement. See ibid., 10–11. The discussion of the view of monarchy and government found in the Encyclopédie is drawn from the articles by César CHESNEAU DU MARSAIS, Philosopher, trans. Dena Goodman; UNKNOWN, Sovereigns, trans. Marc Lombardo; UNKNOWN, King, trans. Anne Byme; and Louis CHEVALIER DE JAUCOURT, Absolute Monarchy, trans. Victor Genecin, in: The Encyclopedia of Diderot & d’Alembert Collaborative Translation Project, 2002, 2008, 2010, 2011, URL: http://hdl.handle.net/2027 /spo.did2222.0000 (16. 1. 2012).
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graciously observed, but this was not what the authors in the Encyclopédie had in mind nor what Montesquieu and the parlementaires meant when they challenged the king’s claim to make law. As time passed the failure of the monarchy to overtly incorporate Enlightenment ideology to put new life into absolutism compromised its legitimacy.26 The danger of failing legitimacy was increasingly reflected in how Louis XV was popularly characterized by his subjects. When he began his reign Louis XV was called “the Beloved” (le Bien-Aimé), by its end he was called the “well-loved”, but not as a term of endearment but as a complement to his other identity as the “the old Roué”. Louis XV’s sexual license, his failure at war, loss of the bulk of France’s colonial empire, the unpopular political and marriage alliance with Austria combined with the collapse of his sacral character and the ongoing struggle with the parlements were problems no amount of image manufacture could disguise. Nonetheless, the machinery of royal fabrication inherited along with absolutism from Louis XIV continued on behalf of Louis XV. In light of the inescapable and known reality of the king’s reign, the very grandeur of the effort suggests that it was too contradictory to have much positive impact. Like his predecessor, pictorial grandeur was used as a way of validating his absolutist image as a worthy successor to Louis XIV. Thus, even at the age of five in 1715, the year he came to the throne, Rigaud was commissioned to depict the child-king in the same robes of state accompanied by the same regalia found in his earlier portrait of Louis XIV, but, no doubt in deference to his extreme youth, Louis XV is seated and rests his feet on a cushion while looking off to his left with an expression of childish sweetness rather than of regal selfconfidence. Despite the less than imposing demeanor of a boy barely past the toddler stage, the clothes, symbols of power, and the setting were clearly meant to establish continuity with Louis XIV and assure all who saw the portrait that the future of the monarchy was in good hands. This message was further underscored when in 1730 Rigaud produced another portrait of Louis XV at the age of twenty with all the same props of royalty, but this time the king is standing, his legs in a Louis XIV-like pose, resting his right hand on the crown and with his left holding a staff surmounted by a miniature gold statue of an enthroned Charlemagne. The addition of the Charlemagne staff again emphasized the message of greatness for a king who by his expression of youthful determination directed as if toward some distant goal suggested not just the promise, but the virtual certainty of greatness. The identification with Louis XIV and what he had accomplished with absolutism was becoming clearer with each rendition of the new king. 26
See also the comment in MERRICK, Desacralization, 168.
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Figure 2: Hyacinthe Rigaud, Louis XV (1730), Versailles
This desire to press home the message of continuity was also carried through into the other favorite medium for royal imagery, monumental sculpture. Like Louis XIV (and many other rulers), Louis XV chose to have himself depicted as a latter day Caesar thereby invoking simultaneous associations with empire and classical culture. In 1743 in Bordeaux
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and in 1763 in Paris equestrian statues reminiscent of Marcus Aurelius were erected. At the same time as the Paris statue a standing figure of Louis XV as Caesar was put up in Reims. Of the three, only the statue at Reims survived the French Revolution, but from pictures of all three these works relied on their size and imperial vision to impress the viewer rather than through any facial expression of kingly character. The face of Louis XV in all three seems to convey an impersonal uniformity of royal majesty, eternal and unmoved by change. Yet, in the statue at Reims a crack in the absolutist wall appears in the symbolic figures at its base. The king’s stance involved an extended arm that in the words of the artist was meant “to take the people under his protection” and the benevolence of this gesture was emphasized by three allegorical figures representing the “peacefulness of government”, a “happy citizen”, and the “happiness of peoples”.27 It is known that the monument was consciously meant to break with the standard equestrian, martial form and that the sculptor, Jean-Baptiste Pigalle, was in contact with Voltaire and evidently influenced by his ideas.28 This has led one art historian to conclude that, “[i]n the established iconography of Bourbon kingship, to recast royal legitimacy purely in terms of paternal benevolence and solicitude for the population was implicitly to borrow from Enlightenment conceptions of monarchy”.29 Unfortunately for the image of Louis XV and the monarchy, the ideological iconography of the monument was not repeated even though a more up-to-date casting of the king and his motivations as a ruler might have helped to deflect popular anger over the 1763 loss of French colonies and allowed Louis XV to take the high ground in his struggle with the Parlement of Paris. Instead, Louis XV and the officials in charge of his image could not let go of what Rigaud had created no matter how inappropriate to the times. Thus in place of the dead master, Louis-Michel van Loo in 1761 painted the now fifty-one year old king in another variation of Louis XIV’s famous pose, but without the power of the original. This failure to impress, however, was not the fault of the painter, but of the subject and may explain why there was no later portrait of the king in state. Although Louis XIV was clearly an old man when Rigaud executed his famous portrait, the king looked confident and his signs of age in no way diminished that impression. In van Loo’s portrait, however, Louis XV looks as if he has lived every day of his fifty-one years which, for the eighteenth century, marked the beginning of old age. Moreover, the expression on his face looks more defensive rather than confident. Unlike his portrait from 1730, what Louis XV stares at beyond the 27 28 29
Quoted in Thomas E. CROCO, Painters and Public Life in Eighteenth-Century Paris, New Haven, Conn.–London 1985, 156. Ibid., 156–158. Ibid., 157–158.
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painting does not bring an expression of hopefulness to his face. The fact that the king is standing in front of a colossal throne that is easily twice the size of those in the previous two portraits of Louis XV, as well as of the throne in the portrait of Louis XIV, it seems designed to distract the viewer from the king’s face in favor of the symbols of his regal status. Still, in comparison to what had come before, the painting succeeds only in conveying a feeling of grandiloquence rather than of actual grandeur. It seems to function as a façade to mask what by 1761 were mounting international problems associated with the Seven Years War and the ongoing disputes with the Parlement of Paris. By Louis XV’s death in 1774 the cloth of absolutism was wearing thin, but, unlike the emperor in Anderson’s story, the king was not quite naked. That fate would befall his grandson and successor, Louis XVI. Despite the sad state of repair in which Louis XV left both absolutism and the reputation of the monarchy, he had, nevertheless, bequeathed Louis XVI a potential means of reversing the situation. Following a showdown between the king and the Parlement of Paris in 1770–1771 that involved the state’s debt, but also acceptance of the absolutist principles of royal power and authority, the refusal of the parlementaires to sanction those principles resulted in what contemporaries called the “Maupeou Revolution”. Named for the chancellor who carried it out, the so-called revolution replaced the parlements with a system of royal courts and other judicial reforms that functioned well for three years and seemed to have decided the long-standing conflict between the king and the parlements in his favor. Without the parlements there was no effective venue for the noble opposition and nothing to prevent an assertion of absolutism, especially in the area of the fiscal reform that all agreed was necessary. Louis XVI failed to understand this and threw away the opportunity. Louis XVI was intelligent, but also politically inept. Upon coming to the throne he allowed a personal dislike for Maupeou, Madame du Barry (the old king’s last mistress) and her circle to influence his decision to dismiss the chancellor and recall the parlements. Because the parlementaires had successfully presented themselves as the champions of limited monarchy their return was popular and coincided with Louis XVI’s wish to start his reign on a note of reconciliation and a break with the negative image of his grandfather. Unlike him, Louis was faithful to his wife and pious. He wanted to live up to his title of “most Christian king” and took seriously his obligation to touch for scrofula.30 In short, Louis XVI wanted to restore the sacral character of the monarchy through his personal piety and behavior. He also insisted on maintaining the structure of the court and all its formalities that had been handed down from Louis XIV. Indeed, like Louis XV he took seriously 30
MERRICK, Desacralization, 20.
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the absolutist legacy of its creator, but as his attitude toward religion and the court showed, he was also traditional and conservative in his social and cultural views, as well as in his political ones. The reconstitution of the parlements reflected his desire to work with these institutions and the nobility in harmony, but within an absolutist framework, a goal that failed to realize that the parlements led by Paris were only interested in dismantling that framework in their favor. Their resistance to the crown under both Louis XV and Louis XVI was undermining the legitimacy of the king as the absolute sovereign power. At the same time, the ideas of the Enlightenment were also championing the idea of limited monarchy along with a more secularly oriented society based on merit. Neither the noble opposition nor the ideologues of the Enlightenment supported absolutism. Its sole support was the king. That support proved to be a slender reed. Except in his sex life and religion, Louis XVI followed virtually the same general course that undermined the reign of his predecessor. In foreign affairs the alliance with Austria, especially in the form of Marie Antoinette, remained unpopular and gained nothing for France, while his decision to support the Americans in order to weaken British power was a pyrrhic victory that led to the ruin of the state’s finances. Indeed, an inability to solve the monarchy’s financial problems was also a point of continuity with the previous reign. Although he may have had an aptitude for mathematics and certainly did have a grasp of the complexities of public finance31, none of this served him well enough for Louis XVI to come up with a viable solution to prevent state bankruptcy. For that to have happened he needed to have an understanding of politics beyond those derived from the absolutist model he had been raised in. The potential for victory over the parlements presented by the “Maupeou Revolution” never returned and Louis XVI simply lurched from one crisis to the next until in 1788–1789 the calling of the Estates-General and the storming of the Bastille eliminated not only the noble opposition, but what was left of Bourbon absolutism as well. Although the reign of Louis XVI ended in disaster, it had started with an image that optimistically suggested the new king would conform to the humane, enlightened form of monarchy advocated in the Encyclopédie. Certainly, as a Christian king Louis XVI saw himself as humane, but those responsible for presenting that quality to the public were also sensitive to the contemporary discourse on the ruler as “philosopher king” and were desirous that the royal image show at least an inclination in that direction. The king needed to be presented more like a grand homme than a grand seigneur. In response to that need “… progressive experiments in royal imagery in the third quarter of the eighteenth century point to a pronounced awareness of the potential of 31
HARDMAN, Louis XVI, 19–20.
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physiognomy and figure to denote a singularity of purpose and a genuineness of feeling indispensable to a demonstration of public virtue.”32 Sensitive to this approach, the Count d’Angiviller, director of the Bâtiments du Roi, one of the agencies concerned with fabricating the royal image, welcomed a departure from the Rigaud format represented by the 1775 portrait of Louis XVI painted by Joseph-Siffred Duplessis. The portrait appeared just a year into the new reign and seemed to portend a bright future by presenting a king whose very expression suggested a man who understood what kind of a ruler the times expected. As an oval portrait that showed the king only from the waist up, it depicted Louis XVI without any of the regalia, robes, or overwrought surroundings that had become standard in royal portraiture. Instead, the king wears a somewhat modest version of the normally more elaborate court dress known as the habit habillé which, in this case, consists simply of a white velvet coat trimmed in gold embroidery and decorated with the orders of the Golden Fleece and the Holy Spirit. There is just enough sartorial splendor to show the viewer that he or she is looking at a king, but not so much that the same viewer could lose sight of the fact that Louis XVI was also a man. The composition of the painting draws the eyes of its audience to the king’s face and its appearance of youthful hopefulness, confidence, and goodwill; in short, it is a face designed to evoke a sympathetic, positive response from those who see it. At the Salon of 1775 this was exactly the response it got and its success so impressed Count d’Angiviller that he made it “… the standard model dispensed to high-ranking administrators, courtiers, and clerics through the mid-1780s.”33 Although the portrait was considered suitable for domestic circulation, it was not thought appropriate for foreign consumption. The image of Louis XVI presented to other rulers needed to be more imposing and for that purpose a state portrait in the style of Rigaud was preferred. Accordingly, Duplessis created such a portrait and exhibited it at the Salon of 1777, but it was a failure. Critics disliked it because it seemed unable to reproduce the same impression of the king as grand homme captured in his first portrait. It was said that, “[t]here is no sense of the humanity, goodness, popularity, familiarity, if one can express it as such, being the distinctive character of our king’s physiognomy”.34 Looked at today, while the portrait is clearly regal in the spirit of Louis XIV and is meant to show a king with a commanding presence, the expression on Louis XVI’s face lacks the arrogance of his two predecessors and even betrays a slight smile. Here is a king who is proud of his heritage and is 32
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T. Lawrence LARKIN, A ‘Gift’ Strategically Solicited and Magnanimously Conferred: The American Congress, the French Monarchy, and the State Portraits of Louis XVI and Marie-Antoinette, in: Winterthur Portfolio 44 (Spring 2010), 45. Ibid., 48–49. Ibid., 49.
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aware of his power, but being conscious of his own majesty has not eliminated his human image. The critical reception of Duplessis’ portrait seems contradictory, especially in light of the portrait that was adopted as the official likeness of Louis XVI in state. This time it was the foreign minister, the Count de Vergennes, who made the decision. For him Duplessis’ second portrait apparently lacked the kind of royal gravitas necessary to convey the power of France and its king to recipients in foreign courts. In this context the image of the king as a grand homme was of secondary importance at best and because it was the responsibility of Vergennes’ ministry to distribute the portrait, in 1779 he made the decision to commission a less imaginative painter to do the job. This was Antoine-François Callet. Innovation was not his strong suit and he took his inspiration from the portraits by Rigaud and van Loo.35 The result was a portrait in which Louis XVI strikes a rigid pose meant to evoke royal grandeur, but instead simply looks like an uninspired attempt to recall the splendor of monarchy under Louis XIV. As for the humanity of the king, that is vastly over-shadowed by the symbols of power and the luxury of the setting all of which dwarfs his now rather porcine head with its expression of royal smugness. The portrait was finished in 1781 and copies were subsequently distributed abroad. It may be that an emphasis on majesty rather than humanity was thought more suitable at a time when France had triumphed over Britain at Yorktown, but given that it was the last portrait of Louis XVI in state and remained in use during the final struggles of the monarchy to retain its absolutist power up to the convening of the Estates-General points to a king and image apparatus that was falling back on old ways to fight new challenges. There seems to have been no understanding that a more dynamic approach to depicting the king’s image could have political value. Thus, in the 1780s when Louis XVI was most embattled by the parlements and state finances, in addition to Callet’s hierarchic portrait, it appears that the best counter images the authorities could think of were grounded in very traditional forms. Thus, in 1785 at the height of the infamous “affair of the queen’s necklace’36 and when pornographic pictures of the king and queen were being circulated by their enemies a painting of Louis XVI distributing alms to peasants near Versailles in the winter of 1784 was produced. By the artist Philibert-Louis Debucourt, the painting showed the king alone, in plain clothes giving Christian charity to his people, a reminder of his sacral status and title of “most Christian king”, but this 35 36
Ibid. The “affair of the queen’s necklace” in 1784–1785 was a scandal involving an attempted fraud involving an elaborate and extremely expensive diamond necklace that was supposedly ordered by Marie Antoinette. Although it resulted in her exoneration of any involvement in the scheme, it added to the negative image of the queen and the monarchy as corrupt and fiscally irresponsible.
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was an image that could hardly stand up against the reality of his position and by its very traditionalism seemed to confirm that this was a monarch and monarchy that were becoming anachronisms.
Figure 3: Antoine-François Callet, State Portrait of Louis XVI (1781), Versailles
It was not, however, only through the medium of visual representation that the image of Louis XVI and the monarchy he stood for were being damaged. The palace and court of Versailles were part of the mechanism designed to support the absolutist system created by Louis XIV. The fate of one was, therefore, linked to the fate of the
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other and as absolutism became less viable Louis XVI’s insistence on maintaining the customs and ceremonies of the court seemed to underscore how out of touch he was with the times. Of course, the physical opulence of Versailles had always served to impress foreign powers and the king’s subjects alike with his greatness, but to do so required that Louis XIV and his successors spend most of their time in situ so that there could be no doubt that Versailles was the seat of power. This meant that except for brief sojourns to neighboring palaces, Louis XIV, Louis XV, and Louis XVI were virtually self-imposed prisoners of Versailles and the court. In turn, this meant that, for the most part, these three kings were seldom seen in public by their subjects. As the discussion thus far has emphasized, under these circumstances pictures, whether commissioned by the crown or by its enemies, could carry a great deal of influence in determining how the king and monarchy were perceived. To engage in virtual isolation, albeit in royal grandeur, tended to cut off the king from direct contact with his subjects and their sympathies.37 Another form of isolation that made Louis XVI and the monarchy look out of touch was the type of clothing associated with the king and his court. A further legacy of Louis XIV was the habit habillé that by the eighteenth century had become the standard of male dress at most European courts. These suits required fine cloth, heavy embroidery, threads of precious metals, and even jewels. This made them extremely expensive and often uncomfortable to wear. They also signified an exalted social status and distance between their wearers and those who could not afford them. As clothing, the habit habillé symbolized the gulf between the values of the old regime and those of the Enlightenment. That was why Duplessis’ portrait of Louis XVI wearing a coat of such relative simplicity was taken as a sign of the young king’s sympathy with the age. By the time Louis XVI came to the throne a reaction to the dominance of the habit habillé was beginning to occur in the form of the frac. As fashion, the frac was the opposite of the habit habillé. Its cut, material, plain color and absence of ostentatious decoration made it vastly less expensive, more comfortable, and blurred the distinction between classes if not its reality.38 Philosophically, it appeared to be in keeping with both a reasonable life-style of the type associated by Voltaire and a simple one in the spirit of Rousseau. In fact, Louis XVI himself actually went beyond the limited simplicity of his portrait by wearing a frac when not engaged in court business.39 On the face of it, 37 38 39
Julian SWANN, The State and Political Culture, in: William DOYLE (ed.), Old Regime France 1648–1788, Oxford 2001, 144–145. For a discussion of the frac and its development see Philip MANSEL, Monarchy, Uniform, and the Rise of the Frac 1760–1830, in: Past & Present 96 (Aug. 1982), 103–132. Philip MANSEL, Dressed to Rule. Royal and Court Costume from Louis XIV to Elizabeth II, New Haven, Conn.–London 2005, 65.
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Louis XVI’s acceptance of the frac along with his well-known simplicity of manner40 would seem to indicate a monarch who was open to change, but appearances were deceiving. Despite his personal preference for the frac, Louis XVI insisted on retaining the habit habillé as required dress at court, while at the same time rejecting the other trend in royal and court fashion, the wearing of military uniforms. By the 1770s even his brother-in-law, Joseph II, had followed the example of Frederick the Great, and was seldom to be seen in civilian dress. Louis XVI, however, stubbornly refused to alter standards of his court. One reason for his resistance was likely economic. A substantial part of the silk and luxury goods industries of France were dependent on continued wearing of the habit habillé. Allowing courtiers to wear the frac or the slightly fancier attire of a uniform would, as the French Revolution demonstrated, have caused severe economic hardship.41 Still, Louis XVI’s opposition to both of these forms of clothing seems to have a deeper cause. Aside from wearing the frac outside of the court, Louis XVI was also known to wear a red marshal’s uniform for specific military occasions so both forms of clothing were not without place in his wardrobe. Yet, he resisted the idea of abandoning the habit habillé even when not doing so during the Revolution threatened the existence of himself and the monarchy. After the removal of the royal family and the court to Paris in October of 1789 the restrictions on wearing a frac or a uniform were abandoned, but Louis XVI himself continued to observe them. It was his refusal to wear a uniform, however, that caused the greatest problem. Wearing the habit habillé not only emphasized his distance from the egalitarian implications of the Revolution, but when Louis XVI wore it in demonstrable preference to a uniform, particularly that of the National Guard, it offended the very forces that were charged with defending him and the monarchy. To be sure, Louis XVI did allow himself to be painted in his red marshal’s uniform on horseback with the tricolor cockade on his hat by Jean Baptiste Carteaux, a painter sympathetic to the Revolution, but the king, even with a raised sword pointed at an out-of-frame enemy and sitting on a rearing white horse has an expression that shows little enthusiasm for defending the constitutional order. Neither for the painter nor for the real military could Louis XVI show even a feigned acceptance of the uniform as standard dress for a king. This apparent disdain so offended the members of the National Guard that it seems to have played a major role in their mass desertion just before the attack on the Tuileries Palace that brought down the monarchy in August 1792.42 That Louis XVI carried his resistance to such an extreme points to it being deeply ingrained in the absolutist mindset passed down from 40 41 42
Ibid. MANSEL, Monarchy, 113–115. On Louis XVI’s dogged resistance to wearing a uniform see ibid., 129–131.
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Louis XIV. Wearing the rich and distinctive clothing of a habit habillé, but in a more luxurious version than anyone else, separated and elevated the king above all other men. Similarly, requiring that his courtiers dress in the same fashion pointed out that the home of the ruler was, like himself, exceptional. Finally, by not donning a uniform except on specific occasions stressed that officers, like the entire military establishment, were subordinate to the king and his absolute authority. As the declaration Louis XVI left behind at the time of the abortive flight to Varennes showed, he was never reconciled to the Revolution and thought of himself as a king in the absolutist mold.43 He could not reject the habit habillé or wear a uniform without surrendering his identity as king. Like the emperor in Andersen’s story who continues his procession despite recognizing that both he and his subjects know he is naked, Louis XVI continued to act as if the image of absolutism he had asserted before the Revolution was still valid. Clinging to an image that no longer conformed to reality brought down the Bourbon monarchy, but a more realistic approach by its Habsburg rivals would have a different outcome. Although initially attracted to Bourbon absolutism and its emphasis on the power and glory of the ruler, as mentioned earlier, no Habsburg was able to bring about such a monarchy in Austria. Thanks to less revenue than the kings of France, a more diverse set of realms, a weaker administrative apparatus, and military obligations that ranged from putting down rebellions to fighting the Turks, as well as Louis XIV, the Habsburgs were spared the kind of political and psychological heritage that burdened their Bourbon counterparts. While, at the time, the lack of means on the part of Leopold I and his successors to realize Fischer von Erlach’s original plan for an Austrian Versailles at Schönbrunn may have seemed a misfortune, in fact, it demonstrated that the monarchy’s future development would have to follow a path different from that of its old rival. Certainly the splendor of the emperor and his court could give the impression of great power, and because Austria had emerged on the winning side in the wars against Louis XIV it appeared to be the equal of France, but the Habsburgs had made no effort to imitate the sun king’s form of personal rule. Habsburg absolutism was in the eye of the beholder and was largely a matter of appearance rather than of substance. This meant, however, that when the monarchy was confronted by a crisis that threatened its existence, as it was in 1740, it could follow a course of reinvention rather than of retrenchment and seek out a more effective model of rule. As this new model was Enlightenment based, its underlying rational eudaimonianism would require a monarchic imagery to match. Under Maria Theresia, however, the development of such imagery along with 43
David P. JORDAN, The King’s Trial. Louis XVI vs. the French Revolution, Berkeley, Cal. 1981, 28.
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the monarchy’s commitment to an Enlightenment ideology as a basis for its authority was a gradual process. Aside from seeing herself as a devout Catholic whose preference was to rule in cooperation with the aristocracy, her practical need to save the monarchy from dissolution had necessitated the appointment of ministers and advisers who were largely supporters of the enlightened vision of monarch and state enshrined in the Encyclopédie. Similarly, Maria Theresia’s innate conservatism and distrust of Enlightenment ideas could not prevent her two eldest sons and successors, Joseph and Leopold, from becoming enlightened rulers themselves. All these factors combined to make Maria Theresia’s reign a period of decisive transition for the Habsburg Monarchy in which it moved from being an example of monarchy in service to its elites to an example of monarchy in service to its people. The monarchy Maria Theresia inherited from her father, Charles VI, brought with it a dedication to pretension, the status quo, and little else. His unsuccessful attempt to become the king of Spain during the War of the Spanish Succession seems to have left Charles VI with a need to compensate for his loss by emphasizing his importance through display and the protection of his bloodline. His reign as Holy Roman Emperor (1711–1740) marks, in terms of art and architecture, the apogee of the Habsburg baroque monarchy characterized by dynastic patronage of lavish secular and clerical architecture as exemplified by Fischer von Erlach’s Hofbibliothek and Karlskirche, respectively.44 In terms of officially sponsored painting, its glorification of Charles VI was in inverse proportion to his actual achievements. Having spent most of his energy from 1713 until his death securing the continuation of his line through the female succession of his daughter by the Pragmatic Sanction, along with finding her a suitable husband, Charles VI was otherwise conspicuous in having failed to advance either the internal or external power of the monarchy during his reign. Yet, his official portraiture suggested he was the Habsburg successor to the absolutist gloire of Louis XIV. In two portraits executed in the 1730s by Johann Gottfried Auerbach there is an obvious effort to imitate Rigaud’s regal style and all it symbolized. The earlier of them shows the emperor seated on a raised dais wearing the robe and order of the Golden Fleece staring at the viewer with a stern expression while casually gesturing toward an elaborately carved table supporting all the crowns and other regalia of his various realms. In the later painting a slightly older, but less stern-looking Charles VI is standing and wearing the same robes and order, however, this time the table with the regalia also supports an upended scepter on which, in Bourbon fashion, he rests his right hand. Only the addition of a distracted page holding the train of his master’s robe departs from the French model. If the image itself could have created not just the 44
See the discussion in Charles INGRAO, The Habsburg Monarchy 1618–1815, Cambridge, UK 1994, 123–126.
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perception of power, but its reality then these two portraits would have deterred the enemies that beset Maria Theresia so soon after the death of their subject. That they did not, forced Maria Theresia to learn about the reality of power the hard way, as well as the need for a closer connection between that reality and its image. Maria Theresia’s source of instruction came from waging two wars. The first of these, the War of the Austrian Succession (1740–1748), was a struggle for survival forced on her by the failure of the Pragmatic Sanction to prevent Prussia and other neighboring states from attacking the monarchy, but it was one that led to a strengthening of the state through fundamental reform. The second, the Seven Years War (1756– 1763), although it demonstrated Austria’s recovery as a great power and its ability to wage a war of choice against its Prussian enemy, its prosecution led beyond the previous effort to still more reform and an ideological reorientation of the monarchy. Despite the fact that in the first war Austria lost territory and in the second failed to regain it, the ability to survive and inflict significant damage on its enemies demonstrated to the rest of Europe that the Habsburg Monarchy had the one thing that defined a great power at the time, military strength. As far as that went, there was now substance behind the painted façade constructed by Charles VI. The triumphs of Austria gloriosa, as they had failed to do after Joseph I, could not, however, have by themselves sustained the monarchy’s status among the other powers for very long. Unlike its Bourbon counterparts, reform both practical and enlightened enabled the Habsburg monarchy to have not only a present, but also a future. Of course, the nature of the reforms carried out under Maria Theresia have been and continue to be studied in detail45 so that only some of the representative highlights need be recounted here. The first of them were largely fiscal and administrative and devised by a noble bureaucrat, Count Friedrich Wilhelm von Haugwitz, who from 1743 to 1756 succeeded in persuading most of the noble dominated diets outside of Hungary to accept long term taxation agreements, including new levies on noble land, and accompanied them by the creation of new provincial officials from Vienna to assure that the taxes were fairly and accurately collected and the peasantry not over-exploited in the process. In the central administration itself, Haugwitz abolished the Austrian and Bohemian Chancellories in favor of a single institution known as the Directory which dealt with political and fiscal policy while a new high court (Oberste 45
Of those many studies the reader is referred to only three works containing material representative of the current historiography, but in which a richer bibliography may be found. They include the volume cited above by Ingrao, as well as that by Karl VOCELKA, Österreichische Geschichte 1699–1815. Glanz und Untergang der höfischen Welt: Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 2001; and Derek BEALES, Joseph II. In the Shadow of Maria Theresa 1741–1780, vol. I, Cambridge, UK 1987.
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Justizstelle) separated the administration of justice from that of politics and finance. Along with some additional administrative changes Haugwitz succeeded in gaining a dramatic increase in state income and an unprecedented extension of government officials into local affairs. Although Haugwitz was influenced in his reforms by the rationalist economic teachings of early eighteenth century cameralism, the elements of that theory that emphasized state intervention on behalf of the subject were couched in terms of creating a materially better-off population within an expanded economy that could increase state income and, therefore, its power, but not in the more far-reaching eudaimonian implications of the political, social, and cultural reforms advocated by the Enlightenment. The full impact of reforms based on this ideology would mostly be felt after 1763. By the end of the Seven Years War, Haugwitz had been displaced as chief adviser to Maria Theresia by Wenzel Anton Kaunitz who had not only engineered the “diplomatic revolution” with France and in 1761 replaced the Directory with the more efficient Council of State (Staatsrat but was also a self-described philosophe 46, a partisan of the Enlightenment. As head of the Council of State, Kaunitz was able to assure a membership that reflected his own enlightened views and because it was the clearing house for all legislation, so long as its decisions were accepted by the ruler it was key to all policy and law making. Under Maria Theresia this was the rule, but under Joseph II less so, yet his own enlightened outlook meant variations on the same theme rather than instituting policies based on a different ideology.47 At the same time as he introduced the Council of State Kaunitz reformed Haugwitz’s provincial system of administration by introducing the more efficient, but also more centrally bureaucratized Gubernium that excluded all local nobles and also administered justice.48 In short, the power of the state was growing steadily at the expense of the local noble dominated estate based diets. An apparatus fit for the institution of top down enlightened reform by a “philosopher king” (or empress and ministers) was being put in place. A more centralized administration had the immediate effect of creating a more powerful state internally and externally, especially since its greater efficiency and assertiveness yielded more revenue to fund bureaucrats and soldiers, the tools for projecting power at home and abroad. With men like Kaunitz in the government, however, this could not be simply a power state of the type created by Louis XIV. In Austrian personal rule by a sun king who claimed the enhancement of his gloire had some kind of trickle down benefit for his people was not sufficient to 46 47 48
Franz A. J. SZABO, Kaunitz and Enlightened Absolutism, 1753–1780, Cambridge, UK 1994, 35. Ibid., 57–60. Ibid., 95.
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justify the changes being made. Instead, with an updated version of the traditional concept of the common good (das allgemeine Beste) the Enlightenment’s emphasis on eudaimonian reform became the ideological justification for the growth of central power and authority. Even if Maria Theresia did not see the changes underway as enlightened, but merely as an extension of her Christian and dynastic duty toward her people and state, the majority of her ministers and advisers did, and after he became emperor and co-ruler in 1765 they would be strongly augmented and even exceeded in their zeal by Joseph II. The list of reforms enacted in both reigns is lengthy and well-known and only some of the most significant need be mentioned here as illustrative of Enlightenment influence. Thus, under Maria Theresia and with Joseph II’s support state protection of peasants from feudal exploitation by lords (Bauernschutz) was implemented along with state supported public education aimed at producing more productive and happy subjects, albeit more obedient and loyal ones, as well. In Joseph II’s ten years as sole ruler from 1780 to 1790 he issued over 6,000 decrees49 not all of which, such as his effort to regulate the size and use of coffins, were landmarks in the advance of rational humanitarianism, but among them can be counted religious toleration for Protestants, Orthodox Christians, and Jews, the abolition of personal serfdom, the beginnings of Austria’s modern civil code, and equality before the law. While in the anti-clerical spirit of the Enlightenment, his dissolution of contemplative orders and state intervention in the training of priests and the administration of the Catholic Church generally advanced the development of a more secular state and society. Finally, both rulers employed the enlightened theorists of state and law Joseph von Sonnenfels and Karl Anton von Martini whose work provided the ideological framework for integrating the monarchy’s reforms into an enlightened Rechtsstaat in which law was to be the concrete and permanent manifestation of the commitment by state and ruler to a limitation of their power and authority as a guarantee of the rights and well-being of the people.50 Whether the term “enlightened despotism” or the newer one of “enlightened absolutism” is used to describe the Habsburg Monarchy 49 50
BLANNING, Joseph II, 66. In 1754 Martini was appointed to the chair of natural law at Vienna and in 1763 Sonnenfels gained the chair of what today would be considered political science at the same university. The tenure of both men outlived the lives of their imperial masters and during that time their principle works became the standard texts on natural law and the state, respectively. Indeed, Martini’s works on natural law and those on state administration by Sonnenfels were still in use for the training of bureaucrats as late as 1848. For representative works on how both men viewed the significance of the rule of law and its benefits, see Karl Anton VON MARTINI, FREIHERR ZUM WASSERBERG, Lehrbegriff des allgemeinen Staatsrechts, Dritter Band welcher das allgemeine Staatsrecht enthält, Wien 1783; and Joseph VON SONNENFELS, Über die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771.
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as it was by the second half of the eighteenth century, it was certainly significantly different from its Bourbon counterpart. Even if the crisis at the close of Joseph II’s reign is acknowledged as the result of his overzealous application of rational and enlightened reforms, the retractions he was forced to make in the face of revolt in the Austrian Netherlands, the fear of revolt in Hungary, and the opposition of elites to the growth of state power at their expense still left the monarchy as an exemplar of Enlightenment. To be sure, Leopold II would have to make concessions to the aristocratic and clerical opposition, but he kept the key reforms of his brother’s reign intact so that even under his less aggressively enlightened son, Franz II/I51, the legacy of the Rechtsstaat was continued and literally codified in the Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch of 1811. While the enlightened character of the Habsburg Monarchy during the decisive period of its transformation from the accession of Maria Theresia in 1740 to the death of Joseph II in 1790 is best represented by its reforms, the tone and spirit of its new orientation was also reflected in the image it projected during this period. The Habsburg transformation, however, started with an image of monarchy that in its own way was no less traditional than that found in France. As the state portraits of Charles VI demonstrate, his desire to be depicted in the manner of Louis XIV represented a baroque vision of absolutism to which the late seventeenth and early eighteenth century Habsburgs aspired. Although they could not make that aspiration a reality, their court was able to mount its own elaborate ceremonies around the person of the emperor and through a multiplicity of religious observances easily compete with the waning sacral character of the Bourbons. Indeed, in this last category the tradition of pietas Austriaca with its legend of a unique link between the dynasty and Christ resulting in a divinely granted right to imperium was arguably more prestigious than merely bearing the title of “most Christian king”.52 In the area of court ceremony, however, the imitation of Spanish protocol and dress made the palace establishment of the Habsburgs appear less than up-to-date. Although court dress for women, as in France, consisted of the latest fashions, long after the habit habillé had become 51
52
Despite the conservative, not to say reactionary, character usually ascribed to Franz II/I, especially as the son of Leopold II and the nephew of Joseph II, both of whom were enlightened monarchs concerned with his education, there can be little doubt that he was inculcated with the ideas of the movement as they applied to the conduct of monarchs. Unfortunately, the level of scholarship on the life and views of Franz II/I leaves much to be desired, but there are two works that shed some light on the Enlightenment influence in his education. See Walter Consuelo LANGSAM, Francis the Good. The Education of an Emperor 1768–1792, New York 1949, 12, 19–21; and Johanna MONSCHEIN, Kinder- und Jungendbücher der Aufklärung aus der Sammlung Kaiser Franz I. von Österreich in der Fideikommissbibliothek an der Österreichischen Nationalbibliothek, Salzburg–Wien 1994, 14–15. See CORETH, Pietas Austriaca.
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standard dress for men at the other courts of Europe, at Vienna formal court dress consisted of the elaborate Spanish Mantelkleid, “… a black suit and cloak covered in piped and gathered gold lace, with feathered hat, ribbons and hose, and red stockings …”.53 The court painter, Martin van Meytens, captured the overly decorative character of this seventeenth century style in his 1745 state portrait of the Emperor Francis I Stephen who, despite the presence of crowns and scepter on a nearby table, resembles more a lace maker’s mannequin than a monarch. Yet, even as the paint was drying “Spanish dress” in Spain itself was beginning to be an anachronism as “French dress” became more popular and by 1760 Francis I Stephen had himself become a habitual wearer of the habit habillé.54 In Europe generally, however, by the 1760s the habit habillé was coming under pressure from the simpler and less expensive frac, to which was added the dawning fashion of uniforms as the standard dress for monarchs, a trend that also took hold in Vienna. The fading popularity of the habit habillé and its gradual displacement by the frac and the uniform paralleled the waning prestige of the French monarchy at home and abroad. Elaborate dress and ceremony had gone hand in hand with the domestic and foreign successes of Louis XIV’s regime of absolutism, but as that concept of monarchy was increasingly out of step with the ideas of the Enlightenment, as well as its internal politics, everything associated with it, including fashion and court rituals, became synonymous with being out of date. A monarchy like that of the Habsburgs whose traditional way of doing things had brought it to the brink of destruction had nothing to lose by innovating and allowing new personnel with new ideas and a more efficient system of asserting power from the center to replace their previous way of governing. Becoming a rational, eudaimonian, Rechtsstaat under Maria Theresia and Joseph II meant that the Habsburg Monarchy was, by the standards of the time, modern and the outward forms that defined its image came to reflect this. Going from the Mantelkleid of Charles VI in 1740 to the uniform of Joseph II in 1765 was, therefore, more a change of ethos than of fashion. Outwardly the process of change was not fully apparent. Thus as late as 1754, van Meytens could still do a group portrait of Francis I Stephen and Maria Theresia with their nine children that showed the emperor wearing “Spanish dress” and the future Joseph II in a red habit habillé. Yet, even in this set piece depicting the familial image of the dynasty there is a sign of change and the next eldest son until his death in 1761, Archduke Charles, appears dressed in the uniform of a Hungarian officer. Of course, this can be seen as a gesture acknowledging the loyalty of Maria Theresia’s Hungarian subjects in the War of the Austrian 53 54
MANSEL, Dressed, 26. MANSEL, Monarchy, 104–105.
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Succession, but it can also be seen as part of her appreciation of how central an efficient, effective army was to the preservation and authority of the monarchy. In recognition of that reality just three years earlier, in 1751, the empress had decreed that any officer in uniform, albeit under a Spanish court cloak, could attend court and in 1757 all officers with a clean record of thirty years of service were granted an automatic right to noble status.55 Particularly for an empress and queen whose legitimacy as a female monarch had gone against the norms of succession and had been challenged by foreign powers56, being demonstrative in her appreciation for the army that supported her and the monarchy helped to create a more institutional connection that transcended her reign and linked the dynasty and the military as having more than the master and servant relationship prevalent between the Bourbons and their soldiers. In addition to all the changes brought about by her ministers this new recognition of the military underscored how much the dynasty was departing from its character under Charles VI. A dynasty that had literally to import a foreigner in the form of the erstwhile Duke of Lorraine in order to reproduce itself and, at the same time, introduce the novelty of a female succession was not in a position to ignore the value of change. Of course, some change came sooner than anticipated or planned. In 1765 the emperor died suddenly and was succeeded by his eldest son Joseph II. Unlike either his father or mother Joseph II saw himself as both an active reformer of state and society, as well as an absolute ruler whose power was constitutionally sanctioned in most of his lands, and where it was not, as in Hungary, it needed to be.57 In short, he was what historians have subsequently called an “enlightened despot”.58 Within a year of coronation as emperor and becoming co-ruler with Maria Theresia, Joseph II abolished the tradition of “Spanish dress” at court, reduced religious observances from c. 68 to c. 32 by 1767, and adopted the wearing of a military uniform as his habitual dress.59 In that list of initial changes it was Joseph’s decision to follow the example of his mother’s nemesis, Frederick the Great of Prussia, in his choice of dress that indicated the further evolution of the monarchy’s image and the substance behind it. By wearing a relatively unadorned officer’s 55 56
57 58 59
MANSEL, Dressed, 26–27, and ibid., 111. That Maria Theresia recognized the abnormal nature of her position as a female ruler is clearly demonstrated by how she sought to depict herself and her heir in as favorable a light as possible. See the recent study of her efforts in this regard by Michael YONAN, Empress Maria Theresia and the Politics of Habsburg Imperial Art, University Park, Pa. 2011. Derek BEALES, Joseph II. Against the World 1780–1790, vol. II, Cambridge, UK 2009, 651. Ibid., 657, 660–661. MANSEL, Dressed, 27; and DUINDAM, Vienna and Versailles, 143.
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uniform60 he not only imitated the simplicity of dress favored by Frederick, but also gained some reflected prestige by suggesting through his choice of clothing that he was, at least potentially, an Austrian Frederick the Great. In military terms that potential was modest at best, but as a ruler Joseph II’s commitment to the service of his state and people exceeded that of his Prussian counterpart. More than the image of a great commander Joseph II’s uniform represented the Habsburg version of Frederick’s famous self-description as “the first servant of the state” and the accompanying implication of Frederician enlightened rule. Although less than pleased with either her son’s apparent admiration for Frederick or his connection with Enlightenment ideas, Maria Theresia seems to have recognized the benefit to the dynasty and monarchy of exploiting both the symbolism of the uniform and an identification with the dominant ideology of the time. Her own image as devoted wife, mother, and widow had helped to divert attention from her unorthodox succession as a female and her actual exercise of decisive political power in favor of a readily accepted and popular image of her as a maternal authority figure. While the 1765 state portrait of Joseph II executed by van Meytens in the exact style and “Spanish dress” of his father may have been the kind of hierarchic image his mother preferred, her son had other ideas and in 1769 he presented her with a portrait of himself and Leopold that was so successful that it represented a visual fait accompli regarding his image. While Joseph II and his brother were visiting Rome during the papal conclave of 1769 they had themselves painted in a double portrait by Pompeo Batoni. It was apparently meant to be a souvenir of the visit, but one that the painter and his sitters chose to have convey more than a pictorial memento of their trip.61 The picture shows the two brothers clasping hands against the backdrop of an open window through which St. Peter’s and the Castel Sant’Angelo are visible. To the right of the window on a small table next to Joseph II is a statue of the goddess Roma, a plan of Rome, and a copy of Montesquieu’s Spirit of the Laws. The poses of the two brothers are informal with Leopold standing on the left side of the painting fingering the buttons of his coat with his left hand and looking out at the viewer while his brother casually drapes his left arm on the lap of Roma and directs his attention at his brother. Joseph’s dark uniform coat carries two large decorations, he has the Order of the Golden Fleece around his neck and across his gold embroidered waistcoat is a red-white-red Austrian sash covering one in black and gold with both terminating in two more orders and a sword hilt. In contrast, the relative simplicity of Leopold’s white jacket, gold 60
61
Joseph II most often appeared in the green coat and red facings of his personal regiment of Chevauxlegers. See Philip HAWTHORNTHWAITE, The Austrian Army 1740–80: 1 Cavalry, London 1994, 36, 38. YONAN, Empress, 104–105.
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trimmed red waistcoat, and his own red-white-red sash and Order of the Golden Fleece make it clear that Joseph II is the more important of the brothers. His importance is further emphasized by the presence of the Castel Sant’Angelo which, as the former tomb of Hadrian and other emperors, alludes to Joseph II’s status as Holy Roman Emperor as does
Figure 4: Pompeo Batoni, Double Portrait of Grand Duke Leopold and Emperor Joseph II (1769), Kunsthistorisches Museum, Vienna
Monarchy, Image, and Authority
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the statue of Roma who with her orb and spear seems to be holding out the legitimating symbols of Roman power and authority to the Habsburg emperor.62 Such classical allusions of imperial authority were clever, but not unusual, however, the presence of Montesquieu’s book and Joseph II’s relaxed pose pointed out the young emperor’s exceptional nature as a ruler of enlightened character and a man of amiable disposition.63 Indeed, Joseph II’s pose conforms even more closely to Diderot’s ideal of the monarch as grand homme than does Duplessis’ later portrait of Louis XVI. The portrait was an instant success with visitors coming to see it at Batoni’s studio and when it arrived in Vienna it was praised to the skies for the naturalness of its rendering. It became so popular that by 1775 the painting had wide circulation as an engraving.64 Of course the artistry of the work had much to do with its popularity, but that it showed Joseph II as a modern monarch and not just as a latter day embodiment of imperial Rome must also have had a positive impact on the audience that demanded his likeness. Especially by the 1770s when he had a long record of reformist rule behind him, Joseph II and his uniform symbolized more than the transfer of the martial virtues of perseverance, duty, efficiency, and honesty to government, but also the sense that an enlightened man of his time sat on the throne. Maria Theresia may not have appreciated the enlightenment associations of Joseph’s uniform, but she does seem to have recognized its value in conveying an overall positive image of a ruler. This recognition on her part is strongly suggested by her commissioning of two posthumous renderings of her husband from Batoni and Anton von Maron in 1771 and 1772, respectively. In each of the portraits Francis I Stephen wears a rust colored coat with elaborate gold braid embroidery on the cuffs and edges in the style of a field marshal’s uniform and the same embroidery is repeated on his white waistcoat which carries a red-white-red sash and Order of the Golden Fleece. In Batoni’s portrait the emperor also wears a sword and gestures toward allegorical statues of Justice, Clemency, Fortitude, and Truth while on a writing table next to him are paper and pen, the signs of a hard-working monarch. Clearly, the allegorical statues and attention to kingly duty ascribe virtues of the good ruler that could come directly from the Encyclopédie. The second portrait differs in the absence of allegorical figures, sword, and in the depiction of Francis I Stephen seated, but at a table where his right hand holds a document that also suggests a monarch at work. The emperor’s coat lacks the richness necessary to be a habit habillé or the simplicity to be a frac, but its application of military braid is just too close to that of a uniform to 62 63 64
Ibid., 105–106. Ibid., 105–106, 108. Ibid., 105, 108.
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not represent an attempt at establishing a post facto continuity of dynastic traits and virtues from father to son. In so doing the “modernity” of the Habsburg Monarchy could be traced back to 1740 thereby potentially rehabilitating a year that was otherwise a disaster.
Figure 5: Pompeo Batoni, Posthumous Portrait of Emperor Francis I Stephen (1771), Palace of Schönbrunn, Vienna
By the death of Maria Theresia and Joseph II’s assumption of sole rule in 1780 his image and that of the dynasty was coalescing around that of an enlightened eudaimonianism. Unlike his Bourbon counterpart, he had no machinery to fabricate an imperial image and commissioned no Rigaud-like paintings of himself. While awe and profound respect still accompanied Joseph II’s status as Holy Roman Emperor, his preference for a uniform, well-known distaste for secular and religious ceremony, numerous travels around the monarchy, and interest in the lot of the
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common man meant he was taking on the image of a populist monarch. Thus Joseph II’s famous plowing of a furrow in a peasant’s field in 1769, his dedication of the Prater and Augarten as public parks in 1766 and 1775, respectively, and the opening of the Allgemeines Krankenhaus in 1784, as well as his other gestures toward the public, increased his popularity and were themselves the subjects of cheap commemorative illustrations. In an age when the cult of Rousseau esteemed the “natural life”, Joseph II could also impress a more sophisticated audience who saw his wearing of a uniform as an indication of his simple humanity. This was true during his visit to Versailles in 1778 when the Duke de Croy thought Joseph II’s uniform could set a good example of dress for the French court, while in 1784 the Swedish courtier Axel von Fersen was impressed with the emperor’s simplicity of manners, speech, and clothes.65 Of course, his personality could be abrasive and sharp and he was not universally popular. Joseph II’s potential for unpopularity was especially evident with the hierarchy of the Catholic Church who were shaken by his assumption of virtual state control over the church and the dramatic decrease in court religious observances to only the most significant, such as Corpus Christi. Still, Joseph was never excommunicated, remained a believer, albeit an enlightened one66, and left enough of the pietas Austriaca tradition intact that he and his successors could benefit from its sanctifying power. Unfortunately, his assaults on traditions of privilege were not as fortunate as those on the church and resulted in the well-known crises of his last years. Yet, even in the midst of actual revolt in the Netherlands and potential revolt in Hungary it can be argued that these very threats and crises were a testimonial to the reality behind what had become a basically positive image of Joseph II and the dynasty. The emperor made good on his vision of reform regardless of the consequences. In his last days Joseph II made concessions, especially to Hungary, that avoided revolt and kept his most famous reforms intact and he remained true to his own image even in death. He was buried in his field marshal’s uniform67 and interred in a plain lead coffin next to the grand coffins of his parents and ancestors. Although he felt his reign to have been a failure because of the crises accompanying his end, the specter of revolt was not the same as the reality of revolution that had overtaken his sister and brother-in-law in France the year before. Joseph II left to his brother, Leopold II, and his nephew, Francis II/I, a basically sound and modernized monarchy that retained the authority over its elites and central control of the state that had been gained since 1740, while also maintaining its character as an enlightened Rechtsstaat 65 66 67
MANSEL, Dressed, 28. BEALES, Against the World, 214–217, 658–659. MANSEL, Monarchy, 111.
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even in the face of almost constant war and a new threat of destruction from 1792 to 1815. When the Habsburg monarchy had faced its great crises in 1740 France had been one of the powers that had supported its enemies as part of a foreign policy under Louis XV that sought to continue the expansionist policies of Louis XIV, thereby winning new gloire for himself and new prestige for the absolutist system he had inherited. As the reigns of Louis XV and Louis XVI wore on, however, the inheritance became illusory and without substance, but the machinery that reinforced the self-image of the king and its projection of power continued unabated. It was so successful that it seems to have hidden the reality of things even from its last master, Louis XVI, such that he could hold on to the ceremonies and dress of his court even when doing so became a threat to his life and that of the Bourbon monarchy. It is more than a little ironic that as France and its dynasty declined its archrival from the days of the sun king should have found renewal from a disaster that forced it to abandon its own pretensions to absolutism and construct a monarchy in which image and reality complemented rather than contradicted one another. After 1740 the Habsburgs had learned the lesson that acting as if you were clothed when you were naked led to disaster. Survival required that the emperor’s new clothes were real.
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Guido Goldschmiedt (1850–1915). Ein jüdischer Chemiker zwischen Wien und Prag I. Einleitung Die äußerst produktive Zusammenarbeit der Historiker der Universität Wien und der Prager Karls-Universität seit dem Ende des Kalten Kriegs aktualisiert die Frage nach einem historischen Vorbild für eine solche Kooperation. In diesem Kontext bietet sich die Epoche der Habsburgermonarchie an: Fragen wir also nach der Beziehung der beiden Universitäten in jener »traumhaften« Zeit um 1900. Besonders geeignet für einen solchen Vergleich erscheint dabei das Verhältnis der Wiener Universität zu der damaligen Prager Deutschen Universität, also zur deutschsprachigen Hälfte der im Jahre 1881/1882 geteilten Prager Karl-Ferdinands-Universität.1 Diese relativ kleine, allerdings in einer Reihe von Fächern exzellente Universität an der Moldau war bis zum Ende der alten Monarchie durch vielfältige personelle Kontakte mit der Wiener Alma Mater und anderen österreichischen Universitäten verbunden. In dieser engen Verbindung spielte nicht zuletzt das Wiener Ministerium für Cultus und Unterricht eine große Rolle, da es die Personalpolitik aller zisleithanischen Hochschulen maßgeblich dirigierte. Viele Personalrochaden zwischen Wien und Prag und umgekehrt müssen also nicht nur als Ergebnis zielgerichteter Entscheidungen einzelner Wissenschaftler bzw. als Umsetzung der Personalpolitik einzelner Fakultäten und Hochschulen betrachtet werden, sondern vielmehr als Ergebnis der Strategie und Taktik der hohen Wiener Ministerialbürokratie und allgemeiner der Hochschulpolitik. Die Prager Deutsche Universität konnte sich in diesem Sinne zwar mit mehreren berühmten Namen schmücken (an dieser Stelle seien Albert Einstein und Ernst Mach als die vielleicht prominentesten Beispiele genannt); die meisten wichtigen Wissenschaftler verbrachten aber nur einige Jahre in ihrem Dienst und zogen dann weiter an größere und wichtigere Universitäten.2 Die Universität Wien war in diesem Kontext 1
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Vgl. Jiří PEŠEK/Ludmila HLAVÁČKOVÁ/Alena MÍŠKOVÁ, The German University in Prague 1882–1918, in: František KAVKA/Josef PETRÁŇ (Hg.), A History of Charles University, Praha 2001, Vol. II., 163–174; Jiří PEŠEK/Alena MÍŠKOVÁ/ Ludmila HLAVÁČKOVÁ/Petr SVOBODNÝ/Jan JANKO, The German University of Prague 1918–1939, in: ebd., 245–256. Zur Teilung der Prager Universität: Ferdinand SEIBT (Hg.), Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern, München 1984. Vgl. Jiří PEŠEK, Die Prager Universitäten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts:
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stets das beliebteste und begehrteste (und auch – im Vergleich mit den wichtigsten Universitäten im Deutschen Reich – erreichbarste) Ziel der aufstiegshungrigen Prager Aspiranten.3 Dabei spielte natürlich eine nicht unwesentliche Rolle, dass die meisten Prager Professoren auf ihrem Karriereweg eine Etappe in Wien und weitere an anderen österreichischen oder deutschen Universitäten verbracht und dort dauerhafte Freundschaften und Fachkontakte geknüpft hatten. Entscheidend für den Wunsch vieler erfolgreicher Professoren, die Prager Universität wieder zu verlassen, war allerdings keinesfalls die inneruniversitäre akademische Atmosphäre: Die relativ gut ausgestattete Prager Universität war im Gegenteil für viele Forscher schon dadurch angenehm, dass es hier (im Vergleich zu Wien, Leipzig oder Berlin) keinen Massenbetrieb gab und jeder Professor die Möglichkeit hatte, seine wissenschaftlichen Themen mit ganzer Kraft und viel Zeit anzugehen. Auch die Belastung durch außerakademische Funktionen war hier kleiner als in Wien. Der wichtigere Faktor für das Bestreben, die Prager Universität zu verlassen, war vielmehr die Position der deutschsprachigen Gesellschaft, also auch der Deutschen Universität, in der weitgehend schon »tschechisierten« böhmischen Metropole. Die Prager Agglomeration umfasste um 1900 schon etwa 600.000 Einwohner4, davon war jedoch nur ein Zehntel deutscher Zunge (von diesem waren mehr als die Hälfte Juden, die als Verbindungsglied zwischen den beiden Sprachgemeinschaften galten).5 Die deutsche akademische Gesellschaft bewegte sich
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Versuch eines Vergleichs, in: Hans LEMBERG (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, 145–166; DERS., Prag und Wien 1884 – ein Vergleich zwischen den Universitäten und deren Rolle für die Studenten aus den Böhmischen Ländern, in: Andrei CORBEA-HOISIE/Jacques LE RIDER (Hg.), Metropole und Provinzen in Altösterreich (1880–1918), Wien 1996, 94–109. Vgl. Jiří PEŠEK/Alena MÍŠKOVÁ, Die Prager Deutsche Universität und die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen als ein kulturell-politisches Doppelzentrum der deutschböhmischen Gesellschaft, in: Michaela MAREK/Dušan KOVÁČ/Jiří PEŠEK/Roman PRAHL (Hg.), Kultur als Vehikel und Opponent politischer Absichten. Kulturkontakte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, Essen 2010, 189–210, hier 193f. Jiří PEŠEK, Urbanisierung und Assimilation in Prag von der Dualismuszeit bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Südostdeutsches Archiv 34–35 (1991/1992), 43–54; DERS., Od aglomerace k velkoměstu. Praha a středoevropské metropole 1850–1920 [Von der Agglomeration zur Großstadt. Prag und die mitteleuropäischen Metropolen 1850–1920], Praha 1999. Vgl. Gary B. COHEN, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague 1861–1914, Princeton/NJ 1981, 86ff., 116–136, 152–162; Robert LUFT, Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik ›nationaler Zwischenstellungen‹ am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Maurice GODE/Jacques LE RIDER/Françoise MAYER (Hg.), Allemands, Juifs et Tchèques à Prague. Actes du colloque international de Montpellier 1994, Montpellier 1996, 37–40.
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also quasi auf einer »deutschen Insel« bzw. in der slawisch belagerten »deutschen Festung« in Prag. Diese Situation war für manche – besonders nichtjüdische – deutsche Gelehrte, viel mehr noch für ihre Ehefrauen und Kinder, schwierig bis unerträglich. Das lag nicht zuletzt daran, dass das Prager Milieu um 1900 aufgrund eines ausgeprägten deutschen wie tschechischen Nationalismus hoch konfliktgeladen war. Selbstverständlich fehlte auch in dieser spezifischen Konstellation nicht der in ganz Europa in dieser Zeit verbreitete Antisemitismus. Im Vergleich zu der ausgeprägt antisemitischen Atmosphäre im kaiserlichen Wien oder gar in Graz wurde in Prag die »christliche« Aversion gegen die Juden aber durch den Nationalitätenkampf zwischen Deutschen und Tschechen weitgehend überdeckt (so finden wir jüdische Politiker etwa auch in den Leitungsgremien der tschechischen nationalistischen Parteien, und jüdische Unternehmer spielten eine große Rolle in der Prager deutschen Politik).6 Das machte Prag für jüdische Professoren, die in ihrer bisherigen Karriere durch antisemitische Vorurteile der Politik oder der Ministerialbürokratie gebremst worden waren, durchaus attraktiv. Die Prager Deutsche Universität war also auch dadurch spezifisch, dass sie im mitteleuropäischen Vergleich eine Hochschule mit einem extrem hohen Anteil an jüdischen oder zumindest sich als jüdischstämmig definierenden Dozenten und Studenten war.7 Dies galt zwar vor allem für die Medizinische und die Juristische Fakultät; allerdings wurden auch einige Fächer der Philosophischen Fakultät, die zu dieser Zeit sowohl geisteswissenschaftliche Fächer als auch die Mathematik und Naturwissenschaften umfasste, in dieser Epoche des Nationalismus und Antisemitismus als »jüdisch« bezeichnet.8 So auch die Chemie, welche wir für unser Beispiel gewählt haben. Diese war um 1900 eine noch junge Wissenschaft. Erst in den 1840er 6
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Zur Lage der Prager jüdischen Bevölkerung, zum Antisemitismus in Prag und zu den Motiven der jüdischen Studenten, Prag als Studienort zu wählen, vgl. Jan HAVRANEK, Structure sociale des Allemands, des Tchèques, des chrétiens et des juifs à Prague, à la lumière des statistiques des années 1890–1930, in: GODE/LE RIDER/MAYER (Hg.), Allemands, Juifs et Tchèques, 71–81; Wilma IGGERS, Juden zwischen Tschechen und Deutschen, in: Zeitschrift für Ostforschung 37 (1988), 428–441; Kateřina ČAPKOVA, Jewish Elites in the 19th and 20th Centuries. The B nai B’rith Order in Central Europe, in: Judaica Bohemiae 36 (2000), 119–142; Trude MAURER, Juden im Prager deutschen Bürgertum, in: Judaica 58 (2002), 172–187. Vgl. Jiří PEŠEK, Jüdische Studenten an den Prager Universitäten 1882–1939, in: Marek NEKULA (Hg.), Franz Kafka im sprachnationalen Kontext seiner Zeit, München 2006, 211–225. Vgl. Aleksandra PAWLICZEK, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871–1933, Stuttgart 2011, hat für Berlin 1871–1933 die Quote der jüdischen bzw. »jüdischstämmigen« Dozenten auf 24,1 Prozent beziffert. Als »jüdische Fächer« galten in Berlin besonders Experimentalpsychologie, Sozialhygiene, Mathematik und Geschichte (301). Mit dem »latenten Antisemitismus« paarte sich in Berlin auch der Antikatholizismus (467).
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Jahren hatte sie sich an der Prager Universität in ihrer modernen Ausrichtung etabliert: zunächst an der Medizinischen, seit 1848 an der Philosophischen Fakultät, seit der Reform des medizinischen Studiums 1873 dann parallel an beiden Fakultäten.9 Gerade die Position einer jungen und bisher nicht in festen Machtstrukturen »versteinerten« Wissenschaft (ähnlich wie z. B. die Augenheilkunde oder die Dermatologie) ermöglichte es, dass die Chemie zu einem der Felder wurde, auf welchen sich gerade jüdische Forscher nach 1848 mit viel Erfolg durchsetzten.10 Als Argument für die daraus resultierende Behauptung, die Chemie sei eine »jüdische« Wissenschaft, wurde angeführt, dass auch die meisten Lehrstühle durch jüdische Professoren besetzt und die Mehrheit des Personals sowie ein beträchtlicher Teil der Studenten Juden (und bald auch Jüdinnen) bzw. aus jüdischen Familien stammende Akademiker seien. Die Personenverzeichnisse ebenso wie die Auswertung der studentischen Inskriptionsbögen bestätigen im Prinzip diese Behauptung. Die offensichtliche Konkurrenzangst der christlichen Kollegen wurde zusätzlich durch die Tatsache geschürt, dass die jüdischen Naturwissenschaftler und gerade auch die jüdischen Chemiker vielfach erfolgreicher waren als sie selbst. So war etwa ein Drittel aller deutschen Nobelpreisträger (darunter ein Drittel Chemiker) bis 1933 jüdisch.11 Die Ursachen für diese beispiellose Überrepräsentierung jüdischer Wissenschaftler bei der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung konnten bis heute nicht eindeutig geklärt werden. Die Erklärung, die schon Sigmund Freund anbot und welche von Shulamit Volkov 1987 analytisch überprüft wurde, nämlich dass die Juden die Taktik herausragender Leistungen als Verteidigung gegen die gesellschaftliche und berufliche Diskriminierung appliziert hätten, erscheint nicht ausreichend.12 Zwar beschreibt dieses Erklärungsmodell durchaus das Bestreben der jüdischen Eliten, sich in die deutsche (und österreichische) Gesellschaft zu integrieren; hinreichende Gründe für die fulminanten Erfolge jüdischer Wissenschaftler an sich liefert es uns jedoch kaum, die Frage bleibt also weiterhin offen.13 9
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Vgl. Robert W. ROSNER, Chemie in Österreich 1740–1914. Lehre, Forschung, Industrie (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 5), Wien–Köln–Weimar 2004, 85–88. Vgl. Rudolf M. WLASCHEK, Die Universität und die Juden. Das Beispiel Prag im 19. und 20. Jahrhundert, in: Peter WÖRSTER (Hg.), Universitäten im östlichen Mitteleuropa. Zwischen Kirche, Staat und Nation – Sozialgeschichtliche und politische Entwicklungen, München 2008, 227–233, hier 229f. Aus der älteren Literatur: Bernhard BRESLAUER, Die Zurücksetzung der Juden an den Universitäten Deutschlands, Berlin 1911; Nathan GRÜN, Beiträge zur Geschichte der Juden in Prag, Prag 1914; Guido KISCH, Die Prager Universität und die Juden 1388–1848, Amsterdam 1940. Vgl. Shulamit VOLKOV, Soziale Ursachen des Erfolgs in der Wissenschaft. Juden im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), 315–342, hier 317. Als man in den 1930er Jahren den Anteil der deutschen jüdischen und christlichen Nobelpreisträger pro eine Million Einwohner der jeweiligen Religion umrechnete, erhielt man einen Index von 20 für die Juden und 0,7 für die Christen (darunter praktisch keine Katholiken). Ebd., 332f. Vgl. Shulamit VOLKOV, Juden als wissenschaftliche »Mandarine« im Kaiserreich
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Stellvertretend für die vielfach zunächst vor allem aus »politischen« Gründen wenig geschätzten, allerdings brillanten und letztlich auch sehr erfolgreichen jüdischen Chemiker des alten Österreich möchten wir im Folgenden eine europaweit anerkannte Forscherpersönlichkeit vorstellen, die in Wien studierte und sich habilitierte (zwischendurch in Heidelberg promovierte) und anschließend – aus Gründen, die zu erörtern sein werden – zwanzig Jahre lang, von 1891 bis 1910, die Entwicklung der akademischen, vor allem organischen Chemie an der Prager Deutschen Universität prägte und als Lehrstuhlinhaber und Direktor des Chemischen Institutes in den Hauptlinien gestaltete: Guido Goldschmiedt. Sein Lebens- und Karriereweg zwischen Wien und Prag erscheint uns typisch für die taktischen Schach- und Winkelzüge der damaligen österreichischen Hochschulpolitik; zugleich eröffnet er uns einen – wenn auch aufgrund der schlechten Quellenlage nur kurzen – Blick in ein spezifisches Milieu, nämlich das eines deutsch/österreichisch-jüdischen Naturwissenschaftlers im Wien und Prag der Jahrhundertwende.14 Warum beschäftigen wir uns als Historiker mit der Biographie eines Naturwissenschaftlers und wie können wir das tun? Die Biographie gehörte zu den »klassischen« Genres der Geschichtsschreibung, ehe sie durch die sozialhistorisch und strukturalistisch orientierte Modernisierung des Faches in den 1970er und 1980er Jahren als zu »konservativ« disqualifiziert wurde. In den letzten Jahren kehrt dieses Genre allerdings zurück. Die historische Anthropologie und die Mikrohistorie, das Interesse für andere Gesellschaftsgruppen als nur die Protagonisten der politischen Eliten15 – das alles zeigt, dass die Biographie eine lebendige historiographische Form mit einem großen synthetisierenden Potenzial ist:16 »Sie hat historiographischen Ballast abgeworfen, akzeptiert Frauen und ›kleine Leute‹ in ihrer Alltagswelt als Akteur und fragt nach gesellschaftlichen, kulturellen und psychologischen Koordinaten menschlichen Handelns.«17
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und in der Weimarer Republik. Neue Überlegungen zu sozialen Ursachen des Erfolgs jüdischer Naturwissenschaftler, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), 1– 18. Volkov stützt sich in dieser Studie (17f.) auf: Jonathan HARWOOD, Styles and Scientific Thought. The German Genetics Community 1900–1933, Chicago 1993. Schon Wilhelm Dilthey definierte es als »die Aufgabe des Biographen«, »den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert«. Wilhelm DILTHEY, Gesammelte Schriften 8: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart 1992, 246–251, hier 246. Vgl. Margit SZÖLLÖSI-JANZE, Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), 17–35. Vgl. Ernst ENGELBERG/Hans SCHLEIER, Zu Geschichte und Theorie der historischen Biographie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), 195–217. Margit SZÖLLÖSI-JANZE, Biographie, in: Stefan JORDAN (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 47.
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In der Wissenschaftsgeschichte ist es dabei üblich, dass Wissenschaftler – seien es nun Historiker oder, wie in unserem Fall, Chemiker – sich vorwiegend mit Persönlichkeiten des eigenen Faches oder zumindest verwandter Fächer beschäftigen. Das Ergebnis ist oft eine sogenannte wissenschaftliche Biographie, die auf das Lebenswerk der untersuchten Person fokussiert, soziale Kontexte dabei aber weitgehend außer Acht lässt. In vielen Fällen dient die Biographie gar nur dazu, den Fortschritt eines Faches in einer bestimmten Zeit zu dokumentieren, was wiederum bedeutet, dass oft auf die »großen Persönlichkeiten« abgehoben wird, die Meilensteine gesetzt haben. Dies ist häufig und insbesondere im Bereich der Geschichte der Naturwissenschaften der Fall, wo die Biographien einzelner Forscherpersönlichkeiten meist nur dazu dienen, die wichtigen Entdeckungen des Faches im Grunde weitgehend losgelöst von der Persönlichkeit des Forschers zu feiern. Historikern wiederum, die sich bei ihrer Studienwahl nicht ohne Grund ganz bewusst gegen jedwede naturwissenschaftliche Ausrichtung entschieden haben, fällt es oft schwer, aus diesen sicher wertvollen Übersichten über die Entwicklung des jeweiligen Fachbereiches Erkenntnisse über die damalige (Wissens-)Gesellschaft zu ziehen. Zugleich stellt das mangelnde Verständnis für chemische oder andere Formeln ein großes Handicap dar, wenn man sich mit Forschern beschäftigt, die ihr Leben weitgehend im Laboratorium verbrachten; ausschließen kann man diesen wichtigen Bereich aus der Biographie eines Chemikers ja offensichtlich nicht. Während wir mit Hilfe eines Kollegen vom Institut für Organische Chemie und Biochemie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften also auch die für uns eher enigmatischen Seiten unseres »Helden« beleuchten konnten18, interessierten uns in erster Linie die gesellschaftlichen Kontexte seines Wirkens. Fragen der fachlichen Kommunikation und Vernetzung, des Verhältnisses zwischen Wien und Prag, der 18
Dabei mussten wir im Übrigen die Feststellung machen, dass die heutige Chemie mit der Chemie von vor 100 Jahren so gut wie nichts mehr zu tun hat, der Fortschritt und die Ausdifferenzierung des Faches sind aus Sicht eines Historikers fast unvorstellbar groß. An dieser Stelle danken wir unserem Kollegen David Šaman für die Zusammenarbeit, die sich auf das gesamte Projekt »Die Entwicklung des Faches Chemie an der Deutschen Universität in Prag im Vergleich mit der Wiener und Leipziger Universität von den 1880er Jahren bis zum Jahre 1945« (GAAV IAA 801040703) erstreckte, in dessen Rahmen diese Studie entstand. Dabei haben wir viele Bestände der Prager und der Wiener Archive bzw. Bibliotheken gesichtet: Archiv der Karls-Universität [Archiv University Karlovy, AUK], Nationalarchiv Prag [Národní Archiv v Praze, NAP], Staatliches Bezirksarchiv Prag [Státní Oblastní Archiv, SOA], Archiv der Hauptstadt Prag [Archiv Hlavního Města Prahy, AHMP], Archiv der Universität Wien [UAW], Österreichisches Staatsarchiv Wien [ÖStA] sowie die Bestände der Bibliothek des Instituts für Organische Chemie und Biochemie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften [UOCHB AV ČR] und der Österreichischen Nationalbibliothek. Die meisten der in den genannten Institutionen verfügbaren Materialien zur Person Goldschmiedts beziehen sich jedoch vor allem auf seine akademische und wissenschaftliche Karriere, weniger auf seine Persönlichkeit.
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politischen Dimension einer vermeintlich »unpolitischen« Wissenschaft sowie generell die Arbeitsbedingungen (nicht nur) jüdischer Wissenschaftler an zwei mitteleuropäischen Universitäten der Jahrhundertwende stehen dabei – neben der bisher unbearbeiteten Biographie eines Chemikers von Weltrang – im Zentrum der Untersuchung. II. Werdegang und wissenschaftliches Profil: Die Begründung der Karriere in Wien (1869–1891) Einer der kreativsten Wiener Chemiker der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der eigentliche (Neu-)Gründer der erfolgreichen Prager chemischen Schule war der Sohn des von Bayern nach Triest, den zentralen Hafen der Habsburgermonarchie und ihre Versicherungs- und Bankenmetropole19, zugewanderten jüdischen Großkaufmanns Sigmund Goldschmiedt.20 Der 1850 geborene Guido Goldschmiedt besuchte das Gymnasium in seiner Heimatstadt und sollte nach dem Wunsch des Vaters eigentlich Kaufmann werden.21 Nach dem Abitur führte ihn sein Studienweg daher zunächst an die Frankfurter Handelsakademie. Schon hier beschäftigte er sich aber statt mit der Finanzlehre vielmehr mit der Chemie und wechselte nach einem Semester an die Wiener Philosophische Fakultät. Dort widmete er sich intensiv den Naturwissenschaften und insbesondere der Chemie. Den besten zusammenfassenden Überblick über Goldschmiedts Studium und seinen weiteren akademischen Werdegang bietet uns der große Klassiker der Wiener bzw. der ganzen österreichischen akademischen Chemie der Jahre 1875 bis 1914, Adolf Lieben22, in seiner Eigenschaft als Berichterstatter der Fakultätskommission, die den langjährigen Adjunkten Goldschmiedt im Jahre 1886 erstmals – vergeblich – für eine außerordentliche Professur vorschlug: 19
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Triest war im 19. Jahrhundert eine Stadt mit einer starken und reichen, auf Großhandel und Finanzgeschäfte spezialisierten jüdischen Minderheit. Vgl. Regina NASSIRI, Investitionsverhalten und Lebensstil der kosmopolitischen Kaufmannschaft Triests gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in: Österreich in Geschichte und Literatur 43 (1999), 217–234. Goldschmiedts mit Abstand bester lexikalischer Lebenslauf stammt von Wilfrid OBERHUMMER, Goldschmiedt, Guido, Chemiker, in: Neue Deutsche Biographie 6, Berlin 1964, 619f. Hier findet sich auch die Information, dass seine im Jahre 1886 verstorbene Mutter Henriette, geborene Herzfeld, die Tochter des Wiener Börsensensals Karl Herzfeld war. Der Vorname seines Vaters kann dem Konskriptionsblatt des Prager Magistrats von 1891 entnommen werden. Die standardisierte Übersicht über Leben und Wirken von Guido Goldschmiedt bietet der Eintrag in Leo SANTIFALLER/Eva OBERMAYER-MARNACH (Hg.), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 [weiter: ÖBL] 2, Graz–Köln 1959, 26. Zu Lieben vgl. ÖBL 5 (1972), 192; Fritz LIEBEN, Adolf Lieben (1836–1914), in: Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher 15, Wien 1963, 119– 125, vor allem aber den umfangreichen, kritisch-interpretatorischen Nekrolog aus der Feder eines seiner nächsten Mitarbeiter: Simon ZEISEL, Adolf Lieben, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 39 (1916), 834–892.
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Jiří Pešek – Nina Lohmann »Guido Goldschmiedt […] legte […] 1868 die Maturitätsprüfung ab, ging dann nach Frankfurt a. M. und studierte Chemie bei Böttger, Anatomie bei Lucas, um dann in Wien, wo er durch 5 Semester bis einschließlich Sommer 1871 als ordentlicher Hörer an der phil. Fakultät inscribiert blieb, seine Studien fortzusetzen. Während dieser Zeit frequentierte er Collegien über Mathematik, Physik, Mineralogie, Geologie, Botanik, hörte Chemie bei Redtenbacher, später bei Schneider und arbeitete in dessen Laboratorium. Im Wintersemester 1871/72 begab er sich nach Heidelberg, besuchte das Laboratorium von Bunsen, sowie Vorlesungen und Übungen bei Kopp, Ladenburg, Kirchhoff, Blum, Leonhard und Zeller und wurde im Sommer 1872 dort ›rite‹ und ›summa cum laude‹ zum Doctor der Philosophie promoviert. Vom Herbst 1872 an brachte er 3 Semester an der Universität Strasburg [sic!] zu, wo er in Prof. Baeyers Laboratorium und im Krystallographischen Institut des Prof. Groth arbeitete. Im Sommer 1874 kehrte er nach Wien zurück, wurde im Herbst Assistent im I. chemischen Universitätslaboratorium und habilitierte sich im Wintersemester 1874/75 als Privatdozent für Chemie an der Wiener Universität. Im März 1880 wurde er provisorisch, im Jahre 1882 definitiv zum Adjuncten ernannt.«23
Goldschmiedts Karriere begann also nicht schlecht.24 Als Schüler eines der lebenden Klassiker des Faches, Robert Wilhelm Bunsen, und mit seinen ersten – bereits in angesehenen Zeitschriften publizierten – Studien, welche er unter Adolf von Baeyer in Straßburg vorbereitet hatte, wurde er zunächst Assistent bei Franz C. Schneider und danach bei Ludwig Barth von Barthenau am I. Chemischen Institut.25 Er war sprachlich außerordentlich gut ausgestattet und galt (übrigens ähnlich wie andere führende Wiener Chemiker) als eminenter Kenner der gesamten amerikanischen und europäischen chemischen Literatur seiner Zeit.26 Im Alter von 30 Jahren wurde er Adjunkt, also Oberassistent 23
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»Commissionsbericht über den von den Professoren Loschmidt und v. Lang in der Fakultätssitzung vom [o. D.] 1886 eingebrachten Antrag betreffend die Beförderung des Privatdozenten Dr. Guido Goldschmiedt zum ausserordentlichen Professor«, ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/1890, fol. 11–13, hier fol. 11b–12a. Zu Goldschmiedt verfügen wir über eine in Qualität und Umfang einmalige Studie aus der Feder eines seiner wissenschaftlich ebenfalls glänzenden Wiener Kollegen: Josef HERZIG, Guido Goldschmiedt, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 39 (1916), 892–932. Herzig, ein hoch angesehener Professor der pharmazeutischen Chemie, listet in seinem Nekrolog nicht nur das Leben und die wissenschaftlichen und pädagogischen Leistungen Goldschmiedts freundlich und ausführlich auf, sondern ergänzt sie auch um eine Bibliographie der Werke sowie der von Goldschmiedt veranlassten und geführten Arbeiten seiner Schüler. Darüber hinaus kommentiert er seine Arbeiten auch vor dem Hintergrund der chemischen Forschung in der Zeit ihrer Entstehung und setzt sie in einen breiteren Kontext. Zu Ludwig Barth von Barthenau (auch »zu Barthenau«) vgl. den Eintrag im ÖBL 1 (1957), 51; zu Franz Cölestin von Schneider vgl. den Eintrag von H. ENGELBRECHT, in: ebd. 10 (1993), 376f. Zu Adolf Ritter von Baeyer vgl. den ausführlichen Artikel von Friedrich KLEMM, Baeyer, Adolf Johann Friedrich Willhelm Ritter von, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), 534–536, URL: http://www.deutsche-biographie. de/pnd118646346.html (31. 5. 2012). Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 893. In diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass Goldschmiedt kurz nach seiner Habilitation als offizieller
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oder auch Abteilungsleiter, und war bald in vielerlei Hinsicht ein wirklicher Vertreter des (mit vielen akademischen und manchmal auch politischen Funktionen, Gremien oder Prüfungskommissionen ausgelasteten) Professors, also des Direktors des Laboratoriums. Als definitiver Adjunkt verdiente Goldschmiedt genau so viel wie ein Gymnasiallehrer und stand auch – den damaligen Umständen entsprechend – auf der gesellschaftlichen Leiter verhältnismäßig weit oben.27 Allerdings war diese Position für einen glänzenden jungen Wissenschaftler aus den gehobenen gesellschaftlichen Schichten eigentlich nur eine Übergangsstelle, eine Startbasis für die Erlangung einer Professur (entweder als Extraordinarius an der heimischen oder als Ordinarius an einer anderen Universität). Goldschmiedt verhalfen jedoch zunächst weder seine Facherfahrungen in den besten und angesehensten Universitätslaboratorien Mitteleuropas der 1870er Jahre noch seine – eigentlich sensationellen – Entdeckungen und Publikationen, Preise und Lehrerfolge der nachfolgenden Dekade zu dem gewünschten Aufstieg in die Reihen der Professorenschaft. Auch die Tatsache, dass er bis 1886 die Abteilung für Anfänger leiten musste, begrenzte seine Möglichkeiten, den Studenten selbstständige, aber mit seiner eigenen Forschung zusammenhängende Aufgaben zu stellen und dadurch die notwendige Menge an Vergleichsmaterial für seine eigenen Studien zu sammeln. Dies gehörte nämlich zu den unter den damaligen Umständen üblichen Praktiken der Hochschulchemiker, welche eher auf die komparative Literatur und ein breites Spektrum an Vergleichsstudien angewiesen waren als auf (wie heute) exakte, technologisch anspruchsvolle Messungen. Im Übrigen war es die Regel, dass
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Berichterstatter zur Weltausstellung nach Philadelphia 1876 geschickt wurde. Über die chemische Sektion der Ausstellung referierte er dann unter dem Titel: Die chemische Industrie, in: ÖSTERREICHISCHE COMMISSION FÜR DIE WELTAUSSTELLUNG IN PHILADELPHIA 1876 (Hg.), Bericht über die Weltausstellung in Philadelphia 1876, Wien 1877. Es ist uns allerdings nicht gelungen, in diesem 16-bändigen Werk den Aufsatz zu finden. In der Bibliographie bei HERZIG, Guido Goldschmiedt, 925, findet sich nur eine Kurzzitation ohne Seitenangabe. Goldschmiedt heiratete übrigens standesgemäß. Im Todesjahr seiner Mutter 1886 ehelichte er Angelika, die Tochter Josef Ritter von Herzfelds, eines Direktors der Foncière Pester Versicherungsanstalt in Wien. Inwieweit die Familie von Goldschmiedts Mutter mit den »von Herzfelds« verwandt war, kann nicht bestimmt werden; vgl. OBERHUMMER, Goldschmiedt, 619. Nach dem im Archiv der Hauptstadt Prag aufbewahrten Konskriptionsblatt der Gemeinde Prag (angelegt 1891 und revidiert 1900) war Angelika Herzfeld am 28. Mai 1866 in Wien geboren worden und brachte dort am 3. Oktober 1888 auch die Tochter Guida zur Welt. Es folgte noch der Sohn Angelo, 1895 in Prag geboren, aber schon am 15. Februar 1896 gestorben. Es ist interessant, dass sich im Konskriptionsblatt der Prager Polizeidirektion, in dem auch das genaue Datum der Anmeldung Guido Goldschmiedts in Prag – 14. Oktober 1891 – steht, über seine Kinder falsche Angaben befinden: Die Tochter Guida wird hier als Sohn Guido geführt, der erst in Prag geborene Sohn Angelo kommt gar nicht vor. Vgl. NAP, Policejní ředitelství I., Konskripce, Kart. 142.
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Goldschmiedt bei den Demonstrationen für die Studenten die Experimente der jüngsten chemischen Literatur vorführte – und dadurch zugleich deren Ergebnisse überprüfte.28 Aus heutiger Sicht ist die Tatsache, dass die jüngsten wissenschaftlichen Experimente auf dem Niveau der üblichen Hochschullehre problemlos wiederholbar waren, sicher eine Notiz wert. Der breit arbeitende Naturforscher Goldschmiedt mit viel Interesse nicht nur für sein Hauptfach, sondern auch für die Mineralographie und Krystallographie, die Botanik und sogar die Physik, suchte in Wien neue Schwerpunkte für seine Forschung. So publizierte er als Assistent von Professor Schneider in den späten 1870er Jahren auch Abhandlungen aus dem Gebiet der physikalischen Chemie.29 Goldschmiedt war aber vor allem ein erfolgreicher Experimentator:30 In mehreren späteren Texten über ihn wird erwähnt, dass er besonders in der anspruchsvollen und großes Feingefühl erfordernden chemischen Abbaumethode der Kalischmelze ein Meister gewesen sei.31 Seine vielleicht wichtigste Leistung jener Jahre war die erste erfolgreiche Überführung einer ungesättigten Fettsäure höherer Kohlenstoffzahl in die entsprechende gesättigte Fettsäure.32 Später, unter Professor Barth von Barthenau, richtete er sein Forschungsinteresse – im Einklang mit der am Wiener Laboratorium im Kontext der medizinischen und pharmazeutischen Forschung herrschenden Präferenz – vor allem auf die botanischen Naturstoffe. Hier interessierten ihn insbesondere das Polyphenol »Ellagsäure«, weiter die Anhydride der Salicylsäure sowie die Beziehungen in den Reihen der ungesättigten und gesättigten Ölsäuren. 28 29
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Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 893. Über den Einfluß der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flüßigkeiten. I. Abhandlung, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Abt. II. [weiter: Sitzungsberichte] 76 (1877) [Es ist uns nicht gelungen, überall die konkreten Seitenzahlen zu ermitteln, da diese Zitierweise nicht dem Usus in den Naturwissenschaften entspricht und uns die einzelnen Hefte der Sitzungsberichte oft nicht zur Verfügung standen.]; Über den Einfluß der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flüßigkeiten. II. Abhandlung, in: ebd. 78 (1878); Über eine Modification der Dampfdichtebestimmung, in: ebd. 75 (1877); Franz EXNER/Guido GOLDSCHMIEDT, Ueber den Einfluss der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flüssigkeiten, in: Annalen der Physik und Chemie 240 (1878), 417–432, und 242 (1878), 73–81. Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Verbindungen von Bromal und Chloral mit Benzol, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 6 (1873), 985–990; DERS., Über das Diphenylaethan, in: ebd., 1501–1503. Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Zersetzungsprodukte eines Ammoniakgummiharzes aus Marokko durch schmelzendes Kalihydrat, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 11 (1878), 850–852. Vgl. OBERHUMMER, Goldschmiedt, 620; und Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Umwandlung von Säuren der Reihe CnH2n-2O2 in solche der Reihe CnH2nO2, in: Sitzungsberichte 72 (1875), 366–375.
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Es war aber vor allem die Entschlüsselung der Konstitution von Papaverin in einer Reihe von zunächst neun brillanten Studien der Jahre 1883–1889, die Goldschmiedt in seinem Fache Berühmtheit bescherte.33 Papaverin ist ein Alkaloid, das (im Verbund mit anderen Stoffen) im Opium enthalten ist. Seine Wirkung als Spasmolytikum wird vor allem in der Herzmedizin, heutzutage aber vermehrt auch in weiteren Bereichen der Medizin genutzt. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des intensiven Experimentierens mit Opiaten ebenso wie z. B. mit Kokain für die medizinische Anwendung (an dieser Stelle sei nur auf Sigmund Freud verwiesen). Schon aus diesem Grund fanden Goldschmiedts Forschungen viel Echo bei den Zeitgenossen. Innerhalb der Chemikergemeinde war es aber fast noch bedeutsamer, dass er damit die erste Strukturermittlung eines komplizierter gebauten Alkaloids durchgeführt hatte.34 Diese Arbeit, welche erstmals das Vorhandensein eines Isochinolinringes in einem Alkaloid nachwies, war grundlegend für die Strukturermittlung anderer Opiumalkaloide und hatte Auswirkungen auf die gesamte Alkaloidforschung.35 Es handelte sich nämlich um die erste »totale Synthese« eines wichtigen und komplizierten Naturstoffes, also um eine erschöpfende Beschreibung der chemischen Synthese seines organischen Moleküls bzw. um eine retrosynthetische Zerlegung des Zielmoleküls dieses Alkaloides in seine Präkursore.36 Während Goldschmiedt für seine Arbeiten im Ausland Ehrungen sammelte – seit 1885 zum Beispiel war er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, also der ältesten naturwissenschaftlich-medizinischen Gelehrtengesellschaft in Deutschland – wurde die Lage in Österreich für ihn immer unbefriedigender. So wurde er zwar seit 1886 immer wieder in die »Terno« für die Besetzung verschiedener, auch sehr angesehener Lehrstühle aufgenommen, nie aber ging 33
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Über Papaverin, in: Sitzungsberichte 87 (1883); Untersuchungen über Papaverin I.– IX., in: ebd. 91, 92, 94, 96, 97 (1885–1888); Über das vermeintliche optische Derhungsvermögen des Papaverins, in: ebd. 95 (1887); Zur Kenntnis der Papaverinsäure und Pyropapaverinsäure, in: ebd. 96 (1887); Über die Einwirkung von Kalihydrat auf Alkylhalogenverbindungen des Papaverins, in: ebd. 96 (1887). Einen kontextualisierenden Kommentar zu der Papaverin-Serie bietet HERZIG, Guido Goldschmiedt, 903–913. Vgl. Goldschmiedt, Guido, in: ÖBL 2 (1959), 26. Die Kommission der Wiener Chemisch-Physikalischen Gesellschaft charakterisierte im Antrag auf die Preisverleihung zur Feier des 20-jährigen Bestandes der Gesellschaft im Dezember 1989 Goldschmiedts »Untersuchungen über Papaverin« mit den Worten: »Diese Arbeit […] hat die Constitution des Papaverins bis in die kleinsten Details vollständig aufgeklärt, so daß dieses Alkaloid wohl als das bestuntersuchteste gelten kann. Sie hat ferner durch den Nachweis, daß das Papaverin ein Derivat des Isostinolins ist, zum ersten Male gezeigt, daß dieses letztere auch zum Aufbaue von Alkaloidmolekülen dienen könne und durch Auffindung dieser wichtigen Thatsache der späteren Forschung einen neuen Weg geöffnet, der auch schon in neueren Arbeiten anderer Fachgenoßen mit Erfolg betreten wurde.« ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/ 1890, fol. 18a. Vgl. auch OBERHUMMER, Goldschmiedt, 620.
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er als – durch das kaiserliche Ministerium für Cultus und Unterricht bestätigter – Sieger aus diesem akademischen Rennen hervor. Auch drei aufeinander folgende Versuche seiner Fakultät, ihm zumindest eine außerordentliche Professur zu beschaffen, scheiterten am Einspruch des Ministeriums.37 Zwar schweigen die Akten diskret zu den Gründen für diese wiederholte Zurücksetzung; aus dem Kontext wird jedoch deutlich, dass Goldschmiedts Probleme bezüglich seiner Karriere mit seiner jüdischen Herkunft zusammenhingen – was im Übrigen später auch durch die Ministerialbeamten thematisiert wurde. Wien war zwar in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch etwas weniger antisemitisch als unter der Stadtregierung der christlich-sozialen Partei Karl Luegers seit dem Jahre 1892, trotzdem spielte dieser Aspekt bereits eine beträchtliche Rolle. Die Vorstellung, dass etwa das durch den Tod Ludwig Barths von Barthenau im Sommer 1890 »frei gewordene« I. Chemische Institut ein Jude leiten und sich damit die gesamte Spitze der Wiener Chemie in »jüdischen Händen« befinden könnte, war für das Ministerium für Cultus und Unterricht wie auch und besonders für die städtische und reichspolitische Repräsentanz offenbar unerträglich.38 Und das, obwohl die hohen Ministerialbeamten auf keinen Fall die besten österreichischen jüdischen Chemiker an die deutschen (oder andere) Universitäten verlieren wollten … In dieser Situation wandte sich Goldschmiedt im November 1889 mit einem gekränkten »Pro memoria« an die Fakultät und durch ihre Vermittlung an das Ministerium.39 Er argumentierte, dass die Nichtbe37
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So resümiert die Fakultätskommission des Jahres 1886, in welcher Adolf Lieben als Berichterstatter fungierte und sich als Beisitzer die Professoren Barth, Loschmidt, Lang, Tschermak und Wiener beteiligten, ihre Ausführungen mit den Worten: »Als Dozent wie als wissenschaftlicher Forscher, endlich nicht minder als Assistent und Adjunct, in welcher Eigenschaft er seit mehr als 11 Jahren und zwar nach dem Zeugnisse Prof. von Barth’s in ausgezeichneter Weise thätig ist, hat Dr. Goldschmiedt sich bewährt […].« ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/1890, fol. 13a. Die Situation beschreibt ROSNER, Chemie in Österreich, 232: »Guido Goldschmiedt war Jude und in der politischen Situation, die an den Hochschulen herrschte, wagte das Unterrichtsministerium nicht, die Leitung des 1. Chemischen Instituts mit einem Juden zu besetzen, wenn schon das 2. Chemische Institut mit Lieben einen jüdischen Institutsvorstand hatte und auch Eduard Lippmann, der das 3. Chemische Laboratorium leitete, Jude war. Es war auch nicht möglich, Skraup, der in Graz unterrichtete, nach Wien zu holen und dessen Stelle mit Goldschmiedt zu besetzen, da an der Universität Graz die deutschnationalen und antisemitischen Strömungen besonders einflussreich waren.« ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/1890, fol. 20–26. Dieses »Pro memoria« enthält auf fol. 25a eine von Goldschmiedt ausgefertigte Auflistung aller 120 Privatdozenten der Wiener Philosophischen Fakultät, die dort entweder im Jahr seiner Habilitation (1875) tätig waren oder in einzelnen Jahren danach bis 1889 habilitiert wurden, und dazu die Information, ob sie schon eine Berufung erhalten haben (36), aufgegeben haben (5) oder gestorben sind (7).
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rücksichtigung seiner Leistungen (alle mit ihm parallel oder später habilitierten Kollegen waren schon berufen oder mindestens mit einem Assistenten »ausgestattet« worden) bei den Studenten seine Autorität als Leiter der Abteilung für Fortgeschrittene mindere: »Hinzu kommt, daß der Vorstand des I. chemischen Universitätslaboratoriums in Folge der vielfachen Arbeiten und Geschäfte, die ihm obliegen (Prüfungen, Sitzungen, Referate etc.) in den letzten Jahren gezwungen war, Vieles, was er früher bezüglich des Unterrichtes und der Administration des Institutes selbst besorgen konnte, successive dem Gefertigten zu übertragen. So sind auch die in den letzten Jahren aus dem Institute hervorgegangenen wißenschaftlichen Arbeiten von Studierenden und jungen Doctoren zum großen Theile auf Veranlaßung des Gefertigten, alle aber unter deßen Leitung ausgeführt worden.«40
Ein solches Schreiben konnte Goldschmiedt seiner Fakultät in keinem Fall ohne eine vorherige Konsultation mit seinem Vorgesetzten, Prof. Barth von Barthenau, einreichen.41 Insofern kann man diese Beschwerde wohl auch als eine indirekte Aufforderung des Laboratoriumsvorstehers, der unter den gleichen Überlastungsproblemen zu leiden hatte wie die meisten seiner Vorgänger, Kollegen und Nachfolger in der Funktion des Direktors der riesigen Wiener Chemischen Institute, zur Stärkung seines Institutes verstehen. Goldschmiedt erwähnt in seinem »Pro memoria« ferner, dass er zu diesem Zeitpunkt 45 wissenschaftliche Studien (41 davon in den prestigeträchtigen Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie) publiziert habe.42 Um diese Arbeiten zu charakterisieren, greifen wir wieder zum Kommissionsbericht des Jahres 1886: »Die wissenschaftlichen Publicationen Goldschmiedt’s beginnen 1873 mit einer Abhandlung über die Verbindungen von Bromal und Chloral mit Benzol. Es folgen einige Untersuchungen über Kohlenwasserstoffe, über ein fettes Öl, Umwandlung ungesättigter Säuren in gesättigte, einige analytisch chemische und physikalisch-chemische Untersuchungen, wie ›Über die Modification der Meyer’schen Dampfdichtebestimmung‹ (mit Ciamician), ›Über Einfluß der Temperatur auf das galvanische Leitungsvermögen der Flüssigkeiten‹ (mit Exner). Daran schliessen sich die wichtigen und umfangreichen Arbeiten über Idrialin, über Idril43, über Stuppfett, einige neue Kohlenwasserstoffe, über Pyren und Derivate derselben, endlich seine neuste, in 3 Abhandlungen niedergelegte Untersuchung des Papaverins. Letztere Arbeit kann wohl als die hervorragendste und erfolgreichste Leistung Goldschmiedts bezeichnet werden. Das genannte Alkaloid, das einen Bestandtheil des Opiums bildet, ist dadurch der chemischen Kenntniss fast vollständig erschlossen worden, so dass seine Beziehungen zum Chinolin und Pyridin wie anderseits zum Benzol klargelegt sind, – ein Ziel, das 40 41 42
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Ebd., fol. 26a. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 914, erinnert daran, dass Goldschmiedt von Barth sehr gefördert wurde. Vgl. Goldschmiedts Bibliographie bis 1889, ebd., fol. 24a+b. Seine ersten drei, in Straßburg in Baeyers Laboratorium verfassten Beiträge aus dem Jahre 1873 wurden in den »Berichten der deutschen chemischen Gesellschaft« veröffentlicht. Es geht um ein Mineral, im Prinzip Kohlenwasserstoff C40H28O, das normalerweise in einer Mischung mit weiteren Zutaten und Lehm kristallisiert.
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Jiří Pešek – Nina Lohmann bisher bei den wenigsten der natürlich vorkommenden Alkaloide, obgleich diese Körpergruppe in neuerer Zeit Gegenstand zahlreicher sehr eingehender Untersuchungen geworden ist, erreicht werden konnte.«44
Noch während Goldschmiedt also an der Entschlüsselung des Papaverins arbeitete, war sich die Kommission bereits über die enorme Wichtigkeit dieser Analysen im Klaren. Dieser Ein- bzw. Wertschätzung der Goldschmiedt’schen Arbeit schloss sich Ende des Jahres 1889 auch die Chemisch-Physikalische Gesellschaft in Wien an. Für den Preis zum zwanzigjährigen Jubiläum der Gründung der Gesellschaft wählte die für die Bewertung der Anträge zusammengestellte Kommission (u. a. unter Beteiligung der Professoren Ludwig von Barth und Adolf Lieben) aus einer großen Anzahl eingereichter, qualitätsvoller Arbeiten gerade die »Untersuchungen über Papaverin« als die beste Leistung auf dem Felde der österreichischen Naturwissenschaft der jüngeren Jahre aus. Diese Entscheidung öffnete die Tür nicht zuletzt für die Zuerkennung des renommierten Ignaz-Lieben-Preises der Kaiserlichen Österreichischen Akademie der Wissenschaften an Goldschmiedt im Jahre 1892 (ebenfalls für seine Papaverin-Forschungen) und vor allem für seine Aufnahme in die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (im Jahre 1894 als korrespondierendes, 1899 als ordentliches Mitglied).45 Zugleich verdeutlichte sie nicht nur, dass Goldschmiedt ein hervorragender Chemiker war, sondern auch, dass diese Tatsache allgemein anerkannt war. Seine Rezeption in Deutschland war denn auch sehr intensiv: Seit 1874 publizierte Goldschmiedt seine Studien ausschließlich in den in dieser Zeit für die Naturwissenschaften im deutschen Sprachraum maßgeblichen »Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien« (mit einem parallelen Abdruck in den »Wiener Monatsheften für Chemie«). Insofern nimmt es nicht wunder, dass Goldschmiedt auch Mitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft war und später, in den Jahren 1900/1901, sogar zum Vorstandsmitglied aufstieg.46 Dies war für einen nicht in Deutschland wirkenden Chemiker eine große Ausnahme. Auch dem Ministerium musste also klar sein, dass ein solch kompetenter und anerkannter Chemiker, wenn er nicht befördert werden würde, einen Ruf an eine deutsche Universität erhalten könnte und dadurch für Österreich verloren wäre.47 Wohl auch als Reaktion auf das erwähnte 44 45 46 47
ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 7039/1890, fol. 11–13, hier fol. 12a+b. Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 913, 923. Vgl. ebd., 913. Laut ROSNER, Chemie in Österreich, 241, war Goldschmiedt im Jahre 1900 Präsident dieser Gesellschaft. Dabei spielte unter anderem auch die Tatsache eine große Rolle, dass die Gehälter der Professoren in Deutschland höher als in Österreich oder der Schweiz waren und dass auch die allgemeine Förderung der Universitäten im Wilhelminischen Reich großzügiger war. In den Berichten der Berufungskommissionen finden sich wiederholt Kommentare zu dieser Tatsache, etwa im Kommissionsbericht der Philosophischen Fakultät vom 5. 12. 1910 im Zusammenhang mit Goldschmiedts Berufung nach Wien: »Wohl
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»Pro Memoria« wurde Goldschmiedt daher am 10. April 1890 endlich zumindest eine außerordentliche Professur an der Wiener Philosophischen Fakultät erteilt.48 Man traute sich aber weiterhin nicht, ihn – einen weiteren Juden unter den besten Chemikern der Monarchie – auf einen der universitären chemischen Lehrstühle zu berufen. Diese Frage sollte sich jedoch sehr bald erneut stellen: Durch den plötzlichen Tod Ludwig Barths von Barthenau im Jahre 1890 wurde die Besetzung des Direktorenpostens am I. Chemischen Institut virulent.49 Das Ministerium entschied sich aber wieder gegen Goldschmiedt und betrachtete als einzige sich bietende Möglichkeit die Berufung Hugo Weidels von der Hochschule für Bodenkultur auf diese angesehene Professur – und die Nachfolge Weidels an der Hochschule für Bodenkultur durch Goldschmiedt.50 Insofern bedeutete diese Rochade endlich die Ernennung Goldschmiedts zum Ordinarius, wenn auch auf einer Hochschule von geringerem Prestige als die Wiener Universität. Schon bald darauf tat sich für ihn aber eine neue Perspektive auf: Auch an der Deutschen Universität in Prag wurde durch den unerwarteten Tod Richard Malys ein Lehrstuhl für Chemie vakant. Dieses Mal waren die Ausgangsbedingungen für Goldschmiedt günstiger – in Prag musste das Ministerium nämlich keine antisemitischen Proteste befürchten, die Fronten verliefen anders als in Wien: »Da die deutsch-nationalen Kreise in Prag die Tschechen als ihre Hauptgegner betrachteten, konnte das Unterrichtsministerium Goldschmiedt trotz seiner jüdischen Herkunft mit der Lehrkanzel in Prag betrauen, ohne befürchten zu müssen, dass daraus Probleme entstehen könnten.«51
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aber musste auch an Lehrkräfte deutschsprachiger Hochschulen ausserhalb Oesterreichs gedacht werden. Allerdings sind die Schwierigkeiten bei Berufung derartiger Lehrkräfte für Chemie ungewöhnlich gross. Denn die Einkünfte der Chemieprofessoren an den Universitäten des Deutschen Reichs übersteigen meist 25.000 Mark jährlich und gehen an grossen Universitäten bis 60.000 M und darüber. Ebenso ist die Dotierung der Institute mit Geld, wissenschaftlichen Hilfskräften, Verwaltungspersonal und Dienern meist bei weitem reichlicher als in Österreich. Endlich kommen manche Imponderabilien und der Umstand in Betracht, dass den Vorständen der Mehrzahl der chemischen Laboratorien des Deutschen Reichs sehr reichlich bemessene Naturalwohnungen zur Verfügung gestellt sind, während im Gegenteil unser Finanzministerium die Einrichtung der Naturalwohnungen für Institutsvorstände auf das energischste bekämpft.« AUW, Personalakte Guido Goldschmiedt, fol. 107–110, hier fol. 108f. Personalblatt der Philosophischen Fakultät der Wiener Universität aus dem Jahre 1910. AUW, Personalakte Guido Goldschmiedt. Goldschmiedt (gemeinsam mit dem Innsbrucker Professor Karl Senhofer, Barths ehemaligem Kollegen und Mitautor) ehrte seinen Lehrer mit einem Nekrolog in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft 24 (1891), 1089–1114. Zu Weidel vgl. den Aufsatz von Moritz KOHN, Hugo Weidel, 1849–1899. A Tribute, in: Journal of Chemical Education 21 (1944) 8, 374–379. Zu den »Problemen« mit der Professur für Goldschmiedt vgl. ROSNER, Chemie in Österreich, 232, 236, Zitat 240f.
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III. Etablierung und Schulebildung: Die Prager Jahre (1891–1910) Goldschmiedt fand das Chemische Laboratorium in Prag in einem guten, nämlich schon modernisierten Zustand vor und konnte sich (im Unterschied zu seinen Vorläufern auf diesem Lehrstuhl) in den nächsten Jahren – abgesehen von einigen öffentlichen Verpflichtungen52 – fast vollständig auf Lehre und Forschung konzentrieren. Er, der in Wien lange Jahre darunter gelitten hatte, dass er nur eine Einführungsabteilung führte und seinen Studenten daher kaum Versuchsanordnungen zuteilen konnte, die er als Vergleichsmaterial für seine eigenen Untersuchungen brauchte, konnte jetzt in Prag diese, für jene Zeit übliche und unter den bestehenden technischen Bedingungen eigentlich fast einzig mögliche Arbeitsweise ausdehnen. In den 20 Prager Jahren regte Goldschmiedt so ca. 90 studentische, überwiegend mit Dissertationsprojekten verbundene Analysen an bzw. begleitete diese bis zur Publikation, welche durch seine Schüler meist selbstständig ausgearbeitet wurde. Nur in Fällen, in denen er sich an der Forschung (besonders seiner Assistenten) selbst direkt beteiligte, figurierte er als Mitautor – dies scheint erwähnenswert, war eine solche professorale »Bescheidenheit« für jene Zeit doch nicht gerade typisch. Die Schaffung eines breiten Forschungsfeldes, auf das er sich stützen konnte, war Goldschmiedt offenbar wichtiger als die Zahl seiner Einzelpublikationen.53 Goldschmiedt schaffte es denn auch, eine recht große und wissenschaftlich einflussreiche Gemeinde von Schülern auszubilden. Exemplarisch wollen wir hier die Wirkung der »Goldschmiedt-Schule« am Beispiel seines international wohl berühmtesten Schülers, des Radiumforschers Otto Hönigschmid, demonstrieren.54 Der junge Mann aus 52
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Dazu zählte etwa die Analyse des Trinkwassers für die Prager Agglomeration in seiner Eigenschaft als Mitglied des Landessanitätsrates für Böhmen. Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 916. Josef Herzig sagt dazu in seinem Nekrolog Goldschmiedts Folgendes: »Auch muss ich es mir versagen, alle Arbeiten (124) zu besprechen, welche auf Veranlassung und unter direkter Leitung des Verewigten von seinen Schülern ausgeführt wurden. Sie behandeln Probleme aus fast allen Gebieten der Chemie, vorzüglich der organischen, und dienen zum Teil der Aufklärung von Fragen, welche Goldschmiedt selbst studiert hatte, zum anderen Teile wurden auch ganz neue Fragestellungen und Körperklassen in Betracht gezogen. Besondere Genugtuung empfand er über die Arbeiten aus der Reihe der Oxime, Hydrazone, Osazone, Semicarbazone und Azine, auch andere kleinere Arbeiten erwähnte er häufig mit einer gewissen Freudigkeit.« HERZIG, Guido Goldschmiedt, 921f. Für Hönigschmids Lebensdaten vgl. ÖBL 2 (1959), 363, eine ausführliche Bewertung seines Lebenswerkes bietet Lothar BIRKENBACH, Otto Hönigschmid (1878–1945), in: Chemische Berichte 82 (1949), XI–LXV. Überwiegend auf diesen Text stützt sich auch die Schilderung von Emilie TĚŠÍNSKÁ, Dějiny jaderných oborů v českých zemích (Československu). Data a dokumenty (1896–1945) [Geschichte der Kernforschungsfächer in den böhmischen Ländern (in der Tschechoslowakei). Daten und Dokumente (1896–1945)], Praha 2010, 376–382. Weiter vgl. Robert von SCHWANKNER, Das Portrait: Otto Hönigschmid (1878–1945), in: Chemie in unserer Zeit 15 (1981), 163–174.
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dem mittelböhmischen Hořovice/Hořowitz studierte seit dem Jahre 1897 Chemie an der Prager Deutschen Universität und promovierte 1901 bei Goldschmiedt in der organischen Chemie »Über Tetrahydrobiphenylenoxid«.55 Anschließend wurde er Hilfsassistent am Chemischen Laboratorium. Nach drei Jahren schickte Goldschmiedt den begabten Nachwuchswissenschaftler, der sich im Bereich der analytischen Chemie spezialisierte, an die Sorbonne nach Paris in das Laboratorium Henri Moissans, des Mannes, dem als Erstem das »Unmögliche« – die Isolation von Fluor – gelungen war.56 Dort arbeitete und publizierte Hönigschmid zwei Jahre bis zu Moissans Tod kurz nach dessen Auszeichnung mit dem Nobelpreis. Schließlich kehrte er nach Prag zurück und habilitierte sich im Studienjahr 1907/1908 bei dem »Organiker« Goldschmiedt über »Karbide und Silizide«.57 Die analytische Chemie und speziell die Atomgewichtsbestimmung war sein nächstes Lebensthema. Nach einem weiteren, durch Goldschmiedt initiierten Auslandsaufenthalt – diesmal an dem von dem Atomforscher und späteren Nobelpreisträger Theodore W. Richards geleiteten Department of Chemistry in Harvard – übernahm Hönigschmid im September 1910 schließlich eine außerordentliche Professur für anorganische und analytische Chemie an der Prager Deutschen Technischen Hochschule. Dort begann er, in Kooperation mit Stefan Meyer vom neu eröffneten Wiener Institut für Radiumforschung58, mit Forschungen zu einer genaueren Bestimmung des atomaren Radiumgewichts als es bis dahin Marie Curie gelungen war. Der erste Erfolg stellte sich gleich im Jahre 1911 ein, und es folgte eine 55 56 57
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Disertace pražské university [Die Dissertationen der Prager Universität] II., Praha 1965, 15, Nr. 216. Das Zweitgutachten schrieb damals Hans Molisch. Vgl. Alain TRESSAUD, Henri Moissan: Chemie-Nobelpreisträger 1906, in: Angewandte Chemie 118 (2006), 6946–6950. Die Habilitationsschrift erschien in Buchform: Otto HÖNIGSCHMID, Karbide und Silizide, Halle a. d. Saale 1914, VIII + 263 S. Zu Hönigschmids Beziehung zu Goldschmied vgl. Heinrich Otto WIELAND, Otto Hönigschmid zum Gedächtnis, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 62 (1950) 1, 1–4: »Er hat seine chemische Ausbildung bei Guido Goldschmiedt in Prag erhalten und war mehrere Jahre Assistent des von ihm stets hoch verehrten Lehrers, von dem er die peinliche Exaktheit im Arbeiten erlernt hat.« Zu Stefan Meyer, 1910–1938, 1945–1947 Direktor des Wiener Instituts für Radiumforschung, vgl. Friedrich STADLER (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, Münster 2004, 711; ÖBL 6 (1973), 1; Wolfgang L. REITER, Stefan Meyer und die Radioaktivitätsforschung in Österreich, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Anzeiger der phil.-hist. Klasse 135 (2000), 105–143. Stefan Meyer war der Bruder des Chemikers Hans Meyer, der von der Deutschen Technischen Hochschule an die Deutsche Universität in Prag gewechselt war und dessen Stelle Hönigschmid übernommen hatte. Zu Hans Meyer, dem bedeutendsten Prager deutschen Chemiker der Zwischenkriegszeit, vgl. Jiří PEŠEK/ David ŠAMAN, Hans Meyer – klíčová postava pražské německé universitní chemie prvé třetiny 20. století [Hans Meyer – die Schlüsselfigur der Prager deutschen universitären Chemie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts], in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 49 (2009) 1, 43–92.
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Reihe von weiteren Studien zu diesem Thema. Damit begann Hönigschmids steiler Aufstieg in die Elite der europäischen Radiumforscher.59 Otto Hönigschmid war zweifellos ein origineller und selbstständiger Forscher; seine wissenschaftliche Orientierung und vor allem die Öffnung der Türen zu den damals wichtigsten Laboratorien der Welt waren allerdings das Verdienst seines außerordentlich belesenen, strategisch in einem breiten Horizont denkenden, international bekannten und in ganz Europa und Amerika gut vernetzten Doktor- und Habilitationsvaters Guido Goldschmiedt. Eine wichtige Rolle spielten wohl auch gute Beziehungen innerhalb seiner Schule. Goldschmiedts Interesse an den allgemeinen Problemen der analytischen und Strukturchemie manifestierte sich übrigens auch in der Wahl von Hans Meyer als seinem ersten Prager Assistenten bzw. Adjunkten, dessen Habilitationsschrift sich mit der quantitativen Bestimmung der organischen Atomgruppen beschäftigte.60 Goldschmiedts eigene Forschungen in Prag zeigen überwiegend eine thematische Kontinuität mit seinen älteren Wiener Themen. So blieb er vor allem der an den meisten österreichischen Universitäten vorherrschenden, mit der medizinischen und pharmazeutischen Problematik verwandten Naturstoffchemie bzw. in einem breiteren Kontext der organischen Chemie treu.61 Seine Aufmerksamkeit galt weiterhin insbesondere dem Papaverin sowie den Verbindungen der Papaverinreihe bzw. den anderen Bestandteilen der Opiansäure. Aber er nahm auch neue Themen in Angriff – wie etwa anfangs Untersuchungen zu dem gelben Pflanzenfarbstoff Scoparin, die er mit seinem Assistenten Franz Josef Hemmelmayr in den Jahren 1891 bis 1893 durchführte.62 Nach dem Abgang Hemmelmayrs in den Schuldienst wandte sich Goldschmiedt einem weiteren Thema zu: Gemeinsam mit seinem im Jahre 1894 aus Graz nach Prag berufenen Kollegen von der 59
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Vgl. Otto HÖNIGSCHMID, Aus den Erinnerungen eines Chemikers, http://www. hoenigschmid.de/hoenigschmid/otto_hoenigschmid_erinnerung.htm (28. 3. 2011). Es müssen vor allem drei seiner Studien genannt werden: Otto HÖNIGSCHMID, Revision des Atomgewichtes des Radiums und Herstellung von Radiumstandardpräparaten, in: Monatshefte für Chemie 33 (1912), 253–288; DERS., Revision des Atomgewichtes des Urans, in: Zeitschrift für Elektrochemie und angewandte Chemie 20 (1914), 452–458; DERS., Revision des Atomgewichtes des Urans, in: Monatshefte für Chemie 36 (1915), 51–73. Hans MEYER, Anleitung zur quantitativen Bestimmung der organischen Atomgruppen, Berlin 1897. Diese Schrift entwickelte sich binnen kurzer Zeit zu einem echten »Weltbestseller«, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Vgl. zu Goldschmiedts Prager wissenschaftlicher Tätigkeit die Ausführungen von HERZIG, Guido Goldschmiedt, 917ff. Vgl. Guido GOLDSCHMIEDT/Franz v. HEMMELMAYR, Über Scoparin I., II., in: Sitzungsberichte 102 (1893), 103 (1894); und Monatshefte für Chemie 15 (1894), 316– 361. Zu Franz Josef Hemmelmayr von Augustenfeld, der im Jahre 1891 zum Dr. phil. an der Leipziger Universität promovierte und danach für drei Jahre die Stelle als Goldschmiedts Assistent innehatte, vgl. ÖBL 2 (1959), 270.
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Philosophischen Fakultät Hans Molisch, Professor der Anatomie und Physiologie der Pflanzen63, beschäftigte er sich mit der Analyse des natürlichen Polyphenols Scutellarin. Molisch hatte diesen Stoff mikrochemisch entdeckt, den Goldschmiedt dann – nachdem es seinem Kollegen nach einigen Jahren gelungen war, im universitären Botanischen Garten genügend Material für eine sachgerechte chemische Untersuchung von Scutellaria altissima anzupflanzen – analysierte und als Tetraoxyflavon mit drei Hydroxylgruppen im Benzolkern des Chromons bestimmte.64 Eine weitere Beschäftigung mit diesem Thema führte Goldschmiedt (in enger Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Ernst Zerner) schließlich in seinem letzten Prager Jahr zur Problematik der Glucuronsäure und über die Glucuronlactone zu den Kontexten der Stoffe, welche im menschlichen Harn vorkommen können.65 Dieses Thema sollte sich als tragfähig auch für die weiteren Jahre erweisen.66 Wenn wir Goldschmiedts wissenschaftliche Produktion untersuchen, können wir während seiner Prager Zeit eine Diversifizierung der Publikationstätigkeit feststellen. So hatte er seine ersten Studien im Jahre 1873 zwar noch in den Berliner »Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft« veröffentlicht, zwischen 1874 und 1903 seine Forschungsergebnisse jedoch vorwiegend in den »Sitzungsberichten« der Wiener Akademie bzw. sekundär in den »Monatsheften für Chemie« publiziert. Lediglich zwischen 1877 und 1879 finden wir erneut mehrere Beiträge, die parallel zu den »Sitzungsberichten« auch in den »Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft« publiziert wurden; bis auf die Ausnahme seines Nekrologes auf Ludwig Barth von Barthenau 1891 in den Berliner »Berichten« können wir jedoch für die 1880er und 1890er Jahre eine ausschließliche Konzentration auf die beiden genannten heimischen Fachjournale konstatieren. Nach der Jahrhundertwende jedoch kam es zu einer, wenn auch zunächst eher zögerlichen Wende in seiner Publikationsstrategie. 1903 63
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Hans Molisch (1856–1937), einer der wichtigsten der Pflanzenchemie zugewandten Botaniker und Mikrobiologen seiner Zeit, seit 1909 Professor der Wiener Universität und 1931–1937 Vize-Präsident der Wiener Akademie, publizierte die Ergebnisse seiner überwiegend in Prag durchgeführten Forschungen vor allem in dem Buch: Mikrochemie der Pflanze, Jena 1913. Vgl. ÖBL 6 (1975), 351. Guido GOLDSCHMIEDT/Hans MOLISCH, Über das Scutellarin, einen neuen Körper bei Scutellaria und anderen Labiaten, in: Sitzungsberichte 110 (1901), 185–205. Guido GOLDSCHMIEDT, Eine neue Reaktion auf Glucuronsäure, in: Zeitschrift für physiologische Chemie 65 (1910), 389–393; DERS., Über den Nachweis der Glucuronsäure im Harne, in: ebd. 67 (1910), 194. Goldschmiedt publizierte gemeinsam mit Ernst Zerner eine Studie zu Scutellarin im Jahre 1910 – in den Sitzungsberichten 119 (1910), 327–379; und in den Monatsheften für Chemie 31 (1910), 439–491 – und danach eine Studie: Über die Einwirkungen von p-Bromphenhylhydrazin auf Glucuron, in: Sitzungsberichte 121 (1912), 873–887; Monatshefte für Chemie 33 (1912), 1217–1231; Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 46 (1912), 113–115.
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finden wir erstmals wieder zwei seiner Forschungsstudien auch in den »Berichten« abgedruckt, bis zu seinem letzten Schaffensjahr 1914 folgen noch fünf weitere.67 An dieser Stelle kann nur vermutet werden, dass diese erneute Zuwendung zu den Berliner »Berichten« eine Konsequenz der erwähnten Berufung Goldschmiedts in den Vorstand der Deutschen Chemischen Gesellschaft 1900/1901 war. Die Diversifizierung seiner Publikationstätigkeit war seit 1903 allerdings durchaus breiter. So publizierte er im Jahre 1905 im »Archiv für Pharmazie«68, 1906 beteiligte er sich mit einem Beitrag an den »Annalen für Chemie und Pharmazie« und an der Festschrift für Adolf Lieben69, im Jahre 1907 finden wir in »Justus Liebigs Annalen«70 einen Aufsatz über Pyren, und im selben Jahr schrieb er eine Abhandlung über den Nachweis von Arsen im Glycerin für die »Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereins«. Es folgen noch ein Aufsatz in der »Gazetta Chimica Italiana« 1908 sowie zwei Aufsätze in der »Zeitschrift für die physiologische Chemie« im Jahre 1910. Alle diese Zeitschriften waren angesehene, seit mindestens 30 Jahren erscheinende Fachjournale. Zwar publizierte Goldschmiedt weiterhin und mit ungebrochener Frequenz auch in den angesehenen Wiener »Sitzungsberichten«; dennoch lässt diese Diversifizierung während seines Prager Wirkens eine Intensivierung seiner innerösterreichischen wie auch der Auslandskontakte vermuten, und deutet eventuell auch auf eine generelle Veränderung der Kommunikationsstruktur innerhalb des Faches (im deutschen Sprachraum) in dieser Zeit hin. Insgesamt verbrachte Goldschmiedt zwanzig Jahre in der Stadt an der Moldau. In das Leben der Prager deutschen Gesellschaft war er von Anfang an offenbar gut integriert, sein Haus wurde zum Zentrum eines geselligen akademischen Kreises.71 Dabei engagierte er sich sowohl im Universitätsmilieu – so wurde er etwa zum ersten Vorsitzenden der frisch gegründeten Prager Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen 67
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Guido GOLDSCHMIEDT/Otto HÖNIGSCHMID, Zur quantitativen Bestimmung des Methyls am Stickstoff, in: Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft 36 (1903) 2, 1850–1854. Die Autoren veröffentlichten zur Problematik der MethylGruppen 1903 noch zwei weitere gemeinsame Beiträge in den »Sitzungsberichten«. Den zweiten Aufsatz veröffentlichte Guido Goldschmiedt gemeinsam mit Alfred LIPSCHITZ, Über die o-Fluorenoylbenzoësäure und deren isomere Methylester, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 36 (1903), 4034–4039. Guido GOLDSCHMIEDT, Über Kondensationsprodukte der o-Aldehydokarbonsäuren, in: Archiv der Pharmazie 243 (1905), 296–299. Adolf Lieben zum 50jähr. Doktorjubiläum und zum 70sten Geburtstage von Freunden, Verehrern und Schülern gewidmet, Leipzig 1906. Guido GOLDSCHMIEDT, Über die Structur des Pyrens, in: Justus Liebigs Annalen der Chemie 351 (1907), 218–232. Nach dem Konskriptionsblatt der Gemeinde Prag wohnte Goldschmied in der Prager Neustadt in der Nähe des Chemischen Laboratoriums in der Straße U nemocnice 5 (Prag II/478). Die Religionszugehörigkeit aller Familienmitglieder wird hier als mosaisch bezeichnet.
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Hochschullehrerverbandes gewählt72 – als auch im deutsch-böhmischen Vereins- und Verbandsleben, laut Herzig »nicht selten durch reichliche materielle Unterstützung«73. Als besonders bedeutsam ist in diesem Kontext seine Wahl zum Mitglied der mit der Prager Deutschen Universität eng verbundenen Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur im Jahre 1895 zu bewerten, die ihn später gar in den Vorstand berief.74 Die Wertschätzung, die Goldschmiedt unter seinen Prager Kollegen genoss, fand auch Ausdruck in seiner Wahl zum Dekan der Philosophischen Fakultät für das akademische Jahr 1896/1897. Für das akademische Jahr 1907 wurde er – ein praktizierender Jude – zum Rektor der Deutschen Universität Prag gewählt. Dieser an den alpenländischen Universitäten eigentlich kaum vorstellbare Vorgang ist es wert, kommentiert zu werden. Der rechtliche Rahmen für diese Wahl war zwar klar, denn das Gesetz R.G.Bl. Nr. 63 vom 27. April 1873 über die Organisation der akademischen Wahlen verfügte in Paragraph 11: »Die Fähigkeit, zu akademischen Würden gewählt zu werden, ist von dem Glaubensbekenntnisse unabhängig.« So war es auch nicht ungewöhnlich, dass an der Prager Deutschen Universität (vor allem an der Medizinischen Fakultät) jüdische Gelehrte wie Goldschmiedt die Dekanswürde innehatten. Die höchste Würde an der Universität hatte aber bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts kein jüdischer Professor angestrebt. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es sich keineswegs um eine rein inneruniversitäre Angelegenheit handelte. Das Amt des Rektors der Prager Universität war nämlich unter anderem mit einem Mandat im böhmischen Landtag verbunden. Der Rektor hatte also eine die akademische Gemeinde überschreitende politische Position. Die Kandidatur Goldschmiedts für dieses Amt fand dazu in einem Jahr statt, das durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer auf Reichsebene in die politische Geschichte als ein Jahr des Umbruchs eingegangen ist. Für Prag und Böhmen allerdings handelte es sich im Kontext der kurz zuvor stattgefundenen (und kurz danach wieder entflammten) deutsch-tschechischen und antisemitischen Kämpfe und Krawalle um ein Jahr vergleichsweiser Ruhe.75 72 73 74
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Vgl. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 916. Ebd., 914. Dass für Goldschmiedt die Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft offensichtlich einen besonderen Stellenwert besaß, zeigt die Tatsache, dass er mit ihr auch nach seiner Rückkehr nach Wien als korrespondierendes Mitglied in Verbindung blieb. Vgl. Alena MÍŠKOVÁ/Michael NEUMÜLLER, Die Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur (Deutsche Akademie der Wissenschaften in Prag), Praha 1994, 147; HERZIG, Guido Goldschmiedt, 916. Zur Situation in Prag im Jahre 1907 vgl. Jan HAVRÁNEK, Soziale Struktur und politisches Verhalten der großstädtischen Wählerschaft im Mai 1907 – Wien und Prag im Vergleich, in: Jiří PEŠEK in Zusammenarbeit mit Gary B. COHEN/Robert LUFT/Ralph MELVILLE/Michal SVATOŠ/Nina LOHMANN (Hg.), University, Historiography, Society, Politics. Selected Studies of Jan Havránek, Praha 2009, 299–320. Zur Expansion
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Dennoch kann die Kandidatur Goldschmiedts als Beweis seiner Anerkennung innerhalb der Fakultät und der weiteren akademischen Gemeinde (und nicht zuletzt auch seines politischen Selbstbewusstseins) gewertet werden. Warum? In der Literatur wird tradiert, dass das Rektorenamt unter den vier Fakultäten rotierte und die Kandidaten von den einzelnen Fakultäten nach dem Dienstalterprinzip bestimmt wurden.76 Die Rektorenlisten bestätigen diese Regelmäßigkeit mehr oder weniger. Im Jahre 1907 war es aber offensichtlich anders. So gab es zwei Kandidaten von verschiedenen Fakultäten, beide bereits mit Amtserfahrung als Dekane ihrer Fakultäten. Neben Goldschmiedt stellte sich auch der Mediziner Rudolf Ritter Jaksch von Wartenhorst zur Wahl.77 Die Morgen-Ausgabe der »Bohemia« vom 27. Juni 1907 berichtet, dass nach dem Turnus eigentlich »der Rektor diesmal aus dem Professorenkollegium der medizinischen Fakultät zu wählen gewesen« wäre. Die Philosophische Fakultät aber, so die Zeitung weiter, habe »nach dem bestehenden Usus, daß sie wegen der großen Zahl ihrer Professoren öfter als die anderen Fakultäten zur Stellung des Rektors herangezogen wird, den Anspruch, daß für das kommende Studienjahr zum Rektor ein Mitglied des Lehrkörpers der philosophischen Fakultät gewählt werde«, und somit den Professor der Chemie Guido Goldschmiedt als ihren Kandidaten präsentiert.78 Die Wahl fand unter der Leitung des amtierenden Rektors, des politisch deutsch-nationalen Juristen Emil Pfersche, am 26. Juni 1907 im Akademischen Senat der Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag statt.79 Sechzehn Wahlmänner aus den Reihen des Senats waren
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des jüdischen Lebens in der Prager deutschen Gesellschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Gary B. COHEN, Politics, 177–180. Jan KŘEN, Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918, München 1996, 258 sagt dazu: »Der Schwerpunkt der antisemitischen Strömungen, der in der liberalen Ära auf der tschechischen Seite lag, verlagerte sich gegen Ende des Jahrhunderts in das deutsche Milieu.« Vgl. dazu im Kontext mit der Wahl eines anderen jüdischen Gelehrten, Samuel Steinherz, zum Rektor der Deutschen Universität 1922: Peter ALT, Samuel Steinherz 1857–1942 (Historiker), in: Monika GLETTLER/Alena MÍŠKOVÁ (Hg.), Prager Professoren 1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17), Essen 2001, 71–104, hier 73f. Alt beruft sich auf František KAVKA, Památce historika Samuele Steinherze [Zum Gedenken an den Historiker Samuel Steinherz], Židovská ročenka (1983), 64–67, hier 66, der in Bezug auf die Rektorenwahl von 1922 in diesem Zusammenhang meint: »Einer alten akademischen Tradition zufolge gebührte die akademische Würde des Rektors der Universität immer dem dienstältesten Professor, so dass die Wahl im Grunde formell war. So kam auch Professor Steinherz an die Reihe. Der Stein des Anstoßes steckte jedoch darin, dass es Steinherz ablehnte, sich dem peinlichen Usus aus der österreichischungarischen Monarchie zu fügen: falls zum Rektor ein Jude gewählt wurde, nahm dieser die Wahl nicht an und bekam dafür von der Regierung einen hohen Orden.« Vgl. Jaksch von Wartenhorst, Rudolf (1855–1947), in: ÖBL 3 (1961), 66. Die Rektorswahl an der deutschen Universität, in: BOHEMIA, Morgen-Ausgabe, 27. 6. 1907, 1–2, hier 1. Vgl. Protokoll der Wahl, AUK, Bestand Akademický senát NU, Akademické volby,
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aufgerufen, ihre Stimme für einen der beiden Kandidaten abzugeben, und kamen in insgesamt drei Wahlgängen stets zu demselben Ergebnis: Die eine Hälfte der abgegebenen Stimmen entfiel auf Goldschmiedt, die andere auf Jaksch. Um die Pattsituation nach dem dritten und letzten Wahlgang aufzulösen, wurde den Regeln entsprechend durch Los entschieden. Mit den Worten des Protokolls: »Das Los fiel auf Professor Dr. Guido Goldschmied [sic !].80 Der somit Gewählt erscheint. Geschlossen und gefertigt. Es folgen 17 Unterschriften.«81 Nach dem heutigen Kenntnisstand war dies die wohl erste Wahl eines jüdischen Professors in der Donaumonarchie zum Universitätsrektor! Sicher aber gilt dies für die Prager Universität, wie die »Bohemia« kommentierte: »Bemerkenswert ist, daß Prof. Dr. Guido Goldschmiedt, der ein hervorragender Gelehrter ist und als Forscher und Lehrer einen vorzüglichen Ruf genießt, der erste Jude ist, der seit dem Bestande der Prager Universität zum Rektor gewählt wurde.«82
Allerdings war der Vorgang damit noch nicht abgeschlossen. So weiß das Protokoll weiter zu berichten: »Da der Gewählte den Vertretern der Wähler gegenüber die Wahl gestützt auf Gesundheitsrücksichten-Gründe ablehnt, wird die Sitzung von Neu aufgenommen und über die Gründe abgestimmt. Dieselben werden anerkannt.83 Es findet eine neuerliche Abstimmung statt.«84
Auch im neuerlichen Wahlgang trat Jaksch von Wartenhorst als Kandidat der Medizinischen Fakultät an; diesmal schickte die Philosophische
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Volby rektora 1907 [Akademischer Senat der Deutschen Universität, Akademische Wahlen, Rektorwahlen 1907]. Im Protokoll wird wiederholt diese fehlerhafte Form des Namens verwendet. Hierbei handelte es sich um die 16 Wahlmänner und den amtierenden Rektor. Die Namen der Wahlmänner sind leider nicht überliefert. Die Rektorswahl, BOHEMIA, 2. Das Gesetz R.G.Bl. Nr. 63 vom 27. April 1873 über die Organisation der akademischen Wahlen bestimmte in Paragraph 8, dass »nur der abtretende Rektor die Wahl ohne Angabe der Gründe ablehnen darf. Alle anderen Mitglieder der Universität werden die Gründe der Wahlablehnung nennen und es muss darüber abgestimmt werden.« Das PRAGER TAGBLATT vom 27. Juni 1907 referierte auf der Seite 3 in der Rubrik »Vom Tage« unter der Überschrift »Prof. Dr. August Sauer – Rektor Magnificus« relativ ausführlich über die Wahl und die anschließenden Verhandlungen Goldschmiedts mit Rektor Pfersche und dem Vertreter des Akademischen Senats, dem Professor der Physik Ernst Lecher: »Prof. Dr. Goldschmiedt sprach seinen Dank für die ihn auszeichnende Entscheidung aus, erklärte aber, mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand die Wahl nicht annehmen zu können. Da dieser Entschluß unwiderruflich erschien, so begaben sich die genannten Professoren in das Wahlkollegium zurück, welches die ablehnende Entscheidung des Prof. Goldschmiedt mit Bedauern zur Kenntnis nahm und neuerlich zur Wahl schritt.« Ein Kuriosum sollte vielleicht noch erwähnt werden, da es eventuell mit der Entscheidung Goldschmiedts mindestens entfernt etwas zu tun gehabt haben könnte: In derselben Ausgabe des PRAGER TAGBLATTS, auf S. 22, finden wir die Todesanzeige für den im Alter von 46 Jahren plötzlich verstorbenen Alfred Ritter von Herzfeld, den Bruder seiner Frau.
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Fakultät allerdings ein echtes Schwergewicht gegen ihn ins Rennen – wiederum erfolgreich: Der berühmte Germanist August Sauer konnte auf Anhieb 9 der 16 Stimmen auf sich vereinigen und wurde somit zum Rektor gewählt.85 Es drängen sich angesichts dieser doch eher seltsamen Episode einige Fragen auf: Warum hat Goldschmiedt, wenn er sich gesundheitlich angeblich geschwächt fühlte, für das Amt des Rektors kandidiert? War er wirklich krank oder spielten vielmehr andere Gründe die Hauptrolle? Wir können an dieser Stelle nur spekulieren. Gegen einen schlechten Gesundheitszustand spricht zum einen, dass es dazu keine weiteren Anhaltspunkte gibt (etwa eine zeitweilige Befreiung von den diversen Lehr- und Forschungspflichten), zum anderen, dass Goldschmiedt drei Jahre später mit aller Kraft das Wiener Institut übernommen und ausgebaut hat. Auch ist zu bedenken, dass ein Losentscheid im dritten Wahlgang bei einem solch wichtigen Amt problematisch ist – und umso mehr, wenn (gerade zu dieser Zeit) der jüdische Kandidat davon profitiert; der neue (christliche) Kandidat setzte sich schließlich auf Anhieb durch. In diesem Zusammenhang muss auch gefragt werden, aus welchen Beweggründen die Philosophische Fakultät gerade Goldschmiedt als Gegenkandidaten Jakschs aufstellte, wenn doch nach dem Rotationsprinzip die Medizinische Fakultät den Rektor hätte stellen sollen, eine äußerst enge Stichwahl also zu erwarten war. Stellt man die offizielle Erklärung infrage (obwohl eventuelle, durch den Tod des Schwagers entstandene familiäre Verpflichtungen nicht ausgeschlossen werden können), so weisen weitere Ansätze im Grunde nur in eine Richtung (allerdings auch hier wieder mit der Möglichkeit verschiedener Interpretationen): War Goldschmiedts Verzicht nach den nationalistischen und antisemitischen Straßenkämpfen in Prag vor allem politisch motiviert, aus Angst vor einem erneuten Aufflammen des Antisemitismus, wie wir vor allem in jüdischen biographischen Lexika lesen können?86 Oder war seine Behauptung nur die »notwendige Ausrede« eines jüdischen Kandidaten, der genau wusste, dass er keine wirkliche Möglichkeit hatte, das hohe Amt zu übernehmen und ungestört auszuüben, und dass von ihm dieser »peinliche Usus«87, also die 85
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Zu ihm vgl. Robert PICHL, Sauer, August, in: ÖBL 9 (1988), 438f.; sowie jüngst Steffen HÖHNE (Hg.), August Sauer (1855–1926) – ein Intellektueller in Prag im Spannungsfeld von Kultur- und Wissenschaftspolitik, Wien 2011. Die nicht zutreffende Information, dass Goldschmiedt das Amt des Rektors im Jahre 1907/1908 wirklich ausgeübt habe, findet sich z. B. bei OBERHUMMER, Goldschmiedt, 620. Erstmals wurde diese These, die dann in weiteren jüdischen Enzyklopädien aufgegriffen wurde, offenbar formuliert in: Georg HERLITZ/Bruno KIRSCHNER (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein Enzyklopädisches Handbuch der jüdischen Wissenschaft in vier Bänden. Bd. 2, Berlin 1928: »Goldschmiedt Guido, […] als erster Jude zum Rektor gewählt, nahm er jedoch die Wahl nicht an, um Skandale von antisemitischer Seite zu vermeiden.« Vgl. KAVKA, Památce historika, 66.
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Ablehnung der Wahl erwartet wurde? Für eine solche – wahrlich nicht unwahrscheinliche – Erklärung findet sich jedoch kein einziger Beleg, außer vielleicht der Tatsache, dass Goldschmiedt tatsächlich gerade im Jahr 1907 mit dem kaiserlichen Orden der Eisernen Krone ausgezeichnet wurde … Es scheint zumindest so, dass August Sauer durch seine Blitzkandidatur und -wahl ehrlich überrascht war, was gegen eine im Vorhinein ausgemachte Sache sprechen würde.88 Die Quellenlage erlaubt uns jedoch keine eindeutigen Aussagen, eine genauere Untersuchung dieser Causa wäre vonnöten. Insgesamt jedenfalls, so Herzig, hat sich Goldschmiedt in seiner Prager Zeit »eine in jeder Beziehung hervorragende Stellung erworben. Sein stark entwickeltes Rechtsbewußtsein, sein konziliantes, aber dabei jedem faulen Kompromiß abholdes Wesen hat ihn befähigt, in vielen Korporationen, ohne daß er es anstrebte, eine tonangebende Rolle zu spielen. So kam es, daß seine Meinung auf dem heißen Boden der Prager Universität auch in nicht rein chemischen Fragen maßgebend wurde. […] In der Geschichte der deutschen Universität in Prag, sowie des Prager Deutschtums überhaupt ist Guido Goldschmiedt ein Ehrenplatz gesichert.«89
IV. Auf dem Gipfel der Karriere? Die Rückkehr nach Wien (1910–1915) Wie schon bei den Karrierestationen zuvor bestimmte der Tod eines Kollegen die weitere berufliche Laufbahn Goldschmiedts. Das vorzeitige Ableben Zdenko Skraups, eines der größten österreichischen Chemiker der späten Habsburgerzeit, eröffnete Goldschmiedt nach zwei Jahrzehnten in Prag im Jahre 1910 den Weg »zurück« nach Wien: Die Stelle des Vorstandes des II. Chemischen Laboratoriums musste neu besetzt werden, und die Wiener Philosophische Fakultät schlug ihn dem Ministerium als Wunschkandidaten vor. Die Gründe, welche die Kommission in ihrer Begründung für diesen Vorschlag nennt, waren gewissermaßen typisch für Wien und diese Zeit: Goldschmiedt sei schon bei früheren Berufungen wiederholt als einer der gewünschten Kandidaten genannt worden, er sei wissenschaftlich glänzend, vor allem aber im Stande, die Flut der Dissertationen in seinem Fach zu 88
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Vielmehr wies Sauer in seiner anschließenden Rede vor den Studenten der Germanistik, die ihn mit stehenden Ovationen und Heil-Rufen als rector magnificus empfingen, auf die Schwierigkeiten des Amtes hin: »Ich lege umso mehr Wert auf sie [die einmütige Zustimmung zur Rektorwahl, JP/NL], als das Amt des Rektors an der deutschen Universität in Prag schwierig und für mich speziell es ungewohnt ist, in jener Weise in die Oeffentlichkeit zu treten, wie es dieses Amt verlangt. Dazu kommt noch, daß mir die Wahl ganz unerwartet kam und auf dem heißen Prager Boden die politischen Verhältnisse und die wieder aus jenen resultierenden Parteispaltungen nicht dazu beitragen, das schwierige Amt eines Rektors zu erleichtern. Da ist mir nun Ihre Sympathie ein gewisser Trost, der mich zu der Hoffnung berechtigt, daß ich viele Schwierigkeiten werde überwinden können.« Ovation für Prof. Sauer, PRAGER TAGBLATT, 27. 6. 1907, Abend-Ausgabe, 2–3, hier 3. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 914, 916.
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bewältigen.90 Für die großen »Stars« der deutschen Chemie hatte die Universität nicht genügend Geld. An zweiter Stelle nannte die Kommission daher den Professor der Züricher Technik Richard Willstätter, der auch unter den Wiener Bedingungen bereit gewesen wäre, den Lehrstuhl zu übernehmen. Auch er wäre sicher keine falsche Wahl gewesen: Der noch nicht vierzigjährige Willstätter ging 1912 nach Berlin und erhielt im Jahre 1915 für seine Arbeiten über Chlorophyll den Nobelpreis.91 Das Ministerium bevorzugte allerdings (wie erwartet) Goldschmiedt. Es ist interessant, dass die vorherigen Ängste im Ministerium bezüglich eines weiteren Juden an der Spitze der österreichischen Chemie diesmal keine große Rolle spielten – obwohl ansonsten die antisemitische Atmosphäre der Reichshauptstadt auch nach dem Tode Karl Luegers unverändert blieb. Entscheidend war offenbar die Tatsache, dass das I. Chemische Laboratorium seit dem Jahre 1902 durch einen christlichen Wissenschaftler dirigiert wurde, nämlich durch den großen und mächtigen Rudolf Wegscheider, der unter anderem Präsident des Österreichischen Chemiker-Vereins war. Die Stelle des Direktors des III. Chemischen Instituts hingegen war nach der Emeritierung von Eduard Lippmann im Jahre 1909 nicht mehr besetzt worden. Eine rasche Besetzung der Stelle des Vorstandes des II. Chemischen Instituts war also – auch hinsichtlich der Notwendigkeit, die Massen der Mediziner und Pharmazeuten mit Pflichtkursen und Übungen aus der Chemie zu versorgen – für die Universität außerordentlich wichtig. Da Wegscheider, ein Multitalent für das gesamte Spektrum der Chemie, sich auf den Bereich der physikalischen Chemie spezialisierte, war es angebracht, einen fähigen Organiker für die frei gewordene Stelle zu gewinnen. Und einen besseren »großen« Mann als Goldschmiedt hätte man damals kaum finden können. Für Goldschmiedt war dieser späte Wechsel als Ordinarius an die Wiener Universität trotz seiner außerordentlich guten Verwurzelung in der Prager deutschen Gemeinde nicht nur prestigeträchtig, sondern auch ausgesprochen angenehm: Während seines gesamten Aufenthaltes in Prag hatte er intensive Kontakte zur Wiener Gesellschaft unterhalten, zu der auch seine Familie und weitere Verwandtschaft gehörten. Zwar wusste er, dass ihn in Wien große Herausforderungen erwarteten – der durch seinen Vorgänger Skraup vom Ministerium »erpresste« 90
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Vgl. »Kommissionsbericht betreffend der Wiederbesetzung der nach Hofrat Skraup erledigten chemischen Lehrkanzel« vom 5. Dezember 1910 (Berichterstatter wahrscheinlich Hans Molisch als erster Unterzeichneter), AUW, Personalakte Guido Goldschmiedt, 107–110. Zu Willstätter vgl. die Angaben auf der offiziellen Webseite des Nobelpreises: http://nobelprize.org/nobel_prizes/chemistry/laureates/1915/willstatter-bio.html (abgerufen am 30. 3. 2011). Willstätter, seit dem Kriegsende 1918 an der Münchner Universität tätig, war auch Jude; nach einer Welle antisemitischer Attacken gab er 1924 seine Professur auf.
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Neubau des Chemischen Instituts musste erst noch realisiert werden – und dass auch das akademische Tagesgeschäft wesentlich intensiver sein würde, als dies in Prag der Fall war. Trotzdem war für ihn diese Berufung nicht nur eine Auszeichnung, sondern sicher auch eine Genugtuung. Es ist zudem davon auszugehen, dass er damit rechnete, in Wien einen noch größeren Kreis von Schülern um sich zu sammeln, der es ihm ermöglichen würde, durch die Vergabe von Teilaufgaben seine eigenen Forschungen auf eine noch breitere Basis zu stellen und dadurch einige seiner Projekte zum definitiven Erfolg zu führen.92 Schließlich war Goldschmiedt ein international hoch angesehener Chemiker, der sich auch auf Weltkongressen wie etwa im September 1912 auf dem VIII. Internationalen Kongress für angewandte Chemie in Washington zu präsentieren wusste.93 Ein Jahr später, bei der 85. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, die vom 21. bis 28. September 1913 in Wien stattfand und von ca. 5000 Naturforschern aus den deutschsprachigen Ländern Europas besucht wurde94, hielt er den Einführungsvortrag der 5. Abteilung für Chemie und Elektrochemie.95 Goldschmiedts Erwartungen erfüllten sich – trotz enormen Zeitund Kräfteaufwands – allerdings nicht so wie erhofft. Sein Freund Herzig charakterisierte nachträglich die Situation, mit der sich Goldschmiedt konfrontiert sah: »Es muß leider gesagt sein, daß es zu einer vollen Entfaltung seiner […] glänzenden Eigenschaften in der kurzen Zeit seiner Wirksamkeit in Wien nicht gekommen ist, auch gar nicht kommen konnte. Er fand hier den Rohbau seines neuen Institutes kaum begonnen, er hat die Pläne wesentlich geändert und außerdem fiel ihm die Aufgabe zu, die Vorschläge für die innere Einrichtung zu machen. Wochen und Monate hat er sich mit diesen Arbeiten befaßt und dabei noch verschiedene Materialien für die Bauleitung untersucht und begutachtet. Wenn man die Vorlesung [sic!], die vielen Prüfungen und Kolloquien, die Sitzungen in der Fakultät und in der Akademie in Rechnung zieht, so muß man sich wundern, daß er überhaupt noch zu irgendeiner wissenschaftlichen Leistung gelangen konnte. […] Auch die rein administrative Leitung des Institutes raubte ihm bei seiner Genauigkeit viele Stunden seiner kostbaren Zeit. So kam es, daß er in den letzten Jahren den Eindruck eines übermüdeten, überarbeiteten 92
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Zu seiner Berufung vgl. ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt Nr. 13453/1911. Goldschmiedt wurde ein Jahresgehalt von 10.000 K plus 920 K Aktivitätszulage und 800 K Teuerungszulage für die Wiener Umstände, insgesamt also 11720 K jährlich zugeteilt mit der Pflicht, mit Beginn des Sommersemesters 1911 (ab 1. 4. 1911) die Lehre in Wien zu übernehmen. Für die »Ausgestaltung des zweiten chemischen Laboratoriums« erhielt er zu den schon Skraup bewilligten Mitteln weitere 3000 K. Zum Kongress, welcher unter anderem als eine große Möglichkeit begriffen wurde, die »deutsche« Chemie international zu präsentieren, vgl. die Ankündigung in der Zeitschrift für angewandte Chemie 24 (1911), 529–532. Vgl. auch Eighth International Congress of Applied Chemistry, Washington and New York, September 4 to 13, 1912, Concord N. H. 1912–1913. Vgl. das Referat in der Zeitschrift für angewandte Chemie 26 (1913), 537–541. Ebd., 541–580; vgl. die Charakterisierung bei HERZIG, Guido Goldschmiedt, 924.
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Menschen machte, was zum Teil auch auf die unzureichende Anzahl stabiler Hilfskräfte zurückzuführen war.«96
Dieser traurige Blick Herzigs auf die letzten Jahre Goldschmiedts wurde sicher auch durch dessen Erlebnisse im letzten Lebensjahr und die Umstände seines Todes verdüstert. Die ersten Jahre nach der »Rückkehr« aus Prag waren allerdings hauptsächlich durch hektische Aktivität gekennzeichnet. Das galt auch für seine wissenschaftliche Tätigkeit. Eines der letzten Themen Goldschmiedts illustriert dabei gut die Umstände in der damaligen chemischen Forschung: seine Studien über das in der Medizin als Mittel gegen Entzündungen verwendete rote peruanische Ratanhin.97 Bei der Übernahme des Institutes hatte Goldschmiedt ein Fläschchen mit »einigen Gramm« dieses nach der Oxydation kristallisierten Stoffes gefunden, mit dem im Jahre 1868 Rochleders Assistent Wilhelm Gintl98, später Professor der Prager Deutschen Technischen Hochschule und damals Goldschmiedts Freund in Wien, gearbeitet hatte.99 Nachdem Goldschmiedt sich also nach 33 Jahren wieder mit diesem Stoff zu beschäftigen begonnen und die vorhandene Menge für seine Analysen verbraucht hatte, gelang es seinem ehemaligen Assistenten Hönigschmid, im Laboratorium der Prager Technik noch weitere zwei Gramm Ratanhin für seinen ehemaligen Lehrer aufzutreiben. So konnte Goldschmiedt, der zwischenzeitlich mangels Material »die Frage auf synthetische[m] Wege zu entscheiden« versucht hatte100, diese Forschungen doch noch analytisch zu einem glücklichen Ende bringen. Diese Episode verdeutlicht, mit welchen Problemen die Chemiker damals zu kämpfen hatten. Die Möglichkeit, weniger übliche Naturstoffe (in ausreichender Reinheit) einzukaufen, war sehr begrenzt. So blieb man sehr oft auf kollegiale Hilfe angewiesen. Sehr ähnlich sah es aus mit den Laborgeräten und dem Laborglas. Voraussetzung für den Erfolg eines Experimentes war, dass der Experimentator sehr viel selbst konstruierte oder gar sein Glas selbst blies oder adaptierte.101 96 97
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HERZIG, Guido Goldschmiedt, 922. Über das Ratanhin, in: Sitzungsberichte 121 (1912), 961–970; Monatshefte für Chemie 33 (1912), 1379–1388; Die Struktur des Ratanhins, in: Sitzungsberichte 122 (1913); Monatshefte für Chemie 34 (1913), 659–664. Vgl. zu ihm Wilfrid OBERHUMMER, Gintl Wilhelm Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), 404f. Friedrich Wilhelm GINTL, Ueber einen Bestandtheil des Harzes von »Ferreira spectabilis, Fr. Allem. Leguminosae, VIII. Dalbergieae«, in: Journal für Praktische Chemie 106 (1869), 116–123. Guido GOLDSCHMIEDT/Oskar von FRAENKEL, Über γ,p-Oxyphenylpropylamin, in: Monatshefte für Chemie 35 (1914), 383–390, hier 383. So heißt es z. B. in Wielands Nachruf auf Otto Hönigschmid: »Das ›Atomlabor‹, das war die kurze Bezeichnung für Hönigschmids Abteilung, war eine exquisite Lehrstelle der Experimentierkunst. Unter persönlicher Anleitung durch den Chef wurde die hohe Kunst des Glasblasens geübt, wurden Apparaturen aus Porzellan und Quarz erstellt. Für den Besucher war es ein Hochgenuß, den Meister selbst bei
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Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Goldschmiedt in einem gesundheitlich schon angeschlagenen Zustand. Im Wintersemester 1914/1915 unterrichtete der fast 65-jährige Wissenschaftler zwar noch, war aber schon erschöpft und musste sich im Sommersemester bei der Lehre aus Gesundheitsgründen vertreten lassen. Er leitete aber weiterhin die Organisationarbeiten für den Neubau des Instituts und erledigte auch die laufenden Agenden seines Laboratoriums von zu Hause aus. Sein Laboratorium allerdings besuchte er im Jahre 1915 nicht mehr – auch gibt es keine Publikation aus diesem, seinem letzten akademischen Jahr.102 Im Sommer 1915 wurde er schließlich ins Sanatorium in Gainfarn bei Baden, südlich von Wien, überführt, wo er am 6. August verstarb.103 Er lag schon im Koma, als ihm das vom Kaiser schnell unterzeichnete Diplom, mit dem er zum Hofrat ernannt wurde, aufs Krankenbett gelegt wurde.104 Sein früher Tod bestätigte die Tatsache, dass die Professoren der Chemie im späten 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts nur selten ihre Emeritierung erlebten. Für die Wiener Universität, an die üblicherweise schon ältere, angesehene Forscher berufen wurden, galt dies noch mehr als für andere Hochschulen. Die Last und der Stress der weitreichenden organisatorischen, repräsentativen, vor allem aber der zu großen Lehr- und Prüfungspflichten sowie nicht zuletzt wohl auch das nach heutigen Maßstäben weitgehend ungeschützte Hantieren mit gefährlichen Stoffen hatten oft fatale Folgen. Der Verlust einer so markanten Persönlichkeit wie Goldschmiedt war für die ganze Philosophische Fakultät und desto mehr für seine Fachkollegen schmerzlich. Goldschmiedt war persönlich beliebt und daneben großzügig – ein Mäzen vieler Vereine und sicher mancher seiner
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der Arbeit zu beobachten und seine ungewöhnliche Geschicklichkeit zu bewundern.« WIELAND, Otto Hönigschmid, 2. Sein wahrscheinlich letzter wissenschaftlicher Text ist: Guido GOLDSCHMIEDT, Bemerkungen zur »Notiz zur Methoxyl-Bestimmung« von R. I. Manning und M. Nierenstein, in: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 47 (1914), 389–392. Die Leitung des II. Chemischen Instituts, wie auch die Leitung der Bau- und Ausstattungsarbeiten am neuen Institut, übernahm provisorisch Goldschmiedts Adjunkt, titl. Prof. Adolf Franke. Zu Franke vgl. den Nekrolog von Wilhelm PRODINGER/Friedrich HECHT, in: Österreichische Chemiker-Zeitung 65 (1965), 55–57. HERZIG, Guido Goldschmiedt, 923f. Zur »Verleihung des Titels und Charakters eines Hofrates mit Nachsicht der Taxe« zum 4. August 1915 vgl. ÖStA/AVA, Unterricht UM Unterrichtsministerium, Fasz. 636, 4 PHIL Goldschmiedt 24246/1915, fol. 1– 3b, wo der Antragsteller, also der Minister, unter anderem anführt: »Das hervorragende Wirken Goldschmiedts hat Veranlassung geboten, ihn zugleich mit anderen namhaften Hochschulprofessoren für die Erwirkung des Titels und Charakters eines Hofrates in Betracht zu ziehen. Unter den dermaligen Verhältnissen wurde die Stellung eines bezüglichen alleruntertänigsten Antrages auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Inzwischen ist jedoch Prof. Goldschmiedt lebensgefährlich erkrankt, weshalb ich mir den alleruntertänigsten Antrag auf eine Allerhöchste Auszeichnung des Genannten schon jetzt treugehorsamst Eurer Majestät zu unterbreiten gestatte.«
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Schüler. So schließen wir unsere Ausführungen mit den Worten (wahrscheinlich Wegscheiders), die am 8. Januar 1916 bei der Plenarversammlung des Vereins Österreichischer Chemiker verlauteten: »Soweit chemisches Wissen und chemische Forschung Geltung besitzen, hat die Kunde von dem Hinscheiden des verdienten Hofrats Prof. Dr. Guido Goldschmiedt […] Trauer ausgelöst. […] Hofrat Goldschmiedt […] hat sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit durch den Adel seiner humanen Gesinnung ein dauerndes Denkmal gesetzt.«105
V. Schluss In unserer Studie haben wir versucht, die Lebensstationen eines der wichtigsten und exzellentesten österreichischen Chemiker der Jahrzehnte um 1900 nachzuzeichnen. Nicht zuletzt seine Verewigung im Arkadenhof der Wiener Universität zeugt von dieser herausragenden Stellung. Durch das abrupte Ende der Prager Deutschen Universität 1945 und aufgrund der in den Jahrzehnten zuvor herrschenden, absoluten Trennung auch der akademischen nationalen Sphären in der böhmischen Hauptstadt war und ist eine ähnliche Ehrung seiner Person in Prag nicht zu erwarten. Dabei war Goldschmiedt ein Mensch, der in seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Tätigkeit zumindest das Prager und Wiener deutsche Milieu miteinander verband und darüber hinaus vor allem seine Schüler mit einer Reihe von deutschen, westeuropäischen und auch amerikanischen Koryphäen des Faches vernetzte. Insofern steht er exemplarisch nicht nur für die damals sehr enge Verbindung zwischen der Wiener und der Prager Universität, sondern auch für die Internationalität seines Fachbereichs. Zugleich werden an der Person Goldschmiedts die Unterschiede zwischen dem Wiener und dem Prager wissenschaftlichen Milieu sehr deutlich. Die Wiener Universität dieser Jahre war das wichtigste Wissenschafts- und Publikationszentrum der Monarchie und auch einer der angesehensten Orte auf der Forschungslandkarte des damaligen Europa, zumindest seines deutschsprachigen Teils. In der heutigen Zeit der anglo-amerikanischen Dominanz gerade in den Naturwissenschaften darf auch nicht vergessen werden, dass Deutsch damals eine der großen Wissenschaftssprachen war. Folgerichtig wurden die Wiener Professuren in der Regel nur mit erfahrenen und berühmten Männern besetzt, wobei – wie gesehen – aber auch in den »objektiven« und vermeintlich »unpolitischen« Naturwissenschaften nicht nur wissenschaftsimmanente Aspekte eine Rolle spielten. Mindestens ebenso wichtig waren offensichtlich die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft oder das politische Profil. Die Wiener Professur war also der Gipfel einer wissenschaftlichen Karriere in der Habsburgermonarchie. Angesichts der relativen Größe 105
Mitteilungen des »Vereins österreichischer Chemiker«in Wien, in: Österreichische Chemiker-Zeitung 19 (1916) 2, 16.
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der Wiener Universität schon in jener Zeit und der mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften einhergehenden raschen (auch räumlichen) Expansion dieser Fächer bedeutete diese aber auch mehr oder weniger das Ende der eigenen Forschungstätigkeit, zumal die Berufungen in der Regel erst in einem höheren Alter erfolgten. Die Arbeitskapazität der meisten Ordinarien war, wie im Falle Goldschmiedts, durch die Lehre und Prüfung der sich im Hunderterbereich bewegenden studentischen »Massen« (der Chemiker im Hauptfach und vor allem der Mediziner), die Tätigkeit nicht nur in den akademischen, sondern auch in hohen staatlichen Gremien und Kommissionen usw., völlig ausgeschöpft. Die wesentlich kleinere Prager Deutsche Universität hingegen wurde als eine »Zwischenstation« betrachtet, die für die wissenschaftliche Entfaltung genutzt werden konnte. Die geringere Arbeitsbelastung durch außerwissenschaftliche Verpflichtungen ermöglichte es den Ordinarien, sich besser auf die Forschung zu konzentrieren und, wie Goldschmiedt dies ja auch tat, in Zusammenarbeit mit jüngeren Kollegen interessante neue Ergebnisse vorzulegen – und in Wien (aber auch anderswo) zu publizieren. Denn auch von Prag aus war, wie gezeigt, eine überregionale Vernetzung durchaus möglich. Zugleich ermöglichte dieses ruhigere, intimere Forschungsumfeld eine nachhaltigere Entwicklung des Faches im Sinne einer intensiveren Betreuung und Prägung der Forschungsausrichtung der begabten Schüler bzw. seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch der Schülerinnen. Guido Goldschmiedt wurde so gewissermaßen zum Begründer einer Tradition im Bereich der organischen Chemie in Prag, die sein 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt gestorbener Schüler Hans Meyer bis 1936 fortführte. Beide – jüdische – Wissenschaftler ereilte jedoch das übliche Schicksal, spätestens nach 1945 in Vergessenheit geraten zu sein. Wie das Beispiel Goldschmiedt eindrücklich zeigt, spielt das gesellschaftliche Umfeld eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Karriere (und in dem Nachleben) eines Wissenschaftlers – beide Sphären getrennt voneinander zu betrachten, wie dies leider immer noch viel zu häufig geschieht, ist im Sinne einer Sozial- und Kulturgeschichte der Wissenschaft auch für die Biographie eines Naturwissenschaftlers nicht zulässig. So waren etwa Goldschmiedts Dekanat und vor allem seine (wenn auch nicht in die Praxis umgesetzte) Wahl zum Rektor der Prager Deutschen Universität außergewöhnliche Erfolge, welche ein jüdischer Wissenschaftler in der Habsburgermonarchie jener Zeit vielleicht nur in Prag erreichen konnte. Insofern können wir auch aus der akademischen Sphäre wiederum Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen, in der Wissenschaft »stattfindet«. Dies gilt aber nicht nur für die Besetzung der »politischen« Posten. Wir haben auch gesehen, wie eng die vermeintlich unpraktischen Forschungen der akademischen Chemie mit der Praxis und den gesellschaftlichen Bedürfnissen verbunden waren. Goldschmiedt
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vertiefte sich – ganz in der Tradition der »Wiener Schule« – in die Fragen der organischen, vor allem dann der Pflanzenchemie. Seine Forschungen (schon die erste Entschlüsselung der Struktur eines Alkaloids: Papaverin) waren eng mit der damaligen Pharmazie verbunden, wie etwa mit der beginnenden Verwendung von Alkaloiden in der Humanmedizin. Die auffällig vielen vorzeitigen Todesfälle akademischer Chemiker wiederum lassen die (damals offenbar unbekannten) Risiken erahnen, welche die Arbeit in den Laboratorien auch aufgrund der aus heutiger Sicht fast unvorstellbar primitiven Sicherheits- und Hygienebedingungen barg. Auch daran lassen sich also Wissensstand, Bedürfnisse, Visionen oder Prioritäten einer Gesellschaft ablesen. Gerade die Vernetzung in der internationalen Forschergemeinde, die Ausrichtung der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit, die Publikationsstrategien, die gesellschaftlichen Kontexte des Karrierewegs, die Arbeitsbedingungen usw. sind dann die allgemeinen Aspekte der Biographie eines Naturforschers, welche über die »bloße« Feststellung seiner Forschungsausrichtung, seiner Entdeckungen und Publikationserfolge im zeitgenössischen Kontext hinausgehen und Vergleiche mit den von Historikern bevorzugt untersuchten Geisteswissenschaftlern ermöglichen.
IVAN KLIMEŠ – JIŘÍ RAK
K. u. k. tableaux vivants Juni 1914. Jablonec nad Nisou (Gablonz an der Neiße), Turnov (Turn). – Abschrift des Briefs der sudetendeutschen Kinobesitzer Ernst Hollmann und Karl Viehmann an das k. u. k. Hofmeisteramt in Wien bezüglich des Projekts, einen Festfilm über Kaiser Franz Josef I. mit dem Titel Dem Kaiser ein Denkmal zu drehen. Der Brief wurde vom Hofmeisteramt zur Beurteilung in Abschrift an das Ministerium des Innern weitergeleitet.
z. Z. 31.139 ex 1914.
Abschrift. pro actis.
Hohes k. u. k. Hofmeisteramt! Die untertänigst gefertigten Kinobesitzer, Ernst H o l l m a n n in Gablonz a. N. und Karl V i e h m a n n in Turn beabsichtigen ein großes historisches Werk durch Herausgabe eines Films, welcher sich »Dem Kaiser ein Denkmal« betitelt, zu schaffen. Dieser Film soll den Lebenslauf unseres erhabenen Monarchen, Seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. darstellen und überhaupt ein geschichtliches Werk des österreichischen Herrscherhauses versinnbildlichen. Die Zusammenstellung dieses lebenden Denkmals wird aus 30 Abteilungen bestehen, und zwar: 1) Originalaufnahme des Stammschlosses Habsburg, 2) Der kleine Menschenfreund, 1834, 3) Der kleine Meisterschütze, 1845, 4) Der Prinz als Liebling der Ungarn, 1847, 5) Die Begegnung mit Radetzky, 1848, 6) Die Feuertaufe des Prinzen, 1848, 7) Die erste Gemsjagd am 20. Juni 1848, 8) Der Regierungsantritt am 2. Dezember 1848, 9) Wien jubelt dem neuen Kaiser zu, 6. Mai1849, 10) Im Seesturm auf der Adria im März 1852, 11) Die Liebe der Wiener zu ihrem Kaiser, 12) Der Kaiser als Volksfreund, 13) Der Kaiser als Bergsteiger, 14) Des Kaisers Sorge für die Kriegsmarine, 19. Dezember 1856, 15) Des Kaisers Frömmigkeit, 16) Des Kaisers Anteilnahme an Radetzky’s Tod im Jänner 1858, 17) Der Kaiser in Innsbruck, 1863, 18) Der Kaiser als Kulturträger auf dem Balkan, 1875, 19) Die Stiftung des Dreibundes 1879, 20) Die 600-Jahrfeier des Hauses Habsburg 1882,
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21) Die Jubelfeier Wiens wegen der Befreiung von Türken; Schlußsteinlegung des neuen Rathauses in Wien im September 1883, 22) Millenniumsfeier in Budapest 1896, 23) Fünfundsechzigjähriges Regierungsjubiläum 1908, 24) Die Bilder aus dem Leben Seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. von der Jugend bis zur Jetztzeit. Eine Bilderfilmlese der besten kinemat. Aufnahmen Seiner Majestät. 25) Seine Majestät als Friedenskaiser, die Huldigung der österreichischen Armee, 26) Schönbrunn mit seinen Gärten und Gemächern, 27) Die Hofburg in Wien mit Innenaufnahmen, 28) Seine Majestät beim Arbeitstisch erledigt Regierungsgeschäfte, 29) Seine Majestät beim Spaziergang in dem Park, 30) Schlußapotheose: Huldigung der Völker Oesterreichs vor dem geliebten Monarchen. _______________ Daß dieses zu schaffende Kunstwerk nicht nur bei der ganzen Bevölkerung Oesterreich-Ungarns, sondern sowohl auch in der ganzen übrigen Welt begeisterte Aufnahme finden würde, ist wohl zweifellos und würde dasselbe unserer Monarchie hohe Ehre bringen. Es würde ferner bei Groß und Klein aufs Neue der Patriotismus gehoben und die Liebe zu unserem angestammten Herrscherhause durch diese Kundgebung befestigt werden. Die ergebenst Unterzeichneten wollen mit diesem Kunstwerk ein für alle Zeiten bleibendes Denkmal der lebenden Photographien schaffen, um zu ermöglichen, daß den kommenden Geschlechtern die Größe unserer Geschichte bildlich dargestellt werden könne. Die untertänigst gefertigten Unternehmer beabsichtigen, den sich eventuell ergebenden Reingewinn aus diesem Kunstwerke, für das »Oesterr. Rote Kreuz« und für den Verein »Für das Kind« zu verwenden. Die ergebenst Gefertigten werden in ihrer Eigenschaft als Präsident und Geschäftsführer der Sektion Böhmen des Reichsverbandes der Kinematographenbesitzer in Oesterreich es in diesem Vereine anregen, daß gelegentlich der Vorführung dieses Kunstwerkes eine Huldigung seitens der Mitglieder dieses Verbandes für den Monarchen stattfinden wird. Dieses Denkmal der lebenden Photographie ist nur dann möglich zu schaffen, wenn die untertänigst Gefertigten seitens der hohen österreichischen Regierung die entsprechende wohlwollende Unterstützung und die Bewilligung erhalten: an allen notwendigen historischen Stellen die Aufnahmen machen zu dürfen, ferner, daß die nötigen Kostüme, Waffen, Waren und Requisiten zur Verfügung gestellt werden, sowie das zu den Kriegsszenen erforderliche Militär. Die untertänigst Gefertigten sind fest davon überzeugt, daß dieses Kunstwerk der lebenden Photographie nach seiner Herausgabe die begeistertste Aufnahme in allen Schichten der Bevölkerung auslösen wird. Es ist geplant, daß dieses Kunstwerk am 18. August oder 2. Dezember in die Oeffentlichkeit gebracht wird und wird dasselbe vorher in entsprechenden Separatvorstellungen vor geladenen Kreisen vorgeführt werden. Bedeutende Historiker haben sich bereits mit der Ausarbeitung dieser Idee beschäftigt und liegen diesbezüglich anerkennenswerte Aeußerungen vor. Die gesamten Vorarbeiten sind bereits gemacht worden, und nun stellen die untertänigst Gefertigten die ehrerbietigste Bitte, daß hohe k. u. k. Hofmeisteramt geruhe zu gestatten, daß die ergebenst Gefertigten durch hiezu eigens engagierte Schauspieler die Episoden aus dem Leben Seiner Majestät Kaiser Franz Josef I., welche in diesem Gesuche speziell angeführt sind, für die kinematographische Aufnahme darstellen lassen dürfen.
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Die Bittsteller hoffen in Anbetracht des patriotischen und humanitären Zweckes, daß ihr bescheidener Wunsch Genehmigung finden wird, und bitten gleichzeitig um baldige Erledigung ihres ergebenen Gesuches, um mit den Arbeiten für das Kunstwerk beginnen zu können. Untertänigst gestatten sich zu zeichnen Ernst H o l l m a n n, Karl V i e h m a n n. Gablonz a. N. im Juni 1914 Turn ÖStA, AVA, Ministerium des Innern 1848 – 1918 (Allgemein), K. 2174, Z. 31139/1914 [offensichtliche Schreibfehler im Aktenstück wurden stillschweigend korrigiert].
I. Der Brief zweier sudentendeutscher Kinobesitzer, die dem Hofmeisteramt ein Filmprojekt über Kaiser Franz Josef I. anboten, offenbart, dass im Umfeld der tschechischen Deutschen schon vor dem Ersten Weltkrieg ein reger kinematographischer Betrieb herrschte. Die tschechische Filmgeschichte, welche sich traditionsgemäß auf die tschechischen Filmpioniere konzentriert, nimmt diese Aktivitäten nach wie vor nur peripher zur Kenntnis, obwohl sudetendeutsche Unternehmer im Industrialisierungsprozess der Filmbranche in den 1890er Jahren eine grundlegende Rolle spielten. In Liberec (Reichenberg), Jablonce nad Nisou (Gablonz an der Neiße) und Ústí nad Labem (Aussig) beschränkten die Kinobesitzer ihre Tätigkeit nicht auf den eigenen Kinobetrieb, sondern entfalteten auch in weiteren Bereichen der entstehenden Filmindustrie rege Aktivitäten, insbesondere im Bereich der Distribution. In den 1890er Jahren war es weit verbreitet, dass ein Kino gleichzeitig als Distributionsfirma fungierte, und zwar mit allen damals gebräuchlichen Praktiken, wie etwa regelmäßigen Inseraten in Wiener Filmzeitschriften oder der Sicherstellung des Distributionsmonopols in der gegebenen Region.1 Die größten Erfolge verzeichnete in diesem Bereich offensichtlich Paul Wolfram, ein Unternehmer aus Aussig, der sogar eine Filiale in Dresden eröffnete und so bis nach Deutschland expandierte. In Nordböhmen entstanden sogar gelegentlich vereinzelte Filmproduktionen. Als Alexander Kolowrat im Jahre 1912 von seinem Herrengut in Přimda (Pfraumberg) nach Wien übersiedelte, schlugen einige seiner Mitarbeiter eigene Wege ein und setzten die Filmproduktion in Reichenberg unter dem Logo Reichenberger Filmwerkstätte fort. In einer Serie von Komödien entstand mit Rudolf Walter und Josef Holub das Duo Cocl & Seff, mit dem bis Mitte der 1920er Jahre mehr als zwei Dutzend Titel gedreht wurden (die Nachkriegsproduktionen wurden dann allerdings in Wien produziert).2 Das Projekt des »Kaiserfilms« 1 2
Corinna MÜLLER, Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907–1912, Stuttgart–Weimar 1994. Günter KRENN/Nikolaus WOSTRY (Hg.), Cocl & Seff. Die österreichischen Serien-
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kommt daher nicht aus heiterem Himmel, sondern ist ein natürlicher Spross eines neuen, vielversprechend wachsenden Zweigs der Unterhaltungsindustrie, dem das industrielle Klima in Nordböhmen augenscheinlich sehr förderlich war. Beide Unterzeichner des Briefes waren 1914 in der Branche keine Neulinge und weit davon entfernt, Hochstapler zu sein.3 Es handelte sich um ehrenwerte und rechtschaffene Unternehmer, die unter ihren Kollegen natürliche Autorität genossen. Vor allem Ernst Hollmann, Kinobetreiber aus Gablonz an der Neiße, war für die sudetendeutsche Filmkultur eine Schlüsselfigur. In den böhmischen Ländern gehörte er zu den allerersten Unternehmern, die eine Lizenz für einen ständigen Kinobetrieb (1908) erhielten. Hollmanns Name ist besonders mit seinem Engagement in den beruflichen Organisationen der Kinobesitzer und -betreiber verbunden. Dass er unternehmerischen Geist besaß, belegt sein Vorhaben aus dem Jahr 1907, in den Städten Nordböhmens eine Gruppe ständiger Kinos zu gründen, die untereinander ihre Programme austauschen sollten, wodurch die Betreibungskosten beträchtlich gesenkt worden wären. Das Projekt kam letztlich nicht zustande, weil Hollmann dafür keine Partner fand.4 Eine Vielzahl an Möglichkeiten eröffnete sich ihm vor allem nach der Gründung des Reichsverbands der Kinematographen-Besitzer in Österreich 1908. Als sich in Nordböhmen ein Netz ständiger Kinos formierte, initiierte Hollmann 1911 die Gründung einer regionalen Sektion des Reichsverbands und wurde zu deren Obmann gewählt. Die Sektion Böhmen wurde bald die größte regionale Sektion des gesamten Verbandes, und Hollmanns Ansehen stieg in den Wiener Branchenkreisen dermaßen an, dass er 1915 für den Posten des Obmanns des Reichsverbands vorgeschlagen wurde (was Hollmann aus praktischen Gründen ablehnte). Außerdem stand er später an der Spitze des Verbandes deutscher Kinos in der Tschechoslowakischen Republik, und als er im Jahr 1937 starb, war sein Ableben in sudetendeutschen Filmkreisen ein Ereignis ersten Grades. Die Aussiger Zeitschrift Filmwoche widmete seinem Nekrolog die ersten drei
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komiker der Stummfilmzeit, Wien 2010. Es ist zu ergänzen, dass die Existenz der Reichenberger Produktion tschechischen Filmhistorikern und Archivaren noch in den 1990er Jahren gänzlich unbekannt war, weshalb der ambitionierte Katalog Český hraný film I: 1898–1930 / Czech Feature Film I: 1898–1930, Praha 1995, keinen einzigen Titel dieser Serie enthält. Pläne für verschiedene »wilde« Filmprojekte blieben nach der tschechoslowakischen Staatsgründung auch der Kanzlei des Präsidenten der Republik nicht erspart. Bei einigen konnte man das Hochstaplertum förmlich riechen. Vgl. Ivan KLIMEŠ, Po zániku epochy. Kinematografická ohlédnutí za »skončeným příběhem«, in: Zdeněk HOJDA/Marta OTTLOVÁ/Roman PRAHL (Hg.), Vetché stáří, nebo zralý věk moudrosti?, Praha 2009, 297–306. Zdeněk ŠTÁBLA, Data a fakta z dějin čs. kinematografie 1896–1945, Sv. 1, Praha 1988, 136–137.
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Druckseiten.5 Mit dem Filmedrehen hatte er jedoch, soweit bekannt ist, ebenso wenig Erfahrung wie sein Kollege Karl Viehmann aus Turn, der ebenfalls Funktionär im Verband der Kinobesitzer war (in der Sektion Böhmen hatte er den Posten des Geschäftsführers inne). Es ist daher nicht auszuschließen, dass sie nur als Produzenten fungiert und die eigentliche Dreharbeit jemand anderem übertragen hätten. Ihre Genreauffassung ist aber in jedem Fall bemerkenswert und entsprach im böhmischen Filmmilieu keinesfalls den üblichen Standards. Dem Genre der »Bewegten Bilder« begegnet man eigentlich erst in der national bewegten Zeit nach der Gründung der Tschechoslowakei, und dann auch nur sehr vereinzelt. Zu nennen sind hier die Filme »České nebe« (»Böhmischer Himmel«, Regie Jan A. Palouš; Pragafilm 1918) und »Utrpením ke slávě« (»Durch Leiden zum Ruhm«, Regie Richard F. Branald; Excelsior 1919), die leider nicht erhalten sind. Ihre Regisseure kamen aus dem Theatermilieu und knüpften gezielt an die Theatertradition der Bewegten Bilder an. Das Genre der Bewegten Bilder hat eine äußerst reiche Vergangenheit. Man verbindet es zwar für gewöhnlich mit dem bürgerlichen Theater, das heißt, vor allem mit dem 19. Jahrhundert, aber in verschiedenen Entwicklungsformen kann man seine Spuren bis ins Mittelalter zurückverfolgen (und, wenn auch mit etwas Mühe, sogar bis in die Antike). Denn sind nicht im Grunde genommen auch die Passionsspiele bewegte Bilder? Oder die allegorischen Szenen, die im Rahmen von Triumphfeiern anlässlich der Ankunft des Herrschers oder anderer bedeutender Persönlichkeiten in den Städten des Spätmittelalters und der Renaissance dargestellt wurden? Gerade der Zweck dieser Feierlichkeiten enthüllt die Verwandtschaft der modernen bewegten Bilder mit ihren historischen Vorbildern. Ihr Sinn bestand in der Verherrlichung einer Persönlichkeit (oder auch von etwas anderem). Im bürgerlichen Theater wurden lebende Bilder im Rahmen von Vorstellungen gezeigt, die den Charakter gesellschaftlicher Ereignisse hatten.6 Ein solches gesellschaftliches Ereignis konnte die Anwesenheit einer bedeutenden Persönlichkeit im Publikum sein oder verschiedene Jubiläen von Personen (Geburtstage, Todestage) bzw. Jahrestage national bedeutsamer Ereignisse.7 Gerade das Genre der bewegten Bilder war für die Stärkung der gesellschaftlichen Rolle des Theaters innerhalb der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts sehr ergiebig, wobei dies nicht nur für Aufführungen innerhalb 5 6 7
Ernst HOLLMANN, Filmwoche 17, č. 25 (11. 6. 1937), 1–3. Jaromír PACLT, Živé obrazy, in: Vladimír JUST/Štěpán OTČENÁŠEK (Hg.), Divadelní revue, Praha 1989, 11–30. In den ersten drei Jahrzehnten der Existenz des Nationaltheaters in Prag (1881– 1910) wurden 73 lebende Bilder komponiert, die in 113 Opern- oder Theateraufführungen gezeigt wurden, und dabei handelte es sich nicht um eine bloße Zugabe, sondern um einen wesentlichen Bestandteil der jeweiligen Aufführung, der ihr ein Siegel der Exklusivität verlieh. Ebenda, 13.
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eines Theatergebäudes galt, sondern auch für verschiedene Freiluftveranstaltungen, die stets mit viel Theatralität arbeiteten und den lebenden Bildern ebenfalls einen festen Platz in ihrem Programm einräumten.8 Selbstverständlich waren lebende Bilder auch Bestandteil der feierlichen Darbietungen bei kaiserlichen Besuchen im Theater. In der Mitte der Bühne stand für gewöhnlich eine Statue des Monarchen, die von Blumen umringt war und häufig auch vom Genius (Bohemia oder Austria) mit einem Lorbeerkranz geschmückt wurde. Um die Statue herum waren Mitglieder des Ensembles in Salongewändern versammelt, gelegentlich stellten sie in malerischen Positionen alle (oder auch nur die slawischen) Völker des Reiches dar. Dabei wurden feierliche Gedichte rezitiert, auch die Kaiserhymne durfte natürlich nicht fehlen. Der Begriff »Lebende Bilder« war jedoch nicht nur Formen des Theaters vorbehalten, wenngleich die theatrologische Lesart am meisten verbreitet war. In zeitgenössischen Quellen stößt man auf diesen Begriff auch häufig im Zusammenhang mit der bildlichen Untermalung von Vorlesungen oder mit »Serien« statischer Bilder. Ende des 19. Jahrhunderts kamen Vorlesungen mit optischen Bildern sehr in Mode, bei denen mittels eines Skioptikons, also einer Form der Laterna Magica, für das Publikum Bilder projiziert wurden. Es entstanden sogar Zeitschriften, die sich damit auseinandersetzten, und der Sprachgebrauch weitete den Begriff »Lebende Bilder« spontan auch auf diesen Typus der Wort-Bild-Kombination aus.9 Die variierende Begrifflichkeit der sprachlichen Praxis ist ein vollkommen natürliches Phänomen und gehört in den frühen Phasen der Entwicklung kultureller Formen sogar zu den charakteristischen Wesenszügen ihrer Reflexion. Die Analyse begrifflicher Verschiebungen enthüllt eine ganze Reihe von direkten und indirekten intermedialen Verknüpfungen, und eine davon bietet sich unmittelbar an – gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff »Lebende Bilder« zu einer der meist benutzten Bezeichnungen für den Kinematographen. Der Ausdruck »Lebende Bilder« oder »Das lebende Bild« schmückte in Folge die Fassaden zahlreicher sogenannter Kinotypen. Dabei handelte es sich um spezielle Filmlokale (im Vorderzimmer eine Ausschank, im Hinterzimmer ein ungelüfteter und ungeheizter »Kinosaal«), die für den Boom ständiger Kinos im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts charakteristisch waren.10 Das Medium des Films war also für die Entfaltung des Genres der »Lebenden Bilder« sehr gut geeignet und es scheint äußerst naheliegend, es auch für die Ehrung des Landesvaters zu nutzen. 8 9
10
Divadlo v české kultuře 19. století, Praha 1985. In Stuttgart erschien beispielsweise bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Zeitschrift »Film und Lichtbild. Zeitschrift für wissenschaftliche und technische Kinematographie und Projektion«. KINtop 5. Aufführungsgeschichten, Frankfurt/Main 1996.
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II. Im Laufe der Regierungszeit und des langen Lebens von Kaiser und König Franz Josef I. (geb. 1830, regierte er seit 1848, gest. 1916) änderte sich die Welt von Grund auf. Geboren in der Zeit der Postkutschen erlebte er noch die Ära des Automobils und des Flugzeugs, der verarmende Adel wurde zunehmend von den Angehörigen reicher Unternehmerschichten abgelöst (Ausdruck ihres Selbstbewusstseins ist das »Schaufenster der Monarchie«: die Wiener Ringsstraße rund um die Hofburg), wodurch sich die Zusammensetzung der Eliten in seinem Reich wesentlich veränderte. Den Thron bestieg er, als sich die feudale Ordnung ihrem Ende zuneigte, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte er in der westlichen Reichshälfte das allgemeine Wahlrecht der Männer ein. Trotz all dieser bahnbrechenden Umwälzungen gab es für die Bewohner Mitteleuropas einen Fixpunkt, eine nicht hinterfragbare Gewissheit, die Person des alten Kaisers. Sein charakteristisches Antlitz (seit den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich das Aussehen des Monarchen kaum verändert) blickte auf sie von den Wänden in den Schulen herab, begrüßte die jungen Männer in den Kasernen, die gesetzten Bürger in Lokalen und Kaffeehäusern, sie sahen es auf Ansichtskarten und Briefmarken. Händler verkauften Herrscherporträts für die bürgerlichen Prunkräume, Tässchen und Gläser mit seinem Konterfei zierten die gläsernen Vitrinen (»cinkkóstn«) seiner Untertanen. Man fand sein Gesicht auf den Porzellanköpfen von Pfeifen, verschiedensten Dekorationsstücken und alltäglichen Gebrauchsgegenständen (ich habe sogar eine Semmelbröselmühle mit dem Profil Seiner Majestät gesehen). Um die Person des Herrschers entstand auf diese Weise allmählich ein regelrechter Kult, der von der Mehrheit seiner Untertanen geteilt und zu einem der letzten Bindemittel wurde, das die zerstrittenen Völker der Vielvölkermonarchie zusammen hielt. Gelegenheiten zur Nährung dieses Kultes waren vor allem der Kaisergeburtstag (18. August), der Jahrestag seiner Thronbesteigung (2. Dezember) sowie seine offiziellen Besuche in den Kronländern. Die Schöpfer und Verbreiter des Franz Josef-Kults (vor allem Journalisten und die Lehrerschaft) nutzten behende den Kontrast zwischen der Erhabenheit seiner Kaiserlichen Majestät und der persönlichen Bescheidenheit des Herrschers. Die Autoren populärer Artikel über das Leben des Kaisers schrieben von den einfachen Speisen an seiner Tafel, seinem Arbeitseifer und seiner Sparsamkeit. Auf seinen offiziellen Reisen erschien der Kaiser seinen Untertanen in vollem Glanz, umgeben von Garden, Generälen und höfischen Würdenträgern in glänzenden Uniformen, bedient von livrierten Lakaien – und die journalistische Berichterstattung fügte dem rührselige Bilder hinzu, etwa wie der Monarch einen gesamten Festzug anhalten lässt, um die Bitte eines armen Mütterleins anzuhören oder um bei einem kleinen Jungen stehen zu bleiben, der einen Blick auf »seinen Kaiser« werfen wollte.
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Auch die persönlichen Tragödien, die Franz Josef ereilten, wurden propagandistisch ausgenutzt: der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf (1889) und das Attentat auf die Kaiserin Elisabeth (1898). Charakteristisch ist, dass sich die Mehrzahl der Kommentare zu diesen Ereignissen mehr mit dem Kaiser als mit den eigentlichen Opfern beschäftigt. Die Gedanken der Untertanen »flogen« in diesen Momenten »dem schwer geprüften Monarchen zu«, bewunderten seine Stärke, die ihn diese Schicksalsschläge ertragen ließ, und die Propagandisten betonten eifrig, dass er den größten Trost in fleißiger Arbeit zugunsten seiner Völker fände. Obligatorisch wurde bei freudigen wie traurigen Anlässen hervorgehoben, dass in solchen Momenten die Unterschiede zwischen Nationen und Ständen schwinden würden, da alle durch die Liebe und Ergebenheit gegenüber ihrem Herrscher verbunden seien. Der Kaiser stand in der Propaganda stets über allen Völkern und politischen Parteien, er war für alle da, egal ob reich oder arm. Ein häufiges Mittel (vor allem bei persönlichen Jubiläen oder Jahrestagen der Herrschaft), um den Kaiser den breiten Massen nahezubringen, waren Episoden aus seinem Leben, die künstlerisch oder literarisch präsentiert wurden. Für gewöhnlich durfte hierbei auch die Geschichte nicht fehlen, wie der kleine Erzherzog beim Spaziergang mit seinem Großvater (Kaiser Franz I.) einen Wachsoldaten beschenken wollte. Der pflichtbewusste Soldat durfte das Geld natürlich nicht annehmen, weil er dadurch gegen die Vorschriften verstoßen hätte, weshalb der Großvater sein Enkelchen in die Höhe hob und der kleine Franz Josef das Geld in den Tornister des Soldaten schob. Dies illustrierte beispielhafte eine gute Tat bei gleichzeitiger Respektierung des Dienstreglements. Andere Begebenheiten dokumentieren des Kaisers Tapferkeit (»die Feuertaufe« des jungen Erzherzogs in der Schlacht bei Santa Lucia (1848) in den Reihen des Radetzky-Heeres, sein Ausruf »Vorwärts, Soldaten, auch ich habe zu Hause Frau und Kinder« in dem verlorenen Kampf bei Solferino (1859). Ein Plädoyer für das Einhalten von Vorschriften ist auch die folgende Geschichte: bei einem Spaziergang wurde der Kaiser von einem militärischen Wachposten angehalten, und da er die aktuelle Parole nicht kannte, wurde er so lange festgehalten, bis der kommandierende Offizier kam. Der Soldat, der den Kaiser festgenommen hatte, wurde selbstverständlich nicht bestraft, sondern für seine akkurate Dienstausführung belohnt. Zahlreiche weitere Anekdoten berichteten von der kaiserlichen Sorge um Kriegsveteranen, Arme und Bedürftige, von seiner Frömmigkeit u. ä. Mit zunehmendem Alter des Monarchen kamen außerdem Erzählungen hinzu, die seine physische Tüchtigkeit belegten. Der technische Fortschritt machte natürlich auch nicht vor dem Kaiserkult Halt. Der Herrscher wurde fotografiert, seine Stimme auf Phonographen aufgezeichnet, und gegen Ende seines Lebens wurde er
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auch von Filmkameras festgehalten. Das Archivstück, das in diesem Beitrag ediert wird, verbindet auf interessante Weise das moderne Medium des Films mit dem traditionellen Genre »der Geschichten aus dem Leben unseres Monarchen«. Das Projekt der nordböhmischen Kinematographen erweckt in der Tat den Eindruck, als ob es eine der vielen Broschüren zu diesem Thema in »Bewegliche Bilder« überführen wollte. Es handelt sich um eine bunte Mischung von Szenen aus dem privaten Leben des Kaisers und Ereignissen, die für das gesamte Habsburgerreich bedeutsam waren. Nummer 2 des geplanten »Denkmals beweglicher Fotografien« (Der kleine Menschenfreund) sollte ohne Zweifel eine visuelle Darstellung der oben erwähnten Geschichte über die Beschenkung des Wachsoldaten werden. Nummer 13 (der Kaiser als Bergsteiger) sollte der physischen Kondition des Kaisers huldigen, Nummer 6 (Die Feuertaufe) den zukünftigen Herrscher als tapferen Soldaten zeigen. Als gewissenhafter Herrscher sollte er den Zuschauern in Nummer 28 (Seine Majestät beim Arbeitstisch erledigt Regierungsgeschäfte – ein für Franz Josef I. in der Tat typisches Bild) vorgeführt werden, Nummer 15 des Kaisers Frömmigkeit rühmen usw. Von Bedeutung für die Förderung des Kaiserkults waren auch Szenen, die der Öffentlichkeit den Kaiser in privater Form näher brachten, wie die geplante Nummer 29 (Seine Majestät beim Spaziergang in dem Park). Typisch für den Stellenwert der Herrschaftsfeiern im politischen Leben der Monarchie ist die letzte Szene: die Huldigung der Völker Österreichs vor dem geliebten Monarchen. Hier erfüllt der Kaiser seine ureigenste Funktion, wenn er als verbindendes Element des Reichs und Kopf der großen Familie seiner Nationalitäten auftritt. Einige der geplanten Bilder erscheinen jedoch zweifelhaft, daher wäre es sicherlich interessant gewesen, das fertige Werk zu sehen. Nummer 9 beispielsweise ist schwer vorstellbar. Darin sollte gezeigt werden, wie Wien dem Herrscher am 6. Mai 1849 zujubelt. Der Wiener Aufstand im Oktober 1848, der vom Militär blutig niedergeschlagen worden war, lag erst sechs Monate zurück. Dem Aufstand war eine Reihe von Todesurteilen gefolgt, die unverzüglich vollstreckt worden waren, und die Stadt selbst war durch das Artilleriefeuer und die Straßenkämpfe schwer beschädigt. Die Popularität Franz Josefs war zudem nach der Auflösung des Reichstags im März 1849 und dem Erlass der Oktroyierten Verfassung massiv gesunken. Ähnliche Fragezeichen tun sich über dem Titel Nummer 16 auf (Des Kaisers Anteilnahme an Radetzky’s Tod im Jänner 1858). Der alte polnische Marschall starb Anfang des Jahres 1858 in Mailand, und der Kaiser war bei seinem Tod nicht anwesend, geschweige denn involviert. Radetzkys sterbliche Überreste wurden nach Österreich überführt und am Heldenberg bei Wien beigesetzt, seine Ehrerbietung zollte der Monarch dem legendären Feldherrn dadurch, dass er die Militärparade bei den Beerdigungszeremonien persönlich
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befehligte. Vollkommen unbegreiflich ist die Bezeichnung der Feierlichkeiten im Jahr 1908 als 65. Jubiläum der Thronbesteigung (in Wirklichkeit feierte die Monarchie pompös das 60. Jubiläum!). Interessant ist das Faktum, dass die Initiatoren dieses Projektentwurfs im nordböhmischen Grenzgebiet agierten, einem äußerst heißen Boden im tschechisch-deutschen Nationalitätenkampf. Die Repräsentanten der lokalen deutschen Bevölkerung identifizierten sich zunehmend mit dem benachbarten Deutschen Reich, während ihre Loyalität gegenüber der »gemeinsamen österreichischen Heimat« mehr und mehr sank. Dies trat bei den Ausschreitungen im Rahmen des Besuchs Franz Josefs I. 1891 in Reichenberg deutlich zu Tage (vor seinem Zug explodierte bei der Station Rosenthal-Hanichen sogar eine Nitroglycerinbombe). Ein Jahr später löste der böhmische Statthalter den Stadtrat auf, da dessen Sympathien für das Deutsche Reich an Hochverrat grenzten.11 Beim kaiserlichen Besuch in Gablonz 1906 bemühten sich die Behörden vergeblich, Dekorationen mit großdeutschen Farben zu verhindern, und der Bürgermeister wurde von der nationalen Presse scharf angegriffen, weil er während der Anwesenheit des Kaisers die Tafel mit der Bezeichnung Bismarck-Platz verhüllen ließ.12 Es ist daher fraglich, ob die endgültige Darstellung des filmischen Herrscherdenkmals den dynastischen und übernationalen Charakter hätte beibehalten können. Dass die geistigen Urheber des Werks einer Allianz zwischen der Habsburgermonarchie und dem kaiserlichen Deutschland nicht abgeneigt waren, könnte der Umstand belegen, dass die einzige Szene aus dem Bereich der kaiserlichen Außenpolitik die Gründung des Dreibundes (Nummer 19) darstellen sollte. Wir wissen nicht, wie ernst dieses Projekt »Dem Kaiser ein Denkmal« gemeint war, wie seine Schöpfer die geplanten Massenszenen bewältigt hätten, wie die schauspielerische Besetzung ausgesehen hätte oder ob der Kaiser persönlich im Film aufgetreten wäre. Stattdessen fuhr der Lauf der Geschichte unbarmherzig dazwischen: Der Entwurf, der u. a. auch Armeeszenen plante, stammt vom Juni 1914, und am 28. des Folgemonats unterzeichnete der Kaiser die Kriegserklärung gegen Serbien. Vor der Armee (und letzten Endes auch vor den Filmemachern) standen ganz andere Aufgaben … Übersetzung: Helena Srubar
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Zuletzt hierzu siehe Miloslava MELANOVÁ, Liberecká výstava 1906, Liberec 1996. Ausführlicher hierzu Jana NOVÁ, »Živý obraz«. Návštěva císaře Františka Josefa I. v Jablonci nad Nisou 24. června 1906, in: Dagmar BLÜMLOVÁ/Zuzana GILAROVÁ (Hg.), Čas secese. Kapitoly z kulturních dějin přelomu 19. a 20. století, České Budějovice 2007, 322–346.
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Bildende Kunst zwischen Prag und Wien in den Jahren 1918–1939 Die feierliche Ausrufung der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 im Prager Gemeindehaus wurde von vielen Zeitgenossen als politische Konsequenz einer erfolgreichen, von Generationen geleisteten kulturellen und sprachlichen Emanzipation der Tschechen von der drei Jahrhunderte in Böhmen regierenden Dynastie Habsburg gewertet. Die »erneuerte Staatlichkeit«, die in allen Geschichtsbüchern im Zusammenhang mit diesem Ereignis erwähnt wird, beruft sich auf romantisch empfundene, im nationalen Bewusstsein fest verankerte historische Bilder, die – eigentlich paradoxerweise – im geistigen Klima der Habsburgmonarchie entstanden sind. Vom Landespatriotismus zum Sprachpatriotismus Dass die Vielvölkermonarchie im Jahrhundert der Nationalismen, die sich nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon über ganz Europa verbreiteten, schwierig zu erhalten sein würde, dafür sorgte bereits eine zu den Habsburgern durchaus loyale Generation von aufgeklärten Gelehrten: In frommer Begeisterung für die große Vergangenheit legten Gelasius Dobner oder František Palacký die Grundsteine für eine Landesgeschichte Böhmens und Sprachwissenschaftler wie Josef Jungmann oder František Ladislav Čelakovský adelten die Umgangssprache des Volkes zur gehobenen Literatur- und Wissenschaftssprache. In Wien führte dieses als Bohemismus bezeichnete Interesse für Böhmen zu versöhnlichen Interpretationen von Momenten, die in Böhmen dagegen als Vorspiel zum tragischen Ende der ersten und letzten einheimischen Herrscherdynastie verstanden wurden: Der aus dem damals noch unbedeutenden Hause Habsburg stammende Herzog Rudolf besänftigte nach der Schlacht am Marchfeld (1278) über der Leiche des besiegten Königs Ottokar II. seine Ritter: Halt ein mit Töten! Schont der Überwundnen! Was ist hier? Was hat dich zu Eis verwandelt? Ha, Ottokar, am Boden, blutend, tot! Du hast’s getan! Flieh, wie der erste Mörder, Und laß dich nimmer sehn vor meinem Blick! Die Böhmen sollen ruhig heimwärts ziehn, Für den sie stritten, ruft es aus!, ist tot.1
In den folgenden Jahrhunderten sollten die Habsburger zu einer der mächtigsten Dynastien Europas aufsteigen und ab 1526 bis zur Auflösung 1
Franz GRILLPARZER, König Ottokars Glück und Ende, 1825.
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der Donaumonarchie 1918 auch das Königreich Böhmen regieren. Das bedeutete mehr als dreihundert Jahre gemeinsamer Geschichte. Von dem zur Monarchie loyalen Landespatriotismus (Bohemismus) sonderte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein sprachlich orientierter Patriotismus ab, in dessen Rahmen die tschechische Nation im modernen Sinn entstanden ist – als kulturell homogene Sprachgemeinschaft mit einer Geschichtstradition und zukunftsorientierten Forderungen nach einer politischen Emanzipation. Wie kompliziert dieser Prozess gewesen ist, bezeugt u. a. auch die Unmöglichkeit, klare Grenzen zwischen den Nationalitäten zu ziehen. Schon die Nennung des Schauplatzes, auf dem dieser sich abspielte, ist ein linguistisches Problem. Für die deutsche Bezeichnung Böhmen (aus dem lateinischen Bohemia) gibt es im Tschechischen kein ebenso national neutrales Äquivalent, die Bezeichnung »Čechy« impliziert, dass die einzigen legitimen Bewohner dieses Landes Tschechen seien. Diese Besitzbezogenheit, die allerdings auch im Ausdruck vlast (= Heimat, vom selben Wortstamm abgeleitet wie vlastnictví = Besitztum) zum Vorschein kommt, hat ebenfalls historische Wurzeln. Die ersten »Fremden«, mit denen der einheimische westslawische Stamm der Tschechen in Berührung gekommen war, waren Käufer, Missionare oder Kolonisten aus dem Ostfränkischen Reich, die wegen ihrer Unfähigkeit zu kommunizieren als »stumm« (= němý, davon Němci) bezeichnet wurden. Nach der aus dem römischen Recht übernommenen mittelalterlichen Jurisdiktion konnten die Nachkommen dieser »Fremden« jedoch das Privileg auf Heimatrecht erheben, womit eine Voraussetzung für ewige Kämpfe und Zwistigkeiten geschaffen wurde. Im 19. Jahrhundert schlossen sich diese psychologisch und sozial bedingten Spannungen mit den mächtigen national-emanzipatorischen Strömungen zusammen und führten zur tschechischen nationalen Wiedergeburt oder Wiedererweckung. Innerhalb von zwei bis drei Generationen verwandelte sich so das deutsch verwaltete Prag in eine tschechische Stadt: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren noch 60 Prozent seiner Einwohner Deutsche, 1880 waren es nur noch 15 Prozent, bei der letzten Volkszählung der Monarchie 1910 nur 6 Prozent.2 Die früher als Angehörige der Verwaltungssprache privilegierten Deutschen wurden zur Minderheit und reagierten – den landespatriotischen Idealen länger verbunden – zuerst defensiv. Ihre Antwort auf die Entstehung tschechischnationaler Institutionen, Vereine etc. kam mit einer gewissen Verspätung. Typisch für diese Lage ist ein Vergleich zwischen den beiden Hochburgen der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert isoliert nebeneinander lebenden Sprachgemeinschaften – dem tschechischen Nationaltheater und dem Neuen Deutschen Theater. Ersteres, von den Tschechen als Symbol ihres bereits abgeschlossenen Werdeganges zur kulturellen und auch politischen Nation wahrgenommen, wurde von Josef Zítek im angeblich 2
http://notes2.czso.cz/sldb/sldb10.nsf/obydomy?openform&:554782 (15. 1. 2012).
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typisch tschechischen Stil der Neorenaissance errichtet (1863–1883). An der Innen- und Außenausstattung des Theatergebäudes waren von Anfang an sowohl landespatriotisch orientierte Künstler (Max Pirner, Felix Jenewein, Anton Wagner) als auch Repräsentanten der tschechischen Wiedererweckung (Mikoláš Aleš, Václav Brožík, Julius Mařák und Josef Tulka) beschäftigt. Kein Wunder – sie hatten an derselben Akademie studiert und sich mit denselben historischen Themen befasst. Der beinahe zwei Jahrzehnte dauernde Bau des als »goldene Kapelle an der Moldau« bezeichneten Gebäudes wurde von der Öffentlichkeit mit Begeisterung verfolgt, und als 1881, kurz nach der feierlichen Eröffnung, ein Feuer ausbrach, das außer dem Dach auch Bühne und Zuschauerraum vernichtete, wurde dies als nationale Katastrophe empfunden. Mit dem Erlös einer Spendensammlung wurden die Schäden repariert und zwei Jahre später konnte mit Smetanas Oper Libuše die zweite Eröffnung stattfinden. Die Antwort der Deutschen in Prag stellte sich fünf Jahre später ein – 1888 mit der feierlichen Eröffnung des nach dem Projekt des Wiener Architekturstudios Fellner & Helmer ebenfalls im Neorenaissance-Stil errichteten Neuen Deutschen Theaters. Als erster Direktor dieser neben dem deutsch-spielenden Ständetheater zweiten und im deutsch-nationalen Sinn eigentlich ersten, also »neuen« Bühne wurde der berühmte, in Wien geborene Tenor und Intendant Angelo Neumann (1838–1910) berufen, der das Theater mit Wagners Meistersingern von Nürnberg eröffnete. Von den Deutschen konnte diese fünfjährige Verspätung nie nachgeholt werden, vielmehr vertiefte sich die Kluft zwischen beiden Landesvölkern. Auch die kosmopolitisch orientierte Generation der Jahrhundertwende, die enge nationale Kriterien programmatisch ablehnte, konnte nichts daran ändern. Im 1887 gegründeten Künstlerverein Mánes, der entschlossen war, die zu eng gesetzten Schranken der mit dem Nationaltheater verbundenen Generation zu überwinden, waren deutsche Künstler nur selten vertreten (Ferdinand Engelmüller, Alfred Justitz, Erwin Müller, Otto Gutfreund, Adolf Wiesner). Da aber Prag trotz des imposanten Aufstiegs tschechischer Kultur doch eine Provinzstadt der Monarchie blieb, führten die Wege ambitionierter deutscher und auch tschechischer Kunststudenten und Künstler nach wie vor nach Wien. Nur der Anteil der Deutschen in der Kunstakademie stieg, da es nicht gelang, diese in eine tschechische und deutsche aufzuteilen. Seit der Jahrhundertwende befanden sich die in Prag gebliebenen deutschen Künstler in einer mehrfachen Isolation: Als Angehörige der in der Monarchie staatstragenden Nation wurden sie zur Sprachminderheit in einer Provinzstadt, deren Kultur einen neuen Kurs steuerte – auf Paris als die Metropole der europäischen Moderne. Diese Isolierung zu überwinden, wurde immer schwieriger, denn auch unter den deutschen Künstlern in Prag begann sich eine Kluft zu öffnen – auf der einen Seite standen landespatriotisch orientierte Künstler wie Karl Krattner, August Brömse oder Franz Thiele, deren Klassen an der Akademie
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auch zahlreiche tschechische Künstler absolvierten, auf der anderen konservativ und deutsch-national gesinnte Künstler wie Richard Müller oder Heinrich Hönich, die sich dann in den 1930er Jahren zur nazistischen Ideologie bekannten. Für Übersichtlichkeit in dieser stilistisch und national ziemlich verworrenen Situation sollte die 1902 als kaiserliche Stiftung gegründete Moderne Galerie sorgen, die nach den Landesprachen in zwei Sektionen unterteilt war – eine tschechische und eine deutsche. Während die deutsche Sektion Werke vorwiegend einheimischer deutscher Künstler ankaufte, um deren schwierige Situation zu erleichtern, orientierte sich die tschechische Sektion von Anfang an den neuesten Pariser Strömungen. Vor dem Ersten Weltkrieg war für die Prager deutschen Künstler eine Annäherung an die Avantgarde eine persönliche Wahl – falls sie sich dafür entschieden, bedeutete das für sie eine Entfremdung von den meisten Landsleuten, wie im Fall von Willi Nowak, Friedrich Feigl, Max Horb und Emil Arthur Pittermann-Longen, die zusammen mit Bohumil Kubišta, Emil Filla, Václav Špála und Vincenc Beneš im Jahr 1907 an der ersten expressionistischen Ausstellung in Prag teilnahmen und sich so in den Kontext der tschechischen Kunstgeschichte einordneten. Weg von Wien – Prag als Metropole der Tschechoslowakei In der Atmosphäre allgemeiner Begeisterung, die nach der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik ausgebrochen war, fand – auch unter der oft wiederholten Parole »Weg von Österreich« – ein imposanter kultureller Aufschwung statt. Während der zwanzigjährigen Existenz der Ersten Republik (1918–1939) wurde Prag zu einer modernen europäischen Metropole. Der politische Kurswechsel hin zum neuen Verbündeten Frankreich rief jedoch im Bereich der Kultur keinen Umbruch hervor, denn die Umorientierung von Wien auf Paris als neues Zentrum der internationalen Avantgarde war bereits um die Jahrhundertwende erfolgt. Radikal veränderte sich jedoch die Situation der Deutschen: Die in der Monarchie privilegierte Sprachgemeinschaft von ungefähr 3 Millionen Menschen wurde im neuen Staat zur Minderheit. In den vorwiegend deutsch bewohnten Grenzgebieten kam es, mitunter auch durch unüberlegten Denkmalsturz ausgelöst, zu Unruhen, die militärisch bewältigt werden mussten (z. B. in Kaaden, Komotau oder Eger).3 Im kosmopolitischen Prag, dem ehemaligen Sitz hoher Landesämter der k. k. Monarchie, gab es anscheinend weniger Konflikte. Einerseits wurden hier beide Landessprachen gesprochen und verstanden, andererseits lebten hier schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Sprachgemeinschaften getrennt, jede von 3
Als trotz heftiger Proteste im Jahr 1920 das Denkmal Josefs II. in Eger gestürzt wurde, demolierten die Deutschen eine tschechische Schule und sandten eine Delegation nach Prag, um eine Beschwerde im Parlament einzureichen. Die Prager reagierten darauf mit einem Sturm auf deutsche Zeitungsredaktionen, Schauspieler des Nationaltheaters besetzten das deutsch-spielende Ständetheater. Vgl. Václav LEDVINKA/Jiří PEŠEK, Praha, Praha 2000, 569.
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ihnen besaß ihre eigenen Institutionen, Universitäten, Theater und Presse4, ja sogar eigene Geschäfte und Kaffeehäuser. Deutsche Intellektuelle und Journalisten trafen sich im Café Continental oder Café Central, deutsche Schriftsteller und Künstler verkehrten im Café Louvre und Arco. Nachdem die Prager deutsche Karl-Ferdinands-Universität den durch die Gründung der Tschechoslowakei verursachten Schock überlebt hatte, wurde sie zu einer regulären Hochschule, an der deutsche Spezialisten ausgebildet wurden. Wenngleich sich die Situation stabilisierte, existierte eine gewisse Spannung zwischen den liberal bzw. sozialdemokratisch und zur ČSR loyal gesinnten und den deutsch-national orientierten Gruppen.5 Trotz antisemitistischer Ausschreitungen, an denen auch tschechische Nationalisten beteiligt waren, war die Situation bis zur Münchner Konferenz im September 1938 weniger zugespitzt als an deutschen oder österreichischen Universitäten. In den 1930er Jahren konnten sogar einige in Deutschland verfolgte Professoren berufen werden, z. B. Emil Utitz aus Berlin oder der Verfassungsjurist Hans Kelsen.6 Um die Mitte der 1930er Jahre sind jedoch einige der Professoren der NS-Ideologie verfallen, so Josef Pfitzner. Nach 1918 haben Prag und Wien eigene Wege eingeschlagen. Nach drei Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte gab es jedoch unzählige persönliche und auch professionelle Beziehungen, die den politischen Umbruch und auch den kulturellen Kurswechsel auf Paris überlebten. Den neuen Referenzpunkt Paris steuerte allerdings schon die Moderne der Jahrhundertwende an, wenngleich der Weg von Prag nach Paris noch über Wien führte, wie bei Alfons Mucha7 und František Kupka.8 Die folgende, mit dem Expressionismus und Kubismus verbundene Generation schlug den Weg nach Paris bereits direkt ein, ohne Umweg über Wien. Während der Expressionismus für die tschechische Avantgarde jedoch nur eine Vorbereitung für den viel radikaleren Kubismus bedeutete (Bohumil Kubišta, Emil Filla, Josef Čapek, Alfred Justitz u. a.), führte er bei den deutschen Künstlern zu einer lebenslangen künstlerischen Überzeugung. Dahingestellt mag dabei die Frage bleiben, inwieweit der tschechische Kubismus der von Albert Gleizes und Jean Metzinger formulierten Theorie entsprach. 4 5
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Bohemia, 1828–1938; Prager Tagblatt, 1876–1939; Prager Presse, 1921–1939. Die Deutsche Studentenschaft, deren Statut antisemitische Paragraphen enthielt, organisierte 1922 stürmische Proteste gegen den Universitätsrektor Samuel Steinherz; vgl. LEDVINKA/PEŠEK, Praha, 569. Hans Kelsen, geboren 1881 in Prag, einer der bedeutendsten österreichischen Rechtswissenschaftler, Architekt der österreichischen Bundesverfassung von 1920, war 1933 für zwei Semester in Prag, doch nach heftigen Protesten deutschnationaler Studenten verließ er Prag und emigrierte 1940 in die USA, wo er 1973 starb. Alfons Mucha (1860–1939 Prag), Lehre bei der Firma Kautsky-Brioschi-Burghard in Wien, 1885 Studium an der Münchner Akademie, 1887 an der Académie Julian in Paris, wo er als erfolgreicher Plakatkünstler tätig war. 1910 kehrte er zurück nach Prag. František Kupka (1871–1957). 1891–1892 Studium bei A. Eisenmenger an der Wiener Akademie, 1895 ging er nach Paris, wo er für Modehefte und satirische Blätter zeichnete. Um 1910 begann er, abstrakt zu malen.
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In den ersten Jahren nach 1918 wurden zahlreiche in der Monarchie undenkbare Vorhaben realisiert: Ein in diesem Sinn symbolischer Akt war die 1920 gegründete Tschechoslowakische Hussiten-Kirche (Církev československá husitská), die an das Gedankengut der vom katholischen Wien unterdrückten böhmischen Reformation anknüpfte. Ebenfalls 1920 wurde der tschechische Künstlerverband Devětsil (= Pestwurz, eine Heilpflanze, deren tschechische Bezeichnung neun Leiden zu bekämpfen verspricht) mit dem Publizisten und Kunsttheoretiker Karel Teige (1900– 1951) als Vorsitzendem begründet. Aufgrund von Teiges Initiative wurde noch im selben Jahr der tschechoslowakische Poetismus gegründet. Zwar blieb Teiges avantgardistisch-utopistisches Vorhaben, das Leben wie ein Gedicht zu gestalten und auf diese Weise alle Probleme des komplizierten Lebens in der modernen Gesellschaft zu lösen, verständlicherweise unerfüllt, aber für die kommenden Jahre hatte der Poetismus eine immense Bedeutung, denn er bereitete den Boden für die Entstehung einer originellen tschechischen Version des französischen Surrealismus vor. Architektur In architektonischen Kreisen war man bemüht – eigentlich anachronistisch und eher dem sprachpatriotischen Geist des 19. Jahrhunderts entsprechend –, einen eigenen repräsentativen Staatsstil zu kreieren. Im Einklang mit der oft wiederholten Parole »Weg von Österreich« wurde er nach dem Vorbild des Pariser Kubismus zurechtgeschnitten – einer vor dem Ersten Weltkrieg hoch aktuellen, Anfang der 1920er Jahre jedoch bereits abgeschlossenen Avantgarde-Strömung. In Bezug auf den vermeintlich typisch tschechischen Hang zur Poesie und Lyrik wurden die scharfen Kanten der kubistischen Facetten weich abgerundet. Als Hommage an die Entstehungsgeschichte der neuen Republik errichtete Josef Gočár, der schon 1911–1912 im Zentrum der Prager Altstadt das kubistische Haus »Zur schwarzen Mutter Gottes« gebaut hatte, in den Jahren 1921 bis 1923 die Legio-Bank/Bank der tschechoslowakischen Legionen (Banka československých legií).9 Das imposante Gebäude stellt eine dekorative Mischung aus avantgardistischen Elementen und dem Historismus dar: Die monumentale rondokubistische Gliederung wird ergänzt durch allegorische Statuen von Jan Štursa und einem Fries zum Ruhm der Legionäre von Otto Gutfreund. Von Seiten der funktionalistischen Avantgarde wurde diese Architektur heftig kritisiert.10 Unmittelbar nach der LegioBank entstand in den Jahren 1923 und 1924 das ähnlich rondokubistische Palais Adria, ein gemeinsames Werk des tschechischen Architekten Pavel 9 10
Die Bank wurde 1919 gegründet, um die in verschiedenen Währungen geführten Konten der tschechoslowakischen Auslandstruppen zu verwalten. Karel Teiges funktionalistischem Geschmack nach handelt es sich um eine »robust plastische, vermutlich slawische und kunterbunte Dekoration«; Karel TEIGE, Osvobozování života a poezie. Studie ze čtyřicátých let, Praha 1994, 214. Zudem mache das Gebäude einen »schwerfälligen, überfüllten und mit seinen bunten Farben unangenehmen barocken Eindruck«; Rostislav ŠVÁCHA; Od moderny k funkcionalismu. Proměny pražské architektury první poloviny dvacátého století, Praha 1985, 209.
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Janák und seines deutschen Kollegen Josef Zasche. Die Ambitionen des Rondokubismus, zum offiziellen Staatsstil zu werden, blieben zwar unerfüllt, doch der tief verinnerlichte Synthetismus der Jahrhundertwende, der neben diesem Experiment auch weitere avantgardistische Strömungen der Zwischenkriegszeit prägte, stammt unübersehbar aus Wien – von dem man sich demonstrativ abzunabeln wünschte. Das war allerdings nicht leicht – der berühmte Erzfeind des Ornaments, Adolf Loos, stattete seine Prager Villa Müller (1930) mit eigens entworfenen Möbeln aus, völlig in Einklang mit der Synästhesie der Jahrhundertwende. Gočárs Ausstattung der Legio-Bank erinnert ebenfalls an das Over-All-Design des Jugendstils, das, leicht angepasst an die moderne Zweckmäßigkeit, zu Kuriositäten wie rondokubistisch geformten Bankschaltern, Schwingtüren und Tintenfässern führte. Das Erbe des berühmten Wiener Architekten Otto Wagner ist auch nach dem Jahr 1918 in Prag nicht zu übersehen. Zwar verbannten seine Schüler Jan Kotěra11, Pavel Janák, Anton Engel oder Jože Plečnik das von der Avantgarde kriminalisierte Ornament, aber sie hielten weiterhin an der Idee des Gesamtkunstwerks fest. Nur die ursprünglich dynamisch geschwungenen Linien ließen sie zu kubistischen Kristallen und Quadern erstarren, um sie nach 1918 in rondokubistische Bögen und Kreise umzuformen. Die allumfassende Synästhesie setzte sich sogar im tschechoslowakischen Purismus12 durch, dem ebenfalls aus Frankreich kommenden Nachfolger des Kubismus: Die verspielten spitzen- oder bogenförmigen Elemente wurden streng geometrisiert, jedoch wiederum in einer Weise, die bis zum kleinsten Einrichtungsdetail durchdrang. Im Sinne des Gesamtkunstwerks ordnete der Wagner-Mitarbeiter Jan Kotěra alle Kunstgattungen der Architektur unter13, womit er denselben Schritt über den Jugendstil hinaus getan hat wie Walter Gropius am Weimarer Bauhaus nach 1919. Der Wagner-Schüler Anton Engel (1878–1957) wandte die städtebaulichen Prinzipien seines Lehrers für den Ausbau Prags zu einer modernen Metropole an: Er entwarf den organisch gestalteten urbanistischen Plan des Stadtviertels Dejvice und das neue Straßensystem entlang der Moldau. Im Jahr 1930 baute er ein neues Wasserwerk im Stadtteil Podolí – einen wuchtigen neoklassizistischen Bau mit allegorischen Statuen böhmischer Flüsse an der Fassade, doch mit einem überraschend funktionalistischen Innenraum. Auch Pavel Janák (1882–1956), der zusammen mit Josef Gočár die stilistischen Prinzipien des Rondokubismus formuliert hatte, blieb dem wagner’schen Vermächtnis treu. Als eine Hommage an Otto Wagner kann man die 1932 eingeweihte Herz-Jesu-Kirche auf 11 12
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Jan Kotěra (1871 Brünn–1923 Prag) – begabter Wagner-Schüler und Mitarbeiter, seit 1898 in Prag, 1910–1923 an der Akademie, gründete die Zeitschrift Styl. Amédée OZENFANT/Charles-Edouard JEANNERET-GRIS [= LE CORBUSIER], Après le cubisme, Paris 1999, Nachdruck der Ausgabe von 1918, sprechen in diesem Zusammenhang von maximal konkreten, ökonomischen, primären Formen. Zu seinen berühmtesten Werken gehören das Peterka-Haus am Wenzelsplatz in Prag (1899–1900), das Ostböhmische Museum in Hradec Králové/Königgrätz (1906–1912) oder die Prager Juristische Fakultät (1914).
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den Prager Weinbergen (Vinohrady) betrachten, ein Werk des slowenischen Wagner-Schülers Jože Plečnik.14 Der monumentale, zweckmäßig modern ausgestattete Sakralbau ist wiederum von einer einheitlich geprägten christlichen Symbolik durchdrungen. Die architektonische Konjunktur der 1920er und 1930er Jahre verlieh Prag das Image einer modernen Metropole. Wegen der Abhängigkeit der Architektur von den Auftraggebern befanden sich deutsche Architekten in einer schwierigen Situation. Sie sahen sich gezwungen, mit tschechischen Kollegen zusammenarbeiten – wie etwa Joseph Zasche15 –, oder bohemisierten ihre Namen. Anton Engel (1879–1958) reichte bei öffentlichen Wettbewerben seine Projekte als Antonín Engel ein, aus denselben Gründen änderte Ernst Mühlstein (1893–1961) seinen Vornamen auf Arnošt. Zusammen mit Victor Fürth (1893–1986), seinem Mitschüler aus Kotěras Architekturschule, baute Mühlstein eine Reihe von funktionalistischen Gebäuden, u. a. das Kaufhaus Te-Ta in der Jungmann-Strasse oder den als Molochov bekannten Wohnungskomplex im Viertel Letná. Die ironische Bezeichnung, abgeleitet von dem gnadenlos verschlingenden biblischen Moloch und mit einem russifizierenden Suffix versehen, ist in den 1950er Jahren entstanden, als dort führende kommunistische Funktionäre wohnten, 1955–1962 mit Aussicht auf das Stalindenkmal. 1938 waren beide Architekten emigriert, ebenso wie Leopold Ehrmann (1887– 1951), nach dessen Projekt der österreichische Grossunternehmer Franz Ringhoffer – seine Vorfahren hatten die Ringhoffer-Tatra-Werke AG gegründet – die im maurischen Stil errichtete Synagoge von Smíchov zu einem einzigartigen funktionalistischen Gebetshaus umbauen ließ.16 Wien änderte sich ebenfalls grundlegend. In den 1920er Jahren ließ die sozialdemokratische Stadtverwaltung außerhalb des imperialen historischen Zentrums mit dem Karl-Marx-Hof ein neues, modern ausgestattetes Bauwerk errichten, in dem sich ein am internationalen Funktionalismus orientierter Stil durchsetzte. Wien, das sich von seiner Vergangenheit lossagen wollte, ging mit der Zeit, und beide Städte sind einander wieder näher gekommen: Der Architekt des roten Wien Hugo Gessner baute in Prag-Vysočany für die Firma Odkolek eine Brotfabrik samt Bürogebäude, Heinrich Fuchs das heute umgebaute Palais Juta in der Štěpánská-Strasse, Friedrich Ehrmann am Wenzelsplatz das Gebäude der Versicherungsanstalt Phoenix, das im Jahr 1930 feierlich eröffnet wurde mit einer der weltweit ersten Ausstellungen jüdischer Kunst. 14 15
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Jože Plečnik 1872 Laibach–1957 Laibach) – Schüler Otto Wagners, nach 1920 mit dem Umbau der Prager Burg und des Schlosses von Lány beauftragt. Josef Zasche (1871 Gablonz–1957 Schackensleben), Schüler von Karl von Hasenauer, Architekt des Gebäudes des Wiener Bankvereins in Prag (1908), projektierte dort zusammen mit Jan Kotěra 1912–1914 das Palais der Pensionsanstalt und die Juristische Fakultät, mit Pavel Janák das Palais Adria (1922). Als einer der bedeutendsten deutschen Prager Architekten wurde er 1945 trotz Protesten seiner Kollegen vertrieben. Seit 1941 diente das Gebäude als Sammelstelle für konfiszierten jüdischen Besitz, nach 1945 wurde es als Lagerraum der verstaatlichten, auf ČKD Tatra Smíchov umbenannten Ringhoffer-Werke benutzt.
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Malerei und Graphik Doch auch für deutsche Maler und Graphiker, deren Metier unabhängiger von öffentlichen Aufträgen und vor allem von der Sprache ist, waren die Umstände nicht viel günstiger. Etliche in der Monarchie gegründete Vereine existierten zwar weiter, wie z. B. der Kunstverein für Böhmen (1835), die Moderne Galerie samt ihrer deutschen Sektion (1902) oder der 1903 gegründete Verein deutscher bildender Künstler in Böhmen, und es kamen noch neue dazu, wie die von Maxim Kopf im Jahr 1919 gegründete Pilgergruppe17, die deutsche Künstler in der Tschechoslowakei unterstützen sollte. Ein ähnliches Ziel setzte sich auch der im gleichen Jahr 1919 von Karl Krattner geleitete Metznerbund, der außerdem noch bemüht war, einen Kreis von Mäzenen und Gönnern heranzuziehen, die die deutsche Kunst in der Tschechoslowakei moralisch und finanziell unterstützen sollten. Wie kritisch die Situation war, deutet auch der Name des in jenem Jahr verstorbenen deutsch-böhmischen Bildhauers Franz Metzner (1870–1919) im Titel des Vereins an. Als Professor der Wiener Kunstgewerbeschule, Autor der Plastiken des Leipziger Völkerschlachtdenkmals (1905) und zahlreicher weiterer berühmter Werke galt er für die deutsch-böhmischen Künstler als Vorbild. Vergleichbaren Erfolg im deutschen Sprachraum zu erreichen, ist nur wenigen gelungen – z. B. dem in Leitmeritz geborenen und im oberösterreichischen Zwickledt lebenden Alfred Kubin (1877–1959), dem bei Franz von Stuck in München geschulten und in Berlin tätigen Emil Orlik (1870–1932) oder Wenzel Hablik (1881–1934), der im schleswig-holsteinischen Itzehoe die ziemlich bekannte Textilmanufaktur Hablik & Lindemann leitete und auch Mitglied der utopistischen architektonischen Gruppe Gläserne Kette war. Diese im Ausland tätigen Künstler blieben weiterhin in Verbindung mit Prag und ihre Beteiligung an den Ausstellungen erhöhte das Prestige deutscher Vereine. An der zunehmenden Isolation, in die die deutsche Kunst in Prag geriet, konnte das jedoch nicht viel ändern. Kontakte mit dem Ausland, vor allem mit Paris und auch mit dem deutschen Bauhaus, pflegte jedoch die tschechische Avantgarde (Karel Teige, Jindřich Štyrský, Toyen [Marie Čermínová], Josef Šíma u. a.), die Verbindung mit Wien, Berlin oder München erhielten vor allem jüdische Künstler wie Emil Orlik, Hugo Steiner Prag, Friedrich Feigl und Maxim Kopf aufrecht. 18 17
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Zu den Mitgliedern gehörten vorwiegend Absolventen von August Brömses deutscher Klasse an der Prager Kunstakademie – wie u. a. Joseph Hegenbarth, Leo Sternhell und Julius Pfeiffer – sowie Mary Duras, Schülerin von Emil Orlik und Jan Štursa. Maxim Kopf (1892 Wien–1958 New York) studierte an der Prager Akademie bei Franz Thiele, Karl Krattner und August Brömse und anschließend in Dresden bei Otto Gussmann. Nach dem Studium ließ er sich zusammen mit seiner Frau, der Bildhauerin Mary Duras, in Prag nieder, wo er zu den agilsten deutschen Künstlern gehörte: 1919 befand er sich unter den Gründern der Pilgergruppe, 1928 beteiligte er sich an der Gründung der Gruppe Junge Kunst und im gleichen Jahr gründete er die Prager Sezession. Nach dem Münchner Abkommen emigrierte er nach Paris, von wo es ihm gelang, im Jahr 1941 über Marokko in die USA zu flüchten, wo er die Journalistin Dorothy Thompson heiratete. Obwohl für die 1920er und 1930er Jahre von großer
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Zum zehnten Jahrestag der Tschechoslowakei im Jahr 1928 wurde in Brünn eine großartige Jubiläumsausstellung veranstaltet. Doch neben der Begeisterung kamen auch soziale und politische Probleme und innere Spannungen des jungen Vielvölkerstaats zum Vorschein. Vor allem die in der ČSR tätigen deutschen Künstler waren unzufrieden mit den zugeteilten Räumen und fühlten sich benachteiligt. Um diese Situation zu ändern, gründete noch in jenem Jahr der von einer Tahiti-Reise zurückgekehrte, in Wien geborene deutsch-jüdische Maler Maxim Kopf in Prag die Künstlergruppe Prager Sezession. Dieser sowohl deutschen als auch tschechischen und deutsch- oder tschechisch-jüdischen Künstlern offenstehende Verband sollte nationale Zwistigkeiten überbrücken und den Geist des längst vergangenen Landespatriotismus wieder beschwören. Die einmalige Tätigkeit der Prager Sezession19, die in den 1930er Jahren Werke der in Deutschland bereits als entartet ausgegrenzten Künstler wie Oskar Kokoschka oder Paul Klee ausstellte, wurde aber eher von der tschechischen Avantgarde (Josef Čapek) rezipiert. Die von der Generation der Jahrhundertwende auf übernationaler künstlerischer Ebene aufgenommenen Kontakte zu Wien wurden in den 1920er und 1930er Jahren weitergeführt. Im Jahr 1928 fand im Prager Gemeindehaus eine den historischen Kontext berücksichtigende Ausstellung österreichischer Kunst statt. Nach zehn Jahren, in denen sich beide Nachfolgestaaten auseinanderentwickelt hatten, konnte der in Prag geborene Kunsthistoriker und -kritiker Hans Karl Tietze (1894–1954 New York), ein Schüler Franz Wickhoffs und Alois Riegls und Freund Max Dvořáks, feststellen, dass die österreichische Kunst im Vergleich mit der tschechischen »national nicht so stark ausgeprägt« sei, denn ihre Besonderheit bestehe in einem »Schritt vom Lokalen direkt zum Internationalen«, und Gustav Klimt »beriefe sich eher auf eine Geistes- als auf eine Blutsverwandtschaft«.20 Im Unterschied zu Böhmen und seiner mehr als hundertjährigen emanzipatorischen Tradition war es für Österreich viel schwieriger, eine eigene Identität aufzubauen. Aus diesem Grund wurde
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Bedeutung, muss sein Lebenslauf heute mühsam rekonstruiert werden. Eine der wichtigsten Quellen entdeckte Tomáš Pospiszyl in der Syracuse University Library. Im Nachlass von Dorothy Thompson befand sich Kopfs Tagebuch, aus dem der folgende Abschnitt von Tomáš Pospiszyl aus dem Englischen übersetzt wurde: Maxim KOPF, Odpusťte, že žiju [Verzeiht mir, dass ich lebe], in: Revolver Revue 49 (2002), 178–212. Zu den Mitgliedern gehörten z. B. Friedrich Feigl (1884 Prag–1965 London), der gute Beziehungen zur tschechischen Avantgarde hatte; Mary Duras (1898 Wien– 1982 Prag), eine der begabtesten Schülerinnen des Bildhauers Jan Štursa, die in Dresden bei Oskar Kokoschka studierte und mit ihrem Ehemann Maxim Kopf drei Jahre in Paris verbrachte; Willi Nowak (1886–1977), der 1908 und 1909 an den beiden expressionistischen Ausstellungen beteiligt war, initiierte 1911 zusammen mit Friedrich Feigl eine Ausstellung der Dresdner Brücke in Prag, unterhielt Kontakte mit Malern des Münchner Blauen Reiters und übernahm nach Krattners Tod dessen deutsche Klasse an der Akademie. Das deutsche Blatt »Die Zeit« prangerte ihn schon 1934 als Verräter der deutschen Nation an, die Jahre 1938 bis 1945 verbrachte er zurückgezogen. Übersetzt nach Hans TIETZE, Rakouští umělci, in: Volné směry XXVI (1928), 172.
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die Ausstellung für Prag eher retrospektiv und mit Hinsicht auf gemeinsame Referenzpunkte konzipiert, auf das bereits abgeschlossene Werk Gustav Klimts, dessen Todesjahr 1918 im wahrsten Sinne des Wortes ein Symbol für den Untergang der Monarchie war, und auf dessen expressionistischen Nachfolger Egon Schiele, ein Opfer der 1919 ausgebrochenen Spanischen Grippe. Die Gegenwartskunst wurde von expressionistisch ausgerichteten Malern wie Oskar Kokoschka oder Georg Ehrlich präsentiert. Im folgenden Jahr 1929 fand eine Gastausstellung der neben der Sezession bedeutendsten Wiener Künstlervereinigung, des Hagenbunds, statt. Eingeladen wurde der Hagenbund von dem 1887 gegründeten Mánes-Verein, dessen erste Ausstellung im Jahr 1901 beim Hagenbund im Wiener Künstlerhaus zustande gekommen war. Die Hagenbundausstellung, wiederum von Hans Tietze erläutert, bot mehr Gelegenheit, um Vergleiche zu ziehen: »was diese Kunst von der deutschen unterscheidet und ihr einen besonderen Akzent verleiht«, meinte František Kovárna, »ist die größere Bereitschaft Wiens, französische Einflüsse aufzunehmen, […] die Neue Sachlichkeit ist im Gegenteil wiederum ein Berührungspunkt zwischen der deutschen und österreichischen Malerei.«21 Im Vergleich mit der österreichischen Kunstszene, in der avantgardistische Impulse eher eine Randerscheinung waren, waren im experimentierfreudigen Prag praktisch alle europäischen Kunstrichtungen vertreten, vom Surrealismus und seiner einheimischen Variante des Poetismus – Jindřich Štyrský, Toyen, František Muzika – über einen Bauhaus-Funktionalismus – Karel Teige, Ladislav Sutnar, Zdeněk Pešánek – bis hin zu neorealistischen – Rudolf Kremlička –, religiös-symbolistischen – Jan Zrzavý, Bohuslav Reynek, František Bílek –, neomystischen – Josef Váchal – und sozialkritischen und neusachlichen – Antonín Procházka – Tendenzen. In diesem inspirativen Klima entwickelte sich auch das keiner dieser stilistischen Kategorien zuzuordnende Werk Josef Čapeks (1887–1945). Noch eine internationale Ausstellung von großer Bedeutung fand statt – die von der Prager jüdischen Gemeinde initiierte Erste Weltausstellung jüdischer Kunst, die im Jahr 1930 im neu eröffneten Palais der Versicherungsanstalt Phönix auf dem Wenzelsplatz veranstaltet wurde. Sie war eine Antwort auf den wachsenden Antisemitismus, ein kühner Versuch, die noch nicht beschriebene und im Vergleich mit der Literatur junge jüdische bildende Kunst vorzustellen. Zu diesem Zweck wurden aus ganz Europa Werke jüdischer Künstler – von Anton Raphael Mengs über Max Liebermann bis zu Emil Orlik, Friedrich Feigl oder Marc Chagall – nach Prag geholt. Über die Frage, warum gerade Prager deutsch-jüdische Künstler wie z. B. Maxim Kopf sich weigerten, ihre Werke auszustellen, kann leider nur spekuliert werden. In der kosmopolitischen Atmosphäre der Avantgarden könnte die Ausstellung als ein Schritt zurück zum 21
Übersetzt nach -RNA [= František KOVÁRNA], Hagen v Praze, in: Volné směry XXVII (1929–1930), 139.
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Nationalismus des 19. Jahrhunderts aufgenommen worden sein, andererseits konnte man damit ungewollt antisemitischen Hass hervorrufen. Trotz des zweifellos demokratischen Geistes der Ersten Republik musste sich die jüdische Minderheit mit einer Reihe von Problemen auseinandersetzen. In der allgemeinen Begeisterung wurden Juden nach 1918 oft für Deutsche gehalten und von Deutschen wurden sie wiederum wegen ihres Judentums abgelehnt. Dennoch, oder, besser gesagt, gerade deshalb erfüllten sie eine außerordentlich bedeutende Aufgabe als Vermittler zwischen beiden Sprachgemeinschaften: »Die Prager Juden waren eine besondere Art von Menschen, Mystiker; sie legten die Kabbala aus und glaubten an den Golem. Die neuösterreichische Literatur ist ausschließlich von Prager und Brünner Juden geschaffen. Sie waren in Österreich im Josephinischen Geist der Humanität erzogen; heute sind sie in der Tschechoslowakei ausgerottet. Sie hingen am Staatsschiff mit Treu und Glauben wie an der Arche Noah. Das Schiff war nicht seetüchtig«22, schreibt Oskar Kokoschka, der als »entartet« in den Jahren 1934 bis 1938 in Prag Zuflucht fand. Der Beitrag, den jüdische Künstler und Schriftsteller zur Kultur der Ersten Republik leisteten, ist immens. Vor allem das literarische Werk Franz Kafkas (1883–1924) und des um ihn entstandenen Schriftstellerkreises wurde zum Inbegriff des so genannten »deutschen Prags« – einer historisch zwar unkorrekten, aber in der Literaturgeschichte inzwischen verinnerlichten Bezeichnung für die Blütezeit deutschsprachiger Prager Literatur in den Jahren 1918 bis 1938/1939. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Ende dieses »deutschen Prags« mit dem Einzug deutscher Wehrmachtstruppen am 15. März 1939 eingetreten ist. Die Zwischenkriegsavantgarde war also übernational orientiert und ihre innere Gliederung entsprach eher der Zugehörigkeit zu bestimmten Kunstrichtungen als zu einer Nationalität. Unter diesen Umständen trat die deutsch-böhmische Kunst, die schon seit dem 19. Jahrhundert von einem Verlust an Talenten betroffen worden war, den Weg zum konfliktlosen Konservativismus an und igelte sich – trotz sprachlicher Fähigkeiten für Auslandskontakte – in einer provinziellen Heimatkunst ein, die wiederum den Nährboden für spätere Racheakte vorbereitete.23 Es gab jedoch Ausnahmen: Willi Nowak (1886–1977) oder Alfred Justitz (1879– 1934) entkamen dieser Gefahr, indem sie sich der tschechoslowakischen Kunstszene anschlossen. Mit dem Ausland, mit Paris und überraschenderweise auch mit dem Bauhaus, verkehrte die tschechische Avantgarde 22 23
Oskar KOKOSCHKA, Mein Leben, München 1971, 241. Meist handelte es sich um Künstler, die aus deutschsprachigen Grenzgebieten oder deutschen Sprachinseln stammten, wie z. B. der Maler und Grafiker Heinrich Hönich (1873–1957), Schüler Max Pirners an der Prager Akademie, dort seit 1928 einer von den drei deutschen Professoren bis 1945, dann vertrieben; Ferdinand Staeger (1880 Třebíč–1976 Waldkraiburg), ein von Hitler hochgeschätzter Maler und Grafiker; der Maler und Grafiker Richard Müller (1874–1954), 1900 zum Professor und 1933 zum Rektor der Dresdner Akademie ernannt, von Hitler 1944 auf die Gottesbegnadetenliste gesetzt.
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(Teige, Štyrský, Šíma), Verbindungen mit früheren Kulturzentren (Wien, Berlin, Dresden) hielten vor allem deutschjüdische Künstler aufrecht. Der literaturhistorische Begriff »deutsches Prag« ist erst in den 1960er Jahren entstanden, als dieses Prag schon längst nicht mehr existierte. Geprägt wurde er vom Prager Germanisten Eduard Goldstücker (1913– 2000), der mit der 1963 veranstalteten Kafka-Konferenz den zum Prager Frühling führenden Liberalisierungsprozess einleitete, und wurde dankbar aufgenommen als nostalgische Erinnerung an einen unwiderruflich vergangenen, relativ ruhigen, aber sehr kurzen Zeitabschnitt in der konfliktreichen Geschichte deutsch-tschechischer Beziehungen. Verständlicherweise enthält er deshalb ein beträchtliches Maß an Idealisierung, bei der von der traditionellen und im 19. Jahrhundert sogar institutionalisierten Rivalität zwischen Deutschen und Tschechen abgesehen wird. Dieses »deutsche Prag« war aber – wenigstens zu Kafkas Zeiten – eine isolierte Kulturenklave, eine Sprachinsel, die erst durch die zahlreichen Emigranten in den Jahren 1933 bis 1939 zu einem der bedeutendsten Zentren europäischer Kultur aufgestiegen ist.24 Als wäre die Geschichte eine gewisse Zeit lang in die entgegensetzte Richtung gelaufen – nach tausendjährigen Konflikten und Kämpfen bot das tschechische bzw. tschechoslowakische Prag deutschen und österreichischen Flüchtlingen Zuflucht. Zu den bekanntesten deutschen Schriftsteller-Emigranten gehörten die Brüder Mann. Thomas Mann wurde von der Kleinstadt Skuteč nad Sázavou und Heinrich Mann von Reichenberg das Heimatrecht angeboten. Neben einer in deutscher Sprache schreibenden jüdischen Minderheit lebte in Prag auch eine tschechische, zu der z. B. Julius Zeyer, Richard Weiner, Ivan Olbracht, Jiří Orten, Ota Pavel, Ludvík Aškenázy oder Karel Poláček gehörten. Deutsch-jüdische Autoren gab es so viele, dass nur eine Auswahl angeführt werden kann: Friedrich Adler, Paul Adler, Rudolf Altschul, Max Brod, Ernst Feigl, Rudolf Fuchs, Hermann Grab, Willy Haas, Egon Erwin Kisch, Paul Leppin, Fritz Mauthner, Gustav Meyrink, Hugo Salus, Walter Serner, Hermann Ungar, Johannes Urzidil, Melchior Vischer, Franz Carl Weisskopf, Ernst Weiss, Felix Weltsch, Franz Werfel oder Ludwig Winder. Nicht alle wurden sie in Prag geboren, manche von ihnen sind nach 1918 ins deutsche Ausland gegangen, aber kehrten nach 1933 als Asylanten zurück und trugen dazu bei, dass in dieser von jeher kosmopolitischen Stadt die intellektuelle Elite Europas zusammentraf. Mit jedem der angeführten Namen ist ein tragisches Schicksal verbunden. Von den Schriftstellern überlebten den Weltkrieg nicht einmal all jene, denen es gelang, bis März 1939 zu emigrieren.25 Ernst Weiss 24 25
Vgl. Peter BECHER/Peter HEUMOS (Hg.): Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933–1939, München 1992. Rudolf Altschul (1901), Arzt und Schriftsteller, starb 1963 in Kanada; Franz Kafkas nächster Freund Max Brod (1884) starb 1968 in Tel-Aviv; der Dichter und Übersetzer tschechischer Literatur Rudolf Fuchs (1890) starb 1942 in London; Hermann Grab (1903), Komponist aus dem Arnold-Schönberg-Kreis und Freund von Theodor Adorno, starb 1943 in New York; der Reporter Egon Erwin Kisch (1885)
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(1882), der zum engen Freundeskreis um Franz Kafka gehörte, verübte nach Hitlers Einmarsch Selbstmord in einem Pariser Hotelzimmer. Der in Karlsbad geborene Walter Serner, in jungen Jahren Dadaist und Mitarbeiter Tristan Tzaras, später Verfasser Aufsehen erregender Kriminalgrotesken, emigrierte mit seiner Frau 1938 nach Prag, von wo sie weiter nach Shanghai reisen wollten. Die Nazis waren jedoch schneller, das Ehepaar wurde verhaftet und beide in einem Vernichtungslager ermordet. Um sich eine Vorstellung von den Verhältnissen zu machen, sei darauf hingewiesen, dass diese einmalige, als »deutsches Prag« bezeichnete Kulturleistung von Prager jüdischen Intellektuellen vorbereitet und zum größten Teil auch vollbracht wurde, die meistens assimiliert, getauft oder auch konfessionslos waren, bis 1933 ihr Judentum oft gar nicht reflektierten und eigentlich nur einen Bruchteil der sechsprozentigen deutschen Minderheit darstellten.26 Das deutsche Prag 1933–1938 als das »andere« Deutschland Nachdem 1933 in Deutschland Hitler die Macht übernommen und im folgenden Jahr 1934 in Österreich der Weg in den Austrofaschismus angetreten wurde, wurde Prag zum Zufluchtsort einer Reihe von Schriftstellern, bildenden Künstlern, Politikern und Journalisten. Diesen Emigranten, die Goebbels als »Tote auf Urlaub« bezeichnete, wurde in Prag nicht nur politisches Asyl gewährt, sondern – in Bezug auf seine langjährige Kulturtradition – auch ein günstiges sprachliches Umfeld. In den 1930er Jahren hielten sich in der Tschechoslowakei an die 10.000 deutsche und österreichische Emigranten auf. Um deren Bedürfnisse – Ausstellung von Reisepässen und Visa, Unterkunft, Gesundheitspflege, Schulunterricht für die Kinder – kümmerten sich zahlreiche Organisationen und Vereine, so die tschechische Liga für Menschenrechte, das Komitee für sudetendeutsche Flüchtlinge, das Komitee für demokratische Flüchtlingshilfe, das jüdische Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge oder das von František Xaver Šalda gegründete Flüchtlingskomitee im Palais Phönix am Wenzelsplatz. In Prag erschienen in den Jahren 1933 bis 1939 in Deutschland eingestellte Zeitungen, die nicht nur Leser fanden, sondern auch
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verbrachte den Zweiten Weltkrieg in Mexiko und starb 1948 in seiner Heimatstadt Prag; Johannes Urzidil (1896), Schriftsteller, Ästhetiker und Journalist, der zusammen mit Max Brod, Franz Werfel, Felix Weltsch und Ludwig Winder zu Kafkas nächsten Freunden gehörte, starb 1970 in Rom; Melchior Vischer (1895), Schriftsteller und Regisseur, verbrachte die Kriegsjahre in der Illegalität in Berlin, wo er 1975 starb; Franz Carl Weiskopf (1905) starb 1955 in Berlin-Ost; Felix Weltsch (1884) starb 1964 in Jerusalem; Franz Werfel (1890) floh zusammen mit seiner Frau Alma Mahler und der Familie von Heinrich Mann aus Frankreich über die Pyrenäen nach Spanien und von dort nach Beverly Hills, wo er 1945 gestorben ist. Der Volkszählung von 1930 nach haben sich in Prag 12.735 Einwohner zur jüdischen Nationalität bekannt; Rudolf M. WLASCHEK, Juden in Böhmen. Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 66), München 21997, 86.
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heimlich wieder in Deutschland verbreitet wurden. Seit März 1933 wurde dort das Wochenblatt AIZ (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung) mit Fotomontagen von John Heartfield publiziert, über deutsche Literatur berichteten die »Neuen Deutschen Blätter«, die deutschen Sozialdemokraten gaben »Das Neue Vorwärts« und die Kommunisten »Die Rote Fahne« heraus. Außer John Hartfield weilte im Prager Asyl auch dessen Bruder Wieland Herzfelde (1896–1988), der 1935 in seiner engen Einzimmerwohnung nicht nur die Redaktion der »Neuen Deutschen Blätter« unterbrachte, sondern vor allem seinen Malik-Verlag, in dem bis 1939 an die fünfzig deutsche Buchtitel erschienen sind, als letzter Willi Bredels »Begegnung am Ebro. Aufzeichnungen eines Kriegskommissars«. Beachtenswert war auch die Zusammenarbeit tschechischer und deutscher Dramatiker und Schauspieler. Im Mai 1936 spielten sie im Ständetheater gemeinsam das aus der Zeit der tschechischen nationalen Wiedergeburt stammende Drama »Čech a Němec« von Jan Nepomuk Štěpánek, als sollte damit die unwürdige Affäre von 1920 wieder gut gemacht werden, bei der das Ständetheater von tschechischen Schauspielern besetzt worden war. Trotz Asylrechts waren die deutschen Emigranten jedoch ständig gefährdet. Am 30. August 1933 wurde in Marienbad der deutsche Philosoph Theodor Lessing erschossen. Am 22. Januar 1935 wurde Rudolf Formis, Mitarbeiter von Otto Strasser, ermordet. Er hatte die von Strasser in der ČSR herausgegebene antifaschistische Zeitung »Die Deutsche Revolution (Europäische Blätter der Dritten Front)« heimlich in Deutschland verbreitet und außerdem in einem Hotelzimmer in Záhoří bei Prag ein Funkgerät betrieben, das vom deutschen Geheimdienst aufgespürt worden war. Gegen deutsche Emigranten wurden auch offizielle Protestnoten eingereicht: im April 1934 organisierte der Mánes-Verein eine Internationale Karikatur-Ausstellung, an der u. a. John Heartfield, Eric Godal oder der für den berühmten »Simplicissimus« zeichnende Thomas Theodor Heine beteiligt waren. Den Protesten des Dritten Reiches schloss sich neben Österreich und Italien auch die tschechische Rechte an. Nach 1933 kehrten zahlreiche in Prag oder anderswo in Böhmen geborene Deutsche zurück, die seit 1918 in Deutschland oder Österreich gelebt hatten. Zu den bekanntesten unter ihnen gehörten der rasende Reporter Egon Erwin Kisch (1885–1948), Franz Carl Weiskopf (1900– 1955), Chefredakteur der AIZ, der in Prag den Roman »Die Versuchung« geschrieben hat, oder Willy Haas (1891–1973), der zusammen mit Otto Pick (1887–1940) »Die Welt im Wort« und die »Literarische Welt« herausgegeben hat. Außer John Heartfield, Erich Godal oder Thomas Theodor Heine befanden sich im Prager Asyl auch der österreichische Maler Oskar Kokoschka (1886–1980); Hugo Steiner-Prag (1880–1945), der Illustrator des berühmten Romans von Gustav Meyrink »Der Golem«, kehrte aus München zurück und gründete in Prag die staatliche Grafikschule »Officina Pragensis«; aus Berlin flüchtete nach Prag Friedrich Feigl (1884–1965); aus Paris kam Georges Kars (1882–1945) zurück.
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Nach der austrofaschistischen Machtergreifung flüchtete nach Prag auch die ehemalige Bauhausschülerin Friedl Dicker (1889–1944), die zusammen mit Franz Singer in Wien ein erfolgreiches funktionalistisches Wohn- und Textilstudio betrieben hatte. Um sie als Jüdin zu schützen, heiratete sie der tschechische Beamte Pavel Brandeis. Im Jahr 1942 wurden jedoch beide verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Dort gab Friedl Dicker-Brandeis traumatisierten Kindern Zeichenstunden und trat mit ihnen im Jahr 1944 freiwillig den Transport nach Auschwitz an. Auf einem Dachboden in Theresienstadt wurden nach Kriegsende Koffer mit an die 5000 Kinderzeichnungen gefunden, die unter ihrer Leitung entstanden waren (heute im Prager Jüdischen Museum). Das Ende des deutschen Prag Im Hinblick auf das Jahrhunderte andauernde konfliktreiche Zusammenleben von Tschechen und Deutschen stellt die Zeitspanne 1933 bis 1939 einen außergewöhnlichen Zeitabschnitt dar. Sein tragischer Ausgang mit der Besetzung Prags am 15. März 1939 war jedoch nicht nur das Ergebnis äußerer Umstände, sondern wurde auch von innen vorbereitet. An der deutschen Universität27 nahmen Anfang der 1930er Jahre Sympathien für den Nationalsozialismus zu. Am 10. März 1939, also fünf Tage vor Hitlers Einmarsch, wurde im Karolinum die Prager NSDAP-Organisation gegründet und fünf Monate später wurde die Karlsuniversität dem Hochschulwesen im Dritten Reich untergeordnet. Am 28. Oktober 1939, dem Jahrestag der Entstehung der Tschechoslowakei, fanden in Prag Demonstrationen statt, bei denen der Medizinstudent Jan Opletal von der deutschen Polizei erschossen wurde. Der Trauerzug, der am 15. November seinen Sarg auf dem Weg zum Bahnhof begleitete, wuchs zu einer Demonstration an, auf die Adolf Hitler am 16. November mit der Schließung sämtlicher tschechischer Hochschulen im Protektorat Böhmen und Mähren reagierte. Am folgenden 17. November 1939 überfiel ein SS-Kommando die Studentenheime, verhaftete an die 1500 Studenten und schickte ca. 1300 von ihnen in das KZ Sachsenhausen. Die deutsche Universität war von dieser Maßnahme nicht betroffen, sondern existierte bis zur Ankunft der Sowjets weiter und wurde erst im Oktober 1945 aufgelöst. Dem deutschen Volk war der deutschen Propaganda zufolge eine historisch deutsche Stadt wiedergegeben worden, aber für das »deutsche Prag« bedeutete dies paradoxerweise das Ende. Die Deutsch-Böhmen, die in Prag geblieben waren, wurden – meistens entgegen ihrer eigenen Erwartungen – als Volksgenossen zweiten Ranges behandelt.
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Jindřich BEČVÁŘ/Jan HAVRÁNEK/Zdeněk POUSTA (Hg.), Dějiny Univerzity Karlovy, Bd. IV, 1918–1990, Praha 1998, 41f.
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Der Historiker als Prophet? Die Zukunftsvisionen in der österreichischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit I. Einleitung »Mancher Leser wird lächelnd fragen: Der Historiker als Prophet? Ja, wer denn sonst? Die in der Gegenwart befangenen Zeitgenossen sind noch immer von den großen Wendungen überrascht worden, die ihnen eben noch als undenkbar galten. Und der handelnde Staatsmann kann nicht die Zukunft enträtseln; ihn ruft das Gebot der Stunde.«1
Dieses Zitat stammt aus Harald Steinackers Text »Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung« aus dem Jahr 1931. Er stellt jedoch in der damaligen österreichischen Geschichtswissenschaft keine Ausnahme dar. Liest man die vielfältigen Texte der damaligen »professionellen« österreichischen Historiker2, findet man überraschenderweise ziemlich viele Textstellen, die sich entweder direkt zur Gegenwart äußerten oder sogar die Frage der Zukunft und ihrer Ausgestaltung zum Thema machten. Dieser Beitrag3 versucht nicht nur diese Textstellen zu eruieren, sondern er fragt darüber hinaus nach ihrem Ort und ihrer Funktion im damaligen Geschichtsnarrativ. Ich vertrete die These, dass dieses auf den ersten Blick für einen Historiker ziemlich seltsame Interesse in keinem Falle als etwas Unwichtiges abzutun ist, sondern dass es ermöglicht, die innere Struktur des Geschichtsdiskurses zu erhellen. Methodologisch ist diese Vorgehensweise nicht nur durch die Foucault’sche Frage nach den Regeln des Formationssystem eines Diskurses abgedeckt4, 1
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Harold STEINACKER, Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, in: DERS., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn–München– Wien 1943, 89–110, hier 97. Als solche bezeichne ich für diese Zwecke jene Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte professionell beschäftigten, das heißt, meistens die habilitierten Universitätshistoriker. Der Beitrag stellt die ergänzte Übersetzung eines Kapitels meines Buches über die österreichische Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit dar: Ota KONRÁD, Německé bylo srdce monarchie … Rakušanství, němectví a střední Evropa v rakouské historiografii mezi válkami [Deutsch war das Herz der Monarchie … Österreichertum, Deutschtum und Mitteleuropa in der österreichischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit], Praha 2011; vgl. aktuell auch: DERS., Nevyvážené vztahy. Českoslovenko a Rakousko 1918–1933 [Unausgeglichene Beziehungen. Die Tschechoslowakei und Österreich 1918–1933], Praha 2012. Michel FOUCAULT, Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main 1981, 156.
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sondern auch durch die Deutung der historiographischen Texte als eine Aussage, die nicht nur, oder nicht in erster Linie inhaltlich, sondern auch stilistisch von Interesse ist, wie es von Hayden White vertreten wurde.5 Darüber hinaus versuche ich zu zeigen, dass das Interesse der (deutsch-)österreichischen Historiker für die Zukunft sowohl mit der damaligen Deutung der Geschichtsschreibung als auch mit der Deutung der österreichischen Geschichte eng zusammenhing. Die Art und Weise, in der die österreichische Geschichtsschreibung in diesem Text gedeutet ist, steht in gewissem Unterschied zu der bisherigen Forschung.6 Diese konzentrierte sich nämlich vorwiegend entweder auf den biographischen Zugang oder es wurden die einschlägigen Texte vom Gesichtspunkt ihrer positiven Aussage her gedeutet – oftmals in einem engen Verhältnis zu den politischen Einstellungen der Autoren. Es wurden daher die Historiker in die – zahlreiche – Gruppe der deutschnationalen und in die kleinere Gruppen der österreichischkatholischen bzw. marxistischen Geschichtsschreiber eingeteilt.7 Obwohl ich die Relevanz der politischen und ideologischen Einstellungen für das Geschichtsschreiben nicht bestreiten will, kann man die Textdeutung auch um die rein strukturellen Momente ergänzen. In einem solchen Fall findet man eher die Unterschiede zwischen den vermeintlich »echten« Historikern einerseits, die sich oftmals im Gegensatz zu den historischen Laien als solche definierten, und andererseits gerade diesen ausgegrenzten Geschichtsschreibern, die als methodologisch, 5 6
7
Hayden WHITE, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991. In letzter Zeit vgl. vor allem: Gernot HEISS, Im »Reich der Unbegreiflichkeiten«. Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996), 455–478; Fritz FELLNER, Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien–Köln–Weimar 2002; Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002; Fritz FELLNER/ Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon, Wien–Köln–Weimar 2006; Manfred STOY, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945, Wien–München 2007; Pavel KOLÁŘ, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, Leipzig 2008; Karel HRUZA (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien–Köln–Weimar 2008; Gernot HEISS, Die »Wiener Schule der Geschichtswissenschaft« im Nationalsozialismus: »Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft«?, in: Mitchell G. ASH/Wolfram NIESS/Ramon PILS (Hg.), Geisteswissenschaft im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 397–426. Zur letztgenannten Gruppe vgl. Günter FELLNER, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konfliktes, Wien–Salzburg 1985; Ernst HANISCH, Otto Bauer als Historiker, in: Erich FRÖSCHL/Helge ZOITL (Hg.), Otto Bauer (1881–1938). Theorie und Praxis. Beiträge zum Wissenschaftlichen Symposion des Dr. Karl Renner-Instituts vom 20. bis 22. Oktober 1981 in Wien, Wien 1985, 193–204.
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sozial und politisch verdächtigt schienen und daher auch von ihrer Zunft bewusst missachtet wurden und meistens unrezipiert blieben. Es war unter anderem auch das Interesse für die Zukunft, welches – obwohl es auf den ersten Blick paradox klingen mag – zu einem festen und logisch kohärenten Bestandteil jenes »seriösen« Geschichtsdiskurses geworden ist. Die Zukunft war auch deswegen von Interesse, weil die (nationale) Gegenwart hoffnungslos erschien. Da jedoch die (nationale) Legitimationsfunktion zum Selbstverständnis der damaligen professionellen Geschichtsschreibung gehörte, wurden die historischen Argumente nicht zur Verteidigung des gegenwärtigen Zustandes, sondern dazu benutzt, die vorausgesetzte glückliche Zukunft zu gestalten. Der Geschichtsverlauf, welcher in den Texten von Historikern wie Heinrich von Srbik, Harold Steinacker oder Raimund Kaindl dargestellt wurde, sollte daher nicht in der eigenen Gegenwart, sondern in Zukunftsvorhersagen gipfeln. Die Zukunft wurde im Gegensatz zur unerfreulichen nationalen Gegenwart konstruiert. Aus der Gegenwart wurde auf diese Weise nur eine Episode, ein »Stolpern« der deutschen Geschichte, die zur gesamtdeutschen Einheit hinführen würde. Wie wurden jedoch von den Historikern diese Zukunftsvorhersagen theoretisch begründet? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ohne die »Philosophie der Geschichte« bzw. ohne ihr Geschichtsverständnis zu verstehen. II. Das Geschichtsverständnis Die Historiker im Allgemeinen gehören zweifellos nicht zu den Autoren irgendwelcher kühnen theoretischen Konzepte. Eine solche Feststellung galt auch für die österreichischen Historiker der Zwischenkriegszeit. In Folge der prägenden Wirkung des Wiener Instituts für österreichische Geschichtsforschung sollte ihr Fach- und Wissenschaftsverständnis vor allem durch die Vorstellung der Geschichtsarbeit als einer asketischen, quellennahen Leistung geprägt werden.8 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Fragen nach dem Wesen der Geschichte, nach dem »Sinn der Geschichte« ganz unerwähnt geblieben wären. Historiker wie Srbik oder Steinacker setzten sich mit diesen Fragen zwar überwiegend unsystematisch, dafür jedoch tiefgreifend auseinander. Man kann folglich mehrere Merkmale des damaligen Geschichtsverständnisses und der daraus resultierenden Rolle des Historikers eruieren. Die Geschichte wurde erstens als ein breites Feld gefasst, in 8
Fritz FELLNER, Geschichte als Wissenschaft. Der Beitrag Österreichs zu Theorie, Methodik und Themen der Geschichte der Neuzeit, in: DERS., Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien–Köln–Weimar 2002, 36–144, hier 47. Zum Institut vgl. neben der in der Anm. 6 erwähnten Literatur auch: Peter JOHANEK, Die Erudition und die Folgen. Vom Institut für österreichische Geschichtsforschung und seiner Geschichte, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 113 (2005), 259–268.
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welchem einzelne konkrete Individuen wirkten, deren Handlung einmalig und auf den ersten Blick auch ganz zufällig erscheinen konnte. Darüber hinaus findet jedoch der Historiker auch die in der Geschichte wirkenden Tendenzen. »Im Besonderen«, schrieb Srbik, »aber lebt doch stets auch das Allgemeine, der Geist, der Sinn der Epoche, der die Geschichte über ein bloßes Aggregat von Tatsachen erhebt.«9 »Räume und Völker stehen unter dem Diktat der großen Jahrhunderttendenzen, die noch gewichtiger im geschichtlichen Werden sind als der Genius des größten Einzelmenschen.«10 Diese Ideen verlieren ihre Wirkungskraft nicht. Sie können eher in höhere Synthesen, in andere Ideen dialektisch übergehen. Die Wirkung der Ideen in der Geschichte, welche dem chaotischen Zusammenspiel der menschlichen Handlung einen von dem Historiker ex post feststellbaren Sinn verleihen, gab zugleich auch die Vorstellung über die Kontinuität des Geschichtsverlaufes vor. Sind die Geschichtsereignisse als ein Zusammenspiel der zufälligen, rein individuellen Taten einerseits, und der überindividuellen Geschichtstendenzen andererseits zu deuten, wie z. B. Srbik meinte, sollte der Historiker zuerst die Motive der konkreten Handlung im jeweiligen historischen Kontext analysieren. Diese Verfahrensweise sollte auch die Wissenschaftlichkeit und Objektivität der Forschung gewährleisten, da sie die vergangenen Ereignisse aus ihrer Zeit heraus deutet und nicht durch Anschauungen und Meinungen der Gegenwart verfälscht: Die Voraussetzung jeder Geschichtsforschung liege nämlich darin, »wenn wir von der Vergangenheit her, in die wir uns einleben, die Bewertung der Gegenwart, nicht von der Gegenwart her die Bewertung der Vergangenheit vollziehen.«11 Dieses Geschichtsverständnis bedeutete jedoch zugleich die Absage an die Benutzung der Theorien der Geschichtswissenschaft. Als a priori formulierte Herangehensweise würden sie das Geschichtsmaterial nur fälschen.12 Im Hintergrund dieser Absage an die theoretisch geleitete Forschungspraxis stand daher die Vorstellung über eine prinzipielle Offenheit und Zugänglichkeit der Geschichte. Sie sei einfach da und der Historiker könne dank seines Fleißes, seiner fachlichen Schulung und Erfahrung ihr dazu helfen, in Wahrheit wieder aufzuerstehen. 9
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Heinrich von SRBIK, Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung. Vortrag gehalten in der allgemeinen Sitzung der 57. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Salzburg am 28. September 1929, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930), 1–12, hier 7. Heinrich von SRBIK, Reichsidee und Staatsidee, in: Fritz BÜCHNER (Hg.), Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen, Oldenburg 1932, 66–70, hier 69. SRBIK, Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung, 9. Vgl.: »Unsere Geschichtsauffassung muß wieder national und universal zugleich gerichtet sein, sie muß sich befreien vom dogmatischen Verabsolutieren bestimmter Gedanken in der Geschichte, sei es des Nationalstaatsgedankens, sei es des universalen Gedankens, sei es des Klassenkampfgedankens als Ausflusses des Massenbewusstseins und der Massenbewegung.« SRBIK, Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung, 5.
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Eine solche Deutung der vergangenen Ereignisse in ihrem zeitlichen Kontext stellte jedoch nur die erste Stufe der Geschichtsarbeit dar. Sie wurde zu einer wirklichen Geschichtsschreibung erst durch die Synthese. Der Historiker deutet zwar die Geschichte »aus ihrer Zeit«13, zugleich sollte er jedoch auch die »Wirkungsforschung« durchführen. Srbik fasste zusammen: »so muß auch bei der Betrachtung des deutschen geschichtlichen Handelns Österreichs und Preußens Motivforschung mit Wirkungsforschung Hand in Hand gehen.«14 Diese theoretische Grundannahmen hatten eine wichtige Rolle in Srbiks gesamtdeutschem Konzept. Sie sollten die Politik der Habsburger für die deutsche Geschichte retten: »Hier kommt es nicht auf die Motive, auf die Form, auf die Ideologie der österreichischen Politik an, sondern nur auf die jenen Zeiten vielfach unbewußten politischen Realitäten, denen sie diente […]. Aber wenn auch diese eigene Macht, die Hausmacht, als Selbstzweck behandelt scheint, letzter Zweck war immer Behauptung gegen Frankreich und seinen türkischen Bundesgenossen, d. h. Behauptung des europäischen Gleichgewichts. Und das war gleichbedeutend mit der Unabhängigkeit Mitteleuropas. Diese Aufgabe war Österreich gestellt durch die einfache Tatsache, daß es lange Zeit die einzige Großmacht im mitteleuropäischen Raum war. Es hat ihr gedient, auch wenn sie sich ihrer nur zeitweise und teilweise bewußt war.«15
Diese kurze Darstellung der oftmals indirekt geäußerten, nur vereinzelt bewusst oder programmatisch ausformulierten Voraussetzungen der historischen Arbeit und der Selbstwahrnehmung, die man als historistisches Modell bezeichnen kann, ermöglicht zu verstehen, warum einige der österreichischen Historiker wagten, sich auch mit der Zukunft zu befassen. Sind in der Geschichte tatsächlich die Ideen ausschlaggebend, gibt es keinen Grund zu zweifeln, dass diese Ideen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft am Werke sind und sein werden. Historiker, welche den Anfang kennen, können mit einer gewissen Sicherheit auch über die weitere Entwicklung in der Zukunft nachdenken. In diesem Kontext war auch die gesamtdeutsche Konzeption Srbiks keine rein historische Deutung; sie konnte auch in die Zukunft weisen: »In dem Nebeneinander, Nacheinander und Gegeneinander des universalen, des mitteleuropäischen und des nationalstaatlichen Momentes sehe ich das tiefste Problem der deutschen Geschichte, der Gegenwart und der kommenden Daseinsgestaltung.«16 Noch eindeutiger äußerte sich Steinacker: 13 14 15
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Heinrich von SRBIK, Unmethodische Geschichtsbetrachtung, in: Schönere Zukunft 3 (1927), 104–106, hier 105. Ebd., 106. Harold STEINACKER, Deutschtum und Österreich im Mitteleuropäischen Raum, in: DERS., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn–München– Wien 1943, 246–275, hier 269; Hervorhebung im Original. Heinrich von SRBIK, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, Bd. 1, München 1935, 9.
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»Woher nehmen wir Historiker den Mut, diesen Sieg einer neuen politischen Gesinnung zu prophezeien? Aus den Lehren der Geschichte. Sie zeigt uns, daß die staatlich-politische Gliederung und Machtverteilung in Europa unaufhörlich wechselt, daß dagegen die Gliederung nach Völkern, sobald eine gewisse Stufe erreicht ist, ewig und endgültig ist. Wenn wir also daraus die Forderung ableiten, daß die politische Gliederung sich der volksmäßigen anzupassen hat, auch wenn sich das nicht in der Form von Nationalstaaten durchführen läßt, sondern ganz neue staatliche Formen erheischt, so ist das weder Romantik noch Ideologie, es beruht auf empirischen Realitäten, es ist nüchterner und harter Tatsachensinn.«17
III. Gegenwart und Zukunft Nach diesen einleitenden Bemerkungen zum Thema Historiker und ihre Vorstellungen über die Zukunft kann man nun konkreter auf Textstellen, die auf Gegenwart und Zukunft Bezug nehmen, eingehen. Obwohl man in zeitgenössischen Texten auch Ängste vor der sozialen Entwicklung findet18, wurde die Gegenwart vor allem wegen der Stellung der eigenen Nation in den schwarzen Farben gemalt. In seinem Vortrag in Berlin 1937 erklärte Srbik rückblickend: »Jahre bitterster Lebensnot sind über ein Trümmerfeld hinweggegangen, Jahre der Verringerung deutschen Lebensraumes, politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher Drosselung, Jahre der Entrechtung und Knechtung der vom Mutterboden getrennten deutschen Siedlungsgruppen und deutschen Volkssplitter im nördlichen, mittleren und südlichen Osten Mitteleuropas, Jahre der harten Entfremdung der beiden deutschen Bruderstaaten im geschlossenen deutschen Raum und endlich die Wiedererhebung des Reichs zum deutschen Selbstbewußtsein und zur Selbstbestimmung seines Schicksals!«19
Auch für Steinacker bestimmte der nationale Gesichtspunkt die Perspektive, unter welcher die Gegenwart gedeutet wurde. Die vermeintliche nationale Unterdrückung der Deutschen in den Nachfolgestaaten und in Ostmitteleuropa im Allgemeinen deutete er als eine Folge der spezifischen »osteuropäischen Staatsidee«. Er knüpfte dabei an seine Deutung des östlichen Europa als eine Region der Rückständigkeit an, welche sich unter anderem in Folge der Wirkung der mittelalterlichen asiatischen Nomaden und Eroberer in der scharfen Trennung der osteuropäischen Gesellschaften in zwei feindliche Schichten – der Herrscher und der Beherrschten – manifestierte. Nach 1918 wurden jedoch die Beherrschten nicht mehr von einer sozial gehobenen Klasse, wie es durch den Adel in den osteuropäischen Adelsrepubliken der Fall gewesen war, ausgebeutet. Ihre Stelle nahmen jetzt die einzelnen östlichen Nationen ein, die nach dem Zerfall der Monarchie nun zu Staatsnationen geworden waren. Zu den Ausgebeuteten wurden die deutschen Minderheiten in den einzelnen Ländern Osteuropas: 17 18 19
STEINACKER, Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, 100. Vgl. z. B. Heinrich von SRBIK, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, Bd. 2, München 1925, 567. Heinrich von SRBIK, Mitteleuropa. Das Problem und die Versuche seiner Lösung in der deutschen Geschichte, Weimar 1937, 3.
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»Jene scharfe soziale und politische Zweigliederung zwischen Eroberern und Unterjochten, zwischen Adel und Bauern, setzt sich fort in dem, was ich die moderne ›osteuropäische Staatsidee‹ nennen möchte. Die Idee vom Herrschaftsrecht des Staatsvolkes, des Mehrheitsvolkes über fremdvölkische Minderheiten.« »Wie hätte sonst heute, im Zeitalter der Demokratie«, führte Steinacker fort, »es geschehen können, daß z. B. die Verfassung der Tschecho-Slowakei lediglich von den Vertretern des tschechischen Volkes beschlossen wurde.«20
Das bekannte »historia magistra vitae« konnte auch die neue internationale Ordnung nach 1918 erklären. Sie wurde als eine Erfüllung des fast ewigen deutsch-französischen Antagonismus, der französischen Politik gedeutet, die darauf zielen sollte, Mitteleuropa zu beherrschen. »Die enge Verknüpfung der osteuropäischen Mächte mit dem westeuropäischen Druck auf die deutsche Mitte ist ja sehr alt […]. Heute tritt er wieder ganz besonders deutlich in Erscheinung.«21 Die unerfreuliche deutsche Gegenwart rief jedoch zugleich auch die Konzentration der nationalen Kräfte hervor. Im Text »Deutschtum und Österreich« vom Jahr 1929 schilderte Steinacker die Gegenwart als deutsche »Schicksalsgemeinschaft«, welche unter dem äußeren antideutschen Druck vereinigt wurde. Die Geschichtswissenschaft sollte folglich eine solche Gemeinschaft legitimieren. Die Perspektive, unter welcher er die Geschichte darstellte, war nicht mehr der konkrete Staat, sondern die deutsche Nation, das deutsche Volk, welches sich in mehreren Staaten befand: »Wir erleben heute – und das ist bei aller Schwere etwas Großes – eine Schicksalsgemeinschaft allen Deutschtums, die weit über den Bereich des deutschen Staates und der höheren deutschen Bildung hinausreicht. Sie umfaßt das Binnendeutschtum, das Grenzdeutschtum, das Auslandsdeutschtum als eine große Lebenseinheit. Was heute deutsch ist und deutsch heißt in allen fünf Erdteilen, das arbeitet härter und kämpft schwerer als andere Völker; es steht unter lastendem Druck, nur weil es deutsch ist. Und wenn es sich umsieht, so darf es Hilfe nur bei Gott und sich selbst erwarten. In diesem Gefühle hat es sich zusammengefunden, und wird immer mehr das, was es werden muß, will es nicht untergehen: ein einig Volk von Brüdern.«22
Eine häufig diskutierte Frage war auch jene des gegenwärtigen österreichischen Staates. Er schien eine Wiederherstellung des mittelalterlichen österreichischen »Staates« zu sein. So bewegte sich für Kretschmayr in gewisser Weise die österreichische Geschichte in einem Zirkel. Territorial befand sich Österreich nach 1918 in der gleichen Situation, in welcher es im hohen Mittelalter seine Geschichte begonnen hatte, das heißt, seiner Meinung nach, als »ein deutsches Grenzland, rings umdrängt von fremdnationalen Gebieten, ähnlich dem Herzogtum der frühen Habsburgerzeit, allerdings ein Grenzland nur deutscher Kultur und deutschen Wesens und nicht einer übergeordneten staatlichen Organisation.«23 20 21 22 23
STEINACKER, Deutschtum und Österreich, 265. Ebd., 271. Ebd., 249; Hervorhebungen im Original. Heinrich KRETSCHMAYR, Geschichte von Österreich, Wien–Leipzig 1936, 236.
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Zwischen diesen beiden Polen befand sich ein heroisches Zeitalter österreichischer Geschichte. Die »Aufgaben«, die damals Österreich zuerkannt wurden, bestanden jedoch auch nach dem Zerfall des österreichischen Vielvölkerstaates. Daher hielt Kretschmayr den Ententemächten die Zerstörung Österreichs als eine unbedachte Tat vor.24 Ähnlich sah auch Hans Hirsch Österreich nach 1918 als einen Staat, welcher in die Zeit der Babenberger zurückgeworfen wurde: »Nicht umsonst hat das Österreich von 1918 wieder die Farben der Babenberger gezeigt. Seine Zukunft hängt ganz und gar davon ab, ob es dem deutschen Volke gelingen wird, die glänzenden kolonialen Errungenschaften des hohen Mittelalters und die Neustämme, die auf dem kolonialen Boden erwachsen sind, zu behaupten. Es ist in Vergangenheit und Gegenwart die gewaltige Ostfrage, von der das österreichische Problem einen Teil bildet, von dessen glücklicher Lösung aber auch die Stellung Deutschlands in der Zukunft wesentlich bedingt ist.«25
Aus einer historisierenden Perspektive betrachtete die Gegenwart auch Hugo Hantsch. Er versuchte jedoch die Existenz des selbstständigen Österreich geschichtlich zu begründen. Durch seine positive Haltung zur Gegenwart, vor allem zum Österreich nach 1933/1934, stellte er unter den damaligen österreichischen Historikern eher eine Ausnahme dar. Seine Geschichtsschreibung war daher mehr traditionell strukturiert. Die Geschichte sollte in der Gegenwart gipfeln. Als eine Weiterführung der geschichtlichen Mächte kann sie daher die Innen- als auch die Außenpolitik des Staates legitimieren. Laut Hantsch stand das Österreich Engelbert Dollfuss’ und Kurt Schuschniggs in der Kontinuität mit dem Österreich der Babenberger und auch mit der Donaumonarchie der Habsburger. Die österreichische Geschichte schildert Hantsch metaphorisch als eine Entwicklung Österreichs von einem »Teil des Reiches« über Österreich als »Herz des Reiches« bis zu Österreich als einem »Rest des Reiches«. Die Gegenwart schien daher als eine logische Fortsetzung dieser Linie. Trotz aller historischen Umbrüche, trotz des Zerfalls der Monarchie, »Österreich lebt, und solange es lebt, ist es der Rest des Reiches, das Symbol seiner alten vergangenen Größe. Nicht als äußerste 24
25
Vgl.: »unverständlich bleibt, daß sie [die Entente] aus diesen und anderen Gründen nicht alles getan haben, die völkerumspannenden, so viele nationale Konflikte ohne außenpolitische Störungen in sich verarbeitende Monarchie zu erhalten, anstatt sie in eine Reihe von Nachfolgestaaten zu zerschlagen, die mit ihren Minderheiten nur wieder Kleinbilder des zerstörten Großreiches wurden, freilich ohne dessen erfahrungsreiche Duldsamkeit in der Behandlung nationaler Fragen.« KRETSCHMAYR, Geschichte von Österreich, 234. Hans HIRSCH, Österreichs Werden im deutschen Reich, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 2 (1938), 640–653, hier 653. Ähnliche Argumentationen benutzte auch Otto BRUNNER, Die geschichtliche Funktion des alten Österreich, in: Friedrich F. G. KLEINWÄCHTER/Heinz von PALLER (Hg.), Die Anschlußfrage in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung, Wien–Leipzig 1930, 1–11; DERS., Österreich, das Reich und der Osten im späteren Mittelalter, in: Josef NADLER/Heinrich von SRBIK (Hg.), Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum, Salzburg–Leipzig 1936, 61–86.
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Spitze, nicht als ein Glied des Imperiums ragt es in die Gegenwart, sondern als das übriggebliebene Fundament des alten Baues, als das pulsierende Herz eines zerschlagenen Körpers. In ihm leben die Energien.«26 Die österreichische Idee27 lebt weiter – der Staat ist zwar zerfallen, an die Idee kann man jedoch anknüpfen.28 Aufgrund dieser Überlegungen formulierte Hantsch die gegenwärtige österreichische Aufgabe. Sie sollte darin bestehen, die Idee der deutschen Organisation von Mitteleuropa mindestens kulturell zu verbreiten: »Das große, in der Erinnerung der älteren Generation so schöne und vielgestaltige Reich, ist zerfallen, aber der Kern dieses Reiches, die ›gens Austriaca reliquis omnium illustrior‹, besitzt die unversehrten Wurzeln aller Kräfte, die dem Donau-Moldau-Raum politisch und kulturell Form und Gestalt gegeben haben.«29 Wie jedoch angedeutet, sahen die meisten Historiker die Gegenwart nur als eine Übergangsperiode30, die durch eine glückliche Zukunft ersetzt werden würde. Die internationale Ordnung nach 1918 war für Steinacker vor allem für Osteuropa fehl am Platz. Da diese Region, wie er zu zeigen versuchte, spezifisch und wesentlich unterschiedlich im Vergleich mit Westeuropa sei, seien die westlichen Normen, Vorstellungen und Verfassungen nicht geeignet, diesen Teil Europas zu ordnen: 26 27
28 29
30
Hugo HANTSCH, Österreichs Schicksalsweg, Innsbruck 1934, 14. Durch die »österreichische Idee« konnte man auch die zeitgenössische Kleinheit Österreichs überschreiten: »Wenn Österreich nicht mehr wäre als ein Territorium, als ein Staat, der quantitativ gemessen und gewogen werden muß, und dessen Machtentfaltung von dieser Quantität abhängig erscheint, dann sind wir ein Nichts und zählen kaum mit in der Staatenwelt. Aber Österreich ist mehr als eine Quantität von so und so vielen Quadratkilometern; es ist eine Idee […], die aus dem deutschen Wesen entspringt, weil dieses deutsche Wesen zum Reiche verlangt und im Reiche seine Vollendung sehen muß. Über die engen Gliederungen und Gemeinschaftsformen von Sippe, Stamm, Nation hinaus weitet sich der Reichsbegriff zum Menschheitsbegriff, der mit dem Namen Österreich verbunden ist, der kein Stammesname, sondern ein Reichsnamen ist.« Hugo HANTSCH, Österreichische Staatsidee und die Reichsidee, in: Österreichische Rundschau. Land – Volk – Kultur 1 (1934/1935), 6–15, hier 13. HANTSCH, Österreich. Eine Deutung seiner Geschichte und Kultur, Innsbruck– Wien–München 1934, 17. Ebd., 101. Die Notwendigkeit der deutschen Organisation Ost- und Mitteleuropas durch Österreich belegte auch die Lage nach 1918: »Die bolschewistische Gefahr nach 1918, das Vordringen des östlichen Barbarentums ist Beweis genug, daß die mitteleuropäische Stellung Österreichs nicht nur nach materiellen Gesichtspunkten beurteilt werden konnte, sondern daß die Aufgabe in anderen Formen dieselbe war wie zur Zeit des Prinzen Eugen.« Hugo HANTSCH, Geschichtliches zum Thema: Österreich – Reich, in: Schönere Zukunft 9 (1933), 193f.; 209f.; 241; 264–266; 322f.; 380–382, hier 381. »Das Zeitalter des Staates im alten Sinn und der Staatenwelt als Gleichgewichtssystem souveräner Einheiten beginnt abzulaufen. Wehe den Völkern, die die Uhr der Zeiten nicht schlagen hören!« STEINACKER, Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, 97.
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»Aber soweit geschichtliche Erfahrung etwas lehren kann, so ist es die Einsicht, daß dieser osteuropäische Zwischenstreifen nicht die Möglichkeit hat, die in dem westeuropäischen Zwischenstreifen realisiert ist, d. h. die Auflösung in unabhängige Kleinstaaten, die, wie Holland, Belgien, die Schweiz, als Puffer zwischen den Großstaaten, zwischen Westeuropa und Mitteleuropa liegen […]. Er wird sich, um der Anarchie der Vielheit zu entgehen, irgendwie als föderative Einheit organisieren müssen.«31
Ähnlich sollte auch für Srbik das Mitteleuropa »aus dem Zentrum seines stärksten und geistig reichsten Trägers, des deutschen Volkes, nicht von Paris oder Rom, Prag oder Warschau, Belgrad oder Bukarest aus, seine neue Daseinsform erhalten, wenn sie den natürlichen und geschichtlichen Bedingtheiten entsprechen soll.«32 Die Vision der künftigen Ordnung Mittel- und Osteuropas von Steinacker und Srbik begibt sich schon an die Zukunftsvorhersage, vor allem an die Ordnung von Mitteleuropa. Sie sollte in der deutschen Leitung liegen. Davon würden jedoch nicht nur Mittel- und Osteuropa profitieren, da sie, sich selbst überlassen, im Chaos enden würden. Osteuropa zu organisieren, liege auch im deutschen Interesse: »Hier fassen wir wieder den Zusammenhang der deutschen Zukunft mit der des nahen Ostens. Die Einheit des deutschen Volkes und seine Unabhängigkeit in der Mitte Europas ist durch die Gründung eines deutschen Nationalstaates allein nicht zu erreichen und zu behaupten. Beides hängt – nachdem die großen Nachbarn im Westen ebenso wie Rußland im Osten unaufheblich gegen eine starke deutsche Mitte sind – davon ab, wie der Zwischenstreifen des nahen Ostens organisiert ist; ob er seine Macht in die russisch-französische Schale wirft oder, wenigstens zum Teil, in die unsere.«33
Diese ehemalige österreichische Organisationsaufgabe sollte Deutschland übernehmen: »Wenn aus der Geschichte eine Lehre für die Zukunft überhaupt abgeleitet werden darf, so kann sie nur dahin lauten, dass die Befriedung des nahen Ostens bloß möglich ist, wenn sowohl die nationalstaatliche Idee, als die Idee der historischpolitischen Individualitäten, d. h. die Ansprüche aus dem Titel der einstigen Staatlichkeit der osteuropäischen Adelsstaaten, als undurchführbar erkannt und anerkannt werden. An ihre Stelle muss eine andere, westeuropäische Idee treten, die der nationalen Selbstbestimmung. […] Nur eine starke Obergewalt könnte die loyale Durchführung einer solchen Autonomie sichern. Die fehlte im alten Österreich und wird in jedem Nationalitätenstaat fehlen; wäre sie vorhanden, würde sie statt für die Autonomie, eher für die eigene Herrschaft sorgen. […] Ganz lockere und ganz neue Formen des bisherigen Staatsrechts werden gewählt werden müssen, um den Kleinvölkern von ›Zwischen-Europa‹ den Anschluss an die Wirtschaft und den Schutz der benachbarten Großvölker, des deutschen und russischen, zu ermöglichen, den Mittelvölkern aber die ihnen gebührende Macht und Freiheit zu sichern mit einziger Ausnahme der Freiheit, fremde Minderheiten 31 32 33
STEINACKER, Deutschtum und Österreich, 266. SRBIK, Reichsidee und Staatsidee, 70. STEINACKER, Deutschtum und Österreich, 271. Mit dem Begriff »der nahe Osten« meinte Steinacker annähernd das, was man heute als Ostmitteleuropa bezeichnet, das heißt für ihn das »subgermanische Europa« oder der »Zwischenstreifen« zwischen Deutschland und Russland.
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zu unterdrücken. So tritt neben die beiden großen Fragen der Wiederherstellung Russlands und Deutschlands als dritte die der Befriedung und Ordnung des osteuropäischen Zwischenstreifens. Der enge Zusammenhang der drei Fragen liegt wohl auf der Hand. Wenn Deutschland einmal berufen sein wird, an der Lösung der dritten Frage mitzuarbeiten, so nimmt es, wenn auch in ganz anderer Form, die Aufgabe auf, für die Österreich nach 1866 zu schwach geworden war. Es wird dabei aus den Erfahrungen Österreichs viel zu lernen haben.«34
Seine Zukunftsvision fasste endlich Steinacker in einem beachtenswerten Text über ein Europa im Jahre 2000 zusammen: »Ich will nur in einer kurzen Vision zeigen, wie der Historiker im Lichte dieser Ideen das Bild Europas um das Jahr 2000 sieht. Alle nationalen Minderheiten Westeuropas […] im Besitz einer vollen Autonomie, wenn sie nicht schon ihren Anschluss an die benachbarten Volksgebiete vollzogen haben. Jugoslawien zergliedert nach den historisch-politischen Individualitäten der Serben, Kroaten, Slowenen, zwischen denen autonome Minderheitengebiete liegen. Überhaupt die Nationalitätenstaaten des Ostens, deren Staatsvölker sich an der Sisyphusarbeit mühen, Nationalstaaten aus sich zu machen oder sich doch Stil und Charakter eines solchen beizulegen, gescheitert an dieser Aufgabe, wie vor ihnen die Magyaren. Der ganze Bereich des Nahen Ostens vielmehr völlig umgestaltet zu lockeren staatenbündischen Vereinigungen autonomer nationaler Gebiete. Und diese Gebiete wiederum in dauernder Angliederung an das große Wirtschaftsgebiet des deutschen Mitteleuropa. Alle deutschen Volksgruppen Mitteleuropas aber ein großer solidarischer Block, der als Schutzherr auch aller nichtdeutschen Minderheiten des Nahen Ostens waltet, als Vormacht einer neuen Ordnung der Völkerwelt, als Vorkämpfer der Idee nationaler Selbstbestimmung und Selbstverwaltung, die bestimmt ist, die Ideen von 1789, die mechanische Demokratie des zentralisierten Beamtenstaates und die unbeschränkte Souveränität der Einzelstaaten, abzulösen als organische Ordnung Europas und – Deutschland selbst. Denn auch der innere Kern des deutschen Blocks, der deutsche Staat, das Reich, wird in seinem inneren Aufbau jener Idee der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung sich angeglichen haben.«35
Die Zukunft als eine volle Realisierung der Kräfte, die schon in der Geschichte tätig waren, sah auch Srbik. Die Zukunft wurde darüber hinaus zu einem festen Bestandteil seiner Geschichtskonzeption. Erst in der Zukunft kann die Verbindung der in der Geschichte oftmals getrennt oder sogar gegenseitig wirkenden Tendenzen – der nationalstaatlichen und der universalistischen Formen des Deutschtums funktionieren. Diese Synthese verlieh rückwirkend der Deutung der Geschichte durch Srbik den Sinn. Erst wenn man voraussetzt, dass sich beide Tendenzen in der Zukunft verknüpfen werden, kann man den scharfen Gegensatz zwischen ihnen mildern bzw. sie sogar in eine harmonisierende gesamtdeutsche Perspektive zusammenführen: Seine Zukunftsvision fasste daher auch Srbik zusammen: 34
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Harold STEINACKER, Österreich-Ungarn und Osteuropa. Gastvorlesung an der Universität Würzburg, in: DERS., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn–München–Wien 1943, 190–224, hier 224. STEINACKER, Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, 99; Hervorhebung im Original.
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»Und die Zukunft? […] Es ist nicht meine Aufgabe, die konkrete Gestalt eines künftigen Mitteleuropa zu entwerfen. Konturen aber wird der Historiker zeichnen dürfen: Das Deutsche Reich der feste nationalstaatliche Kern der Erdteilsmitte, mit ihm in festester nationaler Lebensgemeinschaft verbunden das heutige rein deutsche Österreich, ferner angegliedert auf der Grundlage der Achtung ihrer Staatlichkeit und der Achtung ungehemmten Lebensrechtes ihrer Völker die ostmitteleuropäische Staatenwelt – eine Vereinigung der getrennten beiden Denkströme, des nationalstaatlichen und des universalistischen, eine Synthese auch des historischen Preußens und des historischen Österreichs […], eine kombinierte Lebensform ohne imperialistischen Grundton, dem Lebensinteresse des deutschen Volks und der andern Völker Mitteleuropas und der Idee der Volksgemeinschaft und der Gerechtigkeit angemessen. Das ist meine Utopie.«36
Das Interesse für die Zukunft teilte Srbik auch mit Kaindl, obwohl diese beiden Historiker sonst unerbittliche Kontrahenten waren, wie vor allem der Streit um Kaindls »großdeutsche Geschichte« belegte.37 Auch Kaindl sah in der Organisierung Mittel- und Osteuropas den eigentlichen Sinn der deutschen Geschichte, diesmal jedoch unter dem großdeutschen Vorzeichen: »Die Einsichtigen verwiesen auf den Föderalismus als das richtige Mittel, nicht nur um Großdeutschland zusammenzuhalten, sondern auch die nichtdeutschen Völker der Donaumonarchie zu befriedigen und an Deutschland zu knüpfen. […] Es wäre dadurch ein Ganzdeutschland erhalten geblieben, das nicht nur das heutige Deutschösterreich umfasst hätte, sondern aus Böhmen, Mähren, Schlesien, ferner alle Alpen- und Karstländer, eingeschlossen die an Südslawien und Italien gefallenen.«38
Dazu ist es jedoch nicht gekommen, Österreich wurde zerstört: »Was nun? Sind die großdeutschen Gedanken eines föderalistischen Mitteleuropa für alle Zeiten abgetan? Mitnichten! Nie und nimmer werden die unumstößlichen Wahrheiten, die den Kern der großdeutschen Anschauungen bilden, ihre Bedeutung verlieren: Der großdeutsche Gedanke lebt als mitteleuropäischer weiter fort.«39
Kaindl beendete seine Zukunftsvision jedoch in einer noch größeren Verallgemeinerung. Ihm lag nicht nur Mittel- und Osteuropa wie anderen Historikern am Herzen. Er kümmerte sich um das gesamte Europa, welches gefährdet sei. Der Gedanke der »Schicksalsgemeinschaft« wurde in dieser einzigartig paranoiden Vision auf ganz Europa übertragen: »Europa ist unfruchtbar. Unsere Bevölkerung geht stetig zurück […]. Daher läuft Europa Gefahr, entweder durch allmähliches Eindringen von fremden Arbeitern, Soldaten usw. oder durch ein kriegerisches Hereinbrechen der farbigen Völker überschwemmt zu werden. Dem kann nur durch Steigerung der 36 37
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SRBIK, Zur gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, 237. Raimund Friedrich KAINDL, Österreich, Preußen, Deutschland: Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung, Wien 1926. Zur Kontroverse siehe: SRBIK, Unmethodische Geschichtsbetrachtung; Raimund Friedrich KAINDL, Professor v. Srbik und mein Buch »Österreich, Preußen, Deutschland«. Beiträge zur Revision der kleindeutschen Geschichtsschreibung, in: Schönere Zukunft 3 (1927), 126–130. KAINDL, Österreich, Preußen, Deutschland, 312. Ebd., 314.
Der Historiker als Prophet?
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Kinderzahl vorgebeugt werden. Mit dem Zweikindersystem gehen wir zugrunde. Vier bis fünf Kinder müssen in jeder Familie sein!«40
Und Kaindl setzte fort: »Aber auch Europa ist nicht sicher. Die Neger haben nicht umsonst sich das unfruchtbare Frankreich angeschaut. […] Ebenso sprechen die Neger in Amerika […]. Was in Asien bevorsteht, hat die allgemeine Befürchtung Europas schon erregt […] es bereitet sich eine Verbindung aller Asiaten gegen die Europäer vor […]. Die geradezu überwältigend drohende Gefahr muss uns zur Vernunft und Einsicht bringen. Und dann wird der Föderalismus zu seinem Rechte kommen.«41
Ähnlich wie die oben erwähnten Historiker hielt auch Hugo Hantsch Österreich für das Zentrum der künftigen Organisation in Mitteleuropa in deutschem Interesse.42 Er leitete jedoch daraus die Notwendigkeit der österreichischen Selbstständigkeit ab. Das war die Voraussetzung dafür, dass Österreich seine historischen Aufgaben erfüllen konnte. Die Zukunft spielte daher auch für Hantsch eine wichtige Rolle – sie sollte jedoch im Unterschied zu Srbik oder Steinacker die österreichische Gegenwart, das heißt, die österreichische »Mission« nach 1933 legitimieren. Vor allem nach Hitlers Machtergreifung wurde Österreich zum Repräsentanten des »besseren Deutschland« und der »besseren Deutschen«. Seitdem sollten die Österreicher die Interessen der Deutschen in Mitteleuropa bzw. aller »Auslandsdeutschen« verteidigen: »Gegenüber den Zerrbildern eines engstirnigen Nationalismus sind wir berufen, die unsterbliche Sache der Gerechtigkeit, der nationalen Kulturautonomie und des Rechtes der Minderheiten gegenüber allen Arten äußeren Zwanges zu vertreten und damit einen sittlichen Missionsgedanken unter den Völkern zu pflegen, der zugleich uns mit dem ganzen Auslandsdeutschtum verbindet. […] Wir haben gewissermaßen die Verantwortung auf uns genommen, dem ganzen Auslandsdeutschtum ein Führer und Vorgänger zu sein im Augenblick der Zeitenwende, da die isolierte Nationalstaatsidee die Lebensbedingtheiten des Gesamtdeutschtums vergisst und das Auslandsdeutschtum manchen ungeahnten Gefahren aussetzt.«43
Die Hervorhebung der Funktion des »neuen Österreich«44 im Europa durch Hantsch gipfelte in der Deutung Österreichs als des Trägers der Reichsidee, die »eine Einheit über der Vielheit« herstellen sollte. Als solche war sie jedoch nicht nur für Österreich von Bedeutung; sie wurde 40 41
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Ebd., 317. Ebd., 318. Solche »Gefahren« begründen den Ruf nach einer neuen Ordnung Europas: »Mächtige Faktoren drängen also zur Neugestaltung Europas. Vor allem ist das östliche und mittlere Europa gefährdet. Aber da die Zerrüttung hier nicht halt machen wird, ist ganz Europa in Gefahr. Daher werden die Maßregeln, die eine Festigung und Sicherheit herbeiführen, willkommen sein müssen. Dazu gehört vor allem der Anschluß Österreichs an Deutschland.« Ebd. Und Kaindl schließt drohend: »Wer diesen Gedankengängen nicht folgen will, sie für Phantasien hält, der muß sich für die Zukunft mit Not, Gewalt und Unterdrückung abfinden.« Ebd., 321. HANTSCH, Schicksalsweg, 15. DERS., Das gesamtdeutsche Problem, in: Monatsschrift für Kultur und Politik 1 (1936), 497–505, 503, hier 504. Hantsch bezeichnete Österreich nach der Ausschaltung des Parlaments 1933 auch als ein »neues Österreich«.
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Ota Konrád
sogar zum Vorbild »der mitteleuropäischen und vielleicht europäischen Einheit.«45 Das selbstständige Österreich, dieser »Schild des Reiches« und des Deutschtums, sollte daher von dem ganzen deutschen Volk anerkannt werden. »Wie wunderbar wäre es«, träumte 1934 Hantsch, »wenn uns das gesamte deutsche Volk in der Anerkennung unserer Sonderstellung und in bereitwilligem Verständnis unserer Geschichte, unseres nationalen und kulturellen Ehrgeizes, unserer ganzen natürlichen Lage helfen würde, eine Aufgabe zu erfüllen, die wir als unseren Teil in der allgemeinen Sendung des deutschen Volkes empfinden.«46 IV. Zusammenfassung Die österreichische Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit ist in erster Linie als eine nationale Geschichtsschreibung zu charakterisieren. Die österreichische Geschichte wurde vorwiegend als ein Teil der deutschen Geschichte angesehen und gedeutet. Diese Feststellung soll in keinem Fall die oftmals sehr heftigen Diskussionen und Kontroversen unter den österreichischen Historikern dieser Zeit bestreiten. Sie sind jedoch schon im Rahmen eines breiteren Konsenses über die »Deutschheit« der österreichischen Geschichte verlaufen. Die Historiker unterschieden sich eher in den Akzenten bzw. in der Wertung einiger Ereignisse, nicht jedoch in diesem Grundkonsens. Was jedoch für das Thema, welches in diesem Beitrag behandelt wurde, von großer Wichtigkeit ist, ist die Tatsache, dass die »Deutschheit« der österreichischen Geschichte im Österreich der Zwischenkriegszeit etwas war, das immer wieder neu legitimiert werden musste. Die Gegenwart schien, kurz gesagt, nicht als ein Beleg der deutschen Rolle Österreichs. Daher sind das überraschenderweise starke Interesse für die Zukunft und die einzelnen Zukunftsvisionen nicht als eine unorganische Kuriosität im österreichischen Geschichtsdiskurs der Zwischenkriegszeit abzutun. Sie stellten einen wesentlichen Bestandteil dieses Diskurses selbst dar, ohne den die Konzeption des deutschen Charakters der österreichischen Geschichte bzw. die Versuche, die österreichische Geschichte mit der deutschen im Rahmen einer breiteren »gesamtdeutschen« Synthese zu harmonisieren, argumentativ nicht möglich gewesen wären: Für die Realisierung des deutschen Charakters Österreichs ist nur die Zukunft übrig geblieben.
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HANTSCH, Österreichische Staatsidee, 8. DERS., Die österreichische Frage als eine Frage des deutschen Schicksals, in: Schönere Zukunft 9 (1934), 735–736; 768–770, hier 770.
MICHAEL JOHN
Profiteure und »Hyänen«, sozialer Neid und organisierter Raub. »Arisierung« und Vermögensentzug in der »ostmärkischen« Provinz Unter dem politisch-juridischen Terminus »Entjudung« hatte die NSDAP die Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung aus Öffentlichkeit und Wirtschaft verstanden. Dies beinhaltete auch die Vermögen jüdischer EigentümerInnen, ihre Wohnungen und ihre Arbeitsplätze. Die diversen Formen der Umverteilung ihrer Güter und Positionen bezeichnet man mit dem umfassenden, aber unpräzisen Begriff »Arisierung«. In der Folge werden hier einige Aspekte der »Arisierung« und des Vermögensentzugs in den österreichischen Bundesländern außerhalb Wiens bzw. in den »Gauen der Ostmark« untersucht, und zwar in erster Linie anhand des Beispiels von Oberösterreich (Oberdonau), Salzburg und ostösterreichischen Regionen.1 »Oberdonau« zählte zu den einflussreichen Gauen, es gewann territorial deutlich hinzu. August Eigruber war als einziger Gauleiter der »Ostmark« durchgängig während der NSJahre im Amt und hatte überdies persönlichen Zugang zu Hitler. Einen Sonderfall, der hier ebenfalls erörtert wird, stellen jene südböhmischen und südmährischen Landkreise dar, die 1938 den Ländern bzw. Gauen Oberdonau und Niederdonau angegliedert wurden. I. Einleitung In seiner Zusammenschau über den Vermögensentzug der Juden im europäischen Vergleich schreibt Martin Dean der österreichischen und insbesondere der Wiener Entwicklung entscheidende Bedeutung für die 1
Der Beitrag baut auf Forschungen im Rahmen der Historikerkommission der Republik Österreich auf, vgl. Daniela ELLMAUER/Michael JOHN/Regina THUMSER, »Arisierungen«, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 17/1), Wien–München 2004; vgl. Albert LICHTBLAU, »Arisierungen«, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in Salzburg (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 17/2), Wien– München 2004; Gerhard BAUMGARTNER/Anton FENNES/Harald GREIFENEDER/ Stefan SCHINKOVITS/Gert TSCHÖGL/Harald WENDELIN, »Arisierungen«, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen im Burgenland (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 17/3), Wien–München 2004.
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Michael John
Dynamik der »Arisierungen« im gesamten Deutschen Reich zu: »Interessanterweise gab die Welle ›wilder Arisierungen‹ […] den rechtlichen und institutionellen Maßnahmen in Deutschland neuen Auftrieb.«2 In dieser Hinsicht sprachen schon Götz Aly und Susanne Heim, das Wiener Beispiel hervorhebend, von einem »Modell Wien«.3 Sie betonten in diesem Zusammenhang vor allem die Modernisierung durch »Arisierungen« und Geschäftsliquidierungen. Hans Safrian setzt einen etwas anderen Fokus, den der Beschleunigung, der Informalität und der Intensivierung, seine Beschreibung der Vorgänge in Wien liest sich folgendermaßen: »In Wien begannen in der Nacht vom 11. auf den 12. März schon vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich Ausschreitungen gegen Juden. Ohne Befehle aus Berlin gingen in den nächsten Wochen einheimische Antisemiten – unabhängig davon, ob sie Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation waren oder nicht – gegen Personen vor, die für Juden gehalten wurden […]. Österreichische ›Partei- und Volksgenossen‹ unterzogen sie öffentlichen Erniedrigungsritualen, plünderten Geschäfte am helllichten Tag, beschlagnahmten bei Hausdurchsuchungen Bargeld, Schmuck oder Sparbücher […], nahmen willkürliche Verhaftungen vor oder erpressten die Zahlung von Geld mit der Androhung einer Denunziation.«4
Mehr als 90 Prozent der österreichischen Juden und Jüdinnen lebten in Wien. Zwischen Teilen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung bestand eine soziale Asymmetrie. Nach internationalen Maßstäben war Wien die einzige Großstadt des Kleinstaates Österreich, als ehemalige Residenzstadt des Habsburgerreichs eine Millionenmetropole. Klarerweise entwickelte sich die »Arisierung« in Wien vorerst anders als in Kleinstädten wie Mödling, Gastein, Knittelfeld, Wels oder Ried.5 Bei aller Unterschiedlichkeit soll die Differenz zwischen Wien und den Ländern jedoch nicht überzeichnet werden, sie ist zwar vor allem in den ersten Monaten fühlbar im Alltagsleben präsent gewesen, sollte in der Gesamtbetrachtung jedoch nicht überbewertet werden. In der »Ostmark« insgesamt ist der Vermögensentzug allerdings anders verlaufen als im »Altreich«, allein schon wegen der unterschiedlichen Dauer der NS-Herrschaft, aber auch aufgrund qualitativer Unterschiede. Gerhard Botz hat das österreichische Gebiet als »Experimentierfeld radikaler und ›effizienter‹ Formen der 2
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Martin DEAN, Der Raub jüdischen Eigentums in Europa. Vergleichende Aspekte der nationalsozialistischen Methoden und der lokalen Reaktionen, in: Constantin GOSCHLER/Philipp THER (Hg.), Raub und Restitution. »Arisierung« und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt/Main 2003, 26–40, hier 28. Götz ALY/Susanne HEIM, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine europäische Ordnung, Frankfurt/Main 1997, 33–42. Hans SAFRIAN, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung. Zur Bedeutung des »Wiener Modells« für die antijüdische Politik des »Dritten Reiches« im Jahr 1938, in: Constantin GOSCHLER/Jürgen LILLTEICHER (Hg.), »Arisierung« und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 61–92, hier 66. Michael JOHN, Modell Oberdonau? Zur wirtschaftlichen Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung unter Berücksichtigung regionaler Gesichtspunkte, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichte 2 (1992), 52–69.
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Judenverfolgung« bezeichnet, einerseits hinsichtlich eines massiven Volksantisemitismus, andererseits im Kontext organisatorischer Lösungen der Zwangsauswanderung und des Vermögensentzugs.6 Dieser Einschätzung kann auch an dieser Stelle gefolgt werden. Wesentliche Instrumente der »Arisierung« stellten die relativ einheitlichen Gesetze und Verordnungen dar, sodann schon etwas weniger einheitliche Bürokratie- und Organisationsinstitutionen.7 Daneben existierte ein informeller Sektor, der sehr unterschiedlich ausgeprägt sein konnte. II. Zur »Arisierung« in den ehemaligen Bundesländern Im Jahre 1934, im Rahmen der letzten vor dem »Anschluss« durchgeführten Volkszählung, hatte die jüdische Bevölkerung in Österreich 191.481 Personen umfasst, das waren 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung. Davon lebten 176.034 in Wien, 9,4 Prozent der Wiener Bevölkerung, in Niederösterreich wurden 7716 Juden gezählt (0,5 Prozent), im Burgenland 3632 (1,2 Prozent), in der Steiermark 2195 (0,2 Prozent), in Oberösterreich 966 (0,1 Prozent), in Tirol 365 (0,1 Prozent), in Kärnten 269 (0,06 Prozent), in Salzburg 239 (0,1 Prozent) und in Vorarlberg 42 (0,02 Prozent). 176.034 Juden bzw. 91,9 Prozent aller Juden lebten 1934 also in Wien und 15.447 bzw. 8,1 Prozent in den Bundesländern.8 Nach den Angaben der Kultusgemeinden, die nicht unmittelbar mit den Volkszählungsergebnissen verglichen werden können, hatten am 13. März 1938 in Wien 167.249 (91,96 Prozent) und in den Bundesländern 14.633 Juden (8,04 Prozent) gelebt. Rechnet man jene rund 24.000 Personen hinzu, die nach den »Nürnberger Gesetzen« als »Juden« zu betrachten waren, obgleich sie nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten, kam man auf eine Zahl von rund 206.000 Personen.9 Der Vermögensentzug wurde 1938 organisatorisch in der Form angelegt, dass in Wien im Ministerium für Arbeit und Wirtschaft die so bezeichnete Vermögensverkehrsstelle (VVSt) mit 200 Beschäftigten eingerichtet wurde. Das heißt, eine behördliche Stelle in der ehemaligen Bundeshauptstadt wurde zur Zentralstelle der »Entjudung« in Österreich. In der Folge wurde dieses System durch die Einrichtung der 6
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Gerhard BOTZ, Experimentierfeld »Ostmark«: Pogrom-Antisemitismus und organisatorische Intervention. Arisierungen in Österreich (1938–1940), Wien 1997, in: Der Raubzug. Eine Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer in Österreich im Rahmen einer Enquete der Grünen im Parlament, 1997, http://www.gruene.at/ns/botz.doc (11. 12. 2004). Dieter STIEFEL, The Economics of Discrimination, in: DERS. (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und »Wiedergutmachung«, Wien–München 2001, 9–28, hier 11. Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Statistik des Bundesstaates Österreich, Heft 2, Wien 1935, 2–5. Zit. nach Florian FREUND/Hans SAFRIAN, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938–1945. Vertreibung und Deportation, in: Emmerich TALOS/Ernst HANISCH/ Wolfgang NEUGEBAUER/Reinhard SIEDER (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 22001, 767–794, hier 790.
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Kontrollbank als »Arisierungsagentur« wertvollerer Unternehmen durch den Einfluss der NSDAP und durch die Interventionen der Gauleiter aufgeweicht, ohne an der grundsätzlichen Struktur, die von 1938 bis 1940 bestand, etwas zu ändern. Ungeachtet diverser Statusverluste war Wien auch nach dem »Anschluss« als mitteleuropäische Metropole anzusehen, die von den Nationalsozialisten auf 26 Bezirke vergrößert wurde und in der rund zwei Millionen EinwohnerInnen lebten. In den größeren österreichischen Bundesländern wurde das Jahr 1938 von den regionalen NS-Eliten als Möglichkeit zur »Entprovinzialisierung«, als Möglichkeit zum Aufstieg in der Hierarchie der Länder und als Emanzipation von Wien begriffen. Der Salzburger Gauleiter Rainer hielt etwa in einem Schreiben an Bürckel, den zeitweiligen Gauleiter Wiens, fest, dass Wien nunmehr »seine Funktion als Zentrum der Ostmark verloren habe«.10 Die »Judenfrage« hatte außerhalb Wiens einen stärkeren symbolischen Gehalt, da die Zahl der Juden vergleichsweise gering war. Dort versuchten die Gauleiter und andere einflussreiche Parteiführer, die »Arisierungsgewinne« nur für ihren Einflussbereich, für ihre Gefolgschaft zu reservieren. Die Folge war, dass in den Bundesländern, verglichen mit Wien, die »Entjudung« effizienter organisiert war und rascher durchgeführt wurde. Die Bemühungen in der österreichischen »Provinz« zur Abschiebung der Juden vor allem nach Wien bzw. zur Vertreibung über die Grenzen muten wie ein Wettlauf an – je schneller, desto mehr symbolisches Kapital im Sinne des Nationalsozialismus konnte man ansammeln. Wien unterschied sich von den Ländern auch insofern, als dort noch lange das Gros der österreichischen Juden lebte. In einer ersten Phase sind viele Juden aus den Bundesländern nach Wien abgeschoben worden. 1938 wurden die Reichsstellen bzw. die noch existierenden »Ostmark«Zentralstellen mehrmals durch schnelles Handeln von den Ländern unter Zugzwang gesetzt, sei es bei der Definitionsfrage der »Halbjuden«, sei es bei den schnellen Beschlagnahmungen so genannter jüdischer Vermögen oder der Weigerung, Reichsfluchtsteuern an die Finanzbehörden abzuliefern. In vielen Gemeinden wurde rasch erklärt, dass keine Juden mehr im Ortsgebiet lebten. »Judenrein« zu werden, wurde vor allem im ersten Jahr der NS-Herrschaft in Österreich zur Prestigeangelegenheit. Schon bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 zeigte sich die hier dargestellte Tendenz: Zum Zeitpunkt der Zählung lebten 97,6 Prozent der Juden (nach der Religion) in Wien, 2,4 Prozent in den Ländern.11 Hinsichtlich der Unterschiede zwischen Wien und den ehemaligen Bundesländern ist darauf hinzuweisen, dass so genannte »wilde Arisierungen«, außer Kontrolle geratene Übergriffe, auch in den Ländern vorkamen. Im März und April 1938 kann überdies noch nicht so deutlich – wie es 10 11
Vgl. Ernst HANISCH, Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1938–1945, Salzburg–München 1997, 97. Zit. nach FREUND/SAFRIAN, Verfolgung, 791.
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etwa Botz tut – zwischen staatstragenden Kräften, repräsentiert auch durch die Parteiorganisationen und die Gestapo, und dem »Mob«, der gesetzlich nicht gedeckte Handlungen durchführte, unterschieden werden. Ab Sommer 1938 veränderte sich die Situation. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft waren die neuen Herrschaftsträger Tage zuvor noch »illegal« gewesen und Monate zuvor einige von ihnen vielleicht noch Gefängnisinsassen. Dies war beispielsweise im Burgenland der Fall: Es kam in einer Sonderzone von fünfzig Kilometern innerhalb der Staatsgrenzen zu vielen Vertreibungen bereits in den ersten Wochen nationalsozialistischer Herrschaft. Hier konnten schnelle Aussiedlungen und »Arisierungen« willkürlich mit »strategischen Interessen« argumentiert werden. Diese Vertreibungen waren von Staats- und Parteiorganen durchgeführt worden. Nimmt man die Augenzeugenberichte, eidesstattlichen Versicherungen und Aktennotizen, so zeigt sich ein System der Einschüchterung und der Ausplünderung, das den Ausschreitungen in Wien in nichts nachstand. Die Marktgemeinde Frauenkirchen ist ein signifikantes Beispiel dafür, wie groß in den ersten Monaten der NSHerrschaft der lokale Einfluss auf »Arisierung« und Judenverfolgung sein konnte. Bürgermeister und Ortsgruppenleiter entwickelten hier eine spezifische Unterdrückungsherrschaft.12 Dieses und andere Beispiele weisen darauf hin, dass der Vorgang der Vermögensübertragung auch in den ehemaligen österreichischen Bundesländern als »gesellschaftlicher Prozess« und »soziale Praxis« interpretiert werden muss, der abseits der Behördenvorgaben eine breite Palette an Handlungen und Interaktionen beinhaltete.13 Darauf ist auch im niederösterreichischen Hollabrunn hinzuweisen. Im Rahmen eines Vergleichs von zwölf niederösterreichischen Städten wurde dabei konstatiert: »Wie groß die Unterschiede […] waren und wie einzelne Entscheidungsträger für das Klima einer Stadt ausschlaggebend waren, zeigt das Beispiel Hollabrunn, wo der Kreisleiter in Zusammenarbeit mit dem Kreiswirtschaftsberater eine ungewöhnlich aktive Rolle spielte. Dies war auch der Grund für die rasche und radikale ›Entjudung‹ in dieser Stadt.«14
Rasche Maßnahmen und gewalttätige Übergriffe sind auch für Linz dokumentiert: Bereits am 13. März wurden Kaffeehäuser nach jüdischen Geschäftsleuten durchkämmt, die Zeitung »Arbeitersturm« veröffentlichte einen Artikel über diverse »Verhaftungen unter dem Beifall einer riesigen 12 13
14
Vgl. dazu DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES (Hg.), Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934–1945, Bd. 2, Wien 1979, 303f. Frank BAJOHR, »Arisierung« als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und »arischer« Erwerber, in: FRITZ BAUER-INSTITUT/Irmtrud WOJAK/Peter HAYES (Hg.), »Arisierung« im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt/Main–New York 2000, 15–30, hier 17. Walter BAUMGARTNER/Robert STREIBEL, Juden in Niederösterreich (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 18), Wien–München 2004, 123f.
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Menschenmenge«.15 Ernst Samuely hat man dabei schwer misshandelt. Am 14. März haben »die Angestellten« das zentrale Linzer Kaufhaus Kraus & Schober übernommen und die »Verhaftung sämtlicher jüdischer Chefs« verkündet.16 Die Papiergroßhandlung Pick war ebenfalls in zentraler Lage angesiedelt, Adolf Hitler Platz 16. Richard Pick wurde nach einem Zeitungsbericht am 13. oder 14. März 1938 von der Linzer Polizei gemeinsam mit anderen jüdischen Geschäftsbesitzern wegen »volksschädigender Betätigung« festgenommen, außerdem »wurden bei den genannten Juden auch Beträge beschlagnahmt.«17 In einem Brief des Reichssicherheitshauptamts in Berlin hieß es, Pick »galt in Linz als ein fanatischer Gegner der NSDAP […], er musste daher in Schutzhaft genommen und einem Konzentrationslager zugeführt werden«.18 Die SA brachte zeitgleich judenfeindliche Plakate an, stellte Posten auf und boykottierte den Betrieb, in dem dann bis in den April hinein kaum ein Kunde einzukaufen wagte.19 Aus den späteren Schilderungen burgenländischer Juden geht hervor, dass die Beraubungen der jüdischen Bevölkerung ein bis zwei Wochen nach dem »Anschluss« einsetzten. Die regelrechte Freigabe dazu dürfte in einer Rede Generalfeldmarschall Görings am 28. März 1938 in der Nordwestbahnhalle in Wien zu sehen sein, in der es um Maßnahmen zur »Entjudung« des Geschäfts- und Wirtschaftslebens ging.20 Geschäftsleuten wurde nun Bargeld und Schmuck abgenommen sowie teilweise später die Einrichtungsgegenstände ihrer Wohnungen und ihre persönliche Habe geplündert. In einigen krassen Fällen von persönlicher Bereicherung sah sich die Gestapo im April 1938 genötigt, gegen solche Beraubungen mit Verhaftungen vorzugehen.21 Gerade aus dem Burgenland wird in Erinnerungen von persönlichen Raubzügen berichtet, ähnlich wie in Wien. Alicia Latzer, geboren 1928 in Güssing, erinnert sich an ihre Nachbarn nach dem »Anschluss« 1938: »Ich kann mich erinnern, wie diese Leute einfach Sachen aus unserer Wohnung herausgeschleppt haben, gestohlen, Bilder, Stühle und alles. Ich war draußen und habe gesagt: ›Das ist das Schlafzimmer von meinen Eltern, das ist aus Mahagoni.‹ Die hat nicht einmal gewusst, was das war. Sagt sie: ›Du wirst noch froh sein, wenn Du einen Sessel hast‹.«22 15 16 17 18
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ARBEITERSTURM, 15. 3. 1938, 2. ARBEITERSTURM, 14. 3. 1938, 2. Zit. nach DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich 1934–1945, Bd. 2, Wien 1982, 376. Brief des Reichssicherheitshauptamts an die Abteilung 1 des Reichsministeriums des Inneren in Berlin bezüglich der Ausbürgerung von Richard Pick vom 4. 10. 1941, OÖLA [Oberösterreichisches Landesarchiv, Linz], FLD, Richard Pick. Vgl. dazu im speziellen, ebenso wie zum gesamten Fall Pick, Claudia HOFER, Enteignung und Rückstellung von Buchhandlungen, Verlagen und Druckereien im »Gau Oberdonau« unter besonderer Berücksichtigung von Linz, Dipl.-Arb., Wien 2009, 81–95, hier 88f. Karl SCHUBERT, Die Entjudung der Ostmärkischen Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, rer. soc. oec. Diss., Wien 1940, 32. DOKUMENTATIONSARCHIV, Burgenland, Bd. 2, 326. Alicia LATZER, Güssing – New York, in: Gert TSCHÖGL/Barbara TOBLER/Alfred
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Alicia Latzer wurde auch Zeugin von Misshandlungen gegenüber Juden, die am Hauptplatz von Güssing stattfanden.23 Auch im Fall des Burgenlands kann also von einer Doppelstrategie der Anschärfung – einerseits über einen »Volksantisemitismus«, andererseits über die Behörden – ausgegangen werden. Juden und Jüdinnen wurden im Laufe des April derartig rasch außer Landes getrieben, dass viele nicht einmal die Vermögensanmeldungen nach der Verordnung vom 26. April 1938 erstellen konnten. Diese Doppelstrategie wurde auch in Niederösterreich bzw. Niederdonau verfolgt. Im größten Gau der nunmehrigen »Ostmark«, noch vor der Angliederung südmährischer und burgenländischer Gebiete, waren jedoch deutliche regionale Unterschiede bei der Vertreibung und der wirtschaftlichen Ausschaltung der Juden und Jüdinnen zu beobachten. Im Osten und Norden des Landes wurde die jüdische Bevölkerung durch Maßnahmen der lokalen Behörden aus den Ortsgemeinschaften verdrängt, häufig auch in persönlichen Gesprächen: die jüdischen Familien sollten nach Wien übersiedeln. In den grenznahen Gebieten ebenso wie in Wiener Neustadt und in Vöslau kam es zu nachdrücklichen Ausweisungen durch die Gestapo. Ähnlich wie im Burgenland wurden Juden hier unter Verweis auf die bereits erwähnte 50-Kilometer-Zone kurzfristig vertrieben. In kleineren Orten des niederösterreichischen Alpenvorlandes konnten Juden vereinzelt vorerst in ihren Wohngemeinden verbleiben.24 Ab der Jahresmitte 1938 wurde die »Arisierung« realiter in den Ländern in erster Linie unter der Kontrolle der NSDAP durchgeführt und der Gesichtspunkt der »Wiedergutmachung« für die geschädigten, vormals »illegalen« Parteimitglieder begann in den Ländern in den Vordergrund zu rücken. Es war eine Besonderheit des NS-Systems, durch Trennung von Staat und Partei beim Vermögensentzug den Schein der Rechtmäßigkeit zu wahren, aber durch Personalunion die Kontrolle durch die Partei zu sichern.25 In Oberösterreich und der Steiermark machten sich die Gauleiter offen für eine Zweckbindung der »Arisierung« mit der »Wiedergutmachung« für langjährige Nationalsozialisten, die in Österreich von 1933 bis 1938 illegal tätig gewesen waren, stark. Diese Zweckbindung wurde letztlich österreichweit nicht durchgesetzt. Der reichsweiten, ordnungs- und wirtschaftspolitischen Zielen verpflichtete, in Wien amtierende »Reichskommissar für die Wiedervereinigung
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LANG (Hg.), Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen, Wien 2004, 225–244, hier 228f. Ebd. Vgl. Jonny MOSER, Die Verfolgung der Juden, in: DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934–1945, Bd. 3, Wien 1987, 335–407, hier 336f.; BAUMGARTNER/ STREIBEL, Juden in Niederösterreich, 12f. Kurt TWERASER, Wirtschaftspolitik zwischen »Führerstaat« und »Gaupartikularismus«, in: ARCHIV DER STADT LINZ (Hg.), Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen. Festschrift für Friedrich Mayrhofer, Linz 2004, 499–514, hier 505.
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Österreichs mit dem Deutschen Reich«, Josef Bürckel, lehnte eine gesetzliche Wiedergutmachungsregelung durch »Arisierungsgewinne« ab: »Bei der Arisierung«, so Bürckel, »riss zunächst folgender Missbrauch ein: Die Parteigenossen erwarteten, dass aus Gründen der Wiedergutmachung die jüdischen Vermögenswerte an sie weit unter dem Werte zu verschleudern seien […]. Daher habe ich den Grundsatz aufgestellt: Arisierung und Wiedergutmachung haben nichts miteinander zu tun. Diese meine Auffassung hat schweren Widerstand gefunden.«26
Bürckels Opponenten saßen unter anderem in den Ländern. Dort, außerhalb Wiens, war offiziell die Bevorzugung von ParteigenossInnen prioritär. In Oberösterreich bediente man sich dazu beispielsweise einer Politik der raschen Beschlagnahmungen, um Vermögen zur Distribution in die Hand zu bekommen. Der Rechtstitel für Beschlagnahmen war das reichsdeutsche Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14. Juli 1933, wobei es regionale Unterschiede gab: musste in Wien vorerst die »Staats- oder Volksfeindlichkeit« in einem Ermittlungsverfahren nachgewiesen werden, wurde laut Eigruber »in den Gauen Salzburg und Oberdonau ganz einfach eingezogen«.27 In Linz war im Landhaus eine eigene »Wiedergutmachungsstelle« eingerichtet worden, die mit »der Durchführung der jüdischen Hausverkäufe betraut« war und die Aufgabe hatte, mit InteressentInnen in Kontakt zu treten.28 In Salzburg war die Situation etwas weniger eindeutig: einerseits gelang es einer Reihe nicht qualifizierter ParteigenossInnen, auf der Basis von Interventionen »Arisierungen« durchzuführen, andererseits beklagten sich in Salzburg ehemals illegale Nationalsozialisten darüber, nach der Machtergreifung »nicht zum Zug gekommen zu sein«.29 Dies lag an der großen Zahl von InteressentInnen, denen eine vergleichsweise kleinere Anzahl in Frage kommender Objekte gegenüberstand. Zusätzlich entwickelten deutsche Käufer Begehrlichkeiten: Außenminister Ribbentrop konnte sich beispielsweise über eine Stiftung in den Besitz von Schloss Fuschl setzen, dessen Besitzer ins KZ Dachau verschleppt worden und dort verstorben war. Ribbentrop ließ weitere Grundstücke enteignen und erregte damit den Unmut der Ortsbevölkerung.30 26
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Gauleiter Josef BÜRCKEL, Zur Judenfrage in Österreich, AdR [Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Wien], Reichskommissar (Bürckel-Akten), Ktn. 73, Zl. 2160/00-III, Bl. 116–118. Einziehung volks- und staatsfeindlichen Eigentums, Gauleiter August Eigruber an Gauwirtschaftsberater Oskar Hinterleitner vom 20. November 1938, AdR, Reichskommissar (Bürckel-Akten), Sch. 30, Aktenteil 1771/0–1771/4. Vgl. dazu Michael JOHN, Ein Vergleich – »Arisierung« und Rückstellung in Oberösterreich, Salzburg und Burgenland, in: ELLMAUER/JOHN/THUMSER, »Arisierungen«, 87f. Vgl. Rudolf ARDELT, Die Ära des »Christlichen Ständestaates«, in: Heinz DOPSCH/ Hans SPATZENEGGER (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II: Neuzeit und Zeitgeschichte, 4. Teil, Salzburg 1991, 2391–2426, hier 2424–2426. Vgl. dazu Jutta HANGLER, Schloss Fuschl: Beutegut des NS-Außenministers, in: Robert KRIECHBAUMER (Hg.), Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommergäste in Salzburg, Wien–Köln–Weimar 2002, 259–296.
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III. Die Gestapo als Gegenspieler der regionalen NSDAP Mit der Gestapo trat ein weiterer bestimmender Akteur bei den Maßnahmen zur »Entjudung« im Jahr 1938 auf den Plan. Zuerst im Burgenland – hier waren unter dem für »Judenangelegenheiten« zuständigen Kriminalkommissar Otto Kurt Koch Sonderregelungen hinsichtlich des Vermögensentzugs und der Vertreibung eingeführt worden, die man in Kooperation mit lokalen NS-Funktionsträgern durchführte. Es ist nicht vorstellbar, dass Koch, der nicht aus Österreich, sondern aus Halle an der Saale stammte, ohne Deckung »von oben« vorging.31 Das Beispiel der gefürchteten Gestapo in Eisenstadt zeigt aber auch, dass Gestapodienststellen eine spezifische regionale Ausprägung annehmen konnten. Koch führte mit seinen Beamten sein eigenes Regime im Burgenland. Er ließ foltern, schlug selbst zu, erpresste und ließ erpressen, ein korrupter und selbstherrlicher Potentat. In dieser Form wird er in Narrativinterviews dargestellt. Koch ließ sich auch aus NS-Sicht auf illegale Deals ein, er bereicherte sich persönlich an »Arisierungen«.32 Seine Machtfülle erlaubte ihm alibihafte Formen der Großzügigkeit, die gleichzeitig demütigenden Charakter hatten. So heißt es in einem Akt hinsichtlich der Ausreise eines jüdischen Landarbeiters: »Der Obgenannte hat nur einen ziemlich schäbigen Anzug in seinem Besitz und steht zu befürchten, dass in diesem Zustand seine Ausreise an der Grenze auf Schwierigkeiten stoßen könnte. Ich habe daher ausnahmsweise für dessen Equipierung einen Betrag von RM [Reichsmark] 100 […] ausgeworfen. gez. Koch.«33 Im Akt hinsichtlich einer enteigneten und zur »Auswanderung« vorgesehenen Jüdin liest man: »Ich habe nicht einen, sondern drei Büstenhalter für Gabrielle K. genehmigt.«34 Der Reichsführer SS Heinrich Himmler schaltete sich mit generellen Befehlen Ende April bzw. im Mai 1938 ein: Diese besagten, dass das österreichische Judentum zur Gänze in Wien konzentriert werden solle. Aus diesem Grund unternahm die Polizei mehrere Ausweisungs- und Drohaktionen in den Ländern. Am 19. Juli 1938 wurde von Presseagenturen und in internationalen Radiosendungen auf die Notwendigkeit, Zertifikate zur Auswanderung der Juden in Linz zu besorgen, aufmerksam gemacht. Man habe diesen nur eine sehr kurze Frist zum Verlassen der Stadt eingeräumt. Gleichzeitig wurde die Strategie der Vertreibung modifiziert: Die Gestapo Linz forderte die untergeordneten Gendarmerie- und Polizeidienststellen im Sommer 1938 mehrmals auf, »Juden 31
32 33 34
Vgl. dazu Jonny MOSER, Das Unwesen der kommissarischen Leiter. Ein Teilaspekt der Arisierungsgeschichte in Wien und im Burgenland, in: Helmut KONRAD/Wolfgang NEUGEBAUER (Hg.), Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewusstsein, Wien–München–Zürich 1983, 89–97, hier 92f. Jonny MOSER, Parndorf – Wien, in: LANG/TOBLER/TSCHÖGL, Vertrieben, 315– 328, hier 318–322. »Arisierung« Siegmund Entenberg, Akt 24, und »Arisierung«, Akt 25 (Vermischtes), BLA [Burgenländisches Landesarchiv, Eisenstadt], »Arisierungsakten«, Sch. 1, 1. Ebd., 3.
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[…] die Abwanderung nach Wien nahe zulegen.«35 In Graz wurde im Juli 1938 an die rund 2000 Juden und Jüdinnen die Aufforderung erteilt, bis September aus der Steiermark abzuwandern. Aus dem Burgenland waren bereits viele Juden vertrieben worden. Den Verbliebenen drohte man unter anderem KZ-Haft an, falls sie nicht rasch emigrierten. Die Behörden handelten in den österreichischen Ländern mit einer Doppelstrategie – Ausweisung aus den Städten und Gemeinden entweder in das Ausland oder Übersiedlung in eine so genannte Judenwohnung in Wien. Die Gestapo in Linz und Salzburg wickelte ihr Programm der Vertreibung und Ausplünderung über die Wiener »Zentralstelle für Auswanderung« unter Adolf Eichmann ab. Wesentlicher Bestandteil dieser Politik war die Instrumentalisierung der Kultusgemeinden für diese Zwecke und der Terminus der »Verzichtserklärung«. Vermögende Juden leisteten einen Vermögensverzicht zugunsten der Auswanderung einkommensschwacher Juden. Die Gestapo übte auf die Kultusgemeinden Druck aus, eine möglichst hohe Anzahl von Verzichtserklärungen oder auch von »Spenden« zu lukrieren. Dies alles geschah unter dem Einsatz nachhaltiger Androhung von Repression. Diese Praxis des Vermögensentzugs wurde seit der Gründung der Zentralstelle Ende August 1938 praktiziert. Franz Stangl, später Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka sowie Polizeivorstand der Euthanasie-Stätte Hartheim, war 1938 Beamter bei der Gestapo in Linz, im so genannten »Judenreferat«. Er fasste diesen Vorgang in einfachen Worten zusammen: »Hirschfeld [der kommissarische Leiter der Kultusgemeinde, MJ] hatte eine wirklich schwere Aufgabe. Sehen Sie, jeder Jude, der auswandern wollte, wurde enteignet. Obendrein musste jeder eine bestimmte Summe zahlen – ›Steuer‹ wurde das genannt [so genannte Reichsfluchtsteuer sowie Juva-Judenvermögensabgabe, MJ] – um die Ausreisepapiere zu bekommen. Hirschfeld hatte die Aufgabe, dieses Geld für ärmere Juden aufzutreiben.«36
Was in der zweiten Jahreshälfte 1938 in ganz Österreich institutionalisiert worden war, fand in der Vertreibung der burgenländischen Juden und Jüdinnen im Frühjahr 1938 eine Art Vormodell. Die burgenländischen Juden und Jüdinnen waren bei ihrer Vertreibung ab April 1938 gezwungen worden, eine »Verzichtserklärung« zugunsten eines Auswanderungsfonds für mittellose Juden und Jüdinnen zu unterschreiben. Rund 70 Prozent der Betroffenen sollen laut einer Schätzung der Reichsstatthalterei Niederdonau diese Verzichtserklärung unterschrieben haben.37 Es handelte sich dabei um ein vorbereitetes Formular, das als Rechtsgrundlage für verschiedene Enteignungshandlungen diente: die Beschlagnahmung von Geschäften und Betrieben, des Barvermögens, 35 36 37
Zit. nach Karl SCHWAGER, Geschichte der Juden in Linz, in: Hugo GOLD (Hg.), Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch, Tel Aviv 1971, 53–62, hier 60. Zit nach Gitta SERENY, Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, München–Zürich 1997, 36f. Fasz. 2697, »Grundstücksentjudung« im Burgenland, Auswanderungsfonds für burgenländische Juden, Schreiben vom 31. 5. 1940, BLA, »Arisierungsakten«, Ktn. 20.
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der Bankguthaben, und in manchen Fällen auch die Enteignung des grundbücherlichen Eigentums. Die Unterschriftsleistung wurde in den meisten Fällen durch Haft oder auch körperliche Repression erzwungen. Im Zuge der Vertreibung der burgenländischen Juden hat die Vermögensverkehrsstelle ein eigenes Konto »Auswanderungsfonds für arme burgenländische Juden« eingerichtet. Auf dieses Konto wurden Einzahlungen direkt von der Gestapo Eisenstadt aus Beschlagnahmungen getätigt sowie aus Firmenliquidierungen und »Arisierungen«, die von so genannten »Verzichtsjuden«, aber auch von anderen Juden und Jüdinnen stammten. Gestapo und NS-Parteistellen befanden sich hier meist in einem Interessensgegensatz. Dieser war in den ehemaligen Bundesländern stark ausgeprägt. In Notsituationen hatten jüdische Betroffene häufig keine andere Wahl, als sich an die Gestapo zu wenden. Meist handelte es sich um Konflikte mit »Ariseuren« oder »kommissarischen Verwaltern«, die einen möglichst hohen Anteil an Vermögenswerten für sich selbst zu sichern suchten. Das Interesse der Gestapo lag darin, einen möglichst hohen Anteil zur Vertreibungsfinanzierung zur Verfügung zu haben. Für die betroffenen Juden und Jüdinnen, die das Land rasch verlassen wollten, war die Gestapo deswegen erster Gesprächspartner, da diese damals in der Regel dem Kalkül der Vertreibung den Vorzug vor anderen Überlegungen einräumte.38 IV. Die regionalen Strategien »Endli, endli, hot do oana dös richtig große Messa gnumma und hot dö Eitergeschwulst ausn deutschn Volk gründli außagschnittn […]. Do follt mir olliweil ein, wia ma gonz a oanfocha Oarbata gsogt hot, daß mit dö Judn grod so is wia mit dö Kopfläus. Schmirst dir den Kopf mit Petroleum ein und loßt oa Stell frei, wo a Laus übableibt, oft host in a poar Togn wieda den gonzn Schädl voll. Warum solln wir Barmherzigkeit hobn, hobn sie’s mit uns? […] Gott sei Donk, unser Führer setzt eahna dö Dam scho so fest auf’d Augn, dass neama groß werdn kinna.« (»Da Jud«, Lilienfelder Kreisbote)39
Zur Durchsetzung ihrer Politik bedienten sich die NS-Verantwortlichen in den Gauen von Anfang an eines volkstümlichen, regional oder lokal geprägten, traditionellen Antisemitismus, in dessen Vordergrund das Bild des reichen, parasitären Juden, des »Volksschädlings«, stand. Gerade in den einzelnen Regionen schien dies, auf breite Schichten abzielend, eine Erfolg versprechende Strategie darzustellen. Im Mittelpunkt der Politik der NS-Eliten standen hingegen meist ökonomische und machtpolitische Kalküle: wichtig schien die Sicherung eines möglichst umfangreichen jüdischen Vermögens im eigenen Einflussbereich. Hinsichtlich einer strukturellen Beschreibung erscheint das bereits ältere 38
39
Vgl. dazu genauer Michael JOHN, »Bereits heute schon ganz judenfrei …«, in: Friedrich MAYRHOFER/Walter SCHUSTER (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 2, 1311–1406, hier 1373–1375. LILIENFELDER KREISBOTE, 11. 9. 1939, zit. nach Christoph LIND, »… sind wir doch in unserer Heimat als Landmenschen aufgewachsen …«. Der »Landsprengel« der Israelitischen Kultusgemeinde St. Pölten: Jüdische Schicksale zwischen Wienerwald und Erlauf, St. Pölten 2002, 50f.
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Polykratiemodell Peter Hüttenbergers als geeignetes Instrument, um im Fall von Vermögenseinzug und -verfall, »Arisierung« und Beraubung in unterschiedlichen regionalen Räumen des Deutschen Reichs bzw. Österreichs angewendet zu werden. Das Grundmuster der Polykratie besagt, dass das NS-Herrschaftssystem aus einer Vielzahl von weitgehend autonomen Herrschaftsträgern bestand, die miteinander um Machtbereiche und Einflusssphären konkurrierten; ein System, das durch »Führer«, den »Führermythos« und durch gemeinsame Interessen zusammengefügt wurde. Dies erlaubte aber auch in diversen Bereichen – wie eben »Arisierung« und »Beschlagnahme von Vermögen« – eine bestimmte Autonomie und gewisse Handlungsspielräume.40 Im Kontext von Regionalstudien weist Frank Bajohr darauf hin, dass »kaum ein anderes Thema der nationalsozialistischen Judenverfolgung eine vergleichbare regionalgeschichtliche Relevanz [besitzt], weil […] die Entwicklung auf Lokal- und Regionalebene den reichsweiten Anordnungen weit vorauseilte« und oft auch Sonderbestimmungen eingeführt worden waren.41 Die regionalen NSDAP-Interessen wurden ab 1935/1936 im Deutschen Reich an oberster Stelle – neben den Gauleitern – von den Gauwirtschaftsberatern wahrgenommen. Sie waren der NSDAP-Kommission für Wirtschaftspolitik in München unterstellt. Die Gauwirtschaftsberater versuchten damals, die Kaufverträge zwischen jüdischen UnternehmerInnen und den »Arisierungs«-InteressentInnen zu steuern. Das bedeutete unter anderem: Bevorzugung von NSDAP-Mitgliedern, Verhinderung von »Konzernbildung«, Förderung von Jung- und Nachwuchsunternehmern. In Österreich wurde die bereits erwähnte Vermögensverkehrsstelle (VVSt) beim Ministerium für Wirtschaft und Handel in Wien als zentrale Instanz eingerichtet. Die in Österreich geschaffene Administrationsstruktur produzierte eine Interessenskonstellation mit verteilten Rollen zwischen Wien und den Provinzen (Ländern). Der Bedeutung der Gauwirtschaftsberater der NSDAP im »Arisierungsverfahren« wurde durch die Besetzung der obersten Stelle Rechnung getragen. Zum Leiter der VVSt wurde Walter Rafelsberger (Staatskommissar in der Privatwirtschaft) ernannt, der zugleich Gauwirtschaftsberater Wiens war. In den Ländern bestanden ebenfalls Vermögensverkehrsstellen (z. B. in Linz, Graz, Salzburg usw.), die in Verbindung mit dem Gauwirtschaftsberater und dem übergeordneten Gauleiter standen. Die Endgenehmigung der Kaufverträge jüdischer EigentümerInnen und »arischer« ErwerberInnen oblag jedoch in allen Ländern der Vermögensverkehrsstelle in Wien.42 40 41 42
Vgl. Peter HÜTTENBERGER, Nationalsozialistische Polykratie, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1976), 417–442. Frank BAJOHR, Arisierung in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 15. Vgl. BAUMGARTNER/GREIFENEDER/FENNES/SCHINKOVITS/TSCHÖGL/WENDELIN, Burgenland, 148–151.
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Damit waren Differenzen vorprogrammiert. In Oberösterreich und Salzburg sowie auch in Tirol, Steiermark und Niederösterreich lassen sich hinsichtlich der Rolle der jeweiligen Gauwirtschaftsberater und der Gauleiter ähnliche Muster herausarbeiten. Nahezu reflexartig kam es immer wieder zu Differenzen zwischen der »Provinz« und der »Zentrale«, der Vermögensverkehrsstelle in Wien. Ernst Hanisch nannte dieses Phänomen »Anti-Wien-Komplex«.43 Eine weitere Konstante war das Bestreben, reichsdeutsche Interessenten möglichst nicht zum Zug kommen zu lassen. Sowohl der Gauwirtschaftsberater von Oberösterreich als auch jener von Salzburg versuchten dabei ihren eigenen Einfluss sicherzustellen und ihre/n bevorzugte/n »Arisierungs«-WerberIn durchzusetzen. Gauwirtschaftsberater Hinterleitner aus Oberösterreich als auch Gebert aus Salzburg waren bereits in der Zeit der Illegalität der Nationalsozialisten Mitglied der NSDAP gewesen. Beide hatten Chargenränge in der SS inne, beide waren hohe Funktionäre in der jeweiligen Handelskammer, beide übten die Funktion eines Präsidenten der Industrie- und Handelskammer ihres Gaus aus. Schließlich sorgten die Gauwirtschaftsberater als langjährige Handelskammerfunktionäre dafür, dass konkrete Interessen einheimischer Kaufleute wahrgenommen wurden, sei es durch Ausschaltung von Konkurrenten, durch Zusprechen des einen oder anderen Betriebs, sei es durch eine geplante Aktion für lokale UnternehmerInnen, die im Zuge der stadtplanerischen Neugestaltung von Linz ihr Geschäftslokal aufgeben mussten. Als die Vermögensverkehrsstelle Wien aufgelöst wurde und Ende 1939 die »Arisierungsakten« und Agenden an die Gaue abgegeben wurden, stieg der Einfluss der regionalen »Arisierungsbürokratie«. Ab nun war es vor allem die jeweilige Gaukämmerei, die vornehmlich mit den einschlägigen Vorgängen befasst war. Die Gaukämmerer – beispielsweise Robert Lippert in Salzburg, Franz Danzer in Linz – engagierten sich auch persönlich in den »Arisierungsfragen«, die die ihnen unterstellten Abteilungen bearbeiteten. Während formal die Gaukämmerei in der Folge die Hegemonie in der Zuständigkeitsfrage für die entzogenen Vermögen erlangte, war es Gauwirtschaftsberater Hinterleitner gelungen, entscheidenden Einfluss auf die »Arisierung« und auch auf andere gesellschaftliche Belange in den südböhmischen Bezirken Krumau/Český Krumlov und Kaplitz/ Kaplice zu erringen, die an den Gau Oberdonau angeschlossen wurden. Der Gau Oberdonau der NSDAP reichte hingegen bis nach Budweis/ České Budějovice und Tabor ins Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Eine Peripherisierung der angeschlossenen Gebiete konnte man in Oberdonau, aber auch im Gau Niederdonau in Hinblick auf südmährische Gebiete beobachten. Gauleiter Hugo Jury versuchte ebenfalls im Protektorat Einfluss zu nehmen. Die NSDAP Niederdonau unterhielt Kreisleitungen in Brünn/Brno und Iglau/Jihlava. Diese Bestrebungen gipfelten 1940 im Plan, das Protektorat zu zerteilen, den Bezirk Budweis/ 43
Vgl. HANISCH, Gau der guten Nerven, 97.
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České Budějovice dem Gau Oberdonau zuzuschlagen und den Bezirk Brünn/Brno dem Gau Niederdonau.44 Die beiden Gauleiter Eigruber und Jury waren in dieser Frage Bündnispartner.45 Der Begriff »ostmärkische Provinz« rechtfertigt sich dadurch, als Kräfte aus Oberösterreich und Niederösterreich zusammen mit einheimischen Nationalsozialisten versuchten, in ihrem Sinne die südmährischen und südböhmischen Gebiete zu beherrschen. Jury war ein im NS-Staat ebenfalls einflussreicher Gauleiter. Er war nur knapp kürzer als Eigruber im Amt, von Mai 1938 bis Kriegsende 1945.46 Salzburgs Gauleiter der Jahre 1938 bis 1941, Friedrich Rainer, ließ sich über den Fortgang der »Arisierungen« durch Amtsvorträge jeweils informieren und griff auch immer wieder selbst in Entscheidungen ein. Gauleiter Rainer schien die Entscheidungsprozesse in seinem Gau allerdings nicht vollständig im Griff zu haben. Dass Rainer im Falle des Kaufhauses Schwarz zunächst für eine »Arisierung« eintrat, um den Fortbestand des Betriebes zu gewährleisten, danach aber seine Meinung änderte und sich der Forderung der Salzburger Kaufmannschaft und des Gauwirtschaftsberaters Gebert hinsichtlich einer Liquidierung anschloss, scheint beachtenswert. Allerdings stand möglicherweise das einigende Kalkül im Vordergrund, zu verhindern, dass ein Deutscher, der Hamburger Kurt Wittje, das Kaufhaus übernahm.47 Es gibt eine Reihe von Anzeichen von Problemen des Gauleiters mit dem Ablauf der »Arisierung« in Salzburg – die Erfolge der »Ariseure« mussten offensichtlich bei den einfachen Parteimitgliedern und in der Bevölkerung zu Verstimmungen geführt haben, worauf Rainer im Jänner 1941 folgende Anordnung traf: »Um im Volk alle Missverständnisse […] auszuschließen, ordne ich an, dass kein Amtswalter der Partei, Gliederungen und angeschlossenen Verbänden sowie kein öffentlicher Beamter und Angestellter im Reichsgau Salzburg ehemaliges jüdisches Vermögen im Arisierungswege als Privateigentum erwerben darf.«48 Rainer selbst hatte diese Maxime umgangen: Als Gauleiter ließ er seinen Rauchsalon mit Einrichtungsgegenständen aus der Sammlung Rothschild einrichten.49 44 45 46
47 48 49
Zur Thematik der südmährischen und südböhmischen Gebiete mehr in weiterer Folge dieses Beitrags. Die faschistische Okkupationspolitik in Österreich und der Tschechoslowakei (1938–1945). Dokumentenedition, Köln 1988, 149f. Vgl. Maren SELIGER, NS-Herrschaft in Wien und Niederdonau, in: TALOS/HANISCH/NEUGEBAUER/SIEDER (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich, 237–259, hier 247f.; Klaus-Dieter MULLEY, »Ahnengau des Führers«. Alltag und Herrschaft in »Niederdonau«, in: Nationalsozialismus in der österreichischen Provinz. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst 4 (1991), 7–17, hier 12. Vgl. LICHTBLAU, Arisierungen in Salzburg, 64–70. Der Gauleiter und Reichsstatthalter in Salzburg vom 17. Juni 1941, gez. Rainer. SBGLA [Salzburger Landesarchiv, Salzburg], Reichsstatthalterei, BdRSTH 7/1941. Regierungspräsident Salzburg an den Gauleiter in Salzburg vom 2. November 1939 SBGLA, LH, Sch. 17, zit. nach Frank BAJOHR, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Wien 2001, 110.
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Oberösterreichs Landeshauptmann und Reichsstatthalter August Eigruber, Gauleiter von März 1938 bis Mai 1945, hatte, verglichen mit anderen Gauleitern, eine machtpolitisch sehr starke Position. Eigruber war laut Tweraser »von Anfang an ein Vertreter von Anti-Wien-Affekten und eines NS-Provinzialismus, den nicht nur Nationalsozialisten attraktiv fanden«.50 Wenn möglich, gab er sich auch »Anti-Berlin« und verhinderte etwa »Arisierungen« durch Interessenten aus Berlin bzw. dem »Altreich«. Eigruber zeigte, dass er »Arisierung« als Chefsache begriff, und setzte sich dabei mit seinen Präferenzen im Regelfall immer durch. Eigruber wohnte mit seiner Familie in einer »arisierten« Villa in einem Nobelviertel.51 Er und auch andere Parteiinstanzen, ebenso wie die SA, setzten sich wiederholt nachhaltig für die ehemals »illegalen« Parteigänger im Rahmen von »Arisierungen«, »Entjudung« und damit zusammenhängenden Verwaltungstätigkeiten (z. B. Bestellung »kommissarischer Verwalter«) ein, und damit konnten sie die ehemals radikalen Parteigenossen im Rahmen der Erfordernisse des NS-Staates domestizieren. Es kam zwar zu Eigenmächtigkeiten und Sonderregelungen, wie im Salzkammergut, diese wurden dann aber einvernehmlich geregelt. Ein eigener »SalzkammergutErlass« wurde eingeführt, schließlich wurden die Villen des beliebten Seengebiets zur Verhandlungssache zwischen potentiellen KäuferInnen, Reichsdienststellen und drei Gauverwaltungen.52 Ein weiteres Spezifikum im Kontext der Themenstellungen Vermögenstransfer und Bereicherung stellte die Tatsache dar, dass Adolf Hitler in seiner »Patenstadt« Linz, die überdies auch zur »Führerstadt« erhoben worden war, unter anderem ein »Führermuseum« errichten lassen wollte, das Linz in den Rang einer mitteleuropäischen Kulturmetropole heben sollte.53 Der Beschaffungsauftrag dazu wurde Sonderauftrag genannt. Von 1939 bis 1944 hat der damit beauftragte Stab für das zu schaffende Linzer Kunstmuseum tausende Kunstwerke und Kunstgegenstände in ganz Europa akquiriert, das heißt, offiziell beschlagnahmt oder formlos geraubt, durch erzwungenen Verkauf in Besitz genommen, durch Ankauf, durch Schenkung bzw. erzwungene Schenkungen. Das Führermuseum, das zu schaffende Linzer Kunstmuseum, war nicht identisch mit dem Landesmuseum/Museum des Reichsgaus, es blieb bis Kriegsende Fiktion, wurde nie eingerichtet. Das Oberösterreichische Landesmuseum/Museum des Reichsgaues und dessen Eigentümer, der Reichsgau Oberdonau, 50 51 52
53
TWERASER, Wirtschaftspolitik, 503. Niederschrift Danzer über die Revision der von RA Nadler treuhändig verwalteten Vermögenschaften, 21. 1. 1939, OÖLA, Gauselbstverwaltung, Sch. 20, Fasz. 20/4, Fa. Mostny. Vgl. Daniela ELLMAUER/Regina THUMSER, »Arisierungen«, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in Oberösterreich, in: ELLMAUER/ JOHN/THUMSER, »Arisierungen«, 381–398. Vgl. dazu Birgit KIRCHMAYR, »Kulturhauptstadt des Führers«? Anmerkungen zu Kunst, Kultur und Nationalsozialismus in Oberösterreich und Linz, in: DIES., (Hg.), »Kulturhauptstadt des Führers«. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, Linz 2009, 33–58.
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standen aber in engem Zusammenhang mit den kulturpolitischen Bemühungen um das geplante Mega-Museum. Am Ende dieser kulturpolitischen Bemühungen stand im Mai 1945 ein Stollen, in dem die US-Armee die tausenden Kunstwerke des Sonderauftrags barg. Nicht alle Kunstwerke, die im Stollen des Salzbergwerks von Altaussee aufgefunden wurden, können dem geplanten Führermuseum zugeordnet werden, es handelte sich dabei um ein riesiges Depot in den Alpen. Weitere NSDepots befanden sich in den beschlagnahmten Stiften Kremsmünster und Hohenfurth/Vyšší Brod (Südböhmen) sowie in Schloss Eferding.54 Für Österreich typische Patronage- und Klientel-Verhältnisse wurden damals unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft neu formuliert. Auch in Salzburg kann letztlich davon ausgegangen werden, dass die »Arisierungen« im Jahre 1938 unter zentraler Kontrolle abliefen, auch wenn es von verschiedenster Seite zu Unmutsbekundungen kam. Korruption und Unregelmäßigkeiten wurden z. B. in Oberösterreich von oberster Stelle, also von Eigruber persönlich, gedeckt. Selbst Gestapo-Sonderermittler aus Berlin konnten beispielsweise in großen Korruptionsfällen gegen den Teilzeit-Gauwirtschaftsberater Mielacher, gegen den Linzer Oberbürgermeister Sepp Wolkerstorfer und gegen den diese protegierenden Gauleiter Eigruber wenig ausrichten.55 Matthias Mielacher erledigte für Eigruber »besondere Aufträge«, wie dieser vor dem Staatsanwalt aussagte, und presste unter anderem österreichischen und deutschen Juden »Spendengelder« ab, zahlbar an die Gauleitung oder an andere Institutionen. Mielacher war auch persönlicher Finanzberater des Herzogs von Braunschweig, der wirtschaftliche Interessen in Oberösterreich hatte.56 1939/1940 lässt sich nunmehr ein in mehreren Fällen große Betriebe betreffendes – direktes und erfolgreiches – Zusammenspiel zwischen Gauwirtschaftsberater (und zeitweiligem Landesrat) Oskar Hinterleitner und Gauleiter Eigruber beobachten. So erhielt zum Beispiel die »Handels- und Industrie Ges.m.b.H.« unter der Leitung Hinterleitners den Zuschlag für die »Arisierung« des größten oberösterreichischen Warenhauses »Kraus & Schober«. Die Firma wurde zum günstigen Preis von 350.000 RM erworben, zahlbar an die Gauleitung.57 Ein weiteres Beispiel stellt die Sicherung der großen Papierfabrik Spiro, Pötschmühle AG, im südböhmischen Kreis Krumau für den Gau Oberdonau dar. Hinterleitner schüchterte die Besitzer so weit ein, dass sie ihre Aktien an die unter 54
55 56 57
Birgit KIRCHMAYR, Raubkunst im »Heimatgau des Führers«. Aspekte, Zusammenhänge und Folgen von nationalsozialistischer Kulturpolitik und Kunstenteignung im Reichsgau Oberdonau, in: DIES./Friedrich BUCHMAYR/Michael JOHN (Hg.), Geraubte Kunst in Oberdonau (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 6), Linz 2007, 35–190, hier 140f. Vgl. dazu JOHN, »Bereits heute schon ganz judenfrei …«, 1370–1373. Akt Matthias Mielacher, Abschrift aus 3.E.V.190.28, OÖLA, Landesgericht Linz, Sondergerichte, Politische Gerichtsakten 1939, Sch. 980. Vgl. ELLMAUER/THUMSER, »Arisierungen«, 320–323.
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der Kontrolle des Gaus stehende Steyrermühl AG deutlich unter dem Marktwert verkauften. Eigruber und Hinterleitner verhandelten mit den Reichsressorts in Berlin, um diesen Deal durchführen zu können.58 Noch vor der späteren Konfiskation der Kirchengüter sollte Eigruber 1940 ein noch größeres Vermögenspotential als jenes der »Arisierungen« mit der Beschlagnahme der Güter des Hauses Schwarzenberg (großteils in Südböhmen) in die Hände fallen.59 Lediglich im Fall der Zellstoff- und Papierfabrik Bunzl in Lenzing gelang es dem Gau nicht, entscheidenden Einfluss zu nehmen. Das Dritte Reich leitete 1938 unter Einschaltung der Kontrollbank, die nach Roman Sandgruber in Österreich »komplexeste Arisierung« ein. Schließlich wurde das Werk der Thüringischen Zellstoff AG einverleibt. Zusammen mit der Neuerrichtung der Zellwolle Lenzing AG stellte dies ein Musterbeispiel einer wirtschaftspolitischen Germanisierung in der »Ostmark« dar.60 Kaum vergleichbar gestaltete sich die Situation im Burgenland, von dem man wusste, dass es auf größere Territorialeinheiten aufgeteilt werden würde. Die regionale Steuerung geschah auf folgendem Weg: Die kommissarischen Leiter wurden von den einzelnen Fachgruppen des Handels und Gewerbes vorgeschlagen und von Karl Gratzenberger als »beauftragtem Vertrauensmann des Staatskommissars in der Privatwirtschaft« bestellt. Sein Verfügungsbereich betraf Ostösterreich. Später wurde für das Burgenland der Gaubeauftragte Landesrat Anton Schlamadinger mit der Ernennung der kommissarischen Verwalter betraut, ein Recht, das ihm im August 1938 wieder entzogen wurde. Mit dieser Aufgabe betraute man nun die zuständigen Kreiswirtschaftsberater. Sie bekamen die Befugnis zur Ernennung von kommissarischen Verwaltern und delegierten diese Aufgabe an Unterbeauftragte weiter, die ihnen Bericht erstatteten.61 Schließlich wurden im Burgenland auch Geschäfte »über Auftrag des Gauführers für Handwerk und Handel« in kommissarische Verwaltung genommen, wie etwa auch einzelne Verbände des Reichsnährstandes eine eigene »Arisierungsstelle« einrichteten.62 Der Reichsnährstand dürfte gemeinsam mit den lokalen NSDAP-Organisationen und der Gestapo die Logistik der Vertreibung der burgenländischen Juden und der »Arisierung« ihrer Geschäfte und Betriebe übernommen haben. Ein Dienststellenleiter des Reichsnährstands im Burgenland war der spätere Eichmann-Mitarbeiter und Kriegsverbrecher Alois Brunner.63 Von einem Gauwirtschaftsberater des Burgenlandes ist in den Akten nicht die Rede. Offenbar hat 58 59 60 61 62 63
TWERASER, Wirtschaftspolitik, 505f. Vgl. Helmut FIEREDER, Schwarzenbergische Güter in der Zeit der NS-Gewaltherrschaft, in: Oberösterreichische Heimatblätter 54-1/2 (2000), 45–54, hier 51. Vgl. Roman SANDGRUBER, Lenzing. Anatomie einer Industriegründung im Dritten Reich, Linz 2010, 85–120. MOSER, Das Unwesen der kommissarischen Leiter, 95f. DOKUMENTATIONSARCHIV, Burgenland, Bd. 2, 311. Vgl. BAUMGARTNER/GREIFENEDER/FENNES/SCHINKOVITS/TSCHÖGL/WENDELIN, Burgenland, 146–148.
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man hier die Empfehlungs- bzw. Entscheidungsgewalt auf Bezirks- oder Gemeindeebene fixiert. Was die regionale Ebene anlangt, war infolge der geplanten Aufteilung des Landes offenbar ein gewisses Vakuum entstanden. Der Gauleiter und Landeshauptmann Tobias Portschy kämpfte jedenfalls auf allen Ebenen möglichst lange um Einfluss. Er kann als ideologischer Wegbereiter für den Radikalisierungsschub nach dem »Anschluss« Österreichs im Burgenland gelten und konzentrierte sich persönlich in erster Linie auf die Verfolgung der Roma und Sinti. In Niederösterreich begann man 1940 in der Reichsstatthalterei das Sonderdezernat IV d-8 einzurichten. Diese Abteilung nahm unter anderem Nachforschungen über aus NS-Sicht widerrechtlich entzogenes Vermögen im Nordburgenland vor und versuchte, den Verbleib der »Arisierungserlöse« von 1938 bis 1940 ausfindig zu machen. Untersuchungen wurden dabei gegen einzelne Institutionen der NSDAP, die Gestapo und korrupte Einzelpersonen eingeleitet. Die Geschäfte des Ortsgruppenleiters und Bürgermeisters von Frauenkirchen, Josef Püspöck, gerieten bald ins Visier der Revisoren des Sonderdezernats. Auch gegen den Bürgermeister von Lackenbach, Matthias Scheiber, wurde ermittelt. Ein Bericht des Sonderdezernats hält zu Scheibers Verhalten fest, »dass es in Lackenbach, wo zur Zeit des Umbruchs ein Drittel der Bevölkerung Juden und die begüterte, wirtschaftlich führende Schicht waren«, zwischen den NSDAP-Mitgliedern und der Ortsbevölkerung »bei der legalen, teilweise aber auch gewaltsamen und ungesetzlichen Verteilung des Judenvermögens« zu Auseinandersetzungen »unerfreulicher Art« gekommen sei.64 Der Ortgruppenleiter und Bürgermeister von Parndorf, Dikovich, wurde wegen Korruption, Betrug und Diebstahl im Zuge der »Entjudung« verhaftet und verurteilt.65 Der Sonderbeauftragte für die Untersuchung der »Arisierungen« kam zu dem Schluss: »[…] soviel gestohlen, unterschlagen und veruntreut wie im Burgenland wurde nirgends« und prangerte die »eigennützige Verteilung des Judenvermögens« an.66 Im Gau Steiermark wurde kein Sonderdezernat eingerichtet, war doch der ehemalige burgenländische Gauleiter Tobias Portschy zum stellvertretenden Gauleiter der Steiermark ernannt worden. Die »Arisierung« im Südburgenland war nach der Aufteilung des Burgenlands über die Vermögensverkehrsstelle Graz gelaufen sowie ab 1940 über die Reichsstatthalterei bzw. die Gaukämmerei der Steiermark. 64
65 66
Reichsministerium des Inneren, Akten betr. Österreich, Bürgermeister, Beigeordnete, Stadtkämmerer. Bericht des Reichsstatthalters von Niederdonau an den Reichsminister des Inneren vom 27. Jänner 1943, DÖW [Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien], Akt 2880. Vgl. MOSER, Das Unwesen der kommissarischen Leiter, 91f. »Grundstücksentjudung« im Burgenland. Bericht des Sonderbeauftragten für das Burgenland und Südmähren an den Leiter der Abteilung IV, Dr. Haushofer, 2. 9. 1940, BLA, »Arisierungsakten«, Ktn. 20, Fasz. 2697. Das Zitat wurde zum Titel einer einschlägigen Arbeit: Gert TSCHÖGL, »… soviel gestohlen, unterschlagen und veruntreut wie im Burgenland wurde nirgends«, in: Verena PAWLOWSKY/Harald WENDELIN (Hg.), Arisierte Wirtschaft. Raub und Rückgabe (Österreich von 1938 bis heute 2), Wien 2005, 54–71.
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Die VVSt-Statistik der Betriebsvermögen zeigt, dass die Lage der Betriebe und der Wohnsitz des Anmelders nicht immer parallel liefen. Es befand sich wesentlich mehr Betriebsvermögen außerhalb Wiens, als dies dem Wohnsitz der Anmelder entsprochen hatte: Von insgesamt 321,3 Millionen Betriebsvermögen wurde 85 Prozent der Vermögen nach dem Wohnsitz des Anmelders in Wien lokalisiert, 13,2 Prozent in den Bundesländern und 1,8 Prozent im Ausland. Nach der Lage des Vermögens wurden 77,5 Prozent der Betriebsvermögen in Wien lokalisiert, 17,0 Prozent in den Bundesländern und 5,5 Prozent im Ausland. Es kann festgestellt werden, dass sich im Verhältnis zur ansässigen jüdischen Bevölkerung disproportional große Vermögenswerte in den ehemaligen Bundesländern befunden haben.67 Damit war eine relevante Manövriermasse für regionale und lokale Funktionsträger gegeben, die später durch die Einziehung der kirchlichen Güter bzw. die Konfiszierung des Vermögens adeliger Opponenten des Regimes noch vergrößert wurde.68 V. Der Sonderfall der südböhmischen und südmährischen Bezirke Mit dem Münchner Abkommen vom 28. September 1938 vereinbarten Großbritannien, Frankreich, Italien und das Deutsche Reich über die Regierung der Tschechoslowakischen Republik hinweg den Anschluss des mehrheitlich deutsch besiedelten Sudetengebiets an das Deutsche Reich. Dabei wurden südböhmische Bezirke dem Land Oberösterreich/Gau Oberdonau zugeschlagen und südmährische Bezirke Niederösterreich/ Niederdonau. Niederdonau war um die südmährischen Bezirke Neubistritz/Nová Bystřice, Znaim/Znojmo und Nikolsburg/Mikulov sowie um Engerau/Petržalka bei Pressburg/Bratislava erweitert worden. Im Vorfeld und bei der Übernahme der südböhmischen und südmährischen Gebiete ereigneten sich dramatische Szenen. Im September 1938 hatte die tschechoslowakische Armee ihre Truppen mobilisiert. Vornehmlich junge, deutschsprachige Männer aus der Region überschritten in der Folge die Grenze zur »Ostmark«, wo sie Sudetendeutsche Freikorps bildeten und sich aufrüsteten. In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen, viele tschechische Bewohner flohen ins Landesinnere. Das Vordringen der Freikorps und die darauf folgende Okkupation durch die Deutsche Wehrmacht Anfang Oktober 1938 führten zu Flucht, Verfolgung und Vertreibung von Juden und Jüdinnen, TschechInnen und politischen GegnerInnen. Als Beispiele seien die Ausweisung der jüdischen EinwohnerInnen aus Lundenburg/Břeclav oder die Flucht der Nikolsburger »Sozialdemokratischen Republikanischen Wehr« genannt.69 67 68
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Statistik der Vermögensverkehrsstelle Wien, Stand per 1. 10. 1939, Tabellen Betriebsvermögen; Wohnsitz des Anmelders (Tabelle 6, Tabellen 9), AdR, VVSt, Ktn. 1374. Im Burgenland lebten vor dem deutschen Einmarsch 7000 bis 8000 Roma und Sinti, deren Vermögen während der NS-Jahre ebenfalls in organisierter Weise entzogen wurde. Vgl. dazu Gerhard BAUMGARTNER/Florian FREUND/Harald GREIFENEDER, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 23/2), Wien–München 2004. Peter MÄHNER, Niederösterreich und seine Grenzen, in: Stefan EMINGER/Ernst
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Angriffe gegen TschechInnen und Juden und Jüdinnen kamen auch in den südböhmischen Bezirken vor, die an Oberösterreich, an den Gau Oberdonau, fielen. Dies betraf die beiden südböhmischen Landkreise Krumau/Český Krumlov und Kaplitz/Kaplice. Der Gerichtsbezirk Gratzen/Nové Hrady wurde vorerst Niederdonau zugeschlagen, nach einer Auseinandersetzung jedoch dem Gau Oberdonau angeschlossen. Dieser umfasste in der Folge südböhmische Gebiete im Ausmaß von 1747 Quadratkilometern und 96.939 Personen, rund 12 Prozent der Fläche und 10 Prozent der Bevölkerung des nunmehrigen, vergrößerten Gaus.70 Aus Krumau/Český Krumlov wurde mehrfach von Exzessen berichtet, auch bereits kurz vor dem Münchner Abkommen. Nach der jüdischen Zeitschrift »Iwrit Medina« lagen bereits Mitte September »auf den Straßen und Gassen von Český Krumlov die Scherben zerbrochener Auslagenscheiben. Geschäfte, die man verdächtigte, jüdische oder tschechische Inhaber würden sie ihr Eigen nennen, hatten die Scheiben eingebüßt. Die meisten Auslagen waren geplündert worden.«71 Auch am 1. Oktober 1938 herrschte Gewalt seitens pro-nationalsozialistischer Aktivisten auf den Straßen Krumaus.72 Aus kleineren Orten wurde ebenfalls von Übergriffen berichtet: In Oberplan/Horní Planá umringte eine Menge das Auto der zur Flucht bereiten Kaufmannsfamilie Schwarz: »Die Menge pöbelte die verstörten Wageninsassen an und schlug dabei unter Ausstoßung heftiger Drohungen auf das Auto ein; andere Dorfbewohner verwüsteten indessen das Haus der Familie […] in blinder Zerstörungswut.«73 In vielen Orten begrüßten Mehrheiten der Bevölkerung die reichsdeutsche Machtübernahme. Pater Dominikus Kaindl, der später in gewisser Weise mit den neuen Machthabern kooperierte, schrieb über die Ankunft deutscher Truppen in Hohenfurth am 2. Oktober 1938 in sein Tagebuch: »Sie [die deutschen Soldaten] wurden von der Bevölkerung mit Jubel empfangen, denn es war eine wirkliche Befreiung von der tschechischen Herrschaft. Mit Genugtuung haben die Deutschen gesehen, wie die Tschechen sich zur Abreise rüsteten. Im Stift Hohenfurth wurden die deutschen Truppen bewirtet […]. Es waren erhebende Tage für die Deutschen, als alles deutsch wurde, die tschechischen Beamten, Aufseher udgl. verschwanden und die tschechische Schule geschlossen wurde […].«74
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LANGTHALER (Hg.), Politik. Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Wien– Köln–Weimar 2008, 30. Vgl. Harry SLAPNICKA, Oberösterreich als es »Oberdonau« hieß, 1938–1945, Linz 1978, 46. IWRIT MEDINA (Deutsche Ausgabe, Prag) vom 19. 9. 1938, 3; vgl. ferner Michael JOHN, Aspekte der Enteignung, Vertreibung und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Oberösterreich und Südböhmen, in: Richard PLASCHKA/Horst HASELSTEINER/Arnod SUPPAN/Anna DRABEK (Hg.), Aktuelle Forschungen zur nationalen Frage und Vertreibungspolitik in der Tschechoslowakei und Österreich 1937– 1948, Wien 1997, 33–70, hier 47–49. Vgl. Gerwin STROBL, Die Landkreise Krumau und Kaplitz bei Oberdonau, in: OBERÖSTERREICHISCHES LANDESARCHIV (Hg.), Reichsgau Oberdonau. Aspekte 2 (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 4), Linz 2005, 355f. Ebd., 386. Dominik KAINDL, Geschichte des Stiftes Hohenfurth 1943–46. Tagebuchaufzeich-
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Die Besetzung des Kreises Krumau/Český Krumlov erfolgte durch deutsche Truppen vom 1. bis 8. Oktober 1938, eine der paramilitärischen Hauptstützen in der unmittelbaren Umbruchzeit war die SA-Standarte Böhmerwald, die ihren Standort in Südböhmen hatte und der SA-Brigade Nr. 94 in Linz unterstand. Die Eingliederung in den Gau Oberdonau wurde in Krumau und Kaplitz festlich begangen, der oberösterreichische Gauleiter sprach vom Fall der »Unrechtsgrenze« und von der glücklichen Zukunft der Bewohner. Am 20. Oktober 1938 besuchte Adolf Hitler Krumau und Kalsching/Chvalšiny, er wurde begeistert empfangen. Nach allen zeitgenössischen Quellen war bereits der Empfang der deutschen Truppen sowie der oberösterreichischen SA-Verbände in hohem Maß enthusiastisch gewesen. Dieser Einschätzung entsprach das Ergebnis der zu einer Art Volksabstimmung umfunktionierten Wahl des 4. Dezember 1938 im Kreis Krumau mit 19.596 Stimmen für Adolf Hitler und keinen NeinStimmen. In Kaplitz wurden 18.654 Ja- und fünf Nein-Stimmen gezählt.75 Das Münchner Abkommen wurde von einem Exodus der jüdischen Bevölkerung begleitet, die in Südböhmen die neue Grenzlinie nördlich von Kalsching-Krumau-Kaplitz-Gratzen zu überschreiten trachtete, um in die so genannte Rest-Tschechoslowakei zu gelangen. Dabei kann insgesamt von einem Personenkreis von 300 bis 400 Personen ausgegangen werden.76 Es würden im Grenzgebiet – so eine Protestnote der britischen Botschaft – »Juden in einem beklagenswerten Zustand zwischen den deutschen und tschechischen Linien herumirren«.77 Die tschechoslowakische Presse hatte ausführlich über die Angriffe und Verfolgungen berichtet, denen die jüdische Bevölkerung bei der Besetzung Österreichs ausgesetzt war. Dies führte dazu, dass jene Gruppen, die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zu fürchten hatten, sehr sensibel auf tagespolitische Ereignisse reagierten.78 Neben der jüdischen Bevölkerung flüchteten KommunistInnen, SozialdemokratInnen, auch die tschechisch-national eingestellte Bevölkerung. Von Letzterer sind Häuser, Geschäfte und Liegenschaften verlassen worden. Es ist dabei auch zu gewalttätigen Übergriffen gegen noch
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nungen von Dr. P. Dominik Kaindl, Abt-Koadjutor für das Stift Hohenfurth und Generalvikar der deutschen Pfarreien, die zur Diözese Budweis gehörten, in: Glaube und Heimat 45/6 (1993), 3–8, hier 4f. Jiri ZALOHA, Der Bezirk Český Krumlov (Böhmisch Krumau) am Ende des Jahres 1938, in: Thomas WINKELBAUER (Hg.), Kontakte und Konflikte. Böhmen, Mähren und Österreich: Aspekte eines Jahrtausends gemeinsamer Geschichte, Horn– Waidhofen an der Thaya 1993, 441–446, hier 445f. Die Volkszählung 1910 wies 482 Personen mit israelitischem Glaubensbekenntnis in Krumau und Kaplitz aus, 1930 waren es 334 Personen. Österreichische Statistik, Neue Folge, Bd. 1/1, Wien 1912, 58–60; Statistisches Gemeindelexikon des Landes Böhmen, aufgrund der Volkszählungsergebnisse vom 1. Dezember 1930, Prag 1935, 428. Schreiben Britische Botschaft Berlin vom 27. Oktober 1938, OÖLA, »Arisierung«, Sch. 35, Allgemeines, Sudetendeutsche Gebiete JÜDISCHE SELBSTWEHR (Prag), 26. 8. 1938, 5.
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verbliebene tschechische und jüdische BesitzerInnen gekommen.79 In den Hauptorten der Region wurde überall ähnlich vorgegangen, in Kalsching, Oberplan, Schwarzbach/Černá v Pošumaví, Höritz/Hořice na Šumavě, in Kaplitz und in Gratzen. Die Sudetendeutsche Partei verfasste nach der Einnahme des Gebiets Listen der Juden und Jüdinnen, TschechInnen und RegimegegnerInnen, die Ortsgruppen schrieben ihre Berichte. So richtete Ortsgruppenleiter Ludwig Lugert in Gratzen folgende Zeilen an das Gauwirtschaftsamt Oberdonau: »Am 1. Oktober befand sich kein Nationaltscheche und kein Jude mehr in Gratzen. Sie taten gut daran. […] Nach der erfolgten Eingliederung unserer Heimat in das Grossdeutsche Reich […] musste ich allerdings feststellen, dass die von den geflüchteten Juden und Tschechen verlassenen Geschäfte in Gratzen von unlauteren Elementen ausgeplündert wurden. Ich beauftragte des öfteren die Schlossermeister Pavlik und Pihofsky aus Gratzen, die aufgebrochenen Geschäfte wieder zu sperren, es erwies sich jedoch diese Massnahme als zwecklos, denn kurze Zeit darauf waren die Geschäfte wieder erbrochen. Nachdem also zu befürchten war, dass mit der Zeit alles gestohlen wird, stellte ich dem damals für uns zuständigen Gauwirtschaftsamt bzw. dessen Sonderbeauftragten […] den Antrag, alle diese Geschäfte zu liquidieren […].«80
In diesem Zusammenhang wurde im südböhmischen Raum der Begriff »Hyänen« geprägt – und in Hinblick auf Wehrmachtsangehörige aus »Ostmark« und »Altreich«, die in das Gebiet einrückten und sämtliche Lebensmittel beanspruchten, der Begriff »Einkaufshyänen« zum geflügelten Wort.81 Per 5. November 1938 wurde die Sudetendeutsche Partei (SdP) in die NSDAP eingegliedert. Den Umbau und Ausbau der Organisation in Krumau übernahm der Bezirksparteileiter von Wels, Schuller.82 Am 9. November 1938 wurden in den ehemals sudetendeutschen Gebieten Synagogen niedergebrannt oder beschädigt, darunter in Rosenberg/ Rožmberk, in dem bereits kurz vor dem Einmarsch Unruhe herrschte. Ein Teil der Juden, denen die Flucht nicht gelang oder die nicht flüchteten, wurde in einem Sammellager in Wielands/České Velenice interniert.83 Durch die Fluchtbewegungen waren die nationalpolitischen Ziele der Nationalsozialisten – die Regermanisierung und die »Entjudung« des Gebietes – weitgehend erfüllt worden. Die jüdische Bevölkerung war mehrheitlich geflüchtet, viele wurden später von der NS-Vernichtungsmaschinerie eingeholt. Trotz der nahezu vollständigen Vertreibung der Juden aus den beiden Bezirken wurden in der »Judenfrage« weiterhin drakonische Maßnahmen gesetzt. Staats- und parteifeindliches Verhalten des Stiftes 79 80 81 82 83
Sudetendeutsche Partei an die Gestapo in Krumau an der Moldau vom 21. 10. 1938, OÖLA, »Arisierung«, Sch. 35, Allgemeines, Sudetendeutsche Gebiete. OÖLA, »Arisierung«, Sch. 10, Akt Heller Max und Irma, Gratzen 7; Ludwig Lugert an Gauwirtschaftsamt vom 1. 8. 1939. Vgl. STROBL, Landkreise Krumau und Kaplitz, 383f. ZALOHA, Český Krumlov 1938, 445. Vgl. JOHN, Aspekte der Enteignung, 50f.
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Hohenfurth wurde unter anderem mit dem angeblichen Übernachten jüdischer Flüchtlinge im Jahre 1938 argumentiert.84 Engelmar Unzeitig, Pfarrvikar von Glöckelberg/Zvonková (Generalvikariat Hohenfurth) wurde beispielsweise wegen »heimtückischer Äußerungen und wegen Verteidigung der Juden« verhaftet und ins Konzentrationlager Dachau gebracht, wo er verstarb.85 Im Januar 1939 übernahm ein vom Gau Oberdonau ernannter Regierungskommissar die Wirtschaftsverwaltung des Klosters Hohenfurth. Im Zuge der gegen die katholische Kirche gerichteten so genannten »Aktion Peterseil« im Gau Oberdonau wurde auch das Kloster Hohenfurth am 17. April 1941 durch die Gestapo Linz aufgehoben.86 Insgesamt hat man in den Bezirken Krumau und Kaplitz 130 Personen (Juden und Jüdinnen, TschechInnen) kommissarische Verwalter vorgesetzt. Auch die Betriebe geflüchteter Juden wurden mit kommissarischen Leitern besetzt, prominente Fälle in Krumau waren die Papierwarenfirma Eugen Pick, das Schuhgeschäft Hans Löwenstein und das Kaufhaus Sigmund Lederer.87 Man ging rasch und konsequent vor, dies entsprach nicht unbedingt der Praxis in Deutschland als auch in Österreich bis Oktober 1938. Der Spielraum, den KäuferInnen und jüdische ZwangsverkäuferInnen hatten, war in »Altreich« und »Ostmark« doch größer. Private InteressentInnen oder nicht im NS-Einflussbereich stehende UnternehmerInnen bekamen in den beiden angeschlossenen Bezirken kaum Möglichkeiten zur »Arisierung«. Anders verhielt es sich bei tschechischen Eigentümern; einerseits bestand die Möglichkeit, bei ihnen unter dem Titel »staats- und parteifeindliches Verhalten« Vermögenswerte einzuziehen, andererseits standen die Geflüchteten unter dem Druck, an InteressentInnen, die NS-Unterstützung genossen, »freiwillig« zu verkaufen.88 VI. Zentren und Peripherien Das Machtzentrum lag seit der Einverleibung Südböhmens unter strikter Einhaltung der Hierarchie bei den Eigruber nachgeordneten Behörden in Linz. Gauleiter August Eigruber hatte hinsichtlich der Kompetenzen unmissverständlich klargestellt: »Die mit der Übernahme des sudetendeutschen Gebietes zusammenhängenden Fragen werden ausschließlich vom Gauleiter persönlich geregelt. Es ist daher allen Gauamtsleitern, Kreisleitern und Führern der Gliederungen strengstens verboten, mit irgendwelchen sudetendeutschen Stellen (Freikorps, SdP, Gewerkschaften usw.) direkt in Verbindung zu treten […]. Der Gauleiter erwartet, 84 85
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Ebd., 51. Vgl. Johann MITTENDORFER, Oberösterreichische Priester in Gefängnissen und Konzentrationslagern zur Zeit des Nationalsozialismus (1938–1945), in: 73. Jahresbericht des Bischöflichen Gymnasiums Kollegium Petrinum in Urfahr-Linz an der Donau 1976/77 (1977), 96. Canisius NOSCHITZKA, Das Zisterzienserstift Hohenfurt in Böhmen, in: Stift Rein 1929–1979, 850 Jahre Kultur und Glaube. Festschrift zum Jubiläum, 293–307, hier 304. Vgl. Hanna BARTH, Die »Arisierung« der Papierfabrik Pötschmühle in Krumau in der NS-Zeit, Dipl.-Arb., Linz 2006, 18f. Vgl. JOHN, Aspekte der Enteignung, 58–61.
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dass er in diesem Zusammenhang nicht von irgendwelchen Sonder- oder Unterbeauftragten, von woher sie auch kommen mögen, belästigt wird.«89
Nach einer kurzen Phase der lokalen Autonomie bei der Behandlung der jüdischen bzw. tschechischen Bevölkerung bzw. deren Vermögenswerten wurde die weitere Verwertung von Linz zentral gelenkt.90 Die Aktivitäten der Landesstelle bzw. dem mit ihr verquickten Gauwirtschaftsamt in Linz hatten eine koloniale Qualität, die durch den Anspruch der NSDAP Oberdonau noch verstärkt wurde. Der Gau Oberdonau der NSDAP, also der Partei, war mit den administrativen und politischen Grenzen nicht identisch. Der Gau Oberdonau der NSDAP reichte bis Tabor und östlich bis Gratzen. Die NSDAP betreute sozusagen das weitgehend tschechische Gebiet zwischen der südlichen Protektoratsgrenze und Tabor mit. Aus diesem Grund wurden von Linz aus kommissarische Leiter im Kreis Budweis/České Budějovice eingesetzt bzw. wurden »Arisierungsverhandlungen« durchgeführt. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit dem Reichskommissar für das sudetendeutsche Gebiet und den Protektoratsbehörden. In den meisten Fällen setzten sich jedoch die Gaubehörden in Linz durch.91 Dort betrieb man insbesondere eine Politik, die darauf abzielte, »den jüdischen Besitz für die Deutschen zu sichern«, und zumindest im Protektoratsgebiet zwischen Krumau und Tabor tschechische Interessenten von einer »Arisierung« abzuhalten.92 Die Vorgänge im Zuge der »Arisierungen« und des sonstigen Vermögensentzugs können jedenfalls als höchst undurchsichtig bezeichnet werden. Dies war auch in Südmähren der Fall, dort hatte Gauleiter Jury zur Überprüfung einen »Sonderbeauftragten« eingesetzt, in Oberdonau geschah dies nicht.93 Zurück zum eigentlichen Gaugebiet in Oberdonau: Einige »Arisierungen« durch die Linzer Gauwirtschaftsstelle kurz nach der Machtübernahme hatten in Krumau noch 1938 zu lokalen Protesten geführt. Nach einem weiteren Vorfall hielt die NSDAP-Kreisleitung Krumau in ihrem Wochenbericht fest: »Nachdem die Judenhäuser mit Beschlag belegt wurden, wurde gemeldet, dass die gesamten Möbel und Wäsche sofort aufgeladen und nach Linz transportiert wurden. Es besteht nun die öffentliche Meinung, dass in unserem Gebiete sehr viel arme Leute mit etlichen Kindern sind, die kaum eine ordentliche Wohnungseinrichtung besitzen und denen so mancher Brocken gutgetan, zumal angeblich eine Verordnung bestehen soll, dass die Gelder von Beschlagnahmen wieder dem Notstands89 90
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Auftragsverwaltung Landeshauptmann Eigruber vom 1. 10. 1938, OÖLA, Politische Akten, Sch. 69. Vgl. dazu Michael JOHN, Südböhmen, Oberösterreich und das Dritte Reich. Der Raum Krumau-Kaplitz/Český Krumlov-Kaplice als Beispiel von internem Kolonialismus, in: WINKELBAUER (Hg.), Kontakte und Konflikte, 447–469, hier 452–464. »Entjudung« in Budweis, Allgemeines über die »Entjudung« in sudetendeutschen Gebieten, »Entjudung« Budweis 488-1940, OÖLA, »Arisierungsakten«, Sch. 35. Ebd. Vgl. dazu Bericht des Sonderbeauftragten für das Burgenland und Südmähren an den Leiter der Abteilung IV, Dr. Haushofer, 2. 9. 1940, BLA, »Arisierungsakten«, Ktn. 20.
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gebiet zu Aufbauzwecken zugeführt werden sollen. Solche Sachen werden viel herumgesprochen und verbessern die Stimmung gegen den Gau nicht.«94
Der Ortsführer der NSDAP protestierte gegen diese Praxis und behauptete, die Bevölkerung befände sich »in einem gefühlsmäßigen Aufruhr, weil sie sich von Linz im Stich gelassen fühle«.95 Nicht zuletzt aufgrund von Auseinandersetzungen um den autonomen Spielraum der Stadt- und Bezirksverwaltung hatte am 1. Januar 1939 der Bürgermeister der Stadt Krumau, Ernst Schönbauer, mitgeteilt, dass er für das Amt nicht weiter zur Verfügung stehe. Auf die »Arisierung« der Pötschmühle AG, die sich im Mehrheitsbesitz der jüdischen Familie Spiro befand, ist bereits hingewiesen worden. Der Reichsgau Oberdonau mit Sitz in Linz konnte hier seine Interessen durchsetzen. Mit der Fusion bzw. dem erzwungenen Verkauf an die Steyrermühl AG waren sämtliche Entscheidungspositionen aus der Region in Richtung Linz verlagert worden. Anfragen der betroffenen Gemeinden Krumau und Wettern/Větřní, im Zuge der »Arisierung« Firmenbesitz erwerben zu können, wurden abgelehnt. Den Hintergrund für den Vorstoß der Stadtgemeinde Krumau bildete die Tatsache, dass diese hoch verschuldet war, und eine Überlassung der Papierfabrik die Stadtfinanzen entlastet hätte. Dem Ansuchen wurde nicht entsprochen, in der Folge wurden als Kompensation kleine Zugeständnisse gemacht, die Villa des einstigen Firmeninhabers wurde etwa der Stadt Krumau überlassen.96 Bei der »Arisierung« der Pötschmühle handelte es sich um eine große Vermögensübertragung, um das größte Unternehmen dieser Art im gesamten Gau.97 Die jüdischen Besitzer des Firmenkonglomerats Spiro hatten die Betriebszentrale vor der NS-Machtübernahme vorsorglich nach Prag verlegt. Zwischen den NS-Stellen in Prag und Linz entspann sich eine Auseinandersetzung, eine Auseinandersetzung um diverse Komponenten des Vermögens, in die der später bekannt gewordene Fotograf Franz/František Seidel, der nach 1945 in Český Krumlov und somit in der Tschechoslowakei verblieb, hineingezogen wurde: »Die Papierfabrik Pötschmühle überwies der Linzer NSDAP 450.000 Kronen [Reichsmark?, MJ] Spende«, erinnerte sich Seidel: »das musste ich fotografieren. Diese Überweisung war nicht sauber. […] Dann ging es los: zwei Herren von der Gestapo kamen zu mir, sie legten die Fotos auf den Tisch und fragten mich: Haben Sie das gemacht?«98 94 95 96 97
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Gemeinde Krumau an den Gauwirtschaftsberater, Linz vom 14. Juni 1940, OÖLA, »Arisierung«, Sch. 35, Sudetendeutsche Gebiete. Kreiswirtschaftsberater an den Gauwirtschaftsberater, Linz vom 9. Mai 1940, OÖLA, »Arisierung«, Sch. 35, Sudetendeutsche Gebiete. Vgl. STROBL, Landkreise Krumau und Kaplitz, 381. Die Pötschmühle beschäftigte am 21. 9. 1938 insgesamt 1623 Arbeiter und 187 Angestellte; Bericht über die Geschäftslage der Papierfabrik Pötschmühle vom 26. Oktober 1940, OÖLA, »Arisierungsakten«, Sch. 27, Spiro AG, Krumau. Zit. nach Elisabeth Vera RATHENBÖCK, Franz Seidel: Im Rad der Geschichte, in: Fritz FELLNER, Das fotografische Gedächnis/Fotografická Paměť, Mühlviertel und Böhmerwald/Mühlviertel & Šumava, Freistadt 2007, 47.
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In der Folge war Seidel von 26. Oktober 1939 bis 8. Mai 1940 im Polizeigefängnis Linz inhaftiert.99 Insgesamt handelte es sich bei der »Arisierung« des Vermögens der Familie Spiro um einen »Wirtschaftskrimi«, um eine Auseinandersetzung, die Gauwirtschaftsberater Oskar Hinterleitner für den Gau Oberdonau gegen die Interessen der ursprünglichen AktionärInnen, gegen die Interessen der Gemeinden Krumau und Wettern und gegen die Interessen der Gestapo Frankfurt, der Gestapo Prag und des Reichsprotektors in Prag für sich entscheiden konnte.100 Neben dem Vermögensentzug gegenüber Juden und Jüdinnen sind als große Vermögensübertragungen, wie bereits erwähnt, die Beschlagnahme der südböhmischen Besitzungen des Hauses Schwarzenberg und des Stifts Hohenfurth anzuführen. Die Reichsforste übernahmen in Südmähren und Südböhmen einige größere Güter, wie etwa die »Säge Znaim«, oder Agrar- und Waldbesitzungen im Raume Hohenfurth.101 Neben dem Zisterzienserstift Hohenfurth wurden übrigens im Bereich des Generalvikariats die Niederlassungen von fünf Männer- und 18 Frauenorden beschlagnahmt. Dabei wurden nicht nur die land- und forstwirtschaftlichen Besitzungen und die Ordensgebäude, sondern auch die Pfarrhöfe konfisziert.102 Beschlagnahmt wurde auch das Budweiser Stadthaus des Stiftes Hohenfurth. In diesem war die Kreisleitung Budweis der NSDAP untergebracht, der 18 Ortsgruppen aus dem Protektorat untergeordnet waren, aus den Bezirken Budweis, Wittingau, Tabor, Mühlhausen und Moldauthein. Der gesamte Kreis Budweis unterstand der NSDAP Oberdonau.103 Im Stift Hohenfurth selbst war ein Kunstdepot untergebracht, in dem Kunstgegenstände für das Führermuseum und andere NS-Sammlungen gelagert wurden. Aus dem Stift hat man eine Vielzahl von Kunstobjekten in das Kerngebiet des Gaus Oberdonau verbracht, die Musiksammlung des Stiftes etwa in das Landesmuseum/Gaumuseum in Linz.104 Bereits mehrfach wurde auf die halb-koloniale oder quasi-koloniale Qualität des Verhältnisses Böhmerwaldraum–oberösterreichischer 99 100
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Ebd., 45. Eine Spende von 450.000 Kronen oder RM konnte in den Akten nicht verifiziert werden, hingegen eine seltsame Überweisung an eine »Unterstützungkassa« im Jahre 1938 in Höhe von 350.000 RM. Vgl. dazu und zu den dubiosen Vorgängen hinsichtlich des Vermögensübertrags die ausgezeichnete Diplomarbeit von BARTH, »Arisierung«, 107–112, 122. Oliver RATHKOLB/Maria WIRTH/Michael WLADIKA, Die »Reichsforste« in Österreich 1938–1945. Arisierung, Restitution, Zwangsarbeit und Entnazifizierung, Wien–Köln–Weimar 2010, 238f. STROBL, Landkreise Krumau und Kaplitz, 387f. Ebd., 368. Vgl. Michael JOHN, Zusammenfassung und Resümee, in: KIRCHMAYR/BUCHMAYR/JOHN, Geraubte Kunst, 513–515; Eva FRODL-KRAFT, Gefährdetes Erbe – Österreichs Denkmalschutz und Denkmalpflege 1918–1945 im Prisma der Zeitgeschichte, Wien 1997, 423. Die angesprochene Sammlung von Kunstgegenständen wurde 2009 seitens des Landes Oberösterreich zurückgegeben.
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Zentralraum verwiesen, sowie auf die periphere Behandlung Südböhmens durch die Linzer Gaubehörden. Die strikte Durchsetzung der Interessen der Linzer Gaubehörden ab dem Jahr 1939 ordnet sich nahtlos in den gesamten Prozess der weiteren Peripherisierung (Wirtschaft, Raumplanung, Infrastruktur) der südböhmischen Region ein, die gegen die Erwartungen der Bevölkerung in Gang geraten war.105 Im Bereich der öffentlichen Investitionen des Gaus Oberdonau rangierten die Bezirke Kaplitz und Krumau 1939 auf Platz 15 und 16 von insgesamt 17 Einheiten. Hinsichtlich der Investitionen im Wohnbau lag Krumau 1941 an 14. und Kaplitz an 16. Stelle. Ferner waren die Bezirke 1939 bis 1942 von einer deutlichen Bevölkerungsabwanderung gekennzeichnet.106 Im Zusammenhang mit weiteren Beispielen formuliert Gerwin Strobl in einem Beitrag zur NS-Geschichte der beiden Bezirke: »Wenn man bedenkt, dass der Böhmerwald als besonders strukturschwache Region sowohl im Sinne der immer wieder beschworenen ›Volksgemeinschaft‹ als auch der nationalsozialistischen Volkstumspolitik an der Sprachgrenze besonders förderungswürdig gewesen wäre, so kann man von einer eklatanten Vernachlässigung sprechen.«107 Strobl geht dabei von »mangelndem Interesse der Entscheidungsträger in Berlin und Linz« aus.108 Ungeachtet der »Vernachlässigung«, der Zurückweisung und Marginalisierung, die für breite Teile der Bevölkerung spürbar wurde, gibt es keine bislang bekannten konkreten Beispiele organisierten, anti-nationalsozialistischen Widerstands, nachhaltigen Widerspruchs oder etwa eines Versuchs der Kooperation mit tschechischen NS-Gegnern. Bis zum Ende der NS-Herrschaft blieb die deutschsprachige Dominanz aufrecht, ein Bedauern der antisemitischen Akkordanz mit dem Nationalsozialismus ist vorerst in den Jahrzehnten nach 1945 nicht spürbar geworden. In Südböhmen, in Südmähren, in Österreich insgesamt war die Sichtweise des »deutschen« Charakters der Regionen, der kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit des Raumes zu Österreich bzw. zum deutschsprachigen Kulturraum weit verbreitet und erstreckte sich nicht nur auf nationalsozialistische ParteigängerInnen oder deutschnationale Kreise, sondern auf breite Schichten der Bevölkerung. An dieser Stelle sei auch an den ehemaligen Staatskanzler und Bundespräsidenten Karl Renner erinnert, der aus Südmähren stammte und dem großdeutsche Gedankengänge nicht fremd waren. Es wird hier nicht seine Begrüßung des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich thematisiert, die aus welchen Kalkülen und Gründen auch immer zustande kam. Möglicher Druck und Rücksichtnahme auf jüdische Verwandte oder NSRegimegegner, die in Kontakt zu ihm standen, ist jedenfalls später nicht 105 106 107 108
Vgl. dazu generell JOHN, Südböhmen, 447–468. Ebd., 454f. STROBL, Landkreise Krumau und Kaplitz, 378. Ebd., 375.
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mehr anzunehmen, als Renner in einem Manuskript, das im November 1938 (!) in gedruckter Form vorlag und sich im Besitz der NSDAP Niederdonau befand, das »Münchner Abkommen« ausdrücklich begrüßte.109 Ende Juni 1945, zweieinhalb Monate nach dem Ende des Dritten Reichs, datiert ein Schreiben aus der Feder eines sozialdemokratischen Bürgermeisters, das dieser an die US-amerikanischen Militärbehörden in Český Krumlov richtete: »During the last years, libraries and collections in German language have been created with the financial aid of the Austrian state in the district of Krummau. Communal libraries especially at Krummau, Kalsching, Oberplan and Hoeritz. At Oberplan, a collection dealing with the poet Adalbert Stifter and the Bohemian-Forrest [sic!] Museum. At Krummau, Austrian painters Felix Schuster and Wilhelm Fischer have painted pictures. Those regions of the former province of Upper Austria now revert to the Czecho-Slovakian state. Because the German-speaking population consists mostly of Austrians who must leave those regions and because the Czech population cannot do anything with the above mentioned collections, but because the danger of scattering and distruction [sic!] impends over these collections, I request the Military Government to transfer the above-mentioned collections to the city of Linz.«110
Der Brief, in dem es um die Verbringung vermeintlich »deutschen« Kulturguts ohne Absprache mit tschechischen Stellen nach Linz ging, und zwar im Sommer 1945, wurde von einem Wanderfreund Renners verfasst, von Dr. Ernst Koref, damals im Amt als Bürgermeister der Stadt Linz.111 Als wäre nichts geschehen, setzte Koref, dessen Vater aus dem später Sudetenland genannten Teil Böhmens stammte, das Denken in den nationalen Kategorien fort – deutsch versus tschechisch –, verbunden mit der vermeintlichen Zusammengehörigkeit der südböhmischen Region und der oberösterreichischen Landeshauptstadt.112 109
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Karl RENNER, Die Gründung der Republik Deutsch-Österreich, der Anschluss und die Sudetendeutschen. Dokumente eines Kampfes ums Recht, Wien 1938 (unveröff. Druckbögen), Vorwort. Schreiben Dr. Ernst Koref an Military Government Krumau, 26. 6. 1945; Archiv der Stadt Linz, Besatzungsamt 1945–1948, Fasz. B 59. Vielen Dank an Wolfgang Reder für die Überlassung. Zu Korefs Gedankengut in Hinblick auf eine deutsche Identität in Linz und Oberösterreich vgl. Michael JOHN, Bevölkerung in der Stadt. »Einheimische« und »Fremde« in Linz (19. und 20. Jahrhundert), Linz 2000, 418–422, 425–431. Vgl. Ernst KOREF, Die Gezeiten meines Lebens, Wien–München 1980, 10; Michael JOHN, Vom Sprachenstreit zum »Eisernen Vorhang« – Oberösterreich und Südböhmen: Grenzen in Politik, Wirtschaft und Alltag im 20. Jahrhundert, in: Andrea KOMLOSY/Václav BŮŽEK/František SVÁTEK (Hg.), Kulturen an der Grenze: Waldviertel, Weinviertel, Südböhmen, Südmähren, Wien 1995, 95–110, hier 96f. (»Grenze im Kopf«). Es ist nicht einfach, den Gedankengängen Korefs zu folgen. Nach 1945 hat er sich mehrfach unter Verweis auf seine Herkunft väterlicherseits für die Interessen sudetendeutscher Vertriebener in Linz eingesetzt. Die Familie des NS-Opfers Koref stammte aus Saaz/Žatec in Westböhmen, es handelte sich dabei um eine jüdische Kaufmannsfamilie.
PETR MAREŠ
»Die goldene Stadt« von Veit Harlan. »Schlechtes Blut«, Deutsche und Tschechen »Die goldene Stadt« als Melodram und als Träger von Ideologie In Gesamtdarstellungen der Kinematographie des Dritten Reiches wird »Die goldene Stadt« (1942) meist von Veit Harlans berüchtigtsten, offen propagandistischen Werken überschattet, dem früher entstandenen antisemitischen »Jud Süß« (1940) und dem späteren »Durchhalte-Epos« »Kolberg« (1945). »Die goldene Stadt« wurde hingegen als Unterhaltungsfilm konzipiert, in dem politische Akzente nicht hervortreten. Aufgrund einer Bühnenvorlage des von dem österreichischen Schriftsteller Richard Billinger stammenden Schauspiels »Der Gigant« (1937) entstand ein betont melodramatischer Film, der den tragischen Lebensweg einer jungen Frau – mit den kennzeichnenden Stationen Sehnsucht, Liebe, Enttäuschung, Verzweiflung und Tod – schildert; der Regisseur setzte dabei beträchtlich starke Mittel ein, vor allem die eindringliche dramatische musikalische Begleitung, um den emotionalen Effekt zu erzielen. Diese Konzeption bewährte sich und Harlans Werk wurde zum publikumswirksamsten Film der Nazizeit.1 Er war ungemein populär auch in anderen Ländern, wo er aufgeführt wurde, u. a. in Frankreich, Schweden oder Finnland.2 Zum Erfolg des Films trug auch Harlans Star Kristina Söderbaum in der Hauptrolle bei, und ebenfalls die Tatsache, dass »Die goldene Stadt« in Farbe gedreht wurde – es war der zweite Film, der das Agfacolor-Verfahren verwendete.3 Die genannten Züge von »Die goldene Stadt« führten zur deutlichen Differenzierung der späteren Urteile über die Verankerung dieses Films im ideologischen System des Nationalsozialismus und seinen Anteil an der politischen Beeinflussung der Zuschauer. Einige Bewertungen qualifizierten ihn als unpolitisch und im Prinzip unbedenklich. Als 1
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31 Millionen Zuschauer, die Vorstellungen für die Wehrmacht und die NSDAP nicht eingerechnet; Guntram VOGT, Veit Harlan – Die goldene Stadt (1942), in: DERS., Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1900–2000, Marburg 2001, 369, 371. Vgl. Francis COURTADE/Pierre CADARS, Histoire du Cinéma nazi, Paris 1972, 286; sowie Stephen LOWRY, Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus, Tübingen 1991, 58. David S. HULL, Film in the Third Reich. A Study of the German Cinema 1933–1945, Berkeley–Los Angeles 1969, 216; oder VOGT, Veit Harlan, 372f., machen auf die Wichtigkeit der Farbgestaltung aufmerksam; Frank NOACK, Veit Harlan. »Des Teufels Regisseur«, München 2000, 242, bewertet sie dagegen als »unbeholfen und beliebig«.
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maßgebende Stellungnahme trat dabei das Gutachten des angesehenen Publizistikwissenschaftlers Walter Hagemann auf (1953). Seit 1954 konnte dann »Die goldene Stadt« wieder in Kinos vorgeführt werden; es folgte eine Auflage auf Videokassetten und 2002 eine DVD-Auflage. »Die goldene Stadt« wurde allerdings auch als deutlicher Träger nazistischer Ideen, insbesondere des Nationalismus und des Rassismus, angesehen.4 Eine solche Einschätzung ist jedenfalls für die tschechische Sicht charakteristisch. Der Handlungsort von »Die goldene Stadt« ist Böhmen – ein Dorf an der oberen Moldau sowie Prag, auf das der Titel hinweist –, und der Film wurde zum größten Teil im damaligen »Protektorat Böhmen und Mähren« – als reine Reichsproduktion – gedreht. Aus der tschechischen Perspektive galt »Die goldene Stadt« immer als etwas Fremdes, im Prinzip Feindseliges und mit der nazistischen Herrschaft Verbundenes. So bezeichneten Jaroslav Brož und Myrtil Frída diesen Film in einer Skizze der Geschichte der tschechoslowakischen Kinematographie als »Hetzpamphlet«5. In einer späteren Darstellung wies Ivan Klimeš auf die politische Dimension des Films und die nationalistische Basis seiner Handlung hin.6 Es ist auch kennzeichnend, dass der Film für die Aufführung in tschechischen Kinos des »Protektorats« nicht zugelassen wurde.7 In den letzten Dekaden verbreitete sich vor allem eine Mittelposition: »Die goldene Stadt« wird als ein filmisches Werk betrachtet, in dem verschiedene Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie – im Sinne der Ideen, Einstellungen und Handlungsmuster, die die Gesellschaft bzw. ihre politische Elite als richtig und erforderlich ansah – zu finden sind, aber in einer eher latenten, nicht eindeutigen und widersprüchlichen Form.8 Es ist so offensichtlich, dass es die Ambivalenz und Heterogenität der Elemente sowie zahlreiche Andeutungen und »Leerstellen« ermöglichen, die ideologischen Inhalte des Films auf verschiedene Weise zu akzentuieren bzw. ihn auch ohne Rücksicht auf sie zu deuten.9 4 5 6 7 8
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COURTADE/CADARS, Histoire, 284. Jaroslav BROŽ/Myrtil FRÍDA, Historie československého filmu v obrazech 1930– 1945, Praha 1966, 206. Ivan KLIMEŠ, Veit Harlan: Die goldene Stadt, in: Dějiny a současnost 25/5 (2003), 22f. Erst 2010 wurde »Die goldene Stadt« als eine DVD-Edition dem tschechischen Publikum im Prinzip als historische Kuriosität präsentiert. LOWRY, Pathos, 65–72; Konstanze HANITZSCH, »Die goldene Stadt« von Veit Harlan. »Rassenbiologie« im nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm, http://www.shoa. de/propaganda_die_goldene_stadt.html (6. 4. 2005); Stefan ZWICKER, »Kakaniens« Landmädchen und tückische Verführer. Zu den deutschen Spielfilmen Anuschka und Die goldene Stadt (beide 1942) und dem Bild der Slowaken und Tschechen in diesen Filmen, in: Peter BECHER/Ingeborg FIALA-FÜRST (Hg.), Literatur unter dem Hakenkreuz. Böhmen und Mähren 1938–1945, Furth im Wald–Praha 2005, 258–264. Z. B. Paul VERSTRATEN, Die goldene Stadt: utopie en atopie, in: Versus: Kwartaalschrift voor film en opvoeringskunsten 3 (1990), 47–50, interpretierte »Die goldene Stadt« als eine Variante des Ödipusmythos; nach der Meinung von NOACK, Veit Harlan, 244, ist »die Warnung vor der falschen Partnerwahl […] die einzige explizite Botschaft des Films«.
»Die goldene Stadt« von Veit Harlan
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Die ideologischen Bedeutungskomplexe Die erzählte Geschichte produziert einige Bedeutungskomplexe, die als ideologisch markiert betrachtet werden können. Diese Bedeutungskomplexe betreffen (1) die private Sphäre, (2) die soziale Sphäre (es geht – in gewisser Vereinfachung – um die Spannungen zwischen Stadt und Land) und (3) die nationale bzw. »rassische« Sphäre. Die private Sphäre kommt am deutlichsten zur Geltung. Es geht um ein Netz von Beziehungen, die die Position der Hauptperson, der jungen Anna Jobst, determinieren. Die Ausgangskonstellation – Absenz der Mutter, Fixierung auf den starken, autoritären Vater – wurde wiederholt als ödipale Situation interpretiert.10 Annas Versuch, »sich vom Vater zu lösen, ihr eigenes Leben zu führen, ihre eigenen Wünsche zu verfolgen«, muss scheitern, weil es der Frau nur erlaubt ist, sich im Verhältnis zum Mann zu definieren und die vorgeschriebene passive Rolle nicht zu verletzen.11 Annas Freitod im Moor gilt dann als »Reinigung«12 und zugleich als Versöhnung und Vereinigung sowohl mit der Familie (mit der schon lange toten Mutter, aber ebenfalls mit dem Vater, der sie vorher verstieß) als auch mit der dörflichen Gemeinschaft (die sich als Ganzes an der Suche nach ihr beteiligt). In einer festen Bindung an die Prinzipien der nazistischen Ideologie wurde Annas tragisches Schicksal von Dora Traudisch13 und dann von Konstanze Hanitzsch interpretiert. Nach den Ausführungen von Traudisch stellt »Die goldene Stadt« einen der deutlichen Belege des nazistischen Antinatalismus dar, des Kampfes gegen das lebensunwürdige Leben. Obwohl die Mutterschaft im Allgemeinen als der höchste Wert gepriesen wurde, wird die Tötung des Fötus in diesem Fall als positiv dargestellt. Sowohl Anna als auch ihr ungeborenes Kind sind durch ihr »schlechtes Blut« determiniert, und darum müssen sie sterben. In einer Zusammenfassung von Hanitzsch wird dies offen thematisiert: Das Kind, dessen Eltern Anna und ihr intriganter Cousin wären, würde die »schlechten« Eigenschaften beider, die diese wiederum von ihren Eltern erbten, weitertragen. Wie an der Figur Annas gezeigt wird, konnte schon sie sich nicht gegen das ihr durch das Blut der Mutter auferlegte Schicksal wehren, obwohl sie doch ein gutes Erbteil – das ihres Vaters nämlich – ihr eigen nennen konnte. Gründlicher möchte ich auf die zwei übrigen Bedeutungskomplexe eingehen. Stadt und Land, Statik und Dynamik Traditionell wurde »Die goldene Stadt« als eine Verherrlichung des dörflichen Lebens im Gegensatz zur »bösen« und »verdorbenen« Stadt 10 11 12 13
VERSTRATEN, Die goldene Stadt; sowie LOWRY, Pathos, 97–101. LOWRY, Pathos, 92. HANITZSCH, »Die goldene Stadt«. Dora TRAUDISCH, Mutterschaft mit Zuckerguss? Frauenfeindliche Propaganda im NS-Spielfilm, Pfaffenweiler 1993, 83–100.
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interpretiert; nach Courtade und Cadars setze Harlan »die heile rurale Welt und die Schändlichkeiten der Großstadt« in Opposition.14 Eine solche Formulierung scheint allerdings eher für Billingers Schauspiel, das als Vorlage diente, bzw. für die allgemeine Tendenz seiner Werke angemessen zu sein; z. B. Hull charakterisiert sie folgendermaßen: »Die Idee der Großstadt (des ›Giganten‹ im Titel des Schauspiels) ist […] gewöhnlich als feindliche Kraft porträtiert, die die aus dem Lande gezogenen Menschen zerstört.«15
Der Film, der die Handlungslinie von Billingers Drama übernimmt, aber viele Szenen verändert oder ergänzt, fasst die Problematik bei weitem nicht so eindeutig auf und relativiert diese Werteopposition. Die Beziehung von Stadt und Land ist in »Die goldene Stadt« mit anderen Gegensätzen verbunden, mit den Spannungen zwischen Kultur und Natur, Tradition und Veränderung, Konservativismus und Modernisierung. Das Festhalten an der Unveränderlichkeit und Unbeweglichkeit, der Verabsolutierung des Gebots, dass alles an seinem Ort bleiben soll (»weil es immer da war« gilt als die schlagendste Begründung), stehen also gegen die Betonung der Mobilität und der Veränderung bzw. des Fortschritts. Wichtig ist, dass der Film die Gegensätze nicht petrifiziert. Die Polaritäten werden unter dem Einfluss der Widersprüche und Inkonsequenzen eher geschwächt und gestört, und das Ganze nimmt Richtung auf eine bestimmte Synthese von unterschiedlichen Elementen. Eine uneinheitliche, ambivalente Darstellung Prags nimmt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Position ein. Guntram Vogt wies darauf hin, dass Prag in »Die goldene Stadt« vor allem als eine alte deutsche »Kulturstadt« auftritt.16 Die architektonischen Denkmäler werden betont (Hradschin mit dem Sankt-Veits-Dom, die Karlsbrücke, die Altstadt), und Prag wird zugleich als Kunstzentrum vorgestellt – im Theater wird die deutsche Fassung von Bedřich Smetanas Oper »Prodaná nevěsta« (Die verkaufte Braut) aufgeführt. Prag, wie es in Harlans Film gezeigt wird, besitzt keine Attribute einer gefährlichen Großstadt, hektisches Gewimmel von Fahrzeugen und Menschenmassen17 oder auf der anderen Seite dunkle Winkel. »Die Aufnahmen von Prag betonen die Schönheit und den historischen Charakter der Stadt.«18 Als angemessene Transportmittel erscheinen eine Pferdekutsche oder ein Dampfer auf der Moldau. Nichtsdestoweniger wird Prag auch zu einem Ort der Bedrohung und der Verdorbenheit, dieser Ort wird aber nur durch einige Häuser und ihr Interieur repräsentiert. Die Personen und ihre Handlungen zeichnen sich durch analog ambivalente Züge aus. Das Schicksal der Anna Jobst, die vom Lande nach 14 15 16 17 18
COURTADE/CADARS, Histoire, 284. HULL, Film, 215. VOGT, Veit Harlan, 376–379. LOWRY, Pathos, 69; NOACK, Veit Harlan, 243. LOWRY, Pathos, 69.
»Die goldene Stadt« von Veit Harlan
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Prag kommt, scheint ein beispielhaftes Zeugnis der Drohungen und der verderbenden Wirkung der Stadt zu sein. Aber auch die Magd Julie sucht – an der Seite eines Straßenbahnkondukteurs – ihr Glück in Prag, und sie wird nicht als bedroht präsentiert, das Verlassen des Dorfmilieus erscheint hier als eine gute Entscheidung.19 Ingenieur Leidwein, der als besorgter Ratgeber Anna vor der Stadt warnt, spricht davon, dass in Prag nicht die von ihr erträumten Riesen, sondern Zwerge leben. Er selbst gehört allerdings offenbar nicht zu den Zwergen; obwohl er in der Großstadt verankert ist, tritt er zweifellos als positive Figur auf, als aktiver, zielbewusster und anziehender junger Mann. Zugleich ist es allerdings nicht zu übersehen, dass seine Rolle in Annas Los zwiespältig und veränderlich ist. Auf dem Land trägt er zu ihrer Gefühlsverwirrung bei, in Prag wird er aber zum distanzierten Begleiter, der emotional anderswo engagiert ist. Auf dem Land fördert er Annas Sehnsucht nach Prag, dann wirkt er wieder in entgegengesetzter Richtung und versucht, Anna in der Position eines Landmädchens aufrecht zu erhalten; nur in ihrem ländlichen Aussehen ist sie für ihn interessant. Wesentlich ist vor allem die Tatsache, dass aus den Personencharakteristiken der Schluss gezogen werden kann, dass nicht die Stadt als solche gefährlich ist und Verderben bringt, sondern bestimmte Stadtbewohner, die nicht nur durch ihre Zugehörigkeit zur städtischen Gemeinschaft determiniert sind. Auf der anderen Seite ist das dörfliche Milieu ebenfalls nicht als homogen und widerspruchsfrei präsentiert. Zwar erhielten sich hier die traditionellen Lebensformen (Tragen der Volkstracht, Kirmes und damit verbundene Bräuche), ihre Wirkungssphäre ist aber nur partiell; das Dorf verschließt sich dem technischen Fortschritt nicht, worauf die Mähmaschine hinweist, mit der Annas Verlobter Thomas arbeitet. Zugleich werden die Landbewohner nicht pauschal als positiver Gegenpol der Stadtbewohner geschildert, denn im Dorf lebt auch Maruschka, die intrigierende und habgierige Wirtschafterin bei Jobst. Die Zentralfigur, die das Land repräsentiert, Bauer und Bürgermeister Melchior Jobst, ist offenbar als Führergestalt stilisiert, die intuitiv weiß, was richtig ist. Doch seine Darstellung weist auch bestimmte Risse auf. Die Scheidegrenze zwischen der Festigkeit der Ansichten und der Sturheit, die gegen alle Argumente immun ist, ist immer weniger klar (vgl. die Beratung über die eventuelle Kultivierung des Moors im Gemeindeamt), und seine hervorgehobene Strenge enthält ebenfalls problematische Züge.20 Ferner ist Jobst nicht fähig, die egoistischen Ziele Maruschkas zu durchschauen und gerät in ihren Bann; in dieser Hinsicht unterscheidet er sich eigentlich nicht sehr von seiner Tochter Anna.21 19 20 21
Ebd., 71. Ebd., 70. Ebd., 86.
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Die Konfrontation der Einstellungen der Personen konzentriert sich in »Die goldene Stadt« auf den positiven oder negativen Wert von Bewegung und Veränderung, wobei bezeichnenderweise zwei unterschiedliche Auffassungen von Heimat in den Vordergrund treten: »Wo man daheim ist, da ist es am schönsten und da soll man bleiben.« – »Wer nie fortgeht, […] kommt nie heim.« Es ist nicht unwichtig, dass der erste Standpunkt zwar deutlicher und wiederholt ausgedrückt wird, aber nicht als der einzig richtige auftritt; beide Auffassungen stehen eher parallel nebeneinander, und ihre Träger (Melchior Jobst, Ingenieur Leidwein) sind beide als Identifikationsfiguren vorgestellt. Noch größere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass das Festhalten Melchior Jobsts an dem, was »immer da war«, also an dem unantastbaren Moor, nach seiner emotionalen Erschütterung in eine Aufforderung zu dessen Kultivierung mündet, die dann im Epilog als vollbracht vorgeführt wird.22 Die Versöhnung über Annas Leichnam ist mit dem Sieg der bisher abgelehnten Modernisierung verbunden. Die Gegensätze tendieren also zur Abschwächung, anstelle des »festen Standpunkts« wird Flexibilität hervorgehoben, die mit der neuen Generation (Leidwein und Thomas, dem Jobst den Bauernhof vermacht) verbunden ist.23 Die Stellungnahmen zur nationalen Problematik Die nationale bzw. »rassische« Problematik, im Prinzip die Opposition Deutsche versus »fremdes Element« (Tschechen), ist in »Die goldene Stadt« durch die erwähnte Latenz stark gezeichnet. Daher herrscht auch große Uneinheitlichkeit in der Beschreibung und Beurteilung dieses Phänomens. Es handelt sich einerseits um die Frage, ob bestimmte Personen eindeutig als Tschechen zu identifizieren sind, andererseits darum, ob die Darstellung von »fremden« Personen absichtlich und deutlich negativ und feindselig ist. Courtade und Cadars oder später Guntram Vogt sowie Ivan Klimeš bezeichnen ohne Bedenken einige der Personen als Tschechen.24 Zugleich wird im Film eine deutliche antitschechische und rassistische Tendenz gefunden, da die Tschechen als unheilbringender Faktor auftreten.25 Andere Autoren dagegen weisen auf eine Undeutlichkeit der nationalen Unterschiede bzw. auf eine Vagheit der nationalen Bestimmungen hin.26 Ein vielsagendes Beispiel für die Präsenz bzw. die Aktualität des nationalistischen des nationalistischen oder rassistischen Moments in »Die goldene Stadt« stellt das schon erwähnte Gutachten von Walter Hagemann dar: 22
23 24 25 26
Traudisch interpretiert die Kultivierung des Moors als Symbol von Unterdrückung der »schmutzigen« und gefährlichen weiblichen Sexualität und ihrem Ersatz durch die »saubere Fruchtbarkeit«. Vgl. TRAUDISCH, Mutterschaft, 100. Vgl. LOWRY, Pathos, 113–114. COURTADE/CADARS, Histoire, 284–285; VOGT, Veit Harlan, 376; KLIMEŠ, Veit Harlan, 22. COURTADE/CADARS, Histoire, 284–285; VOGT, Veit Harlan, 371. NOACK, Veit Harlan, 243; ZWICKER, »Kakaniens« Landmädchen, 263–264.
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»Deutsche und Tschechen: […] es ist keineswegs so, dass eine deutliche nationale Scheidegrenze zu ziehen wäre, oder dass die Deutschen durchweg freundlichere Darstellung fänden als die Tschechen. […] Ich kenne keinen Film, der das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Tschechen vorurteilsloser schildert, sehr im Gegensatz zu gewissen Hetzfilmen, die von tschechischer Seite in den letzten Jahren gedreht wurden. […] Tatsächlich haben im Kriege hunderttausende von Tschechen diesen Film mit Genuss und lebhafter Zustimmung gesehen.27 […] Keiner von meinen Bekannten, welche den Film vor 10 Jahren besucht haben, konnte sich bei Befragung durch mich erinnern, dass in ihm zwei verschiedene Nationalitäten, Deutsche und Tschechen, auftreten [,] und die Studenten meines Filmseminars (Alter 19 bis 25 Jahre), denen ich diesen Film gestern in einer geschlossenen Vorstellung vorgeführt habe, begriffen zunächst nicht einmal den Sinn meiner Frage. So fremd ist dem Durchschnittsdeutschen von heute das Nationalitätenproblem in der Tschechoslowakei […].«28
Als adäquat kann der Mittelstandpunkt auch in diesem partiellen Fall angesehen werden. Stephen Lowry machte darauf aufmerksam, dass der nationale Aspekt nicht im Vordergrund steht, sondern als ein »Zusatzangebot« funktioniert, »das die Zuschauer und Zuschauerinnen wahrnehmen konnten oder auch nicht«29. Nach Stefan Zwicker stellt die Interpretation der Darstellung einiger Personen als Angriff gegen die Tschechen eine der Möglichkeiten dar, die der Film bietet.30 Es ist nicht zu bezweifeln, dass der mit dem tschechischen Element verbundene motivische Komplex für viele deutsche Zuschauer – und desto mehr für die Zuschauer in anderen Ländern, wo »Die goldene Stadt« aufgeführt wurde – wegen der Absenz von expliziten und eindeutigen Hinweisen unwichtig und schwer greifbar war (diese Tatsache war ein willkommenes Argument für Walter Hagemann). Auf der anderen Seite kann der tschechische Betrachter dazu tendieren, im nationalen Aspekt die fundamentale Komponente zu sehen und sozusagen übersensibel dafür zu sein. Dieser Aspekt braucht so bestimmte historische, politische und eventuell auch sprachliche Bedingungen, um sich deutlich zu aktualisieren. Übrigens wird das auch durch Umstände der Filmentstehung und einige Reaktionen bezeugt. Oft wird der Eingriff von Propagandaminister Joseph Goebbels erwähnt, der (nach Angaben in Harlans apologetischer Autobiographie) den Regisseur dazu zwang, den schon gedrehten Schluss des Films, in dem die schwangere Anna überlebte, zu ändern und sie (in Übereinstimmung mit Billingers Vorlage) Selbstmord im Moor verüben zu lassen, weil es nicht zulässig sei, dass ein »Tschechenbalg« in die Welt gesetzt werde, das noch »zum Erben des Hofes werden [solle]!«31 Der nazistische Antinatalismus ist hier so dadurch unterlegt, dass das sowohl Anna als 27 28 29 30 31
Wie schon bemerkt, wurde »Die goldene Stadt« in tschechischen Kinos des Protektorats Böhmen und Mähren nicht vorgeführt. Zit. nach VOGT, Veit Harlan, 372. LOWRY, Pathos, 68. ZWICKER, »Kakaniens« Landmädchen, 264. Veit HARLAN, Im Schatten meiner Filme. Selbstbiographie, Gütersloh 1966, 148f.
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auch ihr ungeborenes Kind stigmatisierende »schlechte Blut« (obwohl es im Film direkt nicht gesagt wird) tschechisches Blut ist. Anna kann so als Objekt eines Kampfes zwischen zwei biologisch und national bestimmten »Welten« angesehen werden. Zunächst scheint es, dass der positive deutsche Faktor überwiegt, und dass das ländliche Milieu einen genügenden Schutz bietet. Wenn aber der gegensätzliche Faktor nach Annas Abfahrt in die Großstadt Einfluss gewinnt, ist sie, wie ihr Vater gleich weiß, »verloren«, und der Tod wird zum einzig angemessenen Ausweg. Einige Reaktionen von nazistischen Funktionären bezeugen ebenfalls, dass die Beziehungen zwischen den Nationen Wichtigkeit gewinnen konnten. Stefan Zwicker erwähnt, dass der sudetendeutsche Gauleiter Konrad Henlein »Die goldene Stadt« in einem Brief an Goebbels als »volkspolitisch schädlich« bezeichnete, wahrscheinlich weil der Film enge Kontakte zwischen Deutsche und Tschechen zeigte.32 Henlein bemühte sich dagegen um scharfe Trennung beider Nationen. Bekannt ist und wiederholt zitiert wird auch der an Heinrich Himmler adressierte Brief eines SS-Offiziers aus Belgrad, nach dem »Die goldene Stadt« in den Ländern mit slawischer Bevölkerung vom rassenpolitischen Gesichtspunkt aus negativ wirkt, weil der Film für diese Bevölkerung zu einem Beleg dessen wird, »wie man es machen muss und wie leicht trotz der Rassenpropaganda der Einbruch in eine deutsche Bauernfamilie gelingt«33. Deutsche, Tschechen und ihre Sprachen in »Die goldene Stadt« Die nationale bzw. sprachliche Problematik wird in »Die goldene Stadt« nie explizit thematisiert und reflektiert. Diese Eigenschaft hat der Film mit Billingers Drama gemeinsam. Von Billinger übernimmt »Die goldene Stadt« auch Grundzüge der Technik, die der Andeutung der nationalen Zugehörigkeit von Figuren dient, ohne aber zur ganz präzisen Eingliederung zu gelangen; im Film wird dann die Technik intensiviert, was allerdings auch eine Erhöhung von Vagheit und Widersprüchlichkeit verursacht. Alle in die Handlung verwickelten Personen sprechen deutsch, doch bei einigen sind Indizien zu finden, die sie aus dem deutschen nationalen und sprachlichen Kontext gewissermaßen hinausschieben und die Fremdheit bzw. konkret das tschechische Element konnotieren. Zu diesen Indizien gehören vor allem die verwendeten Personennamen, speziell die Kosenamen, einzelne in den Äußerungen vorkommende Wörter und ebenfalls die Form der Aussprache und der Intonation. Die merkmalhafte Sprache wird meist auch mit merkmalhaftem Aussehen und Verhalten verbunden. Bei der Konzentration mehrerer Züge konstituiert sich dann eine komplexe Charakteristik, die die Figur als negativ, unsympathisch, eventuell komisch präsentiert. 32 33
ZWICKER, »Kakaniens« Landmädchen, 259. Joseph WULF, Theater und Film im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1964, 317.
»Die goldene Stadt« von Veit Harlan
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In einer ausgeprägten Form kommt diese Charakteristik im Falle der Prager Verwandten von Anna (Tante Donata, Cousin Tony) sowie Tonys Arbeitgeberin und Geliebter Lilly Tandler34 zur Geltung. Die Namen dieser Personen wirken zwar nicht als Signale der Fremdheit, in ihrer Rede sind aber auf den tschechischen Kontext hinweisende Elemente zu finden. Tony bezeichnet seine Mutter konsequent mit dem tschechischen Ausdruck »maminka« und erwähnt u. a. seinen Freund »Swatschina«. Die Gasthofbesitzerin Lilly spricht Tony mit der Koseform »Tontschi« an, und nach einem Streit mit ihm drückt sie ihre Gefühle spontan mit der tschechischen Interjektion »ježišmarjá« aus. Außerdem machen alle drei Figuren durch den Tonfall ihrer Rede auf sich aufmerksam, durch die Aussprache, die als lässig, eintönig und undeutlich empfunden werden kann, und durch sehr schwache Labialisierung der so genannten gerundeten Vokale (»Fraindin«; »das frait mich«). Diese Sprechweise wurde als »böhmischer Akzent«35 bzw. als »tschechische Aussprache des Deutschen«36 bezeichnet. Wie Stefan Zwicker erinnerte, handelt es sich allerdings um sogenanntes Böhmakeln, das primär mit den tschechischen Bewohner Wiens assoziiert wird und traditionell als deren Sprachcharakteristik auftritt.37 In Verbindung mit Prag wird aber dessen Vorkommen – wenigstens aus der österreichischen Perspektive – als nicht angemessen oder zum mindesten als auffallend und unüblich empfunden.38 Der Zusammenstoß von Lokalisierungshinweisen trägt zweifellos zur Stärkung der Heterogenität des Films bei. Das Böhmakeln wirkte wahrscheinlich auch als Impuls für die folgende überraschende Äußerung Frank Noacks: »Wenn der Film eine Nation diffamiert, dann am ehesten noch das mittlerweile angeschlossene Österreich – dort waren die Darsteller der zwielichtigen Figuren, Annie Rosar, Kurt Meisel und Dagny Servaes, unüberhörbar kulturell verwurzelt.«39
Mit der Sprache korrelieren dann weitere Züge: Es wird Nachdruck darauf gelegt, dass die genannten drei Figuren ordinär bzw. vulgär und geschmacklos wirken. Die Tante wird als eine verschlampte und genusssüchtige Frau vorgestellt; Tony ist zynisch und habgierig, in seinem Lächeln, in Grimassen und Bewegungen manifestieren sich Unaufrichtigkeit, Schmeichelei und Perfidität als grundlegende Komponenten seiner 34 35 36 37 38
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Die angeführten Namensformen entsprechen dem Drama von Richard BILLINGER, Der Gigant, Berlin 1937, 7. Dem Film ist die genaue Schreibung nicht zu entnehmen. TRAUDISCH, Mutterschaft, 90–92. KLIMEŠ, Veit Harlan, 23. ZWICKER, »Kakaniens« Landmädchen, 259. Vgl. die Anmerkung von Wolfgang MOSER, Xenismen. Die Nachahmung fremder Sprachen, Frankfurt/Main 1996, 127, über die deutsche Übersetzung von Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schwejks: »Manchmal wirkt wienerisches Böhmakeln wie eine geeignete Sprachmischung für die deutsche Übersetzung, obwohl es eigentlich für Prag nicht passt.« NOACK, Veit Harlan, 243.
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Natur. Es wird so ganz klar gezeigt, dass gerade die Mitglieder dieser Gruppe der Stadtbevölkerung die Quelle von Gefahr und Verderben sind. Gegen diese Konzentration von sprachlichen und visuellen Merkmalen stehen vereinzelte Andeutungen, die doch einen Schatten auf das Figurenbild werfen. Belastet ist Jobsts berechnende Wirtschafterin, die sich durch den tschechisch klingenden Kosenamen »Maruschka« von ihrer Umgebung unterscheidet, und eigentlich ebenfalls die Filmheldin, denn die Verdacht erregende Namensform auf »-uschka« ist auch mit ihr verbunden, obwohl die Form »Annuschka« dem Tschechischen nicht entspricht und dem ungarischen Diminutiv »Ánnuska« ähnelt. Als Hinweis darauf, dass die tschechische Sphäre konnotierende Namen in »Die goldene Stadt« nicht ganz funktionslos und zufällig auftreten, kann eine Veränderung gegenüber der Vorlage interpretiert werden, die eine »Inkonsequenz« Billingers korrigiert: Während im Drama Annas Vater zwar evident Deutscher ist, aber »Dub« heißt, also einen Namen tschechischer Herkunft trägt, stattet der Film die Familie mit dem zweifellos deutschen Namen »Jobst« aus. Noch eine Abweichung von der Vorlage charakterisiert den Film: die Anwesenheit einer neuen Figur, Leidweins Kollegen Ingenieur Nemetschek.40 Diese Person verkörpert ähnlich wie Annas Prager Verwandte die negativen Züge, und deren Vorführung wird zur Hauptfunktion, die sie erfüllt, da sie für die Entwicklung der Handlung im Prinzip unwichtig ist. Nemetschek ist ein kleiner, komisch wirkender Mann, der immer Grimassen zieht und im Umgang mit den Dorfbewohnern sich schwächlich und schmeichlerisch verhält. Die Zeichnung ist so intensiv und karikierend, dass sie als Porträt eines »Untermenschen« bezeichnet werden könnte. Nemetschek spricht konsequent deutsch, aber für seine Rede ist wieder die schwache Labialisierung von Vokalen typisch. Die Verbindung mit der tschechischen Sphäre besorgt allerdings vor allem sein Name. Es geht nicht nur um den evident tschechischen Ursprung des Namens (der paradoxerweise die Bedeutung »kleiner Deutscher« trägt), sondern auch um die Form der Aussprache: Während Melchior Jobst den Ingenieur »richtig deutsch« als »Nemetschek« anspricht, wählt er selbst die »tschechisierte« Version mit dem palatalen »ň« im Anlaut. Es ist bezeichnend, dass auch die Bauern, die den Ingenieur im Gasthaus lächerlich machen und ihn misshandeln, dieselbe Version des Namens verwenden. So wird angedeutet, dass seine Andersartigkeit, die die Bauern provoziert, nicht nur sozialer bzw. individueller, sondern auch nationaler Natur ist. Und es ist ebenfalls bezeichnend, dass die Misshandlung zwar durch den Eingriff von Thomas beendet, aber von der Autorität, die Jobst repräsentiert, nicht verurteilt wird. 40
Es ist nicht ersichtlich, wie der Name geschrieben wird. LOWRY, Pathos, 53, verwendet die Form Nemetschec; ZWICKER, »Kakaniens« Landmädchen, 264, schreibt tschechisch Němeček; bei NOACK, Veit Harlan, 246, ist sogar Nemecic zu finden.
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Als Gegenstück zu Nemetschek tritt eine andere komische Nebengestalt auf, der Straßenbahnkondukteur Ringl; die Relation wird auch durch den traditionellen Kontrast »groß und klein« unterstrichen. Ringl, der Bräutigam von Jobsts ehemaliger Magd Julie, wird als Frantischek vorgestellt und trägt seine einzige Replik mechanisch und fehlerhaft vor (»Freue mich ganz besonders Ihnen kennenzulernen«). In diesem Fall geht es allerdings primär um den »rein« komischen Effekt, der aus Ringls unangemessenem ernstem Aussehen und seinen unbeholfenen Gesten hervorgeht. Nichtsdestoweniger kann diese Figur zur Quelle von Bedenken werden: Warum wird Frantischek Ringl41, Träger von deutlichen Konnotationen des Tschechentums, nicht als Bedrohung für seine Braut Julie präsentiert? Steckt die Ursache in der niedrigen sozialen Position des Mädchens? Oder wird hier angedeutet, dass Julie auch Tschechin ist? Neben den nationalen Implikationen, die mit den handelnden Personen verbunden sind, ist es noch erforderlich, die Charakteristiken der vorgestellten Schauplätze zu verfolgen, also zu beachten, inwieweit der Film die (reale) Anwesenheit der tschechischen Bevölkerung auf diesen Schauplätzen widerspiegelt. Wieder wird der Zuschauer mit dem Fehlen einer einheitlichen Orientierung konfrontiert, wobei wahrscheinlich auch mit gewisser Zufälligkeit zu rechnen ist. »Die goldene Stadt« macht auf die tschechischen Einwohner Prags nicht explizit aufmerksam, zugleich aber vermeidet der Film die Spuren ihrer Existenz nicht. Sie erscheinen verstreut auf einer zweiten Ebene, allerdings eher als Belege zeitgenössischer Realien, die unreflektiert ins Bild aufgenommen wurden: So ist der Eingang zum Tabakladen, der Annas Tante gehört, mit deutsch-tschechischen Inschriften versehen (TABAK – TABÁK, PRODEJ TABÁKU). Der Dampfer, auf dessen Deck sich Anna von Tony überzeugen lässt, dass sie in Prag bleibt, trägt den Namen des bedeutenden tschechischen Politikers Antonín Švehla, der in den zwanziger Jahren Premierminister der Tschechoslowakischen Republik war. Noch merkwürdiger in dieser Hinsicht ist die Schilderung des dörflichen Milieus. Hier wird das Tschechische nicht schriftlich präsentiert, aber in der Szene des Pferderennens erscheint ein älterer, arm aussehender Mann im Publikum, der tschechisch seine Freude über das Vorsprengen von Thomas ausdrückt (»Tomáš jde kupředu«). Dieser (sehr kurze) Auftritt deutet an, dass auch Tschechen im Dorf leben, die wahrscheinlich eine arme Unterschicht bilden. Zugleich wird der Status von Thomas, der sonst keine nichtdeutschen Merkmale trägt, durch diesen Bezug auf den tschechischen Kontext einigermaßen in Frage 41
Ringl ist schon in »Der Gigant« mit Hinweisen auf die tschechische Sphäre – und zwar am deutlichsten im ganzen Stück – versehen; vgl. BILLINGER, Der Gigant, 73. Analog charakterisiert BILLINGER, ebd., 40, auch den Dieb Karl Pepulka, von dem in »Die goldene Stadt« nur gesprochen wird.
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Petr Mareš
gestellt. Die mögliche subversive Wirkung der angeführten Worte wird allerdings dadurch gedämpft, dass sie nur ein sehr konzentrierter Zuschauer bemerken kann (außerdem muss er die Äußerung als tschechisch formuliert identifizieren). So stellt es sich heraus, dass die Darstellung der nationalen bzw. sprachlichen Problematik, die durch ein Netz von Andeutungen realisiert wird, in ihrer Natur uneinheitlich und widersprüchlich ist. Die antitschechische Tendenz ist im Film nicht ganz offen ersichtlich. Für den Zuschauer, der die Indizien aufmerksam verfolgt, ist sie aber doch in »Die goldene Stadt« präsent. Es ist noch anzumerken, dass auch die im Film verwendete Musik in die deutsch-tschechische Beziehung auf spezielle Weise eingeht. Die Tonspur von »Die goldene Stadt« ist fest mit dem musikalischen Schaffen von Bedřich Smetana verbunden. Die Motive aus seinem symphonischen Gedicht »Vltava« (Die Moldau) betonen sowohl die Naturmotive als auch die emotional beladenen Szenen; außerdem wird, wie schon gesagt, eine deutschsprachige Inszenierung seiner Oper in die Handlung einmontiert. Im Rahmen des Films funktioniert die Musik als Merkmal des melodramatischen Genres, von der tschechischen Seite kann sie aber als Bestätigung seiner antitschechischen Tendenz empfunden werden. Die musikalischen Kompositionen, die für die Tschechen traditionell die nationalen Werte verkörpern und in denen die Verherrlichung der tschechischen Landschaft und des Vaterlandes gesehen wird, funktionieren zwar in »Die goldene Stadt« als etwas für das Land Typisches, aber der Verknüpfung mit der tschechischen Nation sind sie ganz enthoben. Fazit Die Betrachtung verschiedener Komponenten von »Die goldene Stadt« bestätigt die in der Gegenwart weit verbreitete Meinung: Die Mannigfaltigkeit von Perspektiven, Andeutungen und Vagheit, Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit, die für »Die goldene Stadt« typisch sind, ermöglichen unterschiedliche Lektüren in Abhängigkeit von Kontexten, in die der Film eintritt, bzw. von der ideologischen Orientierung des Interpreten. Eine Macht, im Einklang mit den nazistischen Ideen zu wirken, ist im Film allerdings evident enthalten, und das macht »Die goldene Stadt« in einer bestimmten Hinsicht »heimtückischer« als die Filme, die mit klaren und direkten politischen bzw. propagandistischen Botschaften operieren.
OLIVER RATHKOLB
»Geschichte(n) einer Karte«. Anmerkungen zur Wechselbeziehung zwischen Nationalsozialismus und Künstlern am Beispiel von Herbert von Karajans NSDAP-Mitgliedschaft Während Karajans musikalische Qualitäten nicht nur zu Lebzeiten »Kultstatus« hatten, sind bis heute seine Rolle als höchst geschäftstüchtiger »Finanz-Magier«1, aber auch seine politische Nähe zum Nationalsozialismus heftig umstritten. Zuletzt hat das Karajan-Gedenkjahr 2008 die Debatte um die NSDAP-Mitgliedschaft des Dirigenten noch einmal entfacht. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernahm Julia Spinola die These, dass Karajan erst 1935 der Partei beigetreten wäre.2 Davor hatte der britische Schriftsteller und Journalist Richard Osborne im Jahre 1998 in seinem 851 Seiten dicken Buch »Herbert von Karajan: A Life in Music« (London: Chatto & Windus)3, das 2002 im Paul Zsolnay Verlag in Wien auch auf Deutsch erschienen ist, die scheinbar ultimativen Forschungen auf Basis der Recherchen der inzwischen verstorbenen schwedischen Schriftstellerin Gisela Tamsen vorgelegt. Gleichzeitig kritisierte er Robert C. Bachmann heftig, der als erster 1983 in seiner Studie über Karajan dessen Karteikarte aus der ehemaligen Zentralkartei der NSDAP in Faksimile publiziert und auf den frühen Parteibeitritt des Dirigenten 1933 in Salzburg hingewiesen hat:4 »In mancher Hinsicht ist Bachmanns Beitrag der eigenartigste von allen, da er […] die umstrittene Mitgliedskarte tatsächlich im Anhang seines Buches wiedergibt; trotzdem kann er sie nicht ordentlich entziffern, interpretieren oder deuten. So wird ein entscheidendes Beweisstück zur bloßen Illustration, zum Nazi-Erinnerungsstück statt zur aussagekräftigen Quelle.«5
Tatsächlich ist es aber Osborne, der in der Quellengattung völlig falsch liegt und mit dieser Quelle und der dazugehörigen Korrespondenz 1 2 3
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Der Finanz-Magier. Herbert von Karajan, 80, DER SPIEGEL, 28. 3. 1988 (Titelbild). Der Unsterbliche, FAZ, 5. 4. 2008. Richard OSBORNE hat auch schon zu Lebzeiten Karajans einen Interviewband herausgebracht: Conversations with von Karajan, Oxford 1989. Hier schreibt er bereits auf Seite 59 in den Fußnoten von einer »nachgereichten (ng)« Mitgliedschaft Karajans in der NSDAP und meint, dass er nach der Heirat mit Anita Gütermann, einer »Vierteljüdin«, im Herbst 1942 um den Austritt aus der NSDAP angesucht habe, in die er, um die Stelle eines Intendanten in Aachen zu bekommen, 1935 eingetreten sei. Robert C. BACHMANN, Karajan. Anmerkungen zu einer Karriere, Düsseldorf 1983. Richard OSBORNE, Herbert von Karajan. Leben und Musik, Wien 2002, 930.
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nicht umgehen kann. Wie auch auf der Homepage des Bundesarchivs in Berlin nachzulesen ist6, wo sich das Original dieser Quelle heute befindet7, handelt es sich um eine Karteikarte aus der Zentralkartei der NSDAP und nicht um eine Mitgliedskarte, wie Osborne vorgibt. Da sich auf dieser Mitgliederkarteikarte auch ein Foto befindet, unter dem das Datum 13. Juli 1939 und »Köln-Aachen« steht, ist laut Bundesarchiv Berlin davon auszugehen, dass Karajan auch ein Mitgliedsbuch ausgehändigt wurde.8 Dieses Mitgliedsbuch wurde erst nach längerer Mitgliedschaft übergeben, weder die eigentliche Mitgliedskarte noch das Mitgliedsbuch Karajans sind bisher aufgetaucht, wie es überhaupt sehr wenige authentische Quellen wie Originalbriefe aus dem Privatbesitz Karajans bis heute für die Forschung gibt.
(Quelle: Bundesarchiv Berlin) 6 7 8
http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-3. html.de (23. 7. 2012). Bundesarchiv Berlin, Bestand ehemaliges Berlin Document Center, NSDAP-Zentralkartei, Herbert von Karajan. »Wurde ein Mitgliedsbuch ausgestellt, so wurde jedoch nur auf der Mitgliederkarteikarte in der Zentralkartei ein Porträtfoto angebracht.« (http://www.bundesarchiv.de/ oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-12.html.de, 23. 7. 2012).
Herbert von Karajans NSDAP-Mitgliedschaft
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Zurück zur Osborne’schen angeblichen »Entzifferung« der Karteikarte: Da Osborne offensichtlich nicht Kurrent lesen kann, irrt er auf den Seiten 742 bis 747 in der Übersetzung der handschriftlichen Eintragungen. Schon in der 3. Zeile wird der Vermerk »Gen.-Musikdirektor Kapellmeist.« (letzteres durchgestrichen) »als Adresse, schwer zu entziffern« bezeichnet, und dann wird noch dazu fantasiert, dass es sich dabei nicht um Karajans Adresse, sondern jene des Salzburger Rekrutierungsbüros handelt. Offensichtlich verwechselt er diese Stelle mit der 7. und 8. Zeile. Besonders irreführend ist Osbornes Versuch, die Verwaltungsentscheidung des Reichsschatzmeisters, die frühe Parteimitgliedschaftswerbung Karajans in Salzburg am 8. April 1933 für ungültig zu erklären (Karajan hatte keine Mitgliedsbeiträge in Österreich bezahlt), als Entlastungsbeweis umzudeuten. Da 1998 das NSDAP-Mitgliedschaftsrecht nicht mehr gegolten hat, geht es ausschließlich um eine historische Bewertung der freiwilligen Bewerbung um Aufnahme in die NSDAP, die – was auch die zur Karteikarte gehörende Korrespondenz9 ausführlich belegt – vom NSDAP-Werber Pg. Klein10 in Salzburg bestätigt wurde. Karajan ist überdies auch von einer gültigen Mitgliedschaft ausgegangen, da er sich in Ulm sorgsam als aktives NSDAP-Mitglied bei der zuständigen Ortsgruppe gemeldet hatte. In Österreich war die NSDAP nach zahlreichen brutalen Terrorattentaten seit 19. Juni 1933 verboten. Seit 1929 bis 1934 war Karajan am Ulmer Stadttheater tätig. Immer wieder versuchen Biographen wie Osborne unter Berufung auf die schwedische Schriftstellerin und studierte Theater- und Musikhistorikerin Gisela Tamsen11 die Tatsache, dass die NSDAP aus formalen Gründen die frühe Mitgliedsnummer Karajans aus Salzburg vom 5. April 1933 gelöscht und ihm 1939 eine neue, Ulm zugeordnete Mitgliedsnummer per 1. Mai 1933 gegeben und damit formal nachdatiert hat, völlig ins Gegenteil zu interpretieren: Er hätte nie eine politische Nähe zur NSDAP gesucht, sondern sei im April 1935 nur aus Karrieregründen der NSDAP in Aachen beigetreten.12 Überdies wurde das erste Beitrittsdatum für ungültig erklärt. Durch Karajans biographische Selbstinszenierungen und die meisten Biographien über den Maestro zieht sich ein »brauner« Faden: Sein NSDAP-Beitritt sei nichts anderes gewesen als ein Karrierehebel – noch 1981 hatte er gegenüber dem Schweizer Robert C. Bachmann erklärt, dass 9 10
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Bundesarchiv Berlin, Bestand ehemaliges Berlin Document Center, Parteikorrespondenz, Herbert von Karajan. Herbert Klein, ein Landeshistoriker, der nach 1945 Direktor des Salzburger Landesarchivs wurde, war Jahrgang 1900, also 8 Jahre älter als Karajan, und bestätigte, dass er Karajan geworben hatte. Publiziert hat Gisela Tamsen (1922–1995) ihre diesbezüglichen Arbeiten nicht. Vgl. dazu Gisela TAMSEN, The Berlin Philharmonic Orchestra and Its Conductors Through Changing Times, London 1983. So Osborne nochmals ausdrücklich in einem Interview für DIE PRESSE, 29. 5. 2002.
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ihm, Karajan, die Debatte um seine Mitgliedschaft bei der NSDAP »ganz gleichgültig«13 sei. Er verglich den NSDAP-Beitritt, den er durchaus »noch einmal machen würd’«, mit dem Beitritt zum »Schweizer Alpenverein«, wenn das die Voraussetzung wäre, auf den »Eiger« zu gelangen. »Was mir wichtig war, dass ich endlich das haben konnte – immerhin, in Aachen war ein großes Orchester und ein wunderbarer Gesangsverein … Ja also, ich hätte einen Mord begangen.«14
Gleichgültig blieb Karajan auch der menschliche und politische Kontext, in dem sich die Musikkultur im Nationalsozialismus abspielte. Vertreibung und Verfolgung in ganz Europa, Aggressionskriege und die Shoa wischte Karajan völlig zur Seite. Aber war Karajan wirklich so apolitisch vor 1945? Unberücksichtigt bleibt in vielen Publikationen, dass Karajan ideologisch durchaus dem NS-Regime nahe stand und deutsch-national sozialisiert war. 1925 war er Konkneipant15 bei der schlagenden Alldeutschen Gymnasialverbindung Rugia in Salzburg.16 Aus Sorge um seine Hände dürfte er aber keine Mensuren ausgefochten haben. Wie ich nachweisen konnte, »hatte Karajan bereits im April 1933 in Salzburg bei einem ›Bundesbruder‹ der schlagenden Gymnasialverbindung Rugia um Aufnahme in die NSDAP angesucht … Wie viele Österreicher und Deutsche war Karajan vom Antisemitismus der Zeit infiziert.«17 Zwischen 1927 und 1928 trug er sich in den Studienbüchern der Universität Wien als »(Deutsch-)Arier« oder »arisch« ein18, was damals nur ganz rechte deutschnationale und offensiv antisemitische Studenten vermerkten. Seinen Eltern berichtete er, dass er bei dem Rechtsanwalt Dr. Karl Samuely eine Wohnung gefunden hatte: »Er ist ein Jude Rechtsanwalt.«19 13 14 15 16
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BACHMANN, Karajan, 98. http://www.youtube.com/watch?v=0yJH9Sr4aKE (23. 7. 2012) im Originalton, und BACHMANN, Karajan, 99. Mitglied, obwohl er aus Satzungsgründen nicht Mitglied sein konnte. Rudolf MAURER/Otto WOLKERSTORFER, Gaudeamus igitur: Couleurstudentisches Leben in Baden, Sonderausstellung 5. 5.–30. 9. 2000, Baden 2000, 7. Vgl. auch Eike RUX, Die Geschichte der nationalen Salzburger Pennalien am Beispiel der Alldeutschen Gymnasialverbindung Rugia, Dipl.-Arbeit, Salzburg 2005. Oliver RATHKOLB, Wunder aus Salzburg. Wie politisch verstrickt war Herbert von Karajan vor 1945?, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 3. 4. 2008. Vgl. dazu die Nationale »Heribert« Karajans, Philosophische Fakultät (Archiv der Universität Wien). Im Sommersemester 1927 schreibt er in der Spalte »Muttersprache, Alter, Volkszugehörigkeit«: »Deutsch, 19 Jahre, Deutsch Arisch«, im Sommersemester 1928 verkürzt er auf »Arier«. Aus der Technischen Hochschule ist nur der Studien-Hauptkatalog überliefert, wo sich Karajan ebenfalls als »deutsch-arisch« hat eintragen lassen. Übrigens studierte er nur pro forma Maschinenbau, da er keine Vorlesung hörte oder Prüfung absolvierte (Mitteilung von Frau Dr.in Juliane Mikoletzky, Archiv der Technischen Universität Wien). DIE WELT, 20. 5. 2001; Bericht über Briefe Karajans, die – vielleicht aus dem Nachlass seines 1987 verstorbenen Bruders Wolfgang – im Wiener Dorotheum versteigert werden sollten. Die Briefe wurden jedoch wieder von der Versteigerung zurückgezogen, wie auch bereits im Dezember 1990 in New York bei Sotheby’s.
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Der Student Karajan durfte den Blüthner-Flügel des Rechtsanwalts benützen. Dass Karajans Antisemitismus nach der Lueger’schen Prägung gestrickt war – »Wer ein Jud’ ist, bestimme ich« – liegt auf der Hand, wobei er aber nach 1933 durchaus rabiater argumentierte: Beispielsweise polemisierte er 1934 in einem Brief an seine Eltern gegen die »Volksoper« in Wien, wo er nicht dirigieren wolle, da »es ja doch nur ein Vorstadttheater, ohne Namen war, außerdem wird das gesamte Palästina dort gesammelt sein«.20 Ebenfalls völlig im Dunkel der Geschichte lassen Karajan und seine Biographen das geschickte Agieren mit der gleichgeschalteten deutschen Presse. Karajans Agent war Rudolf Vedder21, eine dubiose, aber höchst umtriebige Persönlichkeit – seit 1938 mit guten Kontakten zu höchsten SS-Kreisen um Ludolf-Hermann von Alvensleben, von 1938 bis 1940 Erster Adjutant des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler. Vedder hatte eine zentrale künstlerische Weichenstellung vorgeschlagen, um dem »alten« Furtwängler in Berlin das Wasser abzugraben und dessen Privileg auf Konzerte mit den Berliner Philharmonikern durch Konzerte Karajans mit der Berliner Staatskapelle, die sich aus Musikern der Staatsoper zusammensetzte, streitig zu machen. Hinter der bis heute immer wieder gern zitierten Kritik, die unter dem Titel »Das Wunder Karajan« stand und sich auf den zweiten Berliner Auftritt des Dirigenten mit »Tristan und Isolde« 1938 an der Staatsoper Berlin bezieht, steckte allerdings nicht der unterzeichnende Musikschriftsteller und Starkritiker Edwin von der Nüll, sondern jemand anderer. Wie die Schlagzeile »Staatsrat Tietjens großer Griff«22 und Furtwänglers Aussagen dokumentieren, war der Autor jener Generalintendant Heinz Tietjen, ein Intimfeind Furtwänglers, der diesen bereits 1937 in Bayreuth kalt gestellt hatte. Auffällig ist, dass andere Kritiker zwar die Aufführung lobten, aber diese nicht zur Sensation des Jahrhunderts stilisierten.23 Schon am 11. Mai 1939 beschwerte sich Furtwängler über Karajans Aufstieg beim Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels: »Mittags im Hotel Bristol längere Unterredung mit Furtwängler. Es ist immer das alte Lied. Er hat tausend Beschwerden, z. T. berechtigt, z. T. aber auch maßlos übertrieben. Aber er hat recht, wenn er sich dagegen wehrt, daß der Dirigent Karajan mit seinen 30 Jahren ihm in der Presse gleich- oder gar übergestellt wird. Ich werde das auch in Zukunft verhindern. Furtwängler ist ein großer Musiker, sonst aber ein Kind mit kleinen Bosheiten.«24 20 21 22 23
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Sotheby’s, Fine Books and Manuscripts, New York, Dec. 11, 1990, Los Nr. 438 (Original des Auktionskatalogs im Besitz des Verfassers). Siehe dazu Fred K. PRIEBERG, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 [CDRom], Auprès des Zombry 22009, 7842–7851. http://www.karajan.org/jart/prj3/karajan/data/kritiken/4110.jpg (20. 7. 2012). http://www.karajan.org/jart/prj3/karajan/main.jart?content-id=1263562339499& rel=de&reserve-mode=active&j-db-find=tristan&werk-bereich=konz&jahr=1938 (20. 7. 2012). Joseph GOEBBELS, Tagebucheintrag vom 11. 5. 1939, in: Nationalsozialismus,
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Im Kampf um die erste Stelle in Berlin feierte Karajan anfangs große Erfolge, obwohl ihn Hitler als Dirigenten nicht schätzte. Sehr früh wurde auch Karajan in der Auslandspropaganda eingesetzt – so unter anderem mehrfach und mit Erfolg im besetzten Frankreich. Herbert von Karajan kam bereits im Dezember 1940 mit Chor und Orchester der Stadt Aachen nach Paris – aber primär, um vorerst nur Wehrmachtskonzerte zu geben.25 Aber schon zuvor hatte er am 19. Oktober 1940 im Théâtre National du Palais Chaillot die H-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach vor französischem Publikum dirigiert. Auch in weiterer Folge sollte er in diesem Bereich sehr aktiv bleiben – so auch bei dem ersten großen Operngastspiel 1941. Gegen den Willlen des Reichspropagandaministers Goebbels, der grundsätzlich gegen deutsche Gastspiele im besetzten Paris argumentierte und so ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters und der Wiener Philharmoniker für Juli bzw. Mai 1941 verhinderte, setzte das Auswärtige Amt mit Entscheidung Hitlers u. a. ein Gastspiel der Berliner Staatsoper am 18. und 20. Mai von Mozarts »Entführung aus dem Serail« sowie Richard Wagners »Tristan und Isolde« am 25. Mai 1941 durch – Ehrengast Winifred Wagner, Dirigent Herbert von Karajan.26 Das Gastspiel war erfolgreich, nicht zuletzt auch – wegen der Mitwirkung der französischen Starsopranistin Germaine Lubin – beim französischen Publikum, und Goebbels versuchte sich in weiterer Folge hier zu engagieren. Bis dahin hatte er eher die Ansicht unterstützt, dass die Preußische Staatsoper als »die repräsentativste Bühne« nur in Ländern zum Einsatz kam, die dem NS-Regime »nahe standen« – sozusagen als Belohnung und Auszeichnung. Musik war aufgrund der emotionalen Wirkung für das NS-Regime eine sehr wichtige Propagandawaffe. Der Sicherheitsdienst der SS berichtete am 27. Dezember 1943 in einem Überblick »zur Frage des Einsatzes der deutschen Musik im Ausland« begeistert: »Das Pariser Gastspiel der Berliner Staatsoper im Mai 1941 unter Karajan habe nach übereinstimmenden deutschen und französischen Äußerungen den Erfolg aller deutschen Veranstaltungen vor dem Krieg bei weitem übertroffen und noch auf Monate hinaus das Denken vieler einflußreicher französischer Kreise beherrscht.«27
25 26 27
Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945 [Online-Datenbank, De Gruyter]. URL: http://db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf?documentId=TJG-4263, Dokument-ID: TJG-4263 (23. 7. 2012). Ursprünglich veröffentlicht in: Joseph GOEBBELS, Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hg. von Elke FRÖHLICH, Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 6: August 1938 – Juni 1939, bearb. von Jana RICHTER, München 1998, 344–345. Kathrin ENGEL, Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris 1940–1944: Film und Theater, München 2003, 243. Ebd., 253. Heinz BOBERACH (Hg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. 15, Berlin 1984, 6194.
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Übrigens war Karajan bereits vor dem Krieg als »Shooting Star« außerhalb Deutschlands vom NS-Regime, das die gesamte Auslandskultur streng überwachte, eingesetzt worden und hatte im Juni 1939 im Athener Odeon unterhalb der Akropolis das erste Konzert der Sommersaison mit dem Athens Conservatory Symphony Orchestra in Gegenwart des griechischen Königs dirigiert. 1940 – im Krieg – wurde Karajan auch in Madrid im faschistischen Spanien eingesetzt, um ein weiteres Beispiel zu bringen, welch hohen Stellenwert die offizielle NS-Kulturpolitik im Ausland Karajan beimaß. 1940 fand ein erstes Gastspiel in Rom statt. In der deutschen Auslandsillustrierten »Signal. Zeitschrift des Neuen Europa«28, die vom Oberkommando der Wehrmacht mit großem Aufwand seit April 1940 herausgegeben wurde, schrieb Edwin von der Nüll 1940 begeistert über die »bedeutenden Musiker der Gegenwart« Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan. Es war dann aber wieder Heinz Tietjen, der im Juni 1942 Karajan in die zweite Reihe der Berliner Hochkultur zurückschickte und den Vertrag des medienbewussten Dauergastes an der Staatsoper nicht verlängerte, da dieser aus Tietjens Sicht maßlose Forderungen stellte. Wirklich nachhaltig schadete das aber Karajans Karriere vor 1945 nicht. Sechs Doppelsymphoniekonzerte pro Jahr mit der Staatskapelle blieben bis 1944 aufrecht und verschafften Karajan genügend Präsenz in Berlin, das aufgrund der Bombenangriffe auch ein zunehmend »ungeliebter« Ort für Musiker wurde. Übrigens wurde am 30. Juni 1942 auf Betreiben Wilhelm Furtwänglers und anderer Karajans Agent wegen dubioser Machenschaften in seiner Konzertagentur von Goebbels aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen, in diesem Fall war Furtwängler erfolgreicher.29 Karajan, in seinen Entnazifizierungsverhören, und manche seiner Biographen, wie zuletzt Richard Osborne, bringen diese Rückstufung, die Karajan als Herabsetzung, ja politische Verfolgung interpretierte, immer mit der Heirat mit Anna Maria (Anita) Gütermann am 22. Oktober 1942 in Verbindung. Erstens zeigt jedoch der Zeitablauf, dass Karajan bereits vor der Eheschließung zurückgestuft worden war. Zweitens durften »Mischlinge« 2. Grades »Deutschblütige« – so die rassistische Diktion der Nürnberger Gesetze – heiraten.30 Anita Gütermann war »Vierteljüdin«. Tatsache ist, dass diese zweite Ehe Karajans dem noch immer rastlos ehrgeizigen Stardirigenten deutliche Vorteile bot, denn Anita stammte aus einer der großen deutschen Industriellenfamilien. 28 29
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SIGNAL, 15. 5. 1940, 30f. »Vedder hatte zuletzt noch versucht, den eben von Furtwängler als Konzertmeister ins BPhO (Berliner Philharmonische Orchester, Anm. d. Verf.) engagierten Geiger Gerhard Taschner zu einer Solistenkarriere unter seiner Alleinvertretung zu überreden und ihn dann ans Staatsopernorchester unter Karajan zu vermitteln. Dies gab den Ausschlag für die Aktion des Ministeriums« (PRIEBERG, Handbuch, 7846). Siegfried MARUHN, Staatsdiener im Unrechtsstaat: Die deutschen Standesbeamten und ihr Verband unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2002, 121.
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Die Gütermanns hatten sich mit ihrem berühmten Nähseide-Unternehmen ab 1933 den Nazis angebiedert. Da die Urgroßeltern Anitas Juden gewesen waren, wurde zwar die Parteimitgliedschaft einzelner männlicher Familienmitglieder, die das Unternehmen führten, getilgt oder abgelehnt.31 Die geschäftstüchtige Familie hatte aber bereits am 26. Jänner 1934 »die Berechtigung zur Einfärbung brauner Nähseide« bekommen32 und war damit in das Geschäft der NS-Uniformen eingestiegen. Trotz der jüdischen Vorfahren haben die Gütermanns im nationalsozialistischen Deutschland gut gelebt und beste Kontakte gehabt. Was alle Forscher bisher übersehen haben, ist wieder der simple Zeitablauf. Auf einer Karte der Reichsmusikkammer wurde noch am 9. April 1943 vermerkt, dass laut Reichssicherheitshauptamt keine »nachteiligen Notierungen in politischer Hinsicht« gegen Herbert von Karajan vorliegen, erst am 6. Juni 1943 wurde die Heirat mit der »1/4 Jüdin« vermerkt und knapp drei Wochen später lapidar festgehalten: »Lt. Ministerentscheid v. 26. 6. 1943 ist in dieser Angelegenheit nichts zu unternehmen.«33 Zwar wurde gegen Karajan eine interne Untersuchung der Reichsmusikkammer gestartet, aber Goebbels ließ die Nachforschungen 1943 per Weisung einstellen. Deutlich mehr geschadet im Wettkampf um Platz Eins am deutschen Dirigentenhimmel hatte Karajan, dass sein Agent Vedder aus der NSDAP und SS 1942 temporär ausgeschlossen wurde und dass Furtwängler sich NS-Größen wie Hitler und Goebbels wieder stärker angepasst hatte. Für Karajan blieben dennoch in der zweiten Reihe genügend Betätigungsmöglichkeiten. Ein Blick in die Aufführungsdatenbank des Eliette und Herbert von Karajan Instituts34 genügt: Nach wie vor dirigierte er die Berliner Staatskapelle, und er begann noch intensiver in Italien, in den besetzten Gebieten Dänemark und Niederlande und im mit Hitler-Deutschland kollaborierenden Rumänien zu arbeiten. Ein zweites »Wunder Karajan« Im Jahr 1944 startete Herbert von Karajan mit Unterstützung eines neuen Protektors im Goebbels-Ministerium, Staatssekretär Leopold Gutterer, nochmals durch mit dem Linzer Reichs-Bruckner-Orchester35 – auch zur Erbauung von Spitzenmanagern der deutschen Rüstungsindustrie sowie Rüstungsministers Albert Speer, bevor dieser die ausgemergelten KZHäftlinge in den Reichswerken Hermann Göring in Linz »besichtigte«.36 31 32 33 34 35 36
Bundesarchiv Berlin, Bestand NSDAP-Parteikorrespondenz D 241, Paul Alexander Siegmund Gütermann. Ebd. Bundesarchiv Berlin, Bestand Berlin Document Center, Reichskulturkammer, N0019. http://www.karajan.org/jart/prj3/karajan/main.jart?rel=de&content-id=12635623 39499&reserve-mode=active (20. 7. 2012). Bundesarchiv Berlin, R 55/558, 59–72. Bertrand PERZ, KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter der Reichswerke »Hermann Göring« in Linz, in: Oliver RATHKOLB (Hg.), NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der
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Noch im Dezember 1944 sollte das Reichs-Bruckner-Orchester zu »Ehren des Führers« zum besten Orchester des Deutschen Reichs hochgefahren werden, aber das Kriegsende zerschlug diese Allmachtsphantasien. Aus der Tatsache, dass Karajan nach dem letzten Berliner Konzert im Februar 1945 nach Mailand auswich, während sein Publikum im Bombenhagel zurückblieb, dessen Desertion zu konstruieren, ist kühn – nach wie vor war er »u. k.« gestellt, also wehrdiensttauglich, aber »unabkömmlich«. Über Triest kehrte er Ende 1945 nach Salzburg zurück und begann in den Entnazifizierungs-Verfahren vor alliierten und österreichischen Behörden, die auf keinerlei schriftlichen Quellen basierten, erfolgreich ein zweites »Wunder Karajan« zu konstruieren: Karajan habe genug gelitten, es lebe der neue Karajan, der immer nur für die Musik gelebt hat. In den ersten Monaten der Besatzung in Salzburg und Linz gab es für die auch für die Entnazifizierung von Künstlern zuständige Information Services Branch der US Forces in Austria [ISB]37 keine Probleme. Die von den US-Behörden eingesetzten österreichischen Beiräte arbeiteten mit der ISB zusammen, die sich in jedem Fall die letzte Entscheidung vorbehielt. Aber man sollte nicht vergessen, dass die ISB anfangs über »heiße Eisen« wie Karajan, Furtwängler, Karl Böhm – also Künstler, die im Rampenlicht nationalsozialistischer Kultur-, aber auch Auslandspropaganda gestanden waren – nicht diskutierte. Es zeigte sich, dass es anfangs möglich war, die formalen Entnazifizierungsbestimmungen bei Künstlern mit geringem nationalem und internationalem Renommee in kleineren lokalen Einheiten wie Salzburg und Linz durchzusetzen. Dass sich dieses »Screening« als höchst oberflächlich erwies, beweist der Fall des Dirigenten des MozarteumsOrchesters, Robert Wagner, der zunächst mit ausdrücklicher Genehmigung der Amerikaner angestellt38 und dann auf Wunsch von Counter Intelligence Corps (CIC) und G-2 (US-Army, Militärischer Nachrichtendienst) vom Dienst suspendiert wurde, da er eine Art Hymne an den Führer unter dem Titel »Deutsche Auferstehung« komponiert hatte, die von Franz Schmidt begonnen worden war.39 Wagner wurde deswegen
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Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945, Bd. 1: Christian GONSA/ Gabriella HAUCH/Michael JOHN/Josef MOSER/Bertrand PERZ/Oliver RATHKOLB/ Michaela C. SCHOBER, Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Wien–Köln–Weimar 2001, 449. Vgl. dazu zuletzt mit weiteren Literaturhinweisen Natalie SCHLEGEL, Die Beurteilung der »US-Kulturmission in Österreich 1945–1945«. Der Bereich der Medien am Beispiel von »Wiener Kurier«, »Salzburger Nachrichten« und »Radio Rot-WeißRot«, Dipl.-Arbeit, Wien 2008. NA-RG 260/96/Folder: Actors, Pasetti an van Eerden – Action against Artists, 28. 6. 1946, 3. NA-RG 260/35/Folder: Theatre & Music Section Reports, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 15. 7. 1946, 2; Ernst Lothar wollte nach einem persönlichen Gespräch mit Wagner das Auftrittsverbot aufrechterhalten, jedoch dessen Abschiebung aus der US-Zone nicht befürworten.
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in der Österreichischen Zeitung heftigst angegriffen40, und in der Folge stellte sich heraus, dass er Mitglied der NSDAP (seit 1940 mit der Nummer 7644003) gewesen war.41 Auch bei der Erörterung des Falles Elisabeth Schwarzkopf wird argumentiert, dass zum Wiederaufbau des kulturellen Lebens in Österreich prominente Künstler »entlastet« (to be cleared) werden mussten.42 Zusammenfassend betrachtet zeigte es sich, dass zwischen den US-Plänen und den Entscheidungen der österreichischen Entnazifizierungskommission in Salzburg, die vom zuständigen Leiter der Theatre & Music Section, Otto de Pasetti43, gutgeheißen worden waren, doch ein großer Unterschied bestand. Während die AusterityÜberlegungen grundsätzlich die Bestrafung für Mitglieder der NSDAP und zahlreicher NS-Gliederungen sowie hoher Staatsfunktionäre gefordert hatten, ging Pasetti mit der Einführung einer österreichischen Kommission fast gänzlich von dem formalen Schematismus der Anfangszeit 1945 ab. Nicht formale, sondern inhaltliche Kriterien sollten für das Auftrittsverbot eines Künstlers ausschlaggebend sein. Dieses Konzept wurde an einigen kleineren Fällen erfolgreich ausprobiert. Auch den ersten Fall der Wiederzulassung einer sehr bekannten Künstlerin, der Starschauspielerin Paula Wessely, konnte Pasetti durchsetzen. Wessely hatte wegen ihrer Darstellung in dem NS-Propagandafilm »Heimkehr«, der stark anti-polnische, aber auch antisemitische Züge trug44, nicht auftreten dürfen.45 Zur Entlastung Wesselys wurde vorgebracht, dass sie durch Verweigerung der Mitwirkung an diesem in Wien entstandenen »Großfilm« möglicherweise ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätte.46 Überdies hätte sie verfolgten jüdischen Künstlern geholfen und sei niemals Nationalsozialistin gewesen. Einige Österreicher, die in die USA emigrieren mussten, wie der Schauspieler Hans Jaray, Marcel 40 41
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ÖSTERREICHISCHE ZEITUNG, 10. 2. 1946, 4. Berlin Document Center, Personalakt Wagner, Robert; dennoch schien Wagner nicht auf einer der Schwarzen Listen der amerikanischen, britischen oder französischen Kulturabteilungen auf – möglicherweise waren die Untersuchungen sehr bald wieder eingestellt worden, da er von österreichischer Seite in Salzburg sehr unterstützt wurde. NA-RG 260/45/Folder: Music & Theatre, Pasetti an van Eerden – Artists, 18. 11. 1945; abgesehen von Elisabeth Schwarzkopf und Robert Wagner wollte Pasetti die Fälle folgender Künstler von der beratenden Kommission entscheiden lassen: Franz Konwitschny, Herbert von Karajan, Karl Böhm, Ernst Ansermet, Eugen Jochum (alle genannten waren Dirigenten) sowie die SchauspielerInnen Paula Wessely, Attila Hörbiger, Otto Tressler und Marika Röck und auf den Wunsch des Emigranten und US-Theateroffiziers Henry Alters dessen Cousin Andre von Diehl. Clemens Krauss sollte vorerst noch zurückgestellt werden. Ein eher erfolgloser Tenor und ehemaliger Liebhaber von Lotte Lenya-Weill, der 1937 in die USA gegangen war. Dorothea HOLLSTEIN, Antisemitische Filmpropaganda. Die Darstellung der Juden im nationalsozialistischen Spielfilm (Kommunikation und Politik 1), München 1971, 150 f. SALZBURGER NACHRICHTEN, 15. 12. 1945, 2; hier wurde ein Statement Pasettis zur Wiederzulassung Wesselys wortwörtlich veröffentlicht. Ebd; vgl. auch WIENER KURIER, 15. 12. 1945, 4.
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Frym (= Friedmann) und Otto Reik, verbürgten sich für die Künstlerin47, die im Dritten Reich wegen ihrer »Judenfreundlichkeit« angefeindet worden war.48 Dennoch wurde die Entscheidung intern heftig diskutiert.49 Auch die entsprechende US-Kulturabteilung in Deutschland stellte sich gegen die Wiederzulassung einer der höchstbezahlten Schauspielerinnen im Dritten Reich.50 Pasetti konnte sich jedoch durchsetzen, da er die Auffassung vertrat, dass niemand für den »Mangel an Widerstand gegen den Nationalsozialismus« bestraft werden könne.51 Die Interventionen gegen die Entscheidung der österreichischen Kommission lassen aber ahnen52, welche Auswirkungen derartige Entscheidungen auf die Öffentlichkeit hatten. Anhand der Vorgänge um die Entnazifizierung des Dirigenten Herbert von Karajan, der der NSDAP angehört hatte, lassen sich die organisatorischen und inhaltlichen Änderungen der Entnazifizierungspolitik gut demonstrieren. Weiter zeigt sich im Zusammenhang mit den amerikanischen und österreichischen Entnazifizierungsverfahren im Falle Karajans, wie unklar die formale Sachverhaltsdarstellung sein konnte; so war es möglich, dass Karajan 194553, 194654 und sogar noch in den sechziger Jahren55 behaupten konnte, dass er erst 1935 aus reinen Karrieregründen der NSDAP beigetreten sei, während der Musikwissenschaftler Prieberg schon 1982 nachwies, dass Karajan bereits am 8. April 1933 der NSDAP in Österreich und am 1. Mai desselben Jahres der NSDAP in Deutschland beigetreten war.56 Dieses Faktum war jedoch während der politischen Vergangenheitsbewältigung im Rahmen der 47 48
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NA-RG 26O/96/Folder: Actors, Pasetti an Shinn – Miss Paula Wessely, 9. 1. 1946, Beilage. Vgl. dazu Berlin Document Center, Personalakt Wessely, Paula (Alfred Eduard Frauenfeld, 1936 Geschäftsführer der Reichstheaterkammer, beschwerte sich bei Staatskommissar Hans Hinkel, dass Paula Wessely in Wien von dem jüdischen Arzt Dr. Keller entbunden wurde). »Das Schwarze Korps«, die Zeitung der SS, wandte sich sogar öffentlich gegen die Schauspielerin, weil sie Alfred Polgar zum 60. Geburtstag gratuliert hatte (Joseph WULF, Theater und Film im Dritten Reich: eine Dokumentation, Frankfurt/Main 1983, 390). Besonders die Film Section opponierte gegen die Entscheidung Pasettis, vor allem, um Wessely nicht von jeglicher politischen Verantwortung freizusprechen (NA-RG 260/96/Folder: Actors, Sharin an Pasetti – Paula Wessely, 30. 11. 1945; NA-RG 260/41/Folder: Salzburg, Pasetti an Wolf – Paula Wessely, 5. 1. 1946). NA-RG 260/96/Folder: Actors, Pasetti an Shinn – Paula Wessely, 9. 1. 1946. SALZBURGER NACHRICHTEN, 15. 12. 1945, 2. So intervenierten die Sowjets (NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Pasetti an McChrystal, 29. 3. 1946), aber auch einzelne Angehörige der US-Militäradministration wie der österreichische Emigrant Baron Franz Seidler (Legal Division) gegen das Wiederauftreten Wesselys im Theater in der Josefstadt in Bert Brechts »Der gute Mensch von Sezuan« (NA-RG 260/96/Folder: Actors, Pasetti – Paula Wessely, 30. 3. 1946). NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Pasetti an Thomas, 18. 12. 1945, 2. NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Votum, 25. 3. 1946, 1. Ernst HAEUSSERMAN, Herbert von Karajan. Biographie, Gütersloh 1968, 81. Fred K. PRIEBERG, Musik im NS-Staat, Frankfurt/Main 1982, 19f.
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ISB verschleiert worden und wurde – wie bereits erwähnt – vor allem von Richard Osborne unter Berufung auf die quellenkritisch unhaltbaren Arbeiten Gisela Tamsens unter den Titel »the misleading photocopy« gestellt.57 Erste Entnazifizierungsphase (1945–1946) Zunächst eine Rekapitulation der wichtigsten Argumente bei den Entnazifizierungsverhandlungen, die teilweise bereits im ersten Teil des Beitrags releviert wurden: Karajan, der in Salzburg geboren und erzogen worden war, begann seine Karriere 1930 als Kapellmeister in Ulm und wechselte dann 1935 nach Aachen.58 1938 holte ihn der Generalintendant der preußischen Staatstheater, Heinz Tietjen, nach Berlin, und schon ein Monat nach dem ersten Auftreten Karajans in der Reichshauptstadt schrieb der Berliner Kritiker und Musikschriftsteller von der Nüll über »Das Wunder Karajan«.59 Diese Lobeshymne war zum Teil auch als ein Angriff gegen den alternden Star Wilhelm Furtwängler zu verstehen. Die Frage, inwieweit Karajan dazu benützt worden ist, den politisch nicht immer bequemen Furtwängler auf künstlerischer Ebene auszuschalten oder zumindest zu neutralisieren, ist bis heute nicht ganz geklärt. Es sprechen aber Indizien dafür, dass Karajan als Gegengewicht zu Furtwängler fungieren sollte.60 Er war angeblich politisch desinteressiert, aber trotzdem aus Karrieregründen Mitglied der NSDAP.61 Sein Konzertagent, Robert Vedder, hatte ausgezeichnete Verbindungen zu einflussreichen SS-Kreisen62 und könnte daher die Vorgänge um den Konkurrenzkampf zwischen Furtwängler und Karajan in Berlin beeinflusst haben. Trotz großer Erfolge fiel Karajan 1942 in Ungnade, blieb aber durchaus als Dirigent innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches aktiv und in der Öffentlichkeit sichtbar. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Italien kehrte er 1945 nach Österreich zurück und versuchte, in seiner Heimat Salzburg Fuß zu fassen. Mit all diesen biographischen Fakten musste sich auch die Theatre & Music Section unter der Leitung Otto de Pasettis, ohne über Unterlagen zu verfügen, auseinandersetzen. Anfangs lag die Verantwortung zur politischen Klassifizierung von Künstlern ausschließlich bei dieser US-Behörde. Die Österreicher wollten Karajan möglichst rasch wieder 57
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Kopie im Besitz des Verfassers (aus einem nicht verifizierbaren Buch, Erscheinungsjahr 1993, 17–20). Untertitel des Beitrags: »shortened version of a chapter from a forthcoming Karajan documentation«. HAEUSSERMAN, Karajan, 10 ff. Ebd., 67. NA-RG 260/232/Folder: Furtwängler, Berliner Entnazifizierungskommission, 2. Verhandlung, 17. 12. 1946, 53. PRIEBERG, Musik im NS-Staat, 19 f.; HAEUSSERMAN, Karajan, 81 war offensichtlich von Karajan selbst nicht korrekt informiert worden (Parteieintritt 1935). NA-RG 260/232/Folder: Furtwängler, Berliner Entnazifizierungskommission, 2. Verhandlung, 17. 12. 1946, 53.
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einsetzen. Auch Pasetti befürwortete nach ersten Recherchen Mitte November 1945 die Entlastung Karajans, um die Dirigentenfrage in Wien zu lösen.63 Der Vorstoß in Richtung »Prominentenentnazifizierung« wurde mit der Forderung nach einer Kriminalisierung des Entnazifizierungsmechanismus verbunden: Nur aktive Unterstützung des Nationalsozialismus – durch Denunziation, Arisierungen, ideologische Stellungnahmen für den Nationalsozialismus, aktiven Antisemitismus – sollte ohne Rücksicht auf die Parteimitgliedschaft mit Berufsverbot belegt werden.64 So war es möglich, dass die »beratende österreichische Kommission für die politische Untersuchung der Künstler« bereits ein Monat nach der grundsätzlichen Zustimmung Pasettis Karajan zur Wiederzulassung vorschlagen konnte.65 Der Entscheid wurde von der ISB bestätigt, jedoch erst Anfang Jänner 1946 veröffentlicht.66 Es war aus unbekannten Gründen eine Verzögerung eingetreten.67 In der Begründung für die Auftrittsgenehmigung Karajans gaben die Kommissionsmitglieder an, dass er zwar 1935 [sic!]68 der NSDAP beigetreten war, aber trotzdem nicht als »Illegaler« anzusehen sei, da er schon vorher in Deutschland gelebt hatte. Entscheidend für die Zulassung war die Tatsache, dass er eine »Vierteljüdin« geheiratet und laut eigenen Aussagen vor einem Parteigericht seinen Austritt aus der NSDAP im Jahre 1942 erklärt hatte. In der Folge sei Karajan aus der Öffentlichkeit verschwunden und konnte erst gegen Kriegsende wieder auftreten – vor allem im Rundfunk und in Italien. Heute ist klar, dass es sich dabei um eine bewusste Verfälschung der Tatsachen durch Karajan gehandelt hat. Karajans angebliche politische Maßregelung und das Einstehen für seine Frau, die als »Vierteljüdin« eingestuft wurde, sollten genügen, die formale Zugehörigkeit zur NSDAP zu pardonieren. Schon vier Tage nach Publizierung der positiven Entscheidung wurden drei Konzerte des Dirigenten mit den Wiener Philharmonikern am 12., 13. und 19. Jänner 1946 angekündigt.69 Doch der Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka lehnte den Dirigenten Karajan ab.70 Der sowjetische Zensor bestätigte diese Entscheidung, und Pasetti wurde dabei zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, dass die Sowjets in ihrer Zone durch die Verwaltungsgruppe XI-Kultur und Volksbildung des Wiener Magistrats eine »Programmprüfung« durchführen ließen, die eine Art Vorzensur darstellte. 63 64 65 66 67 68
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NA-RG 260/35/10, Pasetti – Report No. 20, 15. 11. 1945, 2. NA-RG 260/892/57, Alter an van Eerden – Bi-Weekly Report on Theatre, 24. 11. 1945, 4ff. NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Pasetti an Thomas, 18. 12. 1945, 2. SALZBURGER NACHRICHTEN, 4. 1. 1946, 6. Die Entscheidung über Franz Gerstendörfer, ein ehemaliges NSDAP Mitglied, war bereits in den SALZBURGER NACHRICHTEN, 19. 12. 1945, 5 veröffentlicht worden. NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Pasetti an Thomas, 18. 12. 1945, 2. Tatsächlich war er bereits, wie erwähnt, 1933 sowohl in Salzburg als auch in Ulm als Mitglied in die NSDAP aufgenommen worden (PRIEBERG, Musik im NS-Staat, 19f.). WIENER KURIER, 8. 1. 1946, 8. NA-RG 260/44/30, Pasetti – Russian Censorship, 13. 1. 1946.
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Zwei Tage vor dem geplanten Konzerttermin reiste Pasetti von Salzburg, wo er sich großteils aufhielt, nach Wien und traf am 12. Jänner 1946 mit dem verantwortlichen sowjetischen Zensuroffizier im Hotel Imperial zu einem klärenden Gespräch zusammen.71 Epstein rechtfertigte seine Entscheidung mit den Worten: »Karajan is known as a strong nazi« (das Gespräch wurde auf Deutsch geführt und von Pasetti zum Teil wörtlich übersetzt).72 Überdies gelte der begabte Dirigent, da er 1935 [sic!] der Partei beigetreten war, nach sowjetischer Auffassung als Illegaler (»old nazi«). Pasetti erläuterte die Argumente der österreichischen Kommission. Es zeigte sich, dass Epstein von diesen Überlegungen nichts gewusst hatte, meinte aber, dass die Zeit für eine definitive Lösung zu knapp werden würde. Pasetti gelang es hingegen, den sowjetischen Offizier davon zu überzeugen, dass eine Absage des KarajanKonzerts die Wiener Philharmoniker wirtschaftlich treffen würde. Überdies lägen genügend Zeugenaussagen vor, die für Karajan sprächen. Epstein blieb aber weiterhin hart. Pasetti versuchte daraufhin, zumindest eine provisorische Auftrittsgenehmigung durchzusetzen, und wollte den Fall nach den Konzerten in einer interalliierten Kommission neu aufzurollen. Auch wurde ein Programm der Deutschen Staatsoper in der sowjetischen Besatzungszone Berlins vorgelegt, in dem vier teils schwer belastete Nationalsozialisten an prominenter Stelle aufschienen. Jetzt erst erklärte sich Epstein bereit, seine Haltung zu überdenken, wenn Pasetti einen schriftlichen Bericht, bestehend aus den wichtigsten Tatsachen über Karajan, zusammenstellen würde, was innerhalb einer Stunde erledigt wurde. Inzwischen sprach der sowjetische Kulturoffizier auch mit Professor Fritz Sedlak, dem Vorstand der Philharmoniker, und anschließend mit Karajan selbst; letzterer empfand das Gespräch aber eher als »Kreuzverhör«.73 Vier Stunden nach Verhandlungsbeginn wurde von den »Russen« schließlich doch noch grünes Licht für die Konzerte gegeben. Trotz angekündigter Demonstrationen blieb es zu Beginn des ersten Konzerts Karajans mit den Wiener Philharmonikern frostig ruhig, und am Ende der Aufführung – nach Brahms 1. Symphonie – kam tosender Beifall auf.74 Für Pasetti bedeutete dieser »Durchbruch«75, wie er es nannte, den Anfang einer Entnazifizierungswelle, die auch Clemens Krauss und Wilhelm Furtwängler betreffen sollte, und den Beginn einer Zusammenarbeit mit den Sowjets. Überdies zeigte es sich, dass die Zusammenarbeit zwischen der Zentrale der Theatre & Music Section in Salzburg und den beiden Abteilungen in Wien nicht klappte; dieses Manko war bei dem 71 72 73 74 75
NZA-RG 260/886/9, Pasetti – Memo: Meeting with Capt. Epstein, concerning Herbert von Karajan, 13. 1. 1946. Ebd., 1. HAEUSSERMAN, Karajan, 81f. NA-RG 260/886/9, Pasetti – Memo: Meeting with Capt. Epstein, concerning Herbert von Karajan, 13. 1. 1946, 4. Ebd.
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wichtigen Fall besonders deutlich spürbar geworden.76 Gleichzeitig wurde eine Diskrepanz zwischen der Arbeit Pasettis in Salzburg und der Bewertung dieser Tätigkeit durch seinen Vorgesetzten, BrigadeGeneral McChrystal, sichtbar. Pasetti hatte am 21. Dezember 1945 im »Wiener Kurier« festgestellt, dass Karajan für seine Mitgliedschaft in der NSDAP bezahlt hätte, da er für seine nicht-arische Frau eingetreten war und die Konsequenzen dieses Schrittes in Kauf genommen hatte. Daraufhin wurde der Leiter der US-Kultursektion ausdrücklich verwarnt, keine öffentlichen Erklärungen mehr ohne Rücksprache mit dem Hauptquartier abzugeben.77 Gleichzeitig signalisierten aber die Verhandlungen über Karajan den Beginn einer engeren Zusammenarbeit in Entnazifizierungsfragen mit den Sowjets. Bemerkenswert an dem Vorschlag war, dass die zuständige Musikreferentin in der Theatre and Music Section, die US-Pianistin Margit Pinter78, nicht beabsichtigte, britische und französische Kollegen zu konsultieren, da diese angeblich keine kompetenten Kulturoffiziere hatten und die Russen es bereits mehrmals abgelehnt hatten, auf dem Gebiet der kulturellen Entnazifizierung mit ihnen zusammenzuarbeiten79 – eine sehr selten anzutreffende amerikanisch-sowjetische Allianz, die jedoch auf »High Policy Level« der Amerikaner sofort abgeblockt wurde.80 Gemeinsame öffentliche Pressekonferenzen zu wichtigen Entnazifizierungsfällen wurden untersagt; dies sollte den Österreichern überlassen bleiben. Interessant war auch die neue sowjetische Haltung gegenüber Karajan, die eine Art »Package Deal« vorsah – so meinte der Kulturoffizier Miron Lewitas, dass zuerst Clemens Krauss und Furtwängler, die er für künstlerisch wertvoller hielt, zugelassen werden sollten, dann würden die Sowjets Karajans Auftreten zustimmen.81 Der von Pinter lancierte Vorschlag einer Allianz der beiden Großmächte 76
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NA-RG 260/41/Folder: Salzburg, Pasetti an Pinter und Alter – Inter Sectional Organization, 13. 1. 1946. So wusste Pasetti nichts von der Haltung der Sowjets gegenüber Karajan, und der Theateroffizier Henry Alter, ein Emigrant aus Wien, sowie vor allem die Musik-Referentin und US-Pianistin Margot Pinter wurden über die Ergebnisse der Salzburger Kommission nicht auf dem Laufenden gehalten. NA-RG 260/44/30, McChrystal an Operations Officer – Theatre & Music Section, 16. 1. 1946. Siehe zu ihren Aktivitäten ausführlich Anton VOIGT, Nicht Richter sondern Helfer. Die Pianistin Margot Pinter als Cultural Officer der amerikanischen Militärverwaltung. Zur »Entnazifizierung von Musik«; in: »Kulturhauptstadt des Führers«. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich. Ein Projekt der Oberösterreichischen Landesmuseen in Kooperation mit Linz 2009 Kulturhauptstadt Europa [Zur Ausstellung im Schlossmuseum Linz 17. 9. 2008 bis 22. 3. 2009] (Kataloge der Oberösterreichischen Landesmuseen Neue Serie 78), Linz 2008, 261–268. NA-RG 260/892/Folder: Theatre & Music Reports 1945–47, Pasetti – Report No. 26, 19. 2. 1946, 4. NA-RG 260/892/Folder: Theatre & Music Reports 1945–47, Pinter – Music Section Report, 14. 1. 1946, 1. Ebd., 3.
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wurde auch von Pasetti abgelehnt, und er nahm seinerseits sofort mit den westlichen Alliierten Kontakt auf, obwohl Lewitas und Epstein ihm gegenüber erklärt hatten, bilaterale Verhandlungen vorzuziehen.82 Für die Sowjets schien der Fall Karajan positiv erledigt zu sein, sobald eine Stellungnahme von österreichischer Seite über das Nichtzutreffen der »Illegalität« des Dirigenten vorliegen würde. In dieser Phase wurde erstmals das Allied Denazification Bureau der Alliierten Kommission in die Entscheidungsfindung einbezogen. Es sollte ein »politisches Gutachten« ad Karajan abgeben, während das Sub-Committee on Press and Entertainment, zu dem auch die Theatre & Music Section gehörte, vorher ein »technisches Gutachten« erstellen sollte.83 Damit war die ISB endgültig auf eine untergeordnete Konsulententätigkeit beschränkt worden. Das definitive Urteil über kulturelle Entnazifizierungsfälle wurde dem Internal Affairs Directorate vorbehalten. In der ersten Sitzung des Allied Denazification Bureaus erklärte der britische Vertreter überraschend, dass in einem erbeuteten Index Karajan als Sicherheitsdienstagent – Aachen, datiert 1943, geführt worden sei.84 Obwohl Karajan während einer Befragung diesen Vorwurf zurückwies, wurden weitere Nachforschungen angestellt, und Ende Jänner erklärte der amerikanische Vertreter, Herbert Allen, dass keinerlei Verbindung zwischen Karajan und dem Sicherheitsdienst bestanden hätte.85 Komplizierter wurde der Fall, als für den 2. und 3. März 1946 weitere Konzerte unter Karajans Leitung in Wien angesetzt wurden. Amerikanische Stellen schoben diesmal die gesamte Verantwortung für ein Auftrittsverbot der österreichischen Kommission zu. Laut Chefredakteur Hendrik J. Burns vom Wiener Kurier hatte die österreichische Regierung beschlossen, das Konzert Karajans zu untersagen.86 In weiterer Konsequenz entzog der amerikanische stellvertretende Hochkommissar, Brigade-General Ralph H. Tate, Karajan die Auftrittsbewilligung der ISB für die US-Zone, und die offizielle österreichische Untersuchungskommission beim Bundesministerium für Unterricht begann mit einer entsprechenden Entscheidungsfindung.87 Es scheint, als ob das USOberkommando vor der Öffentlichkeit – nicht nur in Österreich, sondern auch in den USA – keinesfalls den Eindruck eines »Renazifizierungspräjudizes« aufkommen lassen wollte, denn der Publicityeffekt des Falles Karajan war doch ziemlich groß.88 Überdies hatte sich erst vor kurzem General 82 83 84 85 86 87 88
NA-RG 260/892/Folder: Theatre & Music Reports 1945–47, Pasetti – Report No. 26, 19. 2. 1946, 4. NA-RG 260/550/Folder: Letters, Hefti an Chairman, Internal Affairs Directorate, 30. 10. 1946. NA-RG 260/547/7, Allied Denazification Bureau – Record of work, 16. 1. 1946. Ebd., Allied Denazification Bureau – Record of work, 25. und 30. 1. 1945. WIENER KURIER, 7. 3. 1946, 4. NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945–47, Pasetti – Report No. 26, 15. 3. 1946, 1. So meinte auch Karajan unter Berufung auf einen amerikanischen Fachmann, dass
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McClure missfällig über die seiner Meinung nach zu weiche Linie der Entnazifizierungspolitik auf kulturellem Gebiet in Österreich geäußert.89 Karajan selbst wurde nochmals vom Theater-Offizier Henry Alter interviewt und sagte aus, dass sich Hitler seit einem Zwischenfall während einer Vorstellung 1940, in der ein betrunkener Sänger, Bockelmann, beinahe eine ganze »Meistersingeraufführung« geschmissen hätte, völlig desinteressiert an seiner Person gezeigt habe.90 Der »Führer« habe die Meinung vertreten, Karajan, der immer auswendig dirigierte, hätte diesen musikalischen Schnitzer und die allgemeine Konfusion des Orchesters verursacht. Und nach seiner Heirat 1942 hatte er überhaupt nur mehr sechs Konzerte mit der Staatskapelle in Berlin dirigieren dürfen. Tatsache ist aber, dass Karajan selbst nach 1942 – wie bereits dokumentiert – zahlreiche Konzerte in Berlin und auch außerhalb des Deutschen Reiches dirigieren konnte. Noch im Jänner 1942 stellte Hans Frank, der brutale und einflussreiche Generalgouverneur der besetzten Gebiete in Polen, Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan auf eine Stufe und verkündete stolz in einem Interview für den Corriere de la Sera, dass beide seine »polnische Philharmonie« dirigieren werden.91 Ganz im Abseits war Karajan Anfang 1942 wohl noch nicht, wenn ihn ein Musikliebhaber wie Hans Frank in einem Atemzug mit Furtwängler nennt – auch wenn er, soweit bekannt, dann doch nicht im Generalgouvernement dirigierte. Auch die Goebbels-Tagebücher geben den Konflikt Karajans mit Tietjen und Furtwängler 1942 wieder, aber schon am 10. Dezember 1942 schreibt Goebbels: »Eine lange Aussprache habe ich mit dem Dirigenten Herbert von Karajan, Karajan wird von der Staatsoper etwas am kurzen Zügel geführt. Tietjen läßt hier seine intrigantenhaften Befähigungen spielen. Allerdings ist Karajan auf der anderen Seite auch trotz seiner außerordentlichen Jugend schon ziemlich stark von sich eingenommen. Doch halte ich es für richtig, ihn auf jeden Fall für unser Musikleben flottzuerhalten. Er bietet sich für eine ganze Reihe sozialer und karitativer Veranstaltungen an. Ich werde ihn etwas enger an unser Ministerium heranziehen.«92
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diese Verbote einen bedeutenden Propagandagewinn darstellten (Johanna SCHUCHTER, So war es in Salzburg. Aus einer Familienchronik, Salzburg 1977, 143). NA-RG 260 OMGUS/ICO/Press Branch: General Correspondence 00l/Folder: Austria, McClure – Report on Austrian Trip, 6. 2. 1946, 3: »It is quite evident that the thoroughness of denazification in Austria does not compare with our German operation. I am impressed with the lack of interest in this subject and the willingness to let the Austrians do as they see fit. This applies particularly in theatres …«. Sicherlich hat McClure hier übertrieben, aber grundsätzlich ist seine Ansicht zutreffend. NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945–47, Alter an Theatre & Music Officer – Semi-Monthly Report No. 8, 15. 3. 1946, 4. Dieter SCHENK, Krakauer Burg: Die Machtzentrale des Generalgouverneurs Hans Frank, 1939–1945, Berlin 2010, 117. Joseph GOEBBELS, Tagebucheintrag vom 10. 12. 1942, in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945 [Online-Datenbank, De Gruyter]. URL: http://db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf?documentId=TJG-5597,
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Und 1944 ist Goebbels durchaus ins Karajan-Lager übergewechselt, auch wenn er ihn mehrfach als eine schwierige Persönlichkeit einschätzte: »Nachmittags dirigiert Karajan im Rundfunk die Preußische Staatskapelle bei einer Übertragung der Eroica. Karajan zeigt dabei ein sehr großes, diszipliniertes dirigentisches Geschick. Ich hatte ihn noch niemals bei einer geschlossenen Leistung gehört. Ich glaube, er rechnet doch zu den ersten Dirigenten des Reiches.«93
Zweite Entnazifizierungsphase (1946–1947) Während in der ersten Entnazifizierungsphase die Theatre & Music Section allein für die Erteilung von Auftrittsgenehmigungen nationalsozialistisch belasteter Künstler zuständig gewesen war, wurde sie seit Jänner 1946 zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Konzert Karajans im Jänner 1946 in Wien waren für die ISB zu groß gewesen. Um sich der unangenehmen politischen Verantwortung entziehen zu können, wurden auf amerikanische Initiative hin eine zentrale österreichische »Untersuchungskommission« beim Bundesministerium für Unterricht errichtet94 und die übrigen Alliierten in den »Prozess« eingebunden. Im Gegensatz zu Pasetti, der die alliierte Zusammenarbeit weiterhin auf Ebene der Kulturabteilungen und nicht innerhalb der Alliierten Kommission fortsetzen und intensivieren wollte95, vertrat das Hauptquartier der ISB eine gegenteilige Meinung. Offensichtlich hatten die prominenten Entnazifizierungsfälle eines Willhelm Furtwängler oder Herbert von Karajan bereits internationale Dimensionen angenommen. Damit war die Theatre & Music Section der ISB zum reinen Konsultationsorgan in kulturellen Entnazifizierungsfragen degradiert worden, und die Alliierte Kommission debattierte noch darüber, ob das »Internal Affairs Directorate« oder die »Political Division« die letzte Entscheidung in Kulturangelegenheiten treffen sollte.96 Schließlich wurde erstere damit betraut, die vom »Allied Denazification Bureau« und vom »Sub-Committee on Press and Entertainment«
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Dokument-ID: TJG-5597 (23. 7. 2012). Ursprünglich veröffentlicht in: Joseph GOEBBELS, Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hg. von Elke FRÖHLICH, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 6: Oktober – Dezember 1942, bearb. von Hartmut MEHRINGER, München 1996, 417–423. Joseph GOEBBELS, Tagebucheintrag vom 3. 7. 1944, in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945 [Online-Datenbank, De Gruyter]. URL: http://db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf?documentId=TJG-6179, Dokument-ID: TJG-6179 (23. 7. 2012). Ursprünglich veröffentlicht in: Joseph GOEBBELS, Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hg. von Elke FRÖHLICH, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 13: Juli – September 1944, bearb. von Jana RICHTER, München 1995, 43–48. BTV Zl. 362/1946 und NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945– 47, Alter an Chief, ISB – Report No. 3, 30. 12. 1945, 5. NA-R 260/44/30, Pasetti an McChrystal – Interallied Theatre and Music Control Commission, 23. 2. 1946. Ebd., Pasetti an Ladue – Theatre & Music Section, 3. 6. 1946, 4.
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vorbereiteten Entnazifizierungsfälle zu diskutieren. Gleichzeitig sollten diese Organisationen auch die Entscheidungen der »Begutachtungskommission für die politische Einstellung von freischaffenden oder in die Bundestheater aufzunehmenden darstellenden Künstlern, Sängern, Musikern, Dirigenten und Regisseuren (Solisten) beim Bundesministerium für Unterricht«97 überprüfen und bestätigen, da sie sonst nicht wirksam werden konnten. Im Falle Karajans hatte die Begutachtungskommission am 25. März 1946 beschlossen, »Karajan das Auftreten als Dirigent, aber nicht in leitender Stellung«, zu gestatten, »da er für den Wiederaufbau des österreichischen Musiklebens wichtig ist«.98 Durch diese kryptische Entscheidung wurden die Alliierten erneut in Verlegenheit gebracht, da sie mit eindeutigen österreichischen Entscheidungen gerechnet hatten. Ausgangspunkt für den Bescheid der Begutachtungskommission war das Verbotsgesetz § 17 ff, wonach ein »Illegaler« nicht in leitender Stellung tätig sein durfte – vorausgesetzt, es kam wegen Verdachts des Hochverrats nicht ohnehin zu einer gerichtlichen Verfolgung. Der Erste Staatsanwalt, Paul Pastrovich, hatte ein Gutachten erstellt, »dass ein österreichischer Staatsbürger, der während der Verbotszeit (1. Juli 1933 bis 13. März 1938) der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen als Mitglied angehört hat, ohne Rücksicht auf seinen Aufenthaltsort als illegal anzusehen ist.«99 Die Rechtsfolge wurde zwar durch den Hinweis auf § 27 Verbotsgesetz gemildert, aber eine Tätigkeit des bekannten Dirigenten Karajan in nicht leitender Stellung widersprach der spezifischen Berufsvorstellung von einem Orchesterleiter. Gerade die Klassifizierung als »illegales« österreichisches NSDAP-Mitglied und das daraus de lege zwangsweise resultierende Berufsverbot aber hatte Karajan von allem Anfang an vermeiden wollen und daher seinen Beitritt zur Ortsgruppe V »Neustadt« in Salzburg verschwiegen. Auch die Amerikaner waren aufgrund ihrer »Degermanisierungsbestrebungen« eher geneigt, einen Österreicher, der (aus reinen Karrieregründen) in Deutschland der NSDAP beigetreten war, zu pardonieren, denn einen illegalen österreichischen Nationalsozialisten. Am 17. Juni 1946 empfahlen der französische, der sowjetische und der amerikanische Delegierte100 im Allied Denazification Bureau eine Beibehaltung des Auftrittsverbotes101 in dem Sinne, wie es die österreichische Kommission ausgesprochen, aber sicherlich nicht in der Praxis 97 98 99 100
101
NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Votum, 25. 3. 1946, 1. Ebd. Ebd., 2. Der US-Repräsentant im Allied Denazification Bureau war Maximilian Wallach, ein aus rassischen Gründen 1938 aus Österreich emigrierter Jurist; Werner RÖDER/Herbert A. STRAUSS (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 – International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, Bd. 1, München 1980, 790. NA-RG 260/594/Folder: Denazification 1946, Wallach an Chief, ISB – Herbert von Karajan, 17. 6. 1946.
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realisieren wollte, denn sonst wäre Karajan mit einem ausdrücklichen Auftrittsverbot wie der ehemalige Burgtheaterdirektor Lothar Müthel oder Werner Krauß belegt worden.102 Entscheidend für die »unwillige« formal-rechtliche Deduktion war das Gutachten Pastrovichs gewesen, das keine andere Möglichkeit offen ließ. Gleichzeitig versuchten die Österreicher eine Ausnahmeregelung vom Alliierten Rat zu erreichen, indem die Untersuchungskommission auf die Bedeutung Karajans für die Salzburger Festspiele hinwies. Diese Argumentation wurde im Allied Denazification Bureau nur vom britischen Element in seinem positiven Votum separatum aufgegriffen, wo vorgeschlagen wurde, die österreichische Entscheidung zu respektieren und den Dirigenten trotz seiner »technischen Illegalität« auftreten zu lassen.103 Auch war der britische Vertreter der einzige, der inhaltliche Kriterien in die Diskussion einbrachte und darauf aufmerksam machte, dass Karajan von ehemaligen Kollegen »als anständiger Mensch« bezeichnet worden war. So legte zum Beispiel der kommissarische Musikdirektor Aachens, Theodor B. Rehmann, ein positives Zeugnis für die Konflikte Karajans mit nationalsozialistischen Parteistellen in Aachen ab, da er sich bereits damals als Musikfanatiker entpuppt hatte, der als kompromisslos galt und kleinere Konflikte sowie private antinationalsozialistische Äußerungen nicht scheute.104 Während bis zum Fall Karajan Pasetti in eigener Verantwortung entscheideAn konnte, wurden jetzt wie bei den anderen Alliierten nur mehr »High Policy Decisions« zugelassen. Prinzipiell waren sich alle Amerikaner – auch Pasetti und der neue Theater- und Musikoffizier Ernst Lothar – darüber einig, dass vom propagandistischen Standpunkt her eine Zulassung nicht zu befürworten sei. Es zeigte sich, dass die US-Kulturoffiziere an der bereits einmal akzeptierten »politischen Tragbarkeit« Karajans nicht mehr zweifelten. Vielmehr wurden seine entlastenden Argumente voll und ganz akzeptiert, aber die Salzburger Festspiele hatten eine derart große Resonanz, dass die ISB befürchtete, zu viel Aufsehen zu erregen, wenn ein ehemaliges Mitglied der NSDAP im Rampenlicht des internationalen Musikgeschehens seine Rückkehr feierte.105 Herbst 1946 wurde als frühester Zeitpunkt für eine Zulassung in Aussicht gestellt.106 Aus 102 103 104 105
106
NA-RG 260/95/Folder: Music & Theatre, Hurdes an Grogan, 23. 5. 1946. NA-RG 260/550/Folder: Letters, Lawrence an Chairman, Quadripartite Internal Affairs Division, 18. 6. 1946. NA-RG 260/886/9, Rehmann an die Theater- und Musikabteilung des Amerikanischen Nachrichtendienstes in Österreich, 10. 4. 1946. So zumindest die Argumentation des neuen Leiters der Kulturabteilung der ISB, Ernst Lothar (NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945–47, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 17. 6. 1946, 6). Auch Otto de Pasetti vertrat diese Ansicht (Manuskript: Salzburger Festspiele 1946, Don Giovanni 1. August 1946, 4f; eine Kopie des Konvoluts von Festspielkritiken wurde von Frau Erna Pasetti dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung gestellt). NA-RG 260/594/Folder: Denazification 1946, Ladue an Chief, Special Branch – Herbert von Karajan, 20. 6. 1946.
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gänzlich anderen Motiven hatte das amerikanische Element im Allied Denazification Bureau seine Entscheidung getroffen. Es galt nur die »Illegalität« Karajans als Hindernis, während der Parteiaustritt 1942 – die direkte Folge der Heirat mit einer »Vierteljüdin« – als private Angelegenheit eingestuft wurde.107 Dieses Argument nahm der Operations Director der ISB, van Eerden, nur mit Erstaunen zur Kenntnis. General Tate selbst traf die letzte Entscheidung und wies den zuständigen amerikanischen Vertreter im Internal Affairs Committee, Oberst Norcross, an: »Turn down this man for time being. Reconsider case again in fall.«108 Am 21. Juni 1946 wurde Bundeskanzler Figl von Norcross mitgeteilt, dass Karajan »auf Grund seiner national-sozialistischen Verbindung von jedem öffentlichen Auftreten in Österreich ausgeschlossen werden soll«.109 Lothar war zur Überzeugung gelangt, »that it is the firm opinion of this section that even if this summer’s Salzburger Festival were a bit less brilliant and made up for lack of brilliancy in consistency of purpose by not permitting party members to perform, it should be only to the good of our policy as well as of the Festivals themselves.«110
Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Mitteilung des Festivaldirektors Baron Heinrich Puthon gewesen, dass die Salzburger Festspiele auch ohne Karajan durchführbar wären. Schon seit den ersten Tagen seiner Rückkehr war Lothar vom Landeshauptmann in Salzburg, Albert Hochleitner, ständig mit Bitten bombardiert worden, Karajan für die Salzburger Festspiele wiederzuzulassen. Bemerkenswert ist, dass Lothar seine Meinung offensichtlich innerhalb eines Tages revidiert hat. In einem Memorandum vom 18. Juni 1946, das der Verfasser allerdings nicht in den Akten lokalisieren konnte, schlug er angeblich unter Bezugnahme auf ein Gespräch, das er mit Karajan in Salzburg geführt hatte und worauf er großteils schon im ersten, oben erwähnten Report hingewiesen hatte, eine indirekte Teilnahme Karajans vor.111 Er sollte wie bisher die Vorbereitungen der Festspiele leiten, aber pro forma einen politisch unbelasteten Musiker von Rang als »Strohmann« bekommen. Lothar stellte diese »österreichische Lösung« aber nicht ganz aktenkonform in seinen Erinnerungen dar. Tatsächlich meinte Lothar 1946, dass er Puthon die 107 108
109 110 111
NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945–47, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 17. 6. 1946, 2. NA-RG 260/594/Folder: Denazification 1946, Ladue an Chief, Special Branch – Herbert von Karajan, 20. 6. 1946; Tate hatte diesen Befehl handschriftlich auf dem Akt vermerkt. ÖStA, AdR, Bundeskanzleramt (BKA) Zl.1399/Pr. 1946. NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945–47, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 17. 6. 1946, 6. Ernst LOTHAR, Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen und Ergebnisse, Hamburg–Wien 1961, 313 ff. publizierte als erster jenen kontroversiellen »Bericht«. Dieser Report vom 18. 6. 1946 wurde auch bei HAEUSSERMAN, Karajan, im Anhang abgedruckt, konnte aber nicht im Original gefunden werden.
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Weisung erteilt hatte – in Gegenwart von Hilbert –, Karajan nicht dirigieren und auch keine Proben leiten zu lassen.112 Wer nun wirklich die inoffizielle Mitarbeit Karajans an den Festspielen vorgeschlagen hat, geht aus den Akten nicht genau hervor. Es ist aber anzunehmen, dass das von Lothar Jahrzehnte später in einer deutschen Übersetzung publizierte Memorandum vom 18. Juni 1946 eine Kompilation aus zwei Reports vom 17. Juni113 beziehungsweise 31. August 1946114 darstellt. Vielleicht hatte Lothar anfangs seine Sympathien für Karajan vor seinen Vorgesetzten geheim gehalten und es dadurch Puthon indirekt ermöglicht, das als Öffentlichkeitsverbot gedachte Auftrittsverbot Karajans sehr weitgehend zu interpretieren. So konnte dieser bei den Proben als Regisseur aktiv und für alle Anwesenden sichtbar mitarbeiten. Dafür spricht auch, dass Lothar ein privates Konzert Karajans vor geladenen Gästen des Salzburger Landeshauptmannes nicht von vornherein ablehnte, wie es der Chef der ISB, Ladue, schließlich tat.115 Die Ambivalenz des ganzen Konfliktes im Rahmen der kulturellen Entnazifizierung wird in diesen divergierenden Reports deutlich sichtbar. Fest steht, dass Lothar nach Abschluss der Festspiele unter Hinweis auf die Leistungen Karajans bei deren Vorbereitung, auf die Würdigung in der amerikanischen Presse und auf die Tatsache, dass die »Strafe« lange genug gedauert hätte, die Wiederaufnahme des Verfahrens und Karajans Zulassung forderte.116 Auch die Österreicher wollten das Verfahren wieder aufrollen lassen117, doch das Internal Affairs Directorate der Alliierten Kommission hielt die Empfehlung des Allied Denazification Bureau, dass Karajan nicht öffentlich auftreten sollte, weiterhin aufrecht.118 Diese Entscheidung wurde von der Begutachtungskommission akzeptiert und durchgesetzt.119 Schon im Jänner 1947 versuchte aber der Leiter der Bundestheaterverwaltung, Egon Hilbert, der 1945 sogar direkt politische Beurteilungen für die Amerikaner in Salzburg geschrieben hatte, neuerlich, die Amerikaner für eine Zulassung zu gewinnen.120 Im März befürwortete auch Ernst Lothar eine Auftrittsgenehmigung, da Karajan unbedingt als Dirigent benötigt würde, um den Dirigenten Josef Krips von der Wiener 112 113 114 115 116 117 118 119 120
NA-RG 260/892/Folder 9, Lothar an Ladue, 6. 8. 1946; ebd., Puthon an Lothar, 6. 8. 1946. NA-RG 260/892/Folder: Music & Theatre Reports 1945–47, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 17. 6. 1946. NA-RG 260/35/10, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 31. 8. 1946, 4. NA-RG 260/886/Folder: 9, Lothar an Ladue – Interview with Col. Hume, 8. 8. 1946. NA-RG 260/35/10, Lothar an Chief, ISB – Semi-Monthly Report, 31. 8. 1946, 4. ÖStA, AdR, BKA Zl. 1399/1946. Figl an Vorsitzenden der Viergliedrigen Division für Innere Angelegenheiten, 29. 6. 1946. Ebd., Norcross an Federal Chancellor, 17. 9. 1946. ÖStA, AdR, BKA Zl. 1399/1946. Pernter an Bernsteiner, 22. 10. 1946; ebenda, Figl an die Alliierte Kommission, 4. 11. 1946. NA-RG 260/886/9, Hilbert an ISB, van Eerden, 7. 1. 1947.
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Staatsoper zu entlasten.121 Überdies hatten einige amerikanische Zeitschriften die »Hintergrundsarbeit« von Karajan während der Salzburger Festspiele hervorgehoben und die Notwendigkeit einer offenen Zusammenarbeit betont.122 Trotz Zustimmung der Amerikaner im SubCommittee for Press and Entertainment setzten sich die Franzosen noch eine Zeitlang erfolgreich zur Wehr und verhinderten eine Zulassung Karajans.123 Offenbar konnten sie es ihm nicht verzeihen, dass er 1941 an der Pariser Oper dirigiert hatte, wobei er angeblich das HorstWessel-Lied als Einleitung intonieren ließ.124 Während der Salzburger Festspiele 1947 wurde nicht mehr für Karajan interveniert, da genügend renommierte Dirigenten vorhanden waren. Erst im Oktober 1947 erhielt Karajan die endgültige Auftrittsgenehmigung, und am 20. Dezember dirigierte er Beethovens 9. Symphonie mit den Wiener Philharmonikern.125 Welche Emotionen das öffentliche Auftreten Karajans in den USA noch anlässlich eines Gastspiels 1955 aufrühren sollte126, zeigt doch deutlich den Druck der amerikanischen öffentlichen Meinung, der immer wieder von den US-Kulturoffizieren in Rechnung gestellt worden war – nicht zu Unrecht, wie jene Ereignisse beweisen. Bis heute wirkt der Mythos nach, Musikschaffen an prominenter Stelle habe nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt. Der deutsche Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger meinte hingegen, dass »… diese Herren im Dritten Reich hochgekommen sind, was nicht besagen muss, dass sie Nazis waren, sondern sie sind hochgekommen, weil die jüdischen Dirigenten und auch diejenigen Gojim, die politisch und ästhetisch wirklich Antifaschisten waren – ich nenne nur Bruno Walter, Otto Klemperer, Erich Kleiner, William Steinberg, George Szell, Jascha Horenstein, Fritz Busch –‚ gehen mussten« (gemeint sind vor allem Karajan und Böhm, da ja Furtwängler bereits längst vor der NSMachtübernahme etabliert war, aber von der nationalsozialistischen Propaganda als künstlerisches Aushängeschild ersten Ranges verwendet wurde, Anm. d. Verf.).127
Herbert von Karajan selbst hat viele Jahre lang immer wieder versucht, als »Mythenzauberer« oder als »l’entrepreneur de mémoire« – frei nach dem Konzept des französischen Soziologen Maurice Halbwachs – seine Biographen zu beeinflussen. Bei manchen, wie Ernst Haeusserman, ist dies gelungen, andere wie Robert C. Bachmann oder Roger Vaughan konnten sich dieser geschichtspolitischen Umarmung entziehen. Post 121 122
123 124 125 126 127
NA-RG 260/34/10, Lothar an Ladue – Herbert v. Karajan, 4. 3. 1947. Ebd. Besonders der Musikkritiker der »New York Herald Tribune«, Virgil Thompson, setzte sich für Karajan ein, den er während der Salzburger Festspiele 1947 kennen gelernt hatte (NA-RG 260/916/4, Lothar an Ladue – The cases of Dr. Wilhelm Furtwängler and Herbert von Karajan, 26. 8. 1946). NA-RG 260/35/10, Ladue an G-2, Denazification Branch, 1. 4. 1947. LOTHAR, Wunder, 314 in Verbindung mit Julius Knapp, 200 Jahre Staatsoper im Bild, Berlin 1942, 231f. Vgl. auch PRIEBERG, Musik im NS-Staat, 397. HAEUSSERMAN, Karajan, 86. DER SPIEGEL, 16. 3. 1955, 34ff. Zur Bedeutung Karajans‚ aus amerikanischem Blickwinkel gesehen, siehe Paul Robinson, Herbert von Karajan, Rüschlikon bei Zürich 1981. DER SPIEGEL, 17. 11. 1980, 231.
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mortem setzt Richard Osborne aber dann noch einmal dort fort, wo Haeusserman und andere aufgehört haben, nicht zufällig hat er auch ein Buch mit Karajan zu dessen Lebzeiten gemacht. Nur ein einziges Mal studierte Karajan selbst die eingangs thematisierte NS-Parteikorrespondenz und seine »Karteikarte«, als sie ihm vom USJournalisten und Schriftsteller Roger Vaughan gezeigt wurden, und kommentierte die Quellen mit dem Hinweis, dass er nirgends seine Unterschrift finden könne.128 Da von den rund 8,5 Millionen Antragsscheinen nur mehr rund 600.000 NSDAP-Aufnahmescheine erhalten geblieben sind, fehlt im Falle Karajans sein Antrag. Im Stadtarchiv Aachen ist aber in seiner Personalakte ein Formular überliefert, das Karajan am 26. November 1936 eigenhändig unterschrieben hat – und in dem er selbst das Ulmer Beitrittsdatum vom 1. Mai 1933 und mit der richtigen Mitgliedsnummer 3.430.914 exakt angibt. Damit sollte den Konstruktionen einer berufsnotwendigen Pflicht-NSDAP-Mitgliedschaft aus 1935 endgültig die Basis entzogen sein. Karajan – oder seine Rechtsberater – hatten sich nach Kriegsende eine »Geschichte« zurechtgelegt, um rasch entnazifiziert und nicht als »illegaler Nationalsozialist« für längere Zeit mit Berufsverbot belegt zu werden. Zu dieser »Geschichte« gehörte auch seine »nicht-arische« Frau. Tatsächlich spielte dies nur wenige Wochen eine Rolle. Frau Gütermann war keine verfolgte Jüdin – ganz im Gegenteil: Noch 1944 wurden nach einem Konzert Karajans von seinem Agenten Vedder Netzwerke zur Dresdner Bank in Bukarest bedient, um zwei Paar Schuhe Frau von Karajans aus Bukarest nach Berlin zu bringen.129 Im Jänner 1944 hatte Karajan dort zwei Konzerte mit dem G. Enescu Philharmonic Orchestra dirigiert.130 Am 18. Februar 1945 dirigierte Karajan die Staatskapelle in Berlin und flüchtete dann vor den alliierten Bomben nach Mailand. Dort wurde er übrigens – worüber er nie gesprochen hat – Zeuge, wie die Leichen des hingerichteten Benito Mussolini und anderer Exekutierter am 28. April 1945 auf der Piazzale Loreto, wo zuvor Partisanen erschossen worden waren, kopfüber aufgehängt und öffentlich zur Schau gestellt wurden.131 Zu Kriegsende und danach fürchtete Karajan seine NSDAP-Mitgliedsnummer aus dem Jahre 1933, die Umdeutung der Mitgliedskarte beginnt und wirkt bis heute nach. In diesem Sinne ist Karajan tatsächlich der »Mythenzauberer« seiner eigenen Biographie geworden. 128
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Roger VAUGHAN, Herbert von Karajan. A Biographical Portrait, London 1986, 110ff., ist auch in deutscher Übersetzung erschienen: DERS., Herbert von Karajan: ein biographisches Portrait, Frankfurt/Main 1986. Bundesarchiv Berlin, Bestand ehemaliges Berlin Document Center, Akte Rudolf Vedder. http://www.karajan.org/jart/prj3/karajan/main.jart?content-id=1263562339499& rel=de&reserve-mode=active&j-db-find=Bukarest&werk-bereich=konz&jahr=1944 (20. 7. 2012). So zumindest suggerieren es Fotos in Klaus RIEHLE, Herbert von Karajan – Unbekannte Kriegs- und Nachkriegsjahre in Italien und St. Anton am Arlberg, Wien 2008, 94.
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Die Gehirnwäsche des Kardinals. Zur Repräsentation des Falles Mindszenty in westlichen Spielfilmen (1950–1955) Spielfilme als Schauplatz der Propagandaschlachten des Kalten Krieges sind kein ganz neues Thema.1 Doch betrachten Publikationen zu diesem Thema die jeweiligen Filme meistens allein unter dem Aspekt der politischen Propaganda bzw. des Zeitgeistes, was den Filmen und der Vieldeutigkeit ihrer Aussagen nicht immer gerecht wird. Tony Shaw, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, hat bemerkt, dass in den Filmen der Ära des Kalten Krieges die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen oft nur als Aufhänger für spannende oder interessante Geschichte dienten. Die Aktualität des Themas, die Schauplätze und die Bekanntheit der Personen versprachen eine erhöhte Aufmerksamkeit von Seiten der Medien und des Publikums. Zudem bildeten das Mysteriöse, das Unbekannte Osteuropas oder Ostasiens oder die undurchsichtige Welt der Angst in einem »totalitären System«, die Mischung aus Realität und Phantasie, reizvolle Kulissen für alle möglichen filmischen Erzählungen. Eines der Motive, das besonders tiefsitzende Ängste in den westlichen, besonders aber der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft weckte, war die Vorstellung des »brain washing« – eine bis heute noch häufig gebrauchte Metapher, mit der sich die eher konservative Mehrheitsgesellschaft unvorstellbare politische Ansichten »erklärt«. Die Tatsache, dass so viele Menschen von sozialistischen oder gar kommunistischen Ideen überzeugt waren, konnte nur von perfiden, undurchsichtigen Machenschaften herrühren oder durch irgendwelche »Drogen«, Techniken der »Hypnose« oder aber Folter erzwungen sein. Besonders faszinierend und erschreckend war es daher, wenn scheinbar glaubensfeste Persönlichkeiten, die als heroische Kämpfer gegen den Kommunismus bekannt waren, plötzlich ein dem neuen Regime dienliches »Geständnis« ablegten. Dies war etwa im Fall des ungarischen Kardinals József 1
Tony SHAW, British Cinema and the Cold War: the State, Propaganda and Consensus, London–New York 2001; Tony SHAW, Hollywood’s Cold War, Amherst 2007; Thomas LINDENBERGER (Hg.), Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln 2006; zuvor bereits Nora SAYRE, Running Time: Films of the Cold War, New York 1982. Siehe auch die Liste von »Red Scare«-Spielfilmen online: http://www.lib.washington.edu/exhibits/allPowers/film.html (17. 7. 2012).
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Mindszenty (1892–1975) geschehen, der sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs als scharfer Kritiker der sowjetischen Besatzungsmacht und der ungarischen Kommunistischen Partei einen Namen gemacht hatte. Nach Ausschaltung der Kleinlandwirtepartei im Sommer 1948, die noch die Wahlen 1945 triumphal gewonnen hatte, sowie weiterer Oppositionsparteien war der Primas der ungarischen Katholischen Kirche zur Führungsgestalt fast all jener Kräfte geworden, welche die Errichtung einer stalinistischen Diktatur verhindern wollten. Mindszenty wurde Ende Dezember 1948 verhaftet und im Frühjahr 1949 wegen »Spionage«, »Landesverrat« und »Devisenvergehen« zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Schockierend für westliche Beobachter des Dramas des in Budapest inszenierten Schauprozesses war die Tatsache, dass der Kardinal am Ende des Prozesses öffentlich seine Verfehlungen »gestand«.2 Anhand von zwei Filmen über dieses Thema möchte ich im Folgenden zeigen, dass es in vielen Filmen aus der Ära des Kalten Krieges hauptsächlich um die Darstellung von Ängsten, also von Emotionen ging. Zudem warf die Darstellung eines unheimlichen politischen Systems, das in westlichen Augen allein auf Terror gründete – nichts anderes waren die im Film entworfenen kommunistischen »totalitären Regime« –, moralische Fragen auf, die über den engeren Bereich des ideologischen Konfliktes weit hinausgingen. Zunächst werde ich kurz darlegen, wie es kam, dass der Fall eines ungarischen Kardinals zu einem der wichtigsten Medienereignisse des Kalten Krieges werden konnte. Danach werde ich am Beispiel des Hollywood B-Movies »Guilty of Treason« (1950) und des britischen Melodrams »The Prisoner« (1955) unterschiedliche ästhetische und inhaltliche Umgangsweisen mit dem Thema vorstellen und diskutieren. Mindszenty als Symbol des Kalten Krieges Mindszenty war 1892 als József Pehm in einem kleinen Dorf in Westungarn zur Welt gekommen und im Jahr 1915 zum Priester geweiht worden.3 Ab 1917 lehrte er Religion am Knabengymnasium in Zalaegerszég. 1919 wurde sein Name erstmals in der weiteren Umgebung bekannt, da er wegen einiger kritischer Zeitungsartikel zunächst von der KárolyiRegierung verhaftet worden war, dann von Vertretern der Räterepublik unter Hausarrest gestellt wurde. Seit seiner Ernennung zum Pfarrer von Zalaegerszég im Oktober 1919 wirkte er fast 20 Jahre in der westungarischen Provinz, machte sich aber einen Namen als hervorragender Organisator, tatkräftiger Gestalter und auch politisch sich nicht zurückhaltender Hirte. Kurz nachdem er im März 1944 zum Bischof von Veszprém ernannt worden war, wurde er aufgrund eines Schreibens an 2 3
Eine knappe Darstellung und Sammlung von Dokumenten zum Prozess bieten Jenő GERGELY/Lajos IZSÁK (Hg.), A Mindszenty-per, Debrecen 1989. Zum folgenden: Margit BALOGH, Mindszenty József, Budapest 2002.
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das Szálasi-Regime erneut verhaftet. Wegen seiner Verhaftung durch die Pfeilkreuzler und seines kompromisslosen Eintretens für die Kirche ernannte ihn Papst Pius XII. schließlich am 16. August 1945 zum Erzbischof von Esztergom und Primas von Ungarn. Bereits 1942 hatte Pehm seinen Namen in Mindszenty ungarisiert und nobilitiert, um damit gegen den übermäßigen Einfluss des nationalsozialistischen Deutschlands auf Ungarn zu protestieren. Die Namensänderung war vor allem ein Bekenntnis zur ungarischen Nation, in gewissem Sinne auch zur Aristokratie und zum Königtum.4 Die Katholische Kirche Ungarns war bei Kriegsende in einer schwierigen Situation. Die sowjetische Militärverwaltung und die Kommunistische Partei betrachteten sie als Bollwerk des Feudalismus. Als noch 1945 eine Bodenreform durchgeführt wurde, sorgten sie dafür, dass der überwiegende Teil des kirchlichen Bodenbesitzes beschlagnahmt wurde, was das finanzielle Rückgrat der Kirche brach. Danach begannen die Kommunisten, aber auch ihre Verbündeten in der Bauernpartei, der Sozialdemokratie und in anderen Parteien, auch den kulturellen und sozialen Einfluss der Kirche zurückzudrängen, besonders im öffentlichen Unterricht und im Presse- und Verlagswesen. Mindszenty gelang es, besonders nachdem die bürgerlichen Parteien von den Kommunisten entscheidend geschwächt worden waren, mehr und mehr Menschen gegen diese Politik zu mobilisieren. Vor allem während des Marienjahres 1947/1948 besuchten Hunderttausende die Veranstaltungen der Kirche, bei denen Mindszenty in Reden unverblümt vor der Errichtung eines kommunistischen Regimes warnte. Schließlich demonstrierten die Kommunisten ihre Stärke und verhafteten den Kardinal kurz nach Weihnachten 1948. In einem inszenierten Prozess wurde Mindszenty, wie erwähnt, schließlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Fall Mindszenty zu einem internationalen Fall geworden: im Februar 1949 verurteilte Papst Pius XII. öffentlich das Gerichtsurteil und die Verfolgung der Kirche in Ungarn, aber auch in Jugoslawien und in anderen Staaten des sowjetischen Machtbereiches. Vor einer Viertelmillion Gläubigen auf dem Petersplatz verkündete der Papst, dass er nicht schweigen könne, wenn die 4
Zur Namensänderung äußerte er sich in einem Brief: »Die Namensänderung bereitete große Probleme. Ich habe ihn [den Namen Pehm] fünfzig Jahre lang getragen – ich denke mit Wertschätzung […]. In Deutschland wird eine grauenhafte Propaganda betrieben, um nachzuweisen, dass unser Land aufgrund der Namen eine Stätte deutschen Blutes sei. Ein führender Beamter von Zala wurde aufgrund seines Namens aufgefordert, in den Volksbund einzutreten. Ich habe mich lange damit auseinandergesetzt, es hat meine Seele belastet. Aber sowie ich es als ungarisches Interesse erkannt habe, musste ich es tun.« István MÉSZÁROS, Mindszenty bíboros és Vas megye [Kardinal Mindszenty und das Komitat Vas], in: Vasi Szemle 49 (1995) 3, 321–335 (Országos Széchényi Könyvtár [Széchényi Staatsbibliothek, im Folgenden: OSZK], Kézirattára [Handschriftensammlung], Signatur: 107/83. – 25; Udvardy Jenőnek [An Jenő Udvardy]).
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Kirche verfolgt würde. Für Peter Kent markierte dieser Protest gegen die Verurteilung Mindszentys den Beginn von Pius XII. eigenem »Kalten Krieg«.5 Die gesamte katholische Welt war in Aufruhr, selbst im fernen Australien kamen 60.000 Menschen zusammen, um gegen die Verurteilung Mindszentys durch das Budapester Volksgericht zu demonstrieren.6 Auch die Vereinten Nationen nahmen sich des Falls an.7 Für die westliche Presse war der Kardinal zu einem Symbol des Widerstands gegen den Kommunismus geworden. Das Time Magazine wählte Mindszenty 1949 zum »Man of the Year«, was auf die enorme internationale Aufmerksamkeit verweist, die der Fall im aufziehenden Kalten Krieg auf sich zog. Selbst in protestantischen Ländern wie dem lutherischen Schweden betrachteten viele Mindszenty als »Helden der Religionsfreiheit«.8 Die undurchsichtigen Umstände des Prozesses bewegten zunehmend die Öffentlichkeit in westlichen Ländern. Die westdeutsche Zeit schrieb: »Die eifrigen Schüler des Kremls wollten aber mehr. Sie haben ihre altbekannten Methoden der menschlichen Folterung angewandt und machten aus dem früheren Gegner ein willenloses Werkzeug, um später erklären zu können, er sei eben nichts weiter als ein ›verängstigter Verbrecher‹.«9
Da die Kommunisten ohnehin kein moralisches Prestige unter den freien Völkern mehr zu verlieren hätten, versprächen sie sich, »dass der Budapester Schauprozess eine neue und eindrucksvolle Warnung an alle diejenigen innerhalb des Eisernen Vorhangs ist, die es noch nicht aufgegeben haben, Widerstand zu leisten.«10
Der Kardinal selbst hatte vor seiner Verhaftung befürchtet, dass er von den Kommunisten zu einem Geständnis gezwungen werden könnte. Am 20. Dezember 1948 schrieb er einen Brief an die anderen Bischöfe, in dem er festhielt, er habe »keinem Komplott angehört« und sei sich »keiner Schuld bewusst«. Falls er doch ein Geständnis ablegen würde, sei ihm dieses abgepresst worden und resultiere aus »menschlicher Schwäche«. Daher sei es dann als »null und nichtig« anzusehen. Außerdem fürchtete sich Mindszenty selbst – ganz ähnlich wie zahlreiche westliche Beobachter – davor, dass neben Foltermethoden auch »Psycho-Drogen« angewandt werden würden.11 5 6 7 8 9 10 11
Peter KENT, The Lonely Cold War of Pius XII. The Roman Catholic Church and the Division of Europe, 1943–1950, Montreal 2002, 237–238. Bruce DUNCAN, Crusade or Conspiracy? Catholics and the Anticommunist Struggle in Australia, Sydney 2001, 135. Vgl. Mindszenty Case Is Put Before U. N., NEW YORK TIMES, 18. 3. 1949. Vgl. eine Postkarte mit der Aufschrift »Kardinal Josef Mindszenty i Ungern. Religionsfrihetens hjälte« (im Besitz des Autors). Mindszentys Schuld, DIE ZEIT, 11. 2. 1949. URL: http://www.zeit.de/1949/06/ mindszentys-schuld (12. 7. 2012). Ebd. Ebd.
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Als Mindszenty nach dem Ausbruch der Revolution vom Oktober 1956 freikam, gab er einer US-amerikanischen Zeitschrift ein Interview.12 Darin räumte er ein, dass sein Geständnis nicht mit Drogen herbeigeführt worden sei, wie oftmals im Westen vermutet worden war. So waren etwa in dem in den USA veröffentlichten Pamphlet »The Cardinal’s Story« unter anderem Meskalin und Aktedron genannt worden. Vielmehr habe ihn eine 29 Tage und Nächte andauernde physische und psychische Folter dazu gebracht, ein vorgefertigtes »Geständnis« zu unterzeichnen. Mindszenty sagte, er sei einfach mit seiner Kraft am Ende gewesen: »Nein, es war keine Droge. Nur 29 schlaflose Nächte und eine zerquetschte Lunge.«13 In der filmischen Umsetzung der Geschichte standen jeweils der Prozess und das Geständnis im Mittelpunkt – die Zerstörung des Widerstandshelden, der sein ganzes Volk bzw. dessen Widerstand gegen das neue Regime repräsentierte. So dachten jedenfalls viele zeitgenössische Beobachter – der Kommunisten und ihrer Gegner – im Westen, aber auch in Ungarn selbst. Casablanca an der Donau: »Guilty of Treason« (1950) Bereits Anfang 1950, nur wenige Monate nach dem Prozess, brachte Hollywood (Freedom Productions, Inc.) einen Spielfilm heraus, in dem Charles Bickford die Rolle Mindszentys übernahm, angeblich weil er ihm ähnlich sah. »Guilty of Treason« gehörte nicht zu seinen besseren Filmen, sondern wurde von der Kritik verrissen. Bickford als Kardinal Mindszenty wirke »eindimensional«, so die New York Times in einer Besprechung.14 Obwohl, oder vielleicht gerade weil fast sein gesamter Text aus Originalzitaten aus Reden oder Schriften Mindszentys bestand, wirkte Charles Bickford »too content to mouth realistic dialogue without working any feeling into his words«.15 Insgesamt sei der Film, so die Pittsburgh Press, wohl »zu hastig« hergestellt worden, er sei langweilig, belehrend und voller filmischer Schwächen und Fehler. Die Kritik war sich einig darin, dass der Film gut gemeint, aber schlecht gemacht sei.16 Zwar sei seine antitotalitäre Botschaft völlig richtig und wichtig, aber die Umsetzung sei nicht gelungen. Lediglich Erzbischof Cushing von Boston zeigte sich nach der Premiere zufrieden: »A competent, thrilling and moving picture. […] It tells the truth abouth Cardinal Mindszenty in the most dramatic and 12
13 14 15 16
Das folgende nach: »Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt!« Gehenkte machen Revolution, DER SPIEGEL, 9. 1. 1957, 31. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-41120259.html (12. 7. 2012). Ebd. THE NEW YORK TIMES, 11. 4. 1950. THE PITTSBURGH PRESS, 2. 3. 1950. THE NEW YORK TIMES, 11. 4. 1950. Die Times meinte, der Film zeige klar den »modus vivendi des sowjetischen Imperialismus«.
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impressive way.«17 Regisseur Felix Feist bemühte sich, möglichst viele Originalzitate und Dokumentaraufnahmen zu verwenden, besonders von Budapest vor und unmittelbar nach dem Krieg. Der Film wird aus der Perspektive eines US-amerikanischen Journalisten namens Tom Kelly (Paul Kelly) erzählt. Vermutlich sollte dieser perspektivische Kniff die Identifikation des amerikanischen Publikums mit der Geschichte erleichtern. Bei einem Treffen des Overseas Press Club18 berichtet Kelly, der gerade aus Budapest zurückgekehrt war, wie sich die Sowjetunion zunehmend ausbreite und nach weiteren Eroberungen in Europa strebe. Ungarn sei das letzte Kapitel in Osteuropa gewesen, nach den kommunistischen Umstürzen in Prag, Warschau und Ost-Berlin. Er habe mit eigenen Augen die Zerstörung der Symbolfigur des antikommunistischen Widerstands, Kardinal Mindszentys, miterlebt. Der Vortrag Kellys bildet die Rahmenhandlung des Geschehens, das mit einer Dokumentaraufnahme einer Siegesparade vor Stalin am Roten Platz in Moskau beginnt, unterlegt mit einer bedrohlich klingenden Stimme mit »russischem« Akzent, die den bevorstehenden Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt verkündet. Die eigentliche Story von Kellys Erlebnissen hinter dem »Eisernen Vorhang« setzt damit ein, wie dieser in Moskau von sowjetischen Soldaten aus seiner Badewanne geholt und zu einen Kommissar Below gebracht wird, gespielt von einem aalglatten, lächelnden Roland Winters. Below wird später im Film der allmächtige sowjetische »Berater« sein, der den ungarischen Kommunisten genaue Anweisungen gibt, wie sie mit Mindszenty zu verfahren haben. In der nächsten Szene – Kelly ist inzwischen über Paris nach Budapest gereist – hat der Journalist Quartier in einem Kaffeehaus genommen, das er bereits vor dem Krieg frequentiert hatte und zu dessen Inventar neben dem alleswissenden Kellner Jenő (Alfred Linder) auch Sándor Deste (John Banner), ein opportunistischer Verfasser von Theaterstücken gehört. Nicht nur das Kaffeehaus, in dem sich ein großer Teil der Handlung von »Guilty of Treason« abspielt, erinnert an Rick’s Café aus Casablanca. Der Film zitiert munter aus dem 1942 gedrehten Klassiker des ungarischstämmigen Michael Curtiz. Reporter Tim Kelly lernt im Kaffeehaus die blonde Musiklehrerin Stephanie Varna (Bonita Granville) kennen, die aus nicht weiter genannten Gründen zuvor in der französischen Résistance tätig gewesen war. Sie ist verliebt in den russischen Oberst Alex Melnikoff, der seine gesamte Familie durch die Nazis verlor, als diese Charkow eroberten. Das Liebespaar Alex und Stephanie erinnern daher entfernt an Ilsa Lund und Laszlo Varga aus Casablanca. Und eines der berühmten Zitate 17 18
THE CATHOLIC HERALD, 20. 10. 1950, 5. Der Film verwendete vor allem Texte aus dem vom Pressclub veröffentlichten Werk OVERSEAS PRESS CLUB (Hg.), As We See Russia, New York 1948.
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aus Casablanca darf nicht fehlen: als Tom und Alex sich wegen politischer Meinungsverschiedenheiten verärgert trennen, bemerkt Kellner Jenő: »I thought this was the beginning of a beautiful friendship.«19 Eine weitere Anspielung auf Casablanca betrifft die bekannte Szene des Wettsingens zwischen den Nazis, welche »Die Wacht am Rhein« schmettern, und den Anhängern der Résistance, die mit der Marseillaise antworten. Als Oberst Melnikoff das Café betritt, spielt die Zigeunerkapelle auf Wunsch verschiedener Gäste ein deutsches Nazi-Lied, worauf Melnikoff dem Primas zuwirft, er solle »wirkliche deutsche Musik« wie die »Schöne Blaue Donau« spielen, denn in Ungarn sei kein Platz mehr für Nazi-Lieder. Hier steht Alex Melnikoff für das gute Russland, das gegen die Nazis kämpfte. In Casablanca ist es der tschechische Widerstandsheld Laszlo, der die Marseillaise dirigiert. Kardinal Mindszenty selbst tritt im Film erst später auf. Nachdem Tom einen Tip erhalten hat, wonach sich der Kardinal bei seiner Mutter auf dem Land aufhalte, bittet Stephanie, ihn dorthin begleiten zu dürfen. Tom hatte sie über Mindszenty befragt, und sie hatte betont, dass sie den Kardinal für völlig integer und unschuldig halte, als ehemaligen Widerstandskämpfer gegen die Nazis, wie sie selbst. Er sei so populär, dass die Kommunisten niemals wagen würden, ihn zu verhaften. Stephanie hatte außerdem hervorgehoben, dass sie Mindszenty sehr verehre, obwohl sie selbst nicht Katholikin sei. Dieses Statement zielte vermutlich auf die in den USA damals noch weit verbreitete Ablehnung des Katholizismus durch die protestantische Mehrheitsgesellschaft.20 Daraufhin suchen Tom und Stephanie Mindszenty auf. Die erste Begegnung ist aus der Ferne gezeigt: Auf einem weiten, kargen Feld sieht man im Vordergrund ein Kruzifix, im Hintergrund einen großgewachsenen Mann mit einem hölzernen Stab daherkommen, sehr einfach gekleidet, wie ein Hirte. Mindszenty – so die Botschaft dieser Szene – ist ein Mann aus dem Volk, von der Scholle, erdverbunden, freiheitsliebend, hart arbeitend, mit einem starken Familiensinn – das sollte 19 20
Das Original aus Casablanca lautet: »Louis, I think this is the beginning of a beautyful friendship.« (Schlussszene). Selbst der christliche Antikommunismus musste sich nach Konfessionen getrennt organisieren. Die sehr einflussreiche konservative Katholikin Phyllis Schlafly gründete 1958 in Saint Louis die »Cardinal Mindszenty Foundation«, die für Katholiken offen stand, da die bereits etablierte, von evangelikalen Protestanten getragene Organisation »Christian Anti-Communism Crusade« starke Vorbehalte gegenüber Katholiken hatte. Die »Cardinal Mindszenty Foundation«, die bis heute existiert, wurde von einem Ausschuss beraten, der sich ausschließlich aus Priestern zusammensetzte, die von Kommunisten gefoltert worden waren; die meisten waren als Missionare in Südostasien tätig gewesen. Besonders in den 1950er und 1960er Jahren organisierte und finanzierte die Stiftung tausende sogenannter »Cardinal Mindszenty Study Groups«, bei denen ahnungslose Amerikaner über die Heimtücken des Kommunismus aufgeklärt wurden. Vgl. Donald T. CRITCHLOW, Phyllis Schlafly and Grassroots Conservatism: A Woman’s Crusade, Princeton, NJ 2005.
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ganz nach dem Geschmack der »schweigenden Mehrheit« der USA sein. Mindszenty deklamiert sein einfaches politisches Programm. Wenn die Kommunisten die katholischen Schulen antasteten, werde er dagegen protestieren, dies sei die Grenzlinie, die er für sich persönlich gezogen habe. Die Kommunisten hätten ihm mehrfach angeboten, ins Exil zu gehen, aber das lehne er ab: die Heimat sei in Gefahr. »Good men are needed here.« Am nächsten Morgen ist Stephanie in der Schule, sie spielt am Klavier ein »altes, patriotisches Lied«, das an die ungarische Nationalhymne erinnert. Eine Vertreterin der Kommunistischen Partei betritt das Klassenzimmer und fordert Stephanie und ihre Klasse auf, eine Petition gegen Mindszenty zu unterschreiben. Stephanie weigert sich und wird verhaftet. Daraufhin setzen sich zwei ihrer Schülerinnen demonstrativ ans Klavier und stimmen gemeinsam mit dem Rest der Klasse das »patriotische Lied« an. Stephanie wird im »Haus des Terrors«, in der Andrássy Allee 60 in Budapest, gefoltert. Ihr Geliebter Alex, dessen Büro im selben Gebäude liegt, bietet ihr ein Visum an, mit dem sie ins Ausland fliehen könnte, doch sie wiederholt, leicht ergänzt, Mindszentys Worte: »Good men are needed here, and good women.« In der Zwischenzeit ist Kommissar Below aus Moskau eingetroffen. Er instruiert die ungarische Regierung um Rákosi, was sie im Fall Mindszenty zu tun habe. Der Kardinal müsse kurz nach Weihnachten verhaftet und in Presse- und Öffentlichkeitskampagnen als Verräter und Antisemit verleumdet werden. Aber er sei doch Widerstandskämpfer gewesen, erwidern die ungarischen Funktionäre; das wisse im Westen aber niemand, so der perfide russische Kommissar. Oberst Melnikoff wirft ein: »Like Hitler. The big lie!« Hintergrund dieser Szene war Mindszentys nicht immer eindeutige Abgrenzung gegenüber rechtsextremen Tendenzen während des Horthy-Regimes und eine Polemik mit jüdischen Verbänden in der Nachkriegszeit, in welcher der Kardinal zumindest wenig Mitgefühl mit den Überlebenden des Holocaust gezeigt hatte.21 Der Vorwurf des Antisemitismus war gelegentlich auch im Westen als Argument gegen eine übertriebene Heroisierung des Kardinals angeführt worden. Mindszenty gehörte nicht zu jenen, die sich deutlich gegen den im katholischen Milieu der Horthyzeit verbreiteten Antisemitismus ausgesprochen hatten.22 21
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Im Sommer 1947 warf »Új Élet« [Neues Leben], das »Blatt des Ungarischen Judentums«, dem Primas antijüdische Äußerungen vor. ÚJ ÉLET, 3. 7. 1947, Titelblatt. Mindszenty habe behauptet, die Zahl der ermordeten Juden betrage nur eine Million und die Juden schuldeten außerdem der Katholischen Kirche Dank dafür, dass Katholiken Hunderttausende Juden gerettet hätten. Möglicherweise standen die Kommunisten hinter dieser Kampagne. Vgl. Paul HANEBRINK, In Defense of Christian Hungary: Religion, Nationalism, and Antisemitism 1890–1944, Ithaca, N.Y.–London 2006.
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Der Weihnachtsabend ist das letzte Abendmahl für die Helden des Films. Tom veranstaltet im Kaffeehaus eine kleine Feier, er stößt mit Stephanie auf die Freiheit an, Stephanie auf diejenigen, die für die Freiheit leben und für die Freiheit sterben. Später wird die Weihnachtsfeier in einem Keller fortgesetzt, in den auch Alex kommt. Er gesteht, dass er die Ermordung seiner Familie durch die Nazis nicht vergessen könne. Tom verlässt das Liebespaar. Tags darauf, am Weihnachtstag, hält der Kardinal seine letzte Predigt, er sagt unter anderem »Let us stand firm in this faith that gives us liberty« und »I am against tyranny in all forms« – Mindszenty als antitotalitärer Freiheitskämpfer. In der nächsten Szene erwarten Mindszenty und seine Mutter im erzbischöflichen Palast die Schergen der Staatspolizei. Vor seiner Verhaftung übergibt der Kardinal einem seiner Mitarbeiter einen Zettel mit den Worten: »If you should read that I confess [...] regard that as merely a consequence of human frailty, I declare such as void.« Von nun an schlägt das Terrorregime zu, den Zuschauern wird gezeigt, wie brutal die Kommunisten vorgehen. Mindszenty und sein Sekretär Zakar werden gefoltert. Das versammelte Politbüro und Kommissar Below sitzen im Halbdunkel auf einer Tribüne, von der aus sie auf den Kardinal herabblicken, der von einem Scheinwerfer angestrahlt wird. Er soll »gestehen«, er habe sein Land verraten und hasse die Juden. Mindszenty erwidert: »I have nothing against the Jews. I regard them as my brothers.« Im Hintergrund wird sein Sekretär ausgepeitscht. »I will never confess!« Kurz darauf bricht er zusammen. Doch noch bleibt Mindszenty standhaft, er hat das vorbereitete »Geständnis« nicht unterschrieben. Kommissar Below lässt nun alle verhaften, die jemals näher mit dem Kardinal zu tun hatten. Mindszenty habe kein »Schuldbewusstsein«, daher solle er einem »special medical treatment« unterzogen werden. Ein Arzt empfiehlt die Verabreichung hypnotisch wirkender Tabletten, diese würden »persönlichkeitsverändernd« wirken – das besonders in den USA so sehr gefürchtete »brainwashing« beginnt, mit dem selbst hartgesottene Helden in kommunistische Sklaven verwandelt werden können. Stephanie arbeitet inzwischen als Sekretärin von Tom Kelly – dem Publikum wird allerdings verschwiegen, dass einem US-Journalisten zuzuarbeiten in einer stalinistischen Diktatur einem Selbstmord gleichkommt. Sie kann nicht verhindern, dass Tom von einer Horde »ungarischer Nazis« überfallen und schwer verletzt wird. Die Schläger hinterlassen allen Ernstes ein Flugblatt mit der Parole »Heil Hitler! Heil Stalin!« Der Richter, der dem Prozess gegen Mindszenty vorsitzt, ist ebenfalls ein ehemaliger Nazi. Stephanie trifft ein letztes Mal ihren Geliebten. Der Oberst im Halbdunkel seines Büros im »Haus des Terrors« sagt hölzern »Die Partei hat immer recht«. Darauf antwortet Stephanie
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»Hitler lives on in you« – Melnikoff bewegt sich steif wie ein Roboter, er lässt Stephanie wegen »Spionage« verhaften. In der nächsten Szene wird gezeigt, wie sie mit kochend heißem Wasser und Schlägen gefoltert wird. Ihre Hände sind, wie bei einer Kreuzigung, gefesselt. Sie stirbt mit den Worten »Long live Hungary«. Der letzte Akt in Tom Kellys Bericht ist die Gerichtsverhandlung gegen Mindszenty, wobei im Film auch Pressephotos (Mindszenty zwischen zwei Polizeibeamten sitzend) nachgebildet werden. Alle haben gestanden, zuletzt Mindszenty »Yes, this is my handwriting«. In der Zwischenzeit trifft Tom noch einmal Oberst Melnikoff, fragt ihn nach Stephanie. Melnikoff weicht aus, meint, die Amerikaner interessierten sich immer nur für Individuen. Tom schmettert ihm »Heil Hitler, Heil Stalin!« entgegen. Alex begibt sich daraufhin, offenbar von Gewissensbissen geplagt, in Stephanies Wohnung, wo er kurz darauf von einem Rotarmisten erschossen wird. Mindszentys Schlusswort: »I do condemn the police state to which the Russians are enslaved. I want peace, not tomorrow, peace in our time.« Es folgt ein Panoramablick auf Budapest, auf die Kettenbrücke, die Geister von Stephanie, Alex und Mindszenty erscheinen. Der Film endet mit Toms Rede vor dem Presseklub, er wendet sich direkt an den Zuschauer. »If you want to have peace with the Russian bear, cry out when he steps on your feet. […] Liberty is everybody’s business. Either there is liberty for all or for nobody at all.« Es war wohl besonders der Schlussteil des Films mit seinem allzu schematischen Gut-gegen-Böse – die kommunistischen Bösewichter fast immer im Halbdunkel agierend, die »guten« Männer und Frauen im Licht – und die penetrante Wiederholung US-amerikanischer Propagandaslogans, die der Filmkritik missfielen. Regisseur Felix Feist (1910–1965) war zuvor mit dem Streifen »Deluge« (1933) und ähnlichen Produktionen im Stil des Film Noir (The Devil Thumbs A Ride, 1947) bekannt geworden. Bei »Guilty of Treason« ist die Beleuchtung allerdings allzu dunkel geraten – im vom Kommunismus vereinnahmten Ungarn gehen buchstäblich die Lichter aus. Interessant ist die antitotalitäre Botschaft des Films, die Gleichsetzung der Sowjets mit den Nazis. Vermutlich sollte dies, nur fünf Jahre nach Kriegsende, der US-Öffentlichkeit deutlich machen, dass nicht nur die Kriegsallianz mit den Sowjets beendet sei, sondern die Sowjets ein schlimmer Gegner, vielleicht ein noch schlimmerer als die Nazis seien, da sie deren Verbrechen fortsetzten. »The Prisoner« (1955): Ein katholisches Psychodram Der Unterschied zwischen »Guilty of Treason« und dem fünf Jahre später erschienenen britischen Film »The Prisoner« könnte kaum größer sein. Der englische Film verzichtet nicht nur gänzlich auf Dokumentaraufnahmen und verwendet auch keine Orts- oder Personennamen, sondern macht schon im Filmvorspann darauf aufmerksam, dass »jede
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Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen rein zufällig« sei. Es geht nicht um Mindszenty, Budapest, Ungarn, sondern um das Schicksal eines namenlosen Kardinals in einem namenlosen Land, das den Charakter eines Polizeistaats hat. Da in diesem Film aber kein westlicher Journalist anwesend ist, der ein anderes, besseres politisches System verkörpert, kann sich der Zuschauer nicht sicher sein, ob jemals jemand den Entrechteten zur Hilfe kommen werde. Das erhöht die Beklemmung, die der Film auslöst. Doch dem Publikum 1955 war klar, dass es sich um den Fall Mindszenty handeln müsse. Die erste Szene des Films zeigt die Verhaftung des Kardinals nach dem Hochamt in der Kirche. Kurz bevor er von der Polizei abgeführt wird, sagt er zu seinen Mitarbeitern »Try to remember. Any confession that may be said I have made in prison is a lie or a result of human weakness« – fast genau der Wortlaut von Mindszentys Brief an die Bischöfe. Auch »The Prisoner« stellt die Frage: wie kommt es, dass eine so tief gläubige und willensstarke Persönlichkeit ein Geständnis ablegt, welches den Einstellungen, die sie bisher in ihrem ganzen Leben, auch gegen große Widerstände, vertreten hat? Im Unterschied zu dem Hollywood B-Movie »Guilty of Treason« verzichtet die von der Kritik sehr positiv aufgenommene englische Produktion auch auf eindeutige politische oder ideologische Botschaften und konzentriert sich stattdessen hauptsächlich auf das Duell zwischen dem verhörenden, psychologisch geschulten Offizier der Staatssicherheit (Jack Hawkins) und dem Kardinal (Alec Guinness). Regisseur Peter Glenville (1913–1996), der vor dem Dreh das gleichnamige Theaterstück seiner Freundin Bridget Boland (1913–1988) erfolgreich im Londoner West End, ebenfalls mit Alec Guinness in der Hauptrolle, inszeniert hatte, konzentriert sich in seinem ersten Film auf wenige Ereignisse und Schauplätze, um die Geschichte des erzwungenen Geständnisses zu erzählen. Das Ergebnis ist eine düstere Geschichte über ein Land, in dem es nach der Inhaftierung des Kardinals zu Unruhen kommt, die aber von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen werden – gezeigt in den spärlichen Außenszenen, in denen man Lastwagen mit Militär und Schießereien sieht. Alles wirkt noch trostloser als das Ungarn des Hollywoodfilms. Alles scheint sich in einer mittelalterlich anmutenden Burg mit Verlies abzuspielen, während die Verhöre in barocken Räumen stattfinden. Als sich innerhalb der Gefängnismauern das Drama zwischen verhörendem Offizier und Kardinal abspielt, wird auf der Straße ein Junge von einem Polizisten erschossen, nachdem er das Wort »freedom« an eine Hauswand geschrieben hat. Lieblos ist auch das episodenhaft gezeigte Verhältnis zwischen der jungen Frau eines politischen Flüchtlings, einer gläubigen Katholikin, die die Popularität des Kardinals andeutet, und dem jungen Gefängniswärter, der dem Kirchenmann im Gefängnis gleichgültig gegenübertritt.
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Das erinnert entfernt an das Paar in »Guilty of Treason«, aber die verzweifelte Liebesgeschichte ist bloß eine Andeutung, dass es noch Leben außerhalb des ansonsten die Story dominierenden Duells zwischen zwei intelligenten, aber für entgegengesetzte Ideen stehenden Figuren gibt. Der Kardinal und der kommunistische Funktionär kennen einander von gemeinsamen Aktivitäten im Widerstand gegen die Nazis. Aus diesem Grund möchte der Offizier auf die unmittelbare Anwendung physischer Folter verzichten (wenn man Schlafentzug davon ausnimmt). Stattdessen konzentriert er sich darauf, den Widerstand des Kardinals zu brechen, seine Persönlichkeit zu zerstören. Alec Guinness’ Mindszenty ist ein hagerer, intellektueller Geistlicher, ein wenig unterkühlt zu Beginn, während Charles Bickford in »Guilty of Treason« mit seiner tiefen Grabesstimme eher einen knorrigen, irischen Landpfarrer abgab. Jack Hawkins als Verhörender ist dem Kardinal ebenbürtig, doch nutzt er seine Intelligenz und sein Geschick dazu, die als staatsfeindliche Institution eingestufte Kirche zu zerstören, indem er deren Oberhaupt unglaubwürdig macht. Im Laufe des Films wird der Verhörende von einem höherrangigen General (Raymond Huntley) gedrängt, das Verfahren zu beschleunigen, doch dieser meint, die Zerstörung der »Seele« des Oberhirten erfordere mehr Zeit. Dies sei aber wesentlich wirkungsvoller als wenn ein menschliches Wrack, von physischer Folter gezeichnet, dem Publikum vorgeführt würde. Schließlich gelingt es ihm, die schwache Stelle des Kirchenmanns herauszufinden: seine Mutter, die offenbar Prostituierte war und auf einem Fischmarkt arbeitete. Die Karriere als Kirchenführer sei der Versuch des begabten Jungen gewesen, sein soziales Stigma hinter sich zu lassen. Seine Hände stanken nach Fisch, auch wenn er sie immer wieder mit allen Seifen, derer er nur habhaft werden konnte, wusch. Als ihn der Funktionär mit einer anaesthesierten Mutter konfrontiert, die wie eine Leiche aufgebahrt liegt, bricht der Kardinal zusammen. Er gesteht, dass er seine Mutter zutiefst verachte. Der Schlafentzug scheint ihn mürbe gemacht zu haben, schließlich offenbart er, dass sein Leben eine einzige Lüge gewesen sei, lediglich der Versuch, den Makel des Beginns hinter sich zu lassen. Nun wird der Prozess angesetzt, der Kardinal gesteht, und das Regime triumphiert. Nur der Verhörende empfindet seinen Sieg als Niederlage, da er Zweifel bekommen habe. Er hält den Kardinal für den eigentlichen Sieger des Duells. Dieser wird zum Tode verurteilt, im letzten Augenblick aber begnadigt und freigelassen. Der Kardinal meint, dies sei schlimmer als der Tod, da ihn die Gläubigen nun verachteten. Die Schlussszene zeigt den Kardinal, der langsam auf eine vor dem Gefängnis wartende Menschenmenge zugeht, die ihre Verachtung durch Schweigen und Starren ausdrückt. Die »Zerstörung« der Glaubwürdigkeit des Kardinals im Theaterstück bzw. im GlenvilleFilm ist allerdings schwer zu verstehen. Es gab kaum jemanden, der die
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»Geständnisse« wirklich ernst nahm und daraufhin den Kardinal als »Verräter« ansah. Der Verhörende bekommt ob seines Triumphes Zweifel – darin besteht der Sieg des Kardinals. Dem Trio, das hauptsächlich am Zustandekommen des Films »The Prisoner« beteiligt war, der Autorin des Bühnenstücks, Bridget Boland, dem Regisseur Peter Glenville und dem Hauptdarsteller Alec Guinness, ging es wohl vor allem um die psychologischen Konflikte eines gläubigen Katholiken in einer extremen Situation. Boland und Glenville hatten beide irische Wurzeln, wuchsen in London auf, und kannten einander vom Studium und erster Theaterarbeit an der Universität Oxford. Sie vertraten ihren Katholizismus offensiv, was in der englischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit nicht einfacher war als in den USA.23 Daher lehnten sie die Idee der Produktionsfirma (Columbia, London Independent Pictures) ab, die Hauptfigur solle ein nicht-katholischer Geistlicher sein. Der Film wurde vom Festival in Cannes zurückgezogen, weil Schwierigkeiten mit dem gerade wieder eingeladenen sowjetischen Juryvertreter befürchtet wurden. Schlussfolgerungen Zwei Filme über das gleiche Thema werden immer unterschiedlich sein, doch im Fall der Mindszenty-Prozess-Filme »Guilty of Treason« und »The Prisoner« sind die Unterschiede trotz der starken Überschneidung der Thematik und desselben politischen Hintergrunds doch erstaunlich. Zum einen ist »Guilty of Treason« ein fast penetrant belehrender Propagandafilm, besonders gegen Ende hin, was auch die amerikanische Kritik bemängelte und möglicherweise einen kommerziellen Erfolg verhinderte. Dagegen ist »The Prisoner« vor allem ein psychologisches Drama, das die Zuschauer nicht mit der Hoffnung auf einen Kampf des Guten (Westen) gegen das Böse (Kommunismus) tröstet. Kein heldenhafter Repräsentant des Westens, wie der furchtlose Reporter Tom Kelly, der schließlich im sicheren New York vor dem Overseas Press Club über die Machenschaften der Kommunisten berichten kann, steht den Verfolgten im namenlosen Polizeistaat zur Seite. Kelly diente der leichteren Identifikation des durchschnittlichen US-amerikanischen Zuschauers: seht her, diese Geschichte in diesem obskuren osteuropäischen Land geht auch uns Amerikaner etwas an! Zudem soll er, so wird zumindest im Unterschied zu »The Prisoner« deutlich, die Zuschauer aufrütteln, selbst den Kampf gegen die neuen, mächtigen Feinde der Freiheit aufzunehmen. Besonders wichtig, wenn es um die mit dem Thema verbundenen Ängste geht, scheint mir, dass Kelly schließlich drittens klar macht: Keine Angst, wir, die mächtigen Vereinigten Staaten, haben den Kampf aufgenommen! Andererseits lässt einen unvoreingenommenen 23
Ronald HAYMAN, Bridget Boland, in: Kathryn A. BERNEY (Hg.) Contemporary British Dramatists, London 1994, 81–83; Peter GLENVILLE, THE INDEPENDENT, 11. 6. 1996 (Nachruf); CATHOLIC HERALD, 23. 4. 1955.
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Beobachter der Gedanke nicht los, dass Kelly durch sein forsches Auftreten nicht unschuldig am Tod des ungarisch-russischen Liebespaares war. »The Prisoner« ist sicher kein Propagandafilm, besonders im Vergleich zu »Guilty of Treason«. Was für ein Film ist er dann? Es geht zunächst um die Probleme von Katholiken und ihren Repräsentanten in einem ihnen feindlich gesinnten Staatswesen, eine Sache, mit der sich irisch-stämmige Katholiken leicht identifizieren konnten. Viel mehr geht es aber um etwas Allgemeineres, um das Drama der psychologischen Manipulation eines Menschen, der dazu gebracht wird, sämtliche Werte, die er vertritt, zu verleugnen, und den Glauben und die Kirche, für die er sein Leben lang eintrat, zu verraten. Besonders schrecklich ist dabei, dass der schwache Punkt, den die bösen Mächte zur Manipulation nutzen können, in ihm selbst liegt, im Makel seiner Geburt und seines Herkunftsmilieus. Der Kalte Krieg, die Errichtung eines totalitären Regimes, das absolute Unterordnung aller seiner Untertanen einfordert, und diejenigen, die diese Unterordnung aufgrund ihrer Überzeugungen bzw. wegen ihres Glaubens nicht leisten können, zu zerstören trachtet – dies bildet den Hintergrund für das Drama. Aber es geht nicht um den Kalten Krieg, und schon gar nicht um den Kampf des Guten gegen das Böse, wie in »Guilty of Treason«. Der Zuschauer wird quasi mit der totalitären Diktatur allein gelassen. Letztendlich geht es um eine der Urängste der Moderne: das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber einem anonymen, staatlichen Machtapparat.
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Die Geschichte, der Film und ihr gemeinsamer Vorraum: Eine spannungsreiche Beziehung Nur an den Rändern der Disziplin haben sich VertreterInnen der Geschichtswissenschaft bislang mit der Herausforderung befasst, die das Medium Film für das eigene Fach darstellt – eine Herausforderung, die mit Siegfried Kracauers Bestimmung eines gemeinsamen »Vorraums« von Film, Fotografie und Geschichte zu den Räumen der Wissenschaften und der Künste vor einem halben Jahrhundert unübersehbar geworden war. Geradezu habituell stellt sich eine asymmetrische Gegenüberstellung von geschichtsontologischen Einwänden gegen den unter Verdacht stehenden Wirklichkeitsgehalt des Mediums, seine vermeintliche Pseudo-Realität einerseits, und der Affirmation seines Potenzials als Quelle der Geschichtsforschung andererseits ein. Der geschichtsontologische Einwand nimmt seinen Ausgang vom utopischen Anspruch oder der Erwartung, die auf den Film als mechanische Aufzeichnungsapparatur des Lebens gerichtet worden ist. So erinnert Günter Riederer in einem der neueren Aufsätze über »Film und Geschichte« an den polnischen Kameramann Bolesław Matuszewski, der bereits 1898, drei Jahre nach der ersten Filmvorführung der Brüder Lumière, die Kinematografie als direkte Registrierung historischer Vorgänge feierte und eine neue Geschichte, eine Geschichte der dauerhaften Präsenz des Vergangenen im Jetzt emphatisierte.1 Wenn sich dieser Mythos einer Art Selbsteinschreibung der – vergangenen – Wirklichkeit immer wieder erneuert hat, vor allem innerhalb der künstlerischen Avantgarden2, so sollte die mit ästhetischen 1
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Bolesław Matuszewski (1856–ca. 1940) arbeitete als Kameramann für die Brüder Lumière und als Fotograf am russischen Hof. Sein Text »Une nouvelle source de l’historie« (Paris 1898) gilt gleichsam als erstes Manifest für die Anerkennung des historischen Werts des Films und die Notwendigkeit des Aufbaus von Filmarchiven als eine Art Weltgedächtnis. Matuszewski beanspruchte für das Filmbild eine einzigartige geschichtliche Faktizität und Authentizität, er behauptete allerdings nicht, dass der Film die Geschichte (als Geschichtsschreibung) ersetzt oder fortführt. In der »nouvelle source« formulierte er: »Der Kinematograph gibt die Geschichte vielleicht nicht integral wieder, doch zumindest ist das, was er zeigt, unbestreitbar und von absoluter Wahrheit. […] Man kann sagen, dass die lebende Photographie einen Charakter der Authentizität, der Genauigkeit und der Präzision besitzt, der ihr allein eigen ist. Sie ist der wahrhaftige und unfehlbare Augenzeuge par excellence.« Bolesław MATUSZEWSKI, Eine neue Quelle für die Geschichte. Die Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematographie, in: montage/av 7/2 (1998), 6–12, hier 9. Dies trifft vor allem auf die Avantgarde der 1920er Jahre zu, doch zählt gerade die
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und geschichtstheoretischen Einwänden mögliche Widerlegung einer naiven Vorstellung von der Abbildfunktion des Films nicht sogleich auch den Überlegungen ein Ende setzen, wonach das Medium Film – gemeinsam mit der Fotografie – eine neue Modalität von Geschichte – als Bestandteil der Wirklichkeit wie als Denkweise – hervorgebracht hat. Doch dazu später. In den Debatten der HistorikerInnen lässt sich hingegen der strategische Einsatz der geschichtsontologischen Kritik, die dem Film seine ästhetischen Konstruktionsmethoden bei der Aufzeichnung von Wirklichkeit vorhält, ausmachen. Dieser strategische Einsatz verfolgt durchaus das positive Ziel, den Film für die Geschichtsforschung aufzuwerten; und dies auf zweifache Art, nämlich als Extension der traditionellen Quellen, denen das komplementäre Filmbild zusätzliche Facetten zu schenken vermöge, noch mehr allerdings als Aufwertung zum originären Quellenbestand einer genuinen historischen Disziplin, der »Mentalitätsgeschichte«, die sich den Welten der Imaginationen und damit den Bedeutung stiftenden Zeichen und Systemen zuwendet. Günter Riederer unterstreicht den mentalitätsgeschichtlichen Stellenwert des Films mit folgenden Worten: »Das Kino schreibt insofern eine ›Geschichte der Imaginationen‹, als es von den Hoffnungen, Sehnsüchten und Phantasien der Kinogänger handelt. Filme und ihre Bilder konstituieren einen Deutungsrahmen, innerhalb dessen Menschen Geschichte wahrnehmen und sozialen Sinn konstruieren. Ihre Analyse ermöglicht damit Aussagen über gesellschaftlich gültige Normen, Handlungen und Werte der Zeit, in welcher sie gedreht und aufgeführt wurden.«3
Wenn mit der Verortung des Films in der Erforschung historischer Mentalitäten auch ein essentieller (pragmatischer) Teil der möglichen Beziehungen von Film und Geschichte erfasst scheint4, so hat die Fixierung dieser Problemzone doch erhebliche Implikationen hinsichtlich des Gegenstands, der Methodiken und der Grenzen. Verweist die Verankerung des Films im Feld der Mentalitäten auf eine bestimmte kulturelle Form, nämlich den Spielfilm, der die Anforderungen an ein weitgehend vollständiges und von Codes reguliertes Bedeutungssystem am besten erfüllt und damit die von Matuszewski insinuierten rohen Figuren des kinematografischen Bilds dissimuliert, die einer distinkten aktualisierten Lektüre Widerstand zu leisten vermögen, so stellt sie auch gleichzeitig semiotische Verfahren als privilegierte methodische Zugangsweisen
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selbstreflexive Hinterfragung des »objektiven« Registrierungsdispositivs Film zu den Motivierungen der Filmavantgarde nach 1945 (Neorealismus, Nouvelle Vague). Günter RIEDERER, Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung, in: Gerhard PAUL, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, 96–113, hier 99. Vgl. dazu exemplarisch aus seinen filmhistorischen Aufsätzen die Studien von Gernot HEISS: »… dass Österreich wieder zum Kulturträger und Kulturpionier für die gesamte Menschheit werde.« Kulturpolitik und kulturelle Entwicklung im Österreich der Nachkriegszeit, in: Karin MOSER (Hg.), Besetzte Bilder. Film, Kultur und Propaganda in Österreich 1945–1955, Wien 2005, 37–60; DERS., Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Armin LOACKER (Hg.), Willi Forst – ein Filmstil aus Wien, Wien 2003, 112–131.
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heraus; wie es in Folge und oftmals implizit die Grenzen zwischen Film als Medium und Film als (Kunst-)Werk festlegt und letzteres als idealtypisches Objekt historischer Forschung suggeriert. Auf diesem Weg geht die Anerkennung sowohl der möglichen Kontingenz im filmischen Bild, die zu Zeiten Matuszewskis noch so kenntlich hervorgetreten ist5, wie auch die Frage nach der Bestimmung der elementaren Einheiten des Films – Einstellung, Sequenz u. a. – und ihres möglichen analytischen Eigenwerts verloren. Vor allem aber: Was wäre der Fall, sollte der Film gerade deshalb medienanthropologisch partikulär sein, weil er emergente Dinge und Sachverhalte sichtbar macht, die noch keiner kulturellen Semiosis unterworfen sind?6 Als 1991 der für den deutschsprachigen Forschungsraum bahnbrechende Sammelband »Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino« erschien, stellten die überaus renommierten AutorInnen – wie Natalie Zemon Davis oder Marc Ferro – auf einen noch entschieden engeren Korpus von Filmen ab, als ihn Günter Riederers Text nahelegt. Die Beiträge fokussierten exklusiv auf ein Genre, nämlich den Historienfilm, der gleichsam als deviante, wenngleich deshalb nicht unbedingt zu verwerfende Geschichtsschreibung betrachtet wird und damit paradigmatisch für die Frage nach der »Herausforderung« der Historiografie durch den Film zu sein scheint; die ideologiekritische Auseinandersetzung mit einzelnen Filmen konnte jedenfalls immer schon in das reguläre Programm historischer Forschung integriert werden, vor allem, weil diese Kritik mit den Methoden philologischer Quellenkritik geleistet werden konnte. Der Essay »L’historien devant le cinema« des französischen Historikers Georges Duby, Autor unter anderem von so gewichtigen Werken wie »Die Zeit der Kathedralen« und »Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus«, scheint besonders gut geeignet als Einstieg in das seitens vieler HistorikerInnen als prekär erachtete Verhältnis der Geschichte zum Film, weil Duby es unerwartet direkt adressiert, 5
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Hier sei vor allem auf das Phänomen der Tiefenschärfe verwiesen, die der Kontrolle über den Bildraum Schwierigkeiten bereitet hat. Die Gleichzeitigkeit disparater Dinge erschwert die Fokussierung auf deren diegetische Funktion. So schreiben Elisabeth Büttner und Christian Dewald: »Im frühen Kino befinden sich die Dinge oft in einer rohen und unbewussten Koexistenz im Raum vor der Kamera. Sie sind nicht zu isolieren oder auszusondern. Ein Kino, das Zufälligem Raum bietet, breitet sich aus.« Elisabeth BÜTTNER/Christian DEWALD, Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945, Salzburg–Wien 2002, 59. In diesem Sinne kann hier das neu entdeckte Feld sogenannter »Orphan Films« (Amateurfilme, Werbefilme, news reels, wissenschaftliche Filme u. a.), deren Mangel an narrativer Selbstexplikation eine weite historische Kontextualisierung erfordert, nur angedeutet werden. Vgl. Dan STREIBLE, The Role of Orphan Films in the 21st Century Archive, in: Cinema Journal 46/3 (2007), 124–128; Vinzenz HEDIGER/Patrick VONDERAU, Filmische Mittel, industrielle Zwecke. Das Werk des Industriefilms, Berlin 2007; Ian CRAVEN (Hg.), Movies on Home Ground. Explorations in Amateur Cinema, Newcastle upon Tyne 2009.
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nämlich als Aufgabe der Übersetzung historiografischer Texte in filmische Bilder, und nicht, wie es zumeist – und so auch im zuvor genannten Sammelband – geschieht, als Frage der Repräsentation von Vergangenheit und ihrer Techniken.7 Dieser Essay ist 1984 in der Zeitschrift »Le Débat« erschienen und berichtet von einem Zwiespalt. Wenige Jahre zuvor war der Produzent François Ruggieri an Duby mit dem Ansinnen herangetreten, sein Buch »Der Sonntag von Bouvines« zu verfilmen. Das Drehbuch sollte Serge July schreiben, der Chefredakteur der Zeitschrift »Liberation«. Für die Regie war Miklós Jancsó vorgesehen, einer der Protagonisten der ungarischen »Nouvelle Vague« der 1960er Jahre. Duby war 1968 vom Verlag Gallimar beauftragt worden, einen Band der Serie »30 Tage, die Frankreich hervorgebracht haben«, zu verfassen. Duby konfrontierte sich mit dem Unzeitgemäßen eines solchen Geschichtsunterfangens, während Paris noch von der Revolte des Mai erschüttert war. Dennoch entschied er sich, ein Buch über die Schlacht von Bouvines am 27. Juli 1214 zu verfassen, jene Schlacht, bei der König Phillip II. Augustus über den exkommunizierten Kaiser Otto IV., dessen englischen Verbündeten Johann Ohneland und die Allianz flandrischer und abtrünniger französischer Adliger triumphierte. Dafür war bereits die Unbestimmtheit des Formates zu verlockend, die mit der Auswahl eines einzigen Tages aus dem geschichtlichen Kontinuum verbunden war. Die Zweifel, die Duby während der Verhandlungen über eine Beratertätigkeit bei der Verfilmung des Buches erfassten, betrafen nicht die Absicht des Produzenten, einen Action-Film zu machen. Die Beeinflussung der Wahl eines bestimmten Filmgenres, das einer Schlacht des Mittelalters angemessen wäre, lag Duby ferne, wenngleich er, wie er berichtet, die stilistische Orientierung an Robert Bressons »Lancelot du lac«8 vorbedachte. Er zögerte auch, ob das Thema nicht doch eine Dokumentation erfordere, jedenfalls aber – und im expliziten Gegensatz zur magischen Inszenierung von John Boormans »Excalibur« – bevorzugte er eine, wie er es nannte, »veristische« Inszenierung. Seine Vorbehalte betrafen hingegen grundlegend die Übersetzbarkeit historiografischer Arbeiten in filmische Verfahren. Dubys Argumente pointieren die Standardargumente, die HistorikerInnen aufbieten, wenn sie die Differenz ihrer Profession zu derjenigen der Filmemacher stark machen, auf besondere Art und Weise, weil Duby nicht über den Gegensatz von Tatsachen und Fiktionen, Faktentreue und Erfindungen spricht, sondern über gemeinsame Grenzen von HistorikerInnen und FilmemacherInnen, soweit sich beide der Annäherung an die Realität verpflichtet fühlen. – Kracauer hat dieser 7 8
George DUBY, L’historien devant le cinema, in: Le Débat 30 (1984), 81–85. Robert Bressons »Lancelot du Lac« (Frankreich, 1974) vertraute den bewusst eingesetzten Laiendarstellern eine weitgehend emotionslose Darstellung der mittelalterlichen Szene an und umging die mythopoetische Tradition des Stoffes; John Boormans »Excalibur« (USA, 1981) setzte auf mimetische Darstellung der »mittelalterlichen« Lebenswelt entlang der überlieferten fiction story.
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vagen Bestimmung einer gemeinsamen Grenze die Formulierung »realistische Tendenz« größer/gleich »formgebender Tendenz« gegeben. Duby bringt vier Beobachtung vor, die sich auf das Projekt der Verfilmung seines »Sonntags von Bouvines« beziehen. Die erste betrifft die Dingwelt: Da es kaum materielle Überreste aus dem frühen 13. Jahrhundert gibt, so kann keine authentische Rekonstruktion der materiellen Dinge in ihrer Verflechtung in die alltägliche Welt und die soziokulturellen Interaktionen geleistet werden. Die zweite Beobachtung problematisiert das Casting oder die Physiognomien, die erheblichen Einfluss auf die affektive Wahrnehmung ausüben. Die dritte stellt die Historizität des Körpers und seiner Gesten in Rechnung, deren kommunikative Bedeutung für eine Zeit – die Zeit von »Bouvines« – besonders hoch veranschlagt werden muss: Sie wird durch die Dominanz der taktilen Sinne charakterisiert, von denen so wenig Wissen vorhanden ist wie von kaum einem anderen Phänomen. Die vierte Beobachtung schließlich bezieht sich auf die zu verwendende Sprache: Wie wäre mit der Vielzahl von Idiomen und sozialen Codes, die am Kampfplatz Bouvines zusammentrafen, umzugehen, wenn man keine gesicherten Nachrichten davon hat? Der Romancier dürfe seine Imagination walten lassen, aber der Historiker müsse die seine im Zaum halten. Duby löste die daraus entstehenden Konflikte zugunsten der diskursiven Strategien der Historiografie auf: »In einem Buch«, so schrieb er, »ist es möglich, die Unschlüssigkeit, die Wissenslücken einzugestehen, sich durch die Umwege des Diskurses zu behelfen.« Woran das Filmprojekt letztlich gescheitert ist, darüber lässt uns Duby im Unklaren. Doch war nicht ein Widerstand des Autors maßgebend, trotz der von ihm erhobenen Bedenken. Dubys Darstellung führt indes auf drei Fragenkomplexe hin, die sich schlüssig an Siegfried Kracauers Film- und Geschichtstheorie anschließen und erörtern lassen. Dem Film scheint, erstens, ein trügerischer Realismus eingeschrieben zu sein, der HistorikerInnen im Gegensatz zu anderen Kunstformen wie Romanen, Theaterstücken oder Opern vom Film unvermittelt szenische Akkuratesse bis ins kleinste Detail einfordern lässt, der sie aber auch umgekehrt auf Mängel ihres Vorstellungs- und Erkenntnisvermögens außerhalb der Welt der Schriftdokumente verweist. Zweitens: Der Film scheint alle seine optisch-akustischen Elemente einer sinnhaften Schließung unterzuordnen, die sich der intersubjektiven Überprüfung verweigert. Daher käme ihm kein Wahrheitswert zu, sondern ausschließlich ein illustrativer – als Quelle – oder ästhetischer Wert – als Kunstwerk seiner Zeit. Drittens: Film ist den HistorikerInnen ein konkreter Gegenstand, ein mit Namen bedachtes Objekt, die Figuration eines dinglichen, sozialen, politischen oder affektiven Sachverhaltes, der sie methodisch nur als Dokument oder Monument ergreift; die Kehrseite wäre schon Kinogeschichte, also die Sozial- und Kunstgeschichte einer massenkulturellen Praxis.
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Gegen den Diskurs von HistorikerInnen gesetzt, lässt sich die Radikalität erst richtig bemessen, die Siegfried Kracauers Bestimmung eines gemeinsamen epistemologischen Status von Film respektive fotografischen Medien und Geschichte ausmacht. Fotografische Medien und Geschichte, so heißt es in »Geschichte – Vor den letzten Dingen«, treffen sich in einem gemeinsamen Vorraum. Dieser Vorraum wird durch ihr gemeinsames Material gebildet, durch die Realität der physischen wie der sozialen Welt.9 Beide sind, wie Kracauer schreibt, »von einer Art, die sich nicht leicht in bestimmter Form abhandeln lässt.«10 Die Geschichte – Kracauer meint damit die moderne Geschichtsschreibung, die er mit dem Historismus beginnen lässt – schenke gegenüber dem Zwang der herrschenden Verhältnisse die Idee der Selbsttätigkeit und Freiheit des Menschen, der Film wiederum »bringt uns Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten«, aber nötige zur Selbstreflexion darüber, welche Ideen wir uns von deren Realität zurechtgelegt haben.11 Beide Male geht es bei Kracauer um Errettung, um die Bewahrung eines zugleich utopischen und materialistischen Denkens vor der Dominanz des instrumentellen Rationalismus der Wissenschaften, wie um die Rettung einer demokratischen Apparatur des Sinnlichen vor dem Ästhetizismus einer Kunst, die sich von der Lebenswelt abkoppelt. Kamerarealität, sagt Kracauer, »hat alle Kennzeichen der Lebenswelt an sich. Sie umfasst leblose Objekte, Gesichter, Massen, Leute, die sich mischen, leiden und hoffen; ihr großartiges Thema ist Leben in seiner Fülle, Leben, wie wir es gemeinhin erfahren. Kein Wunder, dass Kamerarealität zu historischer Realität in Hinsicht auf ihre Struktur, ihre allgemeine Verfassung, parallel läuft. Genau wie historische Realität ist sie teils geformt, teils amorph – in beiden Fällen eine Folge des halbgaren Zustands unserer Alltagswelt.«12
In immer neuen Annäherungen versucht Kracauer einen allgemeinen Habitus von HistorikerInnen und Filmschaffenden zu beschreiben, die von der Arbeit an einem gemeinsamen Material, nämlich der Kontingenz der (Lebens-)Welt, gefordert wird.13 Bedeutsamer mit Bezug 9
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Gertrud Koch macht den erhellenden Vorschlag, den Begriff »Vorraum« mit jenem der soziologisch präziser erfassten »Lebenswelt« gleich zu setzen. Vgl. Gertrud KOCH, Kracauer zur Einführung, Hamburg 1996, 153. Siegfried KRACAUER, Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt/Main 1973, 218. An anderer Stelle wird es heißen: sie sind nur im Fluge zu ergreifen. Warum dies so ist, erklärt sich bei Kracauer aus dem Isomorphismus von Natur und vergesellschaftetem Menschen. Beide sind charakterisiert durch die Komplexität von Information, die zur kontinuierlichen Emergenz neuer Phänomene drängt. Eben deshalb könne es über den Moment des Ergreifens im Fluge hinaus, der ja eine raum-zeitliche Koordinate voraussetzt, keine universale Wahrheit geben. Siegfried KRACAUER, Theorie des Films, Frankfurt/Main 1985, 395. KRACAUER, Geschichte, 76f. Zu diesem Habitus rechnet Kracauer die »aktive Passivität«, das heißt, die suchende Öffnung gegenüber Erzählungen, die nicht in ein Modell integriert sind; ähnlich öffnen sich die Filmschaffenden der Polyvokalität ihrer Umgebung, immer vorausgesetzt,
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auf die eingangs vorgestellten geschichtsontologischen Einwände gegen den Film ist allerdings die genuine Verwobenheit von Fotografie, Film und Geschichte durch eine gemeinsame Verankerung in den modernen Formen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit.14 Diesen Gedanken hat Kracauer erstmals – und radikaler als später – in seinem Essay »Die Photographie« schon 1927 entwickelt. Darin rekurrierte er auf die Koinzidenz von Fotografie und moderner Geschichte, wobei er letztere mit dem genealogischen Prinzip identifizierte, das die vormoderne Chronik verdrängt hat. Die moderne Geschichte oder der Historismus brächte, so Kracauer, ein Zeitkontinuum hervor, die Fotografie ein Raumkontinuum.15 Beide greifen von unterschiedlichen Ausgangspositionen ein Drittes an, nämlich das »Gedächtnisbild« oder Monogramm, das auf die möglichst allgemeine Aussage über seinen Gegenstand drängt: Die Fotografie zerstört durch ihr unendliches Spiel mit den Oberflächen das auf wenige, »ideale« Attribute reduzierte Gedächtnisbild, wie es ihre nächste Verwandte unter den Künsten, die Malerei, herzustellen versucht. Ähnlich löst die auf eine vollständige Ereigniskette zielende (moderne) Geschichte das Monogramm einer Person oder Epoche auf. »Dem Historismus geht es um die Photographie der Zeit«, schreibt Kracauer. »Seiner Zeitphotographie entspräche ein Riesenfilm, der die in ihr verbundenen Vorgänge allseitig abbildete.«16 Nun kann man aber von dieser Koinzidenz von Geschichte und fotografischen Medien noch einen Schritt weiter gehen und die Setzung einer neuen Weltanschauung durch das fotografische und kinematografische Bild behaupten, die Hervorbringung einer neuen Weise in der Zeit zu sein. Roland Barthes hat, von ähnlichen Voraussetzungen ausgehend, von einer »anthropologischen Revolution« gesprochen, die durch die Fotografie ausgelöst worden sei, das Bewusstsein des »Dagewesenseins«, das sich neben jenes des »Daseins« setzt: »Nur der Gegensatz zwischen dem kulturellen Code und dem natürlichen Nicht-Code kann, so scheint es, dem spezifischen Charakter der Fotografie gerecht werden und erlauben, die anthropologische Revolution zu ermessen, die sie in der Geschichte des Menschen darstellt, da das Bewusstsein, das sie impliziert, ohnegleichen ist: Die Fotografie bewirkt nicht mehr ein Bewusstsein des Daseins der Sache – das jede Kopie hervorrufen könnte –, sondern ein Bewusstsein des Dagewesenseins. Dabei handelt es sich um eine neue Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich unmittelbar und zeitlich vorhergehend; in der
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dass Kracauer von der Tendenz »Realität gleich/größer Form« als Aufgabe des Films ausgeht; vgl. KRACAUER, Geschichte, 104–106. Vgl. dazu die Überlegungen zur »Verzeitlichung« der Geschichte bei Reinhard KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1984, insb. 33–35. Mit »Zeitkontinuum« meint Kracauer die Erstellung einer Kette von Begebenheiten, die in ihrer zeitlichen Abfolge einen Sachverhalt generieren; »Raumkontinuum« meint die Ko-Präsenz von Dingen, deren Relationen nicht eindeutig festgelegt sind. Siegfried KRACAUER, Die Photographie, in: DERS., Das Ornament der Masse, Frankfurt/Main 1977, 21–39, hier 24.
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Fotografie ereignet sich eine unlogische Verquickung zwischen dem Hier und dem Früher […] in jeder Fotografie steckt die stets verblüffende Evidenz: So war es also: Damit besitzen wir, welch ein wertvolles Wunder, eine Realität, vor der wir geschützt sind.«17
Angestoßen von der filmischen Geschichte des deutschen Widerstandes von Falk Harnacks »Der 20. Juli« (1955) zu Bryan Singers »Valkyrie« (2008) hat Drehli Robnik diesem Paradoxon unter dem Begriff der »Geschichtsästhetik« eine erhellende Beschreibung gegeben, die mit Rückgriff auf Reinhart Kosellecks Konzeption der »historischen Zeiten« die Gemeinsamkeit von Film und Geschichte im wechselseitigen Bezug von »Dauer« – oder »Struktur« – und »Ereignis« ausmacht: In beiden markiert das Ereignis eine Unterbrechung des kontinuierlichen Flusses der Bewegung und macht die Zeit als Dauer erst erfahrbar; so wie umgekehrt die »Struktur« erst das Ereignis als Zäsur – oder Spaltung – hervortreten lässt. »Geschichtsästhetik« insofern, als das »Ereignis«, das sich eine Vor-Geschichte sucht, die Form eines Bildes trägt, das nicht restlos in einer Faktizität aufgelöst werden kann, der gegenüber es stets ein »Mehr« enthalten muss, um überhaupt »Ereignis« sein zu können.18 Ähnlich insistiert »Etwas« im Film gegen die bare Logik der Handlungen und der Ursachen-Wirkungszusammenhänge, die auf eine bloße Repräsentation des Vergangenen hinausliefe. Im Fall der filmischen Geschichte des deutschen Widerstands kann Robnik die systematische Verschiebung des Bildes einer »vielstimmige[n], sozio-topografisch und diskursiv ausdifferenzierten Öffentlichkeit«19, die sich als »szenisches Streitgespräch« präsentiert, in jenes eines medialen Dispositivs diagnostizieren, das den versehrten Körper des Grafen Stauffenberg zum reflexiven Ausgangspunkt erhebt: Stauffenbergs begrenztes Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen als Voraussetzung dafür, den Bannkreisen der totalitären Macht zu widerstehen und zur Aktion überzugehen – ein körperlicher Defekt, der schon in den ersten Filmen als insistierendes »Etwas« auffällig geworden war und unter neuen gesellschaftlichen Paradigmen – des kreativen Wertes der »Abweichung« unter den Bedingungen postfordistisch und postnationaler Entwicklung – produktiv gemacht werden kann.20 17
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Roland BARTHES, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main 1990, 39. Hier darf aber nicht verschwiegen werden, dass Barthes, anders als Kracauer, mit dem Film und dessen Potential der Vergegenwärtigung des Vergangenen erneut ein »magisches« Verhältnis zur Wirklichkeit ins Leben treten sieht. Vgl. die diesbezüglichen, allerdings nicht stringent ausgeführten Überlegungen bei KOSELLECK, Vergangene Zukunft, 151. Filme in der Art von Falk Harnack oder Georg Wilhelm Pabst fokussierten auf die politisch unterschiedenen »Kreise« des deutschen Widerstandes um Carl Friedrich Goerdeler, deren Allianz auch als Verbindung unterschiedlicher (Versammlungsund Handlungs-)Räume sichtbar gemacht wurde. Drehli ROBNIK, Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film 1948–2008, Wien 2009, insb. 34–36 und 187–190.
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Wie stets müssen wir bei der Entwicklung eines Paradigmas begriffliche Operationen in Rechnung stellen, die der expliziten Argumentation oftmals entzogen bleiben. So wählt Kracauer in »Geschichte – Vor den letzten Dingen« etwas überraschend Marc Bloch als jenen dominanten Historiker, gegen den er opponiert. Dies ist der Marc Bloch der »Apologie der Geschichte«, also der Autor eines Methodenbuches, das streng für eine szientistische Geschichtsforschung plädiert; nicht der Marc Bloch, von dem sein Biograf sagt, er habe sich wie kaum ein anderer um die Korrespondenz von Bild und Begriff, von Ding und Namen, Sichtbarkeit und Sagbarkeit bemüht.21 Und wenn Carola Fink wie Olivier Dumoulin den Ursprung der historiografischen Wende, die mit der Zeitschrift »Annales« verknüpft erscheint, sogar in die Habitualisierung von Beobachtungstechniken einbetten, die der Text- und Quellenlektüre entgegengesetzt werden, um eine neue Zugangsweise zu gewinnen, die bestrebt ist, die visuelle Beobachtung zu Lasten des Primats des Diskurses durchzusetzen22, dann erscheint Bloch eher als Sozius der Kracauer’schen Konzepte als dessen Widerpart. War es nicht gerade Marc Bloch, der den kinematografischen Prozess als Analogon der Rekonstruktionsleistungen der HistorikerInnen in Anspruch nahm, nämlich mithilfe des Tricks, den Film rückwärts laufen zu lassen?23 21
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Nach Ulrich Raulff ging es Bloch und Lucien Febvre in der praktischen Arbeit um die Aufdeckung der Lücken, die das schriftliche Dokument bezüglich der Materialität der Dinge und der Gebrauchsweisen enthielt. Um den Wandel in der historischen Semantik nicht zu übersehen, mussten andere als schriftliche Aufzeichnungssysteme, wie Bilder oder Karten, herangezogen werden. Denn »eine Kultur [ließ] sich nur rekonstruieren [...], wenn man die Fäden zu fassen bekam, die das gesehene und das benannte Objekt, den sichtbaren und den benennbaren Gegenstand miteinander verbanden. Unsichtbar blieb, was keinen Namen hatte; sinnlos die Vokabel, der sich keine bildliche Vorstellung und kein Objekt zuordnen ließ. Der Historiker musste die Auskünfte, die ihm Archäologie und Ikonographie lieferten, mit denen der historischen Semantik verknüpfen: Im Licht ihrer sich überkreuzenden Scheinwerferkegel blitzte die Realität des historischen Objekts auf. Punktuell berührten sich die Wörter und die Sachen.« Vgl. Ulrich RAULFF, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt/Main 1995, 119. Carole FINK, Marc Bloch. A Life in History, Cambridge 1989, 104f; Olivier DUMOULIN, Marc Bloch, Paris 2000, 183. Vgl. diese Analogie zur Beschreibung der »regressiven Methode« in Marc BLOCH, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 1980, 63. Hier stoßen wir übrigens auf eine weitere Übereinstimmung mit Kracauer: Blochs Argument muss notgedrungen auf die (wenngleich bei ihm als unvollständig supponierte) Aufzeichnung der künftigen Vergangenheit durch den Film rekurrieren, wenn er im Rücklauf die Gestalt der Vergangenheit erkennen will. Gerade das in seinem Gedankenexperiment angenommene »fehlende« Einzelbild im Film, das die historische Rekonstruktionsarbeit erforderlich macht, stellt umso deutlicher die Nähe dazu heraus, was Kracauer die »Errettung der äußeren Realität« durch den Film genannt hat. Es verweist aber ebenso auf die Vorstellung einer gemeinsamen Verankerung von Film und Geschichte im modernen Raum-Zeit-Gefüge zurück, dessen elementarer Bestandteil beide sind.
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Ich möchte damit zurückkommen zu George Duby und den »Sonntag von Bouvines«. Wenn bei Ruggieri und Jancsó der Plan aufgetaucht ist, Dubys Buch zu verfilmen, dann sicherlich nicht bloß wegen der möglichen filmischen Attraktivität einer Schlacht. Dubys Buch, so meine ich, ist vielmehr selbst bereits filmisch. Damit meine ich die Verwendung einer Reihe von Verfahrenstechniken, die als originäre Erfindung des Films betrachtet werden und die als Erfahrungsraum die Historiografie – reflektiert oder spontan – informieren. »Der Sonntag von Bouvines« spannt einen komplexen Raum auf, der mit alternierenden Quasi-Panorama- und Nahaufnahmen, ebensolchen Kamerafahrten, Rückblenden, Doppelbelichtungen, nichtdiegetischen Stimmen aus dem Off konstituiert wird. Das Buch verklammert den panegyrischen Augenzeugenbericht Wilhelm Britos, Ratgeber König Philipps, Miniaturen aus der Chronik des Matthäus Paris aus dem 13. Jahrhundert, Historikerenqueten, Abbildungen auf Münzen und Medaillen, Monografien, doch es formt daraus keine neue Erzählung, die von Thesen, empirischen Fakten und wissenschaftlichen Synthesen gebildet wäre. Jeglicher wissenschaftlicher Apparat ist ausgespart. Statt in die Bestimmung des Ereignisses selbst oder in dessen diskursives Umfeld führt das Buch eingangs in einen physischen und kulturellen Raum, in dem über die Perspektive des Ich-Erzählers Vergangenheit und Gegenwart verklammert werden. »Ich habe Bauern kennengelernt«, schreibt Duby, »die immer noch ein wenig zitterten, wenn das schlechte Wetter sie zwang, die Ernte an einem Sonntag einzufahren: Sie spürten den Zorn des Himmels über sich«, wenn sie, so wie die Kämpfer des 27. Juli 1214, die heilige Sonntagsruhe verletzten. In kalkulierter Regelverletzung historiografischer Praxis beschreibt Duby dann das vergangene Ereignis selbst im historischen Präsens, alternierend zwischen elliptischen Normalsequenzen und episodischen Sequenzen, die Milieus und Institutionen, so sie in das Ereignis strukturell verstrickt sind, wie der Papst oder das Geld, in zeitlicher Kompression integrieren. Dies verleiht seinem Schreiben in Bildern Kohärenz und gestattet es ihm, statt einer chronologischen Ordnung eine bewegte Szenografie aufzubauen. Knappe Porträts der handelnden Personen wechseln mit dem Fokus auf die elementaren Dinge einer Schlacht: auf die Rüstungen, die Waffen, die Banner und die Pferde. »Was die Pferde betrifft, so sind sie sehr gegenwärtig … (auch wenn keines mit dem Eigennamen bezeichnet wird)«, heißt es zu ihnen. Wie im Classical Hollywood Movie wird jedes in der von Duby als »Inszenierung« bezeichneten Szenografie präsentierte Detail später, im Bericht über den Verlauf der Schlacht selbst, seine volle Bedeutung erhalten: auch das Streitross Kaiser Ottos, das von Fußsoldaten aufgeschlitzt wird, um seines Besitzers – und damit eines stattlichen Lösegeldes – habhaft zu werden. Wie im Film klären sich zunächst mythisch erscheinende Begebenheit bzw. Formulierung retrospektiv als
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genuiner Perspektivismus oder als Täuschung der Wahrnehmung auf. Alles Abstrakte – Macht, Ehre, Glauben – erschließt sich in diesem Buch aus der Verkettung von Handlungen, Gegenständen und Räumen, deren Materialität das Gravitationszentrum der Beschreibungen bilden. »Der Sonntag von Bouvines« ist keine Ausnahmeerscheinung, wenngleich von seinen Voraussetzungen her ein spezifischer Fall. Wir treffen indes auf ähnliche Verfahren in der Prosa von Fernand Braudels »Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.«, in Arlette Farges »Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts« oder in Emmanuel Le Roy Laduries »Karneval von Romans«. Stets sind es die Beobachter-Standpunkte, die unser Interesse erwecken, die nachdrückliche Beschreibung der alltäglichen Dinge aus einer vermittelten Perspektive, die einen Grad der Konkretion der Vergangenheit anvisieren und die Vermischung mit der begrifflichen oder analytischen Sprache vermeiden. Das könnte sie selbstverständlich auch dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts vergleichbar machen, und doch unterscheiden sie sich von diesem darin, dass sie dessen Linearität nicht teilen, sondern ihr Material aus wechselnden Perspektiven montieren. »[D]ie photographischen Medien [helfen] uns […], unsere Abstraktheit dadurch zu überwinden, dass sie uns tatsächlich zum ersten Mal mit ›dieser Erde, die unsere Wohnstätte ist‹ (Gabriel Marcel), vertraut machen; sie helfen uns, durch die Dinge zu denken, anstatt über ihnen. Anders gesagt, die photographischen Medien erleichtern es uns, die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt einzuverleiben und sie derart der Vergessenheit zu entreißen. Etwas Ähnliches«, sagt Kracauer, »wäre auch über Geschichte zu sagen.«24
Folgen wir Kracauers Ideen, dann lösen sich die Bedenken der HistorikerInnen hinsichtlich des Wahrheitsstatus des Films, seiner »Pseudo«Authentizität, aber auch betreffend seiner narrativen Freizügigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit auf. Sie eröffnen eine Perspektive auf die gemeinsame Fundierung von Historiografie und Film in ihrer Haltung zur Welt, eine Perspektive, die Jacques Rancière als »Geschichtlichkeit des Films« definiert hat.25 (Moderne) Geschichte und Film »umgreifen« einander, so Rancière, weil sie einer Zeit angehören, die dem Beliebigen, dem Empirischen des Lebens das Recht einräumen, an einem gemeinsamen Schicksal teilzuhaben. Dies ist die Zeit des »ästhetischen Regimes der Kunst«, das Gemeinschaft aus der geteilten sinnlichen Erfahrung eines mannigfaltigen Zusammenhangs der Menschen und der Dinge heraustreten lässt; so jedenfalls sieht es die Programmatik der romantischen Theorie. Es ist aber auch die Zeit, die Subjekte, handelnde Menschen, als die eigentlichen Akteure der Geschichte versteht, selbst wenn diesen die Voraussetzungen ihrer Tätigkeit nicht bewusst 24 25
KRACAUER, Geschichte, 219. Jacques RANCIÈRE, Die Geschichtlichkeit des Films, in: Eva HOHENBERGER/Judith KEILBACH (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, 230–246.
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sein mögen. – Weshalb die HistorikerInnen beginnen, ihnen und ihrer materiellen Umwelt ihre Sprache zu leihen.26 Worin liegt aber nun der ausgezeichnete Charakter des Films? Er liegt, so Rancière, in der Verbindung eines intentionalen mit einem automatischen Prozess, der das Problem der Konventionalität der Zeichen, das heißt, deren zumindest lose Bindung an sprachliche Akte der Vorbedeutung, und damit eine der Aporien der romantischen Theorie der Gemeinschaft aufhebt. Mit dem Film kann die Ästhetik zu Erkenntnis stiftenden Bildern vordringen, die von vorgängigem Wissen abgelöst sind; wenngleich der Film aus Gründen der vorgefundenen Plausibilitätsstrukturen immer wieder zum poetischen Verfahren, zur Verknüpfung von Bildern und Geschichten nach der Logik des Zwecks zurückkehrt. Und dennoch insistiert das Filmbild der ästhetischen Logik noch in der strengsten Erzählökonomie.27 »Eine durchkreuzte Fabel« nennt Rancière an anderer Stelle diesen Hiatus zwischen der Konvention der Form und der Resistenz der Bilder28, und er meint damit zwei Aspekte zugleich: Die Annullierung der determinierenden Kraft der Narration – der Fabel als Konstruktionsmodalität – durch den (möglichen) Eigensinn des Bildes, und die Brechung des utopischen Denkens des »reinen« filmischen Bildes – der Diskurs als Fabel – durch dessen notwendige Vermischung mit sprachbasierten Modellen des Verstehens. Daran schließt der Vorschlag für eine neue Filmgeschichte an: »[…] es wäre interessant, die ›Filmgeschichte‹ als Geschichte der Konflikt- und Verflechtungslinien zwischen zwei Logiken, der poetischen und der ästhetischen, zu schreiben.«29
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Vgl. Jacques RANCIÈRE, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt/Main 1994. Vgl. die Beschreibung der erstmaligen Begegnung der Protagonisten Keechie und Bowie in Nicolas Rays »They Live by Night« (USA 1947) in Jacques RANCIÈRE, Film Fables, Oxford–New York 2006, 95–98; Keechies androgyne Erscheinung bricht die Logik des Plots des Road-Movies. Sie hält einen Moment fest, der ein neues Verhältnis der Geschlechter, gebannt im liminalen Raum der Adoleszenz, hervortreten lässt. Auch wenn das unmittelbare Bild des Realen sozusagen einen »Idealtypus« bildet, so kann selbst innerhalb einer fiktionalen Geschichte eine besondere Form von Montage der optisch-akustischen Welt einem »inszenierten« filmischen Einzelbild seinen Wirklichkeitsgehalt rückerstatten. Vgl. den Kommentar zu »Au hasard Balthazar« (Frankreich 1966) von Robert Bresson in Jacques RANCIÈRE, Politik der Bilder, Berlin 2005, 10–13. RANCIÈRE, Geschichtlichkeit, 243f.
IVANA ČORNEJOVÁ
Die Jesuiten in der heutigen tschechischen Gesellschaft Die Tschechen behaupten gern von sich, sie seien das atheistischste Volk Europas, ja vielleicht sogar der ganzen Welt. Ich hingegen glaube, dass diese Behauptung einen typischen Wesenszug unserer nationalen Mentalität offenbart: nämlich das selbstkasteiende Bestreben, die Allerschlimmsten zu sein. Wahr ist, dass die nationalistisch motivierte Abwendung von der Katholischen Kirche bereits in der Nationalbewegung im 19. Jahrhundert Erfolge feierte und dass die evangelischen Kirchen stets eine geringere Mitgliederzahl aufwiesen. In der Ersten Republik war der Katholizismus und der Kirchbesuch an Sonn- und bedeutenden Feiertagen eher eine gesellschaftliche Angelegenheit. Unter dem kommunistischen Regime ließen Verbote und Repressalien einerseits das bemerkenswerte Phänomen der Untergrundkirche entstehen, machten andererseits aber dem größten Teil der Bevölkerung nicht viel aus. Im übrigen war die Teilnahme am Gottesdienst, waren Kindstaufen oder kirchliche Trauungen in der Zeit des Kommunismus nie verboten, sie konnten jedoch für das berufliche Weiterkommen hinderlich sein. Möglicherweise ist die tschechische Gesellschaft heute sogar etwas weniger atheistisch als die österreichische. Wesentlich schlechter sieht es allerdings mit den Kenntnissen über kirchliche Fakten aus, mit dem Bewusstsein von Funktion und Auftrag der Kirchen und der katholischen Orden. Hier liegt die Schuld in der Tat beim vergangenen kommunistischen Regime, das all diese Angelegenheiten in die Sphäre unangebrachter Obskurität verbannte. Die jahrzehntelange Verheimlichung grundlegender Informationen trug zu einer fast völligen Desorientierung im Christentum als solchem bei. Nicht anders verhält sich dies im Fall der Jesuiten.1 Die Mehrheitsgesellschaft nimmt die Jesuiten heute eher unbewusst als etwas Negatives wahr, wohingegen die offizielle Bezeichnung des Ordens als Gesellschaft Jesu – Societas Iesu – ein weitgehend unbekannter Begriff ist. 1
Die Internetadresse der tschechischen Jesuiten lautet: http//www.jesuit.cz (9. 7. 2012); hier findet man einerseits eine kurze Geschichte des Ordens in der einstigen, 1623 gegründeten Böhmischen Provinz, andererseits eine Geschichte der »neuen« Gesellschaft Jesu nach ihrer erneuten Ankunft in Mitteleuropa nach der Mitte des 19. Jahrhunderts einschließlich einer Schilderung der Verfolgungen, die deren Mitglieder in der Nazizeit und unter den Kommunisten ausgesetzt waren, sowie Informationen über den gegenwärtigen Zustand der Provinz.
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Ich erinnere mich, dass, als man 2006 das Jubiläum des Hl. Ignatius von Loyola, des Hl. Franz Xaver und der Ankunft der Jesuiten in Böhmen beging, eine keineswegs ungebildete Dame bei der Ankündigung durch den Provinzialen der Gesellschaft Jesu fragte, ob es sich hierbei um eine Sekte handle. Dies stimmt eher traurig, denn die jetzt in der Tschechischen Republik wirkenden Jesuiten sind ein moderner Orden, der bestimmt jeden anzusprechen vermag, der Interesse dafür zeigt. Nichtsdestoweniger gehören »Jesuit« und »jesuitisch« immer noch zu den negativ konnotierten Begriffen, zumindest im Journalistenjargon und dem monströsen Wortschatz der Politiker. Die Begriffe »jesuitisch« oder »Jesuitismus« sind eindeutig und, wie ich meine, auch völlig unreflektiert allem Niedrigen, Gemeinen und Perfiden im menschlichen Verhalten zugeordnet. Eine ebenso »souveräne« Stellung kommt dem eifrigen Missionar des 18. Jahrhunderts, dem Jesuitenpater Antonín Koniáš zu, dessen Nachname nicht nur zum Synonym für Schädlinge intellektuellen Bemühens wurde, sondern auch auf die Ebene eines Schimpfworts sank, zur Bezeichnung der kulturlosen Vernichter der Werke anderer Autoren und all jener dient, die der Entwicklung der Literatur im allgemeinen und der tschechischen im besonderen schaden.2 Nicht näher eingehen werde ich auf die Vorkommnisse, wenn Journalisten diesen oder jenen mit »Koniáš« titulierten. Allein die Aufzählung derartiger Koniáš-Belege würde viel Platz erfordern und eine detaillierte Untersuchung dieser Vorkommnisse wäre auch ganz sicher unnütz. Ob wir es wollen oder nicht: jener eifrige Pater Antonín Koniáš bleibt wohl für immer ein negatives Symbol der Jesuiten in Böhmen, und es scheint ganz so, als ob selbst die gelungensten sachkundigen Studien ihn nicht von diesem ungebührlichen Stigma befreien können.3 Die Koniáš sind und bleiben all jene, die die Unwahrheit verkünden und versuchen, ihre Leser zu täuschen und zu indoktrinieren. Nur fürchte ich, dass keiner von denen, die den Terminus »Koniáš« verwenden, überhaupt weiß, wovon er spricht. Aus alledem kann man folgern, dass unsere heutige Gesellschaft zwar den Namen Koniáš kennt, doch nur wenige Näheres über den Orden wissen, zu dem Antonín Koniáš gehörte. Und noch ein Name aus den Reihen der tschechischen Jesuiten dürfte auch den 2
3
Um eine Rehabilitierung des Koniáš’schen Werkes waren führende tschechische Sprach- und Literaturwissenschaftler bemüht. Genannt seien vor allem Alexandr STICH, vor allem seine schöne Studie zu Koniáš’ Beitrag zur tschechischen Literatur: Následující velikonoční text (Antonín Koniáš) [Der folgende Ostertext (Antonín Koniáš)], Literární noviny, 8. 4. 1993. Mit Pater Koniáš hat sich am meisten und am kompetentesten neben Alexandr Stich Martin SVATOŠ befasst: Ad vocem Koniáš, in: Dějiny a současnost 24 ( 2002) 1, 55–56; Jezuitské elogium P. Antonína Koniáše, Szersznikův bio-bibliografický medailon a jeho vliv na misionářův obraz v české literární historii [Das jesuitische Elogium des P. Antonín Koniáš, Szerszniks bio-bibliografisches Medaillon und sein Einfluss auf das Bild des Missionars in der tschechischen Literaturgeschichte], in: Listy filologické 125 (2002) 1–2, 33–51.
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Nicht-Historikern gewärtig sein: Bohuslav Balbín. Er wird, entgegen den Ergebnissen der in den letzten Jahren erschienenen Fachliteratur, des öfteren noch immer als eine Art Anomalie begriffen, nämlich als »gebildeter« Jesuit – als ob Bildung, neben anderen Aufgabengebieten, nicht eines der grundlegenden Kennzeichen des Jesuitenordens sei! Dennoch beginnt auch heute noch, nachdem insbesondere in den letzten zwanzig Jahren die Kenntnisse über die Geschichte der Gesellschaft Jesu beträchtlich erweitert werden konnten, eine wissenschaftliche Arbeit mit einem etwas anachronistischen und scheinbar provozierenden Ausspruch, dessen Auflösung in einer hinkenden polemischen Figur geboten wird: »Die Vorstellung eines Jesuiten, der Griechisch lernt, die rhetorischen Prinzipien Quintilians studiert, mit Vorliebe in den Schriften Ciceros liest und Verse in den verschiedensten antiken Versmaßen dichtet, ist in der tschechischen Gesellschaft so ungewöhnlich, dass sie eher den Eindruck erweckt, es handle sich dabei um die Ironie des Urhebers eines solchen Bildes. Und doch ist dieses Bild wahrheitsgetreu.«4
Diese Feststellung hätte ihren Platz wohl eher in einer populär angelegten Apologie, in einem wissenschaftlichen Werk hat sie nichts zu suchen – dies um so weniger, als jeder, der zumindest ein wenig mit der Problematik vertraut ist, weiß, dass die vom Verfasser angeführten Symptome der »Gelehrsamkeit« ab dem 16. Jahrhundert bereits von Gymnasiasten erworben wurden (und keineswegs nur von Schülern der Jesuitengymnasien!). Besonders beflissene Leser interessiert möglicherweise die negative Haltung gegenüber den Jesuiten sowie »Belehrungen« der neueren und neuesten Literatur. Ich gestehe, dass mir bei der Lektüre von Neuerscheinungen dieser Art mitunter der Verstand stehen bleibt. So geschehen etwa im Falle der umfangreichen Publikation »Tajné dějiny jezuitů« (Die geheime Geschichte der Jesuiten), die ein gewisser Adonai-Verlag herausgegeben hat.5 Angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die dieses Buch enthält, verschlägt es dem nüchternen, informierten Leser zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor Entsetzen die Sprache.6 An der Schwelle dieses so oft gepriesenen 21. Jahrhunderts enthält besagte Publikation Ansichten, die zum einen mit den sogenannten »Geheimen Vorschriften« (Tajnými předpisy) harmonieren, zum andern die verschiedensten Dummheiten buchstäblich zusammenkleistern (ganz so wie in einem Märchen von Karel Čapek, dessen Protagonisten Hündchen und Kätzchen eine Torte backen). Der Grund, weshalb ich nur einige der augenfälligsten Stumpfsinnigkeiten anführe, ist einzig und allein der Umstand, 4 5 6
Petr POLEHLA, Jezuitské divadlo ve službě zbožnosti a vzdělanosti [Das Jesuitentheater im Dienst von Frömmigkeit und Bildung], Červený Kostelec 2011, 9. Tajné dějiny jezuitů [Die geheime Geschichte der Jesuiten], Praha 2001, 753 S. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass ich mit meiner negativen Erwähnung dieser Publikation eigentlich Reklame für dieses Buch mache. Man verstehe meinen Einwurf deshalb bitte strikt als Ablehnung dieses Machwerks!
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dass ich der Meinung bin, der Leser möge mit jenem Stumpfsinn, den die Druckerschwärze gerade noch zu ertragen in der Lage ist, bekannt gemacht werden. Außer den »obligatorischen« Verweisen, dass die Jesuiten hinter den Morden sämtlicher Könige und anderer mächtiger Herrscher dieser Welt gestanden haben, erfährt der Leser zu seinem Erschüttern, dass Mitglieder der Gesellschaft Jesu hinter jeglicher Verschwörung standen, an Geheimbünden beteiligt waren, um sich schließlich mit Hilfe internationaler Organisationen in die Dienste von Taliban, Hamas oder Hisbollah zu begeben. Genau so steht es schwarz auf weiß in diesem Buch. Allerdings weiß ich nicht, welches Echo diesem Buch in unserer Gesellschaft beschieden war, und ich weiß auch nicht, ob es irgendwelche Reaktionen von privater Seite gab. Ich denke nicht, dass solche Texte eine Art neuer Aversion gegen die Jesuiten oder die Kirche wecken können. Und genauso wenig glaube ich, dass Menschen, die den neuesten Roman von Umberto Eco lesen7, von Hass gegen die Mitglieder der Gesellschaft Jesu erfüllt werden. Der Roman ist sicherlich als literarisches Werk interessant, doch fürchte ich, dass er nicht allzu gut lesbar ist. Die ekstatische Schilderung der jesuitischen Perfidie ist, wie Eco selbst zugibt, einem Werk Eugène Sues entnommen. Umberto Eco definiert seinen Zugang zur Geschichte als unhistorisch, aber sein Befund ist teilweise als historisch völlig adäquat zu betrachten. Obwohl Eco in Italien auf kritische Ablehnung durch Kirchenvertreter stieß8, glaube ich nicht, dass er sich Gotteslästerung und antikatholische Verleumdung hat zuschulden kommen lassen. Er ahmt hier lediglich getreu die Literatur des 19. Jahrhunderts nach, die ihre Feinde gern in den Juden und in den traditionell am leichtesten angreifbaren Repräsentanten der Katholischen Kirche fand – eben in den Jesuiten. Ich gehe davon aus, und wohl nicht zu Unrecht, dass Ecos Roman nur Intellektuelle lesen werden, die sich von den erwähnten Passagen nicht inspirieren lassen. Auch in mehreren Filmen hat man in der tschechischen Gesellschaft der Jesuiten gedacht.9 Die größte Aufmerksamkeit verdient zweifellos das Werk des nonkonformen Regisseurs Otakáro Maria Schmidt mit dem Titel »Die Jesuiten. Wir sind keine Engel, aber besorgen ihre Arbeit« und dem Untertitel »Macht und Geheimnis der Jesuiten«.10 Hierbei 7 8 9
10
Umberto ECO, Pražský hřbitov, Praha 2011 (italienische Originalausgabe: Il cimitero di Praga, Milano 2010; deutsche Ausgabe: Der Friedhof in Prag, München 2011). Eine detaillierte, mit der Sache vertraute Deutung liefert der tschechische Übersetzer Jiří PELÁN, in: ECO, Pražský hřbitov, 451–456. Rundfunksendungen lasse ich hier beiseite, möchte aber daran erinnern, dass ein bedeutender Redakteur der Kirchensendungen des Tschechischen Rundfunks jahrelang der Jesuit Petr Kolář war, der sich sogleich nach seiner Rückkehr aus der Emigration intensiv dafür zu engagieren begann, die breite Öffentlichkeit mit einer modernen Auffassung der Katholischen Kirche bekannt zu machen. Otakáro Maria SCHMIDT, Jezuité. Nejsme andělé, ale děláme jejich práci. Moc a tajemství jezuitů [Die Jesuiten. Wir sind keine Engel, aber besorgen ihre Arbeit.
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handelt es sich um einen Dokumentarfilm von hoher Qualität. Das Drehbuch schrieben Mitglieder des Jesuitenordens, vor allem der jüngsten Generation, die auch selbst im Film auftreten. Der Film macht den Zuschauer kurz mit der Ordensgeschichte bekannt und erklärt prägnant die Grundregeln des Lebens in dieser kirchlichen Gemeinschaft. Vor den Augen des Zuschauers ziehen die interessantesten älteren Jesuiten vorbei, unter anderem der erst jüngst verstorbene Kardinal Pater Špidlík, oder der einstige Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag, Pater Ambruster, der nach seiner Ausweisung aus der Tschechoslowakei im Jahre 1948 bis 1989 an der Universität Kyoto wirkte. Auch der Hinweis auf die Engel wird begründet, denn die Jesuiten halten sich natürlich nicht für überirdische Wesen. Der Filmtitel evoziert lediglich eine Sentenz, die Kardinal Špidlík, einem Experten für die Ostkirche, zufolge deren Mönche vertreten hatten: Engel sind Boten und auch die Ordensmitglieder sollen solche Boten sein. Für außerordentlich gelungen halte ich vor allem die Interpretation des Wesens der Exerzitien, der geistlichen Übungen des Hl. Ignatius von Loyola. Ein junger Jesuit erklärt sie und ihren die Jahrhunderte überdauernden Sinn mit Übersicht, Verständnis und Esprit. Und schließlich machen sich die jungen Ordensmitglieder mit den Engeln einen Spaß, indem sie, mit Schaufel und Besen gewappnet, die von Engelsflügeln abgefallenen Federn beseitigen … Der Engel, in diesem Falle eher ein Engelchen, ist ein sehr reizendes junges Mädchen, das den Zuschauer den ganzen Film über begleitet. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie viele Menschen dieses interessante Dokument gesehen haben, fürchte, dass es ihrer nicht viele waren und dass dieser fesselnde Film das Wissen über den Jesuitenorden kaum verbreitet haben dürfte. Neben Schmidts expressivem Werk gab es auch Filmdokumente zu verdienten Jesuiten der älteren Generation zu sehen. Hier gilt der Fernsehsendung über Pater Josef Cukr unsere Aufmerksamkeit; Pater Cukr, ein an mehreren europäischen Universitäten ausgebildeter Mann, war sowohl unter den Nazis als auch unter den Kommunisten inhaftiert.11 Doch auch in diesem Fall ist zu bezweifeln, dass dieser Film auf größeres Publikumsinteresse stieß.
11
Macht und Geheimnis der Jesuiten], DVD, 59 min., JCJ Production – Česká televize 2006. Der Untertitel erinnert an das gleichnamige Werk des bemerkenswerten Schriftstellers René FÜLÖP-MILLER, Macht und Geheimnis der Jesuiten, Leipzig 1929, das erst lange nach seiner Entstehung ins Tschechische übersetzt wurde und danach mehrere Neuauflagen erlebte (Moc a tajemství jezuitů, übersetzt von Vladimír Čadský, Praha 2000). »Jezuité« ist Otakáro Maria Schmidts erster Dokumentarfilm in einem Zyklus über die Angehörigen von Kirchenorden, der im Jubiläumsjahr 2006 entstand; das Drehbuch schrieben Jan Regner, Petr Vacík, Miroslav Herold und Otakáro Maria Schmidt. Die drei Erstgenannten sind Mitglieder des Jesuitenordens. Der Film ist unter der Internetadresse http://www.ceskatelevize.cz/porady/10204 458965-neznami-hrdinove/210452801390004/ (9. 7. 2012) zugänglich.
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Weitaus besser sieht es mit der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte des Jesuitenordens aus. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es systematische Untersuchungen zur Geschichte der Gesellschaft Jesu. Als sehr fruchtbar erweist sich hierbei unter anderem die Arbeit von Forschergruppen im Zentralarchiv der Jesuiten in Rom, dem Archivum Romanum Societatis Iesu (ARSI). Erst hier wird sich der Forscher bewusst, wie gründlich die Arbeit der Ordensmitglieder mit dem schriftlichen Material in der Vergangenheit war. Auch in den Archiven der Tschechischen Republik hat sich zwar eine ganze Reihe wertvoller Schriften erhalten, aber in Rom wurde alles Wichtige zusammengetragen. Ein Studium der Materialien im ARSI ermöglicht einen Vergleich mit »einheimischem« Material und bietet die Möglichkeit, den Fortschritt der Arbeit mit dem schriftlichen Material innerhalb des Ordens darzulegen. Als ich 1995 ein Buch über die Geschichte der Gesellschaft Jesu in Böhmen herausgab, war dies in gewisser Weise eine mutige Entscheidung.12 Denn erst jetzt sehe ich, sozusagen aus der Retrospektive, welche Mängel das Buch aufweist, und heute würde ich dieses Buch wohl kaum in der ursprünglichen Form in Druck geben, gerade wegen der Menge an Informationen, über die ich nach weiterem Studium am ARSI verfüge. Mit Freude sehe ich, dass die Geschichte der Jesuiten jetzt intensiv von Kolleginnen und Kollegen der mittleren und jüngeren Generation betrieben wird. Nicht nur die Geschichte des Jesuitenordens erfreut sich großen Interesses, sondern die Geschichte der kirchlichen Orden in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg überhaupt. Untersucht werden administrative und organisatorische Aspekte, die Stellung der Orden und ihrer Mitglieder in der Gesellschaft, auch ihre literarische Tätigkeit in drei Sprachen (Latein, Deutsch, Tschechisch) und in den verschiedenen Gattungen wecken das Interesse. Im Rahmen mehrerer Projekte gelang es, Forscher auf dem Gebiet der Kirchengeschichte zusammenzuführen, ohne dass deswegen eine neue Institution, ein neues wissenschaftliches Institut geschaffen werden musste. Die Frucht dieser Bemühungen waren vor allem drei Konferenzen, deren Referate jeweils in einem Sammelband erscheinen sollten. Am Ende waren es nur zwei Sammelbände. Der letzte Konferenzband musste im Rahmen einer »innovativen« Wissenschafts- und Forschungspolitik in Zeitschriftenform publiziert werden, denn Konferenzsammelbände wurden von unseren vorgesetzten Wissenschafts-»Direktoren« aus dem Repertoire jener Publikationen verbannt, die »Punkte« einbringen.13 12 13
Ivana ČORNEJOVÁ, Tovaryšstvo Ježíšovo. Jezuité v Čechách [Die Gesellschaft Jesu. Die Jesuiten in Böhmen], Praha 1995. Úloha církevních řádů při pobělohorské rekatolizaci [Die Rolle der Kirchenorden bei der Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg]. Sborník příspěvků z pracovního semináře konaného ve Vranově u Brna ve dnech 4.–5. 6. 2003, Praha 2003; Locus pietatis et vitae. Sborník příspěvků z konference konané v Hejnicích ve dnech 13.–15. 9. 2007, Praha 2008; Folia historica Bohemica 26 (2011) 1–2 – Beiträge
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Ein im Umfang ganz außerordentliches Unterfangen stellte die im Jubiläumsjahr 2006 in Prag veranstaltete internationale Konferenz dar, mit der nicht nur an das Todesjahr des Hl. Ignatius von Loyola und des Hl. Franz Xaver erinnert werden sollte, sondern auch an die Ankunft der ersten Mitglieder der Gesellschaft Jesu in Prag. Es handelte sich hierbei nicht nur um ein internationales, sondern auch um ein interdisziplinäres Symposion, an dem Theologen, Historiker, Philosophen, Sprachwissenschaftler, Literatur- und Kunsthistoriker teilnahmen. Diese Veranstaltung rief in Fachkreisen ein sehr positives Echo hervor, und auch die breite Öffentlichkeit wurde darüber informiert.14 Gleichzeitig gab es im Prager Klementinum eine Ausstellung über das Wirken des Ordens in diesem seinem ältesten Zentrum sowie über die Tragweite seiner Tätigkeit vor 1773.15 Die Ausstellung lockte sehr viele Besucher an, was vielleicht auch mit der Eröffnung der neuen Galerie Klementinum zusammenhing. Ich möchte aus meinem Beitrag keine kommentierte Bibliografie machen, aber zum Abschluss seien doch einige neuere Titel erwähnt, die in der Tat eine Bereicherung darstellen. Kateřina Bobková-Valentová hat sich systematisch mit dem Ordensschulwesen befasst und einen sehr komplexen Einblick in den gymnasialen Lernstoff geboten, schließlich hat sie auch eine präzise Edition der in den sogenannten consuetudines pro asistencii Germania enthaltenen Instruktionen vorgelegt.16 Karel Černý und Jiří Havlík thematisierten die Tätigkeit der Jesuiten während der Pestepidemien in den Jahren 1679–1713.17 Beide widmeten sich dann auch einzeln der Jesuitenforschung: Černý ist Verfasser von Arbeiten über die Ordensmedizin und die Beziehung der Jesuiten zu den (sogenannten exakten) Wissenschaften. Und auch unter den derzeitigen jungen Ordensmitgliedern der tschechischen Provinz befinden sich gelehrte Historiker.18 Mit der in lateinischer Sprache verfassten Jesuitenliteratur befasst sich intensiv Martin Svatoš, einer der besten Kenner des Barocklatein überhaupt.19
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der vom 20.–22. 9. 2010 in Vranov bei Brünn abgehaltenen Konferenz »Locus pietatis et vitae II«. Petronilla CEMUS in cooperatione cum Richard CEMUS (Hg.), Bohemia Jesuitica 1556–2006, 2 Bände, Praha 2010. Der Katalog erschien in tschechischer und englischer Fassung: Alena RICHTEROVÁ/ Ivana ČORNEJOVÁ (Red.), Jezuité a Klementinum (The Jesuits and the Clementinum), Praha 2006. Kateřina BOBKOVÁ-VALENTOVÁ, Každodenní život učitele a žáka jezuitského gymnázia [Der Alltag eines Lehrers und Schülers am Jesuitengymnasium], Praha 2006; DIES. (Hg.), Consuetudines Assistenciae Germaniae I, Praha 2011. Karel ČERNÝ/Jiří HAVLÍK, Jezuité a mor [Die Jesuiten und die Pest], Praha 2008. Erinnert sei an P. Miroslav Herold, der sich mit dem Hl. Johannes Nepomuk und der Geschichte der Jesuiten in Klattau (Klatovy) beschäftigt; P. Petr Havlíček untersucht vor allem die Geschichte der tschechischen Jesuiten im 20. Jahrhundert. Eine vollständige Bibliografie seiner Arbeiten findet sich auf der Website: http:// www.ics.cas.cz/ (9. 7. 2012).
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Eingangs meinte ich, dass die Jesuiten in unserer modernen Gesellschaft immer noch mit etwas Negativem in Verbindung gebracht werden, doch vielleicht ist dem gar nicht so und die negative Wertung der Orden ist tatsächlich nur ein Journalistenklischee. Die Jesuiten sind jetzt gefragte Beichtväter, in Brünn ist ein Jesuit als Studentenkaplan tätig. Als eines der ersten Bibliothekssuchprogramme wurde in der Stadtbibliothek Prag schon in den 1990er Jahren das Programm Koniáš entwickelt. Diesmal freilich Koniáš in positiver Konnotation, denn die Bibliothekare wussten es zu schätzen, dass Pater Antonín nicht nur einer war, der »sündige« Bücher konfiszierte und vernichtete, sondern der mit seinem Index, dem berühmten Clavis, das erste gründliche Verzeichnis von Drucken schuf.20 Der Laienspielverein Lauriger inszeniert auf professionellem Niveau ursprünglich jesuitische Schuldramen, und zwar in lateinischer wie tschechischer Fassung, und erfreut sich regen Publikumszuspruchs. Und schließlich: Anfang Dezember 2011 wurde in Klatovy (Klattau) die wiedererrichtete Krypta mit den mumifizierten sterblichen Überresten (aus den berühmten Klattauer Katakomben) feierlich eröffnet, begleitet von einer Ausstellung über die Ordensgeschichte. In den ersten beiden Tagen nach der Eröffnung wurde die unglaubliche Zahl von fünfeinhalbtausend interessierten Besuchern gezählt.21 Übersetzung: Wolf B. Oerter
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Antonín KONIÁŠ, Clavis haeresim claudens et aperiens, 1. Auflage, Hradec Králové 1729. Eingehende Informationen unter: http://www.katakomby.cz/ (9. 7. 2012).
GERMAIN WEBER
Ob Geschichte geschrieben wird? Überlegungen zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen1 Hintergründe zurückliegender politischer, gesellschaftlicher und kultureller Geschehnisse bzw. Veränderungen aufzudecken, miteinander in Zusammenhang zu bringen, zu ergänzen, neu zu beleuchten, dürfte wohl eine der nobelsten Aufgaben von Historikern sein. Möglicherweise werden auch die gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen des am 13. Dezember 2006 von der UN-Vollversammlung beschlossenen Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen2 in den kommenden Jahrzehnten solch ein relevantes, neues sozialgeschichtliches Forschungsfeld darstellen. Dass ein Psychologe sich zu diesem Thema äußert und die Frage einer möglichen zukünftigen Forschungsrelevanz aus historischer Perspektive aufzeigt, könnte selbst zu einer Frage werden. Wie kommt man aus dem Fach Psychologie zu dieser gesellschaftspolitischen Thematik? Traditionell beschäftigt sich die Psychologie mit der Ergründung emotionaler, motivationaler und kognitiver Prozesse auf der individuellen Ebene sowie mit Prozessen in und zwischen Gruppen. Dabei liegt ein Anwendungsbereich in der retrospektiven Analyse von Erlebens- und Verhaltensstrukturen und deren Zusammenhang mit biologischen Prozessen und Strukturen sowie in Relation zu sozialen und kulturellen Kontexten. Traditionsgemäß besteht zwischen Geschichte und Psychologie ein Naheverhältnis, wenn es um die Aufarbeitung und Analyse von Biografien historischer Persönlichkeiten geht. Über solche Analysen versuchen wir beispielsweise ein zusätzliches Verständnis für nachhaltige Entscheidungen zu gewinnen. 1
2
Der folgende Beitrag ist nicht als wissenschaftlicher Text konzipiert. Vielmehr wird zu informieren beabsichtigt, dies im Sinne eines Plädoyers zu einem nicht unwichtigen Sachverhalt, der letztlich uns alle betrifft. Ich denke, für eine Festschrift lässt sich dieses Format vertreten! Convention on the Rights of Persons with Disabilities, http://www.un.org/disabilitie s/convention/conventionfull.shtml (10. 8. 2012). In Österreich wurde die Konvention nach der Ratifikation am 26. September 2008 am 23. Oktober 2008 in deutscher Übersetzung kundgemacht (BGBl. III Nr. 155/2008). Vgl. http://www.ris.bk a.gv.at/ Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2008_III_155/COO_2026_100_2_483536.pdf (10. 8. 2012).
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Neben einem vor allem retrospektiv angelegten Ansatz bemüht sich Psychologie darüber hinaus und durchaus erfolgreich um die Vorhersage zukünftiger Erlebens- und Verhaltensreaktionen, dies unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus »historischer«, retrospektiv-psychologischer Forschung. So kann beispielsweise die primäre Ursache einer massiven Verhaltensproblematik, wie es das Selbstverletzungsverhalten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung darstellt, auf Grund einer umfassenden Bedingungsanalyse auf die sozialen Kontexte zurückgeführt werden. Ein Leben in strukturellen Rahmenbedingungen, die mit einem hohen Risiko für persönliche Benachteiligung und Missbrauch verbunden sind – wie dies beispielsweise aus von früher bekannten Aufbewahrungseinrichtungen für behinderte Menschen der Fall ist –, können zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der erwähnten Verhaltensstörung führen. Gemäß unserem heutigen Erkenntnisstand würde in diesem Fall eine Intervention auf eine Veränderung der ungünstigen, ja schädlichen sozialen und strukturellen Kontextfaktoren hinarbeiten. Jedenfalls wäre in diesem konkreten Fall eine primär psychologische Intervention nicht indiziert. An Hand dieses Beispiels lassen sich einige der dringend zu stellenden Fragen zur Situation von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft rasch ableiten, und gleichzeitig sind Antworten zu diesen Fragen gefordert. Wie ist unsere gesellschaftliche Konzeption von Behinderung? Wie hat sich diese entwickelt? Wie sieht das Verhältnis der gesellschaftlichen Konzeption – also »wie ich Behinderung denke« – zu den vorzufindenden Strukturmerkmalen bzw. inhaltlichen Programmen und Maßnahmen in der Behindertenarbeit aus? Wie wirken sich letztere wiederum auf die persönliche Entwicklung des einzelnen Menschen mit Behinderung aus? Wenn es um die Aufarbeitung von länger zurückliegenden Missbrauchsereignissen in Behinderteninstitutionen geht und deren bleibenden traumatischen Folgen zu thematisieren sind, finden sich nicht selten Historiker und Psychologen in den zuständigen Kommissionen. Behinderung im Widerspruch zu Freiheit und Recht Das Modell, das sich in der Behindertenarbeit seit Jahrzehnten in unseren Gesellschaften gefestigt hat, ist durch eine karitative Grundhaltung charakterisiert, orientiert sich vorwiegend an einem medizinischen Modell der Behinderung, und die handlungsethische Maxime der pflegenden Umwelt ist, sich zum Wohle des behinderten Menschen zu verwenden. In den Lebensumwelten, die auf dieser Grundlage entstanden und in diesem Sinne geführt worden sind, war wenig Raum für individuelle Autonomie und Unabhängigkeit der betreuten Menschen mit Behinderungen. In diesen Lebenswelten war die Freiheit typischerweise sehr eingeschränkt bis hin zu jener, eigene Entscheidungen über die einfachsten Dingen des Alltags treffen zu können. Diese für Menschen
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mit Behinderungen typische, fremdbestimmte Lebenssituation, mit all ihren Benachteiligungen und Diskriminierungen und den damit verbundenen Einschränkungen in der persönlichen Entwicklung, ist gesellschaftlich lange nicht in Frage gestellt worden. Die Freiheiten und Personenrechte, die wir heute an vielen Orten als selbstverständlich erleben dürfen, werden häufig auf den im Zeitalter der Aufklärung aufkommenden Diskurs zu Toleranz bzw. zur persönlichen Handlungsfreiheit zurückgeführt. Weiter wird in diesem Zusammenhang oft auf die Errungenschaften der Französischen und Amerikanischen Revolution verwiesen, die mit ihren radikalen Ansätzen zu individueller Freiheit und Gleichheit das gängige Verständnis der sozialen Ordnung herausforderten. Auch das Konzept des Naturrechtes wurde in dieser Zeit mit einer rechtspolitischen Betrachtungsweise des Begriffs neu belebt und wirkte sowohl auf die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 als auch später dann 1948 auf die Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Menschen mit Behinderungen wurden allerdings in diesen Zeiten und Entwicklungen eigentlich nicht als Träger solcher Rechte und Freiheiten betrachtet. Ganz im Gegenteil wurden für Menschen mit Behinderungen rechtliche Instrumente geschaffen, die deren personenbezogenen Freiheiten eingeschränkt haben; mit gesetzlichen Bestimmungen wurden ihnen Rechte genommen. Der Hintergrund und die Motivation hierfür war durchaus ein fürsorglicher: behinderte Menschen verdienten besonderen »Schutz«. Tatsächlich sind diese rechtlichen Bestimmungen in weiterer Folge mit vielfältigen Formen der Benachteiligung und Diskriminierung der »geschützten« Personen einhergegangen. Einhergehend mit den gesellschaftlichen Konzeptionen individueller Freiheiten, lässt sich in der psychologischen Theoriebildung eine Auseinandersetzung über das Thema des »Selbst« feststellen. In diesem Kontext sind die theoretischen Beiträge zur Entwicklung des Selbst, des Selbstwertes, des Selbstkonzeptes bzw. der Selbstverwirklichung anzuführen. Eine überwältigende Fülle empirischer Ergebnisse zu diesen Modellen belegen, wie die individuelle Auseinandersetzung mit den jeweiligen Umweltfaktoren den einzelnen Menschen in seinen Entwicklungspotentialen beeinflusst. Solche Erkenntnisse wurden erst sehr spät für Menschen mit Behinderungen, insbesondere für jene mit intellektuellen Beeinträchtigungen, fruchtbar diskutiert. Die Entwicklung der Behindertenkonvention kann unter anderem vor diesem Hintergrund gesehen werden. Zentrale Elemente der Konvention Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, mit ihrer zentralen Aussage, dass alle Menschen gleiche Rechte besäßen, hat sich in den darauffolgenden Jahrzehnten für Menschen mit Behinderungen nicht als wirksam erwiesen. Menschen mit Behinderungen wurden als unterstützungsbedürftig gesehen und weiterhin im Rahmen von
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Wohlfahrtsprogrammen fremdbestimmender Aufsicht unterworfen. Es zeigt sich somit, dass in den 50 Jahren nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte »Menschen mit Behinderungen und die Frage der Barrierefreiheit von Menschenrechten wenig Beachtung gefunden haben«.3 Aus dieser Nichtrealisierung, gepaart mit der Erkenntnis, dass über 80 Prozent der Menschen, die weltweit in Armut leben, von Behinderungen direkt oder indirekt betroffen sind, entstand über eine Reihe von Vorläufer-Instrumenten, die aber allesamt in ihrer Wirkung für Menschen mit Behinderungen enttäuschend waren, auf Initiative einiger Staaten im Jahre 2001 der Vorschlag, auf UN-Ebene eine gesonderte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. Mit dieser neuen, schließlich 2008 in Kraft getretenen Konvention sollen die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie die Bekämpfung der Armut – eine seit vielen Jahren verfolgte Zielsetzung der UN – wirkungsvoll gefördert werden. Die Behindertenkonvention enthält keine neuen Rechte und keine Rechte, die über jene der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hinausgehen. Die Konvention präzisiert vielmehr diese Rechte in Bezug auf Menschen mit Behinderungen und sieht vor, dass mit der Ratifikation durch die nationalen Parlamente die Bestimmungen der UN-Konvention verbindlich in nationales Recht zu überführen sind – ein entscheidender Unterschied zur Erklärung von 1948. Der jeweilige Vertragsstaat verpflichtet sich, ein System zur innerstaatlichen Durchführung und Überwachung aufzubauen. In Österreich wurde diese Aufgabe per Gesetz dem Unabhängigen Monitoringausschuss zugewiesen, der sich am 10. Dezember 2008 konstituiert hat.4 Weiter wurde auf UN-Ebene ein Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingesetzt (Behindertenausschuss), an den die Vertragsstaaten zwei Jahre nach Inkrafttreten der Konvention, und in weiterer Folge vierjährig, einen umfassenden Regierungsbericht liefern. Dieser nationale Bericht enthält jene Maßnahmen und die Fortschritte, die im Sinne der Verpflichtungen aus der Konvention erzielt werden konnten. In einem sogenannten Schattenbericht legt die Zivilgesellschaft des jeweiligen Staates ihre Sicht der Entwicklungen dar. Der UN-Behindertenausschuss reagiert innerhalb von zwei Jahren auf diese nationalen Berichte. Mit diesem verbindlichen »Im-Dialog-Bleiben« schafft die UN-Konvention eine neuartige Grundlage für die systematische Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen und letztlich für eine grundsätzliche Neugestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von behinderten und nicht behinderten Bürgerinnen und Bürgern. 3 4
Marianne SCHULZE, Die Konvention: Ihre Notwendigkeit und ihre Möglichkeiten, in: Behinderte Menschen 32/1 (2009) 18-25, hier 20. Bundesgesetz, mit dem das Bundesbehindertengesetz geändert wird, BGBl. I Nr. 109/2008, § 13. http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2008_I _109/BGBLA_2008_I_109.html (10. 8. 2012).
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Dabei geht die Konvention, wie in der Präambel angeführt, von einem sozialen Modell von Behinderung aus, und baut auf den Prinzipien der Gleichberechtigung, der Barrierefreiheit, der Partizipation und Inklusion unter Respektierung der Diversität der Menschen auf.5 Ein Grundpfeiler ist das Verbot der Diskriminierung und die Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen zur Beseitigung von Ungleichbehandlung zu treffen. Hierbei wird insbesondere auf Personengruppen hingewiesen, die besonders von mehrfacher Diskriminierung bedroht sind, z. B. Kinder oder Frauen, auf Grund von Behinderung und auf Grund des Geschlechts oder des Alters. Die Artikel, in denen die Menschenrechte konkretisiert und ausformuliert werden, lassen sich in fünf große Gruppen unterteilen:6 a) die Personenrechte, wie das Recht auf Leben, auf Freiheit von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, auf Freiheit vor Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt sowie der Schutz vor medizinischen und wissenschaftlichen Experimenten. Weiter sieht die Konvention den Aufbau einer unabhängigen Kontrollstelle für sämtliche Einrichtungen der Behindertenarbeit vor. In Österreich wird diese Aufgabe seit 1. Juli 2012 von einer neu geschaffenen Einrichtung innerhalb der Volksanwaltschaft wahrgenommen. b) die Selbstbestimmungsrechte: hier spricht die Konvention jedem Menschen prinzipiell das Recht zu, selbst zu entscheiden, und hält somit die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der einzelnen Person mit Behinderung fest. Gemäß der Konvention hat der Entscheidungsprozess gegebenenfalls unterstützt zu werden, er darf aber keinesfalls durch Dritte usurpiert werden. Diese Grundlagen sollen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, mit dem Ziel größtmöglicher Unabhängigkeit sowie sozialer Inklusion. Die gesetzlichen Bestimmungen, die derzeit in Österreich die Sachwalterschaft regeln, werden von vielen Experten als der Konvention nicht entsprechend betrachtet, und erste Bemühungen, diesen Bereich in Österreich im Sinne der Konvention neu zu denken, sind festzustellen. c) das Recht auf Barrierefreiheit und Partizipation: Es geht hier um die Rechte gesellschaftspolitischer Teilhabe, wie politische Mitgestaltung, oder Zugang zum Rechts- und Justizsystem, sowie um die Beseitigung physischer (z. B. »design for all«), aber auch kommunikativer Barrieren (z. B. Gesetzestexte, Information zur Gesundheitsversorgung in leicht verständlicher Sprache). d) die Freiheitsrechte: Festgehalten sind neben dem grundsätzlichen Recht auf Freiheit und Sicherheit die Bewegungsfreiheit 5 6
Vgl. Artikel 3 der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Vgl. SCHULZE, Konvention, passim.
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sowie das Recht der Eltern, für ihr behindertes Kind zu sorgen, und in Analogie dazu, das Recht der Kinder für ihre Eltern zu sorgen, wenn diese eine Behinderung haben. e) die wirtschaftlichen und sozialen Rechte: Hier geht es um die Rechte in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit und sozialer Schutz, zu denen behinderte Menschen gleichberechtigt Zugang haben sollen. Beispielsweise ist mit der Konvention das Prinzip der inklusiven Bildung verankert worden, sodass Menschen auf keiner Bildungsstufe auf Grund ihrer Behinderung von der Bildungseinrichtung ausgeschlossen werden dürfen. Diese Bestimmungen werden im Sinne einer Schule für alle verstanden. Auch werden in diesen Artikeln die politischen Rechte wie Meinungsfreiheit, oder das Recht auf ein faires Verfahren bestimmt. Dass mit der Konvention ernsthaft und nachhaltig die Position von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft verändert werden soll, zeigen auch die Bestimmungen zur systematischen Erhebung von Daten auf, die erstmals in eine UN-Konvention aufgenommen wurden. Diese – in vielen Vertragsländern neu zu schaffenden – Statistiken bilden die erforderliche sachliche Grundlage für die nicht spannungsfreien Transformationsräume, die die Umsetzung der UN-Konvention mit sich bringt. Österreich hat als eines der ersten Länder die Konvention ratifiziert und hat als Überwachungsmechanismus den Monitoringausschuss eingesetzt. Dieser funktioniert nach den sogenannten »Pariser Prinzipien«, durch die die Menschenrechte geschützt, gefördert und gestärkt werden sollen. Entsprechend sind die Aufgaben des Monitoringausschusses formuliert, die vor allem im Bereich der Beratung der zuständigen Organe (Regierung, Parlament, Landesregierungen) und in der Formulierung von Empfehlungen und Stellungnahmen zu Gesetzesvorlagen liegen. Weiter können Menschenrechtsverletzungen auf individueller Ebene überprüft bzw. Berichte über die Lage der Rechte von Menschen mit Behinderungen verfasst werden. Im Juli 2012 hat die Bundesregierung den sogenannten Nationalen Aktionsplan (NAP) beschlossen7, der von Seiten verschiedener NGOs angeregt worden war. Unter Federführung des Sozialministeriums gemeinsam mit Vertretern der Zivilgesellschaft und insbesondere Menschen mit Behinderungen entwickelt, stellt der NAP den Strategieplan der Bundesregierung zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (2012–2020) dar. Er beschreibt die Handlungsfelder und Maßnahmen, zu denen in einem nächsten Schritt eine Prioritätenliste und Indikatoren entwickelt werden. Mithilfe letzterer sollen schließlich die Fortschritte im Hinblick auf die Zielsetzungen und Maßnahmen evaluiert werden. 7
Vgl. Nationaler Aktionsplan Behinderung 2012–2020. Strategie der österreichischen Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Inklusion als Menschenrecht und Auftrag. http://www.behindertenarbeit.at/bha/wp-con tent/uploads/NAP-Behinderung.pdf (10. 8. 2012).
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Zur Rolle der Universitäten Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verfügt mit ihren Mechanismen über ein hohes Potential für Veränderung im Sinne einer Stärkung der Inklusion behinderter Menschen in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen. Die Universitäten könnten einerseits ihre Forschungsstrategien auf diesen politisch und gesellschaftlich als wichtig angesehenen Bereich neu fokussieren. Dabei könnte eine erste Stärkung der Kapazitäten durch die Bündelung bereits existierender empirischer, sozialwissenschaftlicher Forschungsaktivitäten erreicht werden. Weiter könnten nationale Forschungsprogramme in Zusammenhang mit der Umsetzung der UN-Konvention definiert werden, die die notwendige Begleitforschung sicherstellen, und Ergebnisse aus entsprechenden Forschungsprojekten könnten zur Etablierung der öffentlichen, behinderungsbezogenen Daten genutzt werden, die in Österreich oft fehlen. In einem Vergleich mit der Forschungsförderung und den Forschungszentren in den angelsächsischen Ländern, die sich, in der Regel transdisziplinär, speziell der Erforschung von Behinderungsthemen widmen, nehmen die entsprechenden Forschungseinrichtungen in Österreich bisher bestenfalls eine Außenseiterposition ein. Hinsichtlich Ausrichtung und Methodik wird die mit Themen der Behinderung auseinandersetzende Forschung verstärkt durch partizipative Ansätze gekennzeichnet sein. Menschen mit Behinderungen werden zukünftig gezielter in die forschungsgeleitete Lehre eingebunden sein. Was die Forschung über und mit Menschen mit Behinderungen anlangt, so bestehen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive eine Reihe offener Fragen, wie beispielsweise jene der Wechselwirkung zwischen der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien und sozialpolitischen Handlungsprioritäten sowie den daraus entstehenden Fortschritten und Irrtümern. Ein weiteres großes Thema – und definitiv ein universitäres Anliegen – ist die LehrerInnenbildung. Die Ausrichtung der zukünftigen LehrerInnenbildung steht in Zusammenhang mit den Anforderungen des Artikels 24 der UN-Konvention, welcher sich dem Thema Bildung widmet, zur Debatte. In diesem Artikel 24 wird festgehalten, dass die Vertragsstaaten das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen anerkennen und ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen garantieren, um Chancengleichheit und Nicht-Diskriminierung zu sichern. Nebenbei sei angemerkt, dass in der deutschsprachigen Übersetzung der Konvention, abweichend von der authentischen englischen Originalfassung, von einem integrativen Bildungssystem gesprochen wird.8 Dieser Übersetzungsdisput kann als Indikator einer Zielunsicherheit verstanden werden. 8
Im Artikel 24 (1) der Convention on the Rights of Persons with Disabilities heißt es, »[…] With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and lifelong learning […].« Die (authentische) französische Version lautet »[…] En vue d’assurer l’exercice de ce droit sans discrimination et sur la base de
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In weiterer Folge wird in Artikel 24 festgehalten, dass Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen und dass sie in der Gemeinschaft, in der sie leben, gleichberechtigt Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben. Weiter verpflichten sich die Staaten, angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des einzelnen zu treffen, sowie dass Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem jene Unterstützung angeboten bekommen, die ihre erfolgreiche Bildung erleichtert. Die Vertragsstaaten haben nach Artikel 24 die Pflicht, geeignete Maßnahmen zur Einstellung von LehrerInnen und zur Schulung von Fachkräften zu treffen, so dass ergänzende bzw. alternative Formen, Mittel und Formate der Kommunikation und entsprechende pädagogische Verfahren und Materialen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen Verwendung finden. Schlussendlich sieht die Konvention den Zugang zu Hochschulbildung, zur beruflichen Ausbildung und zum lebenslangen Lernen vor, wofür angemessene Vorkehrungen getroffen werden müssen.9 In Österreich steht in der LehrerInnenbildung eine grundsätzliche Reform an. Die Universitäten bzw. die Pädagogischen Hochschulen, die mit der LehrerInnenbildung befasst sind, wären im Sinne der Konvention mitverantwortlich für die Entwicklung eines Curriculums, in dem die Kompetenzen der LehrerInnen für ein inklusives Bildungssystem verankert sind. Beispiele für eine solide LehrerInnenausbildung in diesem Sinn lassen sich in Neuseeland, Finnland, aber auch in der autonomen Provinz Südtirol finden. Die Bildungserfolge in diesen Ländern zeigen, dass individualisierter Unterricht für die schulischen Leistungen sowohl für behinderte als auch für nicht behinderte SchülerInnen förderlich ist. Individualisierte Unterrichtspläne kommen sowohl hochbegabten SchülerInnen als auch SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten entgegen. Darüber hinaus zeigen SchülerInnen, die inklusive Schulen besucht haben, im Vergleich zu jenen, die in selektiven Schulsystemen unterrichtet wurden, höhere soziale Kompetenzen sowie ein besseres Verständnis und höhere Akzeptanz für Diversität. SchülerInnen mit Behinderungen, die in inklusiven Schulen unterrichtet wurden, finden
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l’égalité des chances, les États Parties font en sorte que le système éducatif pourvoie à l’insertion scolaire à tous les niveaux et offre, tout au long de la vie, des possibilités d’éducation […].« In der (nicht authentischen, aber offiziellen) deutschen Übersetzung wurde daraus: »[…] Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen […].« Der Text der Konvention ist im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramts http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=BgblAuth&Dokumentnumm er=BGBLA_2008_III_155 (10. 8. 2012) in diversen Sprachen abrufbar. In diesem Absatz sind die Formulierungen teilweise aus der deutschsprachigen Übersetzung der Konvention übernommen.
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eine deutlich bessere Aufnahme am Arbeitsmarkt. Inklusive Schulen, so die These, die man den Daten entnehmen kann, legen ein starkes Fundament für Chancengleichheit sowie nachhaltige Nicht-Diskriminierung und können somit den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Der Schlüssel zu einer inklusiveren Gesellschaft wird häufig in früh im Leben des einzelnen beginnenden Erfahrungen zur menschlichen Verschiedenheit und dem respektvollen Umgang mit dieser Diversität gesehen. Allerdings braucht die inklusive Schule neben einer entsprechenden Grund- und Weiterbildung der LehrerInnen auch eine grundsätzliche Veränderung der Schulorganisation. Diese Hürde zu erkennen, um in der Folge Barrierefreiheit schaffen zu können, dürfte eine der großen bildungspolitischen Herausforderungen darstellen.10 Wenn wir die Zielsetzungen der UN-Konvention gewissenhaft verfolgen, bedarf es fundierter Information und breiterer, evidenzbasierter Wissensstrukturen zum Thema Behinderung in der Gesellschaft. Der Beitrag, den die Universitäten hierzu leisten können, ist offensichtlich. Neben der systematischen Entwicklung der Forschung und ihrer Einrichtungen wären viele universitäre Curricula um Behinderungsperspektiven zu ergänzen. Dies betrifft Curricula wie jenes der Medizin oder der Psychologie genauso wie Curricula der Kommunikationswissenschaften, der Sozialanthropologie, Politikwissenschaften und der Soziologie und viele andere mehr. Weiter könnte ein gut strukturiertes, fächerübergreifendes Erweiterungsmodul ein Angebot für viele Studienrichtungen sein. Dies sind lediglich einige Anregungen für spannende und wichtige Beiträge von Seiten der Universitäten. Im Sinne der Erfüllung der Aufgaben, zu der sich die Vertragspartner der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet haben, stehen vor allem staatlich finanzierte Universitäten in der Verantwortung, mit Aktivitäten und Leistungen zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen beizutragen. Ein Schlussgedanke Abschließend sollen noch jene Stimmen zu Wort kommen, die vor massiven Rückgängen in den öffentlichen Leistungen und Förderungen für Menschen mit Behinderungen in den kommenden Jahren, im Zusammenhang mit den Herausforderungen und Turbulenzen der Wirtschaft und der Finanzmärkten, die wir seit 2008 weltweit und vor allem in Europa erleben, warnen. In vielen Ländern handelt es sich dabei für die Betroffenen bereits nicht mehr bloß um Warnungen, da 10
Die in diesem Text gemachten Aussagen zum Thema der schulischen Inklusion können durch verschiedene empirische Studien belegt werden, andere Studien wiederum würden die Aussagen abschwächen, ein Befund, der in der Forschung durchaus nicht unüblich ist. In solchen Fällen kann eine genauere Betrachtung der Methodik und der Rahmenbedingen der konkurrierenden Studien entscheidende Hinweise zu deren Qualität und jener der Ergebnisse liefern.
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konkrete Maßnahmen zur Reduzierung der Ausgaben im Sozial- und Behindertenbereich bereits Faktum sind – Österreich ist davon nicht ausgenommen. Die Warnungen mögen vor dem gegebenen wirtschaftlichen Hintergrund noch nachvollziehbar sein, aber den von politischer Seite nicht selten angeführten Begründungen für Sparmaßnahmen haftet nicht selten ein gewisser Zynismus an. Die Visionen der UN-Konvention, Partizipation und Inklusion, werden pervertiert und die Reduktion von Unterstützungen, die Einstellung von Förderungen, die Beendigung von Programmen in der Behindertenförderung damit begründet, dass diese Sozialleistungen nicht zum Inklusionsgedanken passten. Das kann im Einzelfall ja durchaus zutreffen. Aber ein alternativer, die Inklusion fördernder Plan wird von den Verantwortlichen in der Regel nicht einmal erwogen. Auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, eine beachtenswerte Initiative der UNVollversammlung, kann im Sinne eines Deckmantels für Einsparungen missbräuchliche Verwendung finden. So ist wohl die Botschaft zu verstehen, die ich kürzlich auf einer Brücke über den Donaukanal in Wien, dort aufgepinselt von einem Anonymus, vorfand: »Je participe, Tu participes, Il participe, Nous participons, Vous participez, Ils profitent!«
Doch könnte ich vielleicht diese »conjugaison« auch so lesen, dass wenn »ich«, »du«, »er«, »wir«, »ihr« teilnehmen, »sie«, das sind all die eben aufgelisteten, etwas davon haben! Ob Geschichte geschrieben wird, war die Frage. Ich denke, ganz sicher! Aber wie diese Geschichte geschrieben werden kann, erscheint nicht eindeutig. Und, … bedauerlicherweise, kann auch aus psychologischer Sicht keine verlässliche »Verhaltensvorhersage« hierzu angeboten werden.
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Interview mit Gernot Heiss am 18. Juni 2012 P: Wir haben uns heute an den Tisch gesetzt, um über Dich und über die Geschichtswissenschaft zu sprechen. Darf ich gleich mit der ersten Frage beginnen, wieso Du, ein Frühneuzeitler und dann eben ein etablierter und erfolgreicher Frühneuzeitler, ohne berufliche Zwänge einfach ins 20. Jahrhundert gesprungen bist? Du konntest doch ruhig mit allen Erfolgen im 16./17. Jahrhundert bleiben. H: Dazu möchte ich erklären, wie ich überhaupt zum Studium gekommen bin. Du weißt ja, ich habe einen zweiten Berufsweg eingeschlagen. Ich sollte ein Gasthaus übernehmen, in der Nähe von Zell am See, und habe dazu Hauptschule, Handelsschule, Hotelfachschule absolviert. Schon in dieser Zeit war ich sehr an Sprachen interessiert mit dem Argument, dass ich das dringend für mein zukünftiges Wirtsdasein brauche. Ich war einen Winter lang in Frankreich, vorher mit 17 Jahren im Sommer als »barman« auf Guernsey. Meinen 18. Geburtstag habe ich in Paris gefeiert. Ich habe mich in meiner Jugend sehr für moderne Kunst interessiert, primär für moderne Kunst, dann zunehmend auch für bildende Kunst im Allgemeinen. Und warum? Ich bin der Jüngste von sechs Kindern und habe in Bezug auf intellektuelle Interessen sehr dominierende ältere Brüder. Vor allem zwei der drei Brüder haben sich sehr für Literatur und Musik interessiert, und um mir einen eigenen Bereich zu schaffen – so meine ich rückblickend – habe ich mich für moderne Kunst entschieden. P: Und Deine Brüder haben ihre Interessen als Ärzte entwickelt? H: Die haben das schon während ihres Studiums gemacht. Auch die Interessen meiner Mutter gingen sehr deutlich in diese Richtung. Daher blieb mir quasi die Kunst und da am Anfang die moderne Kunst. Ich fuhr dann mit vierzehn mit dem Rad nach München, um hier meine Liebe zu Marc und zu Kandinsky zu entdecken. Mit zwanzig kam dann die Krise. Ich musste mich quasi entscheiden, ob ich jetzt im Gasthaus investiere, anfange umzubauen und zu modernisieren und mich hier zu engagieren, was keine schlechte Möglichkeit für mich gewesen wäre, oder ob ich doch noch etwas anderes versuche und ein anderes Leben führe. Dabei sind mir dann sowohl meine Tante, die mir das Gasthaus vererben sollte, als auch mein Vater sehr entgegen gekommen. Sie haben gesagt: gut, ok, wenn du meinst, dann mach’ die Matura nach und studier’ etwas. Damals wollte ich eigentlich auf die Akademie gehen, nicht um bildender Künstler zu werden, sondern um mit dieser Grundlage Kunstkritiker zu werden. Schließlich hab’ ich aber hier keine Möglichkeiten
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gesehen, ich hatte keine Vorbilder und niemanden der mir sagte, da ist schon auch etwas anderes zu machen, als das, was an Rezensionen zum Bespiel im »Kurier« erscheint. Und so habe ich mich entschieden, Lehramt zu studieren. Wir hatten damals keine Ängste in Bezug auf einen Arbeitsplatz und ich schon gar nicht, weil ich ja sowieso das Standbein als Koch, Kellner oder Hotelier gehabt hätte. Jedenfalls habe ich mich für Geschichte entschieden, weil ich politisch interessiert war. Aus diesem politischen Interesse habe ich mich für Geschichte entschieden., was aber nicht heißt, dass ich von vornherein nur auf die Zeitgeschichte fixiert war. Das politische Interesse konnte sehr wohl auch Maria von Ungarn sein, wie es sich für meine Dissertation entwickelt hat.1 Ich hatte ein historisches Interesse und ich liebe es, in Archiven zu recherchieren. Aber das Politische war schon immer ein starkes Interesse von mir. Und dadurch ist dieses Hin- und Herspringen – ich habe ja die frühe Neuzeit nie aufgegeben – das Hin- und Herspringen zwischen früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, mit dem Überspringen des 19. Jahrhunderts, nicht so absurd. P: Na gut, es gibt auch einige Studien zum 19. Jahrhundert. H: Das sind meistens keine Forschungen. Etwa der Artikel im Katalog der Ausstellung zur deutsch-österreichischen Nachbarschaft2, das sind keine eigenen Forschungen. Obwohl ich auch in solchen Fällen liebend gern etwas genauer nachgesehen habe, aber das liegt im Blut des Historikers. Dieser Gegenwartsbezug ist also nicht verwunderlich und auch nicht, dass ich mich weiterhin für Kunst interessiert habe. Mit Othmar Zechyr3 – das ist schon zuallererst ein Interesse an den Zeichnungen und dem Künstler, aus dem sich dann eine lange Freundschaft entwickelt hat. Zugleich hat sich dabei auch etwas für den sozial interessierten Historiker ergeben: die bewegte Biographie, beispielhaft für eine extreme Kindheit und Jugend in den 1940er und 1950er Jahren: Zechyr war in Heimen für schwererziehbare Jugendliche etc. P: Trotzdem, wenn man nimmt, wie verkrustet eine Universität ist, wenn dann jemand 1971 über Maria von Ungarn promoviert und 1986 über die Anfänge der Katholisierung in den Ländern Ferdinand I.4 1
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Gernot HEISS, Königin Maria von Ungarn und Böhmen (1505–1558). Ihr Leben und ihre wirtschaftlichen Interessen in Österreich, Ungarn und Böhmen, phil. Diss., Wien 1971; erschienen als: DERS., Politik und Ratgeber der Königin Maria von Ungarn in den Jahren 1521–1531, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 82 (1974), 119–180; DERS., Die ungarischen, böhmischen und österreichischen Besitzungen der Königin Maria (1505–1558) und ihre Verwaltung, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 27 (1974), 61–100, und 29 (1976), 52–121. Gernot HEISS, »Ein Reich von Künstlern und Kellnern«, in: Oliver RATHKOLB/Georg SCHMID/Gernot HEISS/Margarete GRANDNER/Klemens RENOLDNER (Hg.), Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990, 118–126. Othmar Zechyr (1938–1996), österreichischer Zeichner und Graphiker; vgl. Peter BAUM/Gernot HEISS/Wilfried SEIPEL/Jutta SKOKAN (Hg.), Othmar Zechyr – Zeichnungen 1966–1996, Publikation anlässlich der Ausstellungen des Kunsthistorischen Museums im Palais Harrach vom 15. Jänner bis 11. März 2001, Wien 2001; Gernot HEISS/ Martin HOCHLEITNER, Othmar Zechyr – Das druckgraphische Werk, Weitra 2001. Gernot HEISS, Die Jesuiten und die Anfänge der Katholisierung in den Ländern
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habilitiert, dann hat man so ein Gefühl, es wird ja schon eine Schachtel vorbereitet, in der er dann erfolgreich bis zur Pensionierung bleiben soll. Und ich weiß von Deiner Erzählung, dass auch Deine Lehrer nicht vollständig begeistert waren über Deine zeitgeschichtlichen und besonders dann filmgeschichtlichen Forschungen. H: Der Professor, mit dem ich zusammengearbeitet habe, Erich Zöllner5, war unglaublich tolerant. Der hätte nie ein abwertendes Urteil über andere Interessen artikuliert. Natürlich hat er gesagt, wie ich meinen ersten Film-Artikel über Erich von Stroheim geschrieben habe:6 Naja, der war aber schon nicht sehr wichtig, oder sehr bedeutend. Er hatte kein Urteil über Filmgeschichte, aber er hätte sich nie erlaubt, etwas gegen meine Interessen und Forschungsthemen einzuwenden. In meiner Assistentenzeit habe ich selbstverständlich keine Seminare über Film angeboten. Das kam erst nachher. P: Ja gut, aber schon gleich aus der Zeit nach Deiner Habilitation habe ich in Deiner Literaturliste Friedensbewegungen gefunden, dann 1986 dieses wunderbare Buch »Glücklich ist wer vergisst …? Das andere Wien um 1900«. Das habe ich noch in den 1980ern von Dir bekommen und habe es mit Begeisterung gelesen und besprochen. Und dann 1989, also noch nicht so weit von der Habilitation dieses für Österreich wirklich bahnbrechende Buch, mit der Gruppe um Karl Stuhlpfarrer »Die Universität Wien 1938 bis 1945«.7 Das war erstens für mich, als einen Menschen von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs eine Eröffnung ganz neuer Perspektiven, als ich das Buch gleich nach der Revolution gelesen habe, und zweitens war es dasselbe – vermute ich – auch für Österreich. H: Schon, ja es war ein bisschen an der Wende beteiligt in der ganzen Arbeit zur Universitätsgeschichte. Aber es war auch im Trend. Es gab zu der Zeit etwa Oberkofler in Innsbruck8, auch in Graz gab es einiges. Es waren die 1980er Jahre. Nicht nur die Affäre Waldheim, die als Wendepunkt in der österreichischen Selbsteinschätzung als Opfer des Nationalsozialismus immer zitiert wird, sondern es waren die 1980er Jahre in vielen Bereichen: zum Beispiel auch im Film, an dem mir viel liegt, wie Du weißt, mit österreichischen Filmen zur Involvierung in die Nazizeit.9 Vor 1948 hat es auch etwas gegeben, aber in den »langen« 1950er 5
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Ferdinands I. Glaube, Mentalität, Politik, Habil., Wien 1986. Erich Zöllner (1916–1996), Professor für Österreichischen Geschichte an der Universität Wien und Präsident des Instituts für Österreichkunde, in der Zeit seines Lebens der führende Historiker des 20. Jahrhunderts in Österreich. Gernot HEISS, Erich von Stroheim: Wien in Hollywood. Erinnerung, Wirklichkeit, Fiktion, in: Hubert Christian EHALT/Gernot HEISS/Hannes STEKL (Hg.), Glücklich ist, wer vergißt …? Das andere Wien um 1900 (Kulturstudien 6), Wien–Köln– Graz 1986, 247–284. Gernot HEISS/Siegfried MATTL/Sebastian MEISSL/Edith SAURER/Karl STUHLPFARRER (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43), Wien 1989. Gerhard Oberkofler (geb. 1941), Professor an der Universität Innsbruck. Axel CORTI, »Wohin und zurück«, 1982–1985 (dreiteiliger Fernsehfilm nach der
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Jahren schon gar nichts10 und auch nichts danach. Das neue Interesse ist ein interessantes Phänomen. 1989 haben sich schon kleinere Konflikte ergeben aus diesem Buch – nicht mit Erich Zöllner und mit wenigen der Betroffenen. Nur mit Einzelnen, so hatte ich mit Adam Wandruszka eine Auseinandersetzung11, weil er behauptete, ich will alle ehemaligen Nazis am Scheiterhaufen verbrennen, am liebsten die Historiker. Was überhaupt nicht meine Intention war. Da hätte ich meinen Vater verbrennen müssen und weiß Gott wen sonst noch. Und das wollte ich überhaupt nicht, sondern ich wollte gerade bei den Historikern und im Allgemeinen in den Wissenschaften eine klare Sicht auf diese Reaktionen auf die politischen Veränderungen. Besonders bei den Historikern ist dieses Eingehen auf die Zeittrends so deutlich, auf die Politik mit all ihren negativen und manchmal auch positiven Folgen. Von mir aus ist wohl schwer etwas dagegen zu sagen, wenn sich Reinhart Koselleck als Historiker für die liberale deutsche Verfassung einsetzt, interessant finde ich aber, aus welchem professionellen Selbstverständnis heraus das geschieht.12 Das Eingehen auf Zeittendenzen, wie so etwas zustande kommt und was da die Vorläufer sind und wie das Hineingleiten oder das bewusste Hineintreten verläuft, interessiert mich. P: Und wie hat sich diese Autoren-Gruppe eigentlich geschaffen? H: Es war eine Idee von Edith Saurer13 und von Karl Stuhlpfarrer.14 Sie wollten im Wintersemester 1987/88 ein Seminar über die Universität Wien im Nationalsozialismus machen und haben zu diesem Seminar auch Siegfried Mattl15 und mich eingeladen. Es gab wenig Literatur zum Thema, abgesehen von einem Aufsatz über die Universität im Nationalsozialismus von Erika Weinzierl, der Doyenne der österreichischen Zeitgeschichte, die schon 1968 bei ihrer Antrittsvorlesung in Salzburg darüber gesprochen hat.16 Abgesehen davon gab es sehr wenig und
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Autobiografie von Georg Stefan Troller) und 1986: »Wohin und zurück – Welcome in Vienna« (Verwertung als Kinofilm); Franz ANTEL, »Der Bockerer«, 1981 (nach dem Bühnenstück Der Bockerer von Ulrich Becher und Peter Preses [1948 uraufgeführt]); Wolfgang Glück, »38 – auch das war Wien«, 1986 (nach dem Roman »Auch das war Wien« von Friedrich Torberg. Der Film wurde 1987 für den Oscar eingereicht und in der Kategorie »Bester fremdsprachiger Film« nominiert). Z. B. »Das andere Leben« 1948 (Regie: Rudolf Steinböck). Adam Wandruszka (1914–1997), Historiker, 1938–1945 Mitglied der NSDAP, 1959–1969 Professor in Köln, 1969–1984 Professor an der Universität Wien. Reinhart Koselleck (1923–2006), in den Jahren 1973–1988 Professor der Theorie der Geschichte an der Universität Bielefeld, einer der wichtigsten Repräsentanten der Bielefelder Schule. Edith Sauer (1942–2011), Professorin an der Universität Wien, führende Forscherin im Felde der Gender-Studien, Frauengeschichte und Historischen Anthropologie. Karl Stuhlpfarrer (1941–2009), Professor an der Universität Wien, seit 1999 Professor an der Universität Klagenfurt, einer der wichtigsten Forscher über die NS-Zeit. Siegfried Mattl (geb. 1954), ist Wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft in Wien. Erika WEINZIERL, Universität und Politik in Österreich. Antrittsvorlesung, gehalten am 11. 6. 1968, Salzburg–München 1969. Erika Weinzierl (geb. 1925) war 1977– 1995 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wien.
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kaum etwas zu speziellen Fragen und Fachbereichen. Ich bin ins Universitätsarchiv gegangen und konnte dort sehr viel für die Studierenden kopieren. Das haben wir dann zu den Spezialthemen aufgeteilt und so lernten die Studierenden auch gleich den Umgang mit Quellen. P: Da war noch Franz Gall Archivar oder nicht mehr?17 H: Nein, Gall war bereits verstorben. Im Archiv wollte man nicht, dass wir die Studenten und Studentinnen hinschicken, dass sie direkt am Material arbeiten, aber dass ich kopiert habe, das hat eigentlich niemanden gestört. Aber ich denke, das hätte Gall nicht gestört, obwohl er ja politisch nicht besonders links stand. Er hat auch selbst mehrere Dissertationen angeregt zur Universitätszeitgeschichte und die sind sehr unterschiedlich politisch orientiert, manche auch kritisch gegenüber den deutschnationalen Professoren. Und im folgenden Semester haben wir eine Ringvorlesung gemacht und aus dieser Ringvorlesung ist, in veränderter Form natürlich, dieses Buch entstanden, in dem es sehr zentral um die einzelnen Fächer geht und ihre Problematik in dieser politischen Situation und auch um die Neugründungen in der Nazizeit. Edith Saurer hat darüber geschrieben und zum Beispiel wurde der Geograph Hassinger18 von Karl Stuhlpfarrer und Siegfried Mattl diskutiert. Das war sicher eine wichtige Geschichte. Das Buch ist nicht schnell, aber auch nicht schlecht verkauft worden. Ich war ja damals auch im Verlag für Gesellschaftskritik, wie wir uns in großartiger Selbstsicht genannt haben. P: Vielleicht hatte das Buch etwas Pech durch diese gigantische Weltwende. Es gab plötzlich so viel Neues und das hatte viele Leute überfordert. H: Ja, aber primär war es doch sehr regional. Winfried Schulze war damals19, 1988 muss das gewesen sein, in Wien und ich habe ihm ermöglicht, dass er im Universitätsarchiv die Akten zu Otto Brunner20 bekommt. Er hat ja damals das Buch über die deutsche Historiographie nach 1945 geschrieben.21 Was mich immer wieder erstaunt: bei seinen Präsentationen ab 1998 hat er nur mehr 1998 im Kopf und den deutschen Historikertag.22 Er kennt mich natürlich und er kennt das Buch, aber das Wesentliche und für ihn Erwähnenswerte ist dann diese deutsche Diskussion. Für ihn geht es um die Aufklärung über die Rolle der 17
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Franz Gall (1926–1982), Professor für Universitätsgeschichte und Historische Hilfswissenschaften und Direktor des Archivs der Universität Wien. In der behandelten Zeit der späten 1980er Jahre war aber schon Doz. Dr. Kurt Mühlberger (geb. 1948) Direktor des Universitätsarchivs. Hugo Hassinger (1877–1952), in den Jahren 1931–1950 Professor der Geographie an der Universität Wien. Winfried Schulze (geb. 1942), Emeritus der Universität München, u. a. Historiker der modernen deutschen Historiographie. Otto Brunner (1898–1982), einer der prominenten NS-Historiker in Österreich, bis 1945 Professor der Universität Wien, 1954–1968 Professor der Universität Hamburg und Vorkämpfer der modernen Sozialgeschichte. Winfried SCHULZE, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1988. Winfried SCHULZE/Otto Gerhard OEXLE (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1999.
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Historiker, der wissenschaftlichen Großväter – ja, aber um ähnliches ging es auch mir in meinem Artikel damals.23 P: Du hast es erstens zehn Jahre früher geschrieben und zweitens war er 1998 nicht der Hauptdiskutant. Er war dabei und hatte dann die Beiträge dieser berühmten historiographischen Sektion des Historikertages publiziert. Aber ich befürchte, dass ihn oder die ganze Zunft die damals jungen Radikalen etwas in die Panik gebracht haben, als sie ihre provokativen Thesen über die »Väter-Generation« gestellt haben. Und dann mussten die Koryphäen auch selbst etwas sagen. Sonst würden die Rebellen die Oberhand übernehmen. H: Das ist ja dann auch nicht eingeschlafen, aber die Rebellen haben vor zwei, drei Jahren bei einer Diskussion beklagt, dass keiner von ihnen große Universitätskarriere gemacht hat, weil sie so kritisch waren. Das kann man vielleicht auch anders sehen. In der Universitätszeitgeschichte ist seither, mit einem langsamen Anlauf, doch einiges passiert. Du kennst ja die Untersuchungen über die Studenten und die Aberkennung des Doktorats.24 Das ist schon eine wichtige Ausweitung. Schon damals war auch die Zeit, als Fritz Stadlers die »Vertriebene Vernunft«25 herausgab. Das ist freilich ein etwas anderer Ansatz – jener der Biographie. In der »Vertriebenen Vernunft« geht es um die Biographie dieser Leute, stark zentriert um das persönliche Erleben der Emigration und mit dem Blick auf die vertriebene Vernunft, also den Verlust, den das intellektuelle Österreich erlitten hat. Für Stadler ist dabei das zentrale Thema die Philosophie und hier die Vertreibung des Positivismus, des Wiener Kreises. Im Bereich der Universität zeigt sich aber auch sehr deutlich, dass es eine »zweite Vertreibung der Intelligenz« 1945 gab, nicht mit der Entlassung der großen Nazis, sondern mit der Ausweisung der vielen Professoren, die im Jahre 1938 nicht österreichische Staatsbürger waren. Sogar in der Philosophie ist das in Bezug auf den konservativen Intellektuellen Arnold Gehlen zu bedenken. P: Damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen Buch: »Die Universität Wien 1945–1955« von 2005.26 Und inzwischen und danach hast Du weitere Studien zu diesem Thema publiziert27 bis zum jüngsten Buch 23
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Gernot HEISS, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: HEISS/MATTL/ MEISSL/SAURER/STUHLPFARRER (Hg.), Willfährige Wissenschaft, 39–76. Herbert POSCH/Doris INGRISCH/Gert DRESSEL, »Anschluß« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Wien–Berlin– Münster 2008. Friedrich STADLER (Hg.), Vertriebene Vernunft: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, Wien 1987. Margarete GRANDNER/Gernot HEISS/Oliver RATHKOLB (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 19), Innsbruck–Wien–München–Bozen 2005. Gernot HEISS, La « mission » de l’Autriche en Europe centrale vue par des historiens autrichiens du XXe siècle, in: Marie-Elizabeth DUCREUX/Antoine MARÈS (Hg.), Enjeux de l’histoire en Europe centrale, Paris 2002, 199–219; DERS., Die »Wiener Schule der Geschichtswissenschaft« im Nationalsozialismus: »Harmonie
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von Mitchell Ash auch mit Deinem Aufsatz. Das ist eine systematische Erforschung der Wiener Universitätsgeschichte der 1930er, 1940er Jahre. H: Mitch Ash28 konzentriert sich wieder auf die Nazizeit. Die Historiker und Historikerinnen konnten freilich nicht ohne die Vorgeschichte auskommen. Da gibt es eben die wichtigen Entwicklungen seit der Jahrhundertwende zu beachten und vor allen die Entwicklungen seit 1918, die immer mehr oder weniger stark einbezogen werden. Was aber wir gegenüber den Autorinnen und Autoren in »Zukunft mit Altlasten« zu betonen versucht haben, ist, den Fokus hauptsächlich auf den Neuanfang zu legen. Nicht um wieder die Legende von der Stunde Null aufleben zu lassen. Aber in den Arbeiten zur Universität in der NS-Zeit kommt ja immer der Entnazifizierung ein wichtiger Stellenwert zu. Und wir wollten nun daran anschließend einmal schauen, wie ist es nach 1945 möglich, etwa den Anschluss an die internationale Forschung zu bekommen, nach diesem Krieg, in dieser ziemlich zerstörten Universität, mit diesen unglaublichen Problemen. Allein 12.500 Quadratmeter Glas wären benötigt worden, etc. etc. Wie geht es dann weiter in den verschiedenen Fächern. Wie sich gezeigt hat: sehr unterschiedlich. Welche Tendenzen von vor 1945 werden hier aufgegriffen, welche Tendenzen auch von vor 1938? Ein Problem in der österreichischen Politik nach 1945 war, dass mit der Verfolgung der Nationalsozialisten und dem Ende der nationalsozialistischen Periode nicht das Ende der austrofaschistischen, ständestaatlichen Eliten gekommen war. Die Dominanz des CV29 nach 1945 war extrem. Auch diese Kontinuitäten, und auch wie das in den Fächern unterschiedliche Folgen hatte, war zu untersuchen – welche unterschiedliche Bedeutung das in den Fächern für eine qualitative Entwicklung und Neuorientierung etc. hatte. Das wollten wir vorerst mit dem Zeitrahmen 1945–1955 aufgreifen, sicher auch in der Absicht, die Arbeit in die 1960er und 1970er Jahre fortzuführen, zu untersuchen, wie das weiter geht. In den Artikeln ist dann freilich häufig wieder einleitend über die Entnazifizierung gearbeitet worden, auch notwendigerweise. Es ist ganz klar, dass man hier teilweise damit arbeiten muss. Aber der Fokus sollte eben auf dem anderen sein und das ist schon etwas Neues, sich mit der Zeit nachher zu beschäftigen und nicht nur immer mit der Involvierungen in den Nationalsozialismus. Diese fast ausschließliche Fokussierung auf den Nationalsozialismus hat auch negative Folgen. Was ich damit meine, will ich mit einer Berichterstattung im »Standard« von Anfang Mai verdeutlichen, über die ich entsetzt war.30 Es wurde recht ausführlich über den Rücktritt der Molekularbiologin Renée Schroeder aus
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kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft«?, in: Mitchell G. ASH/ Wolfram NIESS/Ramon PILS (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 397–426. Mitchell G. Ash (geb. 1948), Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Cartellverband, der Dachverband der katholischen, nichtschlagenden Studentenverbindungen in Österreich. DER STANDARD, 8. 5. 2012.
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der Akademie der Wissenschaften berichtet. Sie war aus der Akademie der Wissenschaften ausgetreten mit dem Hinweis auf die große Rolle, die nach ihrer Meinung heute noch der CV dort spielt. Und was gibt der »Standard« als weitere Information auf derselben Seite? Wieder einen Artikel über die Nazis in der Akademie der Wissenschaften nach 1945. Ja, die sind teilweise wieder dort untergekommen und untergeschlüpft. Das kann man gut nachlesen u. a. in dem Artikel über die Akademie der Wissenschaften in »Zukunft mit Altlasten«.31 Aber das ist eine alte und vor allem eine andere Geschichte, die das Problem, das Frau Schroeder heute anspricht, verdeckt und vom Problem ablenkt. P: Ein Historiker muss aber diese Probleme nicht nur politisch betrachten, sondern auch historiographisch. Konntest Du irgendwelche handwerklichen Tugenden, Methoden, Erfahrungen aus der alten Geschichte für diese Themen benutzen? Ich begegnete bei meinen Interviews relativ oft und gerade bei den erfahrenen Autoren, was mich bei den Zeitgeschichtlern überrascht, eine Vorstellung: Methoden braucht man nicht! Man sei mit einer Masse von maschinengetipptem Material konfrontiert, da müsse man einmal die Fakten wählen und erzählen, das sollte unsere Aufgabe sein. Ich frage trotzdem: welche handwerklichen Aspekte gibt’s also, die man auch für die Zeitgeschichte braucht? Besteht wirklich die Zeitgeschichtsforschung nur aus einer Kompilation? Darf das so sein? H: Was du ansprichst, sehe ich vielleicht weniger krass, aber schon auch in der Zeitgeschichte, häufig bei Studierenden, manchmal auch bei Lehrenden. Da wird manchmal gearbeitet, wie Journalisten arbeiten. Da fehlt dann die Kritik, ob das nun eine Quelle ist aus den 1970er Jahren, eine spätere Erinnerung, oder ob das eine Quelle aus der Zeit des Ereignisses ist u. ä. Jede Aussage gilt gleich; das überlegt man sich manchmal offensichtlich gar nicht. Und dann, was ich eben in der Zeitgeschichte sehr oft vermisse, ist die Distanz zu den Quellen, die wissenschaftlich doch notwendig ist. Schlüsse werden mit Empathie sofort gezogen, und das verführt dazu, gewisse Dinge nicht zu sehen. Ich sollte vor Kurzem einen Artikel schreiben, den ich aus Termingründen zurücklegte, über den Nationalismus, über die Probleme der Zuwanderer an der Universität, seien es Studenten, seien es Professoren um die Jahrhundertwende. Ausgangspunkt war eine Beobachtung von Stefan Zweig – freilich ist es problematisch, Literatur als Ausgangspunkt zu nehmen, aber ich tue es trotzdem. In »Die Welt von gestern« beschreibt Zweig seine Beobachtung, dass die Badeni-Krise diesen extremen Nationalismus unter der Studentenschaft entfesselt hat.32 Diese Einschätzung Zweigs verleitet uns heute, diese Entwicklung 31
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Johannes FEICHTINGER/Heidemarie UHL, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften nach 1945. Eine Gelehrtengesellschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, in: GRANDNER/HEISS/RATHKOLB, Zukunft mit Altlasten, 313–337. Stefan ZWEIG, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Berlin– Weimar 1985, 79f. – Ende des Kapitels »Die Schule im vorigen Jahrhundert«.
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sogleich nur im Rahmen der Vorgeschichte des Nationalsozialismus sehen, so etwa uns von Anfang an und nur auf die bösen rechtsradikalen schlagenden Verbindungen zu konzentrieren und alles andere nur als Folge von deren Aktionen zu sehen. Es ist nicht zu leugnen, dass sie die Haupttäter waren in der Wiener Aula etc. Ja, sie waren auch die Masse, die sich in absurder Weise von den nationalen Minderheiten bedroht fühlte. Aus dieser Perspektive und durch diese Dominanz wird aber leicht übersehen, dass sich auch in Wien in allen nationalen Gruppen eine zunehmende Zahl radikalisierte. Ob das immer nur in Reaktion geschah, wäre durchaus zu hinterfragen. Du kennst das natürlich aus Prag mit den tschechischen Nationalisten. Radikale slawische und jüdische Studenten haben auch in Wien manchmal provoziert. Was passiert in der Entwicklung der Studentenschaft in diesen Jahren? Vielleicht auch: ist es vergleichbar mit der Politisierung in die konträre politische Richtung in den 1960er Jahren, als der »atmosphärische Hintergrund rot« war?33 Was veranlasst Studenten und Studentinnen, sich in Zeittendenzen der politischen Radikalisierung so oft einzufügen? P: Es sagte mal Ernst Schulin34 über Hannah Arendt, dass ihn fasziniert, wie sie und ihre Texte in den 1960ern für die linksradikalen Studenten das Futter waren und in den 1980ern dann Basis für neokonservative Studenten. Und immer war das dieselbe Hannah Arendt. H: Ja, wie wird etwas extrem unterschiedlich interpretiert und verwendet, wenn es um ideologische Argumentation geht. Es gibt selbstverständlich auch Arbeiten, die das behandeln und beschreiben, was mir wichtig erscheint. P: Hanisch zeigt in seinem »Langen Schatten« von Österreich35, wie die Reflexion dieser Probleme schon in dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der österreichischen Literatur vorhanden war. Diese Ängste: »so etwas haben wir noch nicht erlebt, diese Radikalisierung, Brutalisierung«, das findet man bei mehreren Autoren. H: Und dann die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, dann geht es um Mord und Totschlag. Und das wird aus dem Bedürfnis, unsere Herkunft und die Ursachen unserer Existenz zu ergründen, als Vorgeschichte von uns jetzt und innerhalb dieser Vorgeschichte von der Zeitgeschichtsforschung als jene des Nationalsozialismus gesehen. Das tritt in den Vordergrund und blendet gewisse Dinge aus, die in einer kritischen historischen Analyse nicht übersehen werden sollten. Der Historiker soll herausfinden, warum konnte das sein, und dazu muss er die Menschen in ihrem Handeln und in ihren Ambivalenzen verstehen – nicht richten und nicht entschuldigen. Das ist meine Meinung auch in der Kunst. Ein Künstler, 33 34 35
»Le fond de l’air est rouge«, Regie: Chris Marker (Frankreich 1977), ein »Dokumentarfilm« über die Studentenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Ernst Schulin (geb. 1929) ist Emeritus der Universität Freiburg i. Br., Professor für Neuere und Neueste Geschichte und profunder Kenner der Geschichte der Historiographie. Ernst HANISCH, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994.
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der kein bisschen Liebe oder Verständnis für die Menschen hat, die er portraitiert oder darstellt, wird sie nicht entsprechend interpretieren. Unser viel gelobter Dokumentarist Seidl36, der mag die Menschen nicht, die er filmt. Und deshalb beutet er sie aus in ihrer Schrecklichkeit und macht sie zu leblosen Monstern. Er hat keine Liebe zu ihnen, nicht einen Funken an Liebe und kein Verständnis. Das gehört irgendwie dazu, so eine Ambivalenz in der Beziehung, auch für einen Historiker. Es ist banal und klar, dass ich jetzt kein Nazi werden muss, wenn ich über die Nazizeit schreib, aber ich muss versuchen zu verstehen, warum diese Menschen dazu kommen, zu ihrer Meinungsäußerung, zu ihrer schrecklichen Tat, zu ihrem Widerstand. Also wie funktioniert das? Welche Ambivalenzen in den Menschen sind hier vorhanden? P: Und wie soll man das dann mindestens den Studenten vermitteln? Weil alle diese Momente kann man an den Themen des Mittelalters leichter zeigen, aber kann man von den Zeitgeschichtlern verlangen, dass sie ein Seminar im Mittelalter absolvieren, um das endlich zu lernen? H: Das ist bei uns schon der Fall, der Studienplan fordert das, nur nützt es vielleicht nicht so viel, wie man sich erhoffen würde. Vielleicht weil dann in der Zeitgeschichte nicht darauf gedrängt wird, mit weniger Empathie, mit Offenheit und breitem Interesse an das Thema und an die Arbeit heranzugehen. Sie sollen aufhören, mir zu sagen, dass der Holocaust schrecklich war. Das weiß ich spätestens, seitdem ich im Film die Leichenberge in Bergen-Belsen gesehen habe. Das hat zur vollen Einsicht genügt. Aber die glauben immer, sie müssen einen überzeugen von Dingen, die jeder, der in dieser Hinsicht überhaupt denken kann, schon lange weiß. Sie sollen lernen, genau hinzuschauen, was war da los mit Menschen wie wir. Und um beim Bergen-Belsen-Film zu bleiben: Warum wird das so gefilmt? Und warum macht die sowjetische Filmerin in Auschwitz das anders? Das hat dann schon mehr mit uns, den Nachkriegsgenerationen zu tun. P: Das ist dann die Frage der Methoden. Wir leben in einer Zeit, in der die Methoden und die »Turns« eine große rituelle Rolle spielen. Es gibt inzwischen, vermute ich, fast fünfzig Turns, das hat keinen Sinn mehr, sie alle zur Kenntnis zu nehmen. Andererseits, diese Zugänge hatten doch etwas verändert, aber das Veränderte kommt nur bei den wirklich besten, am meisten anregenden Köpfen, sagen wir bei Konrad Jarausch37, vor. Aber bei der Masse bekommt man nur Neopositivismus der schlimmsten Sorte. H: Das Problem in den zeitgeschichtlichen Arbeiten ist oft, dass es um Sensationen geht, wie im Journalismus, um Empathie und ihre Kommunikation. Und das ist natürlich bei den Jesuiten in der frühen Neuzeit anders – was soll es da für Sensationen für jemanden heute geben? Jetzt mit meiner Kommission zur Malariatherapie38 habe ich aber das Problem 36 37 38
Ulrich Seidl (geb. 1952) ist österreichischer Filmemacher, -produzent und Schriftsteller. Konrad Hugo Jarausch (geb. 1941) ist Emeritus der University of North Carolina at Chapel Hill und ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Im Februar 2012 wurde Gernot Heiss vom Rektor der Medizinischen Universität
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ständig. Von außen geht es nur um aufregende Tagesmeldungen. P: Ja, gut, aber um diese geht es nicht nur in Österreich. Es gibt die Länder, wo doch gerade auch Mittelalter bisher eine politische Rolle spielt. Das ist dann umso interessanter, weil bestimmte Stereotypen, bestimmte Kanon-Erzählungen das Feld beherrschen. H: Meistererzählungen … Ich habe ja am Buch von Stefan Berger and Chris Lorenz über die Nationalgeschichtsschreibungen im Europa der letzten 200 Jahre mitgearbeitet. Ich hatte das Vergnügen, mit Dušan Kováč, Árpád von Klimó und Pavel Kolář zusammenzuarbeiten über die Historiographie zur Nationalgeschichte der heute vier Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie ab 1800.39 Das sollten wir in einem Artikel von 30 Seiten zusammenbringen. Und das Interessante an diesem Experiment, an diesem Projekt war für mich vor allem die Frage, wann kommt diese Nationalgeschichtsschreibung? Wann, wie und warum lassen sich die Historiker auf das nationale Projekt ein und welche Mythen konstruieren sie zu diesem Zweck? Es ist ein Buch mit großem Erfolg, es hat jetzt die dritte Auflage. Warum arbeiten wir heute darüber und warum interessiert das heute? Vielleicht weil wir alle Europäer werden und dafür etwas leisten wollen und uns, um die europäische Geschichte zu schreiben, die Ezzes von den Nationalgeschichtsschreibungen holen? Das ist zwar ironisch gemeint, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. P: Das ist gerade eines der größten Probleme. Es gibt schon ein paar schöne europäische Geschichten, z. B. das Buch von Tony Judt ist schon mit Gewinn lesbar, aber wie ist das real zu machen, dass man über die Horizonte des eigenen Landes geht? Man brauchte Jahrzehnte, um sich etwas in der begrenzten mitteleuropäischen Thematik zu orientieren und plötzlich sollte man die ganze Weite des, übrigens kleinen, Kontinents erschließen. Das ist schon ein Problem. Du machst viel, was über die Grenzen Österreichs reicht. Du arbeitest zusammen mit den Tschechen, mit den Slowaken, mit den Magyaren, andererseits warst Du in Georgetown eine Zeit und Du bist sehr oft in Paris, Du hast also auch eine andere Perspektive. Also, wie soll man das Gesamteuropäische schaffen? H: Na ja, ich bin nicht sicher, ob ich eine Meistererzählung, eine europäische »Staatsgeschichte« überhaupt will. Ich bin begeistert, wenn ich irgendetwas über die nationalen Grenzen Hinausgehendes im Ansatz, in kleinen Details versuche. So war es, als Andreas Moritsch an uns
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Wien ersucht, die Leitung der HistorikerInnenkommission »Die Malariatherapie und weitere diagnosekorrelierte Therapien: ihre Anwendung an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie in den 1950er und 1960er Jahren und ihre Diskussion in der zeitgenössischen Forschung« zu übernehmen. Für diese Therapie hatte Wagner-Jauregg 1927 den Nobelpreis erhalten. Gernot HEISS/Árpád v. KLIMÓ/Pavel KOLÁŘ/Dušan KOVÁČ, Habsburg’s Difficult Legacy: Comparing and Relating Austrian, Czech, Magyar and Slovak National Historical Master Narratives, in: Stefan BERGER/Chris LORENZ (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories (Writing the Nation: National Historiographies and the Making of Nation States in 19th and 20th Century Europe III), London–New York 2008, 367–404.
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herangetreten ist, wir sollen ein Alpen-Adria-Geschichtsbuch schreiben.40 Das hab ich brennend gern getan. Und zwar eben diese politische Grenzen überschreitende Geschichte unter dem Aspekt des Raums von den Alpen bis zur Adria – wie war das geistige Leben, die sozialen Beziehungen und das Wirtschaftsleben in diesem Raum in der frühen Neuzeit?41 Ich bin ja kein Annales-Schüler, ich will keine Geopolitik betreiben, aber dass man sich einem politische Grenzen überschreitenden Raum nähert, Fragen stellt und Themen sucht: Was bedeutet das für die eine, was für die andere Seite? Warum funktioniert etwas auf der einen Seite und auf der anderen nicht etc.? Freilich, eine Geschichte Europas – aber ich glaube nicht, dass große Werke, die wieder den historischen Identitätskanon festschreiben, so wünschenswert sind. Man soll das mit handhabbaren Büchern versuchen, mit einer deklarierten Position und einem offengelegten didaktischen Konzept, das auch wieder die Problematik der perspektivischen Auswahl deutlich macht. Es ist wichtig, von vornherein klar zu machen, ich will jetzt das und das besonders betonen und hervorheben, nicht die alles umfassende, große Geschichte schreiben, nicht die gültige Meistererzählung über die europäische Geschichte. P: Springen wir zu einer anderen Thematik: Du hast in den 1980ern damit begonnen, Dich mit der Filmgeschichte zu beschäftigen. Du hattest 1986 den Aufsatz über Stroheim42 publiziert und dann über die österreichische und tschechische Geschichte des Films, der Filmproduktion in der Zwischenkriegszeit geforscht.43 Erstens war das damals eine Entdeckung eines neuen Kontinents für die Geschichtsforschung und zweitens, das ist doch eine Quelle, die in jener Zeit gar nicht erschlossen wurde. Das war doch etwas anderes, als mit den Methoden der Literaturgeschichte oder der Urkundenlehre zu arbeiten. Wie bist Du dazu gekommen, einen Film nicht ästhetisch, sondern historisch zu analysieren? H: Der Film hat mich schon seit meinem Parisaufenthalt im Winter 1960/1961 sehr interessiert. Aber das hat natürlich nicht unbedingt etwas mit meiner Profession als Historiker zu tun. Was ebenfalls wichtig war, aber eigentlich auch nichts mit der Geschichte zu tun hatte: Ich bin befreundet mit Karl Sierek44, mit dem ich zuerst gemeinsame Lehrveranstaltungen gemacht habe. Er ist ein Filmwissenschaftler, der französischen Ausprägung würde ich sagen. Also sehr theoretisch, aber 40 41
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Andreas Moritsch (1936–2001) war Professor der Universität Klagenfurt/Celovec. Gernot HEISS, Aufbruch in die Moderne? Zur Geschichte der Alpen-Adria-Region zwischen 1470 und 1630, in: Andreas MORITSCH (Hg.), Alpen-Adria. Zur Geschichte einer Region, Klagenfurt–Ljubljana–Wien 2001, 173–232. HEISS, Erich von Stroheim. Gernot HEISS/Ivan KLIMEŠ; Kulturindustrie und Politik. Die Filmwirtschaft der Tschechoslowakei und Österreichs in der politischen Krise der dreißiger Jahre, in: Gernot HEISS/Ivan KLIMEŠ (Hg.) Obrazy času. Český a rakouský film 30. let / Bilder der Zeit. Tschechischer und österreichischer Film der 30er Jahre, Praha–Brno 2003, 303–483 (tschechische und deutsche Fassung). Karl Sierek (geb. 1952), Soziologe, Philosoph und Filmtheoretikerin in Wien, ist seit 1998 Professor für Geschichte und Theorie der Medien an der Universität Jena.
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auch sehr offen. Ich hab eben immer wieder die historischen Fragen gestellt – nach den politisch-ideologischen oder den sozialen Informationen aus der Entstehungszeit des Films etc. Den Film als Quelle zu verwenden, ist ja nicht so weit hergeholt. Es gab auch immer wieder die Versuche der Interpretation eines Films oder von einem Kompendium von mehreren Filmen in ihrer Aussage über die Zeit. In den 1980er Jahren gab es dann vor allen zwei Richtungen. Die eine, die sehr theoretisch war, psychoanalytische oder literaturwissenschaftliche Theorien hereinholte zur Interpretation der Filme, und die andere, die sehr pragmatisch war, grob gesagt, die amerikanische Schule, die etwa auch »nur« Filmindustrie-Geschichte gemacht hat. Da war dann nicht immer wichtig, was der Film oder die Filme für ästhetische Komponenten und filmische Qualität hatten, sondern, wie läuft die Filmindustrie, wie die Vermarktung und was macht die Politik mit diesem propagandistisch brauchbaren Medium etc. Da war ich sicherlich immer eher auf der amerikanischen Seite. So habe ich beim Strohheim-Artikel gefragt, was entwirft er für ein Wien-Klischee, was sind das für Figurenkonstellationen und Bedeutungen in seiner Darstellung der Wiener Gesellschaft 1914. Die Fronleichnamsprozession zu St. Stephan, die er in »The Wedding March«45 am Anfang bringt, ist meiner Meinung wirklich eine hervorragende Darstellung der militaristischen-klerikalen Gesellschaft der Franzisco-Josephinischen Epoche vor dem Krieg. Und sehr einleuchtend. Ich habe aber kaum etwas Besonderes mit meinen Publikationen geleistet für die Filmgeschichtsschreibung, sondern eher etwas in der Lehre. In den 1990er Jahren habe ich als Leiter mit Kollegen einen Filmlehrgang organisiert – »Film und Geisteswissenschaften«. Das war ein zweijähriges Studium, das man neben dem Hauptstudium machen konnte, wobei man sich auch einige der Lehrveranstaltungen im Hauptfach anrechnen lassen konnte. Am Ende bekam man zusätzlich ein Sammelzeugnis von unserem Dekan. Das haben wir zweimal gemacht mit interessanten Gästen aus der Filmwissenschaft, wie Kaja Silverman oder Thomas Elsaesser, und das war sicher ein wichtiger Impuls, auch wenn es in Wien mit Gerhard Jagschitz und in Salzburg mit Georg Schmid durchaus Historiker gab, die sich mit Film intensiv beschäftigt haben – Jagschitz vor allem mit Dokumentarfilm und Fotografie. Danach hat sich das Institut für Theaterwissenschaft umbenannt in Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Das Institut hatte damals wenig mit Film zu tun, jetzt vielleicht ein bisschen zu viel. Das heißt, eine große Zahl der Studierenden konzentriert sich vor allem auf Film, und das finde ich, ähnlich wie die Fixierung auf den Nationalsozialismus, nicht gut. Auch im Bereich der Geschichte hat es seitdem einige Entwicklungen gegeben. Frank Stern, Professor an der Zeitgeschichte, beschäftigt sich 45
»The Wedding March«, USA 1926, Regie, Drehbuch, Hauptrolle Erich von Stroheim.
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sehr intensiv mit Film46, ebenso Siegfried Mattl. Stefan Zahlmann47 arbeitet am Institut für Geschichte über Film. Das ist eine Entwicklung seit den 1980er Jahren. Der »Visual Turn« ist ein Kind dieser Zeit.48 In diesem allgemeinen Trend konnte man so etwas aufbauen. Und in meinen wissenschaftlichen Arbeiten und auch in den Diplomarbeiten, die ich vergeben habe, waren es immer die historischen Fragen. Also was gibt es an Filmen, was ist hier an Zeitgemäßem? Nicht das Ästhetische steht da im Vordergrund, sondern die Informationen über die Produktion und ihre Zeit. Schon in den ersten Seminaren mit Karl Sierek haben uns die Studentinnen und Studenten beschimpft, warum wir ihnen so miese Filme zur Analyse geben. Das Thema waren Heimatfilme der 1950er Jahre. Ich habe gesagt, das ist nicht Vergnügen, das ist Arbeit und diese Schnulzen sagen vielleicht mehr aus über die Zeit, als künstlerisch interessante Filme. P: In diesem Kontext muss gesagt werden, dass es schade ist, dass Du für die Bücher, welche wir gemeinsam aus den Ringvorlesungen gemacht haben, eigentlich nie etwas über den österreichischen Film gemacht hast. H: Für »An der Bruchlinie«49 hätte ich auch etwas schreiben können über den österreichischen Film nach 1945. Die Nachkriegszeit ist besonders interessant, weil sich auch im Film zeigt, dass dieses sogenannte Verdrängen in den ersten drei, vier Jahren nicht der Fall war. Da wurden Filme gemacht, in denen es auch um die Involvierung der Österreicherinnen und Österreicher in den Nationalsozialismus geht. Erst dann wurde das uninteressant für das Publikum und so auch für die Produzenten. P: Offensichtlich hat der Anfang des Kalten Krieges sehr viel in der Kultur bewirkt im ganzen Europa und auch in Amerika. H: Und außerdem die Leute. Es ist auch verständlich. Warum soll man sich lange damit beschäftigen? Ich bin einer derjenigen, die immer gesagt haben, die Entnazifizierung ist nicht »gescheitert«. Zwei bis drei Jahre lang war ein großer Teil der Nazielite ausgeschaltet. Gemeinsam mit der amerikanischen Propaganda hat das sicherlich zur Etablierung der demokratischen Nachkriegsgesellschaft beigetragen, der freilich einige Altlasten weiterhin anhafteten. Wollten die Amerikaner, die die Hauptträger der Entnazifizierung waren, dass die ehemaligen Nazis nie mehr in ihrem Beruf tätig sein dürfen? Ich denke nicht, dass das zu belegen ist. Dass dann 1948 die Amnestie gegeben wurde und diese mit der Verschärfung des Kalten Krieges einherging, das hat miteinander zu 46 47 48 49
Frank Stern (geb. 1944), Professor für Zeitgeschichte mit Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte an der Universität Wien. Seit 2010 Professor für Geschichte und Theorie von Medienkulturen (18.–20. Jahrhundert) am Institut für Geschichte der Universität Wien. Als jüngste Übersicht zum »Visual Turn« vgl.: Gerhard PAUL, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, Göttingen 2006. In diesem Band publizierte Gernot HEISS, Der Konsens und sein Preis: Zur Identitätskonstruktion in Österreich nach 1945, in: Gernot HEISS/Alena MÍŠKOVÁ/Jiří PEŠEK/Oliver RATHKOLB (Hg.), An der Bruchlinie. Österreich und die Tschechoslowakei nach 1945 / Na rozhraní světů. Rakousko a Československo po 1945, Brno–Innsbruck 1998, 233–255 bzw. 369–387 (deutsche bzw. tschechische Version).
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tun, ist aber auch in anderen Zusammenhängen zu sehen. Der Umgang der Tschechen mit den Altkommunisten war jedenfalls ein ganz anderer. P: Naja, die blieben mehrheitlich in ihren Funktionen. H: Nur an der Akademie der bildenden Künste wurden auf Initiative von Knížák alle hinausgeschmissen. P: Es gibt ein Buch von Dir, das ich eigentlich erst jetzt in Deiner Bibliographie entdeckt habe. Du hattest 1996 mit Konrad Paul Liessmann50, der momentan mindestens in Tschechien, aber ich vermute, in ganz Europa ein Superstar der kritischen Literatur ist, ein Buch geschrieben: »Das Millenium«.51 Bist Du dadurch auch ein Star der Literatur? H: Du hast mich nun entdeckt als Anlasshistoriker. Das Jahr 1996 und tausend Jahre Ostarrichi war natürlich so ein Anlassfall. Schon einer der mir sehr gelegen kommt, weil mich diese mythische Bedeutung von historischen Daten und Ereignissen interessiert. Das halte ich für ein ganz wichtiges, zentrales Thema für Historiker.52 Ihre historischen Mythen zu diskutieren. Wir haben uns entschieden, einen Millenniumsband zu machen, zu jedem Jahrhundert ein Autor. Aus verschiedenen Fächern, ein Kunsthistoriker, ein Theaterwissenschaftler, der damalige evangelische Superintendent fürs 16. Jahrhundert usw. Zu jedem Jahrhundert ein Autor und das publizieren wir dann im Sonderzahlverlag. Auch ein geeigneter Verlagstitel für so ein Buch und das war sofort vergriffen. Es ist sicher ein Thema, das mich sehr interessierte. Ich betone immer, man soll freilich mit unserer Arbeit und Lehre ein möglichst korrektes und interessantes historisches Bewusstsein fördern, aber noch wichtiger ist es, die historische Argumentation in unserem Denken und unserem politischen Handeln heute aufzubrechen, reflektier- und kritisierbar zu machen. Zu dieser Absicht gehört sicherlich der Artikel, wieder ein Jubiläumsartikel, in den Beiträgen zur historischen Sozialkunde53, im letzten Heft von 1982 zum sogenannten »Türkenjubiläum«. Da habe ich über »Österreichs Aufstieg zur Großmacht« – unter Anführungszeichen, weil es ein Titel eines Abschnitts im Handbuch von Erich Zöllner ist – geschrieben, und weiter, »ob wir das heute noch feiern sollen«. Also ziemlich rotzig, jugendlich. Da beschreibe ich kurz die politische Konstellation in den habsburgischen Ländern in der Zeit: Was Kara Mustafa veranlasst 50
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Konrad Paul Liessmann (geb. 1953) ist Professor für Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Zum Bestseller wurde besonders das Buch: Konrad Paul LIESSMANN, Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien 2006 (2.-6. Aufl. 2006, 7.–15. Aufl. 2007, 17. Aufl. 2008, Taschenbuchausgabe (Piper) 2008; tschechische und kroatische Übersetzungen 2008). Gernot HEISS/Konrad Paul LIESSMANN (Hg.), Das Millennium. Essays zu tausend Jahren Österreich, Wien 1996; Gernot HEISS publizierte hier: »Eine Kette von Begebenheiten« – 996/1996, 7–27. Gernot HEISS, Im »Reich der Unbegreiflichkeiten«. Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/4: Welches Österreich? (1996), 455–478. Gernot HEISS, »Österreichs Aufstieg zur Großmacht« – sollen wir ihn heute noch feiern?, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 12 (1982), 121–125.
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hat, gegen Wien zu ziehen, dass er geglaubt hat, sein Erfolg wird leicht werden bei diesen Kuruzen-Aufständen in Ungarn. Und vor allem, warum diese Aufstände waren, die Kara Mustafa zum Kriegszug veranlasst haben: Das dunkle Jahrhundert der Ungarn habe ich angesprochen, die Gegenreformation der Habsburger. Es gibt Quellen aus der Zeit, die belegen, dass die niederösterreichische Bevölkerung der Gegenreformation in Ungarn die Schuld am Krieg gab und die Jesuiten als die Schuldigen tätlich angriff. In diesem Heft ging es auch darum: was macht man, um diese großartigen Legenden – Bollwerk des Abendlandes usw. – aufzubrechen. Ich bin der Meinung, dass deshalb 1983 das Jubiläum in der katholische Kirche ein bisschen schwächer ausgefallen ist, als es sonst gewesen wäre. Durch das Heft verstärkt hat es eine große Diskussion in katholischen Kreisen in Wien gegeben. Einige haben sich fürchterlich aufgeregt über den ganz sachlichen Artikel von Michael Mitterauer über große Jubiläumsfeiern seit der Antike bis 1933 – Türkenabwehr und Katholikentag. Er war immer der Buhmann, weil er beim CV war und trotzdem gegen Legenden schrieb, die einigen Katholiken heilig sind: dass die Großfamilie auch in der guten vorindustriellen Zeit nicht immer die Norm war. Und nun über das Türkenjubiläum, sodass ihn ein Kollege angerufen hat, ob er denn gewollt hätte, dass damals die Türken Wien erobert hätten. Mein Artikel hat niemanden aufgeregt, obwohl ich einleitend sehr deutlich gegen den neuesten Lehrplan der Mittelschulen polemisiert habe, in dem es auch ganz unkritisch um Österreichs Aufstieg zur Großmacht ging. Einer der Verfasser ist zu mir gekommen und hat mir gratuliert, wie ich doch Recht habe. Da habe ich mir gedacht, irgendwas ist da schief. Die Leute lesen nicht, sondern beurteilen nur nach dem Ruf des Autors: mein Problem damals war, dass ich einfach der brave Schüler des allgemein geschätzten Erich Zöllner war. Ich konnte schreiben, was ich wollte: erst mit der »Willfährigen Wissenschaft« begann sich mein Ruf zu verkehren. Da hat eine Historikerin eine Mitarbeiterin von mir gefragt, wie sie nur mit mir zusammenarbeiten kann. Als diese dann entgegnete, ich hätte doch gute Arbeiten über das und jenes geschrieben, meinte die Heiss-Kritikerin, aber der hat doch den Habsburgern den Adelstitel aberkannt. Ich habe mich nie wieder so mächtig gefühlt. Es gibt freilich in meinen Arbeiten nirgends etwas, das nur im Entferntesten diese Behauptung unterstützen würde: Ich hab’ verzweifelt gesucht. Ausschlaggebend war mein Artikel über die Historiker in der Nazizeit; seitdem war ich nicht mehr der brave Schüler von Erich Zöllner. P: Tausend Jahre Österreich, ein Überblick quer über die europäische Geschichte also zwischen Rom und sagen wir Prag; dazu Filmgeschichte, die Arbeiten mit uns, mit Prag. Wie schaffst du das eigentlich? H: Es sind ja immer nur ganz begrenzte Themen. Es gibt für mich Kernfragen wie die Problematik eines nationalen Geschichtskanons, des Einflusses der politischen Zeittendenzen auf die Historiographie, auf unser Geschichtsbild. Durch die Konzentration auf begrenzte Fragestellungen
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kann man mir freilich das Fehlen anderer wichtiger Perspektiven und Fragen vorwerfen. Als ich z. B. über die Historiker im Band von Mitchell Ash54 geschrieben habe, ging es mir um etwas anderes als in meinen bisherigen Arbeiten zum Thema. Ich wollte einmal nur schauen, wie ist das möglich, dass die Wiener Geschichtsprofessoren ideologisch so einheitlich waren. Im Institut für Österreichische Geschichtsforschung war der Kern dieser Einheitlichkeit. Was hatte das für Folgen für ihre Wissenschaft und Lehre, und wo haben diese Herren auch ihre Eigenheiten. Die gab es natürlich; zwischen Heinz Zatschek55 und Otto Brunner war sowohl ideologisch als auch wissenschaftlich ein Riesenunterschied. Aber sie waren alle deutschnational und politisch involviert und ich wollte hier diese Einheitlichkeit, deren Hintergrund und Folgen herausarbeiten – dabei freilich auch ihre individuellen Besonderheiten charakterisieren. Ich interessiere mich für spezielle Fragen und Detailuntersuchungen und glaube wenig an Gesamtdarstellungen und Meistererzählungen. Das trägt natürlich dazu bei, dass ich fast nur Aufsätze schreibe. Bei den Sammelbänden, da geht es dann meistens eher um konzeptionelle und um Redaktionsarbeit. Das bringt mir dann schon wieder breite Informationen. P: Es ist schon schade, dass du Deine Habilschrift über die Anfänge der österreichischen Provinz SJ nicht komplett publiziert hast. Im vorigen Jahr habe ich den Aufsatz, den Du in dem Sammelband des Universitätsarchivs publiziert hattest56, gelesen. Das ist ein enorm wichtiger Text, und wenn Du dann die ganze Problematik notwendigerweise komprimierst, ist das ausgesprochen schade. H: Mich hat das als Buch nicht zufrieden gestellt. Für mich hätte zu einem Buch über die Frühzeit der Wiener Jesuiten gefehlt, noch mehr über die 70er Jahre des 16. Jahrhunderts einzuarbeiten. Die Politik in der Zeit Maximilians II., das wäre ganz wichtig gewesen, und der Übergang zu Rudolph II. Das wäre dann wirklich für mich ein Buch gewesen. Der Tod von Heinrich Lutz war dafür schlecht, weil er für mich ein Diskussionspartner zu diesem Thema gewesen wäre. Er ist mit meiner Habilitation in der Tasche gestorben.57 Konnte auch nicht mehr das Gutachten schreiben, dann hat es Erika Weinzierl gemacht. Erika 54
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Gernot HEISS, Die »Wiener Schule der Geschichtswissenschaft« im Nationalsozialismus: »Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft«?, in: Mitchell G. ASH/Wolfram NIESS/Ramon PILS (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 397–426. Heinz Zatschek (1901–1965), einer der Protagonisten der NS Bewegung an den Universitäten Prag und Wien, seit 1955 Dozent der Universität Wien, 1957–1965 Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien. Gernot HEISS, Die Wiener Jesuiten und das Studium der Theologie und der Artes an der Universität und im Kolleg im ersten Jahrzehnt nach ihrer Berufung (1551), in: Kurt MÜHLBERGER/Meta NIEDERKORN-BRUCK (Hg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), Wien 2010, 245–268. Heinrich Lutz (1922–1986) war Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien.
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Jiří Pešek
ist auch nicht nur Zeitgeschichtlerin gewesen, freilich eine sehr engagierte – und selbstreflexive. Einmal in einer Diskussion im Jüdischen Museum hat sie gesagt: ja, 1945/1946, da hätten sie und ihre Freunde gar nicht daran gedacht, dafür zu sorgen, dass dieser oder jener Nazi nicht mehr Professor bleibt. Sie hätten nur mehr an die schöne Zukunft nach der Befreiung gedacht. Die Entnazifizierung der Universität war nicht ihr Problem und ihre Sorge. Das sagte sie, die Kritische, die bei einer Studentengruppe war, die Widerstand geleistet hat. – Und heute kritisieren wir moralisierend, dass unsere Eltern- bzw. Großelterngeneration nach 1945 sich nicht gleich um die »Vergangenheitsbewältigung« gekümmert haben. P: Das ist immer doch die Schlüsselfrage, wofür sich die Menschen interessieren, was sie ärgert oder wofür sie auch bereit sind, sich zu engagieren. H: Dazu eine Ergänzung: Wie gesagt, durch das Beiträge-Heft Ende 1982, in dem mein kleiner Beitrag über »Österreichs Aufstieg zur Großmacht« erschien, war eine Diskussion zu den geplanten Jubiläumsfeiern zum »Türkenjahr«, wie das genannt wurde, entstanden. Unter anderem haben wir im Stadtschulrat ein kleines Seminar für Lehrer und Lehrerinnen verschiedener Schulstufen zu diesem Thema gemacht. Sie haben gesagt, wir sollen doch kritische Schulbücher schreiben. Sie hatten zu klagen: sie waren Lehrer in Klassen mit vielen Kindern von türkischen Gastarbeitern, und da waren die Konflikte durch 1683/1983 aufgeheizt. Also das ist der Grund, warum wir dann den Schmelztiegel produzierten, wobei ich – ich glaube, dass ich es war – in meiner Ablehnung auch einer kleinen Meistererzählung gegen eine Darstellung war und für den Band mit Quellen, Kommentaren und didaktischen Vorschlägen für den Unterricht eintrat, der dann gemacht wurde.58 P: Das war eine sehr wichtige Leistung. Und das Buch ist, wenn man es nach zwanzig Jahren in die Hände nimmt, immer noch so wichtig. H: Dafür war dann überhaupt kein Text von mir darin, nur die kurze Einleitung haben Gero Fischer, Michael Mitterauer und ich gemeinsam gezeichnet. Aber das war viel Arbeit. Geldauftreiben, organisieren, diskutieren der Kommentare von John und Lichtblau. Es war ein großes Unternehmen mit mehreren Seminaren mit 48 Lehrerinnen und Lehrern aus verschiedenen Schultypen: Sonderschule, Volksschule, Hauptschule, Mittelschule. Sie haben mitdiskutiert über die Brauchbarkeit der Quellen und welche Erfahrungen sie damit im Unterricht gemacht haben. Das waren sehr engagierte Lehrerinnen und Lehrer. P: Das ist schon sehr wichtig, dass es die Menschen sind, welche sich engagieren! Vielen, vielen Dank für dieses Gespräch.
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Michael JOHN/Albert LICHTBLAU (Hg.), Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien–Köln 1990.
AUSWAHL AUS DEN SCHRIFTEN VON GERNOT HEISS Monographien und Sammelbände Königin Maria von Ungarn und Böhmen (1505–1558). Ihr Leben und ihre wirtschaftlichen Interessen in Österreich, Ungarn und Böhmen, phil. Diss., Wien 1971, IV, 474 S. Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1789: Konflikt, Entspannung und Austausch (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 10), Wien–München 1983, 243 S. [gemeinsam mit Grete KLINGENSTEIN]. Friedensbewegungen: Bedingungen und Wirkungen (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 11), Wien–München 1984, 207 S. [gemeinsam mit Heinrich LUTZ]. Die Jesuiten und die Anfänge der Katholisierung in den Ländern Ferdinands I. Glaube, Mentalität, Politik, Habil., Wien 1986, 567 S. Glücklich ist, wer vergißt …? Das andere Wien um 1900 (Kulturstudien 6), Wien–Köln–Graz 1986, 396 S. [gemeinsam mit Hubert Christian EHALT/Hannes STEKL]. Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43), Wien 1989, 339 S. [gemeinsam mit Siegfried MATTL/Sebastian MEISSL/Edith SAURER/Karl STUHLPFARRER]. Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990, 240 S. [gemeinsam mit Oliver RATHKOLB/Georg SCHMID/ Margarete GRANDNER/Klemens RENOLDNER]. Und2. Texte zu Film und Kino, Wien 1992, 93 S. [gemeinsam mit Karl SIEREK]. Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft 25), Wien 1995, 226 S. [gemeinsam mit Oliver RATHKOLB]. Das Millennium. Essays zu tausend Jahren Österreich, Wien 1996, 208 S. [gemeinsam mit Konrad Paul LIESSMANN]. An der Bruchlinie. Österreich und die Tschechoslowakei nach 1945 / Na rozhraní světů. Rakousko a Československo po 1945, Brno– Innsbruck 1998, 480 S. [gemeinsam mit Alena MÍŠKOVÁ/Jiří PEŠEK/ Oliver RATHKOLB]. Othmar Zechyr – Das druckgraphische Werk, Weitra 2001, 302 S. [gemeinsam mit Martin HOCHLEITNER].
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Othmar Zechyr – Zeichnungen 1966–1996, Publikation anlässlich der Ausstellungen des Kunsthistorischen Museums im Palais Harrach vom 15. Jänner bis 11. März 2001, Wien 2001, 288 S. [gemeinsam mit Peter BAUM/Wilfried SEIPEL/Jutta SKOKAN]. Obrazy času. Český a rakouský film 30. let / Bilder der Zeit. Tschechischer und österreichischer Film der 30er Jahre, Praha–Brno 2003, 510 S. [gemeinsam mit Ivan KLIMEŠ]. Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 19), Innsbruck–Wien–München–Bozen 2005, 380 S. [gemeinsam mit Margarete GRANDNER/Oliver RATHKOLB]. Česko a rakousko po konci studené války. Různými cestami do nové Evropy, Ústí nad Labem 2008, 516 S. [gemeinsam mit Kateřina KRÁLOVÁ/Jiří PEŠEK/Oliver RATHKOLB]. Tschechien und Österreich nach dem Ende des Kalten Krieges. Auf getrennten Wegen ins neue Europa, Ústí nad Labem 2009, 503 S. [gemeinsam mit Kateřina KRÁLOVÁ/Jiří PEŠEK/Oliver RATHKOLB]. Aufsätze Politik und Ratgeber der Königin Maria von Ungarn in den Jahren 1521–1531, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 82 (1974), 119–180. Die ungarischen, böhmischen und österreichischen Besitzungen der Königin Maria (1505–1558) und ihre Verwaltung, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 27 (1974), 61–100, und 29 (1976), 52–121. Erziehung der Waisen zur Manufakturarbeit. Pädagogische Zielvorstellungen und ökonomische Interessen der mariatheresianischen Verwaltung, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 85 (1977), 316–331. Konfession, Politik und Erziehung. Die Landschaftsschulen in den nieder- und innerösterreichischen Ländern vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Grete KLINGENSTEIN/Heinrich LUTZ/Gerald STOURZH (Hg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 5), Wien–München 1978, 13–63. Zur antimilitaristischen Taktik der österreichischen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg. Die Diskussion auf dem Gesamtparteitag von 1903, in: Gerhard BOTZ/Hans HAUTMANN/Helmut KONRAD/Josef WEIDENHOLZER (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur Österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (Wien–München–Zürich 1978), 561–579. Zur Geschichte der protestantischen »Landschaftsschulen« in den nieder- und innerösterreichischen Ländern vor dem Dreißigjährigen Krieg,
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in: Bericht über den vierzehnten österreichischen Historikertag in Wien vom 3. bis 7. April 1978 (Veröffentlichungen des Verbandes österreichischer Geschichtsvereine 22), Wien 1979, 49–58. Die Kuenringer im 15. und 16. Jahrhundert: Zum Machtverlust einer Familie, in: Kuenringerforschungen. Jahrbuch des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich NF 46/47 (1980/81), 227–260. Bildungsverhalten des niederösterreichischen Adels im gesellschaftlichen Wandel. Zum Bildungsgang im 16. und 17. Jahrhundert, in: Grete KLINGENSTEIN/Heinrich LUTZ (Hg.), Spezialforschung und »Gesamtgeschichte« (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 8), Wien– München 1981, 139–157. Reformation und Gegenreformation (1519–1618). Probleme und ihre Quellen, in: Erich ZÖLLNER (Hg.), Die Quellen der Geschichte Österreichs (Schriften des Instituts für Österreichkunde 40), Wien 1982, 114–132. »Österreichs Aufstieg zur Großmacht« – sollen wir ihn heute noch feiern?, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 12 (1982), 121–125. Integration in die höfische Gesellschaft als Bildungsziel: Zur Kavalierstour des Grafen Johann Sigmund von Hardegg 1646/50, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 48/49 (1982/83), 99–114. Historische Ausstellungen: Überlegungen zu einer erfolgreichen Gattung, zu den biographischen Ausstellungen von 1980, in: Kulturjahrbuch. Wiener Beiträge zu Kulturwissenschaft und Kulturpolitik 1, Wien 1982/83), 195–208. Nachtrag (1518–1531), in: Die Korrespondenz Ferdinands I., 3: Familienkorrespondenz 1531 und 1532 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 58/3, Wien 1984, 685–727 [Edition, gemeinsam mit Christiane THOMAS]. Argumentation für Glauben und Recht. Zur rhetorisch-juridischen Ausbildung des Adels an den protestantischen »Landschaftsschulen« in den nieder- und innerösterreichischen Ländern vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereines 129/I (1984), 175–186; und in: Roman SCHNUR (Hg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, 675–686. Straße – Mythos von Freiheit und Leben: Zur Herkunft eines modernen Traumes, in: Aufrisse. Zeitschrift für politische Bildung 5/4 (1984), 37–46. Konfessionsbildung und Kirchenzucht. Der Beitrag des »Zeitalters der Glaubensspaltung« zur Mentalität des modernen Menschen, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 15 (1985), 11–15. Erich von Stroheim: Wien in Hollywood. Erinnerung, Wirklichkeit, Fiktion, in: Hubert Christian EHALT/Gernot HEISS/Hannes STEKL (Hg.), Glücklich ist, wer vergißt …? Das andere Wien um 1900 (Kulturstudien 6), Wien–Köln–Graz 1986, 247–284.
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Auswahl aus den Schriften von Gernot Heiss
Notranjeavstrijske »deželne stanovske šole«. Poskus njih uvrstitve v šolski in izobraževalni sistem 16. stoletja [Die innerösterreichischen »Landschaftsschulen«. Ein Versuch ihrer Verortung im Erziehungssystem des 16. Jahrhunderts], in: Zgodovinski Časopis 41 (1987), 585–598. Arnold Gehlen. Seine Natur und seine Stellung im Dritten Reich, in: Forum 35/413/414 (Wien Mai/Juni 1988), 38–40. Konfessionsbildung, Kirchenzucht und frühmoderner Staat. Die Durchsetzung des ›rechten‹ Glaubens im »Zeitalter der Glaubensspaltung« am Beispiel des Wirkens der Jesuiten in den Ländern Ferdinands I., in: Hubert Christian EHALT (Hg.), Volksfrömmigkeit. Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Wien–Köln 1989, 192–220. Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: Gernot HEISS/Siegfried MATTL/Sebastian MEISSL/Edith SAURER/Karl STUHLPFARRER (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43), Wien 1989, 39–76. Standeserziehung und Schulunterricht. Zur Bildung des niederösterreichischen Adeligen in der frühen Neuzeit, in: Adel im Wandel. Politik – Kultur – Konfession 1500–1700. Niederösterreichische Landesausstellung, Rosenburg, 12. Mai–26. Oktober 1990 (Katalog des NÖ Landesmuseums NF 251), Wien 1990, 390–407 und Objektbeschreibungen 421–427. »Ihro keiserlichen Mayestät zu Diensten […] unserer ganzen fürstlichen Familie aber zur Glori«. Erziehung und Unterricht der Fürsten von Liechtenstein im Zeitalter des Absolutismus, in: Evelin OBERHAMMER (Hg.), Der ganzen Welt ein Lob und Spiegel. Das Fürstenhaus Liechtenstein in der frühen Neuzeit, Wien 1990, 155–181. »Ein Reich von Künstlern und Kellnern«, in: Oliver RATHKOLB/Georg SCHMID/Gernot HEISS/Margarete GRANDNER/Klemens RENOLDNER (Hg.), Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990, 118–126. Im Kampf um das Haupt des deutschen Helden Siegfried. Traditionen und ihre Hüter, in: Forum 444 (1990), 57–63 [gemeinsam mit Margarete GRANDNER/Elisabeth KLAMPER]. Konfessionelle Propaganda und kirchliche Magie. Berichte der Jesuiten über den Teufel aus der Zeit der Gegenreformation in den mitteleuropäischen Ländern der Habsburger, in: Römische Historische Mitteilungen 32/33 (1990/1991), 103–152. »Das Werden Österreichs«. Die territoriale Entwicklung im Spätmittelalter in der Geschichtsschreibung und in Historienbildern, in: Aus Österreichs Vergangenheit. Entwürfe von Carl von Blaas (1815–1894). Katalog zur Ausstellung der Österreichischen Galerie Wien im Schloß Halbturn, 15. Mai bis 27. Oktober 1991, 9–14.
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Princes, Jesuits and the Origins of Counter-Reformation in the Habsburg Lands, in: Robert J. W. EVANS/Trevor V. THOMAS (Hg.), Crown, Church and Estates in Central European Politics in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, London 1991, 92–109. Gebet für den Frieden. Landesfürstlicher Absolutismus und religiöse Interpretation von Krieg und Frieden, in: Bericht über den achtzehnten Österreichischen Historikertag in Linz, September 1990 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Geschichtsvereine 27), Wien 1991, 282–290. Erziehung und Bildung politischer Eliten in der frühen Neuzeit. Probleme und Interpretationen, in: Elmar LECHNER/Helmut RUMPLER/Herbert ZDARZIL (Hg.), Zur Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Probleme und Perspektiven der Forschung, Wien 1992, 459–470. Jezuiti: Podobe in nasprotne podobe iz 16. stoletja [Die Jesuiten: Bilder und Gegenbilder aus dem 16. Jahrhundert], in: Metod BENEDIK (Hg.), Jezuiti na Slovenskem. Zbornik simpozija (Redovništvo na Slovenskem 3), Ljubljana 1992, 51–65. »... wirkliche Möglichkeiten für eine nationalsozialistische Philosophie«? Die Reorganisation der Philosophie (Psychologie und Pädagogik) in Wien 1938 bis 1940, in: Kurt FISCHER/Franz WIMMER (Hg.), Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930 bis 1950, Wien 1993, 130–169. Pan-Germans, Better Germans, Austrians. Austrian Historians on National Identity from the First to the Second Republic, in: German Studies Review 16 (1993), 411–433. Die Bedeutung und die Rolle der Jesuiten im Verlauf der innerösterreichischen Gegenreformation, in: France M. DOLINA/Maximilian LIEBMANN/Helmut RUMPLER/Luigi TAVANO (Hg.), Katholische Reform und Gegenreformation in Innerösterreich 1564–1628 – Katoliška prenova in protireformacija v notranjeavstrijskih deželah 1564–1628 – Riforma cattolica e controriforma nell’Austria Interna 1564–1628, Klagenfurt–Ljubljana–Wien–Graz–Köln 1994, 63–76. Die innerösterreichischen »Landschaftsschulen«: Ein Versuch ihrer Einordnung in das Schul- und Bildungssystem des 16. Jahrhunderts, in: Rolf-Dieter KLUGE (Hg.), Ein Leben zwischen Laibach und Tübingen. Primus Truber und seine Zeit. Intentionen, Verlauf und Folgen der Reformation in Württemberg und Innerösterreich (Sagners slavistische Sammlung 24), München 1995, 191–210. Tafeln bei Hof: Die Hochzeitsbankette Kaiser Leopolds I., in: Wiener Geschichtsblätter 50 (1995), 181–206 [gemeinsam mit Beatrix BASTL]. Ausländer, Flüchtlinge, Bolschewiken: Aufenthalt und Asyl 1918–1933, in: Gernot HEISS/Oliver RATHKOLB (Hg.), Asylland wider Willen.
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Auswahl aus den Schriften von Gernot Heiss
Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 25), Wien 1995, 86–108. »Eine Kette von Begebenheiten« – 996/1996, in: Gernot HEISS/Konrad Paul LIESSMANN (Hg.), Das Millennium. Essays zu tausend Jahren Österreich, Wien 1996, 7–27. Hofdamen und Höflinge zur Zeit Kaiser Leopolds I. Zur Geschichte eines vergessenen Berufsstandes, in: Václav BŮŽEK (Hg.), Život na dvorech barokní šlechty (1600–1750) (Opera Historica 5), České Budějovice 1996, 187–265 [gemeinsam mit Beatrix BASTL]. Im »Reich der Unbegreiflichkeiten«. Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/4: Welches Österreich? (1996), 455–478. Die Bildungsreisen österreichischer Adeliger in der frühen Neuzeit – Cesty rakouských šlechticů za vzděláním v raném novověku, in: Lenka BOBKOVÁ/Michaela NEUDERTOVÁ (Hg.), Cesty a cestování v životě společnosti – Reisen im Leben der Gesellschaft. Sborník příspěvků z konference konané 6.–8. září 1994 v Ústí nad Labem (Acta Universitatis Purkynianae, Philosophica et Historica, Studia historica II), Ústí nad Labem 1997, 251–268. Educational Politics in the Austrian Lands and the Foundation of the Jesuit University of Graz 1585, in: Helga ROBINSON-HAMMERSTEIN (Hg.), European Universities in the Age of Reformation and CounterReformation, Dublin 1998, 169–186. Der Konsens und sein Preis: Zur Identitätskonstruktion in Österreich nach 1945, in: Gernot HEISS/Alena MÍŠKOVÁ/Jiří PEŠEK/Oliver RATHKOLB (Hg.), An der Bruchlinie. Österreich und die Tschechoslowakei nach 1945 / Na rozhraní světů. Rakousko a Československo po 1945, Brno–Innsbruck 1998, 233–255 bzw. 369–387 (deutsche bzw. tschechische Version). Von der Autonomie zur staatlichen Kontrolle? Die Wiener und die Grazer Universität im 16. Jahrhundert, in: Helmuth GRÖSSING (Hg.), Themen der Wissenschaftsgeschichte (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 23), Wien 1999, 174–191. »… As the Universities in Austria Were More Pillars of Our Movement Than Those in the Old Provinces of the Reich«. The University of Vienna from Nazification to De-Nazification, in: Georg STACHER/ Werner CREUTZFELDT/Guenter J. KREJS (Hg.), A Period of Darkness: The University of Vienna’s Medical School and the Nazi Regime. Contributions to a Symposium held in Conjunction with the 11th World Congress of Gastroenterology, Vienna, Austria, 1998 (Digestive Diseases. State of-the-Art Clinical Reviews 17/5–6), Basel–Freiburg–Paris– London etc. 2000, 267–278.
Auswahl aus den Schriften von Gernot Heiss
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Österreich am 1. April 2000, in: Ernst KIENINGER/Nikola LANGREITER/Armin LOACKER/Klara LÖFFLER (Hg.), 1. April 2000, Wien 2000, 187–207. Aufbruch in die Moderne? Zur Geschichte der Alpen-Adria-Region zwischen 1470 und 1630, in: Andreas MORITSCH (Hg.), Alpen-Adria. Zur Geschichte einer Region, Klagenfurt–Ljubljana–Wien 2001, 173–232. Die Liebe des Fürsten zur Geometrie: Adelserziehung und die Wertschätzung der höfischen Gesellschaft für Symmetrie und Regelmäßigkeit, in: Peter J. BURGARD (Hg.), Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche, Wien–Köln–Weimar 2001, 101–119. »Eine Stille darstellen, die ärger ist als eine Explosion«. Othmar Zechyr 1938–1996, in: Peter BAUM/Gernot HEISS/Wilfried SEIPEL/Jutta SKOKAN (Hg.), Othmar Zechyr – Zeichnungen 1966–1996, Publikation anlässlich der Ausstellungen des Kunsthistorischen Museums im Palais Harrach vom 15. Jänner bis 11. März 2001, Wien 2001, 10–23. Od autonomie ke státní kontrole? Univerzita ve Vídni a ve Štýrském Hradci v 16. století, in: Acta Universitatis Carolinae – Studia territorialia 1/3 (2002) 71–92. La «mission» de l’Autriche en Europe centrale vue par des historiens autrichiens du XXe siècle, in: Marie-Elizabeth DUCREUX/Antoine MARES (Hg.), Enjeux de l’histoire en Europe centrale, Paris 2002, 199–219. Zwischen »Blut und Boden«, Monumentalität und funktionaler Sachlichkeit, in: Michael ACHENBACH/Karin MOSER (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien 2002, 301–312. Philosophie an der Universität Wien von der Ersten zur Zweiten Republik, in: Michael HEIDELBERGER/Friedrich STADLER (Hg.), Wissenschaftsphilosophie und Politik / Philosophy of Science and Politics (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 11), Wien–New York 2003, 25–38. Ernte oder Die Julika (1936), in: Gernot HEISS/Ivan KLIMEŠ (Hg.), Obrazy času. Český a rakouský film 30. let / Bilder der Zeit. Tschechischer und österreichischer Film der 30er Jahre, Praha–Brno 2003, 121– 159 (tschechische und deutsche Fassung). Kulturindustrie und Politik. Die Filmwirtschaft der Tschechoslowakei und Österreichs in der politischen Krise der dreißiger Jahre, in: Gernot HEISS/Ivan KLIMEŠ (Hg.), Obrazy času. Český a rakouský film 30. let / Bilder der Zeit. Tschechischer und österreichischer Film der 30er Jahre, Praha–Brno 2003, 303–483 (tschechische und deutsche Fassung) [gemeinsam mit Ivan KLIMEŠ]. Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Armin LOACKER (Hg.), Willi Forst – ein Filmstil aus Wien, Wien 2003, 112–131.
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Die »Litterae annuae« und die »Historiae« der Jesuiten, in: Josef PAUSER/ Martin SCHEUTZ/Thomas WINKELBAUER (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 44), Wien–München 2004, 663–674. Mezi ochranou a ohrožením – italská a židovská obec v Praze a ve Vídni v 16. a 17. století ve zprávách jezuitů / Between the Protection and Jeopardy: The Italian and Jewish Communities in Prague and in Vienna in 16th and 17th Centuries in the Jesuits’ Reports, in: Olga FEJTOVÁ/Václav LEDVINKA/Jiří PEŠEK/Vít VLNAS (Hg.), Barokní Praha – Barokní Čechie, 1620–1740. Sborník příspěvků z 22. vědecké konference o fenoménu baroka v Čechách (Documenta Pragensia), Praha 2004, 177–189. Les décors de la table baroque et les festins de mariage sous Léopold Ier, in: Catherine ARMINJON/Béatrix SAULE (Hg.), Tables Royales et festins de cour en Europe 1661–1789. Actes du colloque international Palais des Congrès, Versailles 25–26 février 1994, Paris 2004, 83– 111 [gemeinsam mit Beatrix BASTL]. Tourismus, in: Emil BRIX/Ernst BRUCKMÜLLER/Hannes STEKL (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten, Wien 2004, 330–356. Bildungs- und Reiseziele österreichischer Adeliger in der Frühen Neuzeit, in: Rainer BABEL/Werner PARAVICINI (Hg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, Ostfildern 2005, 217–235. Perspektivenwechsel – Geschichtsinterpretationen seit 1815, in: STIFTUNG HAUS DER GESCHICHTE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (Hg.), Verfreundete Nachbarn. Deutschland – Österreich. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Bonn 2005, 30–37. Der Nationalökonom Walter Heinrich und seine Beziehungen zu den Nationalsozialisten in Böhmen und in Deutschland. Zur politischen Einschätzung des Spann-Kreises, in: Michal SVATOŠ/Luboš VELEK/ Alice VELKOVÁ/William D. GODSEY/Ralph MELVILLE (Hg.), Magister noster. Sborník statí věnovaných in memoriam Prof. PhDr. Janu Havránkovi, CSc. / Festschrift in memoriam Prof. PhDr. Jan Havránek, CSc. / Studies dedicated to Prof. PhDr. Jan Havránek, CSc., in memoriam, Praha 2005, 195–203. »… dass Österreich wieder zum Kulturträger und Kulturpionier für die gesamte Menschheit werde.« Kulturpolitik und kulturelle Entwicklung im Österreich der Nachkriegszeit, in: Karin MOSER (Hg.), Besetzte Bilder. Film, Kultur und Propaganda in Österreich 1945–1955, Wien 2005, 37–60. Wendepunkt und Wiederaufbau: Die Arbeit des Senats der Universität Wien in den Jahren nach der Befreiung, in: Margarete GRANDNER/
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Gernot HEISS/Oliver RATHKOLB (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 19) Innsbruck–Wien–München–Bozen 2005, 9–37. Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955, in: Margarete GRANDNER/Gernot HEISS/Oliver RATHKOLB (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 19) Innsbruck–Wien– München–Bozen 2005, 189–210. L & W – das Kino als moralische Anstalt, in: Ingrid BAUER/Christa HÄMMERLE/Gabriella HAUCH (Hg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen (L’Homme Schriften 10), Wien 2005, 144–155. Angst, Hass und Widerstand. Der Zeichner Othmar Zechyr und die Fürsorgeerziehung der 1950er-Jahre, in: Michael JOHN/Wolfgang REDER (Hg.), Wegscheid. Von der Korrektionsbaracke zur sozialpädagogischen Institution, Linz 2006, 67–83. Österreich am 1. April 2000 – das Bild von Gegenwart und Vergangenheit im Zukunftstraum von 1952, in: Ernst BRUCKMÜLLER (Hg.), Wiederaufbau in Österreich 1945–1955. Rekonstruktion oder Neubeginn?, Wien–München 2006, 102–124. Film als Quelle, in: Martina FUCHS/Alfred KOHLER/Ralph ANDRASCHEK-HOLZER (Hg.), Geschichte in Bildern? (Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 6/2), Innsbruck–Wien–Bozen 2006, 99–108. Maria, Königin von Ungarn und Böhmen (1505–1558) als Thema der Forschung, in: Martina FUCHS/Orsolya RÉTHELYI/Katrin SIPPEL (Hg.), Maria von Ungarn (1505–1558). Eine Renaissancefürstin (Geschichte in der Epoche Karls V. 8), Münster 2007, 11–23 [gemeinsam mit Orsolya RÉTHELYI]. Paula Wessely: Kritik im Wandel der Zeit, in: Armin LOACKER (Hg.), Im Wechselspiel. Paula Wessely und der Film, Wien 2007, 345–405. Triumph und Fall des genialen Entdeckers. Christoph Columbus im französischen Film, in: Friedrich EDELMAYER/Martina FUCHS/Georg HEILINGSETZER/Peter RAUSCHER (Hg.), Plus Ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, Münster 2008, 675–696. Der Wissenschaftler als Genie der Nation: Louis Pasteur im frühen französischen Film, in: Gertrude ENDERLE-BURCEL/Eduard KUBŮ/Jiří ŠOUŠA/Dieter STIEFEL (Hg.), »Discourses – Diskurse«. Essays for – Beiträge zu Mikuláš Teich & Alice Teichova, Prague–Vienna 2008, 435–440.
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Auswahl aus den Schriften von Gernot Heiss
Aus gemeinsamen Wurzeln. Filmproduktion zwischen Prag und Wien bis 1938, in: Johannes ROSCHLAU (Red.), Zwischen Barrandov und Babelsberg. Deutsch-tschechische Filmbeziehungen im 20. Jahrhundert (CineGraph Buch), München 2008, 31–42. Die Universität Wien im Bild der Ostmark-Wochenschau, in: Hrvoje MILOSLAVIC (Hg.), Die Ostmark-Wochenschau. Ein Propagandamedium des Nationalsozialismus, Wien 2008, 201–212. Habsburg’s Difficult Legacy: Comparing and Relating Austrian, Czech, Magyar and Slovak National Historical Master Narratives, in: Stefan BERGER/Chris LORENZ (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories (Writing the Nation: National Historiographies and the Making of Nation States in 19th and 20th Century Europe III), London–New York 2008, 367–404 [gemeinsam mit Árpád v. KLIMÓ/Pavel KOLÁŘ/Dušan KOVÁČ]. Austrian Nobility at the Court of Leopold I (1658–1705), in: Martine BOITEUX/Catherine BRICE/Carlo M. TRAVAGLINI (Hg.), Le nobilità delle città capitali, Roma 2009, 285–302. Die Wiener Jesuiten und das Studium der Theologie und der Artes an der Universität und im Kolleg im ersten Jahrzehnt nach ihrer Berufung (1551), in: Kurt MÜHLBERGER/Meta NIEDERKORN-BRUCK (Hg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), Wien 2010, 245–268. Auf der »Schaubühne des Todes«: Der priesterliche Beistand für Delinquenten bei öffentlichen Hinrichtungen. In. Petronillia CEMUS (Hg.), Bohemia Jesuitica 1556–2006. Jesuité v Čechách, Praha 2010, 395–404. Die »Wiener Schule der Geschichtswissenschaft« im Nationalsozialismus: »Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft«?, in: Mitchell G. ASH/Wolfram NIESS/Ramon PILS (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 397–426. Österreich als Schauplatz des Kalten Krieges im Film, in: István MAJOROS/Zoltán MARUZSA/Oliver RATHKOLB (Hg.), Österreich und Ungarn im Kalten Krieg, Wien–Budapest 2010, 67–82. »Wien 1910« – Ein NS-Film zu Lueger und Schönerer, in: Heinrich BERGER/Melanie DEJNEGA/Regina FRITZ/Alexander PRENNINGER (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien–Köln–Weimar 2011, 153–165.
MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DES BANDES Ivana ČORNEJOVÁ – Dozentin für Neuere Geschichte, Leiterin des Instituts für Geschichte der Karls-Universität in Prag. Friedrich EDELMAYER – Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Margarete GRANDNER – Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Zdeněk HOJDA – Dozent für historische Hilfswissenschaften und Geschichte der Frühen Neuzeit an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Michael JOHN – Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Linz. Ivan KLIMEŠ – Dozent des Lehrstuhls für Filmwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Nationalen Filmarchivs, Prag. Árpád von KLIMÓ – Associate Professor für Neuere Europäische Geschichte am Department of History der Catholic University of America, Washington, D. C., USA. Ota KONRÁD – Univ.-Assistent am Institut der internationalen Studien an der Karls-Universität Prag, wissenschaftlicher Mitarbeiter des MasarykInstituts und des Archivs der tschechischen Akademie der Wissenschaften. Nina LOHMANN – Historikerin an der Karls-Universität in Prag. Petr MAREŠ – Professor für die tschechische Sprache an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Siegfried MATTL – Univ.-Dozent für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Wien, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft. Anita PELÁNOVÁ – Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Jiří PEŠEK – Professor für Moderne deutsche und österreichische Kulturgeschichte an der Karls-Universität in Prag, Mitherausgeber der Tschechischen Historischen Zeitschrift (Český časopis historický).
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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Jiří RAK – Historiker der Mythen und der Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert, pensionierter Mitarbeiter des Instituts für Internationale Studien der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Oliver RATHKOLB – Professor der Zeitgeschichte an der Universität Wien, Herausgeber der Fachzeitschrift »zeitgeschichte«. James SHEDEL – Associate Professor für Geschichte am Department of History der Georgetown University, Washington, D. C., USA. Germain WEBER – Professor der Psychologie am Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie an der Universität Wien.