Beharren. Bewegen: Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428539925, 9783428139927

Das Werk Michael Kloepfers lässt sich thematisch nicht eingrenzen, aber auf die produktive Spannung des »Beharrens« und

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German Pages 984 Year 2013

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Beharren. Bewegen: Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428539925, 9783428139927

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Beharren. Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Claudio Franzius, Stefanie Lejeune, Kai von Lewinski, Klaus Meßerschmidt, Gerhard Michael, Matthias Rossi, Theodor Schilling, Peter Wysk

Duncker & Humblot · Berlin

Beharren. Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1244

Beharren. Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Claudio Franzius, Stefanie Lejeune, Kai von Lewinski, Klaus Meßerschmidt, Gerhard Michael, Matthias Rossi, Theodor Schilling, Peter Wysk

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13992-7 (Print) ISBN 978-3-428-53992-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83992-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der 70. Geburtstag Michael Kloepfers ist den Herausgebern und den Autoren Anlass, mit dieser Festschrift einen großen Gelehrten, Lehrer und Streiter für das Recht zu ehren. Solche Ehrungen werden allmählich zu einer – dem Jubilar hoffentlich lieben – Gewohnheit: Dies ist bereits die dritte Festschrift für ihn. Während die beiden früheren libelli discipulorum waren, können wir ihm diesmal ein liber amicorum überreichen. Mit der Fülle der Beiträge und der Breite der Themen wird ihm diese Festschrift, so hoffen wir, in besonderem Maße gerecht. Michael Kloepfer ist in Berlin geboren und in der ersten Nachkriegszeit dort aufgewachsen. Man wird davon ausgehen können, dass die alliierte Besatzung, die Hungersnot und der stets gegenwärtige Verwesungsgeruch einen starken Eindruck auf ihn machten. Namentlich das Leben im geteilten Berlin, der Nahtstelle des „kalten Krieges“, der stets, wie es schien, in einen offenen Konflikt umzuschlagen drohte – in West-Berlin konnte man vor dem Mauerbau nie sicher sein, dass die so genannten Betriebskampfgruppen der DDR nicht einmarschieren würden –, hat ihn stark geprägt. Nach der „Wende“ mochte er sich denn auch mit dem eines Sakralbaus würdigen Marx-Engels-Lenin-Glasfenster in der juristischen Bibliothek der HumboldtUniversität kaum abfinden. Ebenfalls in Berlin an der Freien Universität absolvierte Michael Kloepfer sein Jurastudium. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann er als Assistent von Karl August Bettermann und Fritz Werner. Später folgte er Peter Lerche als Assistent nach München. Hier wurde er 1969 mit einer preisgekrönten Arbeit über „Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz“ promoviert, und hier habilitierte er sich vier Jahre später über die „Vorwirkung von Gesetzen“. Seinen ersten Ruf erhielt er 1974 an die Freie Universität Berlin. Vorlesungen, die er in dieser Zeit der Studentenunruhen hielt, waren als „die blaue Stunde“ bekannt: Er musste sie von Polizisten schützen lassen, die damals blaue Uniformen trugen. Für Michael Kloepfer war das eine prägende Erfahrung. Sie festigte seine Überzeugung, dass die Wissenschaft niemals der Gewalt weichen dürfe. 1976 wechselte er an die Universität Trier, wo er 16 Jahre lang bleiben sollte. In dieser Zeit betrieb er die Gründung des Instituts für Umwelt- und Technikrecht, dessen Direktorium er bis zu seinem Wechsel an die Humboldt-Universität zu Berlin angehörte. In Trier konnte er 1990 auch das erste von der DFG geförderte Graduiertenkolleg „Umwelt- und Technikrecht“ etablieren. Während seiner Trierer Zeit war er Mitglied der OECD-Expertengruppe „Chemical Glossary“, des Technologiebeirates Rheinland-Pfalz und der deutsch-deutschen Arbeitsgruppe Umweltrahmengesetz, außerdem Richter im Nebenamt am OVG Rheinland-Pfalz, Gastprofessor in

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Vorwort

Sendai (Japan) und Professeur invité an der Universität Lausanne. Bei seinem Weggang hatte er den größten Lehrstuhl am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier. 1992, kurz nach der „Wende“, folgte Michael Kloepfer einem Ruf an die Humboldt-Universität zu Berlin und damit zugleich in seine Heimatstadt. Er ist dort Leiter der Forschungszentren Umweltrecht, Technikrecht und Katastrophenrecht sowie des Instituts für Gesetzgebung und Verfassung, die in der Forschungsplattform Recht zusammengefasst sind. Während der Zeit bis zu seiner Emeritierung war er Vorsitzender oder stellvertretender Vorsitzender verschiedener Kommissionen zum Umweltgesetzbuch, aber auch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft, der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Lärm“ an der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen sowie des Beirats der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz, Direktor am Europäischen Zentrum für Staatswissenschaft und Staatspraxis sowie des Walter Hallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht, Dekan der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität, Mitglied einer Kommission zur Vorbereitung eines Informationsgesetzbuchs, der Commission on Environmental Law der World Conservation Union (IUCN) und einer Schutzkommission beim Bundesinnenministerium sowie Gastprofessor in Kobe (Japan) und an der Stanford University (Kalifornien). Zudem war er der Studienstiftung des Deutschen Volkes eng verbunden und betreute mehrfach Sommerakademien und ein Studienkolleg. Nicht verschwiegen werden darf aber, dass auch ein so erfolgsverwöhntes Leben von Rückschlägen nicht ganz verschont geblieben ist. Seine wohl größte wissenschaftliche Enttäuschung stellte das politische Scheitern des verabschiedungsreifen Umweltgesetzbuchs dar, auf das er so viel Kraft verwendet hatte. Michael Kloepfers umfang- und einflussreiches Wirken in zahlreichen Kommissionen und seine weltumspannende Lehrtätigkeit belegen die Richtigkeit einer möglichen Deutung seiner bekannten Maxime, die auch als Titel seiner ersten Festschrift diente: „Kein Jurist denkt umsonst“. Die Richtigkeit einer anderen Deutung belegt seine ebenso umfang- und einflussreiche, mehr als 30 Jahre umspannende Gutachtertätigkeit. Von frühen Gutachten zum Kernenergierecht bis zu Gutachten aus neuester Zeit zum Informationsfreiheits- und zum Luftverkehrsteuergesetz über solche zum Pressevertrieb, zur Verfassungsmäßigkeit des Berliner Haushalts, zur Anschlussförderung im Berliner sozialen Wohnungsbau und zum Platz des Tierschutzes im Grundgesetz gibt es nur wenige zu ihrer Zeit aktuelle Fragen des öffentlichen Rechts, zu denen sich der Jubilar nicht geäußert hätte. An seinen frühen, von Peter Lerche überlieferten Spruch, ein Universitätslehrer habe (nur) zu lehren und Bücher zu schreiben, fühlte er sich ausweislich dieser seiner Gutachtertätigkeit später nicht mehr gebunden. Hier wäre nun der Platz, auf Michael Kloepfers umfangreiche Publikationstätigkeit einzugehen. Jedoch kann sein literarisches Wirken im Vorwort zu seiner Festschrift nicht angemessen gewürdigt werden. Stattdessen möchten die Herausgeber

Vorwort

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auf das Schriftenverzeichnis im Anhang verweisen. Soviel aber sei angemerkt: Der Jubilar hat auf seinen Fachgebieten, ganz besonders aber im Umweltrecht, alles getan, um Mephistos Spruch zu widerlegen, „es erbten sich Gesetz’ und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort“. Michael Kloepfer hat dabei freilich nie die dauerhaften Grundlagen des Rechts aus den Augen verloren. Die Verteidigung der Freiheit gegen Intoleranz und Totalitarismus ist sein Credo als Wissenschaftler und Mensch. Seinen gleichermaßen konservativen wie progressiven, im besten Sinne provokativen Geist soll der Titel dieser Festschrift – „Beharren. Bewegen.“ – spiegeln. Michael Kloepfer ist bis heute ungebrochen von einer selbst für einen Wissenschaftler ungewöhnlichen Neugier befeuert. Er ist ein unermüdlicher Reisender, der, insofern Odysseus gleich, „vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat“, fast alle Länder dieser Erde bereist und dabei auch alle großen kulturellen Errungenschaften gesehen hat. Seine kulturellen Interessen sind umfassend. Ob Oper, Theater, Film oder Kunstausstellung, es gibt kaum etwas Neues, das er nicht sehen will. Unter den schöngeistigen Schriftstellern ist ihm Schiller, aus dessen Werken er gerne zitiert, der liebste. Seiner Begeisterung für die Poesie ist sein Werk „Dichtung und Recht“ entsprungen. Michael Kloepfer hat sich nach seiner Emeritierung nicht dem Müßiggang ergeben. Seine Forschungsplattform Recht beschäftigt heute mehr Mitarbeiter als zu seiner aktiven Zeit. Wir, die Herausgeber, die Autoren und alle, die sich ihm verbunden fühlen, wünschen ihm noch viele Jahre ungeminderter Schaffenskraft und harren zahlreicher bewegender Veröffentlichungen aus seiner Feder. Aix-en-Provence, Augsburg, Berlin, Hamburg, Leipzig, Nürnberg, im Mai 2013

Claudio Franzius, Stefanie Lejeune, Kai von Lewinski, Klaus Meßerschmidt, Gerhard Michael, Matthias Rossi, Theodor Schilling, Peter Wysk

Persönliches zu Michael Kloepfer Von Peter Lerche Michael Kloepfer habe ich zunächst in Berlin, an der Freien Universität, kennen gelernt. Ich war (mit Ehefrau und kleinen Kindern) nach der Habilitation 1961 in München auf einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl der Freien Universität gegangen, da mir dies verlockender erschien als andere Möglichkeiten (etwa Bonn). So hatte ich das Glück, neben anderen, hochbegabten jungen Wissenschaftlern, die später meine Habilitanden wurden, Michael Kloepfer zu begegnen; er war schon von K. A. Bettermann in anderer Weise sozusagen vorgeprägt. Bereits damals bis heute charakterisierte ihn aber eine so gut wie vollständige Unabhängigkeit seines Denkens wie auch seiner ganzen Haltung. Beides bewies er immer wieder, bei zahlreichen Gelegenheiten. Im Seminar verhehlte er vermutlich nie, wenn er anders dachte als die herrschende Strömung (oder als ich). Aber seine Sprachgewandtheit milderte in angenehmer, nicht verfälschender Weise den Ernst, wenn es ernst wurde. Um so mehr schätzte ich ihn damals wie heute. Es war die Zeit noch vor dem Mauerbau. In Westberlin konnte man nie sicher sein, ob die sogenannten Betriebskampfgruppen der DDR einmarschieren würden. Gleichwohl blieb Kloepfer in dieser besonders spannungsreichen Zeit in Berlin. Nach dem Mauerbau schien mir Westberlin als sichere Stadt, vielleicht zu Unrecht. Dennoch wäre es damals eine Art Hochverrat gewesen, auswärtigen Rufen zu folgen. Erst nach längerer Zeit konnte ich einem Ruf an die Juristische Fakultät in München folgen. Kloepfer war dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts (damals in Berlin und der Berliner Fakultät zugehörig), Fritz Werner, als Assistent verbunden; dennoch folgte er mir zu meiner großen Freude als Assistent nach München. Seinem Charakter blieb er natürlich treu. Er promovierte 1969 mit einer bis heute anregenden Arbeit „Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz“. Sie erschien als Band 13 der Münchener Universitätsschriften. Die Arbeit wurde mit einem Preis ausgezeichnet. Später sagte er mir einmal, ein Universitätsprofessor habe zu lehren und Bücher zu schreiben. Das war wohl auch als verhaltene Kritik daran zu deuten, dass ich die Würze meines Berufs außer in der Lehre und gewissen Publikationen in der Mitwirkung an vielen großen Verfassungsprozessen sah, sei es als unabhängiger Gutachter, sei es als Prozessvertreter. So scharf er dachte und entsprechend widersprechen konnte, so fehlte doch selten eine Zutat von Ironie. Ich glaube überhaupt – ohne dies beweisen zu können –, dass er dieses Erdenleben mit einer gehörigen Portion Ironie betrachtet. Das hebt ihn zugleich in sympathischer Weise heraus aus der Schar so vieler Kollegen.

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Peter Lerche

Er landete zunächst in seiner wissenschaftlichen Karriere auf einem Lehrstuhl in Trier. In dieser imposanten Stadt hatte er, wenn ich mich nicht täusche, auch eine für einen Junggesellen imposante Wohnung. Neben seinem Lehrerfolg bewies er meiner Erinnerung nach schon damals einen – in der damaligen Zeit eher seltenen – Sinn für moderne Kunst. Er hatte ein Gespür dafür. Kloepfer sammelte kleine Plastiken bekannter lebender Künstler, deren Schönheit dem aufgeschlossenen Besucher im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich war. So etwas prägt sich ein. Später folgte er als gebürtiger Berliner einem Ruf an die Humboldt-Universität. Seinen Lehrerfolg zu beobachten, hatte ich Gelegenheit. Auch die Zahl seiner Schüler unterstreicht diesen Erfolg, wie überhaupt seine Ausstrahlungskraft. Dabei wuchs bei ihm eine Art Souveränität, die ohne die erwähnte Selbstständigkeit seines Denkens nicht vorstellbar gewesen wäre. Zuletzt hatte ich Gelegenheit, diese seine Souveränität zu spüren, als er die zu meinem 80. Geburtstag von meinen Habilitanden veranstaltete Vortragsreihe (in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München) leitete. Diese Tätigkeit führte er sozusagen milde aus. Er hatte auch keinen Anlass, irgendwelche rigiden Maßnahmen vorzunehmen. Seine Souveränität wurde ohnehin anerkannt; dies zumal in Anwesenheit des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und seiner Gemahlin. In schönster Erinnerung habe ich unsere jeweiligen Zusammentreffen in München, als er bereits Lehrstuhlinhaber war. Das hatte verschiedene Anlässe: Zunächst hat er wohl selbst oder auch der inzwischen seit langem verstorbene Verleger R. S. Schulz eine Vorschriftensammlung des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen. Die Sammlung bestand aus austauschbaren, also „losen“ Blättern. Der Verleger war freilich in den vertraglich festgelegten Honorarzahlungen unzuverlässig. Daraufhin kündigte Kloepfer und wechselte zum Verlag C. H. Beck, München. Das wurde ein Riesenerfolg. Mit Recht beginnt Kloepfer das Vorwort in seiner Monographie „Umweltrecht“, 1989 mit der Feststellung: „Als ich mich vor 19 Jahren mit dem Umweltrecht zu beschäftigen begann, war noch kaum erkennbar, welche immense Bedeutung diese Materie in relativ kurzer Zeit gewinnen würde“. Als er sich noch nicht mit R. S. Schulz überworfen hatte, gab es große Feste des Verlegers in München. Kloepfer war mindestens einmal bei einem solchen Fest dabei. Hier traf man damals sehr bekannte Schauspieler und sonstige Berühmtheiten, z. B. Josephine Baker, Peter Kreuder, Hardy Krüger. Das wird Kloepfer sicherlich noch im Gedächtnis haben. Gelegentlich trafen wir uns, wenn er von der Humboldt-Universität zu Besuch nach München reiste, in Münchner Museen. Es war immer ein Genuss, mit ihm über seine dabei gewonnenen Eindrücke zu sprechen. Seine Kunstliebe und -kennerschaft wurde erneut offenbar. Besonders gern reiste er nach Japan. Dort war er ein ebenso gern gesehener Gast. Angesichts auch seiner sonstigen weiten Reisen ist es mir fast rätselhaft, wie er seine vielen, sehr umfangreichen Bücher und sonstigen Publikationen produzieren konnte.

Persönliches zu Michael Kloepfer

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Zu den letzen Festschriftbeiträgen aus seiner Feder gehören so aktuelle wie zugleich grundsätzliche Themen wie „Grundgesetz, Wende, Wiedervereinigung“ oder „Grundrechtskonzertierungen“; man liest sie mit großer Bereicherung. Das genannte Rätsel wird dadurch noch schwieriger. Aber vielleicht ist es ganz gut, wenn es jemanden gibt, der Rätsel dieser Art aufgibt. Das zumindest kann man ohne jede Ironie sagen.

Inhaltsverzeichnis

I. Staats- und Verfassungsrecht, Europa Christoph Degenhart Abweichungsgesetzgebung und abweichungsfeste Kerne im Recht des Naturschutzes. Verfassungsfragen einer Gleichstellung von Ersatzgeld und Naturalkompensation in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung . . . . . . . . . . . . . .

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Josef Isensee Der schwierige Maßstab der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Das Grundgesetz in seinem Verhältnis zum einfachen Recht . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans D. Jarass Verfassungsrechtliche Vorgaben an Anforderungen zur gewerblichen Tierhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Paul Kirchhof Gesetzgeben in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Walter Leisner Staatstradition in Frankreich und Deutschland. „Europäische“ Besinnung auf Nähen und Fernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sophie-Charlotte Lenski Staatliche Kulturförderung und kulturelles Freiheitsparadigma des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dietrich Murswiek Verfassungsrechtliche Handlungspflichten zum Schutz der Verfassung . . . . . . . 121 Lerke Osterloh Der Gleichheitssatz zwischen Willkürverbot und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Günter Püttner Freiheit der Wissenschaft heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Hans-Werner Rengeling Umweltschutz in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . 161

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Inhaltsverzeichnis

Florian Schärdel Weshalb wir soziale Grundrechte brauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Theodor Schilling Rechtsfortbildung und Höchstgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Friedrich Schoch Asymmetrischer Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht im Informationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Rupert Scholz Europapolitik zwischen Exekutive und Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Rainer Wahl Das Recht der Integrationsgemeinschaft Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Christian Waldhoff Kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Thomas Würtenberger Rahmenbedingungen von normativer Kraft und optimaler Realisierung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

II. Umwelt-, Technik- und Katastrophenrecht Michael Bothe Der Rechtsrahmen der internationalen Klimapolitik nach der Konferenz von Doha. Probleme und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Rüdiger Breuer Entwicklungen des Rechtsschutzes im Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 David Bruch Zur grundrechtlichen Übermacht von Umweltbelastern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Wolfgang Durner Soft Law und bindende Verträge im internationalen Chemikalienrecht . . . . . . . 347 Wilfried Erbguth Katastrophenschutzrecht und maritime Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Claudio Franzius Aktuelle Probleme des Umweltrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Inhaltsverzeichnis

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Wolfgang Kahl und Patrick Hilbert Impact Assessment in der EU – Sicherung von Nachhaltigkeit durch Integration 399 Jürgen Knebel Umweltschutz im Lissabon-Vertrag und als Rechtfertigung für Handelsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Matthias Lang Netzausbau und Umweltschutz im Höchstspannungsnetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Peter Marburger Zivilrechtlicher Immissionsschutz für Grundpfandrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Franz-Joseph Peine Vom „Gesetz über technische Arbeitsmittel“ zum „Produktsicherheitsgesetz“. Entwicklungsschritte im Recht des Verkehrsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Eckard Rehbinder Extraterritoriale Rechtsanwendung im Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Sebastian von Schweinitz Energiewende und Belastungskumulationen am Beispiel von EEG-Umlage, besonderer Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen und der Eigenstromregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

III. Verwaltungs- und Planungsrecht Ulrich Battis Planerische Zukunftsgestaltung durch Bau- und Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . 519 Eberhard Bohne Der informale Regulierungsstaat am Beispiel der Energiewirtschaft . . . . . . . . . . 529 Mathias Hellriegel Planung ist die Ersetzung des Zufalls durch Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Reinhard Hendler Klimaschutz und Bauleitplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Klaus-Dirk Henke und Andreas Aschenbrücker Bedrohungspotentiale in der Versorgungskette für Arzneimittel und ihre Vermeidung. Ein Werkstattbericht zu einem aktuellen Forschungsprojekt . . . . . . . . 575

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Gerhard Michael Rücksichtslosigkeit. Betrachtungen zum Ausschluss zulässiger Nutzungen im Bau- und Planungsrecht bei Verteilungskonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Rainer Pitschas Betreuungsrecht – Quo vadis? Zur Reform der Infrastruktur rechtlicher Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Rudolf Steinberg Neue gesetzliche Regelungen der Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturvorhaben? Gleichzeitig zum Entwurf eines Planungsvereinheitlichungsgesetzes . . . . . . . . . 625

IV. Informationsrecht, Finanzrecht Thilo Brandner Parlamentarische Gesetzgebung in Krisensituationen. Zum Zustandekommen des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Hansjürgen Garstka Das Geheimnis in Grimms Märchenwelt – Datenschutz als Mythos . . . . . . . . . . 653 Holger Greve Drittwirkung des grundrechtlichen Datenschutzes im digitalen Zeitalter . . . . . . 665 Markus Heintzen Finanzpolitische Spannungen und Kräfte im europäischen Mehrebenensystem . 679 Andreas Neun und Tim Weber Die „Entschädigungsumlage“ gemäß § 17f Abs. 1 Sätze 2 und 3; Abs. 5 EnWG zur Anbindung von Offshore-Anlagen. Zur Abwälzung bestimmter Belastungen anbindungsverpflichteter Übertragungsnetzbetreiber auf Verbraucher aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Hans-Jürgen Papier Informationszugang und Akteneinsicht bei Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 Ingolf Pernice Die Politik und die Internet-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 Rudolf Wendt Angemessene Finanzausstattung der Kommunen und finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Norbert Wimmer Europäische Öffentlichkeit als Argument – Überlegungen zum Kurzberichterstattungs-Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751

Inhaltsverzeichnis

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V. Gesetzgebungslehre Stefanie Lejeune Anachronismen politischer Willensbildung im internen Gesetzgebungsverfahren 775 Kai von Lewinski Kodifikation des Verwaltungsorganisationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Klaus Meßerschmidt Special interest legislation als Thema von Gesetzgebungslehre und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 Matthias Rossi Phantasie in der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851 Dirk Uwer Die unwahre Gesetzesbegründung. Rechtsstaatliche Fragen an die Auslegungsmaxime des „objektivierten Willens des Gesetzgebers“ am Beispiel des Glücksspielstaatsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 Peter Wysk Kriegsfolgengesetzgebung in unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 VI. Literatur, Philosophie und Recht Jens Petersen Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen . . . . . . . . . . . 927 Peter Raue Zur Zulässigkeit von sogenannten „Rezensionszitaten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 Meinhard Schröder Literarische Spiegelungen des Staates nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945 Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Michael Kloepfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979

I. Staats- und Verfassungsrecht, Europa

Abweichungsgesetzgebung und abweichungsfeste Kerne im Recht des Naturschutzes Verfassungsfragen einer Gleichstellung von Ersatzgeld und Naturalkompensation in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Von Christoph Degenhart I. Gleichstellung von Naturalkompensation und Ausgleichszahlung als Verfassungsproblem Es hieße, Eulen nach (Spree-)Athen zu tragen, wollte man die Beiträge von Michael Kloepfer zum Umweltrecht, seine maßgeblichen Anstöße zu der verfassungsrechtlichen Verankerung wie zu der einfachgesetzlichen Realisation des Umweltschutzes in der Rechtsordnung darlegen.1 Kontinuierlich hat der Jubilar sich dabei mit dem Verhältnis des einfachgesetzlichen Umweltrechts zum Verfassungsrecht befasst, mit der Frage insbesondere, ob Kernbereiche oder zentrale Elemente der einfachgesetzlichen Normierung in erhöhte Bestandskraft, in den Geltungsbereich der Verfassungsnorm erwachsen können,2 dergestalt ein umweltrechtliches Rückschrittsverbot begründend. Die Thematik ist unverändert aktuell, wie die Überlegungen zeigen, um erhöhter „Flexibilität“ der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung willen Ausgleichsmaßnahmen und Ersatzgeld gleichzustellen, bzw. die Länder dazu zu ermächtigen, diese Gleichstellung im Rahmen ihrer Befugnis zur Abweichungsgesetzgebung3 gemäß Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG vorzunehmen.4 Denn nach der 1

Aufzuführen wäre hier etwa die Monographie „Zum Umweltschutzrecht in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 1972, ebenso vorausschauend wie seine Schrift „Zum Grundrecht auf Umweltschutz“ aus dem Jahr 1978. Zu nennen wäre sein „großes Lehrbuch“ zum Umweltrecht, 2004 bereits in 3. Auflage erschienen, und seine Kommentierung des Umweltartikels 20a GG im Bonner Kommentar zum Grundgesetz aus dem Jahr 2005. Näheren Aufschluss gibt das Verzeichnis seiner Publikationen in dieser Festschrift. 2 Vgl. hierzu Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 35 f.; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 68; Bernsdorff, in: Umbach/Clemens, GG I, 2002, Art. 20a Rdn. 46; Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 40. 3 Zur Abweichungsgesetzgebung vgl. u. a. Köck/Wolf, NVwZ 2008, 353; Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78; Selmer, ZG 2009, 33; Degenhart, DÖV 2010, 422. 4 Dies war vorgesehen in den Koalitionsvereinbarungen von CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode, s. dazu Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP im Niedersächsischen Landtag – Drs. 16/2412.

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Christoph Degenhart

geltenden Rechtslage ist das Ersatzgeld nachrangig. Es kann dort kompensierend wirken, wo Eingriffe in Natur und Landschaft unvermeidbar sind, in der Abwägung mit den Schutzgütern des Naturschutzrechts entgegenstehende Belange überwiegen. Dass diese Schutzgüter in der Ordnung des Grundgesetzes nicht absolut gesetzt werden dürfen, es des nach beiden Seiten hin schonenden Ausgleichs bedarf, hat Michael Kloepfer stets betont, ebenso aber davor gewarnt, die Ausgleichszahlung zum „Ablasshandel“ mit diesen Schutzgütern herabzustufen. Ob und mit welcher Maßgabe also eine Gleichstellung von Ersatzgeld mit Ausgleichsmaßnahmen erfolgen kann, ist eine Frage zunächst materiellen Verfassungsrechts, wirft aber auch Fragen der Gesetzgebungszuständigkeiten im Bereich der Abweichungsgesetzgebung des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG auf. Denn soweit es sich bei bestimmenden Prinzipien des geltenden Rechts um allgemeine Grundsätze i.S. dieser Bestimmung5 handeln sollte, kann der Bundesgesetzgeber gehindert sein, den allgemeinen Grundsatz aufzuheben oder ihn der Abweichungsgesetzgebung der Länder zu öffnen. II. Normative Ausgangslage 1. Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung a) Die naturschutzrechtliche „Pflichtenkaskade“: Naturalrestitution und Ausgleichszahlungen Zu den zentralen Instrumenten des modernen Naturschutzrechts zählt die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung des § 13 BNatSchG6 mit ihrer Stufenfolge Vermeidung – Naturalausgleich – Geldausgleich. Es handelt sich hierbei nach der normativen Festlegung des § 13 BNatSchG um einen allgemeinen Grundsatz und damit um einen abweichungsfesten Kern des Naturschutzrechts.7 § 15 BNatSchG legt diese Stufenfolge konkretisierend fest. In der so begründeten „Pflichtenkaskade“8 gilt zunächst das Vermeidungs- und Minimierungsgebot des § 15 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG: Vermeidbare Beeinträchtigungen sind zu unterlassen. Eingriffe dürfen also nicht zugelassen werden, wenn die damit einhergehenden Beeinträchtigungen vermeidbar sind. Die Feststellung, dass das Vermeidungsgebot als solches nicht der Abwägung 5 Zur Definition der allgemeinen Grundsätze s. etwa Hendrischke, NuR 2007, 454 ff.; Meßerschmidt, UPR 2008, 361 (385); Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78; Köck/Wolf, NVwZ 2008, 353 (355); Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (256); Appel, NuR 2010, 171 (172 f.); Degenhart, DÖV 2010, 422 (428 f.); Franzius, ZUR 2010, 346 (348 ff.). 6 Gesetz über Naturschutz und Landespflege (Bundesnaturschutzgesetz – BNatSchG) vom 29. Juli 2009, BGBl. I S. 2542. 7 Zur Frage einer gesetzgeberischen Definitionskompetenz insoweit s. Degenhart, DÖV 2010, 422 (429); Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (256). 8 Vgl. Scheidler, UPR 2010, 134 (136): „Pfichtenkaskade“; ebenso Funke, SächsVBl 2010, 153 (157); vgl. zur abgestuften Prüfung Maas/Schütte, in: Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 7 Rdn. 48 ff.; Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2010, § 4 Rdn. 27 f.; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, Vorb. BNatSchG (2009) Rdn. 4 ff.

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unterliegt,9 trifft insofern die Gesetzeslage, als dann, wenn Vermeidbarkeit festgestellt ist, keine Abwägung mehr stattfindet. Ob aber die Vermeidungspflicht besteht und wie weit sie reicht, dies ist nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen.10 Unvermeidbare Beeinträchtigungen sind durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen zu kompensieren, § 15 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG. Soweit unvermeidbare Beeinträchtigungen weder ausgeglichen noch kompensiert werden können, kann der Eingriff nur zugelassen werden, wenn Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege in der Abwägung nicht überwiegen, § 15 Abs. 5 BNatSchG. Es sind also zunächst Vorkehrungen zur Vermeidung von Beeinträchtigungen und Maßnahmen zu deren Kompensation im Wege der Naturalrestitution zu treffen; nicht im Sinn der Herstellung eines identischen, sondern eines gleichwertigen Zustandes.11 Die verbleibenden Beeinträchtigungen sind dann in die Abwägung mit den für den Eingriff sprechenden Belangen einzustellen. In diesem Fall, also bei Zulassung des Eingriffs, greift die Ersatzzahlung ein. b) Primat der Naturalrestitution? Ausgleichsmaßnahmen und Ersatzmaßnahmen sind nach Bundesnaturschutzgesetz 2009 als im Grundsatz gleichwertige Instrumente der Naturalrestitution anerkannt. Nach Bundesnaturschutzgesetz 2002 waren Ausgleichsmaßnahmen gegenüber Ersatzmaßnahmen vorrangig. Nach Bundesnaturschutzgesetz 1976 waren die Länder lediglich ermächtigt gewesen, Vorschriften über Ersatzmaßnahmen zu erlassen. Ersatzzahlungen allerdings sind weiterhin nachrangig, der Gesetzgeber hat es beim Primat der Naturalrestitution belassen. Eben dieses Primat, das bereits im Vorfeld des Bundesnaturschutzgesetzes 2009 in Frage gestellt worden war,12 steht nunmehr erneut zur Diskussion. Eine etwaige Gleichstellung der bisher nach §§ 13, 15 Abs. 6 BNatSchG nachrangigen Ersatzzahlungen im Wege abweichender Gesetzgebung der Länder würde das Gebot der Minimierung von Eingriffsfolgen strukturell verändern. Unverändert gelten würde zunächst weiterhin das Minimierungs- und Vermeidungsgebot des § 15 Abs. 1 BNatSchG. Unvermeidbare Beeinträchtigungen wären dann entweder durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen zu kompensieren, oder aber durch Ersatzzahlungen. Ist eine Kompensation im Wege der Naturalrestitution möglich und zumutbar, so wäre sie, anders als bisher, nicht mehr verpflichtend. Die Behörde bzw. – je nach Gesetzesgestaltung – auch der Verursacher könnte zwischen Ausgleich und Ersatz sowie Ersatzgeld wählen.13 9

Vgl. Koch, in: Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2010, § 4 Rdn. 2. 10 Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, Vorb. BNatSchG (2009) Rdn. 6. 11 Vgl. Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 93 f. 12 BR-Drs. 278/09 S. 8; vgl. dazu Gellermann, NVwZ 2010, 73 (76). 13 Zur geltenden Regelung s. Gellermann, NVwZ 2010, 73 (76).

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2. Eingriffsregelung als „allgemeiner Grundsatz“ Sowohl der Grundsatz der Vermeidung von Umweltbeeinträchtigungen als auch der Vorrang der Naturalrestitution sind als allgemeine Grundsätze entsprechend der Festlegung des § 13 BNatSchG einer abweichenden Gesetzgebung der Länder nicht zugänglich. Sie wären dies erst nach einer dahingehenden Abschwächung des § 13 BNatSchG durch den Bundesgesetzgeber. Dieser müsste hierzu befugt sein.14 Der Bundesgesetzgeber war kompetenzrechtlich befugt, mit der Regelung des § 13 BNatSchG abweichungsfeste Kernbereiche zu umschreiben.15 Denn wie er im Rahmen des Art. 72 Abs. 2 GG in seiner Entscheidung, ob und inwieweit er von seiner Zuständigkeit Gebrauch machen will, generell frei ist, so muss dies auch für die Entscheidung gelten, in welchem Umfang er abweichungsfeste Kerne festlegen will. Andererseits aber hat der einfache Gesetzgeber keine verbindliche Definitionskompetenz für die Begriffe des Verfassungsrechts.16 Doch gilt für die Auslegung von Kompetenznormen, dass sie dort, wo sie die Kompetenzmaterie nicht rein faktisch-deskriptiv, sondern auch normativ bezeichnen, maßgeblich nach der Tradition der jeweiligen einfachgesetzlichen Materie zu bestimmen sind,17 die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes also nach den Strukturen, die der verfassungsändernde Gesetzgeber der Föderalismusreform vorgefunden hat. Der historischen Auslegung kommt insoweit besondere Bedeutung zu, als neben der Entstehungsgeschichte18 auf die historische Entwicklung der Kompetenzmaterie zurückzugreifen ist.19 Nach beiden Kriterien ist davon auszugehen, dass mit § 13 BNatSchG 2009 in kompetenzgerechter Weise ein abweichungsfester Kern i.S.d. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG bestimmt worden ist.20 Denn zum einen fallen unter den Kompetenzbegriff der allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes ausweislich der Materialien verbindliche Grundsätze zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts wie die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung. Zum anderen ist diese seit jeher zentrales und prägendes Element des Rechts des Naturschutzes.21 Es sollten daher nicht nur allge14

s. hierzu auch Degenhart, DÖV 2010, 422 (429). Auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/813, S. 27; vgl. auch Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (256). 16 Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rdn. 186; Gellermann, NVwZ 2010, 73 (75); Appel, NuR 2010, 171 (173); Franzius, ZUR 2010, 346 (349 f.). 17 BVerfGE 42, 20 (29); 61, 149 (175); 67, 299 (314 ff., 319 ff.); BVerfGE 5, 108 (146); 109, 190 (218 f.); Degenhart, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 70 Rdn. 73 f. 18 Vgl. z. B. BVerfGE 98, 106 (120); grundlegend zur Auslegung von Kompetenznormen BVerfGE 109, 190 (218 ff.). 19 BVerfGE 12, 205 (226 ff.); 42, 20 (30); 61, 149 (175); 67, 299 (315); 68, 319 (328); BVerfG NJW 2000, 857 (858 f.). 20 Auch bei Gellermann, NVwZ 2010, 73 (74) bei i.Ü. restriktiver Auslegung des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG; Hendler/Brockhoff, NVwZ 2010, 733 (738); Funke, SächsVBl 2010, 153 (157); Scheidler, UPR 2010, 134 (136). 21 Vgl. Gassner, NuR 1988, 67 (68); Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 21. 15

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meine Zielvorstellungen für die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts von den „allgemeinen Grundsätzen“ umfasst sein, sondern auch instrumentale Regelungen.22 Dies gilt auch für die Eingriffsregelung des Naturschutzrechts mit ihrem seit dem ersten Naturschutzgesetz des Bundes begründeten und seither in den wesentlichen Strukturen erhaltenen Prüfprogramm und ihren Verursacherpflichten. Vermeidung und Kompensation stellen ein „grundlegendes Instrument des Naturschutzes und der Landschaftspflege“ dar.23 Der Bundesgesetzgeber hat also im Rahmen seiner Zuständigkeit gehandelt, als er die Eingriffsregelung des § 13 BNatSchG als allgemeinen Grundsatz i.S.v. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG festlegte. Deren Grundkonzept ist daher der Abweichungsgesetzgebung der Länder nicht zugänglich. 3. Eingriffsregelung und Abweichungsgesetzgebung Der Gesetzgeber müsste also, soll die naturschutzrechtliche Eingriffsregel weiter flexibilisiert werden, die allgemeinen Grundsätze des § 13 BNatSchG insoweit zurücknehmen. Geht man von einem verfassungsrechtlich vorgegebenen Begriff der allgemeinen Grundsätze aus und sieht man den Gesetzgeber als verpflichtet, diese Grundsätze umfassend in das Gesetz aufzunehmen, so könnte er an einer Abschwächung der geltenden Eingriffsregelung schon kompetenziell gehindert sein. Doch folgt aus der Kompetenz des Bundesgesetzgebers, allgemeine Grundsätze des Naturschutzes festzulegen, noch nicht die Verpflichtung, diese umfassend in das Gesetz aufzunehmen, auch wenn dies aus Gründen des materiellen Rechts geboten sein kann. Der Bundesgesetzgeber kann generell darauf verzichten, für die Kompetenzmaterien der Abweichungsgesetzgebung eine eigene umfassende Kodifizierung vorzunehmen – dies bedeutet: er kann auch darauf verzichten, insoweit abweichungsfeste Kerne festzulegen.24 Er würde allerdings die abweichungsfesten Kerne fehlerhaft bestimmen, sollte auch konkret der Vorrang der Naturalkompensation darunter fallen und im Gesetz eine ausdrückliche Gleichstellung erfolgen. Denn wenn auch der Bundesgesetzgeber bei Wahrnehmung der konkurrierenden Zuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG nicht gehalten ist, die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes i.S.d. Abweichungskompetenz des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG umfassend und explizit in das Gesetz aufzunehmen, ist es ihm doch untersagt, sich explizit in Widerspruch dazu zu setzen. Dies ist eine Frage des materiellen Verfassungsrechts, insbesondere des Art. 20a GG.

22 Vgl. aus den Gesetzesmaterialien BT-Drs. 16/12274, S. 39; aus dem Schrifttum FischerHüftle, NuR 2007, 78 (82); Hendrischke, NuR 2007, 454 (455, 457); Köck/Wolf, NVwZ 2008, 353 (359); Appel, NuR 2010, 171 (172); z. T. a.A. Gellermann, NVwZ 2010, 73 (74): „ausfüllungsfähige und -bedürftige“ Prinzipien leitlinienhafter Art. 23 BT-Drs. 16/12274, S. 56 f.; Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (82). 24 Hierzu näher Appel, NuR 2010, 171 (173).

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III. Eingriffsregelung und materielles Verfassungsrecht 1. Art. 20a GG als Staatszielbestimmung und Schutzpflicht Materielle Direktiven und ggf. auch Schranken für den Bundesgesetzgeber hinsichtlich der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung als eines allgemeinen Grundsatzes des Naturschutzes sind in erster Linie aus der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG25 abzuleiten. Denn die Eingriffsregelung dient in ihrer Zielsetzung, Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts und des Landschaftsbildes zu vermeiden bzw. auszugleichen, der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, wie dies in Art. 20a GG als Staatsziel niedergelegt ist. Natürliche Lebensgrundlagen in diesem Sinn sind die Umweltmedien Boden, Wasser, Luft, auch die Landschaft und das Landschaftsbild, Tiere und Pflanzen sowie das Wirkungsgefüge zwischen ihnen,26 also auch die Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts. Mit der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung kommt der Gesetzgeber seiner Verpflichtung aus Art. 20a GG nach, zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beizutragen. Hierin ist eine gesetzgeberische Gestaltungsprärogative anzuerkennen.27 Dabei ist im Verhältnis zu anderen Staatszielen das des Art. 20a GG von vornherein defensiver, gleichsam negatorisch formuliert.28 Es geht zunächst jedenfalls darum, das Bestehende zu bewahren, Verschlechterungen entgegenzuwirken, mag auch letztlich eine Verbesserung der Umweltbedingungen angestrebt sein.29 Insoweit bietet die Verpflichtung des Art. 20a GG, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, in höherem Maße Ansätze für justitiable Bindungen des Gesetzgebers: die verfassungsrechtliche Zielsetzung, an Hand derer eine gesetzliche Regelung zu bewerten ist, ist im Prinzip jedenfalls vorgegeben, der Gesetzgeber hat diesbezüglich keine vergleichbar weitreichende Definitionskompetenz. Diese kann auf einer zweiten Stufe eingreifen, wenn es darum geht, Verbesserungen im Bestehenden anzustreben. Soweit es aber darum geht, Eingriffe in den Bestand der natürlichen Lebensgrundlagen als Schutzgut des Art. 20a GG abzuwehren, entfaltet die Verfassungsnorm auch negatorische Wirkung, ist ihr Verbotscharakter zuzuschreiben.30 Der Gesetzgeber hat Gestaltungsfreiheit in der Frage, wie er dem Auftrag zum effektiven Schutz

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s. zu deren normativer Qualität BVerfGE 128, 1 (37 ff.). Vgl. Schmidt/Kahl, Umweltrecht, 8. Aufl. 2010, § 2 Rdn. 4; Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 30; Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 63; Bernsdorff, in: Umbach/Clemens, GG I, 2002, Art. 20a Rdn. 23; Sommermann in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 20a Rdn. 29. 27 Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 37 f.; s. aber auch Epiney, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 58: Grenzen des Gestaltungsspielraums, da sonst nur Programmsatz. 28 Vgl. auch Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 30 zur „konservierenden“ Strategie der Eingriffsregelung. 29 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rdn. 44. 30 Schulze-Fielitz, a.a.O. Rdn. 50. 26

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der natürlichen Lebensgrundlagen nachkommen will.31 Dass er aber diesen Schutz zu verwirklichen hat, und dass „Schutz“ zunächst bedeutet, negative Veränderungen abzuwehren, dies ist die für die Gesetzgebung verbindliche Aussage des Art. 20a GG. Doch ist dem Gesetzgeber in der Einschätzung der Umweltsituation wie in der Frage, ob diese eine Verbesserung oder eine Verschlechterung erfährt und in der Einschätzung, Gewichtung und Abwägung der Auswirkungen eines Gesetzes auf die Umweltsituation ein breiter Spielraum zuzuerkennen.32 2. Normative Bestandsgarantien? a) Kein Bestandsschutz der konkreten Normierung Ein materielles umweltbezogenes Verschlechterungsverbot ist auf die Gesamtsituation der Umwelt zu beziehen, lässt also Eingriffe zu, fordert dann aber einen Ausgleich.33 Dem entspricht die Eingriffsregelung als allgemeiner Grundsatz des Naturschutzes.34 Das ihr zugrundeliegende Kompensationsprinzip35 ist Ausdruck dieses Verschlechterungsverbots, das gleichwohl flexible Handhabung im Einklang mit aktiven Gestaltungsinteressen ermöglicht.36 Von einem faktischen Verschlechterungsverbot zu unterscheiden ist die Frage nach der Wahrung eines bestimmten normativen Besitzstandes,37 also eines „Rückschrittsverbots“ i. S. einer Bestandsgarantie bestehender Gesetze.38 Generelle normative Bestandsgarantien würden jedoch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unzulässig beschneiden und die Ebenen des Verfassungsrechts und des einfachen Gesetzesrechts vermengen. Daher ist auch gegenüber der Annahme einer Bestandsgarantie für konkrete Inhalte einzelner Gesetze Zurückhaltung geboten.39 Wie einzelne Maßnahmen in ihren umweltrelevanten Auswirkungen zu gewichten sind, welche Beeinträchtigungen zu verhindern, oder aber auszugleichen sind, und mit welchem normativen und administrativen Instrumentarium zu arbeiten ist, dies sind zunächst Fragen gesetzgeberischen Ermessens, in den Grenzen eines verfassungsrechtlich geforderten Schutzniveaus. Dies vorausgesetzt, ist der Gesetzgeber nicht auf ein be31

Vgl. Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 37 f. So zutr. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rdn. 45. 33 Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 65. 34 Ebenso Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 44. 35 Vgl. Gassner, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch, BNatSchG, 2. Aufl. 2003, vor § 18 Rdn. 6; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 389 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 4 Rdn. 36 – dort aber unter Hinweis auf die darin liegende Gefahr eines „Ausverkaufs“ von Umweltgütern. 36 Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 390. 37 Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 68. 38 Vgl. Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 35 f.; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 68. 39 So auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rdn. 25. 32

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stimmtes Instrumentarium verpflichtet und an einer Reform des geltenden Rechts nicht gehindert. Eine Bestandsgarantie für einzelne umweltrelevante Gesetze kann Art. 20a GG also nicht entnommen werden.40 Die in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG genannten allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes sind abweichungsfest gegenüber der Gesetzgebung der Länder; sie haben deshalb noch nicht per se Verfassungsrang. Sie sind also einer Änderung durch den Bundesgesetzgeber im Grundsatz zugänglich. b) Rezeption einfachgesetzlicher Prinzipien – Art. 20a GG als „Konzentrat“ einfachen Rechts Doch ist der Gesetzgeber gehalten, nicht zu einer Verschlechterung der Umweltsituation durch Rücknahme des erzielten normativen Schutzniveaus beizutragen.41 Verfassungsrecht und einfaches Gesetzesrecht stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Der verfassungsändernde Gesetzgeber des Art. 20a GG hat ein ausdifferenziertes System des Umweltschutzes im Rahmen der Umweltgesetzgebung seit Beginn der 70er-Jahre ebenso vorgefunden, wie dessen bestimmende Leitprinzipien. Auch im Blick auf die seinerzeit bestehenden einfachgesetzlichen Normierungen, die die natürlichen Lebensgrundlagen zum Gegenstand hatten, wurde deren Erhaltung mit Verfassungsrang ausgestattet, wie ja auch Kompetenznormen nach Maßgabe vorgegebener Regelungskomplexe des einfachen Rechts auszulegen sind. Dies spricht für eine Deutung, die die Verfassungsnorm des Art. 20a als ein „Konzentrat“ der thematisch zugeordneten einfachgesetzlichen Rechtsordnung sieht42 und grundlegende Prinzipien oder Kerngehalte des Umweltrechts43 nicht in den Einzelheiten ihrer Ausprägung, aber doch in ihren systembestimmenden Elementen als garantiert sieht. Für die verfassungsrechtliche Bewertung einer Änderung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung ist mithin darauf abzustellen, ob und in welchem Maße Grundsätze des Naturschutzrechts berührt werden, die nicht nur in die Kompetenznorm des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG Eingang gefunden haben, die vielmehr auch den Gewährleistungsgehalt des Art. 20a GG bestimmen, und ob hierin eine Verschlechterung des bestehenden Schutzniveaus angelegt ist.

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Murswiek, in: Sachs, GG, 6 . Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 40; Epiney, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 78. 41 So auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rdn. 25, 32; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rdn. 11; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rdn. 44. 42 s. auch Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 44: Eingriffsregelung als einfachrechtlich konkretisiertes Verfassungsrecht. 43 Für die Gewährleistung von „Kernbereichen“ s. Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 47 ff.; ähnlich Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rdn. 69.

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3. Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung als Konkretisierung zentraler Grundsätze des Art. 20a GG a) Identität im Normzweck – Kerngehalte des Umweltrechts Ziel der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung ist die Sicherung der derzeitigen Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts und des Landschaftsbildes. Das Gesetz orientiert sich an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen44 und entspricht so dem Verfassungsgebot ihrer Erhaltung auf einfachgesetzlicher Ebene.45 Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung konkretisiert dieses Erhaltungsverbot, insbesondere auch durch die nähere Bestimmung des maßgeblichen Bezugsrahmens, also der konkreten Anforderungen an die räumliche und funktionale Beziehung zwischen Eingriff und Ausgleich.46 Die Eingriffsregelung verwirklicht wesentliche Kerngehalte des Umweltrechts, wie das Vorsorgeprinzip,47 das Verursacherprinzip,48 das Ursprungsprinzip,49 aber auch den Grundsatz des Ausgleichs von Beeinträchtigungen.50 Hierbei handelt es sich, ebenso wie bei der umweltrechtlichen „Prinzipientrias“ aus Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzip51 um normativ verfestigte Leitprinzipien,52 die auch zu den verfassungsrechtlich in Art. 20a GG rezipierten Kerngehalten des Umweltschutzes zählen.53 Das Verursacherprinzip insbesondere besagt, dass der Verursacher einer Beeinträchtigung die sachliche und finanzielle – aber eben nicht nur die finanzielle – Verantwortung für Vermeidung, Beseitigung oder auch finanziellen Ausgleich zu tragen hat. Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung ist demgemäß eine besondere Ausprägung dieses P rinzips.54 Dem entspricht auch nach geltender Rechtslage die einheitliche Feststellung von Eingriff und Kompensation im Verwaltungsverfahren, 44

Vgl. Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 49. s. dazu BVerfGE 128, 1 (37 f.). 46 Zum Kriterium des räumlichen Bezugs s. etwa BVerwG NuR 1999, 103 (104). 47 Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 48; insbesondere zum Vorsorgeprinzip als umweltrechtlichem Primärprinzip s. auch Murswiek, Schadensvermeidung, Risikobewältigung – Ressourcenschonung, in: Festschrift Selmer (2006), S. 417 (420 f.); s. auch BVerfGE 128, 1 (37). 48 Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 35, zum Verursacherprinzip als Leitprinzip des Umweltrechts neben Vorsorge- und Kooperationsprinzip s. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 389; zur Entwicklung etwa Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991, S. 157 f. 49 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rdn. 9; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 73. 50 s. hierzu Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 389 ff. 51 Vgl. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 389 ff.; Murswiek, in: Festschrift Selmer, 2006, S. 417 (420 f.); vier grundlegende Prinzipien des Umweltrechts führt Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 48 f. auf, der ein Integrationsprinzip einbezieht. 52 Vgl. Voßkuhle, a.a.O. 53 Vgl. Kloepfer, BonnK, Art. 20a (2005) Rdn. 48 f. für das Verursacherprinzip. 54 Vgl. Hendler/Brockhoff, NVwZ 2010, 733 (738); Scheidler, UPR 2010, 134 (135). 45

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in dem über das Vorhaben entschieden wird, insbesondere im Planfeststellungsverfahren.55 Hierdurch wird die Verantwortung des Verursachers auch verfahrensmäßig abgesichert. Mit einer Gleichstellung von tatsächlichen Ausgleichsmaßnahmen – unter Einbeziehung von Ersatzmaßnahmen – und finanziellem Ausgleich wird jedenfalls die sachliche Verantwortung des Verursachers zurückgenommen. Während der Verursacher bei Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen auch in zeitlicher Verantwortung für die Kompensation der Beeinträchtigung bleibt,56 wird er hieraus mit Zahlung des Ersatzgeldes entlassen. Das Verursacherprinzip, verstanden als nicht nur reines Kostenzurechnungsprinzip, wird damit deutlich abgemildert. b) Prinzipien des europäischen Umweltrechts Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung ist weiterhin Ausdruck eines Prinzips der Ressourcenschonung,57 das auch als maßgebliches Ziel des europäischen Umweltrechts bestimmt ist, Art. 191 Abs. 1 AEUV. Es ist auf die natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden, Luft aber auch Landschaft zu beziehen58 und umfasst auch die Verpflichtung, unter mehreren Varianten die schonendere zu wählen. Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung ist Ausdruck auch eines derartigen Prinzips der Ressourcenschonung. Dies gilt für das Gebot, vermeidbare Beeinträchtigungen zu unterlassen. Wenn dabei nach § 13 Satz 2 BNatSchG Vermeidbarkeit auch unter Kriterien der Zumutbarkeit zu bestimmen ist, so entspricht dies gleichermaßen den Anforderungen des Art. 20a GG mit einem nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit verbindlichen Vermeidungsgebot. Bedeutet schließlich Ressourcenschonung auch den Ausgleich von Schädigungen, so wird auch dem mit der abgestuften Pflichtenstellung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Rechnung getragen. Vermeidungs- und Minimierungsgebot für Beeinträchtigungen, Ausgleichsmaßnahmen und – mit Einschränkungen – auch Ersatzmaßnahmen verwirklichen das im Unionsrecht auf primärrechtlicher Ebene verankerte Ursprungsprinzip des Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV.59 Es besagt, dass Umweltbeeinträchtigungen zeitnah und in möglichster Nähe zum Ort ihrer Verursachung zu beseitigen bzw. auszugleichen sind, ergänzt damit zum einen das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip als Grundsatz des Unionsrechts wie des Verfassungsrechts, wie auch das Verursacherprinzip, wenn es den notwendigen sachlichen Zusammenhang zwischen Beeinträchtigung 55

s. zur Bedeutung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung im Planfeststellungsverfahren Breuer, NuR 1980, 89. 56 Vgl. Hendler/Brockhoff, NVwZ 2010, 733 (738). 57 Dabei kann es für die verfassungsrechtliche Bewertung dahingestellt bleiben, ob dieser Grundsatz als rechtlich eigenständiges Prinzip zu sehen ist, so etwa Breuer, Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Rdn. 5.10, oder als selbständiges Rechtsprinzip, so Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 389. 58 Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 66. 59 s. hierzu Caspar, in: Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 2 Rdn. 47; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 6. Aufl. 2010, Art. 20a Rdn. 73.

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und Kompensationsmaßnahme bezeichnet. Dem entspricht der in § 13 BNatSchG formulierte allgemeine Grundsatz vorrangiger Vermeidung von Beeinträchtigungen der natürlichen Lebensgrundlagen und ihres Ausgleichs in räumlich-funktionalem Bezug zum Eingriff. Bereits die normative Gleichstellung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen, wie sie im BNatSchG 2009 vorgenommen wurde, erscheint demgegenüber nicht bedenkenfrei.60 Eine ersatzlose Aufgabe des geltenden Kompensationsprinzips durch Anerkennung einer generellen Gleichwertigkeit des Ersatzgeldes jedenfalls würde auch den primärrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts nicht gerecht. Festzuhalten ist: Aus dem Schutzgebot des Art. 20a GG abzuleitende Prinzipien wie das der Verantwortung des Verursachers, des Bestandsschutzes und der Ressourcenschonung, gelten im Blick auch auf ein unionsrechtlich wie verfassungsrechtlich relevantes Ursprungsprinzip auch als Grundlage eines verfassungsrechtlichen Kompensationsprinzips. Dem entspricht die Eingriffsregelung des BNatSchG. Für eine im Sinn gesteigerter Flexibilität modifizierte, die Kompensation durch Ersatzzahlungen gleichstellende Eingriffsregelung gilt dies nicht ohne weiteres. IV. Gleichstellung Naturalrestitution – Ersatzgeld: Verschlechterungsverbot und Kerngehalte des Umweltrechts 1. Auswirkungen einer Gleichstellung: Geltungsverlust von Verursacher- und Kompensationsprinzip a) Geminderter räumlich-funktionaler Bezug – abgesenkte Anforderungen Ausgleichsmaßnahmen kompensieren die mit dem Eingriff verbundenen Beeinträchtigungen in gleichartiger Weise. Geht es also bei den Ausgleichsmaßnahmen um eine gleichartige, so geht es bei den Ersatzmaßnahmen nur um eine gleichwertige Kompensation. Der notwendige räumliche Bezug ist hierbei gelockert. Ein räumlicher und funktionaler Bezug zum Eingriff ist auch hier erforderlich. Der räumliche Bezug wird weiter gelockert bei der Zulassung von Ersatzzahlungen, für die nach der bestehenden gesetzlichen Regelung des § 15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG lediglich die Verwendung „möglichst“ im betroffenen Naturraum vorgeschrieben ist. Der Gesetzgeber wertet jedoch den räumlich-funktionalen Bezug als Kriterium für den im Rahmen des Art. 20a GG vorrangig anzustrebenden Ausgleich von Beeinträchtigungen der natürlichen Lebensgrundlagen. Bleibt bereits die Ersatzmaßnahme dahinter zurück,61 so gilt dies erst recht für das Ersatzgeld, wenn dieses der Ausgleichsmaßnah60 Kritisch Gellermann, NVwZ 2010, 73 (76); zu Tendenzen einer Aufweichung dieser Unterscheidung s. auch Durner, NuR 2001, 601 (603). 61 Durner, NuR 2001, 601 (603); zu § 8 BNatSchG (1976) in der Terminologie abweichend Breuer, NuR 1980, 89 (97 f.): im Fall von Ersatzmaßnahmen nicht ausgleichbare Beeinträchtigungen.

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me gleichgestellt wird. Die Ersatzzahlung als bisher letzte Möglichkeit der Kompensation ist im Gesetz vorgesehen, um den Verursacher nicht gänzlich aus seiner Verantwortung zu entlassen; wenn sie vom Bundesverwaltungsgericht als eine „dem Schadensersatz ähnliche Leistung“ bezeichnet wird,62 so wird auch hierin deutlich, dass es sich um keine vollwertige Kompensation handelt. Eine Gleichstellung von Ersatzzahlungen würde also eine Abschwächung der Eingriffsregelung bedeuten. Aus der Sicht des Verursachers wird die Verpflichtung zur Ausgleichszahlung häufig als die gegenüber der Verpflichtung zur Vornahme von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen geringer belastende Maßnahme empfunden werden. Dies folgt schon daraus, dass er im Fall des Ersatzgeldes mit dessen Zahlung seine Verpflichtungen erfüllt hat, während mit der Durchführung von Maßnahmen der Naturalrestitution länger andauernde, mitunter auch schwerer kalkulierbare Verpflichtungen verbunden sind. Die Behörde andererseits erlangt weiterreichende Handlungsspielräume in der Frage des Ausgleichs von Beeinträchtigungen, so dass eine Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Maßnahmen der Naturalrestitution auch aus ihrer Sicht eine Abschwächung der normativen Anforderungen des Naturschutzes bedeuten muss.63 b) Funktionsverlust der Ökokonten und Kompensationsdefizite Werden die Anforderungen an den Verursacher des Eingriffs abgesenkt, was dessen unmittelbare Verantwortung für die Eingriffsfolgen betrifft, so mindert dies notwendig die Bedeutung der Ökokonten.64 Angesichts der mit der Vorhaltung von Kompensationsflächen bei Flächenpools und beim Einsatz von Ökokonten verbundenen Aufwendungen65 hat dies zur Folge, dass damit auch die Anreize zum Einsatz von Ökokonten geringer sein werden. Diese sind ja insbesondere darauf ausgerichtet, die Durchführung von Ausgleichs- und vor allem von Ersatzmaßnahmen66 zu gewährleisten. Denn mit der Notwendigkeit, Kompensationsmaßnahmen als Ausgleich für Eingriffsfolgen vorzunehmen, entfällt auch das Bedürfnis nach einer Bevorratung von Kompensationsmaßnahmen bzw. den Flächen hierfür, wie sie in § 16 BNatSchG vorgesehen ist. Die Notwendigkeit, auf Ökokonten zurückzugreifen, entfällt jedoch dann, wenn der Verursacher sich seiner Verpflichtung zum Ausgleich von Beeinträchtigungen bereits unmittelbar durch Zahlung des Ersatzgeldes entledigen kann. Dies aber bedeutet, dass vorgehaltene Kompensationsmaßnahmen jedenfalls von Seiten der Vorhabenträger bei Eingriffen i.S.d. §§ 13 ff. BNatSchG in geringe62

BVerwGE 74, 308 (309). Vgl. auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn. 107 zum „Ausverkauf“ von Eingriffsrechten. 64 Zum Konzept des Ökokontos s. näher Britz, UPR 1999, 205 ff.; Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 120 ff.; Louis, NuR 2004, 714 (716 f.). 65 Wolf, NuR 2004, 6 (8). 66 Zur Eignung vor allem für die Durchführung von Ersatzmaßnahmen s. Britz, UPR 1996, 205 (207). 63

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rem Maße nachgefragt werden. Dies bedeutet eine Schwächung, und nicht die geforderte Stärkung des Instruments der Ökokonten. Dessen Stärkung entspräche der mit dem BNatSchG 2009 erfolgten grundsätzlichen normativen Gleichstellung von Ersatz- und Ausgleichsmaßnahmen, da sie insbesondere die Durchführung von Ersatzmaßnahmen deutlich erleichtern würde. Mindert sich ihre Bedeutung, werden in geringerem Maße entsprechende Maßnahmen vorgehalten, so werden letztlich in immer mehr Fällen weder Ausgleichs-, noch Ersatzmaßnahmen durchgeführt werden. Sieht man zudem die Funktion von Ökokonten im Sinn effektiven Ausgleichs von Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft maßgeblich auch darin, eine zeitnahe Durchführung kompensierender Maßnahmen zu fördern und damit den gebotenen zeitlichen Zusammenhang zwischen Eingriff und Eingriffskompensation zu gewährleisten, so bedeutet eine Schwächung des Instruments der Ökokonten auch eine Schwächung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung in ihrer Effizienz. Das Schutzgebot des Art. 20a GG fordert jedoch Effizienz in der Wahrnehmung, auch in zeitlicher Hinsicht. c) Schwächung des Kompensationsprinzips durch Vollzugsdefizite Auch Vollzugsdefizite führen zu einer Abschwächung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung. Dies führt zum Aspekt möglicher Vollzugsdefizite. Wurden bereits für die Eingriffsregelung des früheren, durch das BNatSchG 2009 abgelösten Bundesnaturschutzgesetzes Vollzugsdefizite konstatiert,67 so sind diese verstärkt noch angelegt in einer naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung, bei der Eingriff und Ausgleich in so weitgehendem Maße entkoppelt werden, wie dies der Fall wäre bei einer Gleichstellung von Kompensationsmaßnahmen und Ersatzgeld. Mit der Verpflichtung zur Leistung von Ersatzgeld erfolgt eine Entkoppelung von Eingriff und Kompensation des Eingriffs, der ja auch das Ersatzgeld dienen soll. Wird der Verursacher des Eingriffs zur Durchführung von Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen verpflichtet, so wird diese Verpflichtung zugleich mit der Genehmigung des Eingriffs festgesetzt, also im Fall eines planfeststellungsbedürftigen Vorhabens mit der Eingriffsplanfeststellung; damit bleibt auch die Zulassungs- oder Planfeststellungsbehörde in der Verantwortung für die Kompensation des Eingriffs. Räumlich divergierende Entscheidungszuständigkeiten werden die Effektivität in der Umsetzung ebenso mindern, wie der weitergehend gelockerte räumliche und funktionale Bezug die Ermittlung operabler Kriterien für die Feststellung kompensierender Effekte erschweren wird. Auch die behördliche Interessenlage darf in der Frage möglicher Vollzugsdefizite nicht unberücksichtigt bleiben. Ersatzzahlungen des Verursachers und Vorhabenträgers bedeuten zunächst eine haushaltsmäßige Entlastung der staatlichen Stellen. Dass diesen daran gelegen sein kann, das Aufkommen hieraus zur Durchführung ohnehin anstehender oder jedenfalls angestrebter Maßnah67 Vgl. Durner, NuR 2001, 601 (605); Tegethoff, NuR 2002, 654 (656); Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 126 ff.

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men zu verwenden, ist nicht von der Hand zu weisen, wird andererseits bei Fehlen operabler Kriterien für die Feststellung einer tatsächlich kompensierenden Wirkung nicht ohne weiteres belegbar sein. Vollzugsdefizite in der Erfüllung positiver verfassungsrechtlicher Schutzpflichten68 sind mithin verfassungsrelevant. Sie wirken dann auf die verfassungsrechtliche Bewertung einer gesetzlichen Regelung zurück, wenn diese Defizite bereits in der Norm selbst angelegt sind. Mit einer gesetzlichen Gleichordnung des Ersatzgeldes im Verhältnis zu kompensierenden Maßnahmen wird die Verantwortung für die normativ maßgeblichen Ziele des Naturschutzes und damit auch für die Realisation der Schutzgebote des Art. 20a GG in erheblichem Ausmaß auf die Exekutive verlagert. Die Behörde hat dann nach ihrem Ermessen zu entscheiden, ob sie im Fall unvermeidbarer Beeinträchtigungen Ausgleichsmaßnahmen, Ersatzmaßnahmen oder aber die Leistung des Ersatzgeldes anordnet. Es sind dies Maßnahmen von unterschiedlicher Wertigkeit in Bezug auf die Schutzgüter des BNatSchG und die Schutzgebote des Art. 20a GG. Wenn aber die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG in erster Linie den Gesetzgeber in die Pflicht nimmt, so begegnet es erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Entscheidung über diese Maßnahmen und damit über das anzustrebende Schutzniveau in diesem Maße von der Gesetzgebung auf die Exekutive verlagert wird. 2. Struktur der Abwägung und Vermeidungsgebot: Erleichterung von Eingriffen Nach der geltenden Regelung des § 15 Abs. 5 BNatSchG darf ein Eingriff nicht zugelassen werden, wenn der Eingriff nicht innerhalb angemessener Frist ausgeglichen oder ersetzt werden kann und Belange des Naturschutzes überwiegen. Er kann also nur dann zugelassen werden, wenn die für den Eingriff sprechenden, privaten und öffentlichen Belange in der Abwägung höher zu gewichten sind, als die Beeinträchtigung der Schutzgüter des § 1 BNatSchG.69 Die Verpflichtung zur Zahlung des Ersatzgelds greift erst auf der folgenden Stufe der Rechtsfolgenregelung. Bei der angestrebten Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ist dies nicht der Fall. Die Ersatzgeldzahlung wird hier auf eine Stufe mit Ausgleichsund Ersatzmaßnahmen gestellt und damit vor den Abwägungsprozess gezogen – nachdem bereits mit dem BNatSchG 2009 durch die Gleichstellung der Ersatzmaßnahme mit der Ausgleichsmaßnahme die Prüfung ersterer vor die Abwägung gezogen worden war.70 Nach der geltenden Regelung des § 15 Abs. 5 BNatSchG sind die nach Vermeidungs-, Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen verbleibenden potentiellen Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft in Abwägung zu bringen 68

BVerfGE 88, 203 (254); 98, 265 (43); Callies, Schutzpflichten, in: Merten/Papier, HdBGR II, 2006, § 41 Rdn. 7, 26. 69 Vgl. zur Abwägung nach § 19 Abs. 3 BNatSchG 2002 als echter (bipolarer) Abwägung i.S. einer Vorrangentscheidung Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn. 100. 70 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn. 101.

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mit den für das Vorhaben sprechenden Belangen, ohne dass ihr Gewicht in der Abwägung durch die Bewertung der Ersatzzahlungen gemindert würde. Diese Beeinträchtigungen sind nach der Rechtsprechung sogar „mit besonderem Gewicht“ in die Abwägung einzustellen.71 Eine Gleichstellung des Ersatzgeldes mit Ausgleichsund Ersatzmaßnahmen aber bedeutet, dass die Ersatzgeldzahlungen bereits als normativ gleichgeordneter Ausgleich oder Kompensation für die nicht naturaliter zu kompensierenden Beeinträchtigungen gewertet werden. Eine Gleichstellung der Ersatzgelder mit Maßnahmen der Realkompensation würde das mehrstufige gesetzliche Prüfprogramm für Eingriffe in Natur und Landschaft, wie es mit dem ersten Naturschutzgesetz des Bundes eingeführt wurde und im Kern unverändert gilt, nachhaltig durchbrechen. Vor allem das Prüfkriterium des gleichartigen, räumlich-funktionalen und auch zeitnahen Ausgleichs für Beeinträchtigungen würde damit in systemwidriger Weise entwertet, die ohne einen solchen Ausgleich mit besonderem Gewicht in die Abwägung nach § 15 Abs. 5 BNatSchG eingehenden verbleibenden Beeinträchtigungen verlören dann an Gewicht. Der Stellenwert der Schutzgüter Natur und Landschaft würde deutlich gemindert. 3. Verfassungsrechtliche Bewertung: Systematik der Eingriffsregelung und Schutzgebot des Art. 20a GG a) Bundes- und Landesgesetzgeber als Adressaten der Schutzpflicht Vorrangige und wohl auch allein in Betracht gezogene Handlungsoption für eine Flexibilisierung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung ist die Änderung des allgemeinen Grundsatzes des § 13 BNatSchG dahingehend, dass in Satz 2 Ersatzzahlungen nicht mehr subsidiär, sondern gleichrangig benannt werden. Damit ist, wie ausgeführt wurde, nicht zwingend eine Änderung der zentralen Bestimmung des § 15 BNatSchG über die Zulassung von Eingriffen, insbesondere auch im Abwägungserfordernis des Abs. 5 verbunden. Es bliebe nach entsprechender Zurücknahme des allgemeinen Grundsatzes des § 13 BNatSchG den Ländern überlassen, ob sie die Eingriffsregelung in diesem Sinn flexibilisieren wollen. Die Gleichstellung wird also erst durch die entsprechende landesgesetzliche Regelung unmittelbar wirksam – wenngleich, wie ausgeführt, auch bereits die Abschwächung des allgemeinen Grundsatzes des § 13 BNatSchG einen Geltungsverlust der Eingriffsklausel bewirken kann. All dies entlastet den Bundesgesetzgeber jedoch nicht. Er ist aus kompetenziellen Gründen nicht verpflichtet, seine Befugnis zur Bestimmung abweichungsfester Kerne in jedem Fall voll auszuschöpfen – wohl aber gehindert, sie zu überschreiten. Er ist unabhängig davon aber gehalten, allgemeine Grundsätze dann, wenn er sie festlegt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Art. 20a GG zu bestimmen.

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Vgl. BVerwG, U.v. 31. 01. 1997 – BVerwGE 104, 68 (74 ff.).

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b) Systemwidriger Eingriff und Verschlechterungsverbot – Durchbrechung tragender Prinzipien Mit der Gleichstellung von Ersatzzahlungen erlangen diese die Funktion einer der wirtschaftlichen Bedeutung des Eingriffs entsprechenden Verwaltungsgebühr – mag es sich im finanzverfassungsrechtlichen Sinn auch um Sonderabgaben oder Abgaben eigener Art handeln. Der Grundgedanke der Eingriffsregelung wird damit weitestgehend aufgegeben. Insoweit bedeutet eine Änderung des allgemeinen Grundsatzes des § 13 BNatSchG im Sinn einer Gleichstellung der Ersatzzahlung mit ihren Konsequenzen für die nähere Eingriffsregelung des § 15 BNatSchG mit ihrer Stufenfolge Vermeidung – Naturalausgleich – Geldausgleich eine systemwidrige Durchbrechung der geltenden Eingriffsregelung. Systemwidriges Vorgehen des Gesetzgebers ist, für sich genommen, noch nicht verfassungswidrig, erlangt dann jedoch verfassungsrechtliche Relevanz, wenn die einfachgesetzliche Regelung sich in ihren prägenden Elementen als Ausdruck verfassungsrechtlicher Grundsätze darstellt. Dies ist bei der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung der Fall. Verantwortung des Verursachers, Grundsätze des Bestandsschutzes und der Ressourcenschonung fordern Vermeidung von nachteiligen Einwirkungen und im Fall unvermeidbarer Beeinträchtigungen deren Kompensation. Dem entspricht, wie dargelegt, im Grundsatz die geltende Eingriffsregelung.72 Angesichts der Bedeutung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung für diese tragenden Prinzipien des Umweltrechts und Kerngehalte des Art. 20a GG, ihrer Bedeutung insbesondere für das umweltrechtliche Verschlechterungsverbot, ist es berechtigt, hier von einfachgesetzlich konkretisiertem Verfassungsrecht zu sprechen.73 c) Absenkung rechtlicher und faktischer Hürden für Eingriffe Eine tatsächliche Verschlechterung der Situation des Naturschutzes durch eine Absenkung des bestehenden Schutzniveaus ist im Fall einer Flexibilisierung durch die Gleichstellung von Maßnahmen der Naturalkompensation und von Ersatzzahlungen schon deshalb zu besorgen, weil, wie dargelegt, die Anforderungen an die Zulassung von Eingriffen zurückgenommen werden. Damit werden auch die Anforderungen an Eingriffe in noch weitergehendem Maße zu Lasten der Schutzgüter des Art. 20a GG abgesenkt. Sie werden bereits dadurch abgesenkt, dass die Ersatzzahlungen im Fall ihrer Gleichstellung mit Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen in der Entscheidung über die Zulassung eines Eingriffs nach § 15 Abs. 5 BNatSchG vor die Abwägung gezogen würden. Eben dies aber widerspricht dem Grundsatz des Naturschutzrechts, zunächst und vorrangig Eingriffe zu vermeiden und dann erst kom72 Breuer, Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Rdn. 5.10. 73 Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rdn. 44; s. auch in anderem Zusammenhang Degenhart, ZG 2000, 79 ff. sowie grundsätzlich ders., Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 87 ff.

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pensierende Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Nicht nur die rechtlichen, auch die faktischen Hürden für den Verursacher von Beeinträchtigungen werden abgesenkt, wenn Ersatzzahlungen sich ihm gegenüber als weniger belastend auswirken als die Vermeidung oder der tatsächliche Ausgleich von Eingriffen, und wenn die Ersatzzahlungen auch im Interesse der Behörde liegen. Bereits die erleichterte Zulassung von Eingriffen bedeutet also eine Zurücknahme des normativen Schutzniveaus, unabhängig von der Frage der Kompensation von Beeinträchtigungen. Schon von der Wertung des Gesetzgebers her gesehen, ist Kompensation weniger als Vermeidung. Gleichrangigkeit des Ersatzgeldes bedeutet, dass jedenfalls der Verursacher in weitergehendem Umfang als bisher von der Verpflichtung zur Durchführung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen in eigener Verantwortung entlastet wird, während die Verpflichtung zur zweckgebundenen Verwendung des Ersatzgeldes dem Kompensationsprinzip nicht in gleicher Weise entspricht. Dies liegt daran, dass ein räumlicher und funktionaler Zusammenhang für die Verwendung des Ersatzgeldes, also die hieraus zu finanzierenden Maßnahmen, nicht gleichermaßen gefordert ist. Dies liegt maßgeblich auch an der fehlenden rechtlichen Verknüpfung zwischen Eingriff und Ausgleich. Denn die als Ausgleich intendierte Maßnahme, die dann eben keine Ausgleichsmaßnahme i. S. d. § 13 BNatSchG mehr ist, ist nicht mehr Gegenstand der Entscheidung über die Zulassung des Eingriffs, also insbesondere etwa der Eingriffsplanfeststellung. Dies liegt nicht zuletzt auch an Vollzugsdefiziten. Zur Absenkung des normativen Schutzniveaus in der Kompensation von Eingriffen würden nicht zuletzt auch Funktionsverluste von Ökokonten beitragen. d) Kein Ausgleich durch Zweckbindung des Ersatzgeldes Die Zurücknahme der geltenden Eingriffsregelung würde damit im Widerspruch zu einem aus Art. 20a GG zu entnehmenden Verschlechterungsverbot stehen. Dies würde auch durch die Zweckbindung des Ersatzgeldes, so wie sie in der geltenden Eingriffsregelung enthalten ist, nicht ausgeglichen. Dies würde umso weniger ausgeglichen, als diese Zweckbindung im BNatSchG auch nicht als allgemeiner Grundsatz i.S.v. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG gilt. Ohne anderweitigen Ausgleich dieser Eingriffe, insbesondere durch hinreichende gesetzliche Vorgaben für die Verwendung der Ersatzgelder, bleibt der Gesetzgeber hinter dem Schutzgebot des Art. 20a GG zurück, wenn der Vorrang der Naturalkompensation aufgehoben werden sollte. e) Normative Abwertung verfassungsrechtlicher Schutzgüter Ein weiterer Aspekt tritt hinzu, der nicht unmittelbar die Rechtsfolgen der gesetzlichen Regelung betrifft, gleichwohl in seiner verfassungsrechtlichen Relevanz nicht unterschätzt werden darf: der einer normativen Abwertung maßgeblicher Prinzipien und Schutzgüter des Umweltrechts, ihrer Verfügbarkeit. In der Besorgnis eines „Ablasshandels“ mit Schutzgütern der Natur und Landschaft, wie Michael Kloepfer

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ihn befürchtet,74 kommt diese Gefahr einer normativen Abwertung zum Ausdruck. Wo das Verfassungsrecht Schutzpflichten begründet, ist die Wertigkeit der zu schützenden Rechtsgüter in der Rechtsordnung zum Ausdruck zu bringen.

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Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rdn. 104.

Der schwierige Maßstab der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle Das Grundgesetz in seinem Verhältnis zum einfachen Recht Von Josef Isensee I. Normativität der Verfassung 1. Herrschaft des Rechts Die Normenkontrolle ist die juristische Krone des Verfassungsstaates. Im Streit über die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung entscheidet ein unabhängiges Verfassungsgericht. Seinem Spruch unterwerfen sich die Staatsorgane, die Volksvertretung und das Volk. Darin erweist sich mit letzter Konsequenz, daß im Verfassungsstaat die Herrschaft des Volkes die Herrschaft des Rechts bedeutet.1 Das Recht aber ist angewiesen auf Interpreten. Das Recht in den Gesetzblättern (law in the books) ist wirkungslos, wenn es nicht ausgelegt und angewendet wird (law in action). Die Verfassung an sich gelangt nicht zu praktischer Wirksamkeit, sondern allein die Verfassung, wie sie der versteht, der sie anwendet. Hier aber kommt das letzte Wort dem Verfassungsgericht zu, dem damit ein Stück souveräner Macht zuwächst. Das Verfassungsgericht ist ein Geschöpf der Verfassung. Doch das effektiv geltende Verfassungsrecht ist in hohem Maße Werk des Verfassungsgerichts. An die Verfassung gebunden, ist das Gericht zugleich deren Herr, wie es der berühmte Ausspruch des US-amerikanischen Richters Hughes zum Ausdruck bringt: „We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is.“2 In der Feier zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts 1962 stellte Rudolf Smend fest: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“3

1 Martin Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL 29 (1971), S. 46 (49 ff.). 2 Charles E. Hughes, Speech, Elmira, New York, May 3, 1907. Dazu Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 22001, S. 7 ff. 3 Rudolf Smend, Das Bundesverfassungsgericht (1962), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 31994, S. 581 (582).

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Der Macht des Gerichts korrespondiert die Erwartung, daß die Richter die Macht dem Gebot ihres Amtsethos gemäß ausüben und das Recht den Regeln juristischer Kunst gemäß erkennen. Unter diesem Aspekt zeigt sich, daß der Verfassungsstaat zu einem guten Teil Juristenstaat ist. 2. Vorrang der Verfassung Die Normenkontrolle beruht auf anspruchsvollen Voraussetzungen, die nur in wenigen Staaten erfüllt sind. Als Maßstab der Normenkontrolle darf sich die Verfassung nicht in bloßer Programmatik erschöpfen. Vielmehr muß sie echtes Rechtsgesetz sein, also Verbindlichkeit beanspruchen, praktisch anwendbar und gerichtlicher Erkenntnis zugänglich sein. In ihrer Rechtsnatur gleicht die Verfassung dem einfachen Gesetz, das an ihr gemessen wird. Maßstab und Gegenstand der Normenkontrolle müssen ihrer Normqualität nach kompatibel sein. Doch dem normativen Rang nach müssen sie sich unterscheiden. Der Vorrang der Verfassung ist die Bedingung der Möglichkeit der Normenkontrolle.4 Diese setzt also eine Stufenordnung der Rechtsnormen voraus. Im Kollisionsfall geht die höherrangige Norm der niederrangigen vor. Das ist eine Kollisionsregel, die zwischen allen Ebenen gilt, so zwischen Gesetz und Rechtsverordnung wie zwischen Verfassung und einfachem Gesetz. Ein Gesetz ist nur gültig, wenn es nach den Kompetenz- und Verfahrensregeln der Verfassung zustande gekommen ist und wenn es deren inhaltlichen Vorgaben entspricht. Juristisch gesehen, ist die Kollision von Verfassung und Gesetz ein reines Rechtsproblem und die Lösung im Streitfall Sache der Gerichtsbarkeit, letzten Endes Sache des Bundesverfassungsgerichts. Diese Voraussetzungen gelten für alle Spielarten der Normenkontrolle, die abstrakte wie die konkrete, die prinzipale wie die inzidente. 3. „Politische“ Natur der Verfassung In Deutschland erscheint heute die verfassungsgeschichtliche Normenkontrolle als Selbstverständlichkeit. Historisch gesehen, ist sie alles andere als das. Der ersten deutschen Republik war eine verfassungsrechtliche Normenkontrolle fremd.5 Eine Begründung lieferte Carl Schmitt: daß die Verfassung „politischen“ Charakter habe, daß sie die Grundlagen der politischen Einheit betreffe und als deren Hüter die politischen Staatsorgane, zumal der volksgewählte Reichspräsident 4 Young Huh, Probleme der konkreten Normenkontrolle, 1971, S. 23 ff., 28 f. Zur historischen Genese des Vorrangs der Verfassung Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 480 ff.; ders., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in: NVwZ 1984, S. 401 (403 ff.) [zitiert: Selbständigkeit]; ders., Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR II, 32003, § 2 Rn. 59 ff. 5 Geschichte und Rechtsvergleich Huh (Fn. 4), S. 46 ff.; Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 82010, Rn. 112 ff.

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berufen seien, nicht aber die unpolitische Gerichtsbarkeit.6 Die „politischen“ Elemente der Verfassung ließen sich von den rechtlichen nicht sauber trennen, so daß mit der rechtlichen Entscheidung von Verfassungskonflikten die Juridifizierung der Politik und die Politisierung der Justiz drohe.7 Gegen eine Kontroll- und Verwerfungskompetenz des Verfassungsgerichts sprachen durch seine lediglich abgeleitete, ausgedünnte demokratische Legitimation im Vergleich zu den volksgewählten Staatsorganen, dem Reichspräsidenten und dem Reichstag. „Politisch“ in einem anderen Sinne8 ist die Konkretisierung, die ein Verfassungsgericht zu leisten hat: die Anreicherung der (zumeist hochabstrakten) Verfassungsnormen mit inhaltlichen Zugaben, damit sie anwendbar werden.9 Doch das ist kein Spezifikum der Verfassungsgerichtsbarkeit. Jedwedes Gericht, so weist Hans Kelsen nach, muß seine Maßstäbe konkretisieren, also „politische“ Arbeit leisten.10 Für Kelsens strengen Normativismus entsprach ein Verfassungsgerichtshof, wie ihn die österreichische Bundesverfassung von 1921 vorsah, dem Normcharakter des Verfassungsgesetzes. Diese Einsicht setzte sich in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg schlagartig durch. Die Politik hatte Deutschland in den Abgrund gestürzt. Nur mit Hilfe des Rechts konnte es sich wieder erheben. Es baute auf die Normativität der Verfassung, und es setzte sein Vertrauen vorbehaltlos in die dritte Gewalt. Auf diesem Vertrauen gründet die Autorität des Bundesverfassungsgerichts. Es hat – bis auf eine selbstverschuldete Krise in den Neunziger Jahren – bis heute gehalten. Das Volk vertraut der unabhängigen Aristokratie der Robe mehr als seinen, von ihm selbst gewählten Vertretern, dem juristischen Vormund mehr als dem politischen Mündel.11 Unter diesen Vorzeichen stößt die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle auf keinen Widerstand. Die Landesverfassungen12 wie das Grundgesetz führen sie ein, ohne daß sie auf neue wissenschaftliche Begründungen angewiesen wäre und ohne daß sie politische Debatten auslöste. Das alte Argument des „politischen“ Charakters der Verfassung bildet kein Hindernis mehr für die Geltung und für die Akzeptanz der Normenkontrolle. Doch 6 Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 63 ff.; ders., Der Hüter der Verfassung, 11931. 7 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 11928, S. 118 ff., mit Nachw. zu Gegenmeinungen; ders. (Fn. 6), S. 35. 8 Zu den verschiedenen Bedeutungen Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: HStR VII, 1992, § 162 Rn. 5 ff. (Nachw.). 9 In diesem Sinne Schmitt (Fn. 7), S. 118; ders. (Fn. 6), S. 36 ff. 10 Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6 (1931), S. 576 ff. 11 Kritisch Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Matthias Jestaedt et alii, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (43 ff.). 12 Die Ausnahme bildet die Berliner Verfassung von 1950, die den Gerichten verbot, Gesetze und Verordnungen, die das Abgeordnetenhaus beschlossen hatte, auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen (Art. 64 Abs. 2).

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hat es damit seine Relevanz nicht eingebüßt.13 Die Autoren des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat waren sich bewußt, daß das Bundesverfassungsgericht zwar als Gericht nur über Rechtsfragen entscheide, doch daß seine Entscheidungen unter Umständen größte politische Auswirkungen zeitigen könnten und auch einen politischen Akzent hätten.14 Das Gericht hat die Spannung zu den politischen Kräften auszuhalten, in denen es den rechtlichen Geltungsanspruch der Verfassung einlösen muß: den „latenten Konflikt zwischen dem in ständiger Bewegung befindlichen Politischen und dem vorzugsweise in Ruhe verharrenden Recht“. 15 Das Gericht vertritt die Seite des Rechts, „das die vitalen politischen Kräfte zu bändigen sucht“.16 Dennoch hat, so repräsentativ für das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts der Richter Leibholz, der Verfassungsrichter im Unterschied zum Zivil- und Strafrichter – „die politischen Folgen seines Spruches in Betracht zu ziehen“.17 Der Verfassungsrichter müsse sich über die erforderlichen allgemeinen Rechtskenntnisse hinaus auch „politisch ausweisen“, etwas vom Wesen des Politischen verstehen und den politischen Kräften Verständnis entgegenbringen.18 Das erklärt die Besonderheit der Auslese der Verfassungsrichter. Sie erfolgt nicht nach fachlicher Eignung, wie sie für alle anderen Richter vorgeschrieben ist, sondern nach politischer Präferenz durch Wahl der parlamentarischen Körperschaften, praktisch nach Parteiproporz.19 Der Wahlmodus kann die Gefahr, wenn nicht abwenden, so doch mildern, daß der Richter bei der Handhabung der Verfassungsnorm die politische Eigenart der Verfassung nicht berücksichtigt und „nur der steifen Rechtslogik Genüge tut“.20 Doch droht der Verfassung auch Gefahr, wenn die Richter in den gegenteiligen Fehler verfallen und allzu geschmeidig interpre13 Das Verhältnis von normativer und politischer Verfassung in heutiger Sicht: Huh (Fn. 4), S. 74 ff.; Michael Kloepfer, Vom Zustand des Verfassungsrechts, in: JZ 2003, S. 481 (482); Isensee (Fn. 8), § 162 Rn. 68 ff.; Bernhard Kempen, Verfassung und Politik, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hg.), Verfassungstheorie, 2010, § 27 Rn. 16 ff.; Martin Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsraum, in: HStR IX, 32011, § 188 Rn. 1 ff., 20 ff.; Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: ders. et alii (Fn. 11), S. 103 f.; Evelyn Haas, Macht und Ohnmacht – Das Bundesverfassungsgericht und die Politik, in: FS für Rüdiger Wolfrum, 2012, S. 1959 ff. 14 Dazu Michael Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, 2011, § 19 Rn. 21 ff. Weit. Nachw. JöR n. F. 1 (1951), S. 665, 668. 15 Zitat: Gerhard Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR n. F. Bd. 6 (1957), S. 109 (122). 16 Leibholz (Fn. 15), S. 122. 17 Leibholz (Fn. 15), S. 122. Zur Rücksichtnahme auf die Folgen als Auslegungsmaxime Isensee (Fn. 8), § 162 Rn. 80 ff. 18 Leibholz (Fn. 8), S. 122. 19 Dazu Karl Wilhelm Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, 1986, S. 15 ff.; Uwe Kischel, Amt, Unbefangenheit und Wahl der Bundesverfassungsrichter, in: HStR III, 32005, § 69 Rn. 5 ff.; Kloepfer (Fn. 13), S. 482; ders. (Fn. 14), § 19 Rn. 25, S. 43 ff. 20 Huh (Fn. 4), S. 77.

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tieren, dem Druck der Politik und der Versuchung des Zeitgeistes nachgeben und damit die Normativität der Verfassung aufweichen. Die „politische“ Eigenart der Verfassung zeigt sich in der Monopolisierung der Kompetenz zur Verwerfung förmlicher Gesetze beim Bundesverfassungsgericht. Zwar darf jedes Gericht die entscheidungserheblichen Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin prüfen. Doch allein das Bundesverfassungsgericht kann Akte der parlamentarischen Volksvertretung kassieren und damit als „negativer Gesetzgeber“ fungieren. Diese Sonderstellung mag erklären, daß das Bundesverfassungsgericht sich nicht nur als Gericht versteht, sondern darüber hinaus sich kraft Selbstermächtigung zum Verfassungsorgan neben den politischen Verfassungsorganen ausgerufen hat, was ihm der Gesetzgeber denn auch nachträglich zugesteht.21 4. Verfassung als alleiniger Kontrollmaßstab Obwohl die „politische“ Eigenart der Verfassung ihre Auslegung beeinflußt, gibt es für das Bundesverfassungsgericht keine selbständigen politischen Kontrollmaßstäbe neben denen des Verfassungsrechts, wie es neben diesen auch keine Maßstäbe der Moral, der Ökonomie oder der Zweckmäßigkeit gibt.22 Das Gericht erklärt ausdrücklich den Verzicht darauf, „Politik zu treiben“, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Damit will es den von der Verfassung für andere Staatsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenhalten.23 Die Rede vom Verzicht ist allerdings verfehlt. Verzichten kann man nur auf das, was man hat oder darf. „Politik zu treiben“ liegt aber jenseits der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Der Auftrag des Verfassungsgerichts geht dahin, Fragen der Auslegung und Anwendung von Verfassungsnormen zu beantworten. Es kann sich der Antwort nicht dadurch entziehen, daß es eine genuine Rechtsfrage zur politischen Frage erklärt und somit seine Kompetenz verneint. Eine solche Begründung wäre schon begriffslogisch falsch, wenn man das Politische negativ definiert als Fehlen inhaltlicher rechtlicher Vorgaben für das staatliche Handeln.24 Denn soweit die verfassungsrechtlichen Vorgaben reichen, ist nach diesem Verständnis für das Politische kein Platz. Dieses bildet keinen eigenständigen Sektor, der neben den des 21

Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts („Status-Denkschrift“), in: JöR n. F. 6 (1957), S. 144 ff., 194 ff. § 1 BVerfGG. Kritisch Schlaich/Korioth (Fn. 5), S. 18 ff.; Schönberger (Fn. 11), S. 11 (50 ff.). 22 Außer Betracht bleiben hier die für manche Verfahrensarten anwendbaren einfachrechtlichen Maßstäbe, so bei der konkreten Normenkontrolle das einfache Bundesrecht für formelle Landesgesetze (Art. 100 Abs. 1 S. 2 GG) oder bei der Wahlprüfungsbeschwerde die wahlrechtlichen Vorschriften unterhalb der Verfassung (Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 BVerfGG). 23 BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundlagenvertrag. 24 Dazu Isensee (Fn. 8), § 162 Rn. 19 ff.

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Verfassungsrechts träte und dessen Geltungsanspruch schmälern oder zurückschneiden könnte. Vielmehr erhält das Politische nur Spielraum, wo und soweit die Verfassung es ihm einräumt. Die Jurisdiktion des Bundesverfassungsgerichts reicht nur so weit wie die Maßstäbe, die ihm die Verfassung vorgibt. Daher ist es mißverständlich, wenn es in gönnerhaftem Ton vorgibt, politische Spielräume der Legislative oder der Exekutive achten und schonen zu wollen. Das Gericht hat hier keine Vorgegebenheit zu achten und zu schonen, sondern sein Kontrollpotential auszuschöpfen und dessen Grenzen einzuhalten. Ist das der Fall, so bleiben auch die von der Verfassung vorgesehenen politischen Spielräume unangetastet, ohne daß es dazu besonderer asketischer Anstrengungen der Richter bedarf. Das Gericht kann nicht von sich aus eine Frage zu einer politischen erklären und einen Sachentscheid ablehnen. Die political question doctrine läßt sich nicht aus dem US-amerikanischen Recht in das deutsche Recht verpflanzen.25 Überhaupt ist im Staatsrecht wie im Verfassungsrecht Vorsicht geboten beim Import fremder Rechtsfiguren. Ehe ein Import erwogen werden kann, müssen die rechtlichen und außerrechtlichen Voraussetzungen im Herkunftsland mit denen im Inland auf das sorgfältigste verglichen werden. Die wichtigste Anregung, deren die Rechtsvergleichung fähig ist, besteht darin, die Eigenart des eigenen Rechts deutlicher zu erkennen. Ein Exempel dafür bildet auch der Blick auf den US-amerikanischen Topos des judicial self-restraint. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ausdrücklich darauf berufen,26 um freilich im Anschluß daran kräftig vorzupreschen und aus dem Grundgesetz ein dichtes Netz von Vorgaben verfassungskonformer Interpretation jenes Vertragswerks abzuleiten, zu dessen Kontrolle es angerufen war. Dem Gericht steht es nicht frei, von sich aus Zurückhaltung in der Anwendung des Verfassungsrechts und Bescheidenheit zu üben. Selbstbescheidung ist keine Amtstugend. Das Gericht darf die ihm vorgegebenen Maßstäbe nicht aufweichen und verkürzen, wie sie diese auch nicht härten und dehnen darf. Es hat sie weder großzügig noch engherzig anzuwenden, sondern so, wie ihr normativer Anspruch es fordert. Die Verfassung darf sich starr oder nachgiebig erweisen – nicht aber ihr amtlicher Interpret. Dem Bundesverfassungsgericht kommt jedoch der Letztentscheid darüber zu, im Verhältnis zu den übrigen Staatsorganen den Verlauf der Grenze zwischen Verfassungsrecht und Politik abzustecken und zu qualifizieren, ob eine Frage verfassungsrechtlicher Natur ist oder nicht. Daher verläuft für die 25

Darstellung der Doktrin: Brugger (Fn. 2), S. 21 ff. Gegen eine Rezeption in Deutschland Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 961; Dietrich Murswiek, Der Umfang der verfassungsrechtlichen Kontrolle staatlicher Öffentlichkeitsarbeit, in: DÖV 1962, S. 529 (531 ff.); Ernst Benda/Eckart Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2012, S. 13 f., 209; Schlaich/Korioth (Fn. 5), Rn. 505. 26 BVerfGE 36, 1 (14) – Grundlagenvertrag; 39, 68 (69 f.) – Sondervotum. Zur amerikanischen Judikatur Martin Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsraum, in: HStR IX, 32011, § 188 Rn. 6, 9 ff.; Brugger (Fn. 2), S. 8 f., 18, 24 ff., 42 ff. Gegen eine Übernahme Benda/Klein (Fn. 25), S. 12 f.; Schlaich/Korioth (Fn. 5), Rn. 505, 527. Aufgeschlossen dagegen Roman Herzog, Offene Fragen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, in: ZG 2 (1987), S. 290 (291 ff.); Kloepfer (Fn. 14), § 19 Rn. 26.

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Staatspraxis die Grenze dort, wo das Gericht sie angibt. Der Idee nach ist sie aber von der Verfassung selbst unverrückbar vorgezeichnet. Die Grenze zwischen Verfassungsrecht und Politik zerschneidet nicht vollständige Sachbereiche. Vielmehr sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben ihrem Inhalt nach unterschiedlich dicht und ihrer Geltung nach unterschiedlich intensiv. Die Verfassung kann sich hier als Rahmen, dort auch als dessen Füllung erweisen, hier als Imperativ, dort als Appell wirken, das eine mehr, das andere weniger. Derselbe Lebensbereich kann in einer Hinsicht von Verfassungs wegen determiniert, in anderer der politischen Gestaltung offen sein. So wird die Strafjustiz erheblich enger durch die Verfassung gesteuert als die Außenpolitik. Letztere bedarf nur der demokratischen Legitimation und der kompetenziellen Basis; ansonsten kann sie nur an hochabstrakten, flexiblen, inhaltlich ausgedünnten Zielbestimmungen gemessen werden, wie der Wahrung des Friedens und der Förderung der Menschenrechte.27 So weit der Geltungsanspruch der Verfassung reicht, so weit reicht auch die Kontrollpflicht des Bundesverfassungsgerichts, ohne daß diese Rechtspflicht vor einem politischen Hindernis zurückwiche. Das Ergebnis ändert sich nicht, wenn man das Politische nach Carl Schmitt positiv als Freund-Feind-Verhältnis definiert.28 Politisch in diesem Sinne wird eine Frage dadurch, daß sich an ihr ein Konflikt des staatlichen Lebens entzündet. Politisch ist keine Sache an sich, sondern lediglich ein bestimmter Aggregatzustand, in den eine jede Frage geraten kann, auch jede Rechtsfrage.29 Die Rechtsfrage verliert nicht ihre rechtliche Natur, wenn sie sich zu politischer Bedeutung auflädt. Daher hat das Politische keinen Einfluß auf die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Dieses darf die Entscheidung nicht verweigern aus Furcht, in den partei- und gesellschaftspolitischen Kampf hineingezogen zu werden.30 Die institutionelle Unabhängigkeit des Gerichts und die persönliche Unabhängigkeit seiner Mitglieder ermöglichen, daß die Richter Distanz zu den außerforensischen Auseinandersetzungen halten und in sachlicher Unabhängigkeit allein nach dem Maßstab des Rechts über die anstehende Frage entscheiden können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich denn auch niemals gescheut, politisch „heiße Eisen“ anzufassen, sich zu Themen zu äußern, in denen sich die Gesellschaft spaltet, und über Klagen zu entscheiden, welche die politischen Kontroversen mit forensischen Mitteln beenden sollen: zu Themen wie Abtreibung, zivile Nutzung der Kernenergie, Grundlagen27 Zur inhaltlichen Verfassungsbindung der Außenpolitik Christian Waldhoff, Die innerstaatlichen Grundrechte als Maßstab der Außenpolitik?, in: Josef Isensee (Hg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009, S. 43 ff. (63 ff.). Zur Europapolitik Wolfgang Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: HStR X, 32012, § 216. 28 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Ausgabe 1963, S. 20 ff. 29 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorium, 1988, S. 283 ff. 30 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: FS für Hans Ulrich Scupin, 1983, S. 317 (329).

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vertrag mit der DDR, Ausländerwahlrecht, Nachrüstung, Auslandseinsätze der Bundeswehr, europäische Währungsunion. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts wirken zumeist auch im politischen Sinne befriedend. Das erklärt sich aus der großen Autorität, die in Deutschland das Grundgesetz und, als sein höchster Hüter, das Bundesverfassungsgericht genießt. II. Die Vielfalt der Verfassungsinterpreten und der Letztentscheid des Verfassungsgerichts 1. Korrespondenz zwischen Wissenschaft und Praxis Dem Bundesverfassungsgericht kommt nicht das Monopol auf die Interpretation der Verfassung zu. Das versteht sich von selbst für die Staatsrechtslehre. Ihre wissenschaftliche Interpretation steht in lebendiger Wechselbeziehung zur Judikative des Verfassungsgerichts in gegenseitiger Anregung. Die Staatsrechtslehre leistet Vorarbeit, indem sie die Bedingungen der Interpretation reflektiert, ihr Vorverständnis in einer Verfassungstheorie zur Sprache bringt und rationalisiert. Aber sie nimmt auch die Judikate kritisch und kreativ auf, bringt sie, soweit möglich, in das System der Dogmatik ein und entwickelt dieses weiter, so daß es der Praxis anschlußfähig bleibt. Man mag die Staatsrechtslehre die Magd des Verfassungsgerichts nennen. Dann aber ist sie – um ein Bild Kants zu übernehmen – nicht die Magd, die ihrer Herrin die Schleppe hinterherträgt, sondern die Magd, die ihr mit der Fackel voranleuchtet.31 Theorie und Praxis finden zur Personalunion in den Verfassungsrichtern, die ihrem Beruf nach Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule sind.32 Von den insgesamt 16 Richtern sind im Jahre 2013 acht Universitätsprofessoren (im Jahre 2011 sogar neun), zuzüglich weiterer drei Richter mit Professorentitel. Darin mag eine Erklärung liegen für den an sich gerichtsfremden, weit ausgreifenden, lehrhaften Duktus vieler Judikate, ihren wissenschaftlichen Begründungsehrgeiz und ihre argumentative Phantasie. Die Unterscheidung zwischen Richterbank und Katheder will nicht immer gelingen. Der Richterstuhl verwandelt sich zuweilen in eine (autoritative) Lehrkanzel. Wissenschaftliche Verfassungsinterpretation leistet nicht allein die Staatsrechtslehre, sondern jedwede rechtswissenschaftliche Disziplin, weil die Verfassung für alle Rechtsgebiete bedeutsam ist, für das Verwaltungsrecht, das Strafrecht wie das Privatrecht, das materielle Recht wie das Verfahrensrecht. Die Verfassung 31

Josef Isensee, Quo vadis, Bundesverfassungsgericht?, in: JZ 1996, S. 1085 (1086). Ein originelles Gegenmodell der Korrespondenz von Gerichtsbarkeit und Wissenschaft hat Korea entwickelt: Die Verfassungsrichter rekrutieren sich ausschließlich aus Richtern der Fachgerichtsbarkeit. Gleichsam kompensatorisch ist dem Verfassungsgericht mit dem Jahre 2011 ein amtliches Verfassungsforschungsinstitut angegliedert worden, das auf Anfrage wie in Eigeninitiative wissenschaftliche Beratung leistet und so zwischen Gerichtspraxis und Staatsrechtslehre vermittelt. 32

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ist Thema auch der politischen Wissenschaften, der Soziologie, der Philosophie. Überhaupt läßt sich der Kreis der Verfassungsinterpreten nicht eingrenzen, weil die Verfassung jedermann angeht, und so auch jedermann ein potentieller Verfassungsinterpret ist. In der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten33 wirken kraft ihrer grundrechtlichen Freiheit die politischen Parteien und die Medien mit, die Interessengruppen und die Kirchen, die Bürgerinitiativen und die Stammtische. Sie bringen ihre Einsichten und ihre Interessen in den Diskurs über das richtige Verständnis der Verfassung ein und halten ihn lebendig. Doch der offene Diskurs bringt nur Entscheidungsvorschläge hervor. Rechtsverbindliche Entscheidungen sind den staatlichen Organen im Rahmen der gewaltenteiligen Ämterordnung vorbehalten. 2. Amtliche Verfassungsinterpretation in demokratischer Gewaltenteilung a) Erster Zugriff und letztes Wort Alle staatlichen Organe interpretieren die Verfassung, ein jedes in seinem Zuständigkeitsbereich: die Regierung, die einen Gesetzentwurf erstellt, der Bundestag, der das Gesetz beschließt, der Bundesrat, der an der Gesetzgebung mitwirkt, die Verwaltung, die das Gesetz ausführt, und das jeweilige Fachgericht, das nach dem Gesetz entscheidet. Sie alle sind an die Verfassung gebunden. Ausdrücklich oder konkludent beanspruchen sie alle, daß ihre Akte mit der Verfassung übereinstimmen. Sie leisten tätige oder kontrollierende Verfassungsexegese im Rahmen der gewaltenteiligen Demokratie. Das erste Wort kommt der Legislative zu. Sie hat die Befugnis und in gewissem Umfang auch die Verpflichtung zur politischen Gestaltung nach den Maßgaben der Verfassung und zu deren Konkretisierung. In zweiter Linie liegt die Interpretationskompetenz bei der Exekutive. An dritter Stelle folgt die Judikative, genauer: die Fachgerichtsbarkeit. Exekutive wie Judikative unterliegen einem doppelten Vorrang, dem der Verfassung und dem des Gesetzes. Sie dürfen das Gesetz zwar auf seine Verfassungsmäßigkeit hin prüfen. Doch die Verwerfungskompetenz ist ihnen, jedenfalls soweit es sich um förmliche Gesetze handelt und die Autorität des Parlaments auf dem Spiel steht, entzogen und beim Bundesverfassungsgericht zentriert.34 Das Bundesverfassungsgericht hat das letzte Wort im Streit um die Verfas-

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Formel: Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff. 34 Zur Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Exekutive: Fritz Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 290 ff.; Steffen Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 92011, Rn. 124 ff. (Nachw.). Entsprechend zur Fachgerichtsbarkeit Huh (Fn. 4), S. 93 ff.; Benda/Klein (Fn. 25), S. 310 ff. (Nachw.).

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sungsmäßigkeit eines Gesetzes wie überhaupt im Streit um die Auslegung des Grundgesetzes.35 b) Vom Letztentscheid zur ganzheitlichen Steuerung Das Bundesverfassungsgericht hat keine Kontrollinstanz über sich. Über ihm, so die geläufige Redeweise, ist nur der blaue Himmel. Damit aber stellt sich die Frage, ob es kraft seines Letztentscheids alle vorangegangenen Interpretationen der anderen Staatsorgane ohne weiteres beiseite schieben, reinen Tisch machen und voraussetzungslos von sich aus entscheiden darf. In der Tat geht es so vor. Es läßt sich nicht durch den Einwand beirren, daß seine Entscheidungsmaßstäbe eigentlich zu abstrakt sind, um die Leistungen des Gesetzgebers, der Verwaltung und der Fachgerichte zu ersetzen. Sie sind zwar abstrakt, aber sie sind allbezüglich.36 Kein Rechtsgebiet, kein staatlicher Rechtsakt, für die nicht in irgendeiner Hinsicht die Verfassung relevant würde. Sie strahlt aus auf alle Bereich des einfachen Rechts, freilich mehr oder weniger intensiv. Die Strahlen gehen vor allem von den Grundrechten aus, die ein lückenloses System des Schutzes des Bürgers vor und durch die Staatsgewalt bilden.37 Die Grundrechte erweisen sich über ihre genuine Bedeutung als Abwehrrechte hinaus als objektives Wertsystem, von dem Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung „Richtlinien und Impulse“ empfangen.38 Das Bundesverfassungsgericht will das einfache Recht nicht umfassend kontrollieren, sondern sich allein an den Maßstab der Verfassung halten. Doch einzig dieses Gericht vermag die „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte zu messen, von der Verfassung gezeugte „Werte“ zu erkennen und „Werte“ gegen kollidierende „Werte“ abzuwägen. Die Verfassung wandelt sich vom rechtlichen Maßstab zur Quelle rechtsschöpferischer Inspiration. Mit der Proklamation der „Werte“ und deren „Ausstrahlung“ im Lüth-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die letztverbindliche und potentiell totale Entscheidungsmacht in der gewaltenteiligen Staatsorganisation kraft Selbstermächtigung für sich reklamiert.39 In der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts wächst die Verfassung an Inhalt, Umfang und Geltungsintensität. Mit dem Entscheidungsmaßstab wächst die Entscheidungskompetenz. So weitet sich das begrenzte Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit des Verfassungstextes unter der Hand zur umfassenden 35 Näher Gerd Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: HStR III, 32005, § 67 Rn. 22 ff. 36 Kategorie der Allbezüglichkeit: Alexander Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Werner Maihofer (Hg.), Ideologie und Verfassung, 1969, S. 37 (51 ff.). Dazu Isensee (Fn. 8), § 162 Rn. 42. 37 Die Ausgangsunterscheidung BVerfGE 6, 32 (36 ff.) – Elfes. 38 BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth. 39 Zur Omnipräsenz des Bundesverfassungsgerichts Jestaedt (Fn. 13), S. 119 ff., 138.

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Freiheit des Einzelnen, alles zu tun, was nicht durch verfassungsmäßiges Gesetz verboten ist. Und dieses Grundrecht, verbunden mit dem Verfassungsprinzip der Menschenwürde, gebiert weitere, ungeschriebene Grundrechte, vor allem das auf „informationelle Selbstbestimmung“ (Datenschutz)40, das, seinerseits fortzeugend, das Grundrecht „auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationeller Systeme“ in die Welt setzt.41 Eine vergleichbare Expansion ist in der Judikative des US-amerikanischen Supreme Court nicht zu erkennen. Der Supreme Court ist allerdings nicht reines Verfassungsgericht, sondern auch allgemeines Revisionsgericht und kann daher wählen, ob es Verfassungsrecht oder einfaches Bundesrecht als Maßstab einsetzt. Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist auf das Verfassungsrecht als alleinigen Maßstab verwiesen. Gleichsam kompensatorisch weitet es die Verfassung nach Inhalt, Reichweite und Intensität stetig aus, so daß tendenziell umfassende Kontrolle über die Staatsgewalt möglich wird42 und alle Rechtsgebiete konstitutionalisiert werden.43 3. Bundesverfassungsgericht und Legislative Der eigene Gestaltungsraum der Legislative schrumpft, je weiter sich die Vorgaben der Verfassungsjudikatur dehnen und verdichten. In der demokratischen Gewaltenteilung verschieben sich die Gewichte zugunsten des Bundesverfassungsgerichts in Richtung auf den Jurisdiktionsstaat, je mehr die Gesetzgebung ihren politischen Entscheidungscharakter verliert und zum bloßen Verfassungsvollzug gerät.44 Die Judikatur zeigt schizophrene Züge: auf der einen Seite weitet sie den Vorbehalt des Gesetzes immer mehr aus und verfeinert die Anforderungen an die Bestimmtheit des Gesetzes. Auf der anderen Seite respektiert sie immer weniger die politische Entscheidung der Legislative und zeigt immer weniger Verständnis für parlamentarische Prozesse und politische Kompromisse. Nicht selten nutzt es die Gelegenheit, wo sie sich bietet, sich als den überlegenen Oberlehrer der Verfassungsinterpretation zu zeigen, den Gesetzgeber seiner Fehler zu überführen und seine Akte, sei es auch nur in Randfragen, zu korrigieren. Das Bundesverfassungsgericht treibt ihn vor sich her, wenn es um Folgerungen der Wahlrechts40 BVerfGE 65, 1 (41 f.). Eingehend Hans-Detlef Horn, Schutz der Privatsphäre, in: HStR VII, 32009, § 149 Rn. 21 ff. Rechtspolitischer Vorschlag Michael Kloepfer, Datenschutz als Grundrecht, 1980; ders./Florian Schärdel, Grundrechte für die Informationsgesellschaft, in: JZ 2009, S. 453 ff. 41 BVerfGE 120, 274 ff. 42 Jestaedt (Fn. 13), S. 110 ff. 43 Gunnar-Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 18 ff., 36 ff.; Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: FS Winfried Brohm, 2002, S. 191 (192 ff.); Kloepfer (Fn. 14), § 1 Rn. 218. 44 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt (1981), in: ders., Gesetze und gesetzgebende Gewalt, 21981, S. 402.

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gleichheit für das Wahlsystem geht, obwohl dieses, wie das Gericht zugibt, vom Grundgesetz offengelassen und dem Gesetzgeber überantwortet wird.45 Es setzt sich über mühselig erarbeitete gesetzgeberische Kompromisse in der Frage des Nichtraucherschutzes hinweg und fordert Konsequenz nach eigener Fasson ein.46 Der gesetzgeberische Ausgleich zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsschutz im Zeitalter des Terrorismus scheitert am Spruch des Gerichts, das die Wohnungsfreiheit und den Datenschutz nahezu verabsolutiert und zu Bastionen der Abwehr gegen Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr ausbaut. Durch detaillierte Vorgaben verschließt es dem Gesetzgeber weitgehend die Möglichkeiten, den Bedrohungen effektiv zu begegnen und praktikable Maßnahmen zu entwickeln.47 Das Parlament nimmt die Vormundschaft des Bundesverfassungsgerichts nahezu widerspruchslos hin und fühlt sich von eigener Entscheidungsverantwortung entlastet. In der Literatur regen sich jedoch Strebungen, die Verfassungsjudikatur auf ein gerichtsförmiges Maß zurückzuschneiden, die Eigenverantwortung des Parlaments wie der anderen Staatsorgane zu stärken, eine arbeitsteilige Verfassungsinterpretation abzusichern und die Balance der Gewalten wiederherzustellen.48 Diese „funktionell-rechtlichen“ Ansätze erfassen das Bundesverfassungsgericht rein als Gericht und lassen nicht gelten, was nicht zu dem Gerichtscharakter paßt.49 Es wird daran erinnert, daß für das Gericht die Verfassung nur den Kontrollmaßstab bildet und es nur prüft, ob ein Gesetz die Verfassung verletzt. Für den Gesetzgeber aber ist es der Handlungsmaßstab, der unter den jeweiligen Umständen optimal zu verwirklichen ist.50 Diese dogmatischen Bemühungen haben geringen Einfluß auf die Praxis des Bundesverfassungsgerichts. Mit der Macht des letzten Wortes bestimmt es seinen eigenen Wirkungskreis und sein Verhältnis zum Parlament, freilich niemals in offener Selbstherrlichkeit, sondern stets beteuernd, daß es den Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum der anderen Staatsorgane respektiere.51

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Zuletzt BVerfG Urt. v. 25.7.2012 – 2 BvF 3/11. BVerfGE 121, 317 (344 f., 354 f.) – mit kritischen Sondervoten der Richter Bryde (S. 378 [380 f.]) und Masing (S. 381 ff.). 47 BVerfGE 109, 279 ff.; 120, 320 ff.; 125, 260 ff. mit kritischem Sondervotum Schluckebier. Kritik: Haas (Fn. 13), S. 1967 f. 48 Zusammenfassende, gründliche, kritische Darstellung: Schlaich/Korioth (Fn. 5), S. 308 ff. 49 Dezidiert Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL 39 (1980), S. 99 (106 ff., 113 ff.). Dazu auch Wahl, Selbständigkeit (Fn. 4), S. 408. 50 Schlaich/Korioth (Fn. 5), S. 311 ff. 51 Repräsentativ BVerfGE 62, 1 (50). 46

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4. Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte Permanente Kontroversen ergeben sich aus dem Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten, also den Gerichten des Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Sozial-, Arbeits- und Steuerrechts.52 Das Bundesverfassungsgericht fungiert seinerseits nicht als Fachgericht für das Gebiet des Verfassungsrechts, sondern als fächerübergreifendes Universalgericht, das auf der potentiellen Allgegenwart der Verfassung in ihrer Allbezüglichkeit53 gründet. Es dementiert zwar, daß es jedwede Rechtsmaterie an sich ziehen könnte. Das Dementi verfängt aber nicht, weil das Bundesverfassungsgericht selbst entscheidet, was verfassungsrechtlich ist, was nicht. Darüber gerät es leicht in Gefahr, die Eigengesetzlichkeit der Rechtsmaterie zu verkennen und die gewachsene Rechtsprechungskultur ohne Not zu beeinträchtigen. Es schiebt die in Jahrzehnten entwickelte strafrechtliche Judikatur zum Nötigungstatbestand beiseite, deutet den Gesetzestext in der Sitzblockadenfrage nach eigener Fasson um und läßt ihn am Gebot der gesetzlichen Vorab-Bestimmtheit scheitern,54 obwohl eine traditionsgefestigte fachgerichtliche Konkretisierung auch dem weit gefaßten Gesetz mehr an rechtsstaatlicher Berechenbarkeit zuführt, als die dichteste Neuregelung es vermöchte, vollends mehr als die lehrhaften Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Heikler sind noch die Interventionen in das bürgerliche Vertragsrecht.55 Dieses steht heute unter Kuratel des Bundesverfassungsgerichts. Es beansprucht die Zuständigkeit zur inhaltlichen Kontrolle der Verträge. Vertragliche Pflichten, so sagt es, hätten nur Bestand, soweit nicht soziales (strukturelles) Ungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien herrsche.56 Nunmehr hat jedwede bürgerlichrechtliche Vertragsklausel die verfassungsrechtliche Überprüfung am lapidaren Vorbehalt der sozialen Ungleichgewichtigkeit zu gewärtigen. Wo die Voraussetzung des sozialen und wirtschaftlichen Gleichgewichts fehlt, beansprucht das Bundesverfassungsgericht selber die Kompetenz zur Vertragskorrektur, damit „nicht nur“ das Recht des Stärkeren walte.57 Pro forma operiert das Bundesverfassungsgericht mit den Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuchs.58 Die bürgerlichrechtlichen Positionen erscheinen nunmehr als grundrechtliche Positionen, in der Regel als solche des Eigentums, mit der Folge, daß Vermieter und Mieter, beide Eigentümer im grund52

Dazu Otto Seidl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte, in: Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. II/1, 1996, S. 9 ff.; Christian Starck, Korreferat, ebd. S. 27 ff.; Volkert Schmidt, Kurzreferat, ebd., S. 43 ff. 53 Terminus: Alexander Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Werner Maihofer (Hg.), Ideologie und Verfassung, 1969, S. 37 (51 ff.). Dazu Isensee (Fn. 8), § 162 Rn. 41 f. 54 BVerfGE 92, 1 (11 ff.) in Abweichung von BVerfGE 73, 206 (230 ff.). 55 Leitentscheidungen: BVerfGE 81, 242 (253 ff.) – „Handelsvertreter“; 89, 214 (229 ff.) – „Bürgschaft“. Dogmatische Analyse: Josef Isensee, Privatautonomie, in: HStR VII, 32009, § 150 Rn. 113 ff. (Nachw.). 56 BVerfGE 81, 242 (255); 89, 214 (232). 57 BVerfGE 89, 214 (232). 58 BVerfGE 81, 242 (256); 89, 214 (233 f.).

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rechtlichen Sinne,59 in ein verfassungsrechtliches Patt geraten, aus dem, kraft Vorrangs der Verfassung, wiederum nur die Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit befreien soll. Direktive des Bundesverfassungsgerichts: „Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.“60 Die Dialektik ist ziemlich vertrackt für ein Zivilgericht. Dem Vertragsrecht wird die Rechtsunsicherheit geradezu implantiert. Reibungen ergeben sich vor allem in der grundrechtlichen Güterabwägung, die heute das beherrschende Prinzip der Grundrechtsjudikatur ist. Das Bundesverfassungsgericht neigt dazu, gesetzgeberische und fachgerichtliche Abwägungen zwischen grundrechtlichen Abwehr- und Schutzbelangen durch eigene Abwägungen zu ersetzen, so im Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Recht der persönlichen Ehre61 oder im Verhältnis des ungeschriebenen, richterrechtlich kreierten Datenschutzgrundrechts zu den Belangen der öffentlichen wie der privaten Sicherheit.62 Es wäre ein Mißverständnis, dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen abzusprechen. Alles staatliche Recht, mithin auch alle staatliche Gerichtsbarkeit, ist an die Verfassung gebunden. Die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts wehrt der Gefahr, daß einzelne Gerichtszweige sich abkapseln, in Spezialistentum erstarren und stallblind werden. Das Bundesverfassungsgericht trägt dazu bei, daß die Rechtsordnung nicht in ihre Einzelgebiete auseinanderfällt und wieder zusammengeführt wird auf ihre Mitte hin, die Verfassung. Es betrachtet die konkreten Probleme der Fachgerichte aus ferner Vogelschau, indes diese sie aus der Froschperspektive, also aus der Nähe, betrachten. Die zwiefache Perspektive tut der Rechtserkenntnis gut. Doch kostet die Intervention aus der Höhe und Ferne ihren Preis, weil ihre Maßstäbe, im wesentlichen die Grundrechte, durchwegs inhaltsarm sind und das Verfassungsgericht dem Fachgericht an Anschauung wie Erfahrung unterlegen ist. Die Fachgerichte registrieren zuweilen Besserwisserei, Lebensferne und Dilettantismus. Nicht ohne Grund apostrophierte schon vor Jahrzehnten der Bonner Zivilrechtler Werner Flume – sehr zum Verdruß seines Fakultätskollegen Ernst Friesenhahn, der dem Gericht angehörte – das Bundesverfassungsgericht als „Deutschlands oberstes Laiengericht“. III. Das Gesetz als Gegenstand und als Maßstab der Normenkontrolle Die Normenkontrolle setzt den Unterschied zwischen dem Gesetz als ihren Gegenstand und die Verfassung als ihren Maßstab voraus. Gegenstand einer grund59

Kritik Otto Depenheuer, Der Mieter als Eigentümer, in: NJW 1993, S. 2561 ff. BVerfGE 89, 214 (232). 61 Etwa BVerfGE 86, 1 (11 ff.), 93, 266 (289 ff.). Allgemein Josef Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: FS für Martin Kriele, 1997, S. 5 (28 ff.). 62 BVerfGE 107, 299 (328); 115, 320 (354 f.); 120, 378 (402, 430); 125, 260 (332). 60

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rechtlichen Prüfung ist das Gesetz als Schranke, Maßstab der verfassungsrechtliche Schutzbereich des Grundrechts sowie die verfassungsrechtlichen Bedingungen einer Beschränkung, insbesondere das Übermaßverbot. Doch das Gesetz ist mehr als Schranke der grundrechtlichen Freiheit. Es ist auch die Voraussetzung ihrer Ausübbarkeit.63 Der Verfassungstext ist lapidar und abstrakt. Die Freiheitsgarantie der Verfassung bedarf der inhaltlichen Verdeutlichung, Ausfüllung und Ergänzung durch das einfache Recht. Die Grundrechte entfalten sich im Gesetz. Sie steuern die Gesetzgebung, und sie sind auch deren Werk. Zwischen Verfassung und Unterverfassungsrecht besteht ein „Normenverbund“.64 Dieser ist unvermeidlich, freilich für den Selbstand der Verfassung auch bedrohlich. Der Unterschied von Verfassung und Gesetz kann verschwimmen und der Vorrang der Verfassung ins Wanken geraten. Der Interpret steht vor der Schwierigkeit, auseinanderzuhalten, was Gegenstand, was Maßstab einer Normenkontrolle ist. Die Schwierigkeiten treten auf mehreren Feldern der Verfassungsauslegung auf. 1. Vorkonstitutionelles Gesetzesrecht in Begriffen der Verfassung Der Verfassungstext enthält Allgemeinbegriffe wie „Ehe“ und „Familie“, „Eigentum“ und „Erbrecht“ in den Grundrechtsartikeln oder „bürgerliches Recht“ und „Strafrecht“ in den Kompetenztiteln, ohne diese Begriffe inhaltlich zu füllen. Der Text bezieht seinen Inhalt aus dem Begriffsverständnis, das er vorfindet, damit auch aus dem herkömmlichen Recht. Die Frage ist, ob sich die Verfassung den traditionellen Gehalt zu eigen macht und ihn verfestigt hat oder ob sie sich der künftigen Gesetzgebung offenhält und dem Gesetzgeber überläßt, den Inhalt der Begriffe zu bestimmen. Im ersten Fall besitzen die Begriffe der Verfassung inhaltliche Identität, im zweiten enthalten sie eine bloße Verweisung. Davon hängt ab, ob und wieweit die Verfassungsinterpretation die Gesetzgebung steuern kann oder ihr folgt, ob das Gesetz verfassungsmäßig oder die Verfassung gesetzmäßig ist.65 Ein Beispiel ist der Begriff der Ehe, eine Rechtsfigur, die der europäischen Kultur entstammt und durch die deutsche Rechtsentwicklung vorgeprägt ist. Sie unterliegt in weitem Maße der gesetzlichen Ausformung.66 Jedoch muß der Gesetzgeber bei der Ausformung der Ehe die wesentlichen Strukturbestimmungen beachten, die sich aus der Anknüpfung der Verfassung an die vorgefundene Le63

Näher Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR IX, 32011, § 190 Rn. 160 ff. 64 Begriff Kloepfer (Fn. 14), § 1 Rn. 223. Dogmatik: Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999. 65 Grundlegend Walter Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964; ders., Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung, in: JZ 1964, S. 201 ff.; ders., Institutionelle Evolution, 2012, S. 85 f. Vgl. auch Kloepfer (Fn. 14), § 1 Rn. 221, 229. 66 BVerfGE 31, 58 (82 f.); 105, 313 (345).

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bensform in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des Grundrechts und anderen Verfassungsnormen ergeben, so das Bundesverfassungsgericht.67 Die Frage ist aber, welche ihrer Züge änderbar, welche von Verfassungs wegen änderungsresistent sind. Die hergebrachte Namenseinheit der Ehe wird vom Bundesverfassungsgericht nicht der Verfassungsgarantie zugerechnet, mithin der gesetzlichen Regelung anheimgegeben.68 Dagegen hält es fest an der rechtlichen Form und an dem Willen zu lebenslanger Bindung; die eheähnliche Gemeinschaft bleibt außen vor.69 Vollends gehört zur verfassungsrechtlich garantierten Identität der Ehe die Verbindung von Mann und Frau, so daß die gesetzlich geregelte gleichgeschlechtliche Partnerschaft („Homo-Ehe“) ausgeschlossen wird.70 Der Selbststand des Verfassungsrechts ist prekär im Begriff des grundrechtlichen „Eigentums“, wie das Bundesverfassungsgericht es definiert. Der Begriff müsse aus der Verfassung selbst gewonnen werden. Aus Normen des einfachen Rechts, die im Range unter der Verfassung stünden, könne weder der abstrakte Begriff des Eigentums im verfassungsrechtlichen Sinn abgeleitet werden, noch könne der Umfang der Gewährleistung der konkreten Eigentumsposition bestimmt werden.71 Insoweit erscheint das Verfassungsrecht als eigenständig. Andererseits sollen sich aber Gegenstand und Umfang des verfassungsrechtlich gewährleisteten Eigentums aus der Gesamtheit der thematisch einschlägigen verfassungsmäßigen Gesetze ergeben: aus der Zusammenschau aller im jeweiligen Zeitpunkt geltenden, die Eigentümerstellung regelnden gesetzlichen Vorschriften. „Ergibt sich hierbei, daß der Eigentümer eine bestimmte Befugnis nicht hat, so gehört diese nicht zu seinem Eigentumsrecht.“72 So umfaßt das Eigentum an Grund und Boden nicht das Grundwasser.73 Praktisch wird der Vorrang der Verfassung unterlaufen, wenn der Inhalt der Verfassung vom einfachen Recht bestimmt wird. Das Gesetz verwandelt sich aus dem Gegenstand der Normenkontrolle zu deren Maßstab.

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BVerfGE 121, 175 (193). BVerfGE 78, 38 (49); 84, 9 (17 ff.). 69 BVerfGE 87, 234 (263 ff.); 112, 50 (65); 117, 316 (327 f.); Martin Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, 2000, S. 126 ff.; Jörn Ipsen, Ehe und Familie, in: HStR VII, 32009, § 154 Rn. 18 ff. (weit. Nachw.). Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 67 Rn. 12 ff. 70 BVerfGE 105, 313 (345 f.); Ipsen (Fn. 69), § 154 Rn. 21 f., 55; Kloepfer (Fn. 69), § 67 Rn. 16 ff. 71 BVerfGE 58, 300 (335) – Naßauskiesung. Dazu Joachim Lege, 30 Jahre Naßauskiesung, in: JZ 2011, S. 1084 ff. 72 BVerfGE 58, 300 (336). Kritik Walter Leisner, Eigentum, in: HStR VIII, 32010, § 173 Rn. 130 ff. 73 BVerfGE 58, 300 (328 ff.). 68

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2. Ausgestaltung der Grundrechte durch Gesetz Der verfassungsrechtliche Begriff des Eigentums ist abgekoppelt von dem des bürgerlichen Rechts. Grundrechtliches Eigentum umfaßt alle vermögenswerten Rechte:74 neben dem bürgerlich-rechtlichen Eigentum sonstige dingliche Rechte, schuldrechtliche Forderungen, das Anteilseigentum und das „geistige“ Eigentum des Urheberrechts, privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Rentenanwartschaften. Diese vermögenswerten Rechte aber werden begründet und ausgestaltet durch Gesetz. Nur das Gesetz kann die verschiedenen Typen des verfassungsrechtlich geschützten „Eigentums“ schaffen. Die Verfassung weist dem Gesetzgeber die Aufgabe zu, solche Typen, die den Inhalt des grundrechtlichen Eigentums bilden, bereitzustellen. Die Verfassung gibt nur formale Strukturen vor, indes das Gesetz sie inhaltlich ausfüllt. „Das Eigentum als Zuordnung eines Rechtsgutes an einen Rechtsträger bedarf, um im Rechtsleben praktikabel zu sein, notwendigerweise der rechtlichen Ausformung.“75 Das Gesetz schafft das grundrechtliche Schutzgut und bestimmt dessen Umfang. Die gesetzlich konstituierte Eigentumsposition aber genießt den Schutz der Verfassung gegenüber Eingriffen der Exekutive. Der Entzug dieser Eigentumsposition, die Enteignung, löst die Entschädigungspflicht aus. Doch der gesetzliche Typus des Eigentums ist nicht gefeit gegen eine Änderung oder Aufhebung durch einfaches Gesetz. Die Eigentumsposition, die der Einzelne nach Maßgabe des geltenden Gesetzesrechts erlangt hat (die Mietzinsforderung, die Aktie etc.), genießt von Verfassungs wegen keinen absoluten Bestandsschutz, wohl aber grundrechtlichen Vertrauensschutz, der dem Gesetzgeber prinzipiell rückwirkende Regelungen verwehrt, so daß sich immerhin ein relativer Bestandsschutz ergibt.76 Die gesetzliche Inhaltsbestimmung des Eigentums unterscheidet sich von der gesetzlichen Schranke. Fällt eine Schranke weg, so weitet sich der Freiraum des Eigentums; fällt eine Inhaltsbestimmung weg, so wird seine Ausübung erschwert. In der Praxis können freilich beide Funktionen konvergieren. So sind die Formerfordernisse des Hypothekenrechts gleichermaßen Voraussetzungen wie Schranken der grundrechtlichen Dispositionsfreiheit. Die Erkenntnisse zur Grundrechtsdogmatik des Eigentums lassen sich auf andere Freiheitsrechte übertragen, von der Vereinsfreiheit bis zur Rundfunkfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht mißt jedoch mit mehrerlei Maß. So erhebt es bei der Koalitionsfreiheit das gesetzliche und das richterrechtliche Instrumentarium (Tarifvertrag, Arbeitskampf, Mitbestimmung etc.) praktisch zu Verfassungsrang und damit zum Maßstab der Normenkontrolle.77 74

Nachw. Leisner (Fn. 72), § 173 Rn. 10 ff. BVerfGE 58, 300 (330). Allgemein zur Grundrechtsausgestaltung Kloepfer (Fn. 69), § 54 Rn. 42. 76 Repräsentativ BVerfGE 76, 220 (244 f.). Dogmatik: Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: HStR IV, 32006, § 79 Rn. 17 ff. (Nachw.). 77 Rupert Scholz, Koalitionsfreiheit, in: HStR VIII, 32010, § 175 Rn. 115 ff. (Nachw.). 75

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Zu den Grundrechtsfavoriten des Bundesverfassungsgerichts gehört das Asylrecht. Hier begnügt es sich nicht, wie sonst, mit der Prüfung, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist; vielmehr prüft es den Asylfall umfassend in verfahrensrechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht.78 „Da die wirksame Durchsetzung der materiellen Asylrechtsverbürgung eine dafür geeignete Verfahrensregelung voraussetzt, ist auch hier das Verfahrensrecht von verfassungsrechtlicher Relevanz.“79 Mit anderen Worten: die verfahrensrechtliche Voraussetzung des materiellen Grundrechts wird zu Verfassungsrang erhoben und somit Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Lange Zeit behandelte das Bundesverfassungsgericht jede Verletzung einfachen Verfahrensrechts als Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör, hob also einfaches Recht auf die Ebene des Verfassungsrechts.80 Nunmehr soll die Grenze zur Verfassungswidrigkeit aber erst dann überschritten sein, wenn die – fehlerhafte – Auslegung und Anwendung willkürlich ist.81 Das Bundesverfassungsgericht sollte seine Verfahrenskontrolle überhaupt auf die verfassungsrechtlichen Garantien beschränken. 3. Gesetz als Medium der grundrechtlichen Schutzpflicht Die Grundrechte wehren ungerechtfertigte Eingriffe des Staates ab (Abwehrfunktion), und sie verpflichten den Staat seinerseits, Schutz vor ungerechtfertigten Eingriffen Privater zu leisten (Schutzpflicht).82 Die grundrechtliche Schutzpflicht gibt das Ziel vor, die Sicherheit für Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger zu gewährleisten. Aber sie überläßt grundsätzlich dem Gesetzgeber, die Mittel zu wählen und bereitzustellen. Nur das Gesetz kann die Exekutive ermächtigen, um des Schutzes der Grundrechte willen in den Rechtskreis des Störers oder Unbeteiligter einzugreifen. So wird die Schutzpflicht, wiewohl in der Verfassung verankert, durch Gesetze vermittelt, etwa durch das Polizeirecht, durch das Immissionsschutzrecht, das Strafrecht, das bürgerliche Deliktsrecht, das Verfahrensrecht. Als Medien der grundrechtlichen Schutzpflicht gewinnen die gesetzlichen Regelungen ihrerseits grundrechtliche Relevanz. Um des zu schützenden Grundrechts willen dürfen die zuständigen Stellen im Fall der Gefahr das Gesetz, das dieser wehren könnte, nicht außer Acht lassen. Die Gesetzesverletzung kann sich zugleich als

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BVerfGE 76, 143 (163 f.). BVerfGE 65, 76 (94). 80 Repräsentativ BVerfGE 64, 203 (206); 64, 224 (227). Kritisch Schlaich/Korioth (Fn. 5), S. 197 f. 81 BVerfGE 87, 282 (284 f.). Vgl. auch BVerfGE 98, 68 (77). 82 Zur Schutzpflicht Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 146 ff., 217 ff. (Nachw.); Kloepfer (Fn. 69), § 48 Rn. 55 ff.; Kritik ebd., § 48 Rn. 67 ff.; § 54 Rn. 15. 79

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Grundrechtsverletzung erweisen.83 Das einfache Recht wird über die Schutzpflicht konstitutionalisiert.84 4. Systemgerechtigkeit Der Aufstieg einfachen Gesetzesrechts vom Gegenstand zum Maßstab der Normenkontrolle wird auch ermöglicht durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit: das Gebot, daß der Gesetzgeber zu Folgerichtigkeit verpflichtet ist und, wenn er sich für ein bestimmtes Regelungskonzept entscheidet, er dieses nicht willkürlich durchbrechen darf. Die Systemgerechtigkeit ist verfassungsrechtlich angedockt beim Gleichheitssatz.85 Über diesen wird die selbstgewählte Prämisse des Gesetzgebers zur Regel, vor der sich die Ausnahme zu rechtfertigen hat. Dieses Schema liegt dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlgesetz zugrunde. Ausgangsthese ist, daß der Bundesgesetzgeber in seiner Entscheidung für das Wahlsystem grundsätzlich frei sei und ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zukomme.86 Habe er sich aber für ein Wahlsystem entschieden, so sei er prinzipiell daran gebunden. Das geltende System trage den Grundcharakter einer Verhältniswahl. Abweichungen davon werden nur „in eng begrenztem Umfang“, den das Gericht mit einer gegriffenen Zahl von Mandaten bemißt, toleriert.87 Da sich die Abweichung in der jüngsten Gesetzesversion (die Zahl möglicher Überhangmandate) nicht vor dem Systemgedanken des Gerichts rechtfertigen konnte, verfiel sie der Kassation. Das Gericht muß sich jedoch fragen lassen, ob die Verwandlung des Wahlsystems von einer disponiblen zu einer unveränderlichen Größe sachgerecht war, ob es dem Gesetzgeber nicht freistand, ein vorhandenes System zu verändern und fortzubilden. Mit der Proklamation eines gesetzlichen Systems lassen sich gesetzliche Modifikationen, das Werk politischer Kompromisse, allzu leicht aus der Welt schaffen. Der Systemgedanke, der für die Dogmatik hilfreich ist, taugt schwerlich zum gerichtlichen Kontrollmaßstab. Das Bundesverfassungsgericht zieht den Gesetzgeber am Nasenring der Systemgerechtigkeit und führt ihn so der politischen Öffentlichkeit vor. Das allgemeine Willkürverbot, das sich mit der Systemgerechtigkeit verbindet, dient dem Bundesverfassungsgericht dazu, über alle positivrechtlichen Maßstäbe hinaus auf die Idee der Gerechtigkeit zurückzugreifen und überall dort zu intervenieren, wo es Ungerechtigkeit wittert.88 Damit wird der Weg frei zur unbegrenzten Normenkontrolle.

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BVerfGE 49, 304 (319 f.); 53, 30 (60 ff., 62 ff.); 77, 381 (405). Zu der Debatte Isensee (Fn. 82), § 191 Rn. 168, 188 (Nachw.). Allgemein Jestaedt (Fn. 64), S. 65 ff., 258 f. 85 Paul Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: HStR VIII, 32010, § 181 Rn. 209 ff. 86 BVerfG Urt. v. 25.7.2012 – 2 BvF 3/11 – Rn. 54, 56. 87 BVerfG (Fn. 86), Rn. 110, 115, 141, 143 f. 88 Kritisch Schlaich/Korioth (Fn. 5), S. 186 f. 84

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IV. Das Übermaßverbot als Regulativ der Grundrechtsanwendung Das Übermaßverbot ist das wichtigste Werkzeug des Juristen, um Grundrechte anzuwenden. Ihm ist zu verdanken, daß die Grundrechte operationabel geworden sind und nicht in humanitärer Rhetorik steckenbleiben, daß sie eine wirksame, differenzierte Normenkontrolle ermöglichen und die gesamte Rechtsentwicklung steuern. Das Übermaßverbot ist ungeschriebenes Verfassungsrecht.89 Der Text des Grundgesetzes nennt es nicht. Man versucht, es in der Bestimmung zu verorten, daß in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf.90 Dieser Verfassungssatz wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Der Nachweis einer positivrechtlichen Grundlage ist entbehrlich, weil das Übermaßverbot zur Idee menschenrechtlicher Freiheit gehört. Nach John Locke gibt der Einzelne seine natürliche Freiheit nicht auf, wenn er in die staatliche Gemeinschaft eintritt. Vielmehr nimmt er nur soviel Einschränkungen hin, wie es erforderlich ist, um Sicherheit für Freiheit und Eigentum zu erlangen und diese Güter um so besser zu erhalten.91 Das Übermaßverbot hat positivrechtliche Tradition im Polizeirecht als Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne. Der polizeiliche Eingriff in die Freiheit des Bürgers muß geeignet sein, die Gefahr abzuwehren, und es muß unter den geeigneten Maßnahmen die schonendste, mithin erforderlich sein. Es darf, gemessen an der abzuwehrenden Gefahr nicht unangemessen sein. Die Polizei darf nicht „mit Kanonen auf Spatzen schießen“ (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Die Grundrechtsdogmatik macht sich die polizeirechtlichen Regulative zu eigen, zumal polizeiliche Eingriffe geradezu prototypische Grundrechtseingriffe sind. Die drei Komponenten des Übermaßverbotes bieten sich geradezu an, gesetzliche Beschränkungen der grundrechtlichen Freiheit zu dosieren und so die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion durchzusetzen. Doch in dieser Funktion erschöpft sich ihre Anwendbarkeit nicht. Drei typische Gegenstände einer grundrechtlichen Normenkontrolle lassen sich unterscheiden, in denen alle oder einzelne Komponenten des Übermaßverbotes zur Anwendung kommen: - Gesetze, die Grundrechte beschränken, also ihre Abwehrfunktion auf den Plan rufen, - Gesetze, die Grundrechte ausgestalten, also Grundrechtsvoraussetzungen bereitstellen, und

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Die klassische Studie: Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961. Zu Art. 19 Abs. 2 GG Christian Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: HStR IX, 32011, § 201 Rn. 98 ff. (Nachw.). 91 John Locke, The Second Treatise of Government, 1689, IX. 90

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- Gesetze, die Schutz vor privaten Übergriffen bieten, also die Schutzpflicht umsetzen. 1. Gesetz als Schranke der Grundrechte Als Schranke der Grundrechte muß sich das Gesetz rechtfertigen, indem es sich als das taugliche, erforderliche und angemessene Mittel zu einem legitimen Zweck erweist. Der Gesetzgeber bestimmt seinen Zweck selbst. Grundsätzlich ist er frei, sich für ein bestimmtes öffentliches Interesse zu entscheiden, wenn es nur gemeindienlich und mit der Verfassung vereinbar ist. Die Verfassung enthält keinen abschließenden Katalog der legitimen Zwecke. Doch sie gibt einzelne vor im sozialen Staatsziel, in Gesetzgebungsaufträgen für den Mutterschutz, für die Gleichstellung unehelicher Kinder, für den Umweltschutz, vor allem in den grundrechtlichen Schutzpflichten.92 Maxime ist, daß das Freiheitspotential der Grundrechte nur so weit wie nötig reduziert wird und so weit wie möglich erhalten bleibt. Dahinter steht das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip: daß die Freiheit des Einzelnen als ursprunghaft und genuin unbeschränkt zu denken ist, dagegen der staatliche Eingriff als notwendig begrenzt und rechtfertigungsbedürftig.93 Nur ein zwecktaugliches Gesetz ist rechtfertigungsfähig. Wenn es seinen Zweck nicht zu erfüllen vermag, „objektiv untauglich“ oder „schlechthin ungeeignet“ wäre,94 ist das Opfer an Grundrechtssubstanz, das es fordert, sinnlos, damit verfassungswidrig. Die Einbuße muß notwendig sein. Wenn mehrere zwecktaugliche Mittel zur Verfügung stehen, ist das zu wählen, das die Grundrechte am wenigsten beeinträchtigt. Die Maßstäbe der Zwecktauglichkeit und der Erforderlichkeit sind relativ einfach und rational zu handhaben. Dagegen bereitet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne größte Schwierigkeiten: die Einbuße an Grundrechtspotential, das der grundrechtliche Schutzbereich umschreibt, darf nicht unangemessen sein dem Zweck, um dessentwillen die Einbuße verlangt wird.95 Zweck und Mittel werden – so die Idee – nach einer fiktiven gemeinsamen Gewichtstabelle gewichtet und gegeneinander abgewogen. Doch es gibt kein allgemein anerkanntes, rationales und operationables System für Maß und Gewicht. Der Rechtsanwender bestimmt im Einzelfall, wie Zweck und Mittel abzuschätzen sind. Den Abwägungen des Bundesverfassungs92

Näher Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: HStR IV, 32006, § 71 Rn. 70 ff.; ders., Staatsaufgaben, ebd., § 73 Rn. 37 ff. Insbesondere zum Staatsziel Umweltschutz Kloepfer (Fn. 14), § 12 Rn. 1 ff. 93 Schmitt (N 7), S. 126. 94 Zitat: BVerfGE 16, 147 (181); 19, 119 (126 f.); 61, 291 (313 f.); 65, 116 (126). Analyse Michael Kloepfer, Die Geeignetheit bei wirtschaftslenkenden Steuergesetzen, in: NJW 1971, S. 1585 ff. 95 Näher Hillgruber (Fn. 90), § 201 Rn. 72 ff. Grundsatzkritik Walter Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997.

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gerichts haftet etwas Zufälliges, Launisches und Politisches an, forensischer Okkasionalismus. Gleichwohl hat das Gericht Faustregeln für die Abwägung entwickelt. So legt es Grundrechten besonderes Gewicht zu, wenn sie politisches Engagement entbinden, wenn sie Forderung und Protest freisetzen und zur öffentlichen Meinung und zur politischen Willensbildung beitragen. Die Demonstrationsfreiheit hat von vornherein mehr Gewicht als die Leichtigkeit des Straßenverkehrs,96 die durch Demonstrationen gestört wird; die politische Ausübung der Meinungs- und Medienfreiheit mehr als der Schutz der persönlichen Ehre, die beleidigt wird.97 In der Abwägung von Freiheit und Sicherheit mißt das Bundesverfassungsgericht nach mehrerlei Maß; wenn es sich um die Abwehr des Terrorismus handelt, hat im Zweifel der Datenschutz größeres Gewicht als die Risikovorsorge.98 Dagegen erlangt der Gesundheitsschutz der Nichtraucher den Vorrang vor der grundrechtlichen Freiheit der Raucher und der raucherfreundlichen Gastwirte.99 Es ist nicht möglich, aus dem Rechtsprechungsmaterial allgemeine Abwägungsregeln zu abstrahieren. Allenfalls lassen sich Tendenzen für das einzelne Grundrecht erkennen. Die Grundrechte haben ihr jeweils eigenes, spezifisches Gewicht. Besonders hoch ist das Gewicht der Presse- und Rundfunkfreiheit, besonders niedrig das der Eigentumsgarantie. Ein Ausweg aus dem Dilemma der Abwägung tut sich auf, wenn das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich die Abwägung respektiert, die der Gesetzgeber als der berufene Erstinterpret der Verfassung getroffen hat, und nur dann einschreitet, wenn das Ergebnis nicht nachvollziehbar ist, wenn das Gesetz evident und kraß dem Gebot der Verhältnismäßigkeit widerspricht. Grundsätzlich hat das Gericht die Einschätzung der Realien (etwa der Bedrohungslage durch Terroristen oder des Risikos der Kernkraftwerke) sowie die Prognosen des Gesetzgebers hinzunehmen und seiner verfassungsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legen. Nur bei klar erkennbaren Fehlannahmen darf es davon abweichen und an ihrer Statt von eigenen Annahmen ausgehen. 100 Diese Voraussetzungen lagen jedenfalls nicht vor in der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit ihrer Prognose über die Zunahme von Überhangmandaten und für die verfassungsrechtlichen Folgerungen.101 2. Gesetz als inhaltliche Ausgestaltung der Grundrechte Das Anwendungsschema des Übermaßverbots, das sich auf das Gesetz als Schranke des Grundrechts bezieht, läßt sich nicht auf das Gesetz als inhaltliche Ausgestaltung des Grundrechts übertragen. Dort hat sich der Gesetzgeber um der 96

BVerfGE 69, 315 (346 f.). BVerfGE 42, 163 (169); 61, 1 (11); 62, 230 (248). 98 Repräsentativ BVerfGE 115, 320 (341 ff.) – Rasterfahndung. 99 BVerfGE 121, 317 (344 f., 349 f., 354 f.). 100 BVerfG (Fn. 86), Rn. 145 ff. 101 BVerfG (Fn. 86), Rn. 150 f. 97

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Freiheit willen tunlichst zurückzuhalten; hier ist er um der Freiheit willen gefordert, ihr möglichst günstige Entfaltungsbedingungen zu schaffen, um so die unfertige Grundrechtsnorm zu vervollständigen. Die Ausgestaltung liegt nicht in seinem Belieben. Er hat die rechtlichen Voraussetzungen für die Ausübbarkeit der Grundrechte bedarfsgerecht und sachgemäß zu gewährleisten. Eine Ausgestaltungsnorm muß geeignet sein, diesen Zweck zu erfüllen. Insofern ist ihr und der Schrankennorm das Gebot der Zwecktauglichkeit gemeinsam. Das Bundesverfassungsgericht hat Direktiven für die Ausgestaltung der Vereinsfreiheit entwickelt, die sich verallgemeinern und auf andere Freiheitsrechte übertragen lassen: - Die Ausgestaltung orientiert sich am Schutzgut des Grundrechts. - Sie bringt freie Assoziation und Selbstbestimmung der Vereine, ein geordnetes Vereinsleben und schutzbedürftige sonstige Belange zum Ausgleich. - Der Gesetzgeber stellt eine hinreichende Vielfalt von Rechtsformen zur Verfügung, die den verschiedenen Bedürfnissen angemessen und deren Wahl zumutbar ist. - Die Funktionsfähigkeit der Vereinigungen und ihrer Organe wird gewährleistet.102 Diese grundrechtlichen Direktiven sind Handlungsnormen, die auf Optimierung ausgerichtet sind. Als Maßstäbe der Normenkontrolle fungieren sie nur, soweit der Verstoß gegen sie die Grundrechtsausübung beeinträchtigt. 3. Gesetz als Schutz der Grundrechte Die Verfassung gibt in der grundrechtlichen Schutzpflicht dem Gesetzgeber ein Ziel vor und erteilt ihm den Auftrag, die Mittel bereitzustellen, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Wie aber dieses Ziel erreicht werden soll, überläßt sie grundsätzlich seinem Ermessen. Der Gesetzgeber befindet über die Mittel, etwa über die Regelungen des bürgerlichen Delikts- und Besitzschutzrechts, des Polizeiund Ordnungsrechts, des Rechtsschutzes durch Verfahren.103 Doch das Auswahlermessen wird durch verfassungsrechtliche Direktiven gesteuert. Die Mittel müssen zwecktauglich sein. Dieses Gebot der Rationalität gilt für alles staatliche Handeln. Sie müssen auch ausreichen, um der Gefahr zu begegnen. Dieses Gebot zeitigt Konsequenzen für das Haushaltsrecht; der Gesetzgeber muß die Finanzmittel bewilligen, die eine genügende Kapazität für den Vollzug der Schutzpflicht durch Verwaltung und Rechtsprechung ermöglichen.

102

BVerfGE 50, 290 (355). Allgemein Isensee (Fn. 63), § 190 Rn. 163 ff. Zum Auswahlermessen des Gesetzgebers BVerfGE 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); 92, 26 (46); 96, 56 (64); 115, 118 (160). 103

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Die gesetzlichen Vorkehrungen sind auf Wirksamkeit des Schutzes ausgerichtet. Der Verfassungsauftrag richtet sich nicht auf Bemühung, sondern auf Erfolg. Deshalb ist es verfehlt, aus der Offenheit der Verfassung in der Frage der Mittel auf eine mindere Bedeutung des Zieles zu folgern und die grundrechtliche Schutzpflicht dem Abwehrrecht hintanzustellen, so wenn das Bundesverfassungsgericht im Fall der Luftpiraterie über der Abwehrfunktion des Lebensrechts und der Menschenwürde der Passagiere, die vom Abschuß bedroht sind, den Schutz des Lebensrechts und der Menschenwürde derer vernachlässigt, die vom Flugzeugabsturz am Boden bedroht sind, aber durch den Abschuß gerettet werden könnten.104 Abwehrrecht und Schutzpflicht sind gleichrangig. Die Schutzpflicht determiniert das Entschließungsermessen des Gesetzgebers.105 Noch einmal: in seiner Schutzpflicht schuldet der Staat nicht Bemühung, sondern Erfolg. Zwar kann die Verwaltung nicht in jedem Einzelfall Tötung, Körperverletzung, Raub oder Freiheitsberaubung verhindern. Aber das Gesetz muß jedenfalls die erforderlichen Grundlagen bereitstellen, daß sie diese Gefahren verhindern kann. Das Gesetz wie sein Vollzug müssen einen Mindeststandard an Sicherheit der Grundrechtsgüter gewährleisten und dürfen diesen nicht unterschreiten. Das ist der Inhalt des Untermaßverbotes.106 Das Untermaßverbot der Schutzpflicht bildet das Gegenstück zum Übermaßverbot des Abwehrrechts. Der Gesetzgeber leistet beiden Genüge, wenn der Schutz des Opfers einer Gefahr durch einen Eingriff gegen deren Urheber, den Störer, erfolgt, etwa wenn die Nichtraucher vor den Nikotin-Immissionen der Raucher durch ein Rauchverbot geschützt werden. Der Gesetzgeber hat also zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot zu navigieren. Im Schrifttum regen sich Bemühungen, den Gesetzgeber aus der Klemme zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot zu befreien, durch die These, daß beide konvergierten, weil das Übermaßverbot für den Störer das Maximum, das Untermaßverbot für das Opfer das Minimum staatlichen Handelns bedeute.107 Doch die Annahme trifft nicht zu. Das Übermaßverbot beschränkt den staatlichen Eingriff, doch das Untermaßverbot beschränkt nicht den staatlichen Schutz. Ein Gesetz, das den Anforderungen des Übermaßverbots entspricht, kann hinter dem gebotenen 104

BVerfGE 115, 118 (160). Kloepfer (Fn. 69), § 48 Rn. 69. 106 Dazu BVerfGE 88, 203 (254); Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), S. 201 (228); Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 131 ff.; Wolfram Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 310 ff.; Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 103 ff.; Günter Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 297 ff.; Isensee (Fn. 82), § 191 Rn. 301 ff. 107 Karl-Eberhard Hain, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot?, in: DVBl 1993, S. 982 (983); ders./Volker Schelte/Thomas Schmitz, Ermessen und Ermessensreduktion, in: AöR 122 (1997), S. 32 (51 ff.); Matthias Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005, S. 152, 162. 105

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Schutz zurückbleiben. Der Schutz aber wird vielfach auch ohne einen Eingriff gegen den Störer oder Dritte erreicht. Das Übermaßverbot kommt nur zum Zuge, wenn der Staat in Grundrechte eingreift; es ist also bedingt (Konditionalprogramm). Das Untermaßverbot aber hängt von keiner Bedingung ab. Der Staat ist unbedingt verpflichtet, die Sicherheit der grundrechtlichen Güter zu gewährleisen (Finalprogramm).108 4. Die grundrechtliche Anomalie der Steuer Die Verfassung setzt als selbstverständlich voraus, daß die Steuer die wesentliche Einnahmequelle des Staates ist. Sie entzieht dem Bürger Geldvermögen (und damit Freiheitspotential). Aber sie ist keine Enteignung, weil sie, wäre sie es, den Entschädigungsanspruch auslöste, mit dem ihr Sinn als staatliche Einnahme zunichte würde.109 Daher ist es schwierig, sie mit den Maßstäben der Eigentumsgarantie zu erfassen und zu domestizieren. Das Bundesverfassungsgericht ging in seinen ersten Jahrzehnten davon aus, daß die Steuer den Schutzbereich der Eigentumsgarantie gar nicht berühre; doch räumte es ein, daß das Grundrecht verletzt werde, wenn die Steuer den Betroffenen übermäßig belaste und ihn grundlegend in seinen Vermögensverhältnissen beeinträchtige, so daß sie erdrosselnd wirke.110 Hier wird jedoch die grundrechtliche Logik umgedreht, von der Folge auf die Voraussetzung geschlossen, von der Eigentumsverletzung auf die Eigentumsqualität. Der grundrechtliche Schutzbereich als die Bedingung der Möglichkeit eines Grundrechtsverstoßes wird vom aktuellen Grundrechtsverstoß her bestimmt. Das verbotene Übermaß des Eigentumseingriffs, die Erdrosselung, soll sagen, was überhaupt grundrechtliches Eigentum ist. Nunmehr geht aber das Bundesverfassungsgericht (jedenfalls sein zweiter Senat) davon aus, daß die Steuer ein Eingriff in das grundrechtlich gewährleistete Eigentum ist und daß sie sich so vom Ansatz her in die reguläre Grundrechtsordnung einfügt.111 Über die Steuer realisiert sich der Dienst für das Wohl der Allgemeinheit, zu dem der Gebrauch des Eigentums von Verfassungs wegen verpflichtet ist (Art. 14 Abs. 2 GG). Die Gemeindienlichkeit besteht „zugleich“ mit der Privatnützigkeit, die das Grundgesetz nicht eigens ausformuliert, weil sie sich für ein Grundrecht von selbst versteht.112 Das privatnützige Element bedarf keiner Rechtfertigung. Ihrer bedarf dagegen die Steuer als Schranke des Eigentums. Freilich ist sie nicht nur Schranke. Die Steuerbarkeit gehört zum Inhalt des Eigentums. Denn in der Steuer respektiert der Staat den Vorrang des privaten Erwerbs und der privaten Habe. Er gibt der Freiheit des Bürgers Raum, sich am wirtschaftlichen Leben zu 108

Isensee (Fn. 82), § 191 Rn. 304 f. (Nachw.). Näher Paul Kirchhof, Die Steuern, in: HStR V, 32007, § 118 Rn. 122 f. 110 BVerfGE 14, 221 (241); 30, 250 (272); 78, 214 (230); 81, 108 (122); 95, 267 (300). Auf dieser Linie auch Kloepfer (Fn. 14), § 26 Rn. 18. 111 Dazu mit Nachw. Kirchhof (Fn. 109), § 118 Rn. 117 ff. 112 Zur Interpretation des Wortes „zugleich“ in Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG: Kirchhof (N 109), § 118 Rn. 126 ff.; BVerfGE 93, 121 (138). Gegenposition BVerfGE 115, 97 (114). 109

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beteiligen, und begnügt sich damit, am wirtschaftlichen Erfolg, wenn er denn eintritt, zu partizipieren. Die Steuer ist der Preis der wirtschaftlichen Freiheit.113 In der grundrechtlichen Gewähr dieser Freiheit ist bereits die Notwendigkeit der Steuer angelegt. Damit erhebt sich die Frage, ob die Eigentumsgarantie der Steuer ein Maß zu setzen vermag. Das Übermaßverbot will hier nicht greifen. Der eigentliche Zweck der Steuer (ungeachtet möglicher nichtfiskalischer Nebenzwecke) ist die Finanzierung des Staatshaushalts. Die Eignung der Steuer für diesen Zweck und die Erforderlichkeit stehen außer Frage. Ein schonenderes Mittel steht nicht zur Verfügung. Die Zwecktauglichkeit und die Erforderlichkeit sind Wesenseigenschaften der Steuer; aber sie sind keine Maßstäbe, die sich von außen an die Steuer anlegen ließen, um sie grundrechtlich zu moderieren. Auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne läßt sich im Zweck-MittelVerhältnis auf die Steuer nicht in gleicher Weise anwenden wie auf eine polizeiliche Eingriffsbefugnis, etwa die Festnahme einer Person oder die Auflösung einer Versammlung. Denn der Zweck, den globalen Finanzbedarf des Staates zu sättigen und ihm die Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen, hat eine andere Quantität und Qualität als die Belastung, die das einzelne Steuergesetz für den Betroffenen vorsieht. Eine Zweck-Mittel-Abwägung scheitert an der Inkompatibilität der beiden Größen. Die steuergesetzliche Umsetzung des allgemeinen Finanzbedarfs ist kein grundrechtliches, sondern ein finanzpolitisches Thema. Die grundrechtliche Frage geht aber in eine andere Richtung: ob die gesetzlich vorgesehene Abgabe den Betroffenen in seiner grundrechtlich gewährleisteten Eigentumsposition nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt, anders gewendet: ob die Einbuße an Schutzgut zumutbar ist. Der Gedanke klingt im Grundgesetz an, wenn es verlangt, daß bei der Verteilung des Aufkommens aus der Umsatzsteuer „eine Überbelastung der Steuerpflichtigen“ zu meiden sei.114 Diese Dimension des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist im Wesen der Steuer bereits angelegt. Die Steuer trägt ihr Maß in sich selbst. Sie ist Teilhabe des Staates am wirtschaftlichen Erfolg seiner Bürger. Daher beansprucht sie nicht den Erfolg als ganzen, sondern nur eine bestimmte Quote. Sie will nicht die Voraussetzungen zerstören, denen sich der Erfolg verdankt. Ein Finanzwissenschaftler des 17. Jahrhunderts, Jacob Bornitz, brachte die Grenze legitimer und rationaler Besteuerung auf die Formel: „Wann die Hüner gar geschlacht werden, so legen sie nimmer Eyer“.115 Der Steuerstaat schlachtet die Hühner nicht, von deren Eiern er lebt (in der Rechtssprache: er konfisziert nicht); und er nimmt nur so viele Eier, daß genügend übrigbleiben für den Nachwuchs der Hühner, für den Lebensbedarf des Halters und für die Belie113

Zum Konzept des Steuerstaates im Kontrast zum Unternehmerstaat: Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: HStR II, 32004, § 30 Rn. 51 ff. 114 Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG. Dazu BVerfGE 115, 97 (115 f.). 115 Zitat nach Günter Schmölders, Allgemeine Steuerlehre, 41965, S. 38.

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ferung des Marktes. In heutiger Sprache: die Steuer ist Partizipation, nicht Konfiskation. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht von Anfang an die erdrosselnde Steuer als grundrechtswidrig verworfen. Doch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schützt nicht nur vor dem äußersten Fall des wirtschaftlichen Exitus. Vielmehr reguliert er den normalen Anteil des Fiskus am Erfolg des Einzelnen und stellt darauf ab, was ihm von seinem wirtschaftlichen Erfolg genommen werden darf und was ihm belassen bleiben muß.116 Daraus ergibt sich eine grundrechtliche Grenze für das einzelne Steuergesetz. In typisierender Betrachtungsweise, wie sie bei der Diskussion einer allgemeinen Regelung angebracht ist, darf die Gewerbesteuer den Betrieb nicht höher belasten, als er bei normalem Geschäftserfolg verkraften kann. Die Erbschaftssteuer darf die Kontinuität eines Familienunternehmens nicht verhindern, die Grundsteuer den Eigentümer nicht nötigen, bei normaler Nutzung seiner Immobilie diese zu veräußern. Die Einkommensteuer darf nur auf den verfügbaren Nettoertrag zurückgreifen, kann also nicht die Aufwendungen des Schuldners erfassen, die er gemacht hat, um Gewinn oder Überschuß zu erzielen. Das Existenzminimum ist steuerliches Tabu, weil der Zugriff auf den notwendigen Bedarf des Steuerschuldners und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen diese zwänge, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, so daß der Sozialstaat kompensieren müßte, was der Steuerstaat entzogen hätte. Die Achtung vor dem grundrechtlichen Eigentum fordert sogar, daß das steuerresistente Einkommensminimum deutlich oberhalb des sozialrechtlichen Existenzminimums liegen muß.117 Der Maßstab der Verhältnismäßigkeit setzt also beim jeweiligen Steuergegenstand an, der eine Position des grundrechtlich geschützten Eigentums umschreibt.118 Die Belastbarkeit richtet sich nach der Leistungsfähigkeit. Da mit der Zunahme des verfügbaren Einkommens die finanzielle Leistungsfähigkeit wächst, ist progressive Besteuerung legitim. Je härter die Steuer den Einzelnen belastet, desto stärker wird die Resistenz der Eigentumsgarantie, die ihren Wesensgehalt an Privatnützigkeit und privatem Freiheitspotential verteidigt. Die Verhältnismäßigkeit stellt also darauf ab, was dem Eigentümer verbleiben muß. Dieser Maßstab gilt nicht nur für die Belastung durch die einzelne Steuerart, sondern auch für die gesamte Last der anfallenden Steuern. Mag das einzelne Steuergesetz die grundrechtliche Prüfung bestehen, so kann die Summe der verschiedenen Steuern doch übermäßig ausfallen, die Leistungsfähigkeit des Schuldners überfordern und ihn in den Ruin treiben. Daher hat das Bundesverfassungsgericht erkannt, daß die Gesamtbelastung des Sollbetrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand ver116

BVerfGE 115, 97 (115). Josef Isensee, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, in: Verh. 57. DJT, 1988, Bd. II, Teil N S. 32 (54 ff.). 118 Kirchhof (Fn. 109), § 118 Rn. 131. 117

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bleiben müsse.119 Nur im Notfall erlaube die Verfassung den Zugriff auf die Vermögenssubstanz.120 Im Halbteilungsgrundsatz wird eine klare quantifizierte Belastbarkeitsgrenze gezogen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlangt für das Steuerrecht praktikable Form. Doch das sagt nur das Urteil des zweiten Senats. Der erste Senat hält weiter an der atavistischen Auffassung fest, daß die Steuer grundsätzlich die Eigentumsgarantie nicht berühre.121 Doch auch der zweite Senat hat Angst vor der eigenen Courage und gibt die absolute Grenze der hälftigen Teilung preis. In einem jüngeren Beschluß läßt er eine Gesamtbelastung aus Einkommen- und Gewerbesteuer in Höhe von 57,58 % als grundrechtskonform durchgehen.122 Dem Übermaßverbot könne keine zahlenmäßig zu konkretisierende allgemeine Obergrenze der Besteuerung entnommen werden.123 Dennoch will der Senat die Kontrolle über das Steuerrecht nach verfassungsrechtlichen Mäßigungsverboten in der Hand behalten, insbesondere die Kontrolle nach den allgemeinen Maßstäben der Verhältnismäßigkeit.124 Die steuerliche Belastung, selbst die höherer Einkommen, dürfe für den Regelfall nicht so weit gehen, daß der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt werde und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck komme.125 Zum Ausgleich für die Rücknahme der materiellen Kontrolle führt der Senat ein formelles Erfordernis für Steuererhöhungen ein: die Pflicht des Gesetzgebers, rechtfertigende Gründe darzulegen, nach denen die Steuerlast trotz ungewöhnlicher Höhe noch als zumutbar gelten dürfe.126 Das Gericht erklärt die Ausdünnung und Aufweichung seiner Kontrolle damit, daß das Grundgesetz keine materiellen Belastungsgrenzen kenne (von der Erwähnung der Überbelastung durch Umsatzsteuer einmal abgesehen); daß aber jede wertende Einschränkung des staatlichen Finanzierungsinteresses durch Steuern Gefahr laufe, dem Gesetzgeber mittelbar eine verfassungsgerichtliche Ausgaben- und damit Aufgabenbeschränkung aufzuerlegen, die das Grundgesetz nicht ausdrücklich vorsehe.127 Derartige Skrupel hemmen das Bundesverfassungsgericht aber nicht, wenn es das ungeschriebene, von ihm selbst kreierte Grundrecht auf Datenschutz immer weiter entwickelt, zu dessen Gunsten das seinerseits ungeschriebene Übermaßverbot immer mehr verfeinert und die Gesetze zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit an den richterrechtlichen Barrieren scheitern läßt. Doch die Normenkontrolle folgt 119 BVerfGE 93, 121 (137 f.) – Vermögenssteuer. Vgl. auch Paul Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011, § 8 Rn. 2, 4 f. 120 BVerfGE 93, 121 (138). 121 BVerfGE 95, 267 (300). 122 BVerfGE 115, 97 (110 ff.). 123 BVerfGE 115, 97 (115). 124 BVerfGE 115, 97 (114, 116). 125 BVerfGE 115, 97 (117). 126 BVerfGE 115, 97 (116). 127 BVerfGE 115, 97 (115).

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nun einmal mehrerlei Maß. Der kurzzeitige Gewinn der Eigentumsgarantie an normativer Festigkeit und der Steuer an verfassungsrechtlicher Berechenbarkeit ist wieder verlorengegangen. Der politische Spielraum des Gesetzgebers ist weitgehend wiederhergestellt. Der Bürger kann nicht darauf vertrauen, daß das Verfassungsgericht über ein klares, konsistentes, allgemeines und dauerhaftes Konzept verfügt, um sein Grundrecht zu schützen. V. Völkerrechtliche und europarechtliche Perspektiven Ein weites Feld tut sich auf in dem Einfluß, den das Völkerrecht und das Europarecht auf das Grundgesetz als Maßstab der Normenkontrolle üben. An sich ist das Grundgesetz so konzipiert, daß es seinen innerstaatlichen Selbststand und Vorrang auch gegenüber den internationalen wie den supranationalen Ingerenzen behaupten kann. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts erlangen durch ihre Aufnahme in das staatliche Recht zwar den Vorrang vor den Gesetzen, doch erlangen sie dadurch nicht Verfassungsrang (Art. 25 GG). Das Völkervertragsrecht erzielt innerstaatliche Wirkung über das (einfache) Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), und es bleibt auf diesem Niveau. Das gilt auch für die Europäische Menschenrechtskonvention. Das Europarecht beansprucht zwar den (Anwendungs-)Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht, doch nicht vor der Verfassung. Seine innerstaatliche Geltung gründet auf dem Rechtsanwendungsbefehl des staatlichen Gesetzes, das unter den von der Verfassung vorgezeichneten Bedingungen dem Vertrag zustimmt (Art. 23 Abs. 1 GG). Tendenzen der Lehre wie der Praxis gehen aber heute dahin, die innerstaatlichen Unterscheidungen aufzuheben oder wenigstens durchlässig zu machen, das internationale Recht zu Verfassungsrang zu erheben und in das Grundgesetz zu inkorporieren, die Auslegung der Verfassung auf internationale Vorgaben auszurichten und ihre Begriffe mit europarechtlicher Substanz aufzufüllen und so das Grundgesetz in internationale und supranationale Ordnungen einzugliedern. Das aber ist ein Thema für sich.128

128 Diesem Thema widmet sich Michael Kloepfer mit Studien zu „Normsetzungsverbünden“, „verfassungsrechtlichen Teilordnungen“ sowie völker- und europarechtlichen Bezügen: (Fn. 14), § 1 Rn. 231; § 19 Rn. 14; § 32 Rn. 1 ff.; § 35 Rn. ff.; § 38 Rn. 1 ff.; § 42 Rn. 1 ff.; § 43 Rn. 1 ff.; § 44 Rn. 1 ff.

Verfassungsrechtliche Vorgaben an Anforderungen zur gewerblichen Tierhaltung Von Hans D. Jarass Der Jubilar gehört zu den Pionieren des deutschen Umweltrechts. In Zeiten, als viele den Begriff des Umweltrechts noch nicht kannten, hatte er sich bereits näher mit diesem Rechtsgebiet beschäftigt.1 Auch später hat er diese Thematik immer wieder behandelt, wovon seine Lehrbücher zum Umweltrecht zeugen,2 weiter viele Aufsätze zu diesem Feld sowie zahlreiche Untersuchungen. Bei der Behandlung dieser Fragen spielten naturgemäß die verfassungsrechtlichen Vorgaben immer wieder eine bedeutsame Rolle, insbesondere die Regelung des Art. 20a GG zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und zum Tierschutz. Zu dieser Vorschrift hat denn auch der Jubilar eine ausführliche Kommentierung im Bonner Kommentar zum Grundgesetz vorgelegt.3 Da andererseits die weitaus wichtigste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Gewährleistung des Art. 20a GG die gewerbliche Tierhaltung betraf,4 könnten Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Anforderungen der Tierhaltung das Interesse des Jubilars finden. Anforderungen zur Intensivtierhaltung finden sich vor allem in der auf das Tierschutzgesetz gestützten Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung5 sowie in den Bauordnungen. Verfassungsrechtlich stellt sich insoweit einerseits die Frage, ob diese Regelungen einen ausreichenden Tierschutz gewährleisten, evtl. der extensiven Auslegung und Anwendung bedürfen, oder ob sie die Rechte der Anlagenbetreiber unangemessen verkürzen. Dementsprechend wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welche Folgen sich aus der Gewährleistung des Art. 20a GG für die gewerbliche Tierhaltung, insbesondere für die Intensivtierhaltung, ergeben (unten I.). Des Weiteren werden die gegenläufigen Vorgaben der Berufsfreiheit des Art. 12 GG und der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG untersucht (unten II. und III.).

1

Kloepfer, Michael: Zum Umweltschutzrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 1972. Kloepfer, Michael: Umweltrecht, 3. Aufl. 2004; Kloepfer, Michael: Umweltschutzrecht, 2. Aufl. 2011. 3 Kloepfer, Michael, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand 2012, Art. 20a. 4 BVerfGE 127, 293. 5 Verordnung zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere bei ihrer Haltung (BGBl 2006 I, S. 2043). 2

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I. Tierschutzprinzip des Art. 20a GG 1. Grundsätzliche Bedeutung Der Schutz der Tiere in Art. 20a GG ist erst im Jahre 2002 durch eine Änderung dieser Vorschrift im Grundgesetz verankert worden. Vorher betraf die Regelung allein den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, also den Umweltschutz.6 Da die Aussagen zum Tierschutz in die überkommene Regelung zum Umweltschutz „eingebaut“ wurde, liegt es nahe, Befunde zu den Umweltschutzgehalten auf den Tierschutz zu übertragen. Andererseits ist aber den Besonderheiten der beiden Teilbereiche ausreichend Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund enthält Art. 20a GG auch im Bereich des Tierschutzes eine verbindliche verfassungsrechtliche Zielsetzung.7 Der Vorschrift ist eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung zugunsten des Tierschutzes zu entnehmen. Damit soll „der ethisch begründete Schutz der Tiere, wie er bereits Gegenstand des Tierschutzgesetzes war, gestärkt werden“, wie das Bundesverfassungsgericht zum Tierschutz insbesondere in der Intensivtierhaltung festgehalten hat.8 „Das Tier ist danach als je eigenes Lebewesen zu schützen“.9 Was das im Einzelnen bedeutet, wird noch näher zu untersuchen sein. Vorweg sei aber darauf hingewiesen, dass sich subjektive Rechte, die dem Einzelnen ein Klagerecht vermitteln, aus Art. 20a GG nicht ergeben.10 Das gilt auch für den Bereich des Tierschutzes.11 Insbesondere enthält die Vorschrift kein Grundrecht.12 Objektivrechtlich ist aber Art. 20a GG voll verbindlich, also kein bloßer Programmsatz. Der Gesetzgeber, die Verwaltung und die Rechtsprechung haben die Vorgaben des Art. 20a GG zu beachten. Trotz des Vorbehalts „nach Maßgabe von Gesetz und Recht“ in Art. 20a GG, ist die Verfassungsnorm, wie sich noch zeigen wird, auch für die Verwaltung und die Rechtsprechung unmittelbar bedeutsam.13 Diese Formulierung stellt lediglich klar, dass Verwaltung und Rechtsprechung (auch im Bereich des Art. 20a GG) den Vorrang wie den Vorbehalt des Gesetzes zu wahren haben.14 6

Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 3. BT-Drs. 12/6000, 67; Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd. II 2010, Art. 20a Rn. 49. 8 BVerfGE 127, 293/328; ähnlich BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 808/810. 9 BVerfGE 127, 293/328. 10 BVerwG, NVwZ 1998, 1080/1081; Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd.II 2010, Art. 20a Rn. 38; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 2. 11 Bernsdorff, Norbert, in: Umbach/Clemens (Hg.), Grundgesetz, 2002, Art. 20a Rn. 60. 12 Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2012, Art. 20a Rn. 33; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd.II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 82. 13 Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd.II 2010, Art. 20a Rn. 53, 89; Jarass, in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 19. 14 Murswiek, Dietrich, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rn. 61; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 19. 7

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Daher ist die Verwaltung verpflichtet, die Gehalte des Art. 20a GG bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen sowie bei der Ausübung von Ermessenstatbeständen und generell im gesetzesfreien Bereich zu beachten.15 2. Die geschützten Tiere Das Tierschutzprinzip des Art. 20a GG schützt alle Tiere, sofern sie Leidens- und Empfindungsfähigkeit besitzen.16 Tiere, denen diese Fähigkeit fehlt, werden nicht erfasst, auch wenn das dem Wortlaut nicht zu entnehmen ist. Das ergibt sich aus der angesprochenen Funktion des Art. 20a GG, dem Schutz, wie er durch das Tierschutzgesetz gewährt wird, eine verfassungsrechtliche Grundlage zu vermitteln.17 Geschützt wird jedes einzelne Tier „als eigenes Lebewesen“.18 Das unterscheidet den Tierschutz vom Umweltschutz, wo es weniger um einzelne Tiere, Pflanzen, sondern um Arten und Lebensräume geht. In den Anwendungsbereich fallen auch Haustiere sowie Tiere, die zur Herstellung tierischer Lebensmittel gehalten und aufgezogen werden.19 Unerheblich ist, wem die Tiere gehören; Art. 20a GG schützt auch gegen Beeinträchtigungen der Tiere durch deren Eigentümer.20 Insgesamt bestehen keine Zweifel, dass Art. 20a GG auch dem Schutz der Tiere in der Tierhaltung und insbesondere in der Intensivtierhaltung dient. 3. Verpflichtung zum Schutz der Tiere a) Art. 20a GG verpflichtet den Staat, die Tiere zu schützen. Ziel ist, ähnlich wie in § 1 TierSchG,21 Schmerzen, Leiden oder Schäden bei Tieren zu verhüten oder zumindest zu begrenzen.22 Die Gewährleistung wirkt einerseits negativ oder abwehrend: 15 BVerwG, NuR 1998, 483; Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd.II 2010, Art. 20a Rn. 90, 92 f.; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd.II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 77 ff.; Kloepfer, Michael, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand 2012, Art. 20a Rn. 56. 16 Kloepfer, Michael, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand 2012, Art. 20a Rn. 66; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd.II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 55; Murswiek, Dietrich, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rn. 31b. 17 Art. 20a GG übernimmt natürlich nicht die gesamten Gehalte des Tierschutzgesetzes, sondern nur dessen zentrale Elemente. 18 BVerfGE 127, 293/328; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 13. 19 Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 12; vgl. auch BVerfGE 127, 293/328. 20 Davon ist BVerfGE 127, 293/328 f implizit ausgegangen, da es im konkreten Fall um eine Intensivtierhaltungsanlage ging. 21 Auf die Relevanz des Tierschutzgesetzes für die Auslegung des Art. 20a GG wurde in BVerfGE 127, 293/328 ausdrücklich hingewiesen. 22 Vgl. BT-Drs. 14/8860, S. 3.

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Der Staat soll selbst Tiere nicht beeinträchtigen. Andererseits hat die Gewährleistung auch eine positive Komponente:23 Der Staat hat die Verpflichtung, Beeinträchtigungen von Tieren durch Privatpersonen entgegenzutreten.24 Der Schutzauftrag kommt nicht nur dann zum Tragen, wenn eine Gefährdung des Schutzguts sicher oder hochgradig wahrscheinlich erscheint, sondern bereits dann, wenn ein hinreichendes Risiko für eine entsprechende Beeinträchtigung besteht.25 Die Schutzpflicht des Art. 20a GG ist in allen Bereichen des Rechts zu beachten.26 Zur Umsetzung der darin liegenden Verpflichtung haben die normsetzenden Organe „dem Staatsziel Tierschutz mit geeigneten Vorschriften Rechnung zu tragen.“27 Die Verwaltung hat diese Vorschriften anzuwenden, um nicht gegen Art. 20a GG zu verstoßen. Die Verletzung einfachgesetzlicher Tierschutzvorschriften verletzt damit regelmäßig auch Art. 20a GG. Das Bundesverfassungsgericht hat das erst jüngst speziell für Verfahrensvorschriften herausgestellt.28 Soweit der Verwaltung nach den einfachgesetzlichen Vorgaben Spielräume verbleiben, hat sie diese, wie dargelegt, unter Berücksichtigung der Vorgaben der Verfassungsnorm auszufüllen und die Staatszielbestimmung eigenständig zum Tragen zu bringen.29 Darüber hinaus haben Verwaltung und Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften aller Rechtsbereiche den Tierschutz zu berücksichtigen, soweit die einschlägigen Rechtsvorschriften das zulassen.30 Adressat der Gewährleistung des Art. 20a GG ist allein der Staat, nicht dagegen Privatpersonen.31 Für die Anlagenbetreiber ergeben sich somit aus Art. 20a GG keine Pflichten. Erst die Umsetzung des Auftrags des verfassungsrechtlichen Tierschutzprinzips durch den Gesetzgeber kann zu solchen Pflichten führen. Andererseits kann das Prinzip über die verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts zum Tragen kommen. 23

Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 13. Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 59; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 13; Hirt, Almuth/Maisack, Christoph/Moritz, Johanna, Tierschutzgesetz, 2. Aufl. 2007, Art. 20a Rn. 16. 25 Hirt, Almuth/Maisack, Christoph/Moritz, Johanna, Tierschutzgesetz, 2. Aufl. 2007, Art. 20a Rn. 16. 26 Zur Querschnittswirkung des Art. 20a GG Murswiek, Dietrich, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rn. 57a; Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd. II 2010, Art. 20a Rn. 77. 27 BVerfGE 127, 293/328. 28 BVerfGE 127, 293/328 f. 29 Oben I. 1. 30 Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd. II 2010, Art. 20a Rn. 93; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 77. 31 Sommermann, Karl-Peter, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd.I, 6. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 17. 24

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b) Auch im Hinblick auf die Verfahrensgestaltung kommt Art. 20a GG Bedeutung zu. „Da ein angemessener Schutz der Tiere in vielen Bereichen – unter anderem wenn es um die Bedingungen der Haltung von Tieren in großer Zahl zu wirtschaftlichen Zwecken geht – nur auf der Grundlage spezieller Fachkenntnisse, Erfahrungen und systematisch erhobener Informationen möglich ist, liegt es nahe durch geeignete Verfahrensnormen sicherzustellen, dass bei der Setzung tierschutzrechtlicher Standards solche Informationen verfügbar sind und genutzt werden“.32 Das gilt nicht nur für das Verfahren der Rechtsetzung, sondern, obgleich in kleinerem Maßstab, auch für Verwaltungsverfahren. Wenn in einem Verwaltungsverfahren der Schutz der Tiere, wie er in Art. 20a GG verankert ist, beeinträchtigt werden kann, muss in dem Verfahren eine ausreichende Untersuchung der damit verbundenen Probleme erfolgen, zumal Art. 20a GG eine generelle Verpflichtung enthält, Verfahren und Organisation der Verwaltung mit Blick auf die Anforderungen dieser Verfassungsnorm auszugestalten.33 4. Beachtung sonstigen Verfassungsrechts und verbleibende Spielräume a) Die Anforderungen des Tierschutzprinzips in Art. 20a GG werden durch andere Verfassungsnormen beschränkt, worauf Art. 20a GG durch den Vorbehalt „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ ausdrücklich hinweist. Der Vorbehalt bringt die grundsätzliche Gleichrangigkeit von Tierschutz und anderen Verfassungsprinzipien und -rechtsgütern zum Ausdruck.34 Der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung ist wie in Art. 20 Abs. 3 GG als Gesamtheit der Normen des Grundgesetzes zu verstehen.35 Das Grundgesetz verpflichtet daher nicht zu einem unbegrenzten Tierschutz. Vielmehr ist im Einzelfall jeweils ein Ausgleich mit anderen Verfassungsgütern herzustellen.36 Weder der Tierschutz noch die kollidierenden Verfassungsgüter können einen generellen Vorrang in Anspruch nehmen.37 Im Konfliktfall ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstän32

BVerfGE 127, 293/328. Vgl. Ekardt, Praktische Probleme des Art. 20a GG in Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetzgebung, in: SächsVBl 1998, S. 51; Steinberg, NJW 1996, 1993 f; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd.II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 84. 34 Kloepfer, Michael, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand 2012, Art. 20a Rn. 26; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 14. 35 Murswiek, Dietrich, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rn. 58; Kloepfer, Michael, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand 2012, Art. 20a Rn. 44. 36 Kloepfer, Michael, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand 2012, Art. 20a Rn. 43; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd.II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 41 f, 46. 37 Lediglich Art. 1 Abs. 1 bildet insoweit eine Ausnahme, weshalb jede Gleichsetzung von Mensch und Tier mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar ist; BVerfG (Kammer), NJW 2009, 3089; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 25; Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Rn. 121 f. 33

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de im Wege der Abwägung jeweils zu entscheiden, welches Gut zurückzutreten hat.38 Einerseits sind bei Ausführung des in Art. 20a GG enthaltenen Auftrags die sonstigen Verfassungsnormen zu berücksichtigen; andererseits ist bei der Konkretisierung und Anwendung anderer Verfassungsnormen die Wertentscheidung des Art. 20a GG zu beachten. Wegen dieses Befundes ist es sachgerecht, von einem Tierschutzprinzip zu sprechen. b) Bei der Umsetzung der in Art. 20a GG enthaltenen Schutzpflicht kommt „den normsetzenden Organen, die dem Staatsziel Tierschutz mit geeigneten Vorschriften Rechnung zu tragen haben,“ „ein weiter Gestaltungsspielraum zu“,39 da Art. 20a GG eine Prinzipiennorm ist, die von vornherein Ausnahmen zulässt.40 Auf der anderen Seite bedarf eine Zurückstellung der Belange des Art. 20a GG einer ausreichenden Rechtfertigung. Was die Verwaltung angeht, so kommen ihr außerhalb des Bereich des Gesetzesbindung entsprechende Spielräume zu. Wo dagegen die Vorgaben des Art. 20a GG durch Gesetz konkretisiert wurden, ist die Verwaltung daran auch verfassungsrechtlich strikt gebunden.41 In der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern dürfte dem Tierschutz ein etwas geringeres Gewicht als dem Umweltschutz zukommen.42 Das hängt insb. damit zusammen, dass die in Art. 20a GG festgehaltene „Verantwortung für die künftigen Generationen“ nur den Umweltschutz, nicht den Tierschutz betreffen dürfte, da der Tierschutz jedem einzelnen Tier zugutekommt, während die Erhaltung der Arten und ihrer Lebensräume, wie dargelegt, dem Umweltschutz zuzuordnen ist.43

II. Berufsfreiheit des Art. 12 GG und allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG 1. Geschützte Tätigkeiten und Eingriff Wenn es um Anforderungen des Tierschutzes in Anlagen der Intensivtierhaltung geht, sind auf verfassungsrechtlicher Ebene neben dem Tierschutzprinzip des Art. 20a GG die Grundrechte der Anlagenbetreiber bedeutsam. Insoweit ist zunächst an die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG zu denken. Der Betrieb von Intensivtier38

Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 14. BVerfGE 127, 293/328. 40 Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 1, 7; Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 26. 41 Oben I. 3. 42 I. E. Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 61; Murswiek, Dietrich, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 20a Rn. 58¸ Epiney, Astrid, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl., Bd. II 2010, Art. 20a Rn. 88. 43 Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 13; Sommermann, Karl-Peter, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 27; vgl. BT-Drs. 14/8860, S. 3. 39

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haltungseinrichtungen stellt eine auf Erwerb gerichtete und auf Dauer angelegte Tätigkeit dar und erfüllt damit die tatbestandlichen Voraussetzungen der Berufsfreiheit.44 Geschützt werden Form, Mittel und Umfang sowie die gegenständliche Ausgestaltung der beruflichen Betätigung.45 Vorgaben zur Art und Weise der Intensivtierhaltung betreffen damit den Schutzbereich der Berufsfreiheit. Weiter stellen solche Vorgaben häufig einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar, weil sie eine berufsregelnde Tendenz aufweisen, wie das Art. 12 GG voraussetzt.46 Diese Vorgabe ist erfüllt, wenn die Regelungen „nach Entstehungsgeschichte und Inhalt im Schwerpunkt Tätigkeiten betreffen, die typischerweise beruflich ausgeübt werden“,47 wenn sie die Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern und in Folge ihrer Gestaltung in einem Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen.48 Das ist etwa bei den Vorgaben des Immissionsschutzrechts und der TierschutzNutztierhaltungsverordnung der Fall. Dem entsprechend ist auch das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur Käfighaltung von Legehennen von einem Eingriff in die Berufsfreiheit ausgegangen.49 Soweit den Vorschriften, die auf Anlagen der Intensivtierhaltung anwendbar sind, ausnahmsweise die berufsregelnde Tendenz fehlt, was bei bauordnungsrechtlichen Regelungen möglich ist, wird in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG eingegriffen. 2. Rechtfertigung von Eingriffen a) Eingriffe in die Berufsfreiheit können auf der Grundlage des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG verfassungsgemäß sein. Voraussetzung ist zunächst eine ausreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.50 Diese kann auch in einer untergesetzlichen Norm bestehen, etwa in einer Rechtsverordnung, sofern nur der förmliche Gesetzgeber alle wesentlichen Fragen selbst geregelt hat.51 Daher können auch baurechtliche und tierschutz-

44 BVerfGE 97, 228/253; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 5. 45 Breuer, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 170 Rn. 82; Manssen, Gerrit, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rn. 66; Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 27; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 10. 46 Dazu BVerfGE 98, 218/258; 110, 274/288; 111, 191/213; Jarass, Hans D., in: ders./ Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 14 ff.; a.A. Manssen, Gerrit, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rn. 74. 47 BVerfGE 97, 228/254. 48 BVerfGE 111, 191/213. 49 BVerfGE 101, 1/34 (allerdings ohne nähere Begründung). 50 Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 31. 51 BVerfGE 94, 372/390; Manssen, Gerrit, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rn. 119; Wieland, Joachim, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 12 Rn. 98; Dietlein, in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, 1884 f.

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rechtliche Rechtsverordnungen Einschränkungen der Berufsfreiheit rechtfertigen. Nichts anderes gilt für die allgemeine Handlungsfreiheit.52 b) Weiter muss die Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden. Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit müssen zur Erreichung des verfolgten Zwecks zunächst geeignet sein.53 Dabei genügt es, wenn „der gewünschte Erfolg gefördert werden kann“.54 Weiter muss die Beeinträchtigung erforderlich sein, auch und gerade bei Berufsausübungsregelungen.55 Das ist nur dann der Fall, „wenn ein anderes, gleich wirksames, aber die Berufsfreiheit weniger fühlbar einschränkendes Mittel fehlt“.56 Das Alternativmittel darf im Übrigen nicht merklich höhere Aufwendungen der öffentlichen Hand notwendig machen.57 Schließlich darf der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehen; er muss angemessen sein.58 Notwendig ist eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem „Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe“.59 Das Gewicht des verfolgten Zwecks muss umso größer sein, je tiefer in die Berufsfreiheit eingegriffen wird.60 Zudem ist zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber insbesondere bei Berufsausübungsregelungen ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, der die Prüfungsdichte im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung reduziert.61 Unterstrichen werden die Regelungsmöglichkeiten, wenn die fragliche Regelung der Konkretisierung des Art. 20a GG dient. Die Vorgaben des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sind gleichwohl zu beachten. Daher muss sich wegen des Grundsatzes der Geeignetheit jede der Anforderungen an Intensivtierhaltungsanlagen tatsächlich günstig auf die Tiere auswirken. Weiter ist wegen des Grundsatzes der Erforderlichkeit über mildere Alternativen nachzudenken. Schließlich hängt die Zulässigkeit einer Einschränkung der Berufsfreiheit durch Vorgaben zur Intensivtierhaltung davon ab, wie schwer einerseits die Anlagenbetreiber durch die Anforderungen betroffen werden und wie gewichtig andererseits die Förderung des Tierschutzes ausfällt.

52

Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 17. BVerfGE 46, 120/145 f.; 68, 193/218. 54 BVerfGE 115, 276/308; ebenso BVerfGE 80, 1/24 f.; 117, 163/188. 55 BVerfGE 101, 331/347; 104, 357/364; 106, 216/219. 56 BVerfGE 80, 1/30; 30, 292/316; 75, 246/269; 117, 163/189. 57 BVerfGE 77, 84/110; Manssen, Gerrit, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rn. 138. 58 BVerfGE 117, 163/192 f. 59 BVerfGE 102, 197/220; ebenso BVerfGE 75, 284/298. 60 Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 44. 61 BVerfGE 102, 197/218; 116, 202/224 ff; 117, 163/182 f., 189; 121, 317/356; Umbach, Dieter C. in: Umbach/Clemens (Hg.), Grundgesetz, 2002, Art. 12 Rn. 96; Breuer, Rüdiger, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 171 Rn. 27. 53

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c) Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit müssen ebenfalls verhältnismäßig sein,62 also geeignet, erforderlich und angemessen. Insoweit gelten ganz ähnliche Erwägungen wie im Bereich der Berufsfreiheit. III. Eigentumsgarantie des Art. 14 GG 1. Geschützte Tätigkeiten und Eingriff Des Weiteren können Regelungen für Anlagen der Intensivtierhaltung in die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG eingreifen, jedenfalls soweit es um bereits errichtete Anlagen geht. Art. 14 GG schützt insbesondere die Nutzung des Eigentums.63 Sie vermittelt dem Eigentümer das Recht, darüber zu befinden, wie er sein Eigentum nutzt. Das verdeutlicht, dass Vorgaben zur Art und Weise der Nutzung bestehender Anlagen die Eigentumsgarantie beeinträchtigen. Solche Anforderungen sind am Maßstab des Art. 14 GG zu messen. Davon ist auch das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Legehennen-Entscheidung ausgegangen.64 Angesichts dieses Befundes kann dahingestellt bleiben, wieweit Art. 14 GG auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb schützt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage bislang ausdrücklich offen gelassen,65 während sie sonst (meist unter Begrenzung der Folgen) überwiegend bejaht wird.66 2. Rechtfertigung von Eingriffen a) Bei Eingriffen in die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG ist für die Rechtfertigung zwischen Inhalts- und Schrankenbestimmungen einerseits und Enteignungen andererseits zu unterscheiden. Zumal unter dem engen Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts geht es bei Anforderungen an die Intensivtierhaltung regelmäßig um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, nicht um eine Enteignung.67 Deren Rechtfertigung setzt zunächst eine gesetzliche Regelung voraus, die auch in einer untergesetzlichen Norm wie einer Rechtsverordnung bestehen kann, sofern

62

BVerfGE 97, 271/286; 103, 197/215; 109, 96/111. BVerfGE 88, 366/377; 98, 17/35; 101, 54/75; BGHZ 157, 144/147. 64 BVerfGE 101, 1/34 (allerdings ohne nähere Begründung); ebenso BVerfG (Kammer), NVwZ 2010, 771 Rn. 27. 65 BVerfGE 51, 193/221 f; 68, 193/222 f; 105, 252/278; ebenso BVerwGE 118, 226/241. 66 BGHZ 92, 34/37; BGH, DVBl 01, 1671; Papier, Hans-Jürgen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2012, Art. 14 Rn. 95 ff.; Dietlein, Johannes, in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV/ 1, 2006, 2191; gegen einen Schutz Wieland, Joachim, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rn. 52; Berkemann, Jörg, in: Umbach/Clemens (Hg.), Grundgesetz, 2002, Art. 14 Rn. 146. 67 Zum Enteignungsbegriff des BVerfG Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 70 ff. 63

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ihr eine formell-gesetzliche Ermächtigung zugrunde liegt.68 Wie bei der Berufsfreiheit können daher Einschränkungen der Eigentumsgarantie insbesondere durch baurechtliche und tierschutzrechtliche Rechtsverordnungen vorgenommen werden. b) Jede Inhalts- und Schrankenbestimmung muss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.69 Das setzt zunächst die Eignung der in die Eigentumsgarantie eingreifenden Regelung im Hinblick auf das entsprechende Ziel voraus.70 Die Einschränkung der Eigentümerbefugnisse muss vom jeweiligen Sachbereich her geboten sein. Weiter darf die Inhalts- und Schrankenbestimmung den Eigentümer nicht mehr beeinträchtigen als es der gesetzgeberische Zweck erfordert;71 es darf keine mildere Alternative zur Verfügung stehen. Schließlich muss die Belastung des Eigentümers in einem angemessenen Verhältnis zu den mit der Regelung verfolgten Interessen stehen, muss zumutbar sein. Die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers sowie die Belange des Gemeinwohls müssen in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden.72 Hinsichtlich der Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit hat der Gesetzgeber einen erheblichen Beurteilungs- und Prognosespielraum.73 Insoweit gilt ganz Ähnliches wie im Bereich der Berufsfreiheit.74 Insgesamt verstärkt Art. 14 GG den grundrechtlichen Schutz bei bestehenden Anlagen. Die Anwendung neuer Anforderungen an bestehende Anlagen wird aber nicht ausgeschlossen, auch wenn sie sehr gewichtig ausfallen. Vielmehr kommt es auch insoweit auf die konkreten Umstände an. Bedeutsam ist zudem, ob Übergangregelungen vorgesehen sind.75

68

Depenheuer, Otto, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 220; a.A. Papier, Hans-Jürgen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2012, Art. 14 Rn. 339. Speziell zur Rechtsverordnung BVerfGE 8, 73/76; 9, 338/343. 69 BVerfGE 75, 78/97 f.; 76, 220/238; 92, 262/273; 110, 1/28; Dietlein, Johannes, in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, 2247; Bryde, Brun-Otto, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 59 f. 70 BVerfGE 70, 278/286; 76, 220/238. 71 BVerfGE 75, 78/97 f.; 79, 179/198; 100, 226/241; 110, 1/28. 72 BVerfGE 110, 1/28; 98, 17/37; 100, 226/240; BVerwGE 88, 191/194 f.; Papier, HansJürgen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2012, Art. 14 Rn. 310. 73 BVerfGE 53, 257/293; Papier, Hans-Jürgen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2012, Art. 14 Rn. 321 ff.; Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 38. 74 Dazu oben II. 1. b). 75 Allgemein dazu Jarass, Hans D., in: ders./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 46.

Gesetzgeben in der Zeit Von Paul Kirchhof I. Entscheidungsverantwortlichkeit für die Zeit Der Mensch denkt und handelt in der Gegenwart, sucht aber rechtlich in die Zukunft vorzugreifen. Zwar kann auch das Recht nur eine historisch gewachsene Ordnung hervorbringen, der Rechtsvollzug nur Antworten auf die heutigen Anfragen an die Rechtsordnung geben. Doch das Staatsrecht und das gesamte öffentliche Recht suchen die Fortschritte und Schwankungen des politischen Prozesses durch möglichst zeitübergreifende Regeln zu verstetigen, das staatliche Leben in der Rechtstaatlichkeit zu stabilisieren.1 Dabei scheinen die konkreten Gestaltungswirkungen des Verwaltungsrechts eine reale Ordnung des öffentlichen Lebens auf Dauer festigen zu können, die Prinzipien des Staatsrechts stärker den Bedrängnissen politischer Erneuerungen und Brüche ausgesetzt.2 Je mehr der moderne Staat zum Garanten und Mittler einer „allgemeinen Fortschrittsvorsorge“3 wird, desto mehr drängt auch das Recht zu einer Neugestaltung der Zukunft, wird zu einem Instrument, das rechtsverbindlich die Zukunft zum Besseren wenden soll. Allerdings enthält das Geschehen in der Zeit, die Geschichtlichkeit menschlichen Denkens und Handels, noch nicht selbst eine eigene Rechtsaussage. Erst die normative Bewertung eines Zeitablaufs macht die Zeit zu einem rechtserheblichen Vorgang. Der in der Disziplin des geschriebenen Rechts gebundene Staat kennt keine „normative Kraft des Faktischen“4, sondern nur eine normative Anerkennung des Faktischen. Erst wenn die Lebensverhältnisse zu Rechtsverhältnissen geformt, die Tatsachen in einem Rechtssatz aufgenommen worden sind, wird Recht hervorgebracht, verändert oder vernichtet. Selbstverständlich muss das Recht „realitätsgerecht“ ausgestaltet sein,5 die in der „Natur der Sache“ angelegten Ähnlichkeiten

1

Hermann Heller, Staatslehre, 2. Aufl., 1961, S. 194; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 6 I. 2 Otto Mayer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1923, Vorwort („Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“). 3 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 117. 4 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1921, S. 337 f. 5 BVerfGE 66, 214 (222) – Zwangsläufige Unterhaltsaufwendungen; 82, 60 (82 f.) – Steuerfreies Existenzminimum; 93, 121 (134 f.) – Einheitsbewertung; 105, 73 (124 f.) – Rentenbesteuerung; 116, 164 (183) – Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte; 117, 1 (31 f.) – Erbschaftsteuer.

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und Verschiedenheiten aufnehmen,6 die tatsächlichen Anfragen an das Recht zeitgerecht und rechtzeitig beantworten. Jeder Rechtssatz muss unterscheiden, die getroffenen Unterscheidungen aber aus einem „sachlichen Zusammenhang“ mit dem Regelungsgegenstand rechtfertigen.7 Doch auch das Naturrecht,8 das von Menschen nicht erzeugt sondern entdeckt, nicht gesetzt sondern festgestellt wird, fordert zwar zutreffend, der Gesetzgeber müsse sich stets mit dem realen Gegenstand seiner Regelungen auseinandersetzen, die in diesen Regelungen angelegten Gesetzmäßigkeiten menschlichen Lebens, Entscheidens und Handels aufnehmen. Doch in der rechtlichen Würdigung der Wirklichkeit wird immer wieder ersichtlich, dass das Buch der Natur uns oft verschlossen, in Zeichen und Sprachen geschrieben ist, die wir nicht immer verstehen,9 im Übrigen die streitigen Kernfragen des Rechts – die Verteilung von Macht, von Eigentum, von Wissen, Verantwortlichkeiten – der Entscheidung bedürfen, nicht vorgegeben sind. Recht lebt in der Zeit, ist durch die Erfahrungen mit Geschichte und Entwicklung geprägt, muss in der Alternative von Bewahren und Erneuern zeitbewusst beurteilen und bewerten. Recht hat die in Gegenwart und Zukunft fortwirkende Vergangenheit ordnend aufzuarbeiten, die Gegenwart zu gestalten und für die Zukunft zwischen den schon erkennbaren und den noch verborgenen Fragen an das Recht zu unterscheiden. Recht blickt aus verschiedenen Winkeln auf die Zeit. Der moderne Verfassungsstaat schafft dafür verschiedene Organe.10 Die Gesetzgebung regelt in die Zukunft, die Verwaltung ist mit der Gegenwart befasst, die Rechtsprechung hat die Vergangenheit zum Gegenstand.11 Trotz mancher Verschränkung und Lockerung dieses Zeitschemas – alle drei Gewalten drängen zur Gestaltung der Zukunft – lässt sich das Zeitschema als typisierende Aufgabenlehre nutzen. Die Rechtsprechung behandelt Prozessgegenstände, die in der Vergangenheit ihre Streitursache haben, durch Folgewirkungen in der Gegenwart eine gerichtliche Beurteilung rechtfertigen, in ihren Grundsatzentscheidungen – in der sprachlichen Form gesetzesähnlicher Leitsätze – 6 Zu der Formel des „vernünftigen, sich aus der Natur der Sache ergebenden“ Grundes als Maßstab des Gleichheitssatzes vgl. BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat, seitdem ständige Rechtsprechung. Zum Grundproblem vgl. Ralf Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“, 1965; Alessandro Baratta, Juristische Analogie und Natur der Sache, in: Mensch und Recht, Festschrift für Erik Wolf, hg. v. Alexander Hollerbach, 1972, S. 137 f.; Michael Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, 1987, S. 372 f. 7 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919, 2. Aufl., 1921, Titel 109 WRV, Rn. 5. 8 Vgl. Bernd Rüthers/Christian Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl., 2010, Rn. 417 f. 9 Vgl auch Iwan Sergejewitsch Turgenjew, Vorabend (1860), abgedruckt in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. v. Klaus Dornacher, 1994, Bd. III, S. 12: „Wie oft du auch an das Tor der Natur klopfen magst, sie wird dir niemals in verständlicher Sprache antworten, denn sie ist stumm“. 10 Gerhard Husserl, Recht und Zeit, 1955, S. 52 f. 11 Gerhard Husserl, a.a.O., S. 42 f., 52 f., versteht den Abgeordneten als „Zukunftsmensch“, den Verwaltungsmann als „Gegenwartsmensch“, den Richter als „Vergangenheitsmensch“.

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Rechtserkenntnisse an die Zukunft weitergeben. Die Verwaltung überbringt die Gesetzesregel punktuell-gegenwärtig in den Einzelfall, triff im Typus des Verwaltungsaktes eine Entscheidung nach Gegenwartslage. Die Gesetzgebung regelt in ihrer zukunftsgerichteten Allgemeinheit den heute noch unbekannten Fall, sucht rechtliches Wissen und Wollen in der Abstraktion eines Rechtssatzes für die Zukunft verbindlich zu machen, trifft voraussehbar, mit einiger Verlässlichkeit als „verhältnismäßig“ – geeignet, erforderlich und angemessen – erkennbare Regelungen,12 muss zugleich ihre Wirkungsweisen zeitlich zumessen und begrenzen. Mitte der siebziger Jahre hat die deutsche Staatsrechtwissenschaft besondere Aufmerksamkeit für das Thema Recht und Zeit entwickelt. Michael Kloepfer widmete dem Verhältnis von Verfassung und Zeit eine eigene Studie.13 Peter Häberle beobachtete, dass das Grundgesetz zwar punktuell die Kategorie der Zeit erfasst, ohne aber eine grundsätzliche Perspektive für das Verhältnis von Recht und Zeit zu entwickeln.14 Günter Dürig untersuchte das Verhältnis von Gleichheit in der Zeit, der Kraft des Gleichheitssatzes, Rechtskontinuität herzustellen, ohne dabei den demokratischen Auftrag des Parlaments zur Erneuerung des Rechts – zum Bruch mit Hergebrachtem – zu gefährden.15 Ich habe eine kleine Schrift über die Zeit in der Funktionenordnung, insbesondere zum zeitgerechten und rechtzeitigen Verwalten vorgelegt.16 Das Thema Recht und Zeit ist bis heute aktuell geblieben. Michael Kloepfer und mich verbindet bis heute ein gemeinsames Interesse am Recht in der Zeit und Recht durch die Zeit. In dieser Verbundenheit möchte ich Michael Kloepfer einige Grundsatzüberlegungen zum Verhältnis von Recht und Zeit widmen. II. Zeitraum, Zeitpunkt, Zeitablauf 1. Rechtliche Gestaltung der Zeit Das Verfassungsrecht erfasst die Zeit, wenn es bestimmte Zeitabschnitte in einem rechtserheblichen „Zeitraum“ begrenzt. Die Verfassung regelt den Zeitraum, wenn sie für das jährliche Staatsbudget und die mittelfristige Finanzplanung zeitliche Grenzen setzt, eine Wahlperiode oder eine Amtszeit bestimmt, die Dauer von Wehr- und Ersatzdienst, eines Verteidigungsfalls, der Geltung notstandsbedingter Gesetze bestimmt. Teilweise ist eine Dauer Tatbestandsvoraussetzung – Religions-

12 Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip vgl. Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl., 2011, § 191 Rn. 136 f.; Christian Hillgruber, Grundrechtsschranken, dass. § 201 Rn. 51 f. 13 Michael Kloepfer, Verfassung und Zeit, in: Der Staat 13, 1974, S. 457 f. 14 Peter Häberle, Zeit und Verfassung, in: ZfB 21, 1974, S. 111 f. 15 Günter Dürig, Zeit und Rechtsgleichheit, in: Festschrift zum fünfhundertjährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 21 f. 16 Paul Kirchhof, Verwalten und Zeit, 1975.

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gesellschaften bei „Gewähr der Dauer“ – oder Inhalt einer Rechtsfolge – „dauernde“ Amtsenthebung. Ein Zeitpunkt ist von Bedeutung bei allen Stichtagsregeln, nach denen sich das Recht ändert, für den Zusammentritt des Bundestages und der Bundesversammlung, für das Inkrafttreten von Bundesgesetzen, für das Außerkrafttreten von Haushaltsvorschriften, für den Beginn des Verteidigungsfalles und die Übergangsvorschriften. Der Zeitablauf wird rechtlich gestaltet, wenn der Handlungsraum auf eine kurzfristige Zeitspanne – „unverzüglich“, „sofort“ – verkürzt wird, wenn für das Zusammenwirken der Gesetzgebungsorgane Fristen gesetzt werden, wenn Regelungen unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit gelten oder die Vorläufigkeit durch Endgültigkeit abgelöst wird, wie für die Geltung des Grundgesetzes nach der Wiedervereinigung. Der Anspruch des Rechts, die Zeit zu gestalten, wird elementar in Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG ersichtlich, wenn dort der Bundesgesetzgeber die ausschließliche Zuständigkeit über die „Zeitbestimmung“ gewinnt, der Gesetzgeber also Zeitmaße festlegt, aber auch deren Ausgangspunkt bestimmt, die Grundlage für die Zeitrechnung und damit den Kalender.17 2. Vorwirkung von Gesetzen Michael Kloepfer hat in seiner Habilitationsschrift18 die Frage gestellt, welche Zeitwirkungen ein werdendes Gesetz bereits entfaltet. Wenn die Rechtsgemeinschaft auf ein im Gesetzgebungsverfahren entstehendes Gesetz wartet, sich auf das neue Recht einstellt, werden bevorstehende Gesetze schon vorbereitend angewandt, der Geltungszeitpunkt förmlicher Verbindlichkeit tatsächlich schon vorgezogen. Die gesetzesvollziehenden Staatsgewalten treffen bereits technische Vorbereitungen, verändern Datenprogramme, stellen neue Arbeitsmaterialien und Personal bereit, entwickeln Kontrollbehörden, organisieren Behörden neu, schulen die Bediensteten für die Anwendung des zukünftigen Gesetzes.19 Vor allem Haushalts- und Bauplanungen, Langzeitprogramme und Strukturkonzepte suchen Gesetzgebung vorwegzunehmen und zu veranlassen. Würde dieses sich Einstellen und Vorbereiten auf das neue Gesetz nicht praktiziert oder gewährte das neue Gesetz nicht hinreichend Vorbereitungszeit, so laufe das Gesetz Gefahr, aus praktisch-technischen Gründen für eine Anlaufzeit nicht oder nicht richtig angewandt zu werden, fordere vorübergehend von den rechtsanwendenden Behörden Unmögliches und müsse insoweit unwirksam bleiben.20 Daraus folge

17 Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Paul Kirchhof/Josef Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl., 2008, § 135 Rn. 106. 18 Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974. 19 Michael Kloepfer, a.a.O., S. 50 f. 20 Michael Kloepfer, a.a.O., S. 52.

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eine Rechtspflicht des Gesetzgebers, dem Gesetzesadressaten eine Vorbereitungsfrist einzuräumen. In frühen Stadien der Gesetzesentstehung richten sich Gerichte und Verwaltungsbehörden auf eine erwartete Rechtslage ein. Sie setzen laufende Verfahren aus, nehmen bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessenstatbestände schon das erwartete neue Recht vorweg, praktizieren im Leistungsrecht schon heute – durch Vorschüsse auf geplante Besoldungserhöhungen oder Subventionssteigerungen – künftige Neuregelungen, verlegen den Geltungsanspruch des Gesetzes durch Verwaltungsvorschriften faktisch vor.21 Vorwirkungen erzielt das werdende Gesetz auch beim Bürger, bei Wirtschaft und Gesellschaft. Erwartet der Bürger vom neuen Gesetz eine Verbesserung seiner Rechtslage, wird er laufende Verfahren verzögern, Anträge möglichst spät stellen, seine Planungen schon auf das neue Recht ausrichten, damit Strukturbelebungen, Konjunktureffekte, Bildungsförderung ihn erreichen. Erwartet der Bürger vom neuen Recht eine Verschlechterung seiner Gesetzeslage, veranlasst er Eilmaßnahmen, um noch eine Steuer- oder Subventionsvergünstigung zu erreichen, gesellschaftsrechtliche Gestaltungen nach altem Recht vollziehen zu können, eine Fusion vor einer präventiven Fusionskontrolle zu vollenden, einen nur noch vorübergehenden Rechtsstatus zu erreichen, durch heutigen Vertrag preissteigernden Steuererhöhungen oder Erwerbsbeschränkungen zuvorzukommen.22 Und wenn die bessere Gesetzeslage noch nicht erreichbar, die schlechtere Gesetzeslage nicht mehr vermeidbar ist, wird der Bürger sich mit seinen Dispositionen in Dauerrechtsbeziehungen auf das neue Recht einrichten, noch bevor es in Kraft getreten ist. 3. Das Geltungsvertrauen in das Gesetz Für den Gesetzesbetroffenen stellt sich die Frage, auf welches Recht er bei einer sich ändernden Gesetzeslage vertrauen kann. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe und Befugnis, das Recht stetig weiterzuentwickeln, ein geltendes Gesetz durch ein anderes zu ersetzen. Deswegen darf der Gesetzesbetroffene nicht erwarten, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen.23 Rechtstaatlicher Vertrauensschutz24 verhindert nicht, dass das Recht geändert wird, sondern fordert schonende Übergänge beim Rechtsübergang. Setzt der Gesetzesbetroffene auf die neue, für ihn günstigere Rechtslage, so entstehen seine Ansprüche erst mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes. Erwartet er hingegen, das bisherige, begünstigende Recht werde fortbestehen, so stellt sich das rechtsstaatliche Problem, inwieweit gesetzlich gewährte Rechtsposi21

Vgl. dazu insgesamt Michael Kloepfer, a.a.O., S. 21 f. Vgl. Michael Kloepfer, a.a.O., S. 23 f. 23 BVerfGE 105, 17 (40) – Sozialpfandbriefe. 24 BVerfGE 72, 200 (241) – Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen; 97, 67 (78) – Schiffsbauabkommen; 105, 17 (36 f.) – Sozialpfandbriefe; 127, 1 (15 f.) – Spekulationsfrist; 127, 31 (46) – Entgangene Einnahmen; 127, 61 (75) – Beteiligungsquote. 22

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tionen für die Zukunft entzogen werden dürfen. Dabei ist selbstverständlich, dass der Gesetzgeber nur zukünftiges Verhalten regeln, das heute verbindlich werdende Gesetz allenfalls für heute den Staat zu Leistungen veranlassen, den Bürger zu Verhaltensänderungen verpflichten kann. Verhalten in der Vergangenheit wird von einer nachfolgenden rechtlichen Regelung nicht mehr erreicht. Für den Vertrauensschutz ist deswegen nicht die zeitliche Aufeinanderfolge von vorausgehendem Gesetz und nachfolgender Befolgung des Gesetzes ein Problem, sondern das Einwirken der neuen Regel auf vergangene, gesetzlich gestaltete Sachverhalte. Für diese Problemgruppen von Geltungsvertrauen und rückwirkender Gesetzgebung entwickelt sich gegenwärtig die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von einem zeitpunktbezogenen Dispositionsschutz zu einem zeitraumbezogenen Schutz des Geltungsvertrauens in gesetzlich gewährte Rechtspositionen. Bisher wurde der Gesetzesbetroffene in seinem Vertrauen auf das geltende Gesetz zur Zeit seiner Dispositionen geschützt.25 Die Bürger dürfen bei ihren auf eine bestimmte gesetzliche Regelung gestützten Entscheidungen darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber „nicht ohne sachlichen Grund von hinreichendem Gewicht die Rechtslage zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend zu ihren Lasten verändert“.26 Dispositionsschutz ist grundsätzlich zeitpunktbezogen. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens eines Gesetzes bestimmt den Beginn der Gesetzesgeltung. Stichtagsregelungen treffen Anwendungsanordnungen innerhalb eines verbindlichen Gesetzes, setzen das Inkrafttreten des Gesetzes voraus. Als Zeitpunkt, in dem der Bürger sich auf eine neue Rechtslage einrichten muss, sein Vertrauen in das geltende Recht also zerstört ist, dient teilweise der Zeitpunkt der Gesetzesinitiative,27 die Ankündigung des Änderungsvorhabens im Parlamentsausschuss durch die Bundesregierung,28 die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses,29 der endgültige Beschluss des Bundestages30 oder die Verkündung des Gesetzes.31 Seit langem allerdings lockert das Bundesverfassungsgericht diesen zeitpunktbezogenen Dispositionsschutz. Die Vertrauensschutzrechtsprechung ist vor allem im Steuerrecht bedeutsam und schützt dort das Vertrauen nicht, wenn der Steuerpflichtige während des Veranlagungszeitraums disponiert, sondern wenn die Belastungswirkung der Steuer nach Abschluss des Veranlagungszeitraums eintritt.32 Nicht das 25

BVerfGE 72, 200 (250 ff.) – Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen; 97, 67 (80) – Schiffsbausubvention; vgl. auch BVerfGE 127, 31 (46) – Entgangene Einnahmen. 26 BVerfGE 127, 31 (46 f.) – Entschädigungsvereinbarung. 27 BVerfGE 97, 67 (80) – Schiffbauverträge; 127, 31 (46 f.) – Entgangene Einnahmen. 28 Vgl. BVerfGE 72, 200 (250 f.) – Schiffsbausubvention. 29 BVerfG DStR 2012, 2322 (2327) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 30 BVerfGE 97, 67 (80) – Schiffbauverträge; 127, 31 (46 f.) – Entgangene Einnahmen. 31 BVerfG DStR 2012, 2322 (2325 f.) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 32 Vgl. im Einzelnen Paul Kirchhof, Einkommensteuergesetz Kommentar, 12. Aufl., 2013, Einleitung Rn. 51 f. m.N.

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Handeln, sondern die Betroffenheit bestimmt die Vertrauenswürdigkeit. Diese Neuausrichtung wird in der jüngsten Rechtsprechung in ersten Konturen deutlicher. Geschützt ist das Vertrauen in „die Gewährleistungsfunktion des geltenden Rechts“, „in die Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit der Rechtsordnung als Garanten einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung“.33 Schutz verdient die „konkret verfestigte Vermögensposition“, die nicht rückwirkend entwertet werden darf.34 Hier klingt der Gedanke an, der Gesetzgeber dürfe nicht in „wohlerworbene Rechte“ eingreifen, der unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung keine Rechtsschranke der Legislative, sondern Forderung der Gesetzgebungspolitik gewesen ist.35 In dem Beschluss zur rückwirkenden Senkung der Beteiligungsquote bei der Besteuerung privater Veräußerungsgewinne (§ 17 Abs. 1 EStG) hat das Bundesverfassungsgericht36 den Schutz für die konkrete verfestigte Vermögensposition deutlich gestärkt. Das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002,37 hatte die Beteiligungsquote für steuerfreie Veräußerungsgewinne von 25 auf 10 % gesenkt. Die Neuregelung galt ab dem Veranlagungszeitraum 1999, erfasst also alle im Jahr 1999 vollzogenen Veräußerungsgeschäfte, bezog damit auch Beteiligungsverhältnisse in die Neuregelung ein, die bereits vor Erlass dieses Gesetzes begründet worden waren. Die Beschwerdeführerin hatte eine Beteiligung unter 10 % am 28. 6. 1999, also nach Inkrafttreten des Gesetzes am 31. 3. 1999, veräußert, das Steuerentlastungsgesetz die Steuerfreiheit des Veräußerungsgewinns aber daran geknüpft, dass die 10 % Grenze im Zeitraum von 5 Jahren vor der Veräußerung nicht erreicht oder überschritten worden ist. Das Bundesverfassungsgericht sagt in diesem Fall, dass die Neuregelung keine Wertsteigerungen erfassen darf, die bis zur Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes (31. 3. 1999) entstanden und die entweder nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder – bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes – nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können. Soweit die Wertzuwächse des Steuerpflichtigen, der mit seiner Beteiligung unterhalb der 25 % Grenze blieb, unter Geltung der Steuerfreiheit entstanden sind, darf diese „konkret verfestigte Vermögensposition“ nicht rückwirkend entwertet werden. Gleiches gilt für den Fall, in dem ein Beschwerdeführer eine 14 % GmbH-Beteiligung am 11. 3. 1999, also noch vor Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes, teilweise veräußert hatte,38 sowie in dem Fall,39 in dem der Beschwerdeführer seit 1993 33 BVerfGE 127, 31 (57 f.) – Entgangene Einnahmen; DStR 2012, 2322 (2328) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 34 BVerfGE 127, 1 (15 f.) – Spekulationsfrist; 127, 61 (75) – Beteiligungsquote. 35 Georg Mayer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 645; Heinrich Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, 1841, S. 207 f. (differenzierend und einschränkend in der 5. Aufl. von 1865, Bd. II S. 496). 36 BVerfGE 127, 61 (75) – Beteiligungsquote. 37 Steuerentlastungsgesetz v. 31. 3. 1999, BGBl. 1999 I Nr. 15 S. 402. 38 BVerfGE 127, 61 (69 ff.) – Beteiligungsquote.

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einen GmbH-Anteil von 24,02 % hielt und diese Beteiligung am 23. 7. 2001 – zwei Veranlagungszeiträume nach Verkündung der Neuregelung – veräußerte. Die Steuerpflichtigen hatten mit ihrer Beteiligung unterhalb der alten 25 % Grenze nach altem Recht die Steuerfreiheit für ihre Wertzuwächse erreicht, also eine „konkret verfestigte Vermögensposition“ gewonnen, die nicht rückwirkend entwertet werden darf.40 Die Entscheidung zur Gewinnausschüttung an Streubesitzbeteiligte41 handelt vom Vertrauen in die Gewährleistungsfunktion eines Rechts, das die Begünstigten in Passivität – ohne Dispositionen – erreicht. Zu entscheiden war die Frage, ob die Vorabausschüttungen von Erträgen aus einer Streubesitzbeteiligung, die bisher nicht der Gewerbesteuer unterfielen, nunmehr als Gewinn der empfangenden Gesellschaft behandelt werden dürfen. Die Gewinnausschüttungen stützen sich bei Streubesitzbeteiligungen typischerweise nicht auf eine Dispositionsentscheidung des Minderheitsgesellschafters. Die Minderheitsgesellschafter haben allenfalls einen geringen Einfluss in der Gesellschafterversammlung, treffen jedenfalls keine maßgeblich verantworteten Dispositionsentscheidungen über die Gewinnausschüttung. Zudem ist die Entscheidung über die Gewinnausschüttung keine Maßnahme, die – bei einer Investitionsentscheidung – im Vertrauen auf den längerfristigen Bestand einer Rechtslage getroffen würde. Ein schutzwürdiges Vertrauen für den Minderheitsgesellschafter bei Empfang der Ausschüttung besteht deshalb weniger für seine Dispositionen, sondern „vorrangig in Hinblick auf die Gewährleistungsfunktion der Rechtsordnung“42. Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, genieße zwar keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Das Anliegen des Gesetzgebers, die Rechtsordnung stetig zu erneuern und zu verändern, „ziele indes auf künftige Rechtsänderungen und relativiere nicht ohne weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung innerhalb eines Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums“.43 Der Steuerpflichtige beansprucht aus der Gewährleistungsfunktion des geltenden Rechts einen Vertrauensschutz für einen Geschäftsvorgang, der durch einen „erkennund belegbaren gesteigerten Grad der Abgeschlossenheit“ gekennzeichnet ist.44 Der Schutz für diesen Geschäftsvorgang mit einem juristisch greifbaren Grad der Abgeschlossenheit beginnt nicht schon mit dem Gesellschafterbeschluss über die Vorabausschüttung, der keiner besonderen Formenbindung unterliegt, sondern erst mit dem Zufluss der Ausschüttung beim Empfänger. Dieser reale Zufluss ist unabhängig von der Geltung des Zu- und Abflussprinzips (§ 4 Abs. 3, § 11 EStG), auch unabhän39

BVerfGE 127, 61 (69 ff.) – Beteiligungsquote. Zu diesem „Entstrickungsgedanken“ vgl. Dieter Birk, Der Schutz vermögenswerter Positionen bei der Änderung von Steuergesetzen, FR 2011, S. 1 (7). 41 BVerfG DStR 2012, 2322 (2327) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 42 BVerfG DStR 2012, 2322 (2328) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 43 BVerfG DStR 2012, 2322 (2328) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 44 BVerfG DStR 2012, 2322 (2328) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 40

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gig von der Methode der Einkünfteermittlung, insbesondere unabhängig von der Frage, ob der Anspruch auf die Vorabausschüttungen schon im Zeitpunkt der Beschlussfassung der ausschüttenden Gesellschaft bilanziell aktiviert worden ist.45 Die „konkret verfestigte Vermögensposition“ entsteht erst mit dem Zufluss, mit dem Erwerb des Geldeigentums. 4. Rückwirkungen von Gesetzen Wenn das Vertrauen in eine individuelle „konkret verfestigte Vermögensrechtsposition“ gegen abrupte Änderungen durch den Gesetzgeber geschützt, auf schonende Übergänge angelegt ist, so meint diese Vermögensrechtsposition die gesetzlich verfestigte Grundrechtsposition. Das Steuerrecht greift mit seinen Änderungen in die Eigentumsgarantie ein, deren Inhalt und Schranken (Art. 14 Abs. 1 Satz 2) dieses normgeprägte Grundrecht empfängt. Das Umweltrecht regelt die Berufsausübungsfreiheit, formt also die Standards, unter denen erwerbswirtschaftlich veranlasste Umweltbedingungen zulässig sind. Das Presserecht umgrenzt den rechtlichen Rahmen, in dem die Medienfreiheit ausgeübt werden darf, prägt also den konkreten Inhalt der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit, der Pressefreiheit und der Rundfunkfreiheit. Die Vereinigungsfreiheit schützt Gemeinschaften, die auf Langfristigkeit angelegt sind, deswegen zwar nicht den Fortbestand gleichen Rechts, wohl aber schonende Übergänge erwarten dürfen. Artikel 6 Abs. 1 GG schützt die Familie als Erziehungs- und Unterhaltsgemeinschaft, die Ehe als Lebens- und Erwerbsgemeinschaft, bekräftigt in diesem besonderen Schutzauftrag die Verlässlichkeit der rechtlichen Grundlagen für familiäre und eheliche Statusentscheidungen. Beim Schutz verfestigter Vermögenspositionen wirkt vor allem das EStG als freiheitskonstituierendes Gesetz. Wenn es einen Steuersatz von 25 % vorsieht, ermächtigt es den Staat zu einem Eingriff in das Privateigentum in dieser Höhe, sichert aber zugleich die Privatnützigkeit des Einkommens in Höhe von 75 %. So begründet es eine „konkret verfestigte Rechtsposition“, ist dabei auf eine gewisse Dauer, auf Kontinuität angelegt, darf deshalb nicht in ständigen Änderungen zu einem Recht ohne Vorhersehbarkeit und Planbarkeit werden. Wenn so das Vertrauen in eine normgeprägte verfestigte Rechtsposition des Einzelnen geschützt wird, werden die Übergänge von echter und unechter Rückwirkung fließend.46 Nach traditioneller Rechtsprechung ist die gesetzliche Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegenden Zeitraum eintreten (echte Rückwirkung, Rückbewirkung von Rechtsfolgen), nach dem Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich unzulässig.47 Treten die Rechtsfolgen eines Gesetzes hingegen erst nach der Verkündung der Norm ein, erfassen aber tat45

BVerfG DStR 2012, 2322 (2330) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. BVerfG DStR 2012, 2322 (2326) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 47 BVerfGE 72, 200 (241) – Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen; 97, 67 (78) – Schiffsbausubvention; 105, 17 (36 f.) – Sozialpfandbriefe. 46

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bestandlich Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung des Gesetzes im Vertrauen auf die alte Rechtslage ins Werk gesetzt worden sind (unechte Rückwirkung, tatbestandliche Rückanknüpfung), so unterliegt diese Rückanknüpfung weniger strengen Beschränkungen.48 Die unechte Rückwirkung ist an den Grundrechten des Betroffenen – dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – zu messen, beurteilt sich also nach einer Abwägung zwischen dem Erneuerungsanliegen des Gesetzgebers und dem grundrechtlichen Schutz einer gesetzlich verfestigten individuellen Rechtsposition. In der neuesten Entscheidung zur rückwirkenden Erfassung von Gewinnanteilen im Gewerbesteuerrecht49 sagt das Bundesverfassungsgericht, rückwirkende Regelungen innerhalb eines Veranlagungs- und Erhebungszeitraums, die wegen der Entstehung der Steuerschuld nach Ablauf des Veranlagungszeitraums der unechten Rückwirkung zugeordnet werden, stünden „in vielerlei Hinsicht den Fällen echter Rückwirkung nahe“. In diesen veranlagungsbezogenen Fällen unechter Rückwirkung gelten „gesteigerte Anforderungen“. Ähnliches gilt für den Schutz konkret verfestigter Vermögenspositionen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip umschließt in der Breite seiner abgestuften Zulässigkeitsmaßstäbe das prinzipielle Rückwirkungsverbot ebenso wie die schonende Neuregelung für bereits ins Werk gesetzte Sachverhalte, verklammert also die Tatbestände von echter und unechter Rückwirkung. Eine rückwirkende Entwertung einer verfestigten Rechtsposition ist daher mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes nur vereinbar, wenn sie einem legitimen Gesetzeszweck dient, zur Förderung dieses Gesetzeszweckes geeignet und erforderlich ist und wenn nach Abwägung zwischen dem enttäuschten Vertrauen und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Bei dieser Abwägung bezeichnet das Ziel, die Rechtslage „zu verbessern“, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts50 nur ein allgemeines Änderungsinteresse, rechtfertigt nicht den rückwirkenden Zugriff. Das Ziel, einen „zweckwidrig überschießenden Vergünstigungseffekt abzubauen“, schafft keine Dringlichkeit, die eine Rückwirkungsanordnung plausibel erscheinen ließe. Das Anliegen der Missbrauchsbekämpfung begründet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts51 in erster Linie ein Zukunftsinteresse, kein Vergangenheitsinteresse, rechtfertigt also ebenfalls keine Rückwirkung. Das staatliche Ertragsanliegen – einschließlich der „Gegenfinanzierung“ anderweitiger Steuerentlastungen – erlaubt allenfalls zukünftige Regelungen, nicht die Erstreckung ertragbringender Neuregelungen auf die Vergangenheit. Das Bundesverfassungsgericht misst deshalb die Rückwirkung folgerichtig am Verhältnismäßigkeitsprinzip, anerkennt eine Rückwirkung nur, „wenn sie zur Förde48

BVerfGE 72, 200 (250 f.) – Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen; 92, 277 (344) – DDR-Spione; 97, 67 (79) – Schiffsbausubvention; 105, 17 (37) – Sozialpfandbriefe; DStR 2012, 2322 (2325 f.) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 49 BVerfG DStR 2012, 2322 (2326) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 50 BVerfGE 127, 31 (55) – Entgangener Gewinn. 51 BVerfGE 127, 31 (55) – Entgangener Gewinn.

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rung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt“.52 Der Gesetzesbetroffene muss eine Enttäuschung des Vertrauens in die alte Rechtslage nur hinnehmen, soweit dies aufgrund besonderer, gerade die Rückanknüpfung rechtfertigender öffentlicher Interessen unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist.53 Im Ergebnis fordert die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen,54 eine gewisse Kontinuität des Rechts. Der Gesetzesadressat weiß jedoch, dass die Gesetzesordnung in stetigem Wandel begriffen ist, es ein Vertrauen in eine unabänderliche Gesetzeslage nicht gibt.55 Der Bürger muss deshalb die Gesetzgebung beobachten und sich im Zeitpunkt der Gesetzesverkündung, bei dringlichem Änderungsbedarf sogar bei der Ankündigung der Änderung, auf eine Neuregelung einstellen.56 Wenn der Gesetzgeber dabei allerdings einen Konzeptwechsel vollzieht, der die verfestigten individuellen Rechtspositionen elementar verändert, darf dieses nicht rückwirkend geschehen. Wird ein bisher steuerunerheblicher Sachverhalt erstmals in die Steuererheblichkeit einbezogen, werden z. B. nicht steuerbefangene Beteiligungen für steuererheblich erklärt oder bisherige Spekulationsgeschäfte in einem Paradigmenwechsel57 als private Veräußerungsgeschäfte besteuert, so ist eine Rückwirkung ausgeschlossen. Der Gesetzesadressat steht bisher außerhalb eines Steuerrechtsverhältnisses, braucht also das Steuerrecht in seiner Entwicklung in der Regel nicht zu beobachten. III. Gleichheit in der Zeit 1. Der Auftrag des Gesetzgebers Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, jenseits der verfassungsfesten Identitätsgarantie des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) neues Recht zu schaffen, also rechtliche Ungleichheit zwischen gestern und heute verbindlich zu begründen. Der Vor-Behalt des Gesetzes und sein Vor-Rang sichern die Vorherigkeit, nicht den Bestand einer Regelung. Beide Prinzipien setzen voraus, dass der Gesetzgeber gestaltend in die Zukunft vorgreift, sodass die Rechtslage von heute nicht notwendig auch die von morgen sein muss.58 Gesetzgebungsbefugnis ist Änderungsbefugnis. Die verstetigende 52 BVerfG DStR 2012, 2322 (2326 f.) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung, m.w.N. 53 BVerfG DStR 2012, 2322 (2326) – Gewinnausschüttung bei Streubesitzbeteiligung. 54 BVerfGE 105, 17 (40) – Sozialpfandbriefe. 55 BVerfGE 105, 17 (40) – Sozialpfandbriefe. 56 BVerfGE 97, 67 (82) – Schiffbauverträge; 105, 17 (37) – Sozialpfandbriefe. 57 BVerfG, BStBl. II 2005, 398 (401). 58 Günter Dürig, a.a.O., S. 21 (33 f.).

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Kraft des Gleichheitssatzes wahrt deshalb nicht den Bestand des gewohnten und bewährten Rechts, sondern meint eine Gleichheit „vor dem Gesetz“, also dem demokratischen Handlungsinstrument, das Neues und Besseres schafft. Gesetzgebung ist stets Auseinandersetzung mit Vergangenem, die Unterscheidung zwischen Bewährtem und Verbesserungswürdigem, zwischen Erprobtem und Erneuerungsbedürftigem, ist Änderungswille in Würdigung und Wertung bisheriger Rechtspraxis. Damit verschiebt sich der Rechtsmaßstab vom Verbot, an Vergangenes anzuknüpfen, zur Verpflichtung auf Kontinuität, Vertrauensschutz, schonende Übergänge. Dabei ist eine Stetigkeit des Rechts Geltungsbedingung der Gesetze. Der Mensch kann nur das Gesetz befolgen, das ihn rechtzeitig anspricht, ihm ein Einüben des neuen Rechts erlaubt, seinen Vorhaben und Planungen eine verlässliche Grundlage gibt. Der Mensch gewinnt Vertrauen zu dem Recht, das ihm geläufig ist. Gute Gewohnheit ist geläufige Entstehensquelle für Recht.59 Wenn die Rechtsbeteiligten sich auf bestimmte Regeln eingerichtet haben, sich eine allgemeine Überzeugung von der Richtigkeit dieses Rechts gebildet hat, so entsteht Recht allein im Entstehensgrund der Gewohnheit und der Auffassung der Rechtsbeteiligten, dass diese Gewohnheit verbindliches Recht sei. Mit der Gesetzgebungsautorität des Parlaments wird diese im Gewohnten verstetigte Rechtsentwicklung allerdings beweglicher, wird der willentlichen Änderung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterworfen. Doch allein der Wille des Gesetzgebers wäre „Willkür“, erfüllte den Elementartatbestand des groben Unrechts.60 Willkür ist Wahl (kür) nach Wollen, Entscheiden und Handeln allein nach eigenem Willen.61 Dieses Entscheiden nach persönlichem Belieben weicht als Maßstab obrigkeitlichen Handelns von hergebrachten Schutz- und Treuepflichten ab, wird zur Unterdrückung des Volkes, zur Tyrannei.62 Staatliche Willkür ist der Gegenbegriff zur Gerechtigkeit.63 Das Willkürverbot garantiert deshalb mehr die Stetigkeit des Rechts, weniger die Gleichheit vor dem Gesetz.64 Das Gesetz ist strukturell auf Dauer, Stetigkeit, auf das dem Adressaten Bekannte, das für jeden Denkenden Nachvollziehbare angelegt.65 Die temporale Allge-

59 Paul Kirchhof, Gesetzgebung und private Regelsetzung als Geltungsgrund für Rechnungslegungspflichten, in: ZGR 2000, S. 681, 682; Bernd Rüthers/Christian Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl., 2010, § 6, Rn. 232. 60 BVerfGE 15, 126 (146) – Staatsbankrott; 54, 277 (296) – Ablehnung der Revision; 56, 1 (16) – Teilversorgung, stR. 61 Vgl. Daniel Thürer, Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, Veröffentlichungen des Schweizer Juristenvereins, 121, 1987, S. 417 (424). 62 Hans Huber, Der Sinnzusammenhang des Willkürverbots und die Rechtsgleichheit, in: Mélanges André Grisel, hg. v. Jean-François Aubert, 1983, S. 127 (132 f.). 63 Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl., 1959, S. 67. 64 Hans Huber, a.a.O., S. 128. 65 BVerfGE 71, 122 (136) – Prozesskostenhilfe im Verwaltungsprozess; in dieser Formel klingt die Lehre Immanuel Kants, Kritik der reinen Vernunft, 1781, an.

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meinheit ist eine Bedingung der Gesetzgebungsklugheit, auch der verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Gesetzgebung.66 Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber zur Prüfung, in welcher Hinsicht und in welchem Ausmaß Ungleichheiten zu schaffen, zu vermeiden oder in schonenden Übergängen herbeizuführen sind.67 Die verfassungsrechtliche Pflicht zur zeitgerechten Normierung68 wird in der Regel die Rechtsänderung nicht hindern, ein Verharren beim bisherigen Recht nicht erzwingen, sondern die inhaltliche Ausgestaltung des Rechtsübergangs prägen.69 Die Gleichheit in der Zeit70 suchte selbst in Phasen elementarer Rechtserneuerung den jähen Bruch zu vermeiden und schonende Übergänge zu schaffen. Die historischen Beispiele sind geläufig.71 Wenn der Inhaber päpstlicher Staatsgewalt die Rechtsakte seines Vorgängers insgesamt für rechtswidrig und deshalb für nichtig hält, wenn der Reichsdeputationshauptschluss 1803 die bisherige Rechtsordnung säkularisiert und wenn die neue Verfassungsordnung des Grundgesetzes ihre Regelungen denen des vorangehenden Unrechtsstaates entgegenstellt, so kann der Rechtsunterworfene sich an das neue Recht nur gewöhnen, wenn er es kennt, sich zu eigen gemacht und Erfahrung mit ihm gesammelt hat. Das Recht wird nur dem selbstverständlich, der es verstanden hat. 2. Das Beispiel der Wiedervereinigung Die Herstellung der Rechtseinheit im wiedervereinigten Deutschland bietet ein historisch einmaliges Anschauungsmaterial. Die Realitäten zweier bisher verschiedener, teilweise gegenläufiger Rechtsordnungen müssen angeglichen, zwei bisher getrennte Staatsvölker auf der Grundlage eines gemeinsamen Rechts zusammengeführt werden. Der Einigungsvertrag72 hat vermeintlich Unversöhnliches miteinander versöhnt. Der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-

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Vgl. im Einzelnen Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009. Reinhold Zippelius, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47, 1989, S. 7 (20 f.). 68 Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 55 f.; Peter Häberle, a.a.O., S. 111; Günter Dürig, a.a.O., S. 43 f. 69 BVerfGE 14, 288 (305) – Selbstversicherung; 29, 283 (298 f.) – Freiwillig Weiterversicherte; 45, 142 (173 f.) – Rückwirkende Verordnungen; 72, 200 (248 f.) – Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen. 70 Zur Unabänderlichkeit des Gleichheitssatzes auch gegenüber der Verfassungsänderung vgl. BVerfGE 84, 90 (120 f.) – Bodenreform I. 71 Hans Schneider, Die juristische Bewältigung der Vergangenheit. Betrachtungen über die Behandlung unrechter Herrschafts-Akte, in: ders./Volkmar Götz (Hrsg.), Im Dienst an Recht und Staat, Festschrift für Werner Weber, 1974, S. 14 (15 f.). 72 Zu dessen verfassungsrechtlichen Grundlagen in Art. 23 Satz 2 GG a.F. vgl. BVerfGE 82, 316 (319) – Einigungsvertrag. 67

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union73 sah die Währungsumstellung von DDR-M (Ost) auf DM (West) grundsätzlich im Verhältnis 2 : 1, für Guthabeninhaber mit Wohnsitz in der damaligen DDR jedoch bis zu DM 6000 im Verhältnis 1 : 1 vor. Diese Differenzierung hatte vor dem Gleichheitssatz Bestand, weil die Begünstigung gegenüber dem vertretbaren, das Vertrauen der Geldeigentümer wahrenden Umtauschkurs von 2 : 1 als Anpassungshilfe für die Geldeigentümer gerechtfertigt war, die wegen ihres Wohnsitzes abrupt in eine grundlegend veränderte geldpolitische Lage geraten sind.74 Die Erstreckung der 5 %- Sperrklausel des § 6 BWG75 auf das erweiterte Wahlgebiet verletzte die Chancengleichheit der Parteien, weil sie den bisher ausschließlich im Gebiet der DDR tätig gewesenen Parteien kaum Zeit ließ, im gesamten Gebiet des vereinten Deutschlands Kandidaten aufzustellen und Wähler zu gewinnen. Die auf dieses Gesamtgebiet bezogene 5 %- Klausel hätte deshalb eine 23 %- Klausel für das tatsächlich erreichbare Wahlgebiet bedeutet. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht angeordnet, es sei vereint zu wählen, aber die Bemessungsgrundlage der 5 %- Klausel bei der ersten gesamtdeutschen Wahl getrennt – je nach bisherigen Wahlgebieten – zu zählen.76 Soweit Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR mit dem Beitritt nicht erlöschen, sondern ruhen und beendet werden können, sind bei sachgerechter Abwägung zwischen dem Regelungsziel, eine moderne, nach rechtsstaatlichen Maßstäben arbeitende Verwaltung aufzubauen, und der Schwere des Eingriffs in die Rechtsposition der Betroffenen Differenzierungen notwendig, die insbesondere zugunsten der Schwangeren und Mütter nach der Entbindung einen Bestandsschutz fordern, dabei in den besonderen gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Art. 12 Abs. 1 und des Art. 6 Abs. 4 GG ihren konkreten Maßstab finden. Der allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet darüber hinaus keinen weitergehenden Schutz.77 3. Annäherung an einen rechtlich gebotenen Zustand Die Gesetzgebung in der Zeit steht vor besonderen Problemen, wenn äußere Verhältnisse den Gesetzgeber hindern, das rechtlich Gebotene zu regeln, ihm deshalb nur die Möglichkeit verbleibt, sich so weit als möglich dem rechtlich gebotenen Zustand anzunähern. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zum Saarstatut78 den Rechtsgedanken anerkannt, dass rechtliche Regelungen, die eine bestehende, mit 73 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v. 18. 5. 1990, BGBl. II, S. 537. 74 BVerfG, Beschl. v. 08.08.1990 – 2BvR 924/90 – Umtauschregelung DM – DDR-M. 75 Durch den Wahlvertrag vom 03. 08. 1990, BGBl. II S. 813. 76 BVerfGE 82, 322 – Gesamtdeutsche Wahl. 77 BVerfGE 84, 133 – Warteschleife. 78 BVerfGE 4, 157 (168 f.) – Saarstatut.

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der Verfassung nicht übereinstimmende Ordnung schrittweise abbauen, dann nicht als verfassungswidrig qualifiziert werden dürfen, wenn der durch sie geschaffene Zustand „näher beim Grundgesetz steht“. Die dort durch die Besatzungsmächte erzwungenen Einschränkungen können für eine Übergangszeit hingenommen werden. Das verfassungsrechtliche Wiedervereinigungsgebot ließ sich nur im Zusammenwirken mit den Siegermächten verwirklichen, brauchte also auch eine Phase gestufter Annäherung.79 Nach der Wiedervereinigung hatte das Bundesverfassungsgericht gelegentlich die unterschiedlichen Teilordnungen West und Ost durch vorläufige Anordnungen zu überbrücken. Beim Schutz des vorgeburtlichen Lebens kannte das Recht der alten Bundesrepublik die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs, das Recht der ehemaligen DDR gewährte einen Anspruch auf Schwangerschaftsabbruch nach ärztlichem Votum.80 Auch bei komplexen, in der Entwicklung begriffenen Sachverhalten kommt dem Normgeber ein zeitlicher Anpassungsraum zu.81 Im Bereich des Finanz- und Steuerrechts gibt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber häufig Zeit zu einer gesetzlichen Anpassung. Die Finanz- und Haushaltsplanung ist grundsätzlich auf das Jährlichkeitsprinzip angelegt. Würde nun ein Steuergesetz, das einen Haushalt zu wesentlichen Teilen finanziert, nach der ex-tunc-Regel rückwirkend für verfassungswidrig erklärt, so müssten zurückliegende abgeschlossene Veranlagungen aufgehoben, vergangene Haushalte aus gegenwärtiger Steuerkraft oder Kreditwürdigkeit finanziert werden. Deswegen entwickelt das Bundesverfassungsgericht neben der Nichtigkeitserklärung die Unvereinbarkeitserklärung, die dem Gesetzgeber eine Anpassungszeit zubilligt und schonende Übergänge ermöglicht.82 Auch in der gegenwärtigen Finanz- und Verschuldungskrise steht der Staat vor der Aufgabe, sich baldmöglichst und stetig dem rechtlich gebotenen Zustand83 anzunähern. Dazu sieht Art. 143 d GG haushaltsrechtliche Anpassungsstufen bis zum Haushaltsjahr 2016 für den Bund, bis zum Haushaltsjahr 2020 für die Länder vor, anerkennt damit, dass eine Haushalts- und Schuldensanierung nach dem Jährlichkeitsprinzip der Staatshaushalte nur in gestuften Schritten möglich ist.

79 BVerfGE 36, 1(18 f.) – Grundlagenvertrag; 77, 137 (149 f.) – Teso; vgl. auch BVerfGE 14, 1 (7) - Überleitungsvertrag; 15, 337 (348 f.) – Höfeordnung für die britische Zone; 27, 253 (282) - Besatzungsschäden; 82, 316 (321) – Einigungsvertrag. 80 BVerfGE 88, 203 (209 f.) – Schwangerschaftsabbruch II. 81 BVerfGE 54, 173 (202) – Ausbildungskapazitäten; 56, 54 (81 f.) – Fluglärm; 85, 97 (107) – Lohnsteuerhilfevereine; Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., 2010, Rn. 432 f. 82 BVerfGE 93, 121 (148 f.) – Vermögenssteuer; 93, 165 (178 f.) – Erbschaftssteuer; 101, 158 (237 f.) – Finanzausgleich IV, Maßstäbegesetz. 83 Vgl. die neuen Verschuldungsgrenzen des Art. 109 und Art. 115 GG, für das Europarecht insbesondere die Grenze von 60 % des Bruttoinlandsprodukts, Art. 126 AEUV.

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IV. Bewahren und Erneuern Die Verfassung ist das Gedächtnis der Demokratie, gibt erprobte Werte, bewährte Institutionen und gefestigte politische Erfahrung an die Gegenwart und Zukunft weiter84. Erst auf dieser Grundlage von Beständigkeit und Dauerhaftigkeit entwickelt die Rechtsordnung Instrumente, um das Recht zu erneuern und auf die Zukunft auszurichten. Erneuerer ist das demokratische Parlament, das eine alte Regel durch eine neue ersetzen kann. Individuell erlaubt das Grundrecht auf Freiheit dem Berechtigten, sein bisheriges Verhalten zu ändern und auch die ungewohnte, die unkonventionelle, die bewusst gegen Konformität und Kontinuität gestellte Verhaltensweise zu wählen. Michael Kloepfer hat sich immer wieder die Freiheit genommen, diese Entwicklung des Rechts zwischen Herkömmlichem und Zukünftigem, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Vertrautem und Überraschendem zu beobachten, zu analysieren und gedankenreich anzuleiten.

84 Paul Kirchhof, Das Grundgesetz als Gedächtnis der Demokratie – Die Kontinuität des Grundgesetzes im Prozess der Wiedervereinigung und der europäischen Integration, in: Martin Heckel, Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Band 82, 1996, S. 35 ff.

Staatstradition in Frankreich und Deutschland „Europäische“ Besinnung auf Nähen und Fernen Von Walter Leisner Michael Kloepfer ist einer jener Gelehrten, mit denen Freundschaft verbindet, gerade weil sie auch andere Wegen gehen als diejenigen, auf denen man sich – oft allzu gewohnt – bewegt. Der junge Berliner Professor war aufgeschlossen für so manches Neue, das sich inzwischen bewährt – und auch überlebt hat. Er hat Traditionen in Frage gestellt – und zu ihnen zurückgefunden, ja sie neu mit-begründet. Ein Blick auf sein Schrifttumsverzeichnis zeigt es; er selbst kann es am besten bewertend einordnen. Deshalb seien ihm hier die üblichen, allzu kurzen, Global-Beurteilungen zu diesem glücklichen Geburtstag erspart. Er gerade wird das Folgende verstehen, er hat es erlebt und gelebt. Und in seinem Berlin stehen zwei Dome: Mahnmale der Besinnung auf die Traditionen zweier naher und ferner Länder. I. Europa der Traditionen – Europa aus Tradition(en) Wie immer Überlieferung zu verstehen ist, Herkommen, Hergebrachtes – Europa hat ihrer so viele wie kein anderer Teil der Welt. Ihre Rezeptionen in Staatlichkeit, Entfaltung in dieser, Verfestigung in ihren Strukturen charakterisieren deutlicher als andere Besonderheiten „Old Europe“ – im „Alter“ seiner Traditionen, die deren Wesen prägt. Zusammenwachsen will diese Vielfalt1 zu einem staatlichen Gebilde; sie bestätigt es sich selbst in ihrer eigenen Namensentwicklung: Von den „Europäischen Gemeinschaften“ über die „Gemeinschaft“ zur „Europäischen Union“2 – einer Entwicklung, die immerhin schon so manches Traditionspotenzial hervorgebracht hat, etwa in der Potenzierung des uralt-gleichen, doch ständig sich wandelnden Begriffs des (Gemeinsamen) Marktes, vor allem aber geradezu einer eigenen Form von 1 Der Begriff der Vielfalt, der ja auch im Staatsrecht seinen Platz hat (vgl. Leisner, A., Vielfalt – ein Begriff des Öffentlichen Rechts, 2004), gewinnt hier eine neue Dimension, ausgehend vor allem von seinen föderalen Erscheinungsformen. 2 Dass mit dieser Begrifflichkeit bereits eine Grundentscheidung zwischen den Zentralbegriffen der Staatenverbindungen gefallen ist (vgl. dazu Ipsen, K., Völkerrecht, 5. A. 2004, § 5 Rz 25 f.) – zugunsten des Bundesstaates gegen den Staatenbund – hat bisher offenbar ins juristische Bewusstsein noch nicht Eingang gefunden. Die prinzipielle Diskussion darüber läuft politisch weiter.

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„Groß-Tradition“: „Über Ökonomie zur Staatlichkeit“. Lebt dieses Europa nicht bereits aus einer neuartigen Tradition einer Staatlichkeit sui generis? Doch auf Tradition seiner Glieder will solches Denken nicht verzichten. Gerade aus ihnen soll es erwachsen, sie schonen in Subsidiarität,3 seine allgemeinen Rechtsgrundsätze4 aus ihren Ordnungen beziehen. In voller Breitenwirkung tragen die nationalen Akteure das ihnen noch immer letztlich allein geläufige staatsrechtliche Herkommen in die Europäischen Organisationsstrukturen. Dort prägt es Formen und Inhalte der Arbeit der Kommission, erst recht in Entscheidungen im Europäischen Rat. Kompromiss der Traditionen? Sie bleiben „unter“ einem solchen, er schafft sie allenfalls neu. II. Tradition und Verfassung in Deutschland – „Staatstradition“ 1. Gäbe es Tradition im Staatsrecht nicht, sie müsste wohl neu erfunden werden. Ein zu einendes Europa verlangt ein integratives Zusammenwachsen. Einzelne Verfassungsvorstellungen aber bleiben disparat, Organisationsstrukturen sperrig. In Schwerpunktbildungen, Konturen, Prinzipalitäten bietet „Staatstradition“ Traditionalität im Verfassungsrecht der Nationalstaaten, flexibles, ein- und verbaubares Material für ein Europäisches Haus. Gerade mit Blick auf Europa müssen Verfassungstraditionen in den Staaten gesucht werden – um darin dann vielleicht abzusterben. Es gibt sie, diese „Tradition im Verfassungsrecht“, auch, selbst in Deutschland. In einer Untersuchung sind ihre Voraussetzungen, Inhalte und Wirkungsweisen kürzlich dargestellt worden.5 „Herkommen“ ist als solches als ein (unbestimmter) Verfassungsbegriff zu verstehen, der in verfassungsrechtlicher Betrachtung,6 immer aber zugleich mit rechtsdogmatischem Anspruch, zu verdeutlichen ist. Er wird zur rechtlichen Geltungs- und Bindungsform,7 hebt sich aber ab vom Gewohnheitsrecht.8 Stets wirkt diese Überlieferung im Rahmen des gesetzten Rechts, welches sie sowohl rezipiert als auch weiterentwickelt, ja neu schafft. Erkannt wird sie in Auslegung und

3 Molsberger, Ph., Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung, 2009; Albin, S., Das Subsidiaritätsprinzip in der EU – Anspruch und Rechtswirklichkeit, NVwZ 2006, 629. 4 Moser, M. K., Allgemeine Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des EuGH als Katalysatoren einer europäischen Wertegemeinschaft, ZfRV 2012, 4; Schwarze, J., Zwischen Tradition und Zukunft: Die Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze im Recht der Europäischen Union, DVBl. 2011, 721. 5 Vgl. dazu Leisner, W., Tradition und Verfassungsrecht. Zwischen Fortschritthemmung und Überzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft?, 2013. 6 Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 54 ff. 7 Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 41 ff. 8 Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 47 ff.

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einer Abwägung9 gegenüber den Gewichten anderer Inhalte von Rechtssetzungsvorgängen. Immer steht sie jedoch unter dem Primat, in der Demokratie unter dem Änderungsrecht, der staatsrechtlich jeweils zuständigen Mehrheiten. 2. Die grundgesetzliche Ordnung ist als solche keine „Verfassung in Tradition“ oder aus einer solchen. Sie ist aus Traditionsbrüchen erwachsen. Dennoch bewahrt sie in ihren Institutionen vielfältige „Traditionspotenziale“, vor allem im Bereich der Grundrechte, des Föderalismus und der Selbstverwaltung.10 Dies mag es sogar gestatten, in Zusammenschau von einer Art von „Staatstradition“ zu sprechen, in der sich die politische Gemeinschaft hierzulande organisiert hat. Sie zeigt sich nicht als rechtlich geschlossenes System oder in dominant prägenden einzelnen Inhalten, sondern allenfalls in gewissen Grundzügen. Wesentlich ist dabei vor allem, was in diese Staatstradition an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und vor allem auch kulturellen Lagen und Entwicklungen eingeflossen ist. Dies aber erschließt sich besonders deutlich in einem Traditionsvergleich mit benachbarten Staatsordnungen, wie dies Gegenstand der folgenden Betrachtungen ist – mit Blick auf Frankreich. III. „Deutsch-französische Freundschaft“ – eine staatsrechtliche Vorgabe mit Tradition? „Verfassungsgrundstimmung“ ist – anders als „Tradition“ – kein Begriff des Staatsrechts; dieses kennt aber immerhin Grundentscheidungen.11 Sie sind von politischem Gehalt, durchaus aber verfassungsrechtlicher Verfestigung zugänglich; das Bekenntnis zu Europa in der Präambel des Grundgesetzes belegt es.12 Als eine solche „Staatsgrundbestimmung mit Grundentscheidungsgehalt“, als festen Bestandteil geradezu einer „deutschen Staatsräson“, mögen nicht wenige heute die „Deutsch-Französische Freundschaft“ sehen. Dass sie vor allem dann beschworen wird, wenn sie sich nicht gezeigt hat, ist legitim und eher ein Zeichen der Festigkeit. Von einer Staatstradition wird man hier aber kaum sprechen können, erst recht nicht von einem „staatsrechtlichen Herkommen“. Dem steht schon die „gleichberechtigte Mitgliedschaft“ (Präambel) entgegen, die eben auch rechtliche Präferenzbeziehungen zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten nur im jeweiligen Europäischen Rechtsrahmen zulässt.13 9 Vgl. dazu Leisner, W., Der Abwägungsstaat. Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit, 1997, vor allem in traditionswirksamen Bereichen, z. B. Revolution (S. 129 f.), Staatsbauten (S. 199 ff.). 10 Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 97 ff. bzw. 113 ff. 11 Zu diesen sind auch die „teleologischen Entscheidungen“ der Staatszielbestimmungen zu rechnen, vgl. dazu grdl. Sommermann, K.-P., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997. 12 BVerfGE 123, 267 (245 f.). 13 Dass dies auch eine rechtliche Hürde für deutsch-französische Präferenzbeziehungen sein könnte, gerade aus deutschem Staatsrecht heraus, ist noch nicht näher problematisiert worden, vgl. etwa Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG 6. A. 2010, Prämbel Rz 40 ff.

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Freundschaftliche Beziehungen zwischen Staaten mögen „traditionell“ sein, wie etwa zwischen angelsächsischen Ländern; einheitliche „Staatstraditionen“ werden damit aber nicht begründet, Verfassungstraditionen bleiben unterschiedlich, auch in ihren einzelnen Elementen und Potenzialen. Einer politischen „Deutsch-Französischen Freundschaft“ stehen also unterschiedliche Staatstraditionen in den beiden Ländern zwar nicht grundsätzlich im Wege; noch weniger verlangt jene aber nach verfassungsrechtlicher Einebnung, mag sie auch Übernahmen begünstigen. Niemand hat derartiges je von einer Entente cordiale zwischen Frankreich und England erwartet, die immerhin zwei Weltkriege erfolgreich bestanden hat. Eine Verständigungspraxis auf vertraglicher Grundlage, bis hin zu organisationsrechtlichen Annäherungen mag auf Dauer zu Konvergenzen auch im Bereich dessen führen, was die jeweilige „Staatspraxis“ konstituiert. Diese ist aber insgesamt noch immer mehr ein Begriff staatlicher Eigenständigkeit als ein solcher für herkömmliche Gemeinsamkeiten. Diese Bemerkungen sind schon deshalb veranlasst, weil seit langem die „Deutsch-Französisch-Freundschaft“ – was immer sie bedeuten mag – in einem Gemenge von politischen, verfassungs- und europarechtlichen Argumentationen beschworen wird. Gängig ist ihre Begründung als notwendiges Ergebnis „verheerender Kriege“14. Weit härter und tiefer war jedoch geschichtlich Frankreichs Gegnerschaft zu England. Im technischen Entwicklungszustand der Massenvernichtungswaffen bedarf es auch keiner derartigen Begründung mehr, allenfalls einer „Verständigung“, um solche Konflikte auszuschließen. Wen man nicht töten will oder kann, den muss man deshalb nicht umarmen. Rivalität, ja Antagonismus zwischen Deutschland und Frankreich wird und muss sich auch künftig zeigen. Sentimentalismen wie Moralismen, die für Tradition allerdings Gewicht haben könnten, sind meist politisch wirkungsschwach. Im Staatsrecht bedeutet Freundschaft gegenseitiges Lernen – deshalb soll im Folgenden der Blick auf Staatstraditionen fallen. Sie befruchten in beiden Ländern – wo sich diese nahe sind, gerade aber auch dort, wo größere Distanzen festgestellt werden müssen; es gilt, diese zu verringern, auf europäischen Wegen. IV. Deutsch-französische staatstraditionelle Nähe 1. Von einer deutlichen „Nähe“ deutscher und französischer Traditionen geht das Recht weiterhin aus, und zwar „herkömmlich“, etwa in jenem Privatrecht, welches einen „deutsch-rechtlichen“ und „französisch-rechtlichen“ Rechtskreis deutlich den „ganz anderen“ angelsächsischen Bereichen gegenüberstellt.15 Dass dies das 14

Nachw. bei Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, 12. A. 2012, Präambel Rz 4. Zu diesen deutschen und französischen Rechtskreisen im Internationalen Privatrecht vgl. etwa Sturm, F./Sturm, G., in: Staudinger, BGB Neubearbeitung 2003, EGBGB Einleitung zum Internationalen Privatrecht, Rn 581 ff. 15

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„Rechtsdenken“ der betreffenden Länder insgesamt prägt, methodisch wie inhaltlich, ist selbstverständlich. Es wirkt in den grund- wie organisationsrechtlichen Verfassungsbereich hinein, schon über die „Allgemeinen Rechtsgrundsätze“16. Dies gilt selbst dann, wenn man nicht von immer stärkerer Überwindung des Privaten auf das Öffentliche Recht ausgeht, bis hin zu Formen – und eben bald auch Traditionen – eines „Privaten Staates“17. Das römische Recht als dogmatische Ausgangslage wirkt weiter; gerade jene Kodifiktationsidee, welche solche Wirkungen abschwächen konnte, hat eine methodisch-dogmatische Nähe zwischen Frankreich und Deutschland wiederum befördert, mit geradezu rechtsgrundlegender Wirksamkeit. 2. Von ganz anderer Art ist eine Nähe der beiden Rechtsentwicklungen, welche sich bei einer Suche nach Berührungen von Staatstraditionen, geradezu als eine historische Verwandtschaft im Geistigen zeigt: Die Staatslehre der Aufklärung. Hier hat Gallia Magistra als Historia Magistra der Staatsideen, unauslöschliche Spuren in der Deutschen Staatslehre hinterlassen – Montesquieu, als Vermittler Englands, und Rousseau nur als Beispiele für Gewaltenteilung und Volkssouveränität.18 Die großen Strömungen freiheitlicher und demokratischer Staatlichkeit sind in Deutschland zu allererst in der exemplarischen Begriffsklarheit der französischen Denk- und Ausdrucksformen vermittelt und übersetzt worden in Überlieferung. „Verfassungsfreiheit aus Feudalismus heraus“ – das war und bleibt eine gemeinsame „Staatslage“ und grundlegende Staatsaufgabe, eine teleologische Begründung gemeinsamer Staatstraditionen. 3. Wirkt solche Staatslehren-Nähe „von Oben“, in grundsätzlich-systematischer Deduktion traditionsgünstig, und bereits in Dauer, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, so zeigt ein anderer Strang Staatstraditions-Effekte in einer „Entfaltung von Unten“: das Verwaltungsrecht. Dieser große „Rechtsimport aus Frankreich“ hatte bereits in den Vorbildwirkungen der Verwaltungsstaatlichkeit Ludwig XIV. und des Colbertismus19 begonnen; sie setzten sich fort in der Übernahme napoleonischer Strukturen, führten über das französische Legalitätsdenken bis zur gerichtsähnlichen Verwaltungskontrolle (Conseil d’Etat), die dann, in deutscher Tradition der unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit20 perfektioniert, wiederum nach Frankreich zurückwirkte. Das Werk Otto Mayers21 ist ein Monument staatsrechtlicher deutsch16

s. Fn. 4. s. dazu Leisner, W., „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts, von der Hoheitsgewalt zum gleichordnenden Privatrecht, 2007, S. 146 f.; ders., Wettbewerb als Verfassungsprinzip, 2011, S. 160 ff. 18 s. dazu Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 24 f.; zu Rousseau neuerdings Kroll, F.-L., Rousseau in Preußen und Russland, 2012. 19 Dazu Malettke, K., Jean-Baptist Colbert: Aufstieg im Dienste des Königs, 1977. 20 s. Montag, M., Die Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Baden, BWVBl. 1992, 194 ff., 391 ff. 21 Theorie des Französischen Verwaltungsrechts, 1886, Nachdr. 1998, auf der Otto Mayers „Verwaltungsrecht“ in zahlreichen Auflagen aufbaute. 17

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französischer Tradition, in seiner staatsgrundlegenden Wirkung der Handlungsformen der Zweiten Gewalt. Wo Verwaltungsstaatlichkeit ist in Deutschland, da wird französisch gedacht, von jeher. Hier ist also deutlich – gemeinsame Staatstradition. 4. Dies alles sind allerdings Formen der Wirkungsnähe im Staatsrecht aus einer gewissen methodischen und sachlichen Distanz heraus. Ihr Denken wirkt auch auf Kriterien und Kategorien des Verfassungsrechts, in jenen Bereichen werden wichtige Gegenstände seines übergreifenden Ordnens rechtlich bereitgestellt, bereits vorgeformt. Doch auch in einzelnen typisch staatsrechtlichen Formen dieser Staatsordnung, im Freiheitsschutz wie, vor allem, im Staatsorganisationsrecht, zeigen französische Vor-Läufer wie Nach-Formungen deutscher Entwicklungen Gemeinsamkeiten einer Staats-Tradition. Auch hier mögen wenige Hinweise genügen. Die „Verfassungsidee“ kam als eine solche eindeutig aus Frankreich in die deutsche Staatspraxis des 19. Jahrhunderts. Die französischen Verfassungsabfolgen seit der Großen Revolution waren, bis zur „Verfassungsmüdigkeit“ der grundlegenden Gesetze der III. Republik, geradezu etwas wie ein politisch-staatstechnisches Laboratorium, hier entstanden Prototypen gewaltenteilender, radikal volkssouveräner, aber auch autoritär geprägter Verfassungssystematik. Einzelbegriffe wie ganze Organisationssysteme aus Frankreich waren Vorbilder in Deutschland – man denke nur an die Kontrollformen der Ersten Gewalt, bis hin zu Organisationsformen des Parlamentsrechts. In Frankreich berief sich die Staatslehre22 schon auf Verfassungstraditionen der Gewaltenteilung in den Deutschen Einzelstaaten des 19. Jahrhunderts und den Staatsvorstellungen der Bismarckzeit. Später hat die Weimarer Reichsverfassung, nicht so sehr zu ihrer Geltungszeit als später in der Verfassung der V. Republik Frankreichs eindeutig mit ihren präsidentiellen Strukturen französische Verfassungstraditionen napoleonischer Prägung befruchtet. 5. Traditionsbildende Einflüsse von Gewicht konnten also, schon aus politischmilitärischen Übergriffen und damit auch Überwirkungen, vielfältige Nachbarschaftsbeziehungen französischer und deutscher Staatstraditionen bringen. Gemeinsamkeiten einer Staatstradition mag man dies dann nennen, wenn man auf Formen und Kategorien grundsätzlich staatsrechtlichen Denkens abhebt, organisationsrechtliche Traditionspotenziale in ihren Vorbildwirkungen betrachtet. In all dem ist – viel – Staatstechnik, es sind dies durchaus tragende Kräfte einer Staatstradition. Und doch ist nicht zu übersehen: Makro-traditionell betrachtet ist Frankreich „ganz anders“ in vielem – Entscheidendem: V. Französische Ferne in Staatstradition 1. Von einer historischen Fehlvorstellung in der Beurteilung der „Staatstraditionen“ in Frankreich gilt es zunächst Abschied zu nehmen: unterschiedliche Bewer22 Grdl. Carré de Malberg, R., Contribution á la Théorie générale de l‘Etat, 1920; ders., La Loi – expression de la volonté générale.

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tung nach dem Kriterium einer „Militärstaatlichkeit“. Die besatzungsrechtliche Frontstellung gegen den „Militarismus“ in Deutschland nach 1945 und die staatsrechtliche Auflösung Preußens als dessen Ursprung und Träger beruhten, jedenfalls staatsrechtlich, auf historisch einseitiger Sicht. Formen einer Militärstaatlichkeit, in gesellschaftlicher Hochschätzung der Bewaffneten Macht, ihrer edukativen Wirkung als „Schule der Nation“, politische Dominanz von „Militärkasten“, Durchorganisation der Staatlichkeit nach deren befehlsgeprägter Vorbildlichkeit – all dies waren und sind staatsrechtlich-politische Erscheinungen, die rechtlicher Kategorisierung grundsätzlich zugänglich sein mögen. In ihrer Vielfalt wie auch in der Intensität ihrer Wirkungen taugen sie aber nicht konkret zur Unterscheidung gerade „deutscher“ von „französischer“ Traditionalität. Frankreichs Staatlichkeit trägt schon seit Jahrhunderten „militärische Züge“, in der Staatlichkeit bereits zu Zeiten des Sonnenkönigs, besonders aber in napoleonischen Überlieferungen.23 Invalidendom und Arc de Triomphe sind für die Franzosen auch heute noch keine Marginalien unter ihren vielen Staatsbauten. Die historische von einem mächtigen Adel getragene, von einem erstarkten Bürgertum in dessen Überlieferungen fortentwickelte französische Armee war Preußen wie Deutschen über viele Generationen ein gefürchtetes wie bewundertes Vorbild. Parallel wuchsen daraus Wilhelminische Eitelkeiten wie Französischer Revanchismus nach 1870. Wenn etwas Franzosen und Deutsche nicht trennt, sondern verbindet, so ist es „militärisches Denken im Staat“, in beiden Ländern schwächt es sich ab, damit verliert sich eher etwas wie eine „gemeinsame Staatstradition“. 2. In wahrhaft unterscheidender Ferne wirkt aber ein anderes, mit der historischen Macht einer wahrhaft ungebrochenen Tradition in Frankreich: ein Staatsbewußtsein der selbstverständlichen, stets auch so verstandenen Einheit des Landes in seiner Staatsorganisation. Man mag dies mit „Republik“ benennen, im Rückgriff auf die Große Revolution – es ist aber eben keine rechtliche Staatsform, sondern ein rechtswirksames Staatsbewußtsein: „Le Pouvoir“, „L’Autorité“ sind überall gegenwärtig in Frankreich, in ihnen „ist der Staat die französische Staatsform“. Der „Verwaltungsstaat“ ist eine indiskutabel-selbstverständliche französische Tradition, wie es sie vielleicht in Ansätzen in der Donaumonarchie, nie aber in vergleichbarer Weise in Deutschland gegeben hat.24 Staatliche Organisationsformen, -rechte, -qualitäten haben, bis in ihre technischen Ausgestaltungen hinein, ein Eigengewicht in der französischen, wie immer im Einzelnen organisierten, Gemeinschaft. Es kommt aus einer Staatstradition, welche im Letzten eben doch als eine Einheit gesehen werden kann, weil sie in ungebrochener Tradition einher kommt, wirkt bis in alle Einzelheiten des Verhaltens öffentlicher Träger.

23 Hier haben militärische Strukturen die Verwaltungs- wie auch die Bildungsstaatlichkeit entscheidend geprägt, etwa in jenen „Grandes Ecoles“, die aus militärischen Zielsetzungen heraus entstanden und bis in die Gegenwart weiterentwickelt worden sind. 24 Sieht man von bayerischen administrativen „Gallicismen“ ab, wie sie Montgelas gebraucht hat.

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3. Ungebrochene Staatstradition wie sie in Frankreich trägt – das ist schlechthin „eine andere Tradition“ als in Deutschland. Frankreich ist so oft von Deutschen geschlagen worden – von Blücher, Moltke, den Generälen von 1940. An der Grande Nation ist dies stets rechtlich vorübergegangen, ihre Vergangenheitsbewältigung war Revanchedenken von „Générations des battus“. Staatsmoralisch war es aber ohne Belang, denn die große Staatsdevise von 1789 – Liberté, Egalité, Fraternité – blieb über ihrem Staatsgebäude stehen, auf ihrem schützenden Staatswappen-Schild. Die ganz große staatsrechtliche Selbstverständlichkeit, mit welcher dies vor allem „Verfassungsvoraussetzung“25 ist, hebt diese französische Staatstradition ab von deutschen, ebenfalls herkömmlichen juristischen Grundrechtsbemühungen in Katalogen von Freiheitsrechten.26 Die französische Freiheitsrechtlichkeit ist seit 1789 ungebrochene und daher geradezu ungeschriebene Staatstradition, wie eine solche auch die französische verwaltungsorganisierte Staatlichkeit in ihrer Einheit darstellt, seit dem Hohen Mittelalter. Monarchie und Republik sind dort wahrhaft verbunden, über einen staatsrechtlichen Erbgang, in einer Tradition, die der größte staatsrechtliche Bruch der bekannten Geschichte 1789 nicht brechen konnte – fortgesetzt hat. 4. In Deutschland ist solche „Einheit in großer Staatstradition“ bereits einem großen Träger deutscher Staatstradition zum Opfer gefallen: jenem Deutschen Föderalismus,27 dem hierzulande die wohl größte Traditionspotenzialität im Staatsrecht zukommt. Es beschränkt sich dies nicht auf die Komplexität der Mitwirkungsformen von Ländern bei der Gesetzgebung,28 mögen sich auch hier bereits kleinere Traditionsströmungen entwickelt haben – immer von neuem umgeleitet. Es ist letztlich diese staatsrechtliche Vielfalt, welche das „Denken der Deutschen im Öffentlichen Recht“ prägt29 – das es in Frankreich in vergleichbarer Traditionalität nie gegeben hat. In „Selbstverwaltungstraditionen“30 setzt sich dies verändert fort, bis in Formen Funktionaler,31 insbesondere handwerklicher Selbstverwaltung. Hier lebten zünftische Vorstellungen in Deutschland weiter, „höchst lebendig“, welche in Frankreichs Staatstradition nie vergleichbares Gewicht erlangt haben, jedenfalls aber, als „Zwischengewalten“, 1789 von der Revolution gebrochen wurden, im Namen der Volkssouveränität.

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Dazu grdl. bereits Krüger, Herbert, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, FS f. Ulrich Scheuner, 1973, S. 285 ff. 26 Dazu bereits Isensee, J., Grundvoraussetzungen und Verfassungserwartungen zur Grundrechtsausübung, HBStR 1992, § 115. 27 Zum Traditionspotenzial des Deutschen Föderalismus vgl. Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 118 ff. 28 Dazu, insb. im Rahmen von Art. 79 Abs. 3 GG, Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 122 f. 29 Zur Vielfalt vgl. Fn. 1. 30 Vgl. Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 126 ff. 31 Grdl. Kluth, W., Funktionale Selbstverwaltung, Verfassungsrechtlicher Status – verfassungsrechtlicher Schutz, 1977.

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In Frankreichs Staatlichkeit mag sich Regionalismus entfalten. Der föderale Grundcharakter deutscher Staatstradition wird dort wohl kaum erreicht werden. Darin bleiben diese beiden Staatstraditionen einander fern – wenn nicht Europäische Traditionen diese Fernen überbrücken. Dazu bedarf es wahrhaft napoleonischer „Ingénieurs des Ponts“. VI. Frankreichs Staatslehre der „nationalen“ und der „revolutionären“ Tradition(en) 1. Herkömmlich bewundern Deutsche den Französischen Staat, Franzosen die Deutsche Staatslehre. Der wohl tiefste französische Staatsdenker der neuesten Zeit, Raymond Carré de Malberg,32 hat die gallische Haltung definiert, darin deutsch-französische Nähen wie Fernen gültig beschrieben. Georg Jellinek und Paul Laband, seine beiden deutschen Kronzeugen, haben ihm Material für seine Darstellung deutscher Vorstellungen von einer „Staatssouveränität“ geliefert – gemeint ist damit aber nicht die französische Staatlichkeit, sonder eine Machtsouveränität aus rechtlich organisierter Gewalt, also in einem engeren staatsrechtlichen Sinn der Anordnungskompetenzen. Dem stellt Carré de Malberg eine französische Souveraineté Nationale gegenüber: in ihr sollten es nicht organisierte staatliche Organträger sein, welche Souveränität ausübten; diese letztere sollte der „Nation“ zukommen, diese verstanden als eine „soziopolitische Einheit in historischen Traditionen“. Sie unterscheidet sich von der „Volkssouveränität“, dem Ausdruck des konkreten Mehrheitswillens jakobinischer Prägung, der kommt, zerstört, baut und verschwindet bis zur nächsten revolutionären Vernichtung staatlicher Strukturen. Die Nation dagegen trägt die Tradition Frankreichs, sie „ist Frankreichs Staatstradition“. So sollte, in Erweiterung des Traditionsbegriffs, für Frankreich die Mehrheitsdemokratie bewältigt werden, wenn nicht überwunden, so doch überhöht – gerade für dieses Land, mit seinen vielen, langen Überlieferungen eine wenn nicht überzeugende, so doch naheliegende Konzeption: Tradition über aller populärkontingenten Mehrheit als eine Art von Strom des Konsenses, der außerrechtliches und staatsrechtliches Herkommen zusammenführt. 2. Einzubauen galt es jedoch in diese Überlieferung die staatsgrundlegenden revolutionären Entwicklungen Frankreichs seit 1789, eine Staatsgrundlegung nicht nur aus freiheitlichen Verfassungsinhalten, sondern auch aus den Formen ihrer Durchsetzung und Entfaltung. Diese zugleich rechtliche und politische „Vergangenheitsbewältigung“ ist versucht worden in der Lehre von einer französischen „Tradition républicaine et révolutionnaire“33. In ihr sollte letztlich die Volkssouveränität der Jakobiner mit der umfassenden Nationalen Souveränität Carré de Malbergs verbunden, damit Frankreich auch innenpolitisch versöhnt werden. Rechtsdogmatisch war das 32

s. Fn. 22. Capitant, R., Souveraineté nationale et Souveraineté populaire, Revus Internationale d’Histoire Politique et Constitutionnelle, 1951, 153. 33

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ein Versuch, den Primat der Mehrheitsentscheidung in der Demokratie seinerseits zu „traditionalisieren“. Der Umsturz, verfassungsbegrifflich ein Traditionsbruch, sollte, in einer coincidentia oppositorum, zum Inhalt der Überlieferung werden, zum tragenden Element einer französischen Staatstradition. 3. Damit werden historische Entfernungen zwischen französischer und deutscher Staatstradition zur grundsätzlichen Distanz: In Deutschland wird aus Traditionsbrüchen gedacht, in deren Kategorik,34 Frankreich erklärt gerade diese zu seiner Staatstradition. Man mag dies durch ein „Mehr oder Weniger“ relativieren – es sind doch grundsätzliche Abstände in dem, was heute, weiterhin unkritisch, Vergangenheitsbewältigung genannt wird. Politisch mag man in Deutschland darin französische Versuche sehen, eigene Vergangenheit zu entschulden, in Frankreich ein deutsches Streben, Ähnliches in einer politischen Entnationalisierung zu bewirken – die dann aber doch in ökonomischer Stärke wiederum hegemoniale Züge trägt. All dies wird verfassungsrechtlich – meist unausgesprochen – in Traditionen eingebettet, aus deren „geheimnisvoller“ Begrifflichkeit lässt es sich dann erklären. Es bricht immer wieder auf, in Missverständnissen und Kontroversen, wie aus einer tiefen Schicht des Denkens in rechtlichen Distanzen. Wer an Deutsch-Französische Freundschaft glaubt, muss aus dieser heraus ansetzen, versuchen Gemeinsamkeiten von Staatstraditionen zu entwickeln. Hier beginnt aber das Visionäre, mit all seinen Resignationen und Hoffnungen. VII. Ergebnis „Europa“ ist zugleich das Ende (vieler) nationaler Überlieferungen – und (vielleicht) der Beginn eines neuen staatlichen Herkommens. In Europa muss in Tradition(en) gedacht werden. „Tradition“ ist eine Verfassungsbegrifflichkeit; nach Inhalt und Wirkungsweisen sind diese zu bestimmen in rechtlicher, die Historie integrierender Betrachtung, aus einzelnen verfassungsrechtlichen Traditionspotentialen zu entwickeln, aber eben auch in einer Gesamtschau, in vorsichtiger Abwägung. Gewichtiger erweisen sie sich in methodischem Denken als in Einzellösungen. Französische und Deutsche Staatstraditionen sind sich nahe „unten“ und „oben“ in der Pyramide des Rechts, in Staatslehre und in Administration. Es trennen sie aber vor allem das ungebrochene Nationalverständnis Frankreichs wie vor allem der Deutsche Föderalismus in einer rechtlich wirkmächtigen Historie: französische „Staatslehre aus Revolutionen“ und „deutsche Vergangenheitsbewältigung“. Staatstradition – ein großes Aufgabenfeld für deutsch-französische Geschichte – vielleicht einmal Freundschaft.

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Tradition und Verfassungsrecht (Fn. 5) S. 55 ff.

Staatliche Kulturförderung und kulturelles Freiheitsparadigma des Grundgesetzes Von Sophie-Charlotte Lenski I. Einleitung Die Schnittstellen zwischen Kultur und Recht hat der Jubilar in verschiedener Weise zum Gegenstand seines wissenschaftlichen Werkes gemacht. Dabei hat er nicht nur zu speziellen Bereichen des Kulturrechts, insbesondere zum Archivrecht1 sowie zum Denkmal- und raumbezogenen Kulturgüterschutz,2 geforscht, sondern in seinem Verfassungsrechtslehrbuch auch die in diesem Medium fast vergessene Tradition wiederbelebt, den Staat auch in seinen kulturellen Bezügen darzustellen.3 Darüber hinaus hat er sich auch der anderen Seite dieser Verbindung gewidmet und umgekehrt nach den rechtlichen Implikationen der Kultur gefragt.4 Angesichts dieses Engagements darf ich hoffen, dass ein Beitrag über das Spannungsverhältnis von individueller kultureller Freiheit und staatlicher Kulturförderung sein Interesse nicht völlig verfehlt. Wenn mir aus der Zeit, die ich als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl verbringen durfte, ein Satz in besonders prägender Erinnerung geblieben ist, dann ist es dieser: „Im Zweifel für die Freiheit“. In dieser Tradition soll der folgende Beitrag die verfassungsrechtlichen Anforderungen an staatliche Kulturförderung freiheitsrechtlich rekonstruieren. II. Kulturelles Freiheitsparadigma: Kultur als staatsfreier Prozess? 1. Kultur als Ausübung individueller Freiheit Der gedankliche Zugang des Verfassungsrechts zum Lebensbereich Kultur ist jedenfalls auf Ebene des Grundgesetzes5 zunächst ein rein freiheitsrechtlicher: Art. 5 1

Kloepfer/Schoch/Garstka, Archivgesetz (ArchG – ProfE), 2008. Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz. Rechtliche Verschränkungen und Konflikte zwischen dem raumgebundenen Kulturgüterschutz und dem Umwelt- und Planungsrecht, 2012. 3 Kloepfer, Verfassungsrecht, Band I, 2011, § 13. 4 Kloepfer, Der Dichter und der Jurist, 2008. 5 In fast allen Bundesländern existiert hingegen eine – im Einzelnen unterschiedlich ausgestaltete – Staatszielbestimmung Kultur in der Landesverfassung, s. Art. 3c Abs. 1 Verf. B-W; Art. 3, 140 Verf. By; Art. 20 Verf. Bln; Art. 34 Verf. Bbg; Art. 11 Verf. Bre; Art. 62 Verf. He; 2

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Abs. 3 GG statuiert umfassend die Freiheit der Kunst als subjektives Recht vor allem und gerade in Abwehr gegenüber staatlicher Intervention.6 Der Staat wird im ganz allgemeinen Sinne verpflichtet die Freiheit, Autonomie, Pluralität und immanente Eigengesetzlichkeit der Kunst zu achten.7 Das Grundgesetz respektiert somit die Kunst als autonomen gesellschaftlichen Lebensbereich, der von der Staatssphäre zu trennen, ja von staatlichem Einfluss sogar weitestgehend freizuhalten ist. Gleiches gilt für den Teil des Lebensbereiches Kultur, der nicht dem grundrechtlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit unterfällt, da er nicht in der originären Schöpfung eines neuen Kunstwerks besteht, indem Artefakte also nicht durch die besondere künstlerische Leistung, sondern erst durch Zeitablauf ihren besonderen museal-konservatorischen Wert als Kulturgut erhalten.8 Auch hier entfaltet sich die Kultur ebenfalls zunächst im staatsfreien Raum, und zwar in zweifacher Hinsicht. Dies betrifft zum einen die Entstehung dieser historisch relevanten Kulturwerke in ihrer Funktion: Unabhängig davon, ob es sich bei dem Wandel eines Alltagsgegenstands zum Kulturwerk von museal-konservatorischem Wert tatsächlich um einen Prozess handelt, den das Recht nicht beobachten kann,9 ist dieser Vorgang jedenfalls nicht rechtlich generierbar und grundsätzlich staatsfrei konzipiert. Zum anderen besteht für den nachfolgenden Prozess, die kommunikative Nutzung des derart entstandenen Kulturwerks, d. h. seine Präsentation in der Öffentlichkeit, ebenfalls ein gesellschaftlicher Freiheitsbereich jenseits des Staates, der durch die Grundrechte abgesichert wird. Zwar unterfällt dieser Bereich nicht der Kunstfreiheit, ist aber als Vorgang kultureller Kommunikation umfassend von der Meinungsfreiheit geschützt.10 Diese besondere staatsfreie Konstruktion des Lebensbereichs Kultur auch für das Gebiet historisch relevanter Kulturwerke wird im Übrigen auch daran deutlich, dass das Grundgesetz in bewusster Abkehr von der Tradition der Weimarer Reichsverfassung das Grundrecht der Kunstfreiheit gerade nicht wie Art. 142 Abs. 1 S. 2 WRV durch einen ausdrücklichen Auftrag zur staatlichen Kunstpflege ergänzt und keinen dem Art. 150 WRV vergleichbaren Auftrag zu Schutz und Pflege von Denkmälern der Kunst und Geschichte kennt.11 Art. 16 Verf. M-V; Art. 6 Verf. Nds.; Art. 18 Verf. NRW; Art. 40 Verfl. RLP; Art. 34 Verf. Saar; Art. 36 Verf. LSA; Art. 11 Sächs. Verf.; Art. 9 Verf. S-H; Art. 30 Verf. Thü. Vgl. auch die vergleichende Betrachtung bei Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, S. 16 ff. 6 Vgl. auch Kloepfer, in: FS Mußgnug, 2005, S. 3 (17). 7 Vgl. statt vieler Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 III Rn. 37; Huster, VVdStRL 65 (2006), 51 (61); Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 III (Kunst) Rn. 13; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Art. 5 Rn. 189; Mahrenholz, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg,), Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 8. 8 Vgl. dazu umfassend Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 43 ff. 9 Roellecke, in: Mußgnug/Roellecke (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Kulturgüterschutzes, S. 31 (39). 10 s. dazu ausführlich Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 84 ff. 11 Vgl. zu diesem Auftrag aus historischer Sicht auch Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 127; Roellecke, in: FS Mußgnug, S. 473 (475).

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2. Kultur als Gegenstand staatlicher Förderung Zu diesem rechtlichen Befund stehen die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse in einem scheinbar kontrafaktischen Verhältnis. Sowohl als Veranstalter als auch als Geldgeber ist der Staat in der Bundesrepublik Deutschland schon rein quantitativ einer der wichtigsten Akteure im kulturellen Leben und sichert den Grundbestand dessen, was mitunter als „kulturelle Grundversorgung“ bezeichnet wird.12 Damit divergiert die Rolle des fördernden Staates hier elementar von derjenigen in anderen, verwandten Bereichen. Deutlich wird dies vor allem am Vergleich mit den in Art. 5 Abs. 1 GG sachnah geschützten Bereichen von Presse und Rundfunk. Zwar ist der Bereich des Rundfunks fast genauso intensiv wie derjenige der Kultur vom Staat als Akteur und Anbieter entsprechender Leistungen geprägt. Allerdings vollziehen sich hier die staatlichen Tätigkeiten zum einen auf der Basis spezifischer gesetzlicher Grundlagen, zum anderen sind es gerade diese gesetzlichen Grundlagen, die auch eine möglichst große Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlich verfassten und öffentlich finanzierten Rundfunkanstalten von originär staatlichen Entscheidungszusammenhängen garantieren sollen. Tritt der Staat hingegen nicht als Rundfunk-, sondern als Kulturveranstalter auf, betreibt er also etwa öffentliche Theater, Museen oder Opernhäuser, so fehlt es dieser Tätigkeit nicht nur an einer spezifischen gesetzlichen Grundlage. Auch eine rechtliche Verselbständigung, die zur Gewährung größerer inhaltlicher Unabhängigkeit im Rahmen mittelbarer Staatsverwaltung genutzt werden könnte, erfolgt hier kaum.13 Im Bereich der Presse, die zwar eine ähnliche gesellschaftliche Funktion wie der Rundfunk erfüllt, allerdings nicht derart zentral von den technischen Besonderheiten des Mediums und den auf grundrechtlicher Ebene damit verbundenen dogmatischen Besonderheiten einer „dienenden Freiheit“ geprägt ist,14 ist der Staat hingegen als eigenständiger Akteur weder im Bereich der Förderung noch der eigenen Veranstaltung in relevantem Maße tätig. Maßgeblicher Grund dafür sind die verfassungsrechtlichen Bindungen, die insbesondere vom Bundesverfassungsgericht für verschiedene Teilbereiche eng konkretisiert wurden. Neben den inhaltlichen Neutralitätsanforderungen für den Fall der staatlichen Herausgabe eigener Publikationen,15 hat das Gericht insofern insbesondere strenge Anforderungen an die Vergabe von Subventionen an Presseunternehmen angelegt. Entscheidungen über Pressesubventionen können danach für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlich sein und einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, wenn mit der staatlichen Leistung entweder eine erhebli12 Die Bedeutung der staatlichen Förderung zeigt sich auch am entsprechenden Finanzvolumen: im Jahr 2005 wurden fast 8 Milliarden Euro aus öffentlichen Haushalten für die Kulturförderung bereitgestellt, BT-Drs. 16/7000, S. 45 f. 13 Zur tatsächlich geringen Verbreitung der Eingliederung staatlicher Kultureinrichtungen in die mittelbare Staatsverwaltung s. Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 414 ff. 14 Vgl. dazu ausführlich Lenski, Die Verwaltung 45 (2012), 465 (476 ff.). 15 Vgl. dazu nur BVerfGE 44, 125 (150 ff.); 105, 252 (272 ff.).

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che Gefahr für die Staatsfreiheit und Kritikbereitschaft der Presse einhergeht oder wenn ohne eine solche Leistung die Aufrechterhaltung eines freiheitlichen Pressewesens nicht mehr gewährleistet ist.16 Tatsächlich existieren daher heute weder Pressesubventionen in nennenswertem Umfang noch eine entsprechende gesetzliche Regelung dazu. Im Kulturbereich hingegen werden die ganz beträchtlichen Fördersummen heute weitestgehend ohne spezifische gesetzliche Grundlage bewilligt und ausgezahlt.17 3. Staatsfreiheit und staatliche Förderung im Grundrechtskonflikt Gerade diese Parallelisierung zum Bereich von Presse und Rundfunk verdeutlicht, dass auch im Kulturbereich individuelle Freiheit und staatliche Förderung jedenfalls in einem potentiellen Grundrechtskonflikt stehen. Wenn diese Dimension in der rechtswissenschaftlichen Betrachtung bisher relativ wenig ausgeleuchtet wurde,18 so mag dies maßgeblich an frühen, aber vereinzelt gebliebenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegen, in der dieses betonte, als objektive Wertentscheidung stelle die Freiheit der Kunst dem modernen Staat die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern.19 Will man dieses Postulat nicht bereits als Staatszielbestimmung Kultur begreifen,20 so soll daraus jedenfalls eine besondere objektiv-rechtliche Dimension der Kunstfreiheit folgen. Unabhängig von der generellen Kritik dieser objektiven Perspektive auf die Grundrechte21 und ihrer fehlenden verbindlichen Konturierung,22 besteht jedoch auch hier bei Weitem keine Einigkeit darüber, was genau Inhalt dieser spezifisch kulturellen objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension sein soll. In einem sehr allgemeinen Verständnis soll sie einen „Lebensbereich freie Kunst“ gewährleisten, so dass unabhängig von subjektiven Rechten des einzelnen Grundrechtsträgers der Sachbereich Kunst als freiheitliche Lebensund Entfaltungssphäre geschützt wird.23 Die konkreten rechtlichen Implikationen

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BVerfGE 80, 124 (132). Eine Ausnahme bildet insofern das Filmförderrecht des Bundes, sofern die Förderung durch die Filmförderanstalt erfolgt. Hier ergibt sich die Notwendigkeit eines Parlamentsgesetzes allerdings vor allen Dingen auch dadurch, dass die Förderung durch die Erhebung einer Sonderabgabe finanziert wird, s. dazu Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 413. 18 Eine Ausnahme dazu bilden etwa die Untersuchungen von Huster, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen. Dargestellt am Beispiel der Kunst- und Musikhochschulen, 1983, und Höfling, DÖV 1985, 387 ff. 19 BVerfGE 36, 321 (331). 20 Dazu ausführlich Kloepfer, in: FS Mußgnug, 2005, S. 3 ff. 21 Grundlegend insofern Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 401 f.; ders., Der Staat 29 (1990), 1 (24 ff.); ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 60 ff. 22 Pointiert insofern Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 891. 23 Stern, Staatsrecht. Bd. IV/2, S. 652; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 III Rn. 3; Schäuble, Rechtsprobleme der staatlichen Kunstförderung, S. 61 f.; Pabel, Grundfra17

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dieses Schutzes sind indessen unklar. Zwar besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass aus diesem objektiv-rechtlichen Schutz kein subjektives Recht auf Kunst- bzw. Kulturförderung ableitbar ist.24 Die Reichweite einer etwaigen objektiven Verpflichtung zur Kunstförderung wird hingegen unterschiedlich beurteilt. Entsprechende Ansichten bewegen sich zwischen der Herleitung einer konkreten staatlichen Verpflichtung zur Garantie einer kulturellen Grundversorgung der Bevölkerung25 und der völligen Ablehnung jeglicher konkreter Förderpflichten.26 Diese starke Fokussierung auf eine – dogmatisch eher zweifelhafte – objektive Dimension der Kunstfreiheit verkennt das – für die Grundrechtsgewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgearbeitete und anerkannte – freiheitsbedrohende Potential staatlicher Kulturförderung. In diesem Sinne bleibt zu beachten, dass die staatliche Förderung von Kunst nicht wegen, sondern trotz der Kunstfreiheitsgarantie stattfindet, weil und soweit sie gerade darauf abzielt, die Ergebnisse des individuellen Freiheitsgebrauchs zu korrigieren.27 Dies bedeutet nicht, dass die individuelle Kunst- oder auch Meinungsfreiheit des Einzelnen einer staatlichen Kulturförderung stets entgegenstehen müssten. Die bestehenden Grundrechtskonflikte sind jedoch sorgfältig zu analysieren und zu differenzieren, um die rechtlichen Anforderungen an eine grundrechtskonforme Kulturförderung herausarbeiten zu können. III. Künstler, Vermittler und fördernder Staat: Zu bewältigende Grundrechtskonflikte Greift der Staat fördernd in den grundsätzlich autonomen Lebensbereich Kultur ein, so lassen sich die zu bewältigenden Grundrechtskonstellationen strukturell in drei Fallgestaltungen unterteilen: Zum einen die Situationen, in denen die Maßnahmen der Kulturförderung künstlerisch relevante Kulturwerke noch lebender Künstler und damit deren Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG betreffen, zum anderen die Fälle, in denen die Maßnahmen historisch relevante Kulturwerke und damit allenfalls die Meinungsfreiheit desjenigen, der das Kulturwerk im Rahmen eines Kommunikationsprozesses zu einem solchen macht, betrifft, sowie drittens die Konstellation, in der die Maßnahmen keine kulturspezifischen Grundrechte des Schöpfers, sondern

gen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 165 ff.; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 52; Ossenbühl, DÖV 1983, 785 (789). 24 BVerfGE 36, 321 (332 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 656; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 319; Steiner, VVDStRL 42 (1984), 7 (14); v. Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 79; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 III (Kunst) Rn. 47; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 III Rn. 40. 25 v. Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 88. 26 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 III (Kunst) Rn. 45; unter Verweis auf BVerfGE 36, 321 (332); 81, 108 (116 f.). 27 Huster, VVdStRL 65 (2006), 51 (63).

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andere Grundrechte des Verfügungsberechtigten über das Kulturwerk, insbesondere dessen Eigentumsfreiheit, berühren. 1. Kulturwerkspezifische Grundrechtskonstellation durch Förder- und Auswahlentscheidungen In den beiden erstgenannten Fällen liegt das grundrechtsrelevante Verhalten der Kulturverwaltung in erster Linie in der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung, die auch durch Zugänglichmachung und Verbreitung in Form der Kulturveranstaltung erfolgen kann. Aus grundrechtsspezifischer Sicht kann insofern in einer unmittelbaren Förderentscheidung z. B. zugunsten eines Künstlers – sei sie bezogen auf eine direkte Förderung, sei sie bezogen auf eine indirekte Förderung – eine gleich große faktische Wirkung liegen wie in der mittelbaren Förderung die dadurch entsteht, dass ein öffentliches Museum Werke dieses Künstlers ankauft und/oder ausstellt oder ein öffentliches Theater seine Werke aufführt.28 Die Grundrechtsrelevanz entsteht hier durch die jeweils zu treffenden Auswahlentscheidungen, die bestimmte Grundrechtsträger an der Förderung teilhaben lassen, andere von dieser Teilhabe jedoch ausschließen. Dort, wo eine entsprechende Auswahlentscheidung nicht getroffen wird, sondern vielmehr alle Grundrechtsträger ausnahmslos in die Gewährung der Vorteile einbezogen werden, wie dies etwa in Bezug auf die Kunstfreiheit im Steuer- und Künstlersozialversicherungsrecht der Fall ist, entsteht eine entsprechende Grundrechtskonfliktlage hingegen nicht.29 Derartige grundrechtsrelevante Auswahlkonstellationen bestehen in erster Linie, aber nicht nur in Bezug auf künstlerisch relevante Kulturwerke und damit die Schöpfer des Kulturwerks als Träger der Kunstfreiheit. Auch in Bezug auf historisch relevante Kulturwerke ist der geistige Schöpfer des Kulturwerks in dieser Funktion, d. h. die Person, welche die Umkodierung hin zum historisch relevanten Kulturwerk vornimmt, grundrechtlich geschützt, wenn er sich auch nicht auf die Kunstfreiheit, sondern allein auf die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG berufen kann. Voraussetzung für einen solchen grundrechtlichen Schutz ist jedoch, dass dieser Kodierungsprozess tatsächlich individuell auf einen bestimmbaren Grundrechtsträger zurückführbar ist. Dies wird oft nicht der Fall sein, da sich die Kodierung meist in einem schleichenden Prozess durch einen gesellschaftlichen Wechsel in der Wahrnehmung vollzieht. Mitunter kann der entsprechende Kodierungsvorgang aber auch konkret zugeordnet werden, etwa wenn Alltagsgegenstände bewusst musealisiert werden, d. h. durch die konkrete Entscheidung der verantwortlichen Kuratoren eines Museums Gegenstände dekontextualisiert und somit unmittelbar vom Alltagsgegenstand zum historisch relevanten Kulturwerk übergeleitet werden. Für die Kulturverwaltung grundrechtsrelevant kann ein solcher Vorgang werden, wenn beispielsweise öffent28 Vgl. etwa für den Bereich zeitgenössischer Kunst in Museen Zembylas, Kunst oder Nichtkunst, S. 232. 29 Vgl. auch Schwarze, AfP 1974, 692 (693).

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liche Fördergelder an entsprechende Museen vergeben oder aber nicht vergeben werden. 2. Nicht kulturwerkspezifische Eingriffskonstellationen Von diesen kulturwerkspezifischen Grundrechtskonstellationen zu unterscheiden sind solche Fälle, in denen eine kulturverwaltungsrechtliche Maßnahme zwar Grundrechte berührt, diese Grundrechtsrelevanz aber nicht den Schöpfer des Kulturwerks in seinen kulturspezifischen Grundrechten betrifft, sondern vielmehr denjenigen, der – in welcher Weise auch immer – über das Kulturwerk verfügungsbefugt ist und in ebendieser Verfügungsbefugnis eingeschränkt wird. Geschützt sind derartige Verfügungsmöglichkeiten grundrechtlich vor allem über das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG. Die Beeinträchtigungssituation betrifft hier darüber hinaus nicht die Frage einer tatsächlichen oder versagten Teilhabe, sondern vielmehr eine klassische Eingriffssituation, in der ein bestimmtes Verhalten geboten oder untersagt wird. Inhaltlich von derartigen Grundrechtskonstellationen geprägt ist zunächst das Denkmalschutzrecht. Hier können die umfangreichen Verpflichtungen, die dem Substanzerhalt, aber auch dem Erhalt der Zeichenqualität dienen, vor allen Dingen dem Eigentümer des Denkmals auferlegt werden. Darüber hinaus können im Rahmen des denkmalschutzrechtlichen Umgebungsschutzes auch Eigentümer von Grundstücken in der Umgebung des Denkmals, die insofern in gewissem Umfang eine tatsächliche Verfügungsmacht über die umgebungsbezogene geistige Integrität des Denkmals innehaben, in die Denkmalschutzpflichtigkeit einbezogen und so in ihrem Eigentumsgrundrecht beeinträchtigt werden. Schließlich betreffen auch die Ausfuhrbeschränkungen im Abwanderungsschutzrecht die Verfügungsbefugnis des Eigentümers über sein materielles Kulturwerk und damit sein Grundrecht aus Art. 14 GG. Eine Besonderheit bildet schließlich die Regelung über die Zusicherung freien Geleits. Hier ist allein der Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG von anderen Beteiligten als dem Eigentümer des Kulturwerks betroffen.30 3. Grundrechtskonflikte im Rahmen gesetzesfreier Förderentscheidungen Die Konflikte von Maßnahmen der Kulturverwaltung mit den Grundrechtsgewährleistungen des Art. 5 GG entstehen somit fast ausschließlich dort, wo der Staat im Bereich direkter oder indirekter Kulturförderung oder Kulturveranstaltung tätig wird. Ausgenommen von diesem Konflikt sind lediglich diejenigen Fälle, in denen es sich beim Schöpfer des Kulturwerks nicht um einen lebenden Künstler und damit auch nicht um einen Grundrechtsträger handelt, sowie Fördermaßnahmen, die pauschal allen Formen von Kulturwerken ohne Auswahlentscheidung zugutekommen. Damit zeigen sich die Grundrechtskonflikte tatsächlich vor allen Dingen im Bereich gesetzesfreier Kulturverwaltung, in dem die grundrechtsrelevante Steue30

Vgl. Pieroth/Hartmann, NJW 2000, 2129 (2131 ff.).

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rung allein durch die Verwaltung erfolgt. Diese Struktur aktualisiert die Frage nach unmittelbaren grundrechtlichen Bindungen bei Maßnahmen der fördernden Kulturverwaltung in Hinblick auf die vorzunehmenden Auswahlentscheidungen. IV. Staatliche Auswahlentscheidungen: Wie neutral muss Kulturförderung sein? Die spezifischen Entscheidungsinhalte, welche die gesetzesfreie Kulturverwaltung auszeichnen und die Grundrechte der Kulturschaffenden berühren, sind solche der Förderauswahl, genauer: der Auswahl bei Förderentscheidungen anhand qualitativer Merkmale. Auch wenn eine solche Qualitätsauswahl heute fast ausnahmslos für zulässig gehalten wird,31 aktualisiert sich doch an ihr die Frage nach der Existenz eines kulturellen Neutralitätsgebots des Staats, welches die Auswahlentscheidungen einschränken oder zumindest lenken kann.32 1. Inhaltliche Entscheidungsmaßstäbe Die kulturwerkspezifischen inhaltlichen Entscheidungsmaßstäbe,33 anhand derer sich Auswahlentscheidungen im Bereich gesetzesfreier Kulturverwaltung vollziehen, sind in einer Vielzahl verwaltungsinterner Richtlinien sehr unterschiedlich und auch in einem sehr unterschiedlichen Detaillierungsgrad festgeschrieben.34 Grundsätzlich kann dabei unterschieden werden zwischen kulturwerkspezifischen Kriterien, welche die kulturelle Qualität im engeren Sinne betreffen, und solchen kulturwerkspezifischen Kriterien, die nicht qualitätsbezogen sind. Nicht qualitätsbezogene Auswahlkriterien treten in der Praxis nicht besonders häufig auf, werfen aber auch rechtlich in aller Regel keine Probleme auf. So kann der Staat etwa eine besondere Förderung von Kulturwerken vornehmen, die der Völkerverständigung dienen oder kunstpädagogisch besonders wertvoll erscheinen.35 31 Vgl. nur BVerfGE 36, 321 (332); OVG Lüneburg, DVBl. 1972, 393 (395); NJW 1983, 1218 f.; NJW 1984, 1138; Schwarze, AfP 1974, 692 (694); Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 177; Maunz, BayVBl. 1970, 354 (355); Lerche, AfP 1973, 496 (498); Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 324; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 746; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 40; v. Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 80; a.A. wohl Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 808; Hörstel, Fragen zur Kunstsubvention, S. 27 f.; Stiller, UFITA 60 (1971), 171 (181); Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 23. 32 Hierzu und zum Folgenden: Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 441 ff. 33 Nicht betrachtet werden hier daher andere, insbesondere künstlerbezogene Auswahlmaßstäbe wie etwa das Alter im Rahmen von Nachwuchsförderung oder die soziale Bedürftigkeit, da sich hier insofern keine Besonderheiten der Kulturverwaltung gegenüber anderen Förderzweigen ergeben. 34 Vgl. etwa Sievers/Wagner/Wiesand, Objektive und transparente Förderkriterien staatlicher Kulturfinanzierung, S. 72. 35 So die Beispiele bei v. Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 83.

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Ebenso kann das Ansehen bestimmter Kultureinrichtungen im Ausland eine Rolle spielen, auch wenn derartige Entscheidungen meist unmittelbar auf der Ebene des Haushaltsgesetzgebers und weniger auf der Ebene der Verwaltung von Bedeutung sind. All dies sind legitime Ziele, an denen die Verwaltung ihre Auswahlentscheidungen zulässigerweise orientieren kann. Von größerer praktischer Bedeutung und gleichzeitig rechtlich umstrittener sind demgegenüber die dezidiert qualitätsorientierten Kriterien, welche die Verwaltung anlegt. Hier wird etwa auf Merkmale wie „hohe Qualität, Innovation und Kreativität“, „Innovation, künstlerische Eigenständigkeit, Kreativität, Originalität und Authentizität“, „angemessene künstlerische Qualität und kultureller Wert“, „neuere, auch interdisziplinäre künstlerische Ansätze und innovative Positionen“, „komplexere, experimentelle, interdisziplinäre und/oder zielgruppenorientierte Ansätze und Formate“, die „besondere Bedeutung für den aktuellen künstlerischen oder gesellschaftlichen Diskurs“ oder – etwas spezifischer – „die musikalische Qualität“ abgestellt.36 2. Grundrechtliches Konfliktpotential Inwiefern derartige qualitative Entscheidungsmaßstäbe zulässigerweise angewandt werden dürfen, wird maßgeblich vor dem Hintergrund des Grundrechtsschutzes hinterfragt. Dabei muss das grundrechtliche Konfliktpotential zunächst aus individualrechtlicher Perspektive rekonstruiert werden. In den Blick zu nehmen ist insofern die mögliche Grundrechtsbeeinträchtigung, die durch die Gewährung finanzieller oder sonstiger Vorteile an den Erschaffer eines Kulturwerks oder an den Verfügungsberechtigten über ein Kulturwerk entsteht. Von spezifischer grundrechtlicher Bedeutung jenseits des allgemeinen Gleichheitssatzes ist eine solche Vorteilsgewährung nur dort, wo überhaupt kulturspezifische Grundrechtspositionen betroffen sind, wo also der Kulturschaffende selbst – sei er durch die Kunstfreiheit, sei er durch die Meinungsfreiheit geschützt – Vorteilsempfänger ist. Auch hier kann jedoch eine Grundrechtsbeeinträchtigung aufgrund der Vorteilserlangung nur im Rahmen einer Konkurrenzsituation entstehen.37 Da durch die Begünstigung eines Kulturschaffenden nicht negativ in die Freiheit eines anderen Kulturschaffenden eingegriffen wird, seine freie Betätigung allein durch die Begünstigung eines Dritten also unangetastet bleibt, ergibt sich hier die Frage grundrechtlichen Konkurrentenschutzes allein über eine Gleichheitsperspektive,38 und zwar konkret über die Frage derivativer Teilhaberechte.39

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Zu diesen Beispielen s. Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 191 f. Zur Konkurrenzperspektive, die nicht mit der Frage der künstlerischen Neutralität verwechselt werden darf, vgl. auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 457 f. 38 Ausführlich zur Bedeutung des Gleichheitssatzes für den Konkurrentenschutz Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, S. 507 ff. 39 Vgl. auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 471. 37

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Ein grundrechtliches Interesse allein an der Abwehr der Vorteilsgewährung an Dritte kann demgegenüber weder aus der Kunst- noch aus der Meinungsfreiheit hergeleitet werden.40 Voraussetzung für die Legitimität eines solchen Verlangens wäre nämlich, dass allein die Vorteilsgewährung an Dritte den Konkurrenten in seiner grundrechtlich geschützten Tätigkeit beeinträchtigt, dass also eine unmittelbare, verdrängende Konkurrenzsituation besteht. Eine solche Verdrängung kann im Bereich von Kunst- und Meinungsfreiheit jedoch allenfalls in Hinblick auf die knappe Ressource Aufmerksamkeit konstruiert werden.41 Ein grundrechtliches Abwehrrecht würde dann zum einen voraussetzen, dass durch die staatliche Besserstellung tatsächlich eine Verschiebung der Aufmerksamkeitsressourcen erfolgt, zum anderen aber auch, dass eine gleiche Marktchance im Wettbewerb um Aufmerksamkeit grundrechtlich geschützt ist. Jedenfalls an der letzten Voraussetzung fehlt es jedoch: Sowohl in Bezug auf die Meinungs- als auch auf die Kunstfreiheit ist zwar der Wirkbereich im Sinne der objektiven Möglichkeit der Kenntnisgabe an Dritte geschützt. Eine grundrechtlich geschützte rezipientenbezogene Marktchance im Wettbewerb um Aufmerksamkeit folgt daraus jedoch nicht.42 Vor diesem Hintergrund kann allein das Interesse an der Teilhabe an der Besserstellung des Grundrechtsträgers grundrechtlichen Schutz genießen. Dabei handelt es sich jedoch um einen nur sehr schwach ausgeprägten derivativen Teilhabeanspruch,43 der bereits dann untergeht, wenn die Unterscheidung zwischen den Vorteilsempfän40

Diese Frage offen lassend BVerwG, NJW 1980, 718, ohne jedoch zu begründen, woher überhaupt ein grundrechtlich geschütztes Interesse an der Abwehr entsprechender Förderungen von Dritten folgen soll. 41 Zum Phänomen der Aufmerksamkeit als knapper Ressource in der Mediengesellschaft vgl. nur Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 49 ff., der Aufmerksamkeit als „die neue Währung“ bezeichnet. Ausführlich dazu die Beiträge in Hickethier/Bleicher (Hrsg.), Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. Vorsichtig in diese Richtung bereits Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 423. 42 So die herrschende Meinung, vgl. nur Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 636; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 III (Kunst) Rn. 28; Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 94; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 108; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 449; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, § 62 H Rn. 28; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 614; Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, S. 119 f.; Sodan, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 41; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 145; Schneider, Die Freiheit der Baukunst, S. 138 f.; Palm, Öffentliche Kunstförderung zwischen Kunstfreiheitsgarantie und Kulturstaat, S. 87 ff.; a.A. Mahrenholz, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 53; Hoffmann, NJW 1985, 237 (241); Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 68; Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 155; Häberle, AöR 110 (1985), 577 (606); Hönes, DÖV 1998, 491 (500); Isensee, AfP 1993, 619 (624); Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 98 f.; v. Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 49. Anders ist die Situation in Bezug auf die Pressefreiheit. Hier soll ein entsprechendes Abwehrrecht aus dem Gedanken des publizistischen Wettbewerbs folgen, BVerfGE 80, 124 (134). Dies liegt freilich in der besonderen Struktur der Pressefreiheit als Teil der Freiheit massenmedialer Vermittlung begründet, welcher das Problem der Aufmerksamkeit als knapper Ressource immanent ist. 43 Einen solchen Anspruch tendenziell sogar ganz verneinend BVerwG, NJW 1980, 718.

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gern und den von der Vorteilsgewährung Ausgeschlossenen sachlich gerechtfertigt ist. Eine solche Rechtfertigung liegt dabei für jede Differenzierung vor, die nicht willkürlich ist, sondern für die irgendein sachlicher Grund vorgebracht werden kann, der auf den zulässigen Zweck der Kulturfördermaßnahme bezogen ist.44 3. Kulturelles Neutralitätsgebot Wenn also aus der subjektivrechtlichen Komponente der Grundrechte letztlich nur ein Willkürverbot hinsichtlich der differenzierten Vorteilsgewährung abgeleitet werden kann, verbleibt doch die Frage, inwiefern nicht die objektiv-rechtliche Dimension der Kunstfreiheit oder aber auch der Meinungsfreiheit hier engere Maßstäbe aufstellen. Insofern wird in der Diskussion meist auf ein spezifisches Gebot ästhetischer Neutralität abgestellt. Ursprünglich entwickelt wurde dieses Neutralitätsgebot im klassischen subjektivrechtlichen Eingriffsbereich der Kunstfreiheit in Bezug auf die Schutzbereichsdimension. Hier haben Verfassungsrechtsprechung und Literatur bereits sehr früh den Grundsatz entwickelt, dass eine Niveaukontrolle, also eine Differenzierung zwischen „höherer“ und „niederer“, „guter“ und „schlechter“ Kunst, auf eine verfassungsrechtlich unstatthafte Inhaltskontrolle hinausliefe und deshalb unzulässig sein muss.45 Dieses „Neutralitätsgebot“ ist somit zunächst allein auf die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst gerichtet: Qualitative Merkmale dürfen in diese Differenzierung nicht einfließen, da sonst bereits der Schutzbereich unzulässigerweise nach staatlichen Vorgaben verengt würde. Parallele Strukturen bestehen insofern zur Meinungsfreiheit. Auch hier muss es für die Definition des Schutzbereiches unerheblich sein, ob eine Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos ist.46 Speziell für die Kunstfreiheit wird nun aus diesem Wertungsverbot in Bezug auf den Schutzbereich oft ein allgemeines ästhetisches Neutralitätsgebot des Staates hergeleitet, das sich insbesondere auch auf den Bereich der Kulturförderung erstrecken

44 OLG Frankfurt, NJW 1992, 1472 (1472 f.); VG Kassel, NJW 1997, 1177 (1178); Denninger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 146 Rn. 34; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 79. 45 BVerfGE 75, 369 (377); 81, 278 (291); 83, 130 (139); BVerfG, NJW 2001, 596 (597); Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 39; Henschel, NJW 1990, 1937 (1939); Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 91; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 221; Hufen, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, S. 118; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 89 f. 46 BVerfGE 33, 1 (14 f.); 61, 1 (7); 90, 241 (247); Grimm, NJW 1995, 1697 (1698); Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 277 f.; Brugger, VVDStRL 63 (2004), 101 (134); Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 214; Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 24; Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 55e.

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soll.47 Gerade in dieser Erstreckung auf die Förderebene erweisen sich seine genaue dogmatische Herleitung sowie seine praktische Anwendung jedoch als äußerst problematisch: Wenn nicht jeder und alles, sondern – nur und vor allem – künstlerische Aktivitäten und Erzeugnisse einer gewissen Qualität gefördert werden sollen, sind Auswahlentscheidungen und damit auch entsprechende ästhetische Wertungen unvermeidlich.48 Tatsächlich wird jedoch in der Praxis fast ausnahmslos von der Zulässigkeit einer solchen Qualitätsauswahl im Förderbereich ausgegangen.49 Die dogmatische Auflösung ist dabei jedoch nicht immer ganz klar.50 Meist wird – ohne nähere Begründung – schlicht eine Abschwächung der Neutralitätsanforderungen im Förderungsbereich vertreten: Der Staat dürfe hier – anders als im Eingriffsbereich – grundsätzlich ästhetisch werten, es sei ihm aber nicht erlaubt, ganze Kunstrichtungen und -schulen von der Förderung auszuschließen.51 In der Folge wird meist pauschal auf institutionell-organisatorische und verfahrensmäßige Sicherungen verwiesen, ohne den inhaltlichen Beurteilungsmaßstab weiter zu präzisieren.52 Die kulturpolitischen Ergebnisse dieser Position sind dabei zwar durchweg plausibel; die konstruktiven Fragen dieser Lösung bleiben jedoch weitestgehend ungeklärt.53 Zum Teil wird daher die Frage der ästhetischen Neutralität des Staates reformuliert und vom Kunstwerk selbst und seiner Schöpfung auf den Umgang mit Kunst übertragen: Da sich ein Gebot der spezifisch ästhetischen Neutralität für den Eingriffsbereich als unnötig und für den Bereich der qualitätsorientierten Förderung als dysfunktional erwiesen habe, müsse nicht die Frage, ob Kunst gut oder schlecht ist, der staatlichen Entscheidung schlechthin entzogen sein, sondern die Frage, ob man sich mit guter Kunst beschäftigen sollte, ob und inwieweit also Kunst – und ins47 Vgl. etwa Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 137; Evers, NJW 1983, 2161 (2166); v. Danwitz, Der Staat 35 (1996), (341); Höfling, DÖV 1985, 387 (389); Steiner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, § 85 Rn. 9; ders., VVDStRL 42 (1984), 7 (28); Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 190; Kadelbach, NJW 1997, 1114 (1115 ff.); Maihofer, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 25 Rn. 83. 48 Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 441. 49 Vgl. aus der Rechtsprechung nur BVerfGE 36, 321 (332); OVG Lüneburg, DVBl. 1972, 393 (395); NJW 1983, 1218 (1218 f.); NJW 1984, 1138. 50 Vgl. insofern zur schweren Auflösbarkeit des Widerspruchs zwischen Neutralität und Qualitätsauswahl Mahrenholz, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 135, 138; Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 323. 51 Vgl. nur Bleckmann, Staatsrecht II, S. 746; Graul, Künstlerische Urteile im Rahmen der staatlichen Förderungstätigkeit, S. 61 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, S. 659; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 169 f.; Kunig, DÖV 1982, 765 (769); Mahrenholz, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 137; Tillner, Die öffentliche Förderung des Musiktheaters in Deutschland, S. 104. 52 Exemplarisch etwa Schwarze, AfP 1974, 692 (695). 53 Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 246 ff.; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 445 f.

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besondere die „hohe“ Kunst – ein Bestandsteil des guten individuellen Lebens ist.54 Diese Übertragung des Gedankens ethischer Neutralität auf die Kunstfreiheit kommt zwar zu nachvollziehbaren und plausiblen Ergebnissen, leidet aber ebenfalls unter einem Konstruktionsmangel: Wenn sie die Wirkrichtung der Kunstfreiheit im Neutralitätskontext umkehrt und allein auf die Kunstrezipienten rekurriert, lässt sie damit die allein auf den Künstler bezogene Schutzdimension des Grundrechts außer Betracht.55 Auch in seiner objektiv-rechtlichen Dimension dient die Kunstfreiheit jedoch der Freiheit des Künstlers, nicht der des Kunstrezipienten.56 Das kunstspezifische Neutralitätsgebot muss daher beim Künstler selbst ansetzen. Seine Bedeutung kann daher nur darin liegen, das individuelle künstlerische Handeln nicht in eine bestimmte, staatlich vorgegebene Richtung zu lenken. Durch diese Subjektfixierung unterscheidet sich das spezifisch ästhetische Neutralitätsgebot von einem allgemeinen ethischen Neutralitätsgebot. Diese Sonderstellung, die auf den Besonderheiten der das Neutralitätsgebot begründenden Kunstfreiheit gründet, kann sich strukturell nur aus der Nähe der Kunstfreiheit zur Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs.1 GG bzw. ihrer Eigenschaft als Kommunikationsgrundrecht ergeben.57 Die spezifische ästhetische Neutralität ist somit nichts anderes als eine Spielart kommunikationsbezogener Neutralität. Weder in der Eingriffsdimension noch in der Förderdimension soll der Staat wertend in den Ausdrucksprozess eingreifen, dessen sich der Künstler bedient. Eine solche unzulässige Wertung liegt dabei dann vor, wenn die Grenzen dessen verlassen werden, was Art. 5 Abs. 2 GG mit der „Allgemeinheit“ eines Gesetzes bezeichnet.58 Wenn daraus für die Meinungsfreiheit folgt, dass nur eine solche Regelung ein allgemeines Gesetz darstellt, das sich nicht gegen die in Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgüter richtet, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dient, eines Rechtsguts, das in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt wird, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann,59 so ist 54

Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 473. Insofern räumt Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 473, Fn. 161, auch ein, dass ein solches Verständnis den Einbezug der Rezipienten in den Schutzbereich der Kunstfreiheit nahelegen würde. 56 Einen noch anderen Weg wählt Heckel, Staat – Kirche – Kunst, S. 99, demzufolge sich die Freiheit der Kunst hier auf das Kunstwerk selbst beziehen soll. Ein solches objektbezogenes Grundrechtsverständnis lässt sich jedoch mit der freiheitsrechtlichen Konstruktion der Grundrechte des Grundgesetzes nicht vereinbaren. 57 Zur Einordnung der Kunstfreiheit als Kommunikationsgrundrecht umfassend Lenski, Personenbezogene Massenkommunikation als verfassungsrechtliches Problem, S. 81 ff. 58 Zur historischen Debatte der Übertragung dieses Begriffes auf das Staatskirchenrecht als Maßstab religiös-weltanschaulicher Neutralität vgl. auch Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, S. 597 ff.; Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, S. 270 ff. 59 BVerfGE 7, 198 (209 f.); 28, 175 (185 f.); 59, 231 (263 f.); 62, 230 (243 f.); 71, 162 (175); 111, 147 (155); 113, 63 (78 f.); Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, S. 238 f.; 55

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diese Definition für den Bereich der Kunstfreiheit übertragungsfähig, aber anpassungsbedürftig. In diesem Sinne dürfen sich kunstneutrale (Förder-)Regeln nicht gegen bestimmte künstlerische Ausdruckformen als solche richten, sondern müssen dem Schutz bzw. der Förderung eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte künstlerische Ausdrucksform zu schützenden bzw. zu fördernden Rechtsguts dienen. Dabei darf die künstlerische Ausdrucksform hier nicht mit der Werkgattung verwechselt werden, so dass eine Differenzierung etwa zwischen Werken der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik unmöglich wäre. Auch darf die künstlerische Ausdrucksform nicht mit künstlerischen Stilrichtungen oder Schulen gleichgesetzt werden. Vielmehr ist auch hier wiederum die Zeichennatur des Kunstwerks zu berücksichtigen, derer sich der Künstler als Ausdrucksmittel bedient. Die Auswahlentscheidung darf sich somit weder spezifisch gegen ein bestimmtes Signifkat als Inhaltsseite des Zeichens, noch gegen einen bestimmten Signifikant als Ausdrucksseite des Zeichens noch gegen eine bestimmte Form der Zeichenkodierung richten. Durch dieses zeichenbezogene Verständnis des Neutralitätsgebots wird dieses auch jenseits des engeren Bereichs der Kunst anschlussfähig an die nicht künstlerisch, sondern historisch relevanten Kulturwerke und erweist sich insofern als für den Kulturbereich umfassend einschlägig, sofern tatsächlich Grundrechtsinteressen betroffen sind. Auch hier verlangt das kulturelle Neutralitätsgebot insofern, dass Eingriffs- wie Auswahlentscheidungen sich nicht gegen das Signifikat, den Signifikant oder die Art der Kodierung im Kodierungsprozess des historisch relevanten Kulturwerks wenden. 4. Funktionserfüllung als Entscheidungsmaßstab Wenn vor diesem Hintergrund sowohl in Hinblick auf etwaige derivative Teilhaberecht als auch in Bezug auf ein grundrechtlich fundiertes kulturelles Neutralitätsgebot des Staates eine Qualitätsauswahl insbesondere bei der Gewährung finanzieller oder sonstiger Vorteile grundsätzlich zulässig ist, bleibt damit doch noch die Frage offen, welcher Maßstab tatsächlich angelegt werden kann, der sowohl tauglicher Rechtfertigungsgrund für die Differenzierung bei der Vorteilsgewährung ist als auch den aufgezeigten Neutralitätskriterien genügt. Einzig sachliches Kriterium zur Anlegung eines solchen Auswahlmaßstabs kann dabei die Förderung der geistigen Funktion sein, welche Kultur und damit letztlich auch die Übernahme staatlicher Kulturverantwortung im Gemeinwesen erfüllt.60 Sowohl die Erfüllung der individuell-geistigen Funktion, d. h. der Bereitstellung von Orientierungspunkten im Prozess der individuellen und der kollektiven Identitätsbildung sowie die Erweiterung der Wirklichkeit der Welt des Menschen als Mittel geisClemens, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Art. 5 Rn. 125; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, S. 1579 ff.; Kokott, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, § 22 Rn. 119. 60 Vgl. in diese Richtung auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 481: die Maßstäbe müssen sich an dem Zweck orientieren, „die kulturelle Struktur des Gemeinwesens möglichst dicht, lebendig und pluralistisch zu gestalten“.

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tiger Freiheit,61 als auch der kollektiv-politischen Funktion von Kultur, d. h. die Nutzung der gemeinschaftsbezogenen integrativen Wirkung von Kulturwerken, um eine integrative Funktion auf das Staatswesen auszuüben, sowie der Einsatz ihrer Zeicheneigenschaft, um den Staat zu repräsentieren,62 kann dabei als Unterscheidungsmaßstab angelegt werden. Allerdings muss dabei keineswegs eine möglichst breite und umfassende Funktionserfüllung angestrebt werden, vielmehr kann zulässigerweise zwischen den verschiedenen Teilbereichen der Funktionserfüllung als Qualitätsmaßstab ausgewählt werden. Die Schwerpunktsetzung innerhalb der verschiedenen Funktionsbereiche stellt sich insofern als zulässige Maßnahme originärer Kulturpolitik dar. V. Zusammenfassung und Ausblick So wie der Jubilar für die Kulturförderung festgestellt hat, dass auch kompetenzwidrig gezahltes Geld verlockend ist, denn: „Not kennt kein Verfassungsgebot“,63 so scheint auch die grundrechtsspezifische Perspektive auf die Kulturförderung mitunter hinter dem – vielleicht auch kulturpolitisch motivierten – Versuch der Herleitung objektiver verfassungsrechtlicher Förderpflichten zurückzutreten. Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass es sich auch beim Lebensbereich der Kultur im engeren Sinne um einen grundrechtssensiblen Bereich handelt, der – genau wie etwa Presse, Rundfunk oder Religion – grundsätzlich von staatlicher Inhaltsbeeinflussung freizuhalten ist, die auch in Form von staatlicher Förderung erfolgen kann. Die Voraussetzungen eines spezifischen kulturellen Neutralitätsgebots sind dabei bisher nur bruchstückhaft im rechtswissenschaftlichen Diskurs herausgearbeitet. Will man mit dem Jubilar den Grundsatz des „Im Zweifel für die Freiheit“ ernst nehmen, so jedoch muss auch diese verfassungsrechtliche Seite der Kulturförderung dringend beleuchtet werden.

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s. dazu Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 308 ff. s. dazu Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 312 ff. 63 Kloepfer, in: FS Mußgnug, 2005, S. 3 (18).

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Verfassungsrechtliche Handlungspflichten zum Schutz der Verfassung Von Dietrich Murswiek I. Schutz der Verfassung als Pflicht der Staatsorgane – ein Problem? Bis vor kurzem hielt ich es für eine Selbstverständlichkeit, dass im Staat des Grundgesetzes alle Staatsorgane – besonders natürlich die Verfassungsorgane – verpflichtet sind, die unabänderlichen, die Identität der Verfassung prägenden Verfassungsfundamentalprinzipien nicht nur zu achten, sondern auch gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter zu schützen. Dass dies nicht für alle selbstverständlich ist und die rechtliche Existenz der Verfassungsschutzpflicht einer Begründung bedarf, wurde mir im Zusammenhang mit der Eurokrise bewusst – als nämlich die Bundesregierung es ablehnte, gegen mit dem Demokratieprinzip unvereinbare Entwicklungen in der Europäischen Währungsunion vorzugehen. Ich meine damit die Ankäufe von Staatsanleihen der Problemstaaten durch die EZB, die dadurch in mit dem Demokratieprinzip unvereinbarer Weise Risiken für die nationalen Haushalte produziert, sowie die Wirkungen des transeuropäischen Zahlungsverkehrssystems (Target2), das sich im Zusammenwirken mit der Politik der EZB als ein Mechanismus erweist, durch den die Mitgliedstaaten für die in diesem System entstandenen Verbindlichkeiten anderer Staaten letztlich haften müssen, obwohl sie auf die Entstehung dieser Verbindlichkeiten keinen Einfluss hatten und der Haftung niemals zugestimmt haben. Nach meiner Auffassung sind hier also im Bereich der Europäischen Union Transfer- beziehungsweise Haftungsautomatismen entstanden, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Haushaltsautonomie des Bundestages und mit dem gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Kerngehalt des Demokratieprinzips unvereinbar sind1. Nicht ein deutsches Staatsorgan, sondern ein Dritter – hier die EZB als ein Organ einer supranationalen Organisation – wirkt in die nationale Rechtsordnung dergestalt hinein, dass ein fundamentales Verfassungsprinzip, das Demokratieprinzip, verletzt wird2. 1 Vgl. BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 u. a. – „Rettungsschirm“, Abs.-Nr. 125 ff. = BVerfGE 129, 124 (178 ff.); BVerfG, Urt. v. 12.9.2012 – 2 BvR 1390/12 u. a. – ESM, Abs.Nr. 211 ff. 2 Als Prozessvertreter des Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler habe ich im ESM/ EZB-Verfahren, das zurzeit (ich schreibe dies im März 2013) noch beim BVerfG anhängig ist (2 BvR 1390/12), diese Verstöße gerügt und ausführlich begründet, insb. im Schriftsatz vom 11. 10. 2012, S. 3 ff., 22 ff., 32 ff., 42 ff., 48 ff.

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Dietrich Murswiek

Freilich bestreitet die Bundesregierung, dass die Staatsanleihenkäufe der EZB und das Target-System mit dem Demokratieprinzip unvereinbar sind. Um die Frage, wer hier recht hat, geht es mir in der vorliegenden Abhandlung nicht. Ich möchte mit dem Hinweis auf die von mir für demokratiewidrig gehaltenen Handlungen der EZB lediglich deutlich machen, dass ich mich im Folgenden nicht mit einem nur theoretischen „Schreibtischproblem“ beschäftige, sondern dass die Untätigkeit der Bundesregierung angesichts der Beeinträchtigung eines unabänderlichen Verfassungsprinzips durch Dritte durchaus praktisch vorstellbar – und nach meiner Auffassung reale politische Praxis – ist und dass die Frage nach einer Pflicht zum Schutz des unabänderlichen Verfassungskerns gegen Verletzungen durch Dritte somit höchste Aktualität und praktische Relevanz hat – zumal von manchen Akteuren nicht nur der konkrete Verfassungsverstoß, sondern auch die Existenz einer Pflicht der Bundesregierung zum Schutz der Verfassung in Abrede gestellt wird3. II. Schutz der Verfassung als Verfassungsaufgabe Das Grundgesetz ist vor dem Hintergrund des Scheiterns der Weimarer Verfassung entstanden. Nie wieder soll es die Möglichkeit einer legalen Beseitigung der Verfassung geben. Das Grundgesetz ist geprägt durch die Grundentscheidung, dass die Fundamente der Verfassung nicht zur Disposition des Gesetzgebers, auch nicht des verfassungsändernden Gesetzgebers, stehen. Es soll nicht möglich sein, die Demokratie im Wege demokratischer Wahlen oder demokratisch legitimierter Parlamentsbeschlüsse, die Freiheit im Wege freier Wahlentscheidungen zu beseitigen. Die fundamentalen Verfassungsprinzipien, die – in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts – die „Verfassungsidentität“ des Grundgesetzes ausmachen, sind daher nicht im Wege der Verfassungsänderung abänderbar (Art. 79 Abs. 3 GG). Art. 79 Abs. 3 GG richtet sich unmittelbar an den verfassungsändernden Gesetzgeber. So, wie der einfache Gesetzgeber verpflichtet ist, die Verfassung in all ihren Einzelheiten zu beachten, ihre Regeln und Prinzipien zu wahren, so ist der verfassungsändernde Gesetzgeber verpflichtet, die sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Verfassungsänderung zu beachten. Eine legale Änderung oder gar Beseitigung der Verfassungsfundamentalprinzipien wird so durch Art. 79 Abs. 3 GG unmöglich gemacht. Das heißt natürlich nicht, dass die Änderung oder Beseitigung dieser Prinzipien faktisch unmöglich ist. Eine Revolution kann die Verfassung durch eine andere Verfassung ersetzen; sie schafft neue Fakten, die eine neue Basis für das künftige Verfassungsrecht bilden. „Revolution“ im Rechtssinne ist nicht notwendigerweise ein blutiger Umsturz, sondern jede Beseitigung oder auch nur Abänderung eines verfas-

3 So die Prozessvertreter des Bundestages im Verfahren 2 BvR 1390/12, Schriftsatz v. 14. 11. 2012, S. 110 ff.

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sungsrechtlich nicht abänderbaren fundamentalen Verfassungsprinzips ist ein revolutionärer Akt4. Daraus resultiert die Aufgabe, die Verfassung zu schützen. Die Verfassung bedarf des Schutzes gegen Akte, die mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar sind, sich aber faktisch durchsetzen und damit Geltung beanspruchen könnten. Sie bedarf zunächst des Schutzes gegen mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbare Verfassungsänderungen und gegen sonstige Rechtsakte, die zu einer Beeinträchtigung eines der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien führen. Sie bedarf natürlich auch des Schutzes gegen Bestrebungen, die mit illegalen Mitteln, insbesondere mit Gewaltanwendung, eines der unabänderlichen Verfassungsprinzipien beseitigen oder beeinträchtigen wollen. 1. Achtung und Schutz des Verfassungskerns Dass alle Staatsorgane verpflichtet sind, die Verfassung und insbesondere ihren unabänderlichen Kern zu achten, also in ihrem gesamten Verhalten die Verfassung nicht zu verletzen, versteht sich von selbst. Die Verfassung ist ja die Grundordnung, die den rechtlichen Rahmen für das Handeln der verfassten Staatsorgane bildet; diese haben ihre Kompetenzen aufgrund der Verfassung, und ihre Kompetenzen werden durch die Verfassung begrenzt. Die Verfassungsgebundenheit von Legislative, Exekutive und Judikative wird durch Art. 20 Abs. 3 GG expressis verbis angeordnet. Alle Staatsorgane sind somit verpflichtet, insbesondere die identitätsbestimmenden fundamentalen Verfassungsprinzipien zu achten. Diese Achtungspflicht ergibt sich, ohne dass es konkretisierender einfachgesetzlicher Vorschriften bedürfte, unmittelbar aus der Verfassung. Von der Achtungspflicht ist die Schutzpflicht zu unterscheiden. Ausdrücklich normiert ist sie in Art. 1 Abs. 1 GG für die Menschenwürde: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Schutzpflicht bezieht sich auf Gefährdungen des Schutzguts durch Dritte. „Alle staatliche Gewalt“ – also alle Staatsorgane im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen – sind verpflichtet, die Menschenwürde gegen Verletzungen durch Dritte zu schützen. Dritte sind vor allem Privatpersonen, können aber auch andere Staaten oder internationale Organisationen und deren Organe sein. Da die Schutzpflicht nicht nur dem Staat im ganzen, sondern jedem einzelnen Staatsorgan obliegt, ist sie innerhalb der Staatsorganisation auch auf die jeweils anderen Staatsorgane zu beziehen: Jedes Organ ist verpflichtet, die Menschenwürde auch gegen Eingriffe seitens anderer Staatsorgane zu schützen – freilich immer nur im Rahmen der vorhandenen Kompetenzen. Die Schutzpflicht wirkt nicht kompetenzerweiternd.

4 Zum Rechtsbegriff der Revolution vgl. Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 17 f.

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Die Menschenwürde gehört zu den gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien. Sie ist das einzige dieser Prinzipien, für das die Schutzpflicht aller Staatsorgane ausdrücklich geregelt ist. Daraus den Umkehrschluss zu ziehen, die Staatsorgane seien nicht verpflichtet, auch die übrigen Verfassungsfundamentalprinzipien – insbesondere Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit – zu schützen, wäre schon deshalb verfehlt, weil der Umkehrschluss ja bezüglich der Achtungspflicht evident nicht in Betracht kommt. Der Verfassunggeber wollte die Achtungspflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG besonders hervorheben, aber sie nicht konstitutiv regeln. Die Verfassungsbindung aller Staatsorgane ergibt sich schon aus dem Wesen der Verfassung als der für alle Staatsorgane verbindlichen Ordnung, die ihnen ihre Kompetenzen gibt und zugleich begrenzt, zudem – wie schon erwähnt – aus Art. 20 Abs. 3 GG. Was für die Achtungspflicht gilt, könnte somit ebenso für die Schutzpflicht gelten: dass nämlich Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG auch insoweit nicht konstitutiv ist, sondern lediglich eine ohnehin allgemein bestehende Pflicht speziell für die Menschenwürde besonders hervorhebt. Nur bedürfte dies für die Schutzpflicht einer besonderen Begründung. Kein Zweifel besteht daran, dass die Gerichte – vor allem das Bundesverfassungsgericht – verpflichtet sind, die Verfassung zu schützen. Die Gerichte sind Rechtsdurchsetzungsorgane, und sie haben auch den Geltungsanspruch des Verfassungsrechts durchzusetzen. Allerdings haben sie kein Initiativrecht. Sie können nur – soweit sie zuständig sind – auf Klage oder Antrag eines dazu nach dem Prozessrecht befugten Klägers oder Antragstellers tätig werden. Als Staatsorgan, das aus eigener Initiative zum Schutz der Verfassung tätig werden kann, kommt vor allem die Bundesregierung in Betracht. Daher werden die folgenden Überlegungen sich auf die Regierung konzentrieren. 2. Die Verfassungsfundamentalprinzipien als „absolute“ Schutzgüter Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Vorschriften, die speziell dem Schutz der Verfassungsfundamentalprinzipien dienen, die unter dem Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zusammengefasst werden: Wer seine Meinungsoder Pressefreiheit oder bestimmte andere Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt gemäß Art. 18 GG diese Grundrechte. Politische Parteien, die darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, sind gemäß Art. 21 Abs. 2 GG verfassungswidrig. Vereinigungen, deren Zwecke oder Tätigkeiten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, sind gemäß Art. 9 Abs. 2 GG verboten. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, gemäß Art. 20 Abs. 4 GG das Recht zum Widerstand.

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Alle diese Vorschriften setzen voraus, dass der Schutz der Verfassung eine Aufgabe der jeweils zuständigen Staatsorgane ist. Dies gilt nicht nur für das Bundesverfassungsgericht, das über Parteiverbote und Grundrechtsverwirkungen zu entscheiden hat, oder für die Verwaltungsgerichte, die über Vereinsverbote entscheiden, sondern auch für die Staatsorgane, die berechtigt sind, Verbots- oder Verwirkungsanträge zu stellen. Die Bedeutung der Verbots- und Verwirkungsvorschriften erschöpft sich aber nicht in ihrem unmittelbaren Regelungsgegenstand, der Ermöglichung von Parteiund Vereinsverboten oder von Grundrechtsverwirkungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Diese Vorschriften bestätigen vielmehr auch, dass die fundamentalen Verfassungsprinzipien nicht nur in Relation zu den Staatsorganen gelten – nicht nur deren Struktur, deren Funktion und Legitimation bestimmen und nicht nur von ihnen Beachtung verlangen –, sondern dass ihr Geltungsanspruch absolut ist und demgemäß gegen alle Bestrebungen verteidigt werden muss, die diese Prinzipien beeinträchtigen wollen. Dieser absolute Geltungsanspruch der Verfassungsfundamentalprinzipien wird – wie gesagt – durch die Verbots- und Verwirkungsnormen bestätigt, nicht erst konstituiert. Er ist dem Geltungsanspruch der Verfassung als der obersten, die Einheit der Rechtsordnung konstituierenden Normenebene immanent. Das Rechtsetzungsmonopol des Staates lässt Änderungen des geltenden Rechts nur im Rahmen staatlicher Rechtsetzungsverfahren zu, Verfassungsänderungen also nur im Rahmen des Art. 79 GG. „Verfassungsänderungen“, die nicht vom nach Art. 79 Abs. 2 GG zuständigen verfassungsändernden Gesetzgeber vorgenommen werden, sondern von Dritten, sind unwirksam. Versuche Dritter, dennoch Änderungen der verfassungsrechtlichen Fundamentalprinzipien faktisch durchzusetzen, sind revolutionäre Akte. Die Rechtsordnung wäre in sich widersprüchlich, wenn revolutionäre Akte nicht verboten wären. Ob sich ein an Dritte – also nicht an Staatsorgane – gerichtetes Revolutionsverbot unmittelbar aus dem Grundgesetz ergibt, ist in diesem Zusammenhang sekundär. Da alle Verbote Freiheitseinschränkungen sind, sprechen Gründe des Rechtsstaatsprinzips (Vorbehalt des Gesetzes für Freiheitseinschränkungen, Bestimmtheitsgebot) dafür, dass sich für Private das Revolutionsverbot nicht aus Art. 79 GG ergibt, sondern aus den einschlägigen einfachen Gesetzen, insbesondere aus dem Gefahrenabwehrrecht sowie aus den strafrechtlichen Bestimmungen, die Gewaltanwendung, Drohung mit Gewalt oder Nötigung verbieten. Insofern können die Verfassungsfundamentalprinzipien mit den Grundrechten verglichen werden. Diese haben nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine unmittelbare Drittwirkung, aber der Staat ist verpflichtet, die grundrechtlichen Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter zu schützen. Spricht man in diesem Sinne auch den Verfassungsfundamentalprinzipien unmittelbare Drittwirkung ab, so ist der Gesetzgeber jedenfalls verpflichtet, die einfachgesetzliche Rechtsordnung so zu gestalten, dass revolutionäre Akte verboten sind. Da private Dritte ohne Zwang und Gewalt nicht in der Lage sind, Verfassungsprinzipien außer Kraft zu setzen,

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ist das Revolutionsverbot in den allgemeinen Verboten von Zwang und Gewalt, die seit Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, und das heißt genau genommen seit Existenz des modernen Staates5, Bestandteil jeder staatlichen Rechtsordnung sind, bereits enthalten. Die Frage, ob der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet ist, ein Revolutionsverbot für Privatpersonen zu erlassen, hat sich in der Geschichte des Verfassungsstaats noch nie gestellt, weil es ein solches Verbot immer gegeben hat und es nie in Frage gestellt worden ist. Da dieses der Rechtsordnung immanente Verbot aber in unserem Zusammenhang von systematischer Bedeutung ist, soll hier festgehalten werden, dass schon der Begriff der Verfassung dieses Verbot voraussetzt und dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich gehindert wäre, revolutionäre Akte zu erlauben. Eine andere Frage ist, ob der Gesetzgeber auch verpflichtet ist, präventive Regelungen zum effektiven Schutz der Verfassung zu erlassen, die schon vor einer konkreten Gefahr für ein Verfassungsfundamentalprinzip Schutzmaßnahmen ermöglichen, wie sie etwa in den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder enthalten sind (Verfassungsschutzgesetzgebung im engeren Sinne). Darauf soll hier nicht eingegangen werden. 3. Die Verfassungsfundamentalprinzipien als „Grundwerte“ Das Bundesverfassungsgericht sieht in den Grundrechten „objektive Wertentscheidungen“ und zieht daraus Konsequenzen für ihren Geltungsanspruch in der Drittrichtung. Es hat mit dem Topos der „objektiven Wertentscheidungen“ zunächst die mittelbare Drittwirkung der Freiheitsrechte – ihre „Ausstrahlungswirkung“ ins Privatrecht – begründet6 und später aus dem „objektiven Gehalt“ der Grundrechte die staatliche Pflicht zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter abgeleitet7. 5 Vgl. Carl Schmitt, Staat als konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 375 ff. 6 Seit BVerfGE 7, 198 (205 f.) – Lüth, std. Rspr.; vgl. z. B. auch BVerfGE 34, 269 (280); 81, 242 (254 f.) – Handelsvertreter. 7 BVerfGE 39, 1 (41, 42 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I; 41, 126 (182) – Reparationsschäden; 46, 160 (164 f.) – Schleyer; 49, 89 (126 ff.) – Kalkar I; 53, 30 (57) – MülheimKärlich; 55, 349 (364) – Hess; 56, 54 (73 ff.) – Fluglärm; 66, 39 (61) – Nachrüstung; 77, 170 (214 f., 229 f.) – Lagerung von C-Waffen; 77, 381 (402 ff.) – Gorleben; 79, 174 (201 f.); außerdem gibt es eine Vielzahl entsprechender Kammerentscheidungen, z. B. BVerfG (VorprüfungsA), 14.9.1983 – 1 BvR 920/83 –, NJW 1983, 2931 (2932) – Immissionsschutz; BVerfG I (1. K), 29.11.1995 – 1 BvR 2203/95 –, NJW 1996, 651 = EuGRZ 1995, 120 – Ozon; BVerfG I (2. K), 26.10.1995 – 1 BvR 1348/95 –, NJW 1996, 651 = EuGRZ 1995, 119 – Geschwindigkeitsbegrenzungen; BVerfG I (3. K), 26.5.1998 – 1 BvR 180/88 –, NJW 1998, 3264 – Entschädigung f. Waldschäden; BVerfG I (1. K), 17.2.1997 – 1 BvR 1658/96 –, NJW 1997, 2509 = JZ 1997, 897 – elektromagnetische Felder (Elektrosmog I); BVerfG I (1. K), 28.2.2002 – 1 BvR 1676/01 –, NJW 2002, 1638 – Mobilfunk (Elektrosmog II); BVerfG I (1. K), 25.8.2005 – 1 BvR 2165/00 –, NJW 2006, 595 – Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.

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Da die Freiheitsrechte nach herkömmlichem Verständnis als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe fungieren, war es ihre Qualifizierung als „objektive Wertentscheidungen“, die zusätzliche Schutzfunktionen – in der Drittrichtung – eröffnete und die Staatsorgane zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter in Pflicht nahm. Was die Verfassungsfundamentalprinzipien angeht, so waren diese in der Verfassungsrechtsdogmatik noch nie auf die Funktion begrenzt, staatliche Eingriffe abzuwehren oder Unterlassungspflichten für Staatsorgane zu begründen. Vielmehr konstituieren diese Prinzipien den Verfassungsstaat. Sie bringen die Grundentscheidungen zum Ausdruck, nach denen der Staat sich organisiert und legitimiert. Sie können deshalb gar nicht anders als „absolut“, also in jeder Schutzrichtung, wirkende Schutzgüter verstanden werden. Deshalb können die Verfassungsfundamentalprinzipien auch als verfassungsrechtliche „Grundwerte“ verstanden werden. Es soll hier nicht auf die Problematik des Wert-Begriffs und auf die von Carl Schmitt ausgelöste Werte-Debatte8 eingegangen werden. Versteht man die Grundrechte als objektive Wertentscheidungen, dann muss dies jedenfalls erst recht für die Verfassungsfundamentalprinzipien gelten – zumal ja die Verfassungsfundamentalprinzipien durch das Grundgesetz stärker geschützt werden als die einzelnen Grundrechte, nämlich im Unterschied zu diesen unabänderlich sind. Das Verständnis der Verfassungsfundamentalprinzipien als „Grundwerte“ entspricht übrigens auch dem Verfassungsverständnis der Europäischen Union und aller ihrer Mitgliedstaaten. Art. 2 Satz 1 EUV bringt dies wie folgt zum Ausdruck: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“

Nicht nur Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte werden hier als „Werte“ bezeichnet, sondern auch die Staatsorganisationsprinzipien Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Werte aber wirken nicht nur relativ – im Verhältnis zu den Staatsorganen –, sondern absolut. Daher müssen sie von den Staatsorganen nicht nur geachtet, sondern auch gegen Verletzungen durch Dritte geschützt werden. Somit ist der Staat verpflichtet, die Verfassungsfundamentalprinzipien gegen jede Beeinträchtigung zu schützen.

8 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011; dazu zuletzt Christoph Schönberger, Werte als Gefahr für das Recht? Nachwort, in: Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 57 (65 ff.).

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III. Schutz der Verfassung als Pflicht der Verfassungsorgane 1. Die allgemeine Pflicht zur Wahrung und Verteidigung der Verfassung9 Wem obliegt diese Pflicht zum Schutz der Verfassung? Soweit nicht die Gerichte zuständig sind (aufgrund der Prozessordnungen oder kraft verfassungsrechtlicher Zuständigkeitszuweisung), ist es Aufgabe von Legislative und Exekutive, im Rahmen ihrer allgemeinen verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten die Verfassung gegen Verletzungen durch Dritte zu schützen. Sofern nämlich das Grundgesetz keine spezielle Kompetenzzuweisung vornimmt, gilt die allgemeine Kompetenzordnung. Das heißt konkret, dass der Gesetzgeber zuständig ist, soweit es zum Zweck des Verfassungsschutzes des Erlasses eines Gesetzes bedarf. Bundestag und / oder Bundesrat sind ferner zuständig, wenn es darum geht, ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht einzuleiten und eines dieser Organe antragsberechtigt ist. Entsprechendes gilt für die Bundesregierung. Diese ist im übrigen immer dann zuständig, wenn Aufgaben des Verfassungsschutzes Maßnahmen der Exekutive erfordern und die Wahrnehmung dieser Aufgaben nicht untergeordneten Behörden oder den Ländern zugewiesen ist. Kraft ihrer auswärtigen Gewalt (Art. 32 Abs. 1 GG) ist die Bundesregierung insbesondere auch dann zuständig, wenn Maßnahmen anderer Staaten oder Maßnahmen von Organen internationaler Organisationen oder der Europäischen Union ein verfassungsrechtliches Schutzgut der Bundesrepublik Deutschland zu verletzen drohen. Diese Aufgabe des Verfassungsschutzes wahrzunehmen sind die Staatsorgane verpflichtet. Wie bereits oben (II.) dargelegt, ist der Staat verpflichtet, die Verfassungsfundamentalprinzipien zu schützen. Er handelt in Erfüllung dieser Pflicht durch die jeweils zuständigen Organe. Diese haben hinsichtlich des Ob der Erfüllung der Verfassungsschutzaufgabe kein Ermessen, sondern sind verfassungsrechtlich strikt zur Wahrnehmen dieser Aufgabe verpflichtet. Nur hinsichtlich der Art und Weise der Aufgabenerfüllung kann es ein politisches Ermessen geben. Die allgemeine Pflicht, die Verfassung zu schützen, ergibt sich – wie oben schon gezeigt – aus dem absoluten Geltungsanspruch der Verfassungsfundamentalprinzipien und aus Art. 20 Abs. 3 GG sowie bezüglich der Wahrung des unabänderlichen Verfassungskerns außerdem aus Art. 21 Abs. 2, 9 Abs. 2, 18 und 20 Abs. 4 GG. Für die Bundesregierung folgt die Verpflichtung zum Schutz der Verfassung auch aus Art. 64 Abs. 2 i.V.m. Art. 56 GG. Aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt die Bindung aller Staatsorgane – nicht nur der Gesetzgebung – an die Verfassung. Damit drückt das Grundgesetz eine verfassungsstaatliche Selbstverständlichkeit aus. Alle Staatsgewalt im Verfassungsstaat ist ver9 Dieser Abschnitt (III. 1.) beruht auf Ausführungen, die ich im ESM-Verfahren vor dem BVerfG (2 BvR 1390/12) gemacht habe, ebenso teilweise unten der Abschnitt IV.

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fassungsrechtlich gebundene Staatsgewalt. Für die Wahrung der Verfassungsordnung sind alle Staatsorgane im Rahmen ihrer Kompetenzen berufen. Wenn ein Staatsorgan nicht nur im Einzelfall seine Kompetenzen überschreitet oder auf andere Weise gegen die Verfassung verstößt, sondern sich – etwa durch Inanspruchnahme einer ihm nicht zustehenden Kompetenz – dauerhaft aus der Bindung an die Verfassung löst, dürfen die übrigen Staatsorgane dies nicht tatenlos hinnehmen, sondern müssen im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten diejenigen Maßnahmen ergreifen, die erforderlich sind, um den verfassungsmäßigen Zustand wiederherzustellen. Die Verfassung kann sich nicht von selbst vollziehen und sich insbesondere nicht selbst gegen Verletzungen schützen. Das Prinzip der Bindung aller Staatsorgane an die Verfassung sowie bereits der Geltungsanspruch der Verfassung als solcher implizieren daher notwendigerweise, dass diejenigen, die nach der Verfassung zum Verfassungsvollzug berufen sind – und das sind die Verfassungsorgane im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen –, die Pflicht haben, den Geltungsanspruch der Verfassung gegen diejenigen durchzusetzen, die diesen Geltungsanspruch durch ihr Verhalten negieren. Diese Pflicht wird von Art. 64 Abs. 2 i.V.m. Art. 56 GG vorausgesetzt. Die Mitglieder der Bundesregierung schwören in ihrem Amtseid, dass sie „das Grundgesetz […] wahren und verteidigen“ werden. Sie schwören also nicht nur, selbst das Grundgesetz zu beachten, sondern es auch gegen Verletzungen durch Dritte zu verteidigen. Dieser Amtseid hat überhaupt nur dann Sinn, wenn die Mitglieder der Bundesregierung, natürlich immer im Rahmen ihrer Kompetenzen, zur Verteidigung der Verfassung gegen Verletzungen durch Dritte – seien es andere Staatsorgane, seien es Privatpersonen oder seien es Organe internationaler oder supranationaler Organisationen – verpflichtet sind. Besonders intensiv ist die Verfassungspflicht zum Schutz der Verfassung in bezug auf die freiheitliche demokratische Grundordnung beziehungsweise den unabänderlichen Verfassungskern im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG ausgeprägt. Das Grundgesetz sieht sogar gegenüber politischen Parteien und gegenüber sonstigen Vereinigungen, die darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, präventive Verbotsmaßnahmen und gegenüber Privatpersonen Grundrechtsverwirkungen vor, obwohl Parteien, Vereinigungen und Privatpersonen anders als Staatsorgane gar nicht unmittelbar an die Verfassung gebunden sind und die Verfassung daher erst verletzen könnten, wenn sie entweder „an die Macht gekommen“ sind, also im Wege von Wahlen oder infolge eines Umsturzes sich der Funktionen von Staatsorganen bemächtigt haben, oder wenn sie die Amtswalter mit Gewalt oder Zwang an der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Funktionen hindern. Wenn also beispielsweise präventive Verbote von politischen Parteien, die ihre Ziele nicht mit Anwendung von Gewalt verfolgen, allein aufgrund ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Zielsetzung und somit weit im Vorfeld einer konkreten Gefährdung der Verfassung möglich sind, dann zeigt dies, wie bedeutsam die Wahrung und Verteidigung des unabänderlichen Verfassungskerns in der Konzeption des Grundgesetzes ist.

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Es bedarf hier keiner Erörterung, inwieweit sich aus dem Grundgesetz nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung zum Ergreifen präventiver Maßnahmen zum Schutz der Verfassung ergibt. Aus der Konzeption des Grundgesetzes, den unabänderlichen Verfassungskern strikt zu schützen und zu verteidigen, folgt jedenfalls, dass andauernde Verletzungen unabänderlicher Verfassungsprinzipien, wenn sie bereits eingetreten sind, nicht hingenommen werden dürfen und dass eine Pflicht der Staatsorgane besteht, im Rahmen ihrer Kompetenzen gegen solche Verletzungen vorzugehen. Diese Verpflichtung ergibt sich im Übrigen auch aus Art. 20 Abs. 4 GG. Nach dieser Vorschrift haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, eines der unabänderlichen Verfassungsprinzipien zu beseitigen, sofern andere Abhilfe nicht möglich ist. Angesichts des staatlichen Gewaltmonopols und angesichts des prinzipiellen rechtsstaatlichen Rechtsdurchsetzungsmonopols des Staates sind deshalb alle Staatsorgane im Rahmen ihrer Kompetenzen verpflichtet, Abhilfe zu leisten, wenn ein unabänderliches Verfassungsprinzip dauerhaft verletzt zu werden droht – bereits gegen den unmittelbar bevorstehenden Versuch ist ja bereits Widerstand erlaubt – und daher erst recht dann, wenn das Verfassungsfundamentalprinzip bereits dauerhaft verletzt wird. Auch Art. 20 Abs. 4 GG verpflichtet also alle Staatsorgane zur Verteidigung des die Verfassungsidentität bestimmenden Verfassungskerns im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG. 2. Ungeschriebene verfassungsrechtliche Handlungspflichten Der hier vertretenen Auffassung, dass alle Staatsorgane im Rahmen ihrer Kompetenzen verfassungsrechtlich verpflichtet sind, die Verfassung zu schützen, lässt sich nicht entgegenhalten, eine solche Schutzpflicht sei nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt. Zum einen trifft dies, wie oben gezeigt, jedenfalls bezüglich der Bundesregierung nicht zu, die gemäß Art. 64 Abs. 2 i.V.m. Art. 56 GG ausdrücklich verpflichtet ist, die Verfassung nicht nur zu achten, sondern auch zu verteidigen. Zum anderen gibt es keinen Grund für die Annahme, dass es keine ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Handlungspflichten geben könne. Was Unterlassungspflichten angeht, so hat das Bundesverfassungsgericht noch nie ein Problem darin gesehen, ungeschriebene Pflichten der Bundesregierung oder des Gesetzgebers aus dem Grundgesetz abzuleiten und sogar neue Grundrechte („informationelle Selbstbestimmung“, „Computergrundrecht“) zu postulieren. In bezug auf Handlungspflichten ist das Bundesverfassungsgericht freilich zurückhaltender. Dies gilt insbesondere für Gesetzgebungspflichten10. Diese Zurückhaltung resultiert aus dem Umstand, dass die verfassungsgerichtliche Feststellung des Bestehens einer Unterlassungspflicht – wie sie durch die Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe begründet wird – dem Gesetzgeber beziehungsweise der Bundesregierung immer nur eine einzelne konkrete Maßnahme 10

Vgl. BVerfGE 1, 97 (100 f.); 6, 257 (264); 11, 255 (261 f.); 56, 54 (70 f.).

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verbietet. Der Gesetzgeber oder die Regierung wird durch die gerichtliche Entscheidung also nicht gehindert, das angestrebte Ziel mit anderen Maßnahmen zu verfolgen. Zu der für verfassungswidrig erklärten Maßnahme gibt es – nicht immer, aber oft – verfassungsmäßige Alternativen. Die politische Gestaltungsfreiheit der Staatsorgane wird durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Maßnahme (also die Feststellung des Verstoßes gegen eine Unterlassungspflicht) nur punktuell eingeschränkt. Wird hingegen der Gesetzgeber oder die Bundesregierung zu einem bestimmten Handeln verpflichtet (wird also der Verstoß gegen eine Handlungspflicht festgestellt), so bleibt ihm hierzu keine verfassungsmäßige Alternative offen. Die verfassungsgerichtliche Feststellung der Verletzung einer Handlungspflicht scheint also die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beziehungsweise der Bundesregierung wesentlich weiter einzuschränken als die Feststellung der Verletzung einer Unterlassungspflicht. Dies trifft freilich nur eingeschränkt zu. Wie weit durch die Feststellung der Verletzung einer Unterlassungspflicht der politische Gestaltungsspielraum eingeschränkt wird, hängt vielmehr davon ab, wie die Unterlassungspflicht inhaltlich gefasst wird. Stellt beispielsweise das Bundesverfassungsgericht fest, der Gesetzgeber sei verpflichtet, zur Verwirklichung eines bestimmten Ziels tätig zu werden, und macht keine Vorgaben bezüglich der Mittel der Zielverwirklichung, so ist der Gesetzgeber nur hinsichtlich des Ob gebunden und behält die volle Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Wie, hinsichtlich der Mittel der Zielverwirklichung. In solchen Fällen dürfte die Gestaltungsfreiheit nicht stärker eingeschränkt sein als bei Unterlassungspflichten. Umgekehrt schränken Unterlassungspflichten die Gestaltungsfreiheit sehr weitgehend ein, wenn es im konkreten Fall keine verfassungsmäßigen Alternativen gibt. Somit ist die Annahme, dass Handlungspflichten die politische Gestaltungsfreiheit von Legislative und Exekutive sehr viel weiter einschränken als Unterlassungspflichten nicht generell zutreffend. Deshalb kann auch nicht generell postuliert werden, dass es verfassungsrechtliche Handlungspflichten nur dann geben könne, wenn Handlungsaufträge im Grundgesetz ausdrücklich geregelt und ihr Inhalt und Umfang dabei im Wesentlichen umgrenzt seien11. Ob und in welchem Umfang das Demokratieprinzip einer verfassungsgerichtlichen Feststellung von Handlungspflichten des Gesetzgebers oder der Bundesregierung entgegensteht, kann nicht davon abhängen, ob die Handlungspflicht im Verfassungstext geschrieben steht. Vielmehr kommt es darauf an, ob sich die Pflicht hinreichend konkret in methodisch einwandfreier Weise aus dem Grundgesetz ableiten lässt. Zweifel über das Bestehen einer solchen Pflicht mögen dann für die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sprechen. Genauso ist das Bundesverfassungsgericht bei der Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten verfahren. Eine verfassungstextlich geschriebene Schutzpflicht gibt es ja nur hinsichtlich der Menschenwürde. Dennoch hat das Bundesverfassungs11 So aber, jedenfalls für das Verfassungsbeschwerdeverfahren, BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 u. a. – „Rettungsschirm“, Abs.-Nr. 118 = BVerfGE 129, 124 (176).

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gericht zu Recht Pflichten aller Staatsorgane einschließlich des Gesetzgebers zum Schutz auch anderer grundrechtlicher Schutzgüter in ständiger Rechtsprechung bejaht, dabei aber dem Gesetzgeber hinsichtlich der Art und Weise der Schutzgewährung einen großen Gestaltungsspielraum eingeräumt. Die Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Schutzpflichten zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht entgegen einer gelegentlich vertretenen Behauptung in ständiger Rechtsprechung ungeschriebene verfassungsrechtliche Handlungspflichten der Staatsorgane bejaht. Die Verpflichtung, die Verfassungsfundamentalprinzipien zu schützen, lässt sich aus dem Grundgesetz noch klarer und stringenter ableiten als die Pflicht zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter. Es gibt also keinen Grund, die Schutzpflichtrechtsprechung – jedenfalls hinsichtlich der Begründung einer objektiven Verfassungspflicht – nicht auf den Schutz der Verfassungsfundamentalprinzipien zu erstrecken12. Die Gründe, aus denen das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers als nur ausnahmsweise zulässig angesehen hat – nämlich dass „die Entscheidung, ob und mit welchem Inhalt ein Gesetz zu erlassen ist, von mannigfaltigen wirtschaftlichen, politischen und haushaltsrechtlichen Gegebenheiten“ abhänge, die sich richterlicher Nachprüfung im allgemeinen entzögen13 –, sind hinsichtlich der Pflicht zum Schutz der Verfassung nicht gegeben. Hier enthält das Grundgesetz sehr klare Vorgaben, die nicht weniger präzise als die aus geschriebenen Verfassungsnormen sind. Und die Erfüllung der Pflicht hängt nicht von wirtschaftlichen, politischen und haushaltsrechtlichen Gegebenheiten ab. 3. Pflicht zum Schutz der Verfassung und politisches Ermessen Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch, inwieweit den zuständigen Staatsorganen bei der Wahrnehmung ihrer Pflicht zum Schutz der Verfassung politisches Ermessen zusteht. Die Verfassung gibt verbindlich nur das Ziel vor: Die Integrität der Verfassung – insbesondere der unabänderlichen Verfassungsfundamentalprinzipien – ist zu wahren. Dies bedeutet auf jeden Fall, dass Verletzungen dieser Prinzipien nicht geduldet werden dürfen. Ist eine Verletzung bereits eingetreten oder steht sie unmittelbar bevor, so muss das zuständige Staatsorgan handeln, um die Verletzung zu verhindern oder sie zu beseitigen. Ein Nichthandeln kann dann nur rechtmä12 Die Rechtsprechung des BVerfG zu den grundrechtlichen Schutzpflichten ist ihrerseits partiell unausgegoren und viel zu zurückhaltend; sie verdient daher gründliche Kritik, dazu eingehend Dietrich Murswiek, Zur Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflichten für den Umweltschutz, WiVerw. 1986, S. 179 (190 ff.); ders., Rechtsprechungsanalyse Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (244 ff.). Auf die Defizite und Schwächen dieser Rechtsprechung soll hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist hier, dass zumindest in dem Umfang, in welchem das BVerfG Schutzpflichten für die grundrechtlichen Schutzgüter bejaht, auch eine Schutzpflicht für die Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG bejaht werden muss. 13 BVerfGE 56, 54 (71) m. Hinw. auf BVerfGE 1, 97 (100 f.); 11, 255 (261).

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ßig sein, wenn mehrere Staatsorgane zuständig sind und ein anderes Organ bereits die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat oder sichergestellt ist, dass es die erforderlichen Maßnahmen treffen wird. Gibt es mehrere geeignete Mittel zur Verhinderung oder Beseitigung der Verletzung, so hat das zuständige Staatsorgan ein Auswahlermessen. Bleibt es aber gänzlich untätig, verletzt es seine Handlungspflicht. Im Bereich der Prävention ist der politische Ermessensspielraum umso größer, je geringer die Gefahr für das verfassungsrechtliche Schutzgut ist. So wird man eine verfassungsrechtliche Verpflichtung der antragsbefugten Organe, einen Antrag auf Verbot einer verfassungsfeindlichen politischen Partei zu stellen, nur dann annehmen können, wenn ohne Verbot die konkrete Gefahr einer „Machtübernahme“ dieser Partei bestünde. Hat die Partei hingegen keine konkrete Chance, bei Wahlen die Mehrheit zu erringen, und bereitet sie nicht einen gewaltsamen Umsturz vor, ist die Unterlassung eines Verbotsantrags nicht verfassungswidrig14. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Staatsorgane sind in ihrem Zuständigkeitsbereich strikt verpflichtet, die Verfassung – insbesondere die unabänderlichen Verfassungsprinzipien – gegen Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen. Hinsichtlich des Ob des Schutzes haben sie grundsätzlich keine politische Entscheidungsfreiheit. Ist ein Verfassungsfundamentalprinzip bereits verletzt oder beeinträchtigt oder steht eine Beeinträchtigung unmittelbar bevor, sind sie zum Handeln verpflichtet. Das Dulden der Beeinträchtigung eines solchen Prinzips ist immer verfassungswidrig. Untätigkeit im Sinne taktischen Abwartens kann im Bereich der Prävention rechtmäßig sein, wenn zu effektivem Handeln vor Eintritt der Schutzgutverletzung noch hinreichend Zeit bleibt. Besteht eine Handlungspflicht und gibt es mehrere geeignete Mittel, die Beeinträchtigung des Schutzguts zu vermeiden beziehungsweise zu beseitigen, so ist das zuständige Staatsorgan nicht dazu verpflichtet, ein ganz bestimmtes Mittel einzusetzen, sondern hat ein Auswahlermessen für die Entscheidung zwischen den in Betracht kommenden Maßnahmen. Die Unterlassung, ein ganz bestimmtes Mittel einzusetzen, ist nur dann verfassungswidrig, wenn sich in der konkreten Situation das Auswahlermessen auf Null reduziert hat, weil nur ein einziges geeignetes Mittel zur Verfügung steht. Wie bezüglich der grundrechtlichen Schutzpflichten kann das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Pflicht zum Schutz der Verfassungsfundamentalprinzipien feststellen, wenn das zuständige Staatsorgan entweder ganz untätig geblieben ist oder wenn das eingesetzte Mittel offenkundig unzureichend ist, die Beeinträchtigung des betroffenen Verfassungsprinzips abzuwehren oder zu beseitigen.

14 Umgekehrt könnte das Verbot einer verfassungsfeindlichen Partei sogar verfassungswidrig sein, wenn es im Hinblick auf die Ungefährlichkeit der Partei unverhältnismäßig ist, so jedenfalls die Rspr. des EGMR, vgl. z. B. Urt. v. 30. 1. 1998 – United Communist Party of Turkey and others vs. Turkey, RJD 1998-III, Rn. 61; Urt. v. 13. 2. 2003, Refah Partisi u. a. vs. Türkei, RJD 2003-II, Rn. 108; weitere Nachw. bei Sarah Theuerkauf, Parteiverbote und die Europäische Menschenrechtskonvention, 2006, S. 216 f., 220 f.; Tobias Kumpf, Verbot politischer Parteien und Europäische Menschenrechtskonvention, DVBl. 2012, S. 1344 (1345 f.).

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IV. Subjektiver Anspruch des Bürgers auf Schutz der Verfassung Die Pflicht der Bundesregierung zur Verteidigung der Verfassung und speziell ihres identitätsbestimmenden Kerngehalts ist zunächst eine objektive Verfassungspflicht. Ob es zugleich einen entsprechenden subjektiven Anspruch des Einzelnen auf Befolgung dieser Pflicht gibt, hängt davon ab, ob die objektive Pflicht ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit am Bestand der Verfassung besteht, oder ob sie zugleich der Wahrung individueller Rechte dient beziehungsweise ob die Verfassung ein subjektives Recht auf Erfüllung der objektiven Pflicht gewährleistet. Bei den grundrechtlichen Schutzpflichten15 hat das Bundesverfassungsgericht zwar zunächst eine objektive staatliche Schutzpflicht – abgeleitet aus der objektiven Funktion der Grundrechte – festgestellt, dann aber ohne weiteres einen ihr korrespondierenden subjektiven Schutzanspruch des Grundrechtsträgers bejaht16. Dies war naheliegend, da ja die Grundrechte in erster Linie dem Schutz der individuellen Grundrechtsgüter, also dem Schutz des betroffenen Einzelnen, dienen. Anders als die Grundrechte sind die Verfassungsfundamentalprinzipien nicht – auch – subjektive Rechte, sondern ausschließlich objektive Prinzipien17. Dies schließt aber nicht aus, dass die Verfassung subjektive Rechte auf Verteidigung dieser Prinzipien garantiert. Nur folgen diese Rechte nicht aus den Prinzipien selbst, sondern müssen sich aus anderen Verfassungsnormen ergeben. Subjektive Rechte auf Wahrung der objektiven Verfassungsfundamentalprinzipien lassen sich dem Grundgesetz unter drei Aspekten entnehmen: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Einzelne ein Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt (1.), insbesondere ein Recht auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt des Volkes (2.). Außerdem garantiert Art. 20 Abs. 4 GG ein subjektives Recht auf Schutz der Verfassungsfundamentalprinzipien (3.). 15 Dazu vgl. z. B. Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 89 – 224; Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 191; Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Peter Szcezekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, jeweils m.w.N. 16 Vgl. BVerfGE 77, 170 (214) – C-Waffen: „Dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht lediglich ein subjektives Abwehrrecht verbürgt, sondern zugleich eine objektiv-rechtliche Wertentscheidung der Verfassung darstellt, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gilt und verfassungsrechtliche Schutzpflichten begründet, ist in ständiger Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts anerkannt (…). Werden diese Schutzpflichten verletzt, so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, gegen die sich der Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen kann.“ Vgl. auch z. B. BVerfGE 79, 174 (202); Hans Hugo Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, DVBl. 1994, S. 489 (493); Josef Isensee (Fn. 15), Rn. 321 f. m.w.N. 17 Abgesehen von der Menschenwürdegarantie, wenn man diese zugleich auch als Grundrecht versteht.

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1. Das subjektive Recht auf Wahrung des Demokratieprinzips Das Demokratieprinzip besteht nicht um seiner selbst willen, und es besteht nicht ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit. Vielmehr dient es zugleich dem Interesse des Einzelnen an seiner Teilhabe an der Ausübung der öffentlichen Gewalt. Das Volk als Souverän besteht aus der Summe der rechtlich gleichen Staatsbürger. Wird das Demokratieprinzip beeinträchtigt, indem beispielsweise dem Volk oder seinem Parlament – dem Repräsentationsorgan des Volkes – Kompetenzen entzogen oder vorenthalten werden, dann wirkt sich das zugleich auf das demokratische Teilhaberecht jedes einzelnen Bürgers aus, dessen Rechte in entsprechendem Maße ebenfalls verkürzt werden. Das Recht jedes Bürgers auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Art. 38 Abs. 1 GG enthalten18. Das dort ausdrücklich geregelte Wahlrecht setzt dieses allgemeinere Teilhaberecht voraus. Das Wahlrecht würde entleert und seines Sinnes beraubt, wenn beispielsweise durch Aushöhlung der Kompetenzen des Bundestages die Politik durch die Wahl gar nicht mehr maßgeblich beeinflusst werden könnte oder wenn Entscheidungen von großer Tragweite für die Allgemeinheit von Subjekten getroffen werden könnten, denen eine durch die Wahl vermittelte demokratische Legitimation fehlt. Deshalb sieht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere die Entleerung der Kompetenzen des Bundestages zugleich als Verletzung des individuellen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 und 2 GG an mit der Folge, dass der Einzelne die objektive Kompetenzentleerung des Bundestages subjektivrechtlich geltend machen kann19. Im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht allgemeiner formuliert, das Wahlrecht gemäß Art. 38 GG begründe „einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes“20. Das Bundesverfassungsgericht hat den subjektiven „Anspruch des Bürgers auf Demokratie“ sogar als „letztlich in der Würde des Menschen wurzelnd“ bezeichnet21. Somit ist das objektive Demokratieprinzip subjektivrechtlich unterfüttert. 18 BVerfGE 89, 155 (171 f.) – Maastricht; BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 211 = BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon. 19 BVerfGE 89, 155 (172) – Maastricht; BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.Nr. 173, 175 = BVerfGE 123, 267 (330) – Lissabon; BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 u. a. – „Rettungsschirm“, Abs.-Nr. 98 ff. = BVerfGE 129, 124 (167 ff.); BVerfG, Urt. v. 12.9.2012 – 2 BvR 1390/12 u. a. – Abs.-Nr. 196. 20 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 208 = BVerfGE 123, 267 (340). 21 BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 u. a. – Abs.-Nr. 101 = BVerfGE 129, 124 (169); ähnlich bereits BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 211 = BVerfGE 123, 267 (341).

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Die objektive Pflicht der Staatsorgane zur Verteidigung der Demokratie besteht daher nicht allein im Interesse der Allgemeinheit. Das subjektive „Recht auf Demokratie“ ist ebenso wie das objektive Demokratieprinzip Bestandteil der Verfassung und ihres unabänderlichen Kerngehalts22. Demgemäß bezieht sich die im Amtseid der Mitglieder der Bundesregierung vorausgesetzte Verfassungspflicht zur Verteidigung der Verfassung nicht lediglich auf das objektive Demokratieprinzip, sondern ebenso auf seine subjektivrechtliche Entsprechung. Im Übrigen begründet die objektive Schutzpflicht der Staatsorgane ihre Verantwortlichkeit für die Unversehrtheit der Schutzgüter. Hat jeder Bürger einen in Art. 38 Abs. 1 GG garantierten „Anspruch auf Demokratie“, dann muss er somit auch einen Anspruch auf Schutz der Demokratie gegen das schutzverpflichtete Staatsorgan haben, wenn die Demokratie durch Dritte beeinträchtigt wird. 2. Das subjektive Recht auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zudem das Recht jedes Bürgers auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt des Volkes anerkannt und dieses Recht auf Art. 146 GG gestützt23. Die Verletzung dieses Rechts kann nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit einer auf Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 146 GG gestützten Verfassungsbeschwerde gerügt werden24. Die Verfassungsfundamentalprinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG sind der verfassten Staatsgewalt unabänderlich vorgegeben. Über diese Grundentscheidung des Verfassunggebers kann nur das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, das Volk (Präambel des Grundgesetzes) in seiner Funktion als pouvoir constituant verfügen. Die Beeinträchtigung der in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Güter greift daher in die alleinige Entscheidungszuständigkeit der verfassunggebenden Gewalt ein25. Sie verletzt daher auch das Recht jedes Bürgers auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt. Die objektive Pflicht der Staatsorgane, die unabänderlichen Verfassungsfundamentalprinzipien gegen Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen, besteht daher auch zu dem Zweck, Übergriffe in die verfassunggebende Gewalt des Volkes zu verhindern. Das Recht auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt ist daher verletzt, wenn das zuständige Staatsorgan seiner Schutzpflicht nicht nachkommt.

22 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 211 = BVerfGE 123, 267 (341); BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 u. a., Abs.-Nr. 101 = BVerfGE 129, 124 (169). 23 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 179 = BVerfGE 123, 267 (332). 24 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 180 = BVerfGE 123, 267 (332). 25 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Abs.-Nr. 218 = BVerfGE 123, 267 (344).

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3. Das subjektive Recht auf „andere Abhilfe“ gemäß Art. 20 Abs. 4 GG Art. 20 Abs. 4 GG garantiert ein Widerstandsrecht gegen jeden, der es unternimmt, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Das Recht auf Widerstand ist gegeben, wenn „andere Abhilfe nicht möglich“ ist. Wie oben bereits dargelegt, setzt diese Bestimmung voraus, dass die zuständigen Staatsorgane verpflichtet sind, „andere Abhilfe“ zu leisten, also gegen den Versuch, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, wirksam einzuschreiten. Dieser objektiven Verpflichtung der Staatsorgane muss auch ein subjektiver Anspruch jedes Bürgers entsprechen. Wenn die Staatsorgane untätig bleiben, hat der Bürger das Recht auf – nötigenfalls gewaltsamen – Widerstand. Art. 20 Abs. 4 GG konstituiert eine Ausnahme von dem allgemeinen Gewaltverbot im Sinne eines individuellen Rechts auf Notwehr zugunsten des Staates und seiner Verfassung. Diese Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols muss soweit wie möglich begrenzt bleiben. Hat der Einzelne ein Recht darauf, mit Zwang und Gewalt gegen Dritte vorzugehen, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen, dann muss er erst recht ein Recht darauf haben, dass das zuständige Staatsorgan, sofern ihm dies möglich ist, „andere Abhilfe“ leistet. Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargelegt, dass in Fällen, in denen Verfassungsfundamentalprinzipien durch ein Staatsorgan verletzt werden, jeder Bürger mit einer auf Art. 20 Abs. 4 GG gestützten Verfassungsbeschwerde das betroffene Schutzgut des Art. 79 Abs. 3 GG verteidigen kann26. Darauf kann ich hier zur näheren Begründung meiner obigen These verweisen. In der vorliegenden Abhandlung habe ich gezeigt, dass die Staatsorgane nicht nur verpflichtet sind, die unabänderlichen Verfassungsprinzipien zu achten, sondern sie auch gegen Eingriffe Dritter zu schützen. Art. 20 Abs. 4 GG gibt dem einzelnen Bürger ein Recht auf Widerstand nicht nur gegen revolutionäre Akte von Staatsorganen, sondern auch von Dritten. Geht man davon aus, dass Dritte nicht unmittelbar an das Grundgesetz gebunden sind und dass gegen ihr Verhalten keine Verfassungsbeschwerde möglich ist, so muss der Einzelne einen Anspruch darauf haben, dass die Staatsorgane ihre Pflicht zum Einschreiten gegen revolutionäre Akte Dritter erfüllen. Die Verletzung dieser Pflicht verletzt den Einzelnen in seinem Recht aus Art. 20 Abs. 4 GG. Dies kann er mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen. V. Gesamtergebnis Die zuständigen Staatsorgane sind im Rahmen ihrer Zuständigkeit verpflichtet, die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsfundamentalprinzipien gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter zu schützen. Dieser objektiven Schutz26 Dietrich Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: FS für Wilfried Fiedler, 2011, S. 251 ff.

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pflicht korrespondiert ein subjektiver Schutzanspruch jedes Bürgers, der mit der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden kann.

Der Gleichheitssatz zwischen Willkürverbot und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Von Lerke Osterloh I. Einführung: Von der „neuen“ Formel zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Leitentscheidung zur sog. neuen Formel bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der Beschluss des Ersten Senats zur Verfassungsmäßigkeit der (1976 eingeführten) Präklusionsnorm des § 528 Abs. 3 ZPO (a. F.),1 datiert vom 7. Oktober 1980.2 Vorangehend hatte Michael Kloepfer mit der ebenfalls im Jahr 1980 publizierten Schrift „Gleichheit als Verfassungsfrage“ ein dogmatisches Konzept entwickelt, nach dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur in seinem schon lange anerkanntem Anwendungsbereich der Freiheitsgrundrechte, sondern auch als Prüfungsmaßstab bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes fungieren sollte.3 Ein vergleichbar klares Konzept war damals der verfassungsgerichtlichen Entscheidung noch nicht zu entnehmen, im Gegenteil: Obwohl allgemein als Leitentscheidung hervorgehoben und bis heute unzählige Male zitiert, präsentiert der Be1

„Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszug zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen.“ Vgl. übereinstimmend jetzt § 531 Abs. 1 ZPO. 2 BVerfGE 55, 72. 3 Gewisse Ansätze bot zwar Ekkehart Stein, der in seinem „Lehrbuch des Staatsrechts“ seit der ersten Aufl. im Jahr 1968 für die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Gleichheitssatz die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Differenzierungskriterium und Differenzierungsziel sowie des Verhältnisses zwischen dem einen und dem anderen forderte, vgl. a.a.O. S. 204 ff. Die in diesem Zusammenhang geforderte „Angemessenheit“ zwischen Differenzierungskriterium und –ziel ordnete Stein jedoch dem Willkürverbot i.S.d. älteren Rspr (BVerfGE 4, 144/ 155) zu: „Willkür im objektiven Sinn“ als „tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der Regelung in bezug auf den zu ordnenden Gesetzgebungsgegenstand“. Einen Bezug zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sah Stein dagegen nicht (vgl. nur a.a.O. S. 164 ff. zu Art. 12 GG), und zwar auch später nicht, nach der Zuordnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Thema „Rechtsstaatliche Grundsätze der Gesetzgebung“, vgl. z. B. Staatsrecht, 5. Aufl. 1976, § 5 II 3 d, S. 47 ff.; § 23 I, S. 238 ff. Schließlich wurde sogar die Relevanz der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich auf die Freiheitsrechte beschränkt, z. B. Staatsrecht, 16. Aufl. 1998, § 29 III, V, S. 236 ff.; § 47 II, S. 389 ff.; § 48, S. 394 ff.; vgl. zul. grunds. unverändert E. Stein/Frank Götz, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, § 30 III, V, S. 242 ff.; § 48, S. 403 ff.; wie Stein in der älteren Literatur auch Manfred Gubelt, in: von Münch (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar Bd. 1, 1. Aufl. 1974, Art. 3 Rdn. 16 ff.

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schluss vom Oktober 1980 tatsächlich nur äußerst knapp – gleichsam als Vorspann vor einer ausführlichen Prüfung des herkömmlichen Willkürverbots – zwei abstrakte Obersätze zu Art. 3 Abs. 1 GG: „Diese Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (…).“4 Unmittelbar anschließend geht es dann nicht etwa um eine nähere Erläuterung oder gar um eine Prüfung der einzelnen Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sondern um die Frage, ob die Präklusionsvorschriften einerseits des § 528 Abs. 3 ZPO und andererseits des § 528 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO „verschiedene Normadressaten“ oder nur „verschiedenes Verhalten ein und derselben Person“ behandeln. Dabei erweist sich schon in dieser ersten Leitentscheidung „die Verschiedenbehandlung mehrerer Personengruppen“ als Voraussetzung strengerer, über das Willkürverbot hinausgehender Begrenzung gesetzgeberischer Freiheit5 als ein dogmatischer Stolperstein. Wenn dem Senat hier die von der Norm betroffenen Prozessparteien im Gegensatz zu verschiedenen Personengruppen als „ein und dieselbe Person“ gelten, die ungleich behandelt wird, je nach ihrem (unterlassenen) Vorbringen in der ersten Instanz, so darf das als befremdlich bezeichnet werden. Zwanglos lässt sich nämlich formulieren, dass § 528 ZPO die Gruppe der Prozessparteien, die in der zweiten Instanz „neue“ Beweismittel anbieten, anders behandelt, als die Gruppe derjenigen, die in der zweiten Instanz vorbringen, was in der ersten Instanz bereits zurückgewiesen worden ist. Um „ein und dieselbe Person“ geht es jedenfalls offenkundig nicht, sondern um alle tatbestandlich erfassten Prozessparteien, die je nach unterschiedlichem Agieren in der ersten Instanz unterschiedlich behandelt werden. Es handelt sich schlicht um eine auf das Verhalten, nicht auf die Persönlichkeit der Normbetroffenen bezogene Unterscheidung. „Nur“ verhaltensbezogene Unterscheidungen eines Gesetzes sind aber – anders als vom Ersten Senat in seiner Leitentscheidung noch ausdrücklich betont6 – nicht etwa „grundsätzlich“ automatisch nur dem verfassungsrechtlichen Willkürverbot unterworfen. Vielmehr kommt es für eine Antwort auf die Frage, ob es „grundsätzlich Sache des Betroffenen (ist), sich auf diese Regelung einzustellen und nachteiligen Auswirkungen durch eigenes Verhalten zu begegnen“,7 auch bei „nur“ verhaltensbezogenen Ungleichbehandlungen „darauf an“: Entscheidend sind, soweit nicht schon spezielle verhaltensbezogene Diskriminierungsverbote insbesondere gem. Art. 3 Abs. 3 GG eingreifen,8 4

BVerfGE 55, 72 (88). BVerfGE 55, 72 (89). 6 Ebd unter 2 a). 7 Ebd. 8 So hängt etwa die durch Art. 3 Abs. 3 GG geschützte Religionszugehörigkeit, insbesondere die auch geschützte Religionsausübung (Michael Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rdn. 51) offenkundig vom Verhalten der Grundrechtsträger ab. 5

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Abwägungen im Rahmen der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit Blick auch auf freiheitsgrundrechtliche Schutzbereiche. Dem entsprechend werden denn auch inzwischen in ständiger Rechtsprechung verhaltensbezogene Unterscheidungen selbstverständlich nach Maßgabe grundrechtlichen Freiheitsschutzes differenzierend bewertet.9 Nicht nur die Änderung in der Bewertung verhaltensbezogener Differenzierungen kennzeichnet die aktuelle verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, sondern diese Judikatur zum allgemeinen Gleichheitssatz hat sich insgesamt in bemerkenswerter Weise fortentwickelt. Das wird besonders deutlich bei einem Vergleich zwischen der Leitentscheidung von 1980 und einem Beschluss aus dem Jahr 201110 zum Bundesausbildungsförderungsgesetz, mit dem vielleicht ein – vorläufiger – Abschluss, jedenfalls aber eine markante Zwischenstation auf einem nun schon über dreißig Jahre lang erkundeten Pfad der Entwicklung und Fortbildung der „neuen“ Formel erreicht ist. Der erste Leitsatz dieser Entscheidung lautet: „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die stufenlos von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen reichen können.“ Dies wird in den Gründen des Beschlusses u. a. mit folgenden Sätzen näher erläutert: „Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. … Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen.“ Diese Formulierungen enthalten zwar weitgehend schon aus der bisherigen Rechtsprechung Bekanntes,11 akzentuieren und präzisieren jedoch, u. a. mit dem Attribut „stufenlos“, klare dogmatische Konturen eines gleichheitsrechtlichen Prüfungsprogramms. Obgleich innerhalb dieser Passagen auch die „neue“ Formel präsentiert wird,12 wird sie hier doch deutlich relativierend eingeordnet in das übergreifende allgemeinere Konzept eines „Einbaus“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG, das nicht in allen, aber in wesentlichen Punkten den Vorschlägen Michael Kloepfers entspricht. Dies gibt Anlass, in einer Festschrift für den Autor der Schrift „Gleichheit als Verfassungsfrage“ einen bemerkenswerten Siegeszug zu rühmen: Den Siegeszug eines Gedankens, der im Jahr 1980 noch so gewagt erschien, dass der Autor selbst die einschlägigen Passagen seiner Vorschläge 9

Vgl. m. w. N. BVerfGE 129, 49 (69). BVerfGE 129, 49 (69). 11 Dazu im Überblick Lerke Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rdn. 30 ff. 12 Mit der nicht ganz unwesentlichen Ergänzung der Gruppe der „Normadressaten“ durch diejenige der „Normbetroffenen“, vgl. vorangehend etwa BVerfGE 105, 73 (110); 124, 251 (265) m. w. N. 10

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zur Prüfung des Gleichheitssatzes weitgehend im Konjunktiv verfasste,13 während das BVerfG zwar einen verwandten Ansatz präsentierte, dies jedoch ohne klare Benennung14 und Konturierung wie auch ohne konsequente Konkretisierung und Anwendung im Entscheidungsfall. II. Das Problem: Eingriffsdogmatik und allgemeiner Gleichheitsatz Nicht um eine rühmende Nacherzählung einer wissenschaftlich inspirierten Entwicklung der Rechtsprechung soll es vorliegend gehen, sondern um eine auch heute noch umstrittene und nicht abschließend geklärte Fragestellung zum Verhältnis zwischen allgemeinem Gleichheitssatz und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, und zwar um die Frage, welche Rollen die altbekannten Denkfiguren „Schutzbereich“, „Eingriff“, „Eingriffsschranken“ und „Schranken-Schranken“ für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, insbesondere für dessen Übertragbarkeit aus dem Bereich der Freiheitsgrundrechte in den des Gleichheitssatzes spielen. Sieht man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als das „Herzstück der Eingriffsdogmatik“,15 also als zentrales Element des Abwehrschutzes der Freiheitsgrundrechte gegen staatliche „Eingriffe“ durch Freiheitsbeschränkung, ordnet sich dieser Grundsatz ein in das jedem deutschen Juristen geläufige Prüfungsschema zur möglichen Verletzung eines Freiheitsgrundrechts:16 grundrechtlicher Schutzbereich, Eingriff, Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken. Hierbei fungiert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“, also insbesondere auch als Schranke des freiheitsbeschränkenden Gesetzes und damit als ein spezifisch auf Abwehrschutz gegen Eingriffe in einen Schutzbereich konzipiertes Instrument. Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass der Gedanke eines „Einbaus“ des Übermaßverbots in die Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG Irritation, Kritik und intensive Diskussionen17 ausgelöst hat; denn wo findet man beim allgemeinen Gleichheitssatz einen spezifischen Schutzbereich, und was hat der Tatbestand einer Ungleichbehandlung mit einem Eingriff zu tun? Wenn, wie es in der Rechtsprechung durchgehend heißt,18 der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“, und wenn, woran niemand ernsthaft zweifeln kann, alles Recht Differenzierung ist, dann, so scheint es, ist das Denken in Kategorien von Eingriff und Schranken jedenfalls beim Gleichheitssatz verfehlt. 13

A.a.O., S. 54 ff. So erst das Sondervotum von Dietrich Katzenstein, BVerfGE 74, 9 (30). 15 Stefan Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 55. 16 Vgl. nur Michael Kloepfer, Staatsrecht kompakt, 2012, Rdn. 472 ff.; Bodo Pieroth/ Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 28. Aufl. 2012, Rdn. 359. 17 Vgl. m. w. N. etwa Huster (Fn. 15), S. 55 ff.; Marion Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, 945 ff. 18 Z. B. BVerfGE 129, 49 (68). 14

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Man kann die Stellungnahmen in der Literatur zu diesem Fragenkomplex sehr grob in drei Lager aufteilen: Wenige, jedoch gewichtige Stimmen lehnen die Maßgeblichkeit der Verhältnismäßigkeit als Prüfungsmaßstab für den Gleichheitssatz auch heute noch grundsätzlich ab.19 Erheblichen Anklang hat demgegenüber eine dogmatische Richtung gefunden, die den von Michael Kloepfer vorgeschlagenen Weg der Entwicklung einer spezifischen Dogmatik des „Eingriffs“ auch zu Art. 3 Abs. 1 GG fortgeführt und ausgebaut hat.20 Kennzeichen dieser Richtung sind Versuche, der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einen engeren, gleichheitsrechtlich besonders geschützten Bereich zuzuweisen, und hiervon einen weiteren Geltungsbereich des Gleichheitsgebots zu unterscheiden, innerhalb dessen lediglich eine (zurückhaltende) Willkürkontrolle des Gesetzgebers vorzunehmen ist. Schließlich, so die dritte dogmatische Variante, wird vielfach ohne direkte Übertragung auch der grundrechtlichen „Eingriffsdogmatik“ auf den allgemeinen Gleichheitssatz eine gleichheitsrechtlich modifizierte Anwendung der Verhältnismäßigkeitskontrolle befürwortet.21 Blickt man auf die aktuelle Rechtsprechung des BVerfG, so wird man sie dieser dritten dogmatischen Variante zurechnen können. Deren Kennzeichnung, Begründung und Rechtfertigung sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Drei markante Eckpunkte zeichnen die aktuelle Rechtsprechung vor dem Hintergrund der ursprünglichen Verwendung der „neuen“ Formel aus. Erstens ist die Ungleichbehandlung einer „Personengruppe“ als eine spezifische Voraussetzung für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes deutlich verabschiedet: Differenzierungen bedürfen „stets“ „angemessener“ Sachgründe (1.). Zweitens gilt das Erfordernis der Angemessenheit auch im Übrigen „stets“, also für jede Differenzierung ohne zusätzliche Anforderungen an einen spezifischen, enger verstandenen Schutzbereich (2.). Drittens gibt es keine tatbestandliche Trennung zwischen den Anwendungsbereichen eines Willkürverbots und eines Verhältnismäßigkeitsgebots: Es gilt ein „stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab“, und auch dessen bloße „Orientierung“ führt nicht zu wesentlichen Modifikationen gegenüber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (3.).

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Insb. Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rdn. 26 ff. mit zahlr. N. zur herrschenden Gegenansicht; ders., Freiheit und Gleichheit, in: HGR II, § 25 Rdn. 44 f.; mit jetzt wohl nur noch differenzierender Distanz Paul Kirchhof, in: HbStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rdn. 23, 74 ff. 20 Grundlegend die Untersuchung von Huster (Fn. 15); zusammenfassend ders., Gleichheit und Verfassungsmäßígkeit, JZ 1994, 541 ff.; vgl. auch ders., in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rdn. 42 ff.; aus der neueren Literatur dem folgend etwa Joachim Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, insb. S. 178 ff. m. w. N. 21 So etwa Albers (Fn. 17), S. 947 ff.

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1. Abschied von der Personengruppe als Voraussetzung einer Angemessenheitskontrolle Dem Begriff der Personengruppe fehlte von Beginn an trotz dessen vielfacher Wiederholung eine entscheidungsleitende Funktion in der gleichheitsrechtlichen Rechtsprechung.22 Zum einen konnte mit dem Begriff der „Gruppe“ schon deshalb keine Grenzlinie zwischen weitem oder strengem verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab gezogen werden, weil es für die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes grundsätzlich nicht auf den singulären Ausnahmefall, sondern auf die regelmäßig vielzähligen typischen Anwendungsfälle der zulässig generalisierenden Norm ankommt, in diesem Sinn also auf „Gruppen“ betroffener Personen. Dagegen wird zwar mit dem Begriff der „Personen“, den das BVerfG offenkundig mit Blick auf das verfassungsgesetzliche Tatbestandsmerkmal „Menschen“ verwendet, überzeugend auf den personalen Schutzzweck des Gleichheitssatzes abgestellt. Auch damit lässt sich aber ein strengerer verfassungsrechtlicher Maßstab gegenüber dem Willkürverbot gerade nicht tatbestandlich abgrenzen. Dies veranschaulicht etwa die Rechtsprechung zu den unmittelbar sachverhaltsbezogenen, aber mittelbar personenbezogenen Differenzierungen23 oder zur Ungleichbehandlung von Personengruppen, der aber die personenbezogenen Differenzierungskriterien fehlen.24 Die verfassungsrechtlich maßgeblichen Wertungen für mehr oder weniger gleichheitsrechtlichen Grundrechtsschutz und für korrespondierende mehr oder weniger strenge Bindungen des Gesetzgebers lassen sich mit einfachen begrifflichen Gegensätzen wie sachliche oder persönliche Rechtsgleichheit oder auch personen- oder verhaltensbezogene Unterscheidungen nicht tatbestandlich trennscharf erfassen. Dies belegen nicht nur die bereits erwähnten speziellen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG, die über unverfügbare personenbezogene Merkmale hinaus auch spezifische Verhaltensweisen schützen,25 sondern auch die Freiheitsgrundrechte, deren Schutzgehalte für die Gewichtung belastender Ungleichbehandlungen zu beachten sind.26 Wenn die Figur einer Ungleichbehandlung von Personengruppen heute ausdrücklich nicht mehr als tatbestandliche Voraussetzung einer „strengeren“ Gleichheitsprüfung fungiert, sondern einem offenen Abwägungsrahmen zugeordnet wird, innerhalb dessen „ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter Prüfungsmaßstab“ gilt, der dann jeweils nach unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen und unter Beachtung verschiedener verfassungsorientierter Wertungsgesichtspunkte näher zu bestimmen ist, so hat das BVerfG damit überflüssigen Argumentationsballast abgeworfen und den Weg geglättet für eine adäquate Zuordnung des offenen Gleichheitssatzes zu dem hochkomplexen Gefüge entscheidungsleitender 22

Zum folgenden m. w. N. Osterloh (Fn. 11), Art. 3 Rdn. 27 ff. Z. B. BVerfGE 118, 1 (26); 121, 317 (369 f.). 24 BVerfGE 89, 365 (375 f.) – Mitglieder unterschiedlicher Krankenkassen. 25 O. mit Fn. 8. 26 Zur st. Rspr. nur BVerfGE 129, 49 (69).

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Wertungen, die sich aus der Gesamtheit der Verfassungsnormen und insbesondere aus den Grundrechten entnehmen lassen. 2. Keine zusätzlichen Beschränkungen eines Schutzbereichs als Anwendungsvoraussetzung Entsprechendes wie zur Verabschiedung der Personengruppe als tatbestandliche Anwendungsvoraussetzung für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch im Hinblick auf andere in der Literatur diskutierte Vorschläge zu tatbestandlichen Beschränkungen eines spezifisch gleichheitsrechtlichen Schutzbereichs, die über die Feststellung einer Ungleichbehandlung verschiedener, aber unter zumindest einem Aspekt „gleicher“ Sachverhalte27 hinausgehen. Allerdings liegt es angesichts der zentralen Rolle, die der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte spielt, tatsächlich nahe, davon zu sprechen, dass dieser Grundsatz das „Herzstück der Eingriffsdogmatik“28 bildet. Insbesondere auch Peter Lerche sah in seiner grundlegenden Untersuchung zum Übermaßverbot die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes in Bezug auf den Gesetzgeber unbedingt gebunden an die Voraussetzung des „gesetzgeberischen Eindringens in einen Rechtsbezirk“.29 Die dogmatische Kategorie des grundrechtlichen Schutzbereichs, innerhalb dessen jeder „Eingriff“ oder jede Beeinträchtigung der materiellen Rechtfertigung nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit bedarf, trägt dieser Vorstellung Rechnung, und danach scheint es nur konsequent, wenn auch der Einbau der Verhältnismäßigkeit in die Maßstäbe verfassungsrechtlich gebotener Gleichheit mit der Konstruktion eines spezifisch gleichheitsrechtlichen Schutzbereichs verbunden wird.30 Bei näherer Betrachtung erweisen sich derartige Anwendungsbeschränkungen jedoch als wenig überzeugend. a) Das lässt sich beispielhaft an der verbreiteten Beschränkung auf die Ungleichbehandlung „wesentlich“ gleicher Sachverhalte31 veranschaulichen, die besonders naheliegt angesichts der vom BVerfG32 immer wieder einführend zum Gleichheits27 Dabei wird hier unterstellt, dass alle Rechtsnormen jedenfalls „mittelbar“ auch Menschen betreffen. Ob dies tatsächlich zutrifft, bedarf hier keiner Diskussion. 28 Vgl. o. mit Fn. 15. 29 Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 22, 23; krit. zum Ganzen bereits (im Zusammenhang mit Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) Lerke Schulze-Osterloh, Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht, 1980, S. 249 ff. 30 Vgl. Kloepfer, Gleichheit (o. im Text nach Fn. 2), S. 56 f., der allerdings neutraler von Grundrechtstatbestand spricht. Vgl. auch zur Maßgeblichkeit des „Eingriffsmodells“ mit umfassenden Nachw. zur neueren Literatur Michael Sachs, in: Klaus Stern, Staatsrecht IV/2, 2011, § 120 II 2, S. 1485 ff. 31 Pieroth/Schlink (Fn. 16), Rdn. 463; näher etwa Albers (Fn. 17), S. 948; für die Gegenansicht eingehend mit zahlr. auch rechtsvergleichenden Nachw. Simon Kempny/Philipp Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 40 ff. 32 Für die st. Rspr. nur BVerfGE 129, 49 (68).

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satz angeführten Formeln: „Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.“ Soweit das Attribut „wesentlich“ nicht als Chiffre für den gesamten materiellen Gehalt des Gleichheitsgebots verstanden wird, scheint es zu bedeuten, dass nicht erst die abschließende Bewertung, sondern schon die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder doch deren Rechtfertigung nur mit Blick auf das wesentlich Gleiche oder Ungleiche stattzufinden hat.33 Eine solche Beschränkung ist jedoch abzulehnen, weil sie ohne bewertende Gewichtung der Übereinstimmungen oder der Unterschiede zwischen den verglichenen Sachverhalten nicht auskommt. Der These, dass ein Säugling und ein volljähriger Bürger in Bezug auf politische Wahlen wesentlich ungleich, in Bezug auf die Achtung der Menschenwürde aber wesentlich gleich sind, wird unter dem Grundgesetz kaum jemand widersprechen wollen, aber die dem zugrunde liegenden Wertungen sind durchaus in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht voraussetzungsvoll und begründungsbedürftig. Wertende Begründungen zur materiellen Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Gleichheitssatz gehören jedoch auf die Ebene der Rechtfertigung, nicht auf die Ebene der Geltungsbegrenzung der Verfassungsnorm.34 Es ist gerade die Aufgabe der dogmatischen Arbeit mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die entscheidungsleitenden materiellen Wertungen und Argumente durchsichtig zu strukturieren und auszuweisen.35 Auch die Bewertungen des Gewichts einer Gleichbehandlung sind danach innerhalb der Anwendung dieses Grundsatzes anzusiedeln, ihr aber nicht vorzulagern.36 b) Der Einwand unzulässiger Vorverlagerung gleichheitsrechtlicher Bewertungen trifft auch den umfassendsten Versuch, die Dogmatik des Gleichheitssatzes neu zu strukturieren, den Huster37 vorgelegt hat. Danach38 soll unterschieden werden zwischen sogenannten internen und externen Zwecken. Zu den internen Zwecken sollen Gerechtigkeitsmaßstäbe gehören, zu den externen dagegen Nützlichkeitserwägungen, etwa im Sinne gesellschafts- oder wirtschaftspolitischer Zweckverfolgung. Die Gerechtigkeitsmaßstäbe seien bereichs- oder kontextspezifisch ausgeprägt, wie etwa das Leistungsfähigkeitsprinzip für die Verteilung der Steuerlast und das Prinzip der Bedürftigkeit für die Verteilung von Sozialleistungen. Eine gesetzliche Norm, die einem solchen Gerechtigkeitsmaßstab „entspricht“, so Huster, „widerspricht … dem Gleichheitssatz nicht, sondern verwirklicht ihn“. Es gebe dann „kein kollidierendes Rechtsgut, mit dem die jeweilige Differenzierung in einer Ver33

So wohl BVerfGE 118, 79 (104). So jetzt wohl auch Kloepfer, Verfassungsrecht II – Grundrechte –, 2010, § 59 Rdn. 71. 35 Kloepfer, a.a.O. (Fn. 30). 36 Die unendliche Vielzahl möglicher Vergleichsaspekte ist pragmatisch, nicht definitorisch zu bewältigen. Auch soweit die Bildung ganz fernliegender Vergleichspaare „abwegig“ und deshalb rechtlich irrelevant erscheint, kann und muss eine solche Bewertung begründet werden, wenn es zum Streit kommt. 37 Oben Fn. 15. 38 Vgl. zum Folgenden nur die Zusammenfassungen bei Huster (Fn. 20), JZ 1994, 541 ff. 34

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hältnismäßigkeitsprüfung abgewogen werden müsste“.39 Erst und nur dann, wenn eine Norm einem Gerechtigkeitsmaßstab nicht entspreche, bedürfe sie der Rechtfertigung mit Blick auf mögliche externe Zwecke nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Offenkundig werden bei dieser Konstruktion Prüfung und Bewertung einer Norm am Maßstab des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes vorverlagert in die Bildung eines Gerechtigkeitsmaßstabs und in die „Entsprechensprüfung“, und die Kompetenzen werden insoweit klar verteilt: Sache des Gesetzgebers ist es, die Gerechtigkeitsmaßstäbe zu bestimmen, Sache der Gerichte bleibt die „Entsprechensprüfung“. Da es in vielen Fällen umstritten sein werde, „welche Gerechtigkeitsnorm aus dem fundamentalen Gleichheitsgebot abzuleiten ist, auf welche konkreten Gleichheiten es also ankommt“, und weil auch das Verfassungsrecht insoweit nur selten „zwingende Angaben“ enthalte, falle die Kompetenz zur Konkretisierung des Gleichheitssatzes auf den Gesetzgeber zurück, für dessen Entscheidungen grundsätzlich nur das Willkürverbot als Prüfungsmaßstab gelte. Der Grundgedanke einer solchen Konstruktion liegt in der kategorialen Unterscheidung zwischen der Bildung von Gerechtigkeitsmaßstäben und deren Konkretisierungen einerseits und andererseits der Orientierung von Entscheidungen an Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i. e.S. im Zweck-Mittel-Verhältnis; kurz, in der Unterscheidung zwischen gerechter und nur gerechtfertigter Ungleichbehandlung.40 Ein Anschauungsbeispiel dafür, was ein solches Denken im Zusammenhang einer verfassungsrechtlichen Argumentation praktisch bedeutet, liefert eine Entscheidung des BVerfG zum Unterhaltsrecht.41 Dort heißt es zur Nichtanrechnung von Kindergeld gem. § 1612b Abs. 5 BGB, soweit anders die Unterhaltsleistung des Barunterhaltspflichtigen nicht ausreicht, um das Existenzminimum des Kindes abzudecken: „Nach Leistungsfähigkeit zu differenzieren ist keine Ungleichbehandlung von Ungleichem. Hierdurch werden vielmehr Unterschiede im Leistungsvermögen zum Grund und Maßstab für eine unterschiedliche Behandlung genommen. Dies folgt dem Gebot aus Art. 3 Abs. 1 GG, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln.“42 Da die Ungleichbehandlung vom vorlegenden Gericht aber u. a. gerade darin gesehen wurde, dass bei den leistungsstarken, nicht aber bei den leistungsschwachen Unterhaltsverpflichteten das Kindergeld durch Anrechnung entlastende Wirkung entfaltete, bedurften die insoweit ganz abstrakt formulierten Obersätze näherer fallbezogener Begründung. Diese dann auch folgende Begründung – wohlgemerkt: dafür, dass es an einer Ungleichbehandlung überhaupt fehlte – beginnt mit Feststellung und Erläuterung des Regelungsziels: Sicherung des Existenzminimums des Kindes durch Barunterhalt plus Kindergeld. Den näheren Er-

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Ebd, S. 547. Ebd, S. 546 Fn. 72. 41 BVerfGE 108, 52. 42 Ebd, S. 69. 40

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läuterungen hierzu folgt aber43 eine weitere, und zwar hypothetische Würdigung einer Ungleichbehandlung: „Auch wenn man in der unterschiedlichen Heranziehung des Kindergeldes … eine Ungleichbehandlung sehen würde (BGH, FamRZ 2003, S. 445), läge darin kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ungleichbehandlung wäre durch die … bezweckte Sicherstellung des Barexistenzminimums des unterhaltsberechtigten Kindes gerechtfertigt.“ Ob man angesichts dieser Variationen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer Norm von „Subsumtionsbrei“44 sprechen muss, mag dahinstehen. Jedenfalls aber mag das Beispiel veranschaulichen, in welche Schwierigkeiten eine Argumentation wohl zwangsläufig geraten muss, die zwischen gerechter und nur gerechtfertigter Gleichbehandlung, zwischen Entsprechens- und Verhältnismäßigkeitsprüfung und zwischen internen und externen Zwecken unterscheiden will. Verwirklichung gerechter Gleichheit durch Rechtsnormen kommt ohne zielgerechte und abgewogene Tatbestands- und Rechtsfolgenbestimmungen sicher nicht aus und dasselbe gilt für solche Normen, die anerkannten Gerechtigkeitsmaßstäben „entsprechen“ sollen. Jedenfalls darf die unterhaltsrechtliche Entscheidung des BVerfG als Beleg für die Plausibilität der These gelten, dass eine auch tiefgründig entwickelte Unterscheidung zwischen internen und externen Zwecken nicht als eine praxistaugliche dogmatische Ausgangsbasis für die Bestimmung unterschiedlicher und unterschiedlich strenger verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe anzusehen ist. c) Die hier nur knapp skizzierten problematischen Konsequenzen von Versuchen, einen gleichsam „eingriffsgeeigneten“ Schutzbereich des Gleichheitssatzes als Voraussetzung der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu konstruieren, führt zu der Ausgangsfrage zurück: Bildet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz tatsächlich „das Herzstück“ der grundrechtlichen Eingriffsdogmatik und steht die Relativität des Gleichheitsgebots deshalb der Anwendbarkeit dieses Grundsatzes entgegen? Schon ein Blick auf den internationalen Siegeszug der Verhältnismäßigkeit als Prüfungsmaßstab verfassungsrechtlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte – dessen Präsenz in der Judikatur des EGMR, in Ansätzen auch des EuGH, vor allem aber dessen intensive Diskussion in der internationalen rechtswissenschaftlichen Literatur45 – lassen an einer allzu engen Bindung an eine spezifisch deutsche Eingriffsdogmatik zweifeln. Auch unter dem Grundgesetz hat seit der Elfes-Rechtsprechung46 die Prüfung der jeweils betroffenen grundrechtlichen Schutzbereiche vor allem Bedeutung nicht für das Ob, sondern für das Wie der Verhältnismäßigkeitsprüfung, nämlich als Weichenstellung für die je nach unterschiedlichen grundrechtlich geschützten Lebensbereichen auch unterschiedlichen inhaltlichen Wertungsparameter. 43

Ebd, S. 72 f. Einen solchen gilt es durch die klare Strukturierung von abwägenden Entscheidungsbegründungen gerade zu vermeiden, dazu Kloepfer, Gleichheit, S. 56. 45 Zum Ganzen etwa Aharon Barak, Proportionality: constitutional rights and their limitations, 2012, insb. S. 178 ff. 46 BVerfGE 6, 32. 44

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Was als Anwendungsvoraussetzung bleibt, ist die bloße Beeinträchtigung jeglicher, auch der nicht oder wenig schutzwürdigen Freiheitsbetätigung,47 und auch dort, wo der Gesetzgeber, wie beim Eigentum, die Aufgabe der Ausgestaltung des „Inhalts“ des Rechts wahrzunehmen hat, unterliegt er den Bindungen an die Verhältnismäßigkeit. Die Omnipräsenz der Verhältnismäßigkeit als Kontrollmaßstab des Gesetzgebers kann dann nicht überraschen, wenn man dessen Kernfunktion als ein Gebot hinreichender Rationalität (Geeignetheit, Erforderlichkeit) und Abgewogenheit (Verhältnismäßigkeit i. e.S.) umschreibt.48 Die „Betroffenheit“ eines eigenen Grundrechts im weitesten Sinn ist nach deutschem Recht prozessuale Voraussetzung des Indvidualrechtsschutzes, mit dem bescheidenen Ziel, sog. Popularklagen auszuschließen. Soweit „Betroffenheit“ gegeben ist, führt der Grundrechtsschutz zum Anspruch des Einzelnen darauf, dass die ihn betreffenden staatlichen Regelungen ein hinreichendes Maß an Rationalität und Abgewogenheit aufweisen. Dass dies nur für Freiheitsbeschränkungen, nicht aber auch für benachteiligende Ungleich- oder Gleichbehandlung gelten sollte, kann nicht überzeugen. Im freiheitsrechtlichen Anspruch, die eigenen sozialen Beziehungen (im weitesten Sinn) nach eigenem Willen und eigenem Nutzen autonom zu gestalten, und im gleichheitsrechtlichen Anspruch, dies rechtlich als Gleicher unter Gleichen zu tun, treffen und überschneiden sich rechtliche Freiheit und Gleichheit.49 Freiheitsrechtlicher Abwehrschutz richtet sich gegen die übermäßige Beschränkung dieser Freiheit, gleichheitsrechtlicher Abwehrschutz gegen die inhaltlich unangemessene staatliche Gestaltung der sozialen Relationen. Das Willkürverbot als die Garantie eines Minimums an Rationalität und Abgewogenheit gilt für beide Dimensionen des Grundrechtsschutzes, für die gänzlich unbegründete Freiheitsbeschränkung wie für die gänzlich unbegründete staatliche Einwirkung auf die sozialen Relationen zwischen den Individuen. Die Orientierung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch bei der gleichheitsrechtlichen Kontrolle bedeutet so betrachtet lediglich, dass sich der Grundrechtsschutz wie bei den Freiheitsrechten nicht beschränkt auf ein absolutes Minimum, sondern darüber hinaus erstreckt auch auf ein „hinreichendes“ Maß an Rationalität und Abgewogenheit. Es bleibt ein Grundeinwand zu bedenken: Zu den Freiheitsgrundrechten erscheint die Idee zumindest plausibel, dass die Argumentationslast für die Rechtfertigung einer Beschränkung „ohne weiteres“, also für jede Freiheitsbeschränkung, den Staat trifft; dass also grundsätzlich nicht der Freiheitsgebrauch, sondern dessen Beschränkung der Begründung bedarf, und dass zwar für die jeweiligen Regelungsziele demokratische Legitimation weitestgehend ausreicht, insbesondere bei der Auswahl (gleich) geeigneter Mittel aber das Gebot größtmöglicher Schonung zu beachten ist. Dagegen scheint die Symmetrie der Gebote, (wesentlich) Gleiches gleich und (we47 Wenn auch insoweit vor allem seit dem Sondervotum von Dieter Grimm umstritten, vgl. BVerfGE 80, 137 (164 ff.). 48 BVerfGE 115, 97 (113); 123, 111 (123). 49 Osterloh (Fn. 11), Rdn. 16 ff.

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sentlich) Ungleiches ungleich zu behandeln, für den Gleichheitssatz eine entsprechende Verteilung von Argumentationslasten auszuschließen, oder eine schwer begründbare Vermutung für den Vorrang des Prinzips der (formalen) Gleichbehandlung50 zu erfordern.51 Dieser Einwand verliert jedoch an Gewicht, sobald man bedenkt, dass jegliches staatliche Handeln der Begründung bedarf. Dass die benachteiligende Gleich- oder Ungleichbehandlung jedenfalls immer „irgendeines“ sachlichen Grundes bedarf, also immer der Rechtfertigung durch ein Mindestmaß an Rationalität, ist zwingende Konsequenz der Qualität des Gleichheitssatzes als eine auch den Gesetzgeber verpflichtende Grundrechtsnorm. Die mögliche Geltung eines strengeren Maßstabs ist danach nicht ein begründungsbedürftiges aliud der Verfassungsbindungen, sondern lediglich eine Frage des begründungsbedürftigen Maßes der Bindungen. Die normativen Kriterien für das vom Gesetzgeber geforderte „hinreichende“ Maß an Rationalität und Abgewogenheit lassen sich nun zwar dem allgemeinen Gleichheitssatz selbst mangels konkreter Wertungspräferenzen nicht entnehmen, wohl aber mit Blick auf das tatsächliche und rechtliche Umfeld entwickeln, innerhalb dessen sich die Ungleichbehandlung auf die Betroffenen auswirkt. Dem entspricht der grundsätzliche Verweis auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche und die Beschränkung auf nur wenige generelle Wertungsleitlinien für die Maßgeblichkeit strengerer Bindungen, wie sie beispielhaft in der Entscheidung zum Bundesausbildungsförderungsgesetz im Anschluss an die vorangehende Rechtsprechung zusammengestellt sind:52 Differenzierung nach Persönlichkeitsmerkmalen, insbesondere je weniger diese für den einzelnen verfügbar sind, oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG „annähern“; Betroffenheit in Freiheitsgrundrechten und mehr oder weniger fehlende Möglichkeit durch eigenes Verhalten den Unterscheidungskriterien auszuweichen. Dieser Katalog allgemeiner Leitlinien zum Maß der Bindungen des Gesetzgebers wäre noch zu ergänzen durch den Gesichtspunkt der (mangelnden) Folgerichtigkeit53 gesetzgeberischer Entscheidungen, der vor allem,54 aber nicht ausschließlich55 für das Steuerrecht erhebliche Bedeutung erlangt hat.

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So namentlich Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 370 ff. Eingehend Huster (Fn. 15), S. 225 ff. 52 BVerfGE 129, 49 (69); vgl. auch BVerfGE 130, 240 (254). 53 Zum aktuellen Streitstand Lerke Osterloh, Folgerichtigkeit, in: Michael Bäuerle u. a. (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2012, S. 429 ff. 54 Für das Steuerrecht etwa BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale. 55 Insb. BVerfGE 121, 317 – Rauchverbot in Eckkneipen. 51

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3. Integration von Willkürverbot und Verhältnismäßigkeit in einem einheitlichen gleichheitsrechtlich modifizierten (?) Prüfungsmaßstab Nach den vorangehenden Überlegungen ist konsequent auch ein einheitlicher, Willkürverbot und Verhältnismäßigkeit umfassender Prüfungsmaßstab zu befürworten. In dieser Richtung bewegte sich auch bisher schon die Rechtsprechung.56 Der Erste Senat hat dies in seinem BAföG-Beschluss57 aus dem Jahr 2011 aber erstmals auch ausdrücklich und deutlich formuliert. Damit bleibt die Frage nach etwa notwendigen Modifikationen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in dessen Funktion als gleichheitsrechtlicher Maßstab der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Der Erste Senat hat sich insoweit zwar nicht deutlich geäußert, formuliert jedoch auffällig vorsichtig,58 wenn er von einem stufenlosen (gleichheitsrechtlichen) Prüfungsmaßstab spricht, der am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu „orientieren“ sei. M.E. sind jedoch wesentliche Modifikationen nicht geboten. Nicht der – sehr formale und abstrakte – Prüfungsmaßstab der Verhältnismäßigkeit ist zu modifizieren, er hat sich bei seinem gleichheitsrechtlichen Einsatz lediglich auf einem etwas anders strukturierten Prüfungsfeld zu bewähren als auf dem der Freiheitsgrundrechte. Diese These ist hier abschließend nur knapp zu skizzieren: Im einfachen freiheitsrechtlichen Grundmodell ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung schlicht vertikal ausgerichtet, im gleichheitsrechtlichen dagegen auch horizontal. Das gilt jedoch schon für die Freiheitsrechte nur bei starker Vereinfachung, denn das Gewicht einer Freiheitsbeschränkung kann ohne Blick auf die sozialen Bezüge der Freiheitsausübung wohl kaum sachgerecht bewertet werden. Deshalb kann man schon bei den Freiheitsrechten auch von deren gleichheitsrechtlichen Gehalten sprechen.59 Die generell vorgegebene Vergleichsperspektive des Art. 3 GG ändert aber nichts an den grundlegenden Anforderungen an Rationalität und Abgewogenheit gesetzgeberischer Lösung horizontaler und vertikaler Interessenkonkurrenzen und -konflikte. Tatsächlich treten denn auch bei den Anforderungen an die Geeignetheit im Zweck-Mittel-Schema erkennbare Unterschiede noch nicht auf.60 Anders ist es beim Gebot der Erforderlichkeit, also dem Gebot, unter mehreren gleich geeigneten Mitteln das schonendste auszuwählen. Ohne weiteres gibt es für dieses Gebot einen gleichheitsrechtlichen Ansatz nur dann, wenn man auch der (schematischen) Gleichbehandlung prima facie Vorrang vor der Ungleichbehandlung einräumt, oder aber 56

Z. B. BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22); 89, 365 (375); 95, 267 (316); 99, 367 (388); zum Ganzen m. w. N. auch gegenläufiger Entscheidungen Osterloh (Fn. 11), Art. 3 Rdn. 25 ff. 57 Fn. 10. 58 Vgl. oben mit Fn. 10. 59 Kirchhof (Fn. 19), § 181 Rdn. 79 ff. 60 Mögliche unbeabsichtigte Nebenfolgen gesetzlicher Regelungen sind entgegen Albers (Fn. 17) kein Spezifikum von Gleichheitsproblemen.

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jedem status quo einen Vorrang vor benachteiligender Veränderung durch Gleichoder Ungleichbehandlung zuspricht. Die zweite dieser Alternativen deutet in die richtige Richtung. Dabei geht es allerdings nicht um einen spezifischen Schutz des status quo gegenüber gesetzlichen Änderungen der Sach- und Rechtslage, sondern um einen Anspruch auf Rationalität der Nachteilszufügung durch Gleich- oder Ungleichbehandlung. Nicht die Änderung des status quo an sich steht zur Prüfung, sondern lediglich die Rationalität des Mitteleinsatzes, die Begrenzung zulässiger Mittel durch den Rahmen der Zielsetzungen. Allerdings wird in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte in aller Regel bereits das Gewicht des Nachteils und der Ungleichbehandlung unter Aspekten eines auch betroffenen Freiheitsrechts oder fehlender Folgerichtigkeit zu berücksichtigen sein,61 womit bereits der Weg in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e.S. eingeschlagen ist. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e.S. fallen allerdings die spezifisch gleichheitsrechtlich orientierten Formulierungen der Rechtsprechung auf, wenn es heißt, „Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.“ Sprachlich wäre hiernach zwar zwischen „Ziel“ und „Sachgrund“ zu unterscheiden,62 dies geschieht jedoch in anderen vielfach zu den Freiheitsgrundrechten verwendeten Formeln gerade nicht, wenn die Rede ist von einer „Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe“.63 „Ziele“ und „Gründe“ werden hier offenkundig synonym gebraucht, und das erscheint nicht nur für die freiheitsrechtliche, sondern auch für die gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeitskontrolle durchaus plausibel. Wenn schließlich (wohl nur) bei der Gleichheitsprüfung nicht nur von Gründen, sondern spezieller von Sachgründen gesprochen wird, so sollte das nicht als Bekenntnis zur „Natur der Sache“ als entscheidungsleitendem Maßstab, sondern eher als terminologischer Brückenschlag zwischen „alter“ Willkür- und „neuer“ Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung zu verstehen sein.

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Vgl. – wohl als Grenzfall – BVerfGE 125, 1 (23 ff.). So etwa Albers (Fn. 17), S. 947. 63 Vgl. jew. m. w. N. BVerfGE 83, 1 (19); 104, 337 (349); 126, 112 (152 f.).

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Freiheit der Wissenschaft heute Von Günter Püttner I. Die Sturmzeit ab 1968 und die folgende Entwicklung Bekanntlich gab es in den Jahren ab 1968 eine ernsthafte Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft. Aggressive Kräfte, die sich gern revolutionär nannten und gaben, wollten eine bestimmte ideologische, gesellschaftspolitische Ausrichtung der Wissenschaft durchsetzen und verbindlich machen. Hiergegen richtete sich der Widerstand derer, die sich dem nicht unterwerfen und an der Freiheit der Wissenschaft festhalten wollten. Zu diesem Kreis gehörte insbesondere auch der Jubilar1, der sich über viele Jahre aktiv engagiert und maßgeblich dazu beigetragen hat, daß sich schließlich die Freiheit der Wissenschaft wieder voll durchsetzen konnte. Aber das ist heute bereits Geschichte. Die heutige Generation der Wissenschaftler hat andere Sorgen und Probleme, von denen sogleich die Rede sein soll. Aber ganz in Vergessenheit geraten dürfen die Vorgänge der damaligen Jahre nicht, weil man viel aus dem Streit dieser Zeit lernen kann. Niemand weiß, ob es wieder einmal ähnliche Bestrebungen geben wird. Aber hier ist nicht der Ort, dies zu vertiefen. Immerhin: Gelegentlich gibt es Vorgänge, die an die damalige Zeit erinnern. So war in „Forschung und Lehre“2 jüngst zu lesen, daß (immer noch oder schon wieder) einige Universitäten von Kandidaten für ein Professorenamt die Versicherung verlangen, daß nur zu zivilen (also nicht militärischen) Zwecken geforscht werde, sog. Zivilklausel. Angesichts der Verfassungsvorschrift des Art. 5 Abs. 3 GG ist diese Praxis, gelinde gesagt, erstaunlich. Wer in der Literatur, namentlich auch den Kommentaren zu Art. 5 Abs. 3 GG3, nachschlägt und sich informieren will, welches die verfassungsrechtlichen Proble1

Michael Kloepfer wirkte lange Jahre (1978 – 1994) als Mitglied des Vorstandes des Bundes Freiheit der Wissenschaft für diese Zielsetzung und trat immer wieder in der Öffentlichkeit auf. In einer rechtswissenschaftlichen Veröffentlichung hat sich dieses Engagement, soweit ersichtlich, nicht niedergeschlagen. Kloepfers Interesse galt immer besonders dem Umweltrecht, wovon sein großes Lehrbuch zeugt, aber auch der jüngst (15. 11. 2012) im Ostseeinstitut in Rostock gehaltene Festvortrag zur Geschichte des Umweltrechts. 2 Hans Detlef Horn, Wissenschaft folgt dem Freiheitsgebot, Forschung & Lehre 2012, M. 10/12, S. 808 ff. 3 Die nachfolgende Übersicht stützt sich namentlich auf Frank Fechner, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar 2010, Art. 5 Abs. 3 GG; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundes-

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me der Freiheit der Wissenschaft heute sind, gewinnt einen sehr nüchternen Eindruck. Es gibt eigentlich nicht viel Neues, jedenfalls nach den Kommentaren. Diese aber bauen regelmäßig auf der Verfassungsrechtsprechung auf, sodaß nur näher behandelt wird, was bereits Gegenstand von Rechtsprechung war, anderes aber nicht. Es gilt der Grundsatz: Wenn keine Rechtsprechung, dann auch kein Kommentar! Wer demnach überprüfen will, was es, z. B. zur Wissenschaftsfreiheit, Neues gibt, muß auch andere Quellen nutzen. Vor allem muß er das Umfeld in den Blick nehmen (dazu unten), also Umschau halten, welche Fragen derzeit zur Debatte stehen, welche Wünsche und Forderungen es gibt und welche Beschwerden vorgebracht werden. Diese erforderliche Umschau kann hier nur unvollkommen geleistet werden, aber es sollen wenigstens einige Punkte aufgegriffen werden. Dazu gehört die jüngst thematisierte Kommerzialisierung der Wissenschaft, zu der es (anschließend) einiges zu sagen gibt. II. Freiheit versus „Käuflichkeit“ der Wissenschaft Vor allem auf dem Hochschulverbandstag im März 2012 in Hannover konnte man Interessantes zum Thema Wissenschaftsfreiheit vernehmen. Es ging dort zunächst um die Frage unparteiischer (und unparteilicher) Wissenschaft, dann aber konkret um die Käuflichkeit von Wissenschaft4, speziell bestimmter Naturwissenschaften. Die pharmazeutischen Unternehmen pflegen Wissenschaftler bestimmter Sparten, besonders auch Mediziner, zu „sponsern“ (genauer: einzukaufen) gegen die Verpflichtung, die Produkte ihres jeweiligen Unternehmens bei der Kundschaft zum Einsatz zu bringen. Es stellt sich natürlich die Frage, ob diese Handlungsweise mit Wissenschaftsfreiheit vereinbar ist. Darf der Wissenschaftler von der ihm zustehende Freiheit in der genannten Weise Gebrauch machen oder sollte er sich dagegen verwahren? Verwahren mit der Folge, daß ihm die zugehörigen Forschungsmittel nicht zufließen und er aufwendige Forschungen nicht betreiben kann und wissenschaftlich möglicherweise ins Abseits gerät. Es geht hierbei nicht nur um die Frage des individuellen Verhaltens des einzelnen Wissenschaftlers, sondern um das System der Wissenschaftsbetriebe im Ganzen. Wenn nämlich das „Sponsoring“ dieser Art sich allgemein ausbreitet und so zum System wird, ist es dann dem einzelnen Wissenschaftler zuzumuten, gegen den Strom, den main stream zu schwimmen? Umgekehrt: Wie ist das Verhalten der republik Deutschland, Band IV/2, 2011, § 17 IX (S. 738 ff.); Thomas Oppermann, in: Handbuch des Staatsrechts, hrsg. von Isensee und P. Kirchhof, Band VI, 1989, § 145 (S. 809 ff.); Christoph Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl. 2008; Herbert Bethge, in: Michael Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, zu Art. 5 Abs. 3; auch: Rupert Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, zu Art. 5 III. 4 Ganz neu ist diese Fragestellung allerdings nicht; es wurde über Freiheit versus Utilitarismus bekanntlich schon Anfang des 19. Jahrhunderts heftig gestritten.

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vielen zu bewerten, die dem main stream folgen und durchaus wissenschaftliche Leistungen in diesem System erbringen? Insbesondere in der Debatte auf dem genannten Hochschulverbandstag mußte man aber den Eindruck gewinnen, daß mit Pauschalurteilen Vorsicht geboten ist. Viele Wissenschaftler behalten offenbar auch in dem neuen System einige Freiheit für ihre wissenschaftliche Arbeit. Es gibt nicht das Alles oder Nichts, die Freiheit oder die Käuflichkeit, sondern viele Abstufungen und Facetten, die Spielraum geben. Und die Lage ist nicht in allen Disziplinen gleich. In weiten Bereichen der Geisteswissenschaften, nicht nur in der Philosophie und bestimmten Orchideenfächern findet man keine finanziellen Angebote aus der Wirtschaft. Da gibt es viel Freiheit, aber wenig Geld, wobei hinzuzufügen ist, daß nicht wenige Wissenschaftler gar nicht auf zusätzliche Mittel angewiesen sind und andere aus allgemeinen Forschungsmitteln (DFG) hinreichend bedient werden können. Eine käufliche Wissenschaft gibt es nach den Beobachtungen des Verfassers in der Breite der Universitäten erfreulicherweise nicht. Nimmt man die Unparteiischkeit zum Maßstab für die Existenz von Wissenschaftsfreiheit, so zeigen sich ebenfalls Unterschiede von Fach zu Fach. Von Philosophen (und auch Sozialwissenschaftlern) erwartet man selbstverständlich unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit, aber die Ausgangslage ist nicht überall gleich. So sind die theologischen Fakultäten beider Couleur natürlich ihrer jeweiligen Glaubensrichtung verpflichtet. Jedenfalls ist das die Regel, was Probleme mit Abweichlern nicht ausschließt. Wieder anders verhält es sich mit den Juristen, die bekanntlich vielfach Parteigutachten in Streitfällen verfassen und insoweit nicht unparteiisch sein können. Aber in der Regel legen beide Seiten eines Streites Gutachten mit wissenschaftlicher Vertiefung ihres Standpunktes vor, und es ist Sache der (zur Unparteilichkeit verpflichteten) Richter, die Argumente abzuwägen und ein auf Unabhängigkeit beruhendes Urteil zu fällen. Diese „Streitkultur“ ist heute hochentwickelt und hat ihre eigenen, anerkannten Gesetzmäßigkeiten. Die Wissenschaftsfreiheit wird dadurch nicht angetastet, und so gut wie jeder Rechtswissenschaftler hat im Laufe seines Berufslebens auch die Erstattung von Gutachten abgelehnt, deren Tendenz er nicht hätte vertreten können. Insofern bietet die gesicherte Position der Professoren an den Universitäten ein wichtiges Element der Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit, woran hoffentlich nicht gerüttelt wird. III. Wissenschaftsfreiheit als individuelles Grundrecht Die in Art. 5 Abs. 3 GG niedergelegte Freiheit der Wissenschaft ist zunächst wie jedes Grundrecht ein subjektives Freiheitsrecht und so in erster Linie ein Abwehr-

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recht gegen staatliche Eingriffe5. Die Grundrechtsträger haben Anspruch darauf, ihre Grundrechte auszuüben und sich gegen staatliche Reglementierungen zu wehren. Mit der Wissenschaftsfreiheit steht es im übrigen nicht anders als mit sonstigen Freiheiten. Es gibt nach dem jeweiligen Grundrecht in der Regel einen objektiv beschreibbaren Freiheitsspielraum, der ausgeschöpft werden kann. Je nachdem, was einem bestimmten Grundrechtsträger vorschwebt, kann der „gefühlte“ Freiheitsspielraum davon abweichen. Wer sich erkennbar inmitten des vorgegebenen Spielraums bewegt, wird in der Regel kein Freiheitsdefizit empfinden, wer sich aber an der Grenze oder gar jenseits dieses Spielraums betätigen will, kann leicht ein Defizit an Freiheit empfinden und sich bedrängt fühlen. Im übrigen lebt das Prinzip Freiheit von Freiwilligkeit. Niemand, auch nicht der dafür Begabteste, ist verpflichtet, Wissenschaft zu betreiben und dabei die Wissenschaftsfreiheit in Anspruch zu nehmen. Man kann zwar damit rechnen, daß es in einer modernen pluralistischen Gesellschaft immer einzelne Interessierte und auch Querdenker gibt, die für sich die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch nehmen. Aber garantiert ist das nicht; die Verfassung schützt nicht vor geistiger und wissenschaftlicher Verarmung. Das gilt für andere Freiheiten wie die Kunstfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und viele weitere Freiheiten genauso. Wer den Stellenwert der Wissenschaftsfreiheit in unserer Gesellschaft beschreiben will, muß folglich Vorsicht walten lassen und darf aus Art. 5 Abs. 3 GG nicht überzogene Schlüsse ziehen. Es wird wohl immer nur eine Minderheit die Wissenschaftsfreiheit in Anspruch nehmen, aber dies kann durchaus eine Elite sein, deren Leistungen die menschliche Gesellschaft erheblich bereichert. Dazu ist unten noch einiges zu sagen. Zu betonen ist weiter, daß die Wissenschaftsfreiheit wie jedes Grundrecht auf eigene Kosten ausgeübt werden muß. Einen Anspruch auf eine wissenschaftsadäquate Ausstattung läßt sich selbst für hauptamtliche Wissenschaftler aus Art. 5 Abs. 3 GG nicht herleiten, schon gar nicht für sonstige Interessenten6. Das Prinzip „Freiheit auf eigene Kosten“ bedeutet auch, daß die Wissenschaftsfreiheit nicht zum Eingriff in die Rechte Dritter befugt, z. B. nicht in Eingriffe in fremdes Eigentum oder in das Persönlichkeitsrecht Dritter. Diese Selbstverständlichkeit hatten manche Grundrechtsinterpreten zeitweise aus den Augen verloren, aber heute kann man davon ausgehen, daß an dieser Gegebenheit kein Weg vorbeiführt. Damit sind den Wissenschaftsfreiheiten in einigen Bereichen 5 Der Jubilar äußerte in dem in Anm. 1 genannten Festvortrag allerdings die Auffassung, dieser Aspekt (subjektives Recht) werde künftig gegenüber dem institutionellen Aspekt zurücktreten. Aber aufgegeben werden darf das subjektive Recht, solange Art. 19 Abs. 4 GG gilt, sicherlich nicht. 6 Das ist nicht für alle Interessenten selbstverständlich. Der Verfasser war vor Jahren als Referendar mit einem Klageverfahren befaßt, in dem ein Sozialhilfe-Empfänger einen Zuschlag zur Hilfe verlangte, weil er forschen wollte, womit er allerdings nicht durchdrang.

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Grenzen gesetzt, und es stellt sich ganz allgemein die Frage nach den Schranken des Grundrechts auf Freiheit der Wissenschaft. Da Art. 5 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich mit einer Schranken-Klausel versehen ist, gab es zeitweise Bedenken, irgendwelche Beschränkungen dieses Freiheitsrechts anzuerkennen. Aber man müßte bei gehöriger Betrachtung immerhin zugeben, daß zumindest andere Verfassungspositionen, insbesondere Grundrechte, der Wissenschaftsfreiheit (besonders der Forschungsfreiheit) Grenzen setzen können. Nach der hier vertretenen Auffassung ergeben sich diese Schranken weitgehend bereits aus dem Grundsatz, daß nicht in die Rechte Dritter eingegriffen werden darf7. Manche Schranken, z. B. bezüglich der Tierversuche, bedürfen doch, wenn sie anerkannt werden sollen, einer verfassungsrechtlichen Legitimation, was Probleme aufwerfen kann. Die sich insoweit ergebenden Schranken der Wissenschaft sind in der Praxis bis heute relevant, werden aber meistens unter dem Stichwort „Ethik“ einer pragmatischen Lösung zugeführt. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Dagegen steht das Thema „Wissenschaftsfreiheit und Hochschulorganisation“ seit langem auf der Tagesordnung, ist aber der sogleich zu behandelnden institutionellen Seite der Wissenschaftsfreiheit zuzuordnen. IV. Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Garantie Bekanntlich enthält der Grundrechtsteil des GG nicht nur subjektive, individuelle Freiheitsrechte, sondern er beinhaltet auch geschützte Werte und etwa auch institutionelle Garantien. Vieles, was z. B. in Art. 6 und 7 GG festgelegt ist, müßte aus dem Grundrechtsteil verbannt werden, wenn es dort nur individuelle Rechte geben dürfte. Nicht wenige Bestimmungen des Grundrechtsteils des GG beinhalten anerkanntermaßen zugleich ein subjektives Recht und eine institutionelle Garantie, so besonders die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG. Aber auch die in Art. 5 Abs. 3 GG niedergelegten Freiheiten müssen nicht nur als Individualrechte, sondern auch als institutionelle Garantien aufgefaßt werden8. Geschützt ist damit die „Institution“ freie Wirtschaft, aber es wird nicht sofort klar, was damit genau gemeint sein soll. Am ehesten ist einsichtig, daß die Wissenschaftsfreiheit den Universitäten und Hochschulen als Stätten von Forschung und Lehre institutionellen Schutz gewährt („Grundrecht der deutschen Universität“)9. Über die Folgerungen für die Organisation der Universitäten und deren Autonomie ist seit dem ersten Hochschulurteil10 soviel geschrieben worden, daß eine erneute Darstellung den Leser langweilen müßte. Anzumerken ist aber, daß nun nach dem jüngsten Wis7 Damit sind z. B., anders als in den USA, den sogenannten Humanexperimenten in Deutschland enge Grenzen gesetzt. 8 Allgemein anerkannt, vgl. Oppermann (Anm. 3), Rn. 51 ff. 9 So Oppermann (Anm. 8). 10 BVerfGE 35, S. 79 ff.

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senschaftsfreiheitsgesetz11 auch den staatlich geförderten außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen wie der Max-Planck-Gesellschaft, dem DAAD u.s.w. mehr Selbständigkeit eingeräumt wird. Die Institutionen, denen die Pflege der Wissenschaft anvertraut ist, nehmen damit eine dem Art. 5 Abs. 3 GG gemäße Position im staatlichen und gesellschaftlichen Leben ein. Aber das ist nicht alles, was zu diesem Thema zu sagen ist. In der erwähnten Literatur findet man im wesentlichen nur den Hinweis, daß der Staat gemäß der institutionellen Garantie der Wissenschaft eine Pflicht zur Förderung der Wissenschaft habe, wobei insbesondere an finanzielle Förderung gedacht ist12. Wie weit diese Pflicht reichen soll, ist nicht leicht auszumachen, aber in der Praxis ist schon der Grundsatz als solcher einiges wert. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß zum Gedeihen von freier Wissenschaft noch andere Lebensbedingungen gehören als nur eine gehörige Pflege der Wissenschaftsinstitutionen, wenngleich diese viel bedeutet. Es gilt aber eben auch vieles andere in den Blick zu nehmen, das über Jahrhunderte im Feld der Wissenschaftsförderung entwickelt worden ist. So winkt den Erfindern, also denen, die unter Nutzung der Wissenschaftsfreiheit Neues entwickeln, in Form von Patentschutz und flankierenden Belohnungen eine materielle (und gesellschaftliche) Anerkennung. Über das Arbeitnehmer-Erfindungsgesetz erhalten auch die im Arbeitsverhältnis stehenden Erfinder Anteil am Erlös aus ihrer Erfindung. Es besteht also, anders als vor Jahrhunderten13, ein deutlicher Anreiz zur Nutzung der Wissenschaftsfreiheit. Ein vergleichbarer Anreiz besteht auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften zumindest dadurch, daß sich hervorragende wissenschaftliche Denk- und Arbeitsergebnisse allgemeiner Wertschätzung erfreuen. Hinzuweisen ist auch auf die Belohnung wissenschaftlicher Leistungen von Rang durch zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Unterhalb des obersten Preises, des Nobel-Preises, gibt es eine Fülle solcher Auszeichnungen, hier ebenso wie im Feld von Musik und Kunst. Schon in der Schule erhalten die Schüler Anreize zu schöpferischer Tätigkeit, und es gibt auch hier belohnende Preise, z. B. im Rahmen des Programms „Jugend forscht“. Es besteht also ein gesetzliches und tatsächliches System der Begünstigung und Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen und Erfindungen. Die verfassungsrechtliche Garantie der Wissenschaftsfreiheit erhält so den Charakter einer Bekräftigung dessen, was über lange Zeit gewachsen und entwickelt worden ist. Daß es dazu keine Verfassungsrechtsprechung gibt, kann nicht verwundern, da ja der Freiheit nichts in den Weg gelegt, sondern diese umgekehrt gefördert wird, auch wenn diejenigen, die so tätig wurden, regelmäßig in der Minderheit sind (s. oben). 11

BGBl I (2012), S. 2395; vgl. die Nachricht in „Forschung und Lehre“ 11/12, S. 877. Vgl. z. B. Stern (Anm. 3), S. 750 ff. 13 Die Lehrbücher des Wissenschaftsverwaltungsrechts (so auch das des Verfassers, Stuttgart, 1989, S. 44) verweisen gern auf die Thorner Zunftsurkunde von 1523, wo bestimmt war, daß „kein Handwerker etwas Neues erfinden, erdenken oder gebrauchen“ solle. 12

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Irgendeinen wirklichen Gegner der Wissenschaftsfreiheit gibt es heute eigentlich nicht oder nicht mehr; auch die früher in dieser Hinsicht gern genannte (katholische) Kirche – Stichwort Galilei – tritt heute als Gegner der Wissenschaftsfreiheit nicht auf den Plan. V. Schlußbemerkung Der kurze Streifzug durch die Probleme der Freiheit der Wissenschaft hat für die heutige Zeit ein zwar buntscheckiges, aber im wesentlichen erfreuliches Bild ergeben. Den Kommentaren zu Art. 5 Abs. 3 GG läßt sich das allerdings nur zum Teil entnehmen, weil die Kommentare regelmäßig auf der Verfassungsrechtsprechung aufbauen, die es natürlich nicht geben kann, wenn keine relevanten Verletzungen vorgelegen haben. Das Leben ist mehr als der Spruch der Gerichte.

Umweltschutz in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Von Hans-Werner Rengeling I. Einführung Der Umweltschutz nimmt im Rahmen der Europäischen Union breiten Raum ein. Dabei spielen Ziele und Prinzipien im primären Unionsrecht eine gewichtige Rolle.1 Zum Umweltschutz findet sich auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union2 (GRCh) eine eigene Regelung in Art. 37: „Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politiken der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.“ Es wird vielfach angenommen, dass diese Regelung gegenüber dem übrigen Primärrecht nichts Neues enthalte. Sie wiederhole diesem gegenüber nur das insbesondere in Art. 3 Abs. 3 EUV (hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität) sowie Art. 11 (Querschnittsklausel) und 191 AEUV (umweltpolitische Ziele und Maßnahmen)3 bereits Gesagte. Mehr noch: Die Vorschrift sei nicht nur überflüssig, sondern – als ein Art. 20a GG vergleichbares Staatsziel – in einer Charta der Grundrechte deplatziert.4 Auf der anderen Seite ist die Rede von einem „neuen Grundsatz des Umweltschutzes“ in Art. 37 GRCh, dessen Bedeutung für erörterungswürdig gehalten wird.5 Auch wird eine selbständige Bedeutung des Art. 37 GRCh bejaht.6 In der Verbindung mit Individualgrundrechten könnte etwas Neues liegen.7 1

Vgl. jüngst insbesondere Klaus Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 3. Vom Europäischen Rat am 7. 12. 2000 in Nizza feierlich proklamiert und am 12. 12. 2007 dem Lissabon-Vertrag angepasst. 3 Zu der „Anlehnung“ an diese Bestimmungen: Eibe Riedel, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 37 Rn. 1. 4 Christian Calliess, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 4. Aufl. 2011, Art. 37 GRCh Rn. 4. 5 Hans D. Jarass, Der neue Grundsatz des Umweltschutzes im primären EU-Recht, ZUR 2011, 563 ff. 6 Marc Bungenberg, in: Ulrich Fastenrath/Carsten Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S. 205 (213). 2

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Weiterhin heißt es: Es handele sich bei dieser „im Gewande von Grundrechten daherkommende(n)“ Unionszielbestimmung8 primär um eine Bekräftigung einer fundamentalen Aufgabe der Union, die allerdings durch die Aufnahme in die Grundrechtecharta einen – und sei es auch schwachen – individual-rechtlichen Bezug enthalte.9 Auch wenn die Verfasser der Charta dem Artikel eindeutig nur einen objektivrechtlichen Gehalt beigelegt hätten, erhalte er durch seine Platzierung in eine Grundrechtecharta, und zwar gemeinsam mit Teilhaberechten und Schutzansprüchen unter der Kapitelüberschrift „Solidarität“, einen diffusen individualnützigen Einschlag. Darüber hinaus ergebe sich der Grundrechtsbezug unstreitig aus seiner Fähigkeit, Einschränkungen von Freiheitsrechten zu rechtfertigen.10 Kernprobleme des Art. 37 GRCh beruhen darauf, dass man sich im Konvent nicht auf ein echtes Umweltgrundrecht hat einigen können, aber dennoch den Umweltschutz in der Grundrechtecharta berücksichtigen wollte, wohl aus Gründen der Bürgernähe.11 Es ist zutreffend darauf hingewiesen worden, dass sich noch zeigen müsse, inwieweit die Grundrechtecharta zum Umweltschutz beitragen könne.12 Hauptanliegen der folgenden Überlegungen ist es, die rechtlichen Gehalte und die rechtliche Relevanz der Regelung herauszuarbeiten. Dazu soll auf folgende Fragen eingegangen werden: – Entstehungsgeschichte und allgemeine Bedeutung (unter II), – Unterscheidung von Grundsatz und subjektivem Recht (unter III), – Inhaltliche Gewährleistungen (unter IV): o Einbeziehung eines hohen Schutzniveaus und der Verbesserung der Umweltqualität in die Politik der Union, o Sicherstellung nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung, – Anwendungsbereich und Verpflichtete (unter V), – Abwägungsfragen (unter VI), – Kontext mit Grundrechtsgewährleistungen der Charta (unter VII), – gerichtlicher Rechtsschutz (unter VIII).

7 Riedel (Fn. 3), Art. 37 Rn. 4, 13; Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, § 32 Rn. 1053. 8 Christian Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, 261 (265). 9 Meßerschmidt (Fn. 1), § 2 Rn. 40. 10 Meßerschmidt (Fn. 1), § 2 Rn. 40. 11 Calliess (Fn. 4), Art. 37 GRCh Rn. 1. 12 Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 9 Rn. 81; vgl. auch Peter Szczekalla, Grundrechte, in: Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 2. Aufl. 2003, Bd. I, § 12 Rn. 76 ff.

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II. Entstehungsgeschichte und allgemeine Bedeutung der Regelung Es gab im Verlauf der Entstehungsgeschichte13 sehr unterschiedliche Positionen. Nach dem sog. Kölner Mandat sollte ein „Recht auf Umweltschutzmaßnahmen“ geschaffen werden.14 Auf der anderen Seite wurde der Vorschlag, ein Individualgrundrecht zu schaffen, abgelehnt, und zwar aus Sorge vor einer Prozessflut, die – wie auch sonst bei der Aufwertung der Grundrechte – auf EU-Ebene befürchtet wurde. Hervorzuheben ist, dass innerhalb des Konvents eine große Skepsis gegenüber den Rechten des dritten „Korbes“, den sozialen Rechten, vorherrschend war mit der Folge, dass man sich nicht darauf verständigen konnte, Individualgrundrechte zu schaffen.15 Das Konventspräsidium unterbreitete einen ersten Vorschlag am 16. 5. 2000 mit folgendem Wortlaut: „Der Schutz der Umwelt, der die Erhaltung, den Schutz und die Verbesserung der Umweltqualität, den Schutz der menschlichen Gesundheit sowie die umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen umfasst, wird durch die Politiken der Union sichergestellt.“16 Das Präsidium betonte dabei, dass es sich um einen Grundsatz und nicht um ein Recht handele.17 Im Ergebnis spricht man bei Art. 37 GRCh von einer „staatszielartigen Bestimmung“.18 In den Erläuterungen zur Grundrechtrecharta19 wird ausdrücklich betont, dass die in Art. 37 enthaltenen Grundsätze sich (nunmehr) auf die Art. 3 Abs. 3 EUV sowie die Art. 11 und 191 AEUV stützen. Ferner heißt es: „Er [sc. Art. 37 GRCh] lehnt sich auch an die Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten an.“ Bekanntlich ist die Charta der Grundrechte, also auch ihr Art. 37, durch den Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich geworden, Art. 6 Abs. 1 EUV. III. Grundsatz oder/und subjektives Recht 1. Art. 37 GRCh Nach allgemeiner Auffassung enthält Art. 37 GRCh nur einen Grundsatz, kein einklagbares subjektives Recht.20 Es handelt sich um eine Zielbestimmung der 13

Ausführlich dazu: Alfred Rest, in: Peter J. Tettinger/Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 37 Rn. 1 ff. 14 Zum Protokoll der 15. Sitzung des Konvents: Norbert Bernsdorff/Martin Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 341 (342). 15 Calliess (Fn. 4), Art. 37 GRCh Rn. 2. 16 Art. 44 CHARTE 4316/00 CONVENT 34 vom 16. Mai 2000. 17 Ebenso in der Erläuterung zu Art. 37 GRCh, ABl. 2007 Nr. C 303, S. 27. 18 Calliess (Fn. 4), Art. 37 GRCh Rn. 4. 19 Erläuterungen (Fn. 17); diese sind gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst und gebührend zu berücksichtigen. 20 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 1 ff.

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Union.21 In der Verfassungsdiskussion ist allerdings auch der Vorschlag für ein Umweltgrundrecht unterbreitet worden.22 Die Regelung des Art. 37 GRCh wird zum Teil sehr kritisch beurteilt: Rein objektiv-rechtlich wirkende „Gewährleistungen“, die dem Einzelnen gerade keine Rechte verleihen, hätten in einem Grundrechtskatalog weder begrifflich noch systematisch eine Berechtigung; darüber hinaus sei die Regelung als reine Wiederholung von Regelungen im AEUV völlig überflüssig.23 Aus Art. 6 Abs. 1 EUV ergibt sich allerdings, dass die Grundrechtecharta nicht nur Rechte, sondern auch Grundsätze enthält. Die Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen wurde bereits im Verfassungskonvent diskutiert.24 Art. 52 Abs. 3 GRCh regelt Einzelheiten zu den in der Charta vorgesehenen Rechten und Art. 52 Abs. 5 GRCh enthält nähere Bestimmungen zu den in der Charta vorgesehenen Grundsätzen. Art. 52 Abs. 5 Satz 1 GRCh bestimmt, dass die Grundsätze der Charta durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Die Grundsätze sind somit bindendes Recht.25 Sie sind nicht nur unverbindliche, bloße Programmsätze, sondern sind als Aufgabennormen rechtsverbindlich steuerndes Recht.26 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH stellen die Grundsätze des Art. 2 EGV ebenso wie die Tätigkeitsbereiche des Art. 3 EGV eine Auslegungshilfe dar, die es gestattet, den Sinngehalt anderer Vorschriften des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts zu ermitteln.27 Nach Satz 2 des Art. 52 Abs. 5 GRCh können die Grundsätze vor Gericht nur bei der Auslegung der in Satz 1 genannten Akte und bei Entscheidungen über deren Rechmäßigkeit herangezogen werden. Die Überprüfung ihrer Berücksichtigung durch die Gerichte ist also beschränkt.28 Die „Charta-Grundsätze“29 (Art. 52 Abs. 5 GRCh) sind von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die vom EuGH entwickelt worden sind,30 zu unterscheiden.

21 Anja Käller, in: Jürgen Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 37 GRC, Rn. 1; Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 1 und 17 m.w.N. 22 Zitiert bei Meßerschmidt (Fn. 1), § 1 Rn. 43 m.w.N. 23 Calliess (Fn. 4), Rn. 8; vgl. auch Rn. 1: „systematisch fehlplatziert“. 24 Vgl. Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 3. 25 Jarass (Fn. 5), S. 563. 26 Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 17. 27 Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 17 m.w.N. 28 Dazu die Ausführungen unten unter G. 29 So Jarass (Fn. 5), S. 563. 30 Dazu Hans-Werner Rengeling, Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Europäischen Union, in: Festschrift für Meinhard Schröder, 2012, S. 271 ff.

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2. Gesamtschau der ökologischen Verfassungsziele Zu Recht ist festgestellt worden, dass ein Umweltgrundrecht sich nicht aus einer Gesamtschau der ökologischen Verfassungsziele des Art. 2 EGV (jetzt Art. 3 Abs. 3 EUV), der in Art. 6 EGV (Art. 11 AEUV) niedergelegten Querschnittsklausel und der in Art. 174 – 176 EGV (jetzt Art. 191 AEUV) geregelten umweltpolitischen Grundsätze herleiten lässt, weil diese objektiv-rechtlichen Kernbestandteile der europäischen Umweltverfassung keinen subjektiv-rechtlichen Gehalt haben.31 3. Zur Herleitung eines ungeschriebenen EU-Umweltgrundrechts Möglichkeiten und Grenzen der Herleitung eines ungeschriebenen EU-Umweltgrundrechts im Wege der wertenden Rechtsvergleichung werden erörtert.32 Der EuGH leitet bekanntlich seit langer Zeit ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und völkerrechtlichen Verträgen ab, an denen die Mitgliedstaaten beteiligt sind.33 Zu diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen zählen auch Grundrechte.34 a) Europäische Menschenrechtskonvention Besondere Bedeutung kommt bei der Herleitung der EU-Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu. Deshalb spielt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine gewichtige Rolle, etwa bei der Bestimmung der Schutzfunktion der EMRK-Garantien als grundrechtliche Teilgewährleistungen des Umweltschutzes, materiell- und verfahrensrechtlich. Z.B. hat der EGMR in seinem Urteil vom 9. 12. 1994 einen Abwehranspruch gegen Luftverschmutzung und Geruchsbelästigungen gemäß Art. 8 EMRK angenommen und diesen auch auf andere Umweltstörungen ausgedehnt.35 Im Urteil vom 19. 2. 1998 hat der EGMR entschieden, dass das Fehlen amtlicher Informationen über die angemessene Reaktion der Bürger auf kontaminierende Emissionen einer nahe gelegenen Fabrik gegen das genannte Grund31 Carsten Nowak, in: F. Sebastian M. Heselhaus/Carsten Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 60 Rn. 14 und 29. 32 Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 30. 33 Peter Szczekalla, Allgemeine Rechtsgrundsätze, in: Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 2. Aufl. 2003, Bd. I § 11. 34 Szczekalla (Fn. 12), § 12 Rn. 1: Grundrechte als Unterfall der allgemeinen Rechtsgrundsätze. 35 Das Urteil vom 9. 12. 1994 in dem Fall López-Ostra gegen Spanien ist abgedruckt in Series A, Judgements and Decisions 1994, vol 303 C; vgl. auch Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 23; darauf verweist auch Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen vom 26. 5. 2005, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Rn. 70.

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recht verstoße.36 Art. 8 EMRK enthält also Elemente eines Grundrechts auf Umweltschutz.37 Insofern gibt es auch in der EMRK umweltrelevante Grundrechte. Aber auch die EMRK beinhaltet kein durch den Einzelnen durchsetzbares spezielles Umweltgrundrecht.38 b) Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten An dieser Stelle kann keine umfassende Untersuchung erfolgen.39 Aufgrund bisheriger Forschungen scheint aber die Ableitung eines EU-Grundrechts aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen fraglich zu sein, auch wenn in einigen Mitgliedstaaten ein eigenständiges Umweltgrundrecht materieller und/oder prozessualer Art vorgesehen ist.40 Es ist zwar richtig, dass es im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung nach der Rechtsprechung nicht entscheidend ist, ob ein bestimmtes Grundrecht in vielen oder den meisten Mitgliedstaaten existiert, um in der Rechtsordnung der Europäischen Union anerkannt zu werden,41 aber es kann auch Grenzen geben. So ist die Frage zu beantworten, ob ein EU-Umweltgrundrecht auch dann aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gewonnen werden kann, wenn ein solches subjektives Recht nur sehr vereinzelt in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen enthalten ist. Z.B. ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Mangold42 kritisch gesehen worden, in der er für das Gemeinschaftsrecht ein Verbot der Altersdiskriminierung angenommen hat, obwohl ein solcher Grundsatz in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nur vereinzelt anerkannt ist.43 Schließlich bleibt die kontrovers diskutierte Frage, ob das in einigen Mitgliedstaaten bestehende Umweltgrundrecht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH zur Struktur- und Zielkompatibilität von EU-Grundrechten anerkannt werden kann.44 36 Dazu Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen vom 26. 5. 2005, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Rn. 70 m.w.N. 37 Robert Uerpmann-Wittzack, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 3 Rn. 7, zum Umweltschutz durch die EMRK ebendort auch Rn. 19 und 26. 38 Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 31. 39 Zum Umweltschutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten ausführlich Rest (Fn. 12), Art. 37 Rn. 8 ff.; vgl. auch die Hinweise bei Rengeling/Szczekalla (Fn. 7), § 32 Rn. 1050. 40 Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 35 ff.; darauf verweist auch Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen vom 26. 5. 2005, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Rn. 67. 41 Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 42 m.w.N. 42 EuGH, Rs. C-144/04, Mangold/Helm, Slg. 2005, I-9981, Rn. 74. 43 Dazu Jürgen Schwarze, Zwischen Tradition und Zukunft: Die Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze im Recht der Europäischen Union, DVBl 2011, 721 (723); Rengeling (Fn. 30), S. 280. 44 Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 42 m.w.N.

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IV. Inhaltliche Gewährleistungen 1. Allgemeines Die Inhalte des Art. 37 GRCh sind vielfach beschrieben worden.45 Z.B. wird die Auffassung vertreten, dass es bei der zentralen Regelung des Art. 37 GRCh für den Umweltschutz der Funktion nach vor allem um eine Leistungsgewährleistung in der Variante der Schutzpflicht gehe.46 Gefördert werde durch die Norm vor allem die umweltfreundliche Auslegung von Normen des EU-Rechts bzw. des nationalen Umsetzungsrechts; außerdem könne die Regelung Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen.47 Die Regelung des Art. 37 GRCh stellt vor allem eine materielle Legitimation für Durchführungsakte dar, die den Umweltschutz fördern, auch soweit sie Grundrechte einschränken.48 2. Begriff der Umwelt Der Begriff der „Umwelt“ ist im Primärrecht nicht definiert. Nach allgemeiner Auffassung geht es um die „natürliche Umwelt“ einschließlich der vom Menschen gestalteten Umwelt.49 Der Schutz bezieht sich auf „die Umweltmedien Luft, Boden Wasser, Flora Fauna, den Menschen und die vom Menschen geschaffene Umwelt“.50 3. Hohes Umweltschutzniveau Auch bezüglich dieses Begriffes ist auf die Formulierungen des Art. 191 Abs. 2 Satz 1 AEUV zu verweisen.51 Damit wird – auch nach der Rechtsprechung des EuGH52 – jedenfalls nicht in technischer Hinsicht höchstmögliches Niveau verlangt. Der von einigen Autoren geforderte „bestmögliche Umweltschutz“53 ist in der Praxis bisher nicht anerkannt.54

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Dazu Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 17 ff. Hans D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 51 Rn. 52; ders. (Fn. 5). 47 So Joachim Scherer/Sebastian Heselhaus, in: Manfred A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: 2010, Teil O Rn. 66. 48 Jarass (Fn. 5), S. 564. 49 Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 18 m.w.N. 50 Käller (Fn. 21), Art. 191 AEUV Rn. 7. 51 Im Einzelnen dazu Käller (Fn. 21), Art. 191 AEUV Rn. 18 ff. 52 Z. B. EuGH, Rs. C-284/95, Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I-4301 Rn. 49. 53 Dazu Wolfgang Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1995, S. 10 f., 55 ff., 92 ff. m.w.N. 54 Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 19. 46

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4. Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV Die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV weist weitgehende Parallelen mit Art. 37 GRCh auf. Das entspricht der seit langem bestehenden Erkenntnis, dass die Umweltpolitik nicht (nur) als isolierte Politik neben anderen verfolgt werden kann, sondern dass der Umweltschutz erfordert, seine Belange auch im Rahmen anderer Politiken zu berücksichtigen.55 Aus dem „Integrationsprinzip“ (auch gebräuchliche Bezeichnung statt „Querschnittsklausel“) wird ein Optimierungsgebot abgeleitet.56 im Gewande eines „imperativischen Handlungsauftrags“. Allerdings ist der Querschnittsklausel kein Rangverhältnis der verschiedenen Ziele zu entnehmen.57 5. Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung In Art. 37 GRCh ist auch der von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung im „Brundtland-Bericht“ von 1987 genannte Grundsatz des „sustainable development“ enthalten, der später zum Leitbegriff für die internationale und nationale Umweltpolitik der Zukunft erhoben worden ist.58 V. Anwendungsbereich und Verpflichtete Adressaten des Art. 37 GRCh sind die Union als Rechtssubjekt und die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Die Bindungswirkung gilt – wie Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh zu entnehmen ist – auch für die Grundsätze der Charta. Ferner gilt Art. 37 GRCh für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh.59 Dabei ist der Begriff der „Durchführung“ in einem sehr weiten Sinne zu verstehen.60 Union und Mitgliedstaaten müssen die Grundsätze des Art. 37 GRCh im Bereich der Gesetzgebung, der Exekutive und der Judikative beachten.61 Generalanwalt RuizJarabo Colomer hat zur Geltung und Bindung der Grundsätze in Art. 37 GrRCh ausgeführt: „Daher sind die Merkmale jedes Projekts, das nicht den allgemeinen zum Umweltschutz eingeführten Kriterien entspricht, als Ausdruck der Sachgerechtigkeit 55

Käller (Fn. 21), Art. 37 GRC Rn. 1; vgl. bereits Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Umweltschutz und andere Politiken der Europäischen Gemeinschaft, 1993. 56 Rest (Fn. 13), Rn. 19. 57 Astrid Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 112. 58 Rest (Fn. 13), Rn. 122 m.w.N.; Riedel (Fn. 3), Art. 37 Rn. 12. 59 Dazu Jarass (Fn. 46), Art. 37 Rn. 4. 60 Jarass (Fn. 5), S. 564; vgl. auch Matthias Herdegen, Grundrechte der Europäischen Union, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 3. Aufl. 2012, § 211 Rn. 29 ff. 61 Jarass (Fn. 5), S. 564.

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der Verwaltung angemessen zu begründen, was gleichzeitig ihre eventuelle nachträgliche Kontrolle erleichtert.62 VI. Abwägungsfragen Ein verfassungsrechtlicher Grundsatz des Umweltschutzes kann dazu führen, dass dieser vom EuGH in seiner Funktion als kollidierendes Verfassungsrecht und Abwägungsmaßstab aufgegriffen wird und sich somit aufgrund der Rechtsprechung allmählich als „gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ verfestigen kann.63 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Vorgaben des Grundsatzes aus Art. 37 GRCh dadurch relativiert werden, dass den Verpflichteten ein erheblicher Ermessensspielraum eingeräumt wird. Der Grundsatz ist nicht strikt anzuwenden, sondern eben mit anderen Rechtsgütern abzuwägen. Es kann sich somit selbstredend ergeben, dass die Vorgaben des Art. 37 GRCh im konkreten Fall zurücktreten.64 VII. Grundsätze im Kontext mit Grundrechtsgewährleistungen der Charta Die Grundrechtecharta enthält nicht nur in Art. 37 GRCh eine für den Umweltschutz relevante Regelung. In der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen finden sich Ansatzpunkte für die Bedeutung der Grundrechte in umweltrelevanten Sachbereichen. Es bestehen also durchaus grundrechtliche Teilgewährleistungen des Umweltschutzes.65 Die rein objektiv-rechtlich formulierten Ziele können in Verbindung mit individualschützenden Grundrechten der Charta herangezogen werden, wie etwa Gleichheits- und Diskriminierungsschutzbestimmungen der Art. 20 und 21 GRCh, zur Sicherstellung diskrimierungsfreien Zugangs zu bestehenden umweltrelevanten Einrichtungen, Diensten und Vergünstigungen.66 1. Einklagbare subjektive Rechte Grundrechtsgewährleistungen der Charta sind im Vergleich zu dem in Art. 37 GRCh vorgesehen Grundsatz besonders bedeutsam, weil sie einklagbare subjektive Rechte enthalten. Die Entwicklungen auf der sekundärrechtlichen Ebene zu Klage-

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Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 8. 1. 2004, Rs. C-87/02, Kommission/Italienische Republik, Rn. 36. 63 Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn. 25 m.w.N. 64 Jarass (Fn. 5), S. 565. 65 Rengeling/Szczekalla (Fn. 7), § 32 Rn. 1051 f.; im Einzelnen: Szczekalla (Fn. 12), § 12 Rn. 32 ff. 66 Riedel (Fn. 3), Rn. 13.

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rechten sind im Fluss und durchaus fortgeschritten,67 auch für den nationalen Bereich.68 2. Beispiele im Einzelnen Verschiedene Bestimmungen der Charta sind für den Umweltschutz von Bedeutung, auch wenn dieser nicht ausdrücklich angesprochen wird. Art. 3 GRCh ist z. B. einschlägig, wenn sich Umweltbeeinträchtigungen schädigend auf die körperliche und geistige Unversehrtheit auswirken. Auch aus der in Art. 7 der Charta geregelten Achtung des Privatlebens können sich Forderungen bezüglich des Umweltschutzes ergeben.69 VIII. Gerichtlicher Rechtsschutz betreffend Art. 37 GRCh 1. Allgemeines Wenn auch durch Art. 37 GRCh keine Klagebefugnis zur Eröffnung einer gerichtlichen Kontrolle gewährt wird, so ist der Grundsatz doch zu berücksichtigen, wenn auf anderer Grundlage ein Gerichtsverfahren eröffnet wird.70 Somit kann im Rahmen einer Inzidentkontrolle die Vereinbarkeit von Rechtsvorschriften mit Art. 37 GRCh überprüft werden.71 Dabei besteht selbstredend eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolldichte wegen des erheblichen Gestaltungsspielraums des „Gesetzgebers“. Außerdem stellt sich die Frage, welche Anforderungen Art. 37 GRCh über die Regelungen im AEUV hinaus bringt. Erwägenswert erscheint vor allem die Leistungssituation. Dazu ist auf die ChartaErläuterungen zu verweisen, nach denen die gerichtliche Anwendung von Grundsätzen ausgeschlossen ist, wenn sie die Grundlage für „direkte Ansprüche auf Erlass positiver Maßnahmen“ bilden sollen.72 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang vor allem auch Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRCh. Nach dieser Regelung ist die gerichtliche Kontrolle nur zugelassen, soweit es um die Auslegung und Rechtmäßigkeit von Durchführungsakten geht. Ferner wird zu Recht hervorgehoben, dass darunter nicht nur Akte fallen, die den Zweck des betreffenden Grundsatzes fördern sollen, vielmehr genügt es, wenn der Akt

67 Dazu jüngst: Carsten Nowak, Europarecht und Europäisierung in den Jahren 2009 – 2011 (Teil 2), DVBl 2012, 861 (868 f.). 68 Dazu Martin Gellermann, Europäisierter Rechtsschutz im Umweltrecht, in: Festschrift für Hans-Werner Rengeling, 2003, S. 233 ff. 69 Jarass (Fn. 46), Art. 7 Rn. 11. 70 Dazu Jarass (Fn. 5), S. 564. 71 Jarass (Fn. 5), S. 564. 72 Erläuterungen (Fn. 17), S. 35.

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den Schutzbereich des betreffenden Grundsatzes wesentlich betrifft, mag auch das Ziel des Grundsatzes beeinträchtigt, statt gefördert werden.73 Im Bereich des Sekundärrechts sind die Klagerechte im Bereich des Umweltschutzes weit fortgeschritten.74 2. Bezugnahmen von Generalanwälten a) Verstärkte Bedeutung des Umweltschutzes Art. 37 GRCh ist von Generalanwälten in ihren Schlussanträgen herangezogen worden. Generalanwalt Léger hat darauf hingewiesen, dass nach Art. 37 GRCh den im Umweltrecht geltenden Grundsätzen verstärkte Bedeutung zukommen könne; dazu wird auf die in Nizza proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union verwiesen.75 b) Andeutungen subjektiv-rechtlicher Gehalte Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer hat ausgeführt, dass der Umweltschutz gegenwärtig einen überragenden Platz innerhalb der Gemeinschaftspolitiken einnehme und darüber hinaus auch die Mitgliedstaaten in diesem Bereich verpflichtet seien; wörtlich heißt es: „Die Bürger haben ein Recht darauf, dass die Umwelt geschützt wird, wie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkennt, indem sie in Artikel 37 ein hohes Schutzniveau und die Verbesserung der Qualität garantiert.“76 Zu Recht ist hervorgehoben worden, dass aus den Ausführungen wohl nicht auf ein subjektives Grundrecht in Art. 37 GRCh geschlossen werden könne.77 Allerdings unterbreitet der Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in einem späteren Schlussantrag unter der Überschrift „Recht auf eine angemessene Umwelt …“78 folgende Ausführungen: „Die persönliche Dimension dieser Anliegen [Umweltschutz in den Verfassungen von Mitgliedstaaten] findet in der Europäischen Union implizit Berücksichtigung, deren Charta der Grundrechte vom 7. Dezember 2000 nach der Erklärung in ihrer Präambel, dass sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität gründet, im Kapitel über die Solidarität neben den Sozialrechten eine Be73

Jarass (Fn. 5), S. 564 m.w.N. in Fn. 22. Dazu Gellermann (Fn. 68), S. 233 ff. 75 Schlussanträge des Generalanwalts Léger vom 23. 9. 2004, Rs. C-277/02, EU-WoodTrading/Sonderabfall-Management, Rn. 9. 76 Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 8. 1. 2004, Rs. C-87/02, Kommission/Italienische Republik, Rn. 36. 77 Dazu Riedel (Fn. 3), Art. 37 Rn. 13. 78 Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 26. 5. 2005, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, vor Rn. 66 ff. 74

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stimmung einführt, wonach die Politiken der Union ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität einbeziehen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sicherstellen (Artikel 37).“79 c) Bedeutung bei der Auslegung von Begriffen des Sekundärrechts Generalanwalt Cruz Villalón hebt in seinen Schlussanträgen vom 17. 2. 2011 hervor, dass der EGMR und die Verfassungsgerichte und die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten die Bürger, die in der Umgebung von Flughäfen wohnen, schützen. Dieser Umstand werde durch die Art. 7 und 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union noch verstärkt. Daher gehe es bei der Auslegung des Begriffs „Betriebsbeschränkung“ nicht einfach um die Auslegung eines Begriffs des abgeleiteten Rechts, sondern um eine Operation voller Schwierigkeiten, mit der man sich auf ein besonders heikles Terrain begebe.80 Generalanwältin Kokott weist darauf hin, dass Beschränkungen des Eigentums im Prinzip durch das Allgemeininteresse an einem hohen Niveau des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt werden, das nach Art. 191 AEUV und Art. 37 der Charta der Grundrechte ein Ziel der Union ist.81 Ferner berücksichtigt Generalanwältin Kokott, dass bei der Auslegung z. B. der Regelung einer Richtlinie das übergreifende Ziel europäischer Umweltpolitik, nämlich ein hohes Schutzniveau (Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 191 Abs. 3 AEUV) zu berücksichtigen ist.82 3. Beispiel aus der Rechtsprechung des EuGH In seinem Urteil vom 21. 12. 2011 führt der EuGH mit Blick darauf, dass zwingende Erfordernisse des Umweltschutz nationale Maßnahmen rechtfertigen können, die möglicherweise den innergemeinschaftlichen Handel behindern, aus: „Der Gesundheitsschutz und der Umweltschutz sind wesentliche Ziele der Union. So heißt es in Art. 2 EG, dass es insbesondere Aufgabe der Gemeinschaft ist, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität zu fördern; nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. p EG umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft einen Beitrag zur Erreichung eines ,hohen Gesundheitsschutzniveaus‘. Außerdem müssen nach Art. 6 EG und 79 Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 26. 5. 2005, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Rn. 69. 80 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 17. 2. 2011, Rs. C-120/10, European Air Transport/Collège d’Environnement de la Région Bruxelles-Capitale, Rn. 3. 81 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 19. 4. 2012, Rs. C-416/10, Krizan/Slovenskáinspekcia, Rn. 185. 82 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 10. 11. 2011, Rs. C-567/10, Inter-Environnement Bruxelles/Gouvernement de la Région des Bruxelles-Capitale, Rn. 20.

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Art. 152 Abs. 1 EG die Erfordernisse des Schutzes der Umwelt und der Gesundheit der Bevölkerung bei der Festlegung und Durchführung der Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen berücksichtigt werden … Der Querschnittscharakter und die grundlegende Bedeutung dieser Ziele werden im Übrigen in den Art. 37 und 35 der Charta bekräftigt.“83 IX. Resümee und Ausblick Insgesamt hat sich der Umweltschutz innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bzw. in der Europäischen Union zu einem „überragenden Allgemeininteresse“84 entwickelt. Ein eigenständiges Grundrecht auf Umweltschutz existiert bislang im Unionsrecht nicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Grundrechte der Europäischen Union für den Umweltschutz irrelevant sind.85 Grundrechte der Union können den Umweltschutz befördern, aber auch begrenzen. In neuerer Zeit werden insbesondere Klagerechte entwickelt86 und es wird ein prozedurales Grundrecht auf Umweltschutz empfohlen, etwa mit folgender Formulierung: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt sowie deren Erhaltung und Schutz. Dieses wird durch Rechte auf Information, Beteiligung im Verwaltungsverfahren und effektiven Zugang zum Gericht gewährleistet.“87 Zu Recht wird im Ausblick angenommen, dass von Art. 37 GRCh eine „positive Signalwirkung zur Stärkung des Umweltschutzes“ ausgehen kann.88

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EuGH, Urteil vom 21. 12. 2011, Rs. C-28/09, Kommission/Österreich, Rn. 120 ff. Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 45 ff. 85 Szczekalla (Fn. 12), § 12 Rn. 32 ff. 86 Vgl. Nowak (Fn. 31), § 60 Rn. 47 f. 87 Calliess (Fn. 4), Rn. 13. 88 Rest (Fn. 13), Art. 37 Rn 24.

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Weshalb wir soziale Grundrechte brauchen Von Florian Schärdel I. Einleitung Soziale Grundrechte? Eine alte Forderung neu aufgewärmt? In der Tat ist die Idee der sozialen Grundrechte nicht neu. Es gibt jedoch gute Gründe, die alte Idee erneut zu durchdenken: So sieht sich der Staat nicht erst in jüngster Zeit mit vielen Aufgaben und Ansprüchen seiner Bürgerinnen und Bürger konfrontiert. Er muss insbesondere deren Sicherheit und Wohlstand gewährleisten, will er sich nicht langfristig selbst in Frage stellen.1 Die Finanzmarkt- und Schuldenkrise der Jahre seit 2008 haben vor Augen geführt, dass der erworbene Wohlstand und die sozialen Sicherheiten gefährdeter sind, als dies viele zuvor angenommen hatten. Die Verschuldungskrise ist eine Bedrohung für das Versprechen des Staates, für den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Auch die insbesondere in Deutschland in den vergangenen Jahren deutliche Auseinanderentwicklung innerhalb der Gesellschaft kann eine Bedrohung darstellen. Nicht nur die Einkommensentwicklung, auch die Vermögensverteilung hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland deutlich auseinander entwickelt. Insbesondere in den Großstädten drohen Teile der Gesellschaft von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den gesellschaftlichen Debatten abgehängt zu werden und sind zum Teil langfristig auf Transferleistungen angewiesen. Die Debatte um die Zukunft der Renten hat aufgezeigt, dass dieses Phänomen in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich weitere Gesellschaftsschichten erreichen wird. Als eine der zentralen Maßnahmen im Kampf gegen die Verschuldungskrise wurde im Zuge der Föderalismusreform II im Jahr 2009 durch eine Änderung des Grundgesetzes die sog. Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3 S. 1, 115 Abs. 2 S. 1 GG) in das Grundgesetz eingeführt.2 Damit soll der weitere Anstieg der Staatsverschuldung verhindert oder zumindest abgebremst werden. Durch die Einführung der Schuldenbremse werden bei gleichzeitig steigendem Bedarf an sozialen Leistungen sowohl der Bund als auch die Länder dazu gezwungen sein, die staatlichen Leistungen zu begrenzen. Es bedarf keiner besonderen Phantasie um sich vorzustellen, dass auch die Kürzung bzw. die dauerhafte Nichtanpassung der Sozialleistungen bei den Anstrengungen zur Einhaltung der Schuldenbremse in den 1

Siehe Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, § 1 Rn. 44. BGBl. I 2009, S. 2248; zum Verlauf des Gesetzgebungsprozesses vgl. Christofer Lenz/ Ernst Burgbacher, Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz, NJW 2009, 2561 (2561). 2

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Fokus der Haushaltspolitikerinnen und -politiker geraten wird. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht notwendig ist, die Bürgerinnen und Bürger durch soziale Grundrechte vor einem faktischen Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe zu bewahren. II. Soziale Grundrechte 1. Soziale Grundrechte in den deutschen Verfassungen Die Konstruktion sozialer Grundrechte mag nach über 60jähriger Geltung des Grundgesetzes bereits merkwürdig anmuten, sie ist aber in der deutschen Verfassungsgeschichte durchaus nicht ohne Tradition. So kannte die Weimarer Reichsverfassung (WRV) soziale Grundrechte. Diese betrafen sehr unterschiedliche Bereiche und stellten etwa Ehe, Familie und Mutterschaft unter den besonderen Schutz des Staates, Art. 119 WRV, und sicherten der Jugend ein Recht auf Bildung (Art. 143 Abs. 1 WRV). Die meisten sozialen Grundrechte finden sich aber im Abschnitt über das Wirtschaftsleben. Nach Art. 151 WRV musste die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. Nach Art. 155 WRV überwachte der Staat die Verteilung und Nutzung des Bodens, um Missbrauch zu verhüten und dem Ziel zuzustreben, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung zu sichern. Art. 157 WRV stellte die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des Reiches und versprach die Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts. Art. 161 WRV kündigte ein umfassendes Sozialversicherungswesen an. Was damals nicht nur in Deutschland modern, fast schon seiner Zeit voraus,3 war, findet sich seit 1945 in fast allen Grund- und Menschenrechtskatalogen, so etwa auch in der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechten der Vereinten Nationen4 sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union5.6 Dabei ist allerdings zu beachten, dass die so3 So Eberhard Eichenhofer, Soziale Grundrechte – verlässliche Grundrechte?, in: ders. (Hg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 1999, S. 207 (214). 4 Siehe etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrecht der VN: Art. 16 Abs. 3 (Schutz der Familie), Art. 22 (Recht auf soziale Sicherheit), Art. 23 Abs. 1 (Recht auf Arbeit und Schutz vor Arbeitslosigkeit), Art. 23 Abs. 3 (Recht gerechte, existenzsichernde Entlohnung), Art. 24 (Recht auf Erholung und Urlaub), Art. 25 (Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl gewährleistet), Art. 26 (Recht auf Bildung), Art. 27 (Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben). 5 Siehe dort u. a. Art. 14 (Recht auf Bildung), Art. 24 (Recht des Kindes auf Schutz und Fürsorge), Art. 25 (Recht älterer Menschen auf würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben), Art. 27 (Recht behinderter Menschen auf Eingliederung und Teilnahme), Art. 27 (Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Anhörung und Unterrichtung), Art. 29 (Recht auf Zugang zu kostenfreier Arbeitsvermittlung), Art. 30 (Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung), Art. 31 (Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen), Art. 34 (Recht auf soziale Sicherheit und Unterstützung), Art. 35 (Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und ärztlicher Versorgung). 6 Zu den früheren Ansätzen zu sozialen Grundrechten in der Paulskirchenverfassung von 1848 und den Länderverfassungen im Deutschen Reich vgl. Klaus Lange, Soziale Grund-

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zialen Grundrechte der WRV keine unmittelbaren Ansprüche des Einzelnen begründeten, sondern vielmehr als Aufträge der Verfassung an den einfachen Gesetzgeber verstanden wurden.7 Die Umsetzung dieser Gesetzgebungsaufträge gelang in der Weimarer Republik nur partiell. Immerhin im Bereich des Jugendschutzes sowie im Bereich des Sozialversicherungswesens, v. a. der Arbeitslosenversicherung von 1927 wurden die Erwartungen der Verfassung allerdings erfüllt. Insbesondere die Kodifikationsaufträge der WRV etwa für das Arbeitsrecht (Art. 157 WRV) wurden hingegen nicht umgesetzt – übrigens ebenso wenig wie die Erneuerung des Kodifikationsauftrags in Art. 30 des Einigungsvertrags.8 Die WRV war zwar die erste, blieb aber nicht die einzige deutsche Verfassung mit sozialen Grundrechten. Auch zahlreiche Landesverfassungen, darunter die Verfassungen aller neuen Bundesländer9, enthalten soziale Grundrechte. Wenig überraschend kannten auch die Verfassungen der DDR von 1949 und 1974 soziale Grundrechte.10 2. Soziale Grundrechte im Grundgesetz Die Bundesrepublik Deutschland setzte die Tradition der Weimarer Reichsverfassung 1949 nicht fort.11 In der deutschen Staatsrechtslehre wurden und werden soziale Grundrechte überwiegend entschieden abgelehnt. Kennzeichnend ist etwa der Satz von Ernst Forsthoff: „Eine Verfassung kann nicht Sozialgesetz sein“12. Die Entscheidung, die Tradition der Weimarer Verfassung nicht fortzusetzen, wird im Übrigen auch mit dem zunächst provisorischen Charakter des Grundgesetzes13 und der fi-

rechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm (Hg.), Soziale Grundrechte, 1981, S. 49 (49 f.). 7 Eberhard Eichenhofer, Soziale Grundrechte – verlässliche Grundrechte?, in: ders. (Hg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 1999, S. 207 (214); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: ders./Jekewitz/Ramm (Hg.), Soziale Grundrechte, 1981, 7 (14). 8 Zur Unwirksamkeit der verfassungsrechtlichen Kodifikationsaufträge siehe Florian Schärdel, Die Bücherkodifikation, 2012, S. 110 ff. 9 Kerstin Diercks, Soziale Grundrechte der neuen Landesverfassungen, LKV 1996, 231 (234). 10 Dazu näher Kerstin Diercks, Soziale Grundrechte in der DDR: Bewertung und die verfassungsrechtliche Problematik ihrer Verbürgung im Grundgesetz, 1993. 11 Interessanterweise hielten auch die Vertreter der SPD, namentlich Carlo Schmid, seinerzeit nichts von einer Übernahme der sozialen Grundrechte in das Grundgesetz, vgl. Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 373 f. 12 Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1953), S. 20. Forsthoff bezieht sich insoweit auf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 75 ff.; neu abgedruckt in: Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 ff. 13 Kerstin Diercks, Soziale Grundrechte der neuen Landesverfassungen, LKV 1996, 231 (232).

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nanzpolitisch prekären Lage der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 erklärt14. Auch als nach der Wiedervereinigung die gemeinsame Verfassungskommission erneut die Aufnahme sozialer Grundrechte diskutierte, fand sich keine Mehrheit für eine Ergänzung des Grundgesetzes.15 Eine Ausnahme bildet Art. 6 Abs. 4 GG, der den Schutz der Mutter als soziales Recht garantiert. 3. Hartz IV-Rechtsprechung als Wendepunkt Neben den vorhandenen sozialen Grundrecht in Art. 6 GG und der strukturähnlichen Gewährleistung von amtangemessener Besoldung für Beamte als Bestandteil der „hergebrachten Grundsätze des Berufbeamtentums“ aus Art. 33 Abs. 5 GG hat das BVerfG in der numerus-clausus-Entscheidung16 jedenfalls Elemente eines Rechts auf Bildung und damit ein weiteres klassisches soziales Grundrecht anerkannt. Als Wendepunkt muss gleichwohl das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe und Berechnung der Hartz IV-Sätze17 gesehen werden, das in seiner Struktur jüngst durch das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz18 bestätigt wurde. Nicht erstmals, aber erstmals in dieser Deutlichkeit formulierte das Bundesverfassungsgericht hier das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches es aus der Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ableitete. Dabei geht der Gewährleistungsbereich dieses Grundrechts weiter als es die Formulierung auf den ersten Blick vermuten lassen würde. Der Staat schuldet dem Einzelnen danach mehr als die bloße Existenzsicherung, verstanden als die Leistungen und Mittel zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins. Der grundrechtlich gesicherte Anspruch des Einzelnen geht über Wasser, Brot und ein Dach über dem Kopf hinaus. Erfasst ist nämlich auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.19 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stellt sich daher zugleich auch als ein Grundrecht der sozial-kulturellen Entfaltung dar. Zwar schränkt das Verfassungsgericht mögliche Ansprüche unmittelbar aus dem Grundgesetz ein, da die konkrete Ausgestaltung dem (Haushalts-)Gesetzgeber obliege. Die Verfassung garantiere nur den Anspruch dem Grun-

14 Friedhelm Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, NJW 1999, 1504 (1505). 15 Zur damaligen Diskussion Michael Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 2. (unveränd.) Aufl. 1996, S. 58 ff., 62; Winfried Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, JZ 1994, 213 ff. 16 BVerfG, Urt. v. 18. 07. 1972, 1 BvL 32/70, 1 BvL 25/71. 17 BVerfG, Urt. v. 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09. 18 BVerfG, Urt. vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11. 19 Urt. v. 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rn. 135 zit. nach juris.

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de, nicht aber der Höhe nach.20 Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls mit dem Hartz IV-Urteil ein klassisches soziales Grundrecht geschaffen, das dem Einzelnen einen Leistungsanspruch gewährt, der durch die Individualverfassungsbeschwerde auch justiziabel geworden ist. Zwar hat sich das Verfassungsgericht aus guten Gründen selbst auferlegt, die durch den Gesetzgeber geschaffenen Leistungsansprüche nur zurückhaltend zu kontrollieren. Ein Verstoß soll nur dann festgestellt werden, wenn die gewährten Leistungen evident unzureichend zur Sicherung eines sozialen Existenzminimums sind.21 Schon das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz hat jedoch deutlich gemacht, dass es sich bei den aufgestellten Anforderungen um mehr als schöne Worte handelte. Denn die bis dato Asylbewerbern gewährten Leistungen erklärte das Bundesverfassungsgericht kurzerhand als evident unzureichend.22 Und auch für die (grundrechtskonforme) Auslegung des einfachen Rechts spielt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine nicht unerhebliche Rolle. Alleine für den Zeitraum 2010 bis 2013 finden sich bei einer juris-Recherche über 120 instanzgerichtliche Urteile, die auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Bezug nehmen. Dies zeigt, welche erhebliche Auswirkung die ausdrückliche Anerkennung dieses zentralen sozialen Grundrechts durch das Bundesverfassungsgericht hatte. III. Reformbedarf Die Vorteile einer sozialen Ausgestaltung der Gesellschaft sind wohl weitgehend anerkannt. Sie beantworten jedoch nicht die Frage, weshalb es einer grundrechtlichen Absicherung bestimmter sozialer Standards bedarf. So konnte in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit angenommen werden, dass die politischen Grenzen der Kürzung von Sozialleistungen früher erreicht werden, als die verfassungsrechtlichen.23 Diese Diagnose kann nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-IV und dem Asylbewerberleistungsgesetz so nicht mehr gelten. Die Bundesrepublik hat sich selbst durch die grundgesetzliche Schuldenbremse und den europäischen Fiskalpakt Grenzen hinsichtlich der Neuverschuldung gesetzt. Dies bedeutet zugleich, dass die Mittel zur Finanzierung sozialer Mindeststandards nicht durch die Aufnahme von Krediten erlangt werden können, sondern entweder andere Staatsausgaben beschränkt oder die Einnahmen erhöht werden müssen. Beide Wege dürfen als steinig gelten. Eine grundrechtliche Absicherung der sozialen Grundrechte, die durch den Einzelnen einklagbar ist, stärkt die Position im politischen „Verteilungskampf“ erheblich. Dies kann, das haben auch die Urteile zu den Hartz-IV-Sätzen und 20

juris. 21

BVerfG, Urt. v. 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rn. 138 zit. nach

BVerfG, Urt. v. 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rn. 141 zit. nach juris; BVerfG, Urt. vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Rn. 104 zit. nach juris. 22 BVerfG, Urt. vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Rn. 107 zit. nach juris. 23 So die eingängige Formulierung bei von Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, S. 330.

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dem Asylbewerberleistungsgesetz gezeigt, insbesondere für gesellschaftliche Gruppen relevant sein, die in den politischen Arenen über wenig Einfluss verfügen. Alleine durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist aber der Reformbedarf noch nicht entfallen. Es gibt vielmehr noch zahlreiche Argumente für eine Ergänzung des Verfassungstexts durch den verfassungsändernden Gesetzgeber. 1. Rechtsklarheit Wie bereits zuvor erwähnt, hat das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen bereits Grundrechte mit sozialem Gehalt anerkannt. Die Verfassungswirklichkeit ist daher bereits weiter als der Verfassungstext es nahelegt. Es wäre daher nicht zuletzt im Sinne der Rechtsklarheit, die durch die Rechtsprechung entwickelten und in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft anerkannten sozialen Grundrechte auf Bildung24 und auf ein menschenwürdiges Existenzminimum textlich zu fassen und im Grundgesetz zu kodifizieren.25 Denn wie bei anderen Grundrechten, für die der Verfassungstext nur wenig oder keine Anknüpfungspunkte bietet, verschafft das Fehlen eines kodifizierten Grundrechts vor allem dem Bundesverfassungsgericht mehr Möglichkeiten. Es verfügt über eine weite Interpretationsherrschaft; es droht vom Hüter der Verfassung zum Herrn über die Verfassung zu werden.26 Schließlich ist die Schöpfung von Grundrechten, so berechtigt das Anliegen auch sein mag, Aufgabe des Verfassungsgebers. Grundrechte aus der Feder des Bundesverfassungsgerichts sind hingegen demokratisch defizitär.27 2. Anerkennung der freiheitssichernden und legitimierenden Funktion Das wichtigste Argument für die Einführung sozialer Grundrechte ist die mit ihnen verbundene freiheitssichernde und legitimierende Funktion sozialer Grundrechte. Soziale Grundrechte wurden vor allem zu Zeiten der Blockkonfrontation im Kalten Krieg als ein Gegensatz zu den liberalen Grundrechten konstruiert. Damit wird aber eine wesentliche Funktion sozialer Grundrechte verkannt, nämlich die Funktion der Freiheitssicherung.28 Denn gerade auch die Erfolgsgeschichte des (west-)deutschen Sozialstaats der Nachkriegszeit hat gezeigt, dass soziale Standards und soziale Sicherungsversprechen vielfach Voraussetzung für die tatsächliche Inan24

BVerfGE 33, 303 (331 ff.); BVerfGE 43, 34 (44 ff.), BVerfGE 43 (291 (313 ff.) stRspr. So auch Thilo Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Böckenförde/ Jekewitz/Ramm (Hg.), Soziale Grundrechte, 1981, S. 17 (19). 26 Siehe so am Beispiel des nicht kodifizierten Grundrechts auf Datenschutz Michael Kloepfer/Florian Schärdel, Grundrechte für die Informationsgesellschaft, JZ 2009, 453 (458). 27 Michael Kloepfer/Florian Schärdel, Grundrechte für die Informationsgesellschaft, JZ 2009, 453 (458). 28 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: ders./ Jekewitz/Ramm (Hg.), Soziale Grundrechte, 1981, 7 (9). 25

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spruchnahme der liberalen Freiheiten und der aktiven Teilnahme am demokratischen Prozess sind. Dieser Gedanke ist es auch, der das Bundesverfassungsgericht bewogen haben dürfte, den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum über die Sicherung der bloßen Existenz hinaus auszuweiten und die Sicherung der Existenz in einem gesellschaftlichen und sozialen Gefüge, als Anspruch auf Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in den Gewährleistungsgehalt einzuschließen. Die Proteste und teilweise auch Unruhen in Spanien und Griechenland können hier ein mahnendes Beispiel dafür sein, welche gesellschaftlichen Spannungen drohen, wenn der Glaube an ein soziales Sicherungsversprechen des Staates verloren ist. 3. Gegengewicht zur Schuldenbremse Schließlich spricht die Einführung der Schuldenbremse dafür, nun das Grundgesetz auch um soziale Grundrechte zu ergänzen. Das Grundgesetz kannte bereits vor der Föderalismusreform II Verschuldungsgrenzen. Danach durften Kredite in der Höhe der Investitionen getätigt werden, vgl. Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG a.F. Diese durften jedoch überschritten werden, soweit eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dargelegt werden konnte.29 Diese Begrenzung hatte sich jedoch in der Staatspraxis als wenig wirksam erwiesen.30 Daher wurden die Regelungen zur Schuldenbegrenzung im Jahr 2009 grundlegend überarbeitet. Nunmehr enthalten die Art. 109 Abs. 3 S. 1 und für den Bundeshaushalt Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzliche Verbote, die Haushalte mit Krediten auszugleichen. Auch von der neuen Schuldenbremse bestehen allerdings drei Ausnahmen, die mit unterschiedlichen Voraussetzungen abgesichert sind. Während dem Bund nach Art. 109 Abs. 3 S. 4, 115 Abs. 2 S. 2 GG auch weiterhin eine Verschuldung bis zu 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts gestattet ist, ist den Ländern eine strukturelle Verschuldung grundsätzlich verwehrt.31 Diese Begrenzung darf nach Art. 109 Abs. 3 S. 2 Hs. 1, 115 Abs. 2 S. 3, 5 GG aus konjunkturellen Gründen überschritten werden. Damit wird in Zeiten eines konjunkturellen Abschwungs eine höhere Verschuldung ermöglicht, um so eine antizyklische Konjunkturpolitik zu ermöglichen. Allerdings muss diese 29 Vgl. dazu die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 79, 311 (344 ff.); zusammenfassend Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, § 26 Rn. 307 f. 30 Kai von Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, S. 255 f. 31 Diese Schlechterstellung der Länder wird zum Teil als verfassungswidriges Verfassungsrecht eingestuft, so etwa Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, § 26 Rn. 208 f.; Bardo Fassbender, Eigenstaatlichkeit und Verschuldungsfähigkeit der Länder – Verfassungsrechtliche Grenzen der Einführung einer „Schuldenbremse” für die Länder, NVwZ 2009, 737 (740); Hans-Peter Schneider, Schuldenregelungen des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder – Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen, Juli 2008, Kommissionsdrucksache 134; a.A. Christopher Lenz/Ernst Burgbacher, Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz, NJW 2009, 2561 (2565 f.); Iris Kemmler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, DÖV 2009, 549 (555 f.); Josef Christ, Neue Schuldenregel für den Gesamtstaat: Instrument zur mittelfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen, NVwZ 2009, 1333 (1338).

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Kreditaufnahme im folgenden Aufschwung wieder ausgeglichen werden.32 Zudem besteht die Möglichkeit, im Falle von Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen (gedacht war dabei etwa an die Finanzmarktkrise 2008) zusätzliche Kredite aufzunehmen, Art. 109 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 GG. Hierfür bedarf es neben einem entsprechenden Gesetz zusätzlich eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, mit der die Sondersituation festgestellt wird, Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG. Zudem muss ein Tilgungsplan aufgestellt werden und damit die Rückführung in einem angemessenen Zeitraum gewährleistet werden, Art. 115 Abs. 2 S. 7, 8 GG. Wie bereits erwähnt, beschränkt die Schuldenbremse die Möglichkeit der Länder und des Bundes, Engpässe in der Finanzierung sozialer Standards, seien es Leistungsansprüche Einzelner oder auch staatlicher Einrichtungen wie Schulen und Universitäten, durch die Aufnahme von Krediten zu lösen. Es bleiben daher nur drei Lösungsmöglichkeiten: die Kürzung sonstiger Ausgaben, die Erhöhung der Einnahmen oder eben der Abbau sozialer Standards. Politisch dürfte die letze Variante, zumindest sofern es sich um gesellschaftliche Minderheiten handelt, häufig der Weg des geringsten Widerstands sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn er wie etwa im Falle des Asylbewerberleistungsgesetzes geräuschlos durch bloßes Nichtstun erreicht wird. Hier ergab sich die verfassungswidrige Höhe (oder besser Niedrigkeit) des Leistungssatzes vor allem aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber 19 Jahre lang auf die Anpassung an das durch die Inflation gestiegene Preisniveau verzichtet hatte. Soziale Grundrechte haben hier das Potential, den Gesetzgeber anzuhalten, in der schwierigen Wahl zwischen den drei beschriebenen Varianten einen mittleren Weg zu wählen. IV. Ausblick Ob der Verfassungsgeber die Anstöße des Verfassungsgerichts aufgreifen wird und den Grundrechtskatalog um soziale Grundrechte erweitern wird, ist zweifelhaft. Im Bereich der Grundrechte ist der Verfassungsgeber wesentlich weniger änderungsfreudig als in anderen Bereichen der Verfassung. Möglicherweise bietet jedoch eine neu aufflackernde Grundrechtskonkurrenz zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht einen Anstoß. Schließlich verfügt der Europäische Gerichtshof hier über einen breiten Katalog sozialer Grundrechte. Es würde nicht verwundern, wenn das Bundesverfassungsgericht dies durch eine Ausdifferenzierung seiner bisherigen Rechtsprechung im Bereich der sozialen Grundrechte ausgleichen würde. Ich habe es stets als eine der besonderen Qualitäten des Rechtswissenschaftlers Michael Kloepfer begriffen, dass er Recht als etwas Wandelbares begriffen hat. Nicht nur die Auslegung bestehender Gesetze interessiert ihn, sondern auch die Formulierung neuer Gesetze unter Beachtung der Erkenntnisse der Gesetzgebungswis32 Josef Christ, Neue Schuldenregel für den Gesamtstaat: Instrument zur mittelfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen, NVwZ 2009, 1333 (1334); Christofer Lenz/Ernst Burgbacher, Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz, NJW 2009, 2561 (2563).

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senschaft. Sollte es eines Tages zu einer Kodifikation sozialer Grundrechte kommen, stünde die Gesetzgebungswissenschaft hier vor einer interessanten Aufgabe. Denn ob die klassische Formulierung, wie sie bei den meisten Freiheitsrechten üblich ist (… hat das Recht auf…), für soziale Grundrechte passend ist, bedarf jedenfalls noch einiger Diskussionen. Denn dies spiegelte nicht das hier differenzierte Zusammenspiel von grundrechtlicher Sicherung des Anspruchs dem Grunde nach und einfachgesetzlicher Ausformung der Ansprüche der Höhe nach wieder. Auch zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes ist die Diskussion um soziale Grundrechte nicht verstummt. Die rechtswissenschaftlichen und politischen Diskussionen versprechen also spannend zu bleiben.

Rechtsfortbildung und Höchstgericht Von Theodor Schilling I. Einleitung In einem Verfassungsstaat kann geltendes Recht außerhalb der Verfassung selbst grundsätzlich nur dasjenige sein, das der Verfassung gemäß zustande kam. Im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes setzt das voraus, daß alles Unterverfassungsrecht zum einen inhaltlich dem Grundgesetz entspricht, zum anderen auf eine Ermächtigung in der Verfassung zurückgeht. Geltendes Recht ist damit alles und nur das, was in einem Ableitungszusammenhang zur Verfassung steht; dabei ist dieser Zusammenhang sowohl inhaltlich wie formell zu begreifen. Das ist im Grundsatz unbestritten. Geltendes Recht ist damit zunächst alles, was im sozusagen normalen, im parlamentarischen oder administrativen Rechtsetzungsverfahren gesetzt wird. Nun wenden aber die Gerichte wie in jeder Rechtsordnung so auch in Deutschland zahlreiche Rechtssätze an, die nicht in einem solchen Verfahren gesetzt wurden1. Fragt man vor der ersten gerichtlichen Anwendung eines solchen Satzes nach seinem Status, so handelt es sich nur um eine etwa in der Literatur geborene Idee. Wird der Satz dann erstmals gerichtlich angewandt, so handelt es sich um einen Fall der Rechtsfortbildung. Materiell handelt es sich dabei um Rechtssetzung2: Genauso wenig, wie grundsätzlich vor dem Inkrafttreten eines neuen Gesetzes gesagt werden 1 Gängige Beispiele für richterliche Rechtsfortbildung sind die culpa in contrahendo und die positive Forderungsverletzung, die beide in der Literatur entwickelt, dann Richterrecht und später Gewohnheitsrecht geworden sind, lange bevor sie schließlich im Wege der parlamentarischen Gesetzgebung Eingang in das BGB gefunden haben. Weitere Beispiele etwa bei Horst Konzen, Gesetzentwurf und Revisionsurteil, in: Dieter Wilke (Hg.), Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (1984), 349, 350 f. 2 Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979), 96: „Rechtsnormen in Geltung … setzen … kann nur die Rechts-Autorität wie der Gesetzgeber, der Richter“. Nach Christoph Schönberger, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), 296, 306, geraten „[d]ie Höchstgerichte unvermeidlich in eine gewisse Nähe zur Gesetzgebung“. Hingegen hält Marion Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), 257, 262, die Sicht, daß „Rechtsprechung einen Rechtsetzungsanteil“ habe, für unzureichend. Vgl. aber Ronald Dworkin, The Model of Rules I, in: ders., Taking Rights Seriously (1977), 14, 40: „The origin … as legal principles lies not in a particular decision of some legislature or court, but in a sense of appropriateness developed in the profession and the public over time“; der Gegenmeinung hält er entgegen, die gerichtliche Übernahmeentscheidung wäre sonst für den ihr zugrunde liegenden Fall rückwirkende Gesetzgebung: ibid., S. 44.

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kann, sein Inhalt sei bereits geltendes Recht3, kann gesagt werden, der in einem rechtsfortbildenden gerichtlichen Urteil erstmals angewandte Rechtssatz sei bereits zuvor geltendes Recht gewesen. Vielmehr wendet das Gericht Nichtrecht an; stellt man darauf ab, daß dieses Nichtrecht eben durch die Entscheidung zu geltendem Recht wird, liegt eine rückwirkende Anwendung vor4. II. Rechtfertigungen von Richterrecht Damit stellt sich die Frage, wie und in welchem Umfang sich rechtfertigen läßt, daß die Gerichte in Abweichung von dem im regulären Rechtsetzungsverfahren gesetzten Recht judizieren. Letztlich ist das die uralte Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Richterspruch5. Hier sollen eine positiv-rechtliche und eine rechtstheoretische Begründung einander gegenübergestellt werden. 1. Die beiden Rechtfertigungen a) Im positiven Recht gibt es in Deutschland6 deutliche Anhaltspunkte für eine gesetzgeberische Betrauung der Gerichte mit der Fortentwicklung der Rechtsordnung. Der Gesetzgeber hat die Lösung noch offener Fragen nicht selten ausdrücklich Wissenschaft und Rechtsprechung7 überlassen8 und die Rechtsfortbildung 3

Das schließt nicht aus, daß im Einzelfall ein noch nicht in Kraft getretenes Gesetz der Rechtsanwendung zugrunde gelegt wird, als wäre es bereits in Kraft getreten; Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen (1974), 94 ff., spricht hier von Voranwendung, die er nur befürwortet, wenn das neue Gesetz ausfertigungsreif ist und sich selbst Rückwirkung beimißt, ibid., 99 f. Noch enger Burkhard Heß, Intertemporales Privatrecht (1998), 493 f., 549. In der Sache handelt es sich auch hier um richterliche Rechtsfortbildung. Inwieweit und ab wann ein künftiges Gesetz der richterlichen Rechtsfortbildung entgegensteht, erörtert umfassend und in kritischer Auseinandersetzung mit Kloepfer Konzen (Fn. 1), 349 ff. 4 So dezidiert Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (1956), 132, der die Frage stellt: „Von wann ab haben Rechtsprinzipien den Charakter positiven Rechts?“ und die „Antwort [gibt]: Sobald und soweit sie durch rechtsbildende Akte der Legislative, der Jurisprudenz oder des Rechtslebens institutionell verkörpert worden sind“ (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Dworkin (Fn. 2), 44. Ebenso für die verwandte Frage, wann Regeln des Gewohnheitsrechts entstehen, Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), 234. 5 Vgl. hierzu z. B. Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I (2011), 323 f.; Konzen (Fn. 1), 349 ff. 6 Die Väter der Verfassung von Südafrika überließen die Frage der Zulässigkeit der Todesstrafe unter der neuen Verfassung der Entscheidung des dortigen Verfassungsgerichts; vgl. The State/Makwanyane u. a., verfügbar unter http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/1995/ 3.html, §§ 20 – 25. 7 Die Formel „Wissenschaft und Rechtsprechung“ verweist auf den in Deutschland traditionell engen Dialog zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung, verschleiert aber, daß nur die Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung befugt ist, während die Wissenschaft nur Anregungen hierzu liefern kann.

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zudem in den Prozeßordnungen ausdrücklich als Aufgabe der Revisionsgerichte und der Großen Senate der Obersten Gerichtshöfe anerkannt9. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß die Rechtsfortbildung zu den Rechtsfindungswegen gehöre, die „in jahrhundertealter gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind“10; sie sei „im modernen Staat geradezu unentbehrlich“11. „Anlaß zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird“12. b) Der rechtstheoretische Ansatz geht von dem für den modernen Rechtsstaat wesentlichen Institut der Rechtskraft aus, das sich aus den Verfassungsgarantien des Eigentumsschutzes und des fairen Verfahrens herleiten läßt13. „Rechtskraft“ soll hier im Sinne der Unanfechtbarkeit einer gerichtlichen Entscheidung verstanden werden, also in dem Sinne, daß gegen diese auch kein außerordentlicher Rechtsbehelf mehr in Betracht kommt, insbesondere keine Verfassungsbeschwerde. Das Institut der Rechtskraft besagt, daß gerichtliche Entscheidungen, die den Einzelfall verbindlich regeln, unabhängig von ihrem Inhalt, also unabhängig davon endgültig werden können, ob sie – nach Auffassung von wem auch immer – „rechtmäßig“14 oder „rechtswidrig“ sind15. Das heißt zugleich, daß die Gerichte verfassungsmäßig ermächtigt sind, die Gesetze und die Verfassung, an die sie formell wie materiell gebunden sind, für den Einzelfall verbindlich auszulegen.

8 Vgl. z. B. Entwurf der Bundesregierung vom 2. 5. 1973 für das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts, BT-Drs. 7/551 S. 36 f., zit. etwa in BGH, GSSt 1/07 vom 17. 1. 2008, verfügbar unter http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/3/07/gsst-1 – 07.php, Rz. 23. 9 Dazu sehr kritisch Christian Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 2008, 745; gegen Hillgruber überzeugend Regina Ogorek, Science Fiction, myops 7/2009, 59. 10 BVerfGE 75, 223; st. Rspr., bestätigt etwa in BVerfG, 2 BvR 2661/06 vom 6. 7. 2010, Abs.-Nrn. 62 ff. Weitere Nachweise bei Daniel Ulber, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung im Zivilrecht, EuGRZ 2012, 365, ins. 366 Fn. 9. 11 BVerfGE 69, 188, 203. 12 BVerfGE 126, 286, 306. 13 Zugleich ermöglicht die Rechtskraft die Funktion des positiven Rechts als Friedensordnung; vgl. z. B. Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechts, ZöR VII (1927/28), 221 – 250, abgedruckt in: Die Wiener rechstheoretische Schule (Neudruck 2010), 201, 218. 14 Zu den Schwierigkeiten, eine „rechtmäßige“ Entscheidung zu finden und ihre Rechtmäßigkeit zu begründen, vgl. etwa Peter Wysk, Das Gesetz und seine Richter: Mund des Gesetzes? Rechtsbeistand des Gesetzgebers? Oder …?, in: M. Kloepfer (Hg.), Gesetzgebung als wissenschaftliche Herausforderung. Gedächtnisschrift für Thilo Brandner (2011), 142 – 151. 15 Ebenso Adolf Julius Merkl, Justizirrtum und Rechtswahrheit, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 45 (1925), 452 – 465, zit. nach idem, Gesammelte Schriften, Bd. I Teilbd. I (1993), 369, 375.

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2. Der Umfang der Rechtfertigung a) Der Umfang der Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ergibt sich beim positiv-rechtlichen Ansatz daraus, daß die Begründung dieser Befugnis auf eine Betrauung durch den Gesetzgeber rekurriert16. Die Rechtsfortbildung muß sich daher innerhalb der sonstigen Entscheidungen des Gesetzgebers halten17. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, daß der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setze18. „Ein Richterspruch setzt sich über die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzesbindung hinweg, wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen eindeutig erkennen lassen, daß es sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen“19. b) Auch beim rechtstheoretischen Ansatz geht die Literatur überwiegend von einer Bindung der Gerichte an das Gesetz aus, selbst soweit sie „die Möglichkeit, die von den Gerichten zu erzeugenden individuellen Normen durch im Wege der Gesetzgebung … erzeugte generelle Normen vorauszubestimmen, erheblich eingeschränkt“ sieht20. So wird gesagt, „diese Tatsache rechtfertig[e] nicht die … Anschauung, daß es vor der gerichtlichen Entscheidung überhaupt kein Recht gebe …“21. Es stellte einen Mißbrauch des Richteramtes dar, wenn die Gerichte sich einer fairen Auslegung des Gesetzes verweigerten, auch wenn dagegen häufig kein 16 „Das BVerfG sieht die Ausübung der Befugnis zur Rechtsfortbildung im Ausgangspunkt als Gebrauch einer einfachrechtlich vermittelten Befugnis der Gerichte an“: Ulber (Fn. 10), 368, mit weiteren Nachweisen. 17 Vgl. z. B. Kloepfer (Fn. 5), 324 (Rz. 138). 18 Vgl. BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGK 8, 10, 14; BVerfG, 2 BvR 2216/06 vom 26. 9. 2011, Abs.-Nr. 45; etwas anders BVerfG, 1BvR 918/10 vom 25. 1. 2011, Abs.-Nr. 53: „Der Aufgabe und Befugnis zur ,schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung’ sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt …. Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen …. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein ….“. Zu den Grenzen der Rechtsfortbildung vgl. auch BGH, GSSt 1/07 vom 17. 1. 2008, Rz. 30. – Zu den Vorstellungen der Lehre von den Voraussetzungen der Rechtsfortbildung vgl. Peter Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck (1993), 7 ff. 19 Vgl. BVerfGE 87, 273, 280. Kritisch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Schönberger (Fn. 2), 325 ff. 20 So Kelsen (Fn. 4), 274. 21 Kelsen, ibid. Sehr ähnlich Schönberger (Fn. 2), 301 f.

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verfassungsmäßiger Rechtsbehelf gegeben sei22. Die bestmögliche Entscheidung sei die, die der besten Rechtsauffassung entspreche, auch wenn materiell „rechtswidrige“ Entscheidungen gleichwohl verfassungsmäßig seien23. Auffallend ist dabei, daß nach diesen Auffassungen die angenommene Pflicht der Gerichte zur Beachtung der Gesetze (hier: der Grenzen der Rechtsfortbildung) nicht sanktioniert ist. Es ist deshalb zweifelhaft, ob es sich dabei um eine Rechtspflicht oder um eine moralische Pflicht handelt24. Handelt es sich um eine moralische Pflicht, so kann sie zum einen nur den einzelnen Richter treffen, nicht den Spruchkörper als solchen. Zum anderen ist sie dann Ausdruck der individuellen Autonomie und einer objektiven Erkenntnis nicht zugänglich25. Zweifelhaft ist aber schon, ob es sich dabei überhaupt um eine Pflicht handelt, ob nicht vielmehr die Gerichte von der Verfassung generell ermächtigt sind, nach dem Gesetz oder auch gegen das Gesetz zu entscheiden26. Stellt sich die Problemlage so dar, so drängt sich eine noch radikalere Infragestellung auf. Die zitierten Literaturstellen setzen sämtlich die Möglichkeit voraus, den Inhalt eines Gesetzes außerhalb eines Gerichtsverfahrens nicht nur zu erkennen – diese Möglichkeit sei unbestritten –, sondern ihn verbindlich zu erkennen27. Diese verbindliche Erkenntnis des Gesetzesinhalts aber ist im Rechtsstaat von der Verfassung den Gerichten vorbehalten. Die verfassungsmäßige Aufgabe der Gerichte, den Einzelfall verbindlich zu regeln, setzt die Anwendung und damit die zumindest

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Neil MacCormick, Institutions of Law (2007), 179. Merkl (Fn. 15), 375. 24 Für letzteres – bei Grenzorganen – Alfred Verdross, Völkerrecht (2. Aufl. 1950), 25 und Fn. 1. Vgl. auch Ogorek (Fn. 9), 63: „in jedem Fall kommt es auf die Wertewelt des anwendenden Richters an, wie sein Urteil ausfällt, und auf seine Argumente in der Urteilsbegründung, ob es überzeugt.“ Das trifft sich mit der Ansicht von Winfried Hassemer, Erscheinungsformen des modernen Rechts (2007), 144 ff., die Entscheidungsmacht des Bundesverfassungsgerichts lasse sich nur (richter-)soziologisch einhegen. 25 Vgl. z. B. MacCormick (Fn. 22), 249 ff.; str. 26 So Kelsen (Fn. 4), 273; Merkl (Fn. 15), 377 f. Ähnlich Günther Teubner, Das Recht vor seinem Gesetz, Ancilla Iuris (anci.ch) 2012: 176, 186: „Wer vor dem Gesetz steht, ist zur Entscheidungsfreiheit verurteilt.“ Gleichwohl: „diese Normsetzungsautonomie … bleibt an das Gesetz gebunden“ (ibid., 188). 27 Das ist eine naheliegende Annahme. Ihr folgen z. B. Ronald Dworkin, A Bigger Victory Than We Knew, The New York Review of Books 59 (August 16, 2012), 6, Sp. 1, wenn er schreibt: „The surprise lay not just in the fact that one of the conservatives voted for the legally correct result, …“, Heribert Prantl, Karlsruhe fällt eine Katastrophen-Entscheidung, Süddeutsche.de vom 7. 8. 2012, 20:13, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehreinsaetze-im-inland-karlsruhe-faellt-katastrophen-entscheidung-1.1443401, wenn er schreibt: „Sie [sc.: das Bundesverfassungsgericht] haben die Verfassung nicht interpretiert, sie haben sie geändert“, und Gregor Kirchhof, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, DVBl. 2011, 1068, 1073 f., in seiner Skizze zur FrancovichEntscheidung des EuGH. Die Annahme entspricht dem Selbstverständnis jedenfalls der deutschen Rechtswissenschaft; vgl. nur Albers (Fn. 2), 263, mit weiteren Nachweisen in Fn. 29. 23

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im Einzelfall verbindliche Auslegung28 der als einschlägig erachteten Normen voraus. Den Bemühungen der Rechtswissenschaft hingegen, den Inhalt des Rechts zu erkennen, fehlt diese Verbindlichkeit, da sie in der Verfassung eben nicht vorgesehen ist29. Ihre Erkenntnisse bleiben als solche immer persönliche Auffassung des jeweiligen Verfassers30. Entscheidet ein Gericht abweichend von einer solchen Auffassung, selbst wenn es die herrschende oder gar die einhellige ist, so läßt sich regelmäßig in Ermangelung eines verbindlichen Maßstabs nicht sagen, daß das Gericht sich normwidrig verhalte, sich einer fairen Auslegung des Gesetzes verweigere oder entgegen der besten Rechtsauffassung entscheide31. Sagen läßt sich nur, daß das Gericht – für den Einzelfall verbindlich – anders entschieden habe, als es der Auffassung der Lehre oder von Teilen der Lehre entsprochen hätte32. Mit der doppelten Verbindlichkeit der gerichtlichen Entscheidung und der Auslegung für den Einzelfall, so läßt sich sagen, ist eine materielle Gesetz- und damit Verfassungswidrigkeit jedenfalls rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen grundsätzlich begrifflich ausgeschlossen33. Im Ergebnis trifft sich das mit der Annahme einer der objektiven Erkenntnis nicht zugänglichen, (nur) moralischen Pflicht der Richter zur Beachtung des Gesetzes. Nochmals anders gewendet: Die richterliche Unabhängigkeit34 muß auch gegenüber den Erkenntnissen der Rechtswissenschaft gelten35.

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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird „weithin … als generell-abstrakte Verfassungsinterpretation akzeptiert“: Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht (2011), 159, 162. 29 Vgl. nochmals Fn. 2. Die Rede von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297) verdeckt diesen wesentlichen Unterschied. Vgl. auch Lepsius (Fn. 28), 162. 30 Auch Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a. (Fn. 28), 281, 366, unterscheidet „zwischen amtlicher Entscheidung und letztlich privater wissenschaftlicher Meinungsbildung“. Ähnlich Ulber (Fn. 10), 372, zur Frage der allgemeinen Akzeptanz einer Rechtsfortbildung im Schrifttum. Vgl. aber Dworkin (Fn. 2), 40. 31 Auf die zu BVerfGE 125, 175, 222 ff. gestellte Frage von Lepsius (Fn. 28), 233: „Wie soll solch eine Rechtserkenntnis des Bundesverfassungsgerichts überhaupt noch auf ihre Verfassungsbindung überprüft werden können?“ ist also ganz generell zu antworten, daß sie nicht überprüft werden kann. 32 In diesem Sinne auch Christoph Schönberger, Schlußwort, VVDStRL 71 (2012), 360, 363. 33 Vgl. Kelsen (Fn. 4), 274. – Alec Stone Sweet, Response to Gianluigi Palombella, Wojciech Sadurski, and Neil Walker, GLJ 8 (2007), 947, 948, nennt das die „Null-Proposition“. 34 Dazu generell Kloepfer (Fn. 5), 823 f. 35 Jörg Luther, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), 350, 351, sieht in Deutschland „eine besondere interpretatorische Verbindung wischen Rechtsprechung und universitärer ,Jurisprudenz‘“. Zur Symbiose von Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre vgl. Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders. u. a. (Fn. 28), 77, 124 ff.

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3. Eine Erklärung für die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse Das grundlegend andere Ergebnis, zu dem die beiden Begründungsansätze führen – hier Bindung aller Gerichte an die materiellen Grenzen der Rechtsfortbildung als letztlich durch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde sanktionierte Rechtspflicht, dort Zweifel daran, ob eine Rechtspflicht oder überhaupt eine Pflicht der Gerichte zur Beachtung der Gesetze besteht oder ob es der Rechtswissenschaft überhaupt möglich ist, Aussagen über die Gesetzestreue der Gerichte zu machen –, läßt sich aus unterschiedlichen stillschweigenden Grundannahmen der beiden Ansätze erklären. Der positiv-rechtliche Ansatz nimmt eine alle Gerichte – das Bundesverfassungsgericht spricht von „dem“ Richter, also jedem Richter, wohl einschließlich seiner selbst – bindende materielle Regel über die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung an36. Er berücksichtigt dabei nicht, daß für Grenzorgane aus formellen Gründen zusätzliche Erwägungen erforderlich sind37. Umgekehrt geht der rechtstheoretische Ansatz davon aus, daß alle Gerichte rechtskraftfähige Entscheidungen treffen können. Er vernachlässigt dabei, daß die meisten Gerichte keine Grenzorgane sind, sondern daß sie in vielen Fällen der Kontrolle von Obergerichten und daß in Deutschland alle Fachgerichte letztlich der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen. Unterscheidet man hingegen zwischen Grenzorganen und anderen Gerichten38, so entfällt der Widerspruch zwischen den beiden Ergebnissen. Das Grenzorgan wird definiert als ein Organ, dem zwar ein bestimmtes Verhalten aufgetragen, dem jedoch für den Fall eines normwidrigen Verhaltens keine Unrechtsfolge (einschließlich der Aufhebung der Entscheidung) angedroht ist39. Der entscheidende Teil dieser Definition ist, daß dem Grenzorgan für sein Verhalten keine Unrechtsfolge angedoht ist40. Das gilt nicht nur für normwidriges, sondern 36

Vgl. Fn. 18. Auf dieser Ebene ist für eine Differenzierung zwischen verschiedenen Höchstgerichten – etwa Bundesverfassungsgericht und US Supreme Court – kein Raum. Von der „Einzigartigkeit und Originalität des Bundesverfassungsgerichts“ (so in etwas anderem Zusammenhang Lepsius [Fn. 28], 237) kann hier keine Rede sein. 38 Christoph Möllers, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012) 337, 338, unterscheidet zwischen Verfassungsgerichten und Höchstgerichten. Schönberger (Fn. 2), 302 f. will hingegen zwischen Instanzgerichten und den obersten Gerichtshöfen des Bundes unterscheiden, sieht aber (S. 315 und insbesondere in seinem Schlußwort, S. 360) eine Sonderrolle für das Bundesverfassungsgericht. 39 Verdross (Fn. 24), 24 ff. 40 Kann es ein solches Grenzorgan geben? Oder sind, wie Möllers (Fn. 30), 290, meint, „Fälle denkbar, in denen das Handeln des Bundesverfassungsgerichts von anderen Gerichten beurteilt werden könnte, etwa wenn Richtern eines Verfassungsgerichts vorgeworfen werden könnte, bewußt Normen falsch ausgelegt und sich dadurch strafrechtlich oder zivilrechtlich verantwortlich gemacht zu haben“? Zum einen beträfe eine solche Beurteilung durch andere Gerichte direkt nur die Richter des Bundesverfassungsgerichts, nicht das Gericht und damit das Grenzorgan selbst. Zum anderen hat das „andere Gericht“ jedenfalls im deutschen Gerichtssystem keine Möglichkeit, festzustellen, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts 37

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selbstverständlich auch für normgemäßes Verhalten. Die Frage, ob die Rechtswissenschaft Aussagen über die Gesetzestreue des Grenzorgans machen kann, wird damit irrelevant. Was auch immer das Grenzorgan tut, und wie auch immer dieses Tun von wem auch immer qualifiziert wird: fest steht, daß dieses Verhalten keine Unrechtsfolgen auslöst41. Das Grenzorgan ist das „letzte Organ“; als solches hat es notwendig das letzte Wort42. Grenzorgane sind in den meisten modernen Staaten jedenfalls für Regelungsgegenstände, die Rechtspositionen von Einzelnen betreffen, das Höchstgericht, gegebenenfalls auch mehrere Höchstgerichte. Diese Position der Höchstgerichte ergibt sich aus zwei verwandten Instituten, die jedenfalls den meisten modernen rechtsstaatlichen Ordnungen bekannt sind: dem bereits angesprochenen Institut der Rechtskraft, aus dem auch folgt, daß auch die anderen Gewalten, namentlich die Legislative, rechtskräftige Urteile respektieren müssen43, und der in den meisten Verfassungen direkt garantierten Unabhängigkeit der Gerichte, die es verbietet, den Richter im Einzelfall zur Einholung einer authentischen Auslegung des Gesetzgebers (oder einer beliebigen anderen nicht-unabhängigen Stelle) zu verpflichten oder auch nur zu ermächtigen. Bedenkt man, daß in Deutschland das Bundesverfassungsgericht das einzige Grenzorgan ist, so müssen die beiden erörterten Ansätze jedenfalls für Deutschland modifiziert werden. Es ergibt sich dann, daß die Grenze der Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung für alle anderen (Fach-)Gerichte die vom Bundesverfassungsgericht kontrollierte Grenze ihrer Rechtsmacht bezeichnet. Entscheidungen, die diese Grenze überschreiten, können nur in Rechtskraft erwachsen, wenn das Bundesverfassungsgericht sie billigt oder wenn eine grundsätzlich mögliche Anfechtung unterbleibt oder aus anderen Gründen erfolglos ist. Für das Bundesverfassungsgericht selbst hingegen, und nur für dieses, ist ausschließlich der rechtstheoretische Ansatz einschlägig44. Ihm ist entsprechend der gegebenen Definition

Normen falsch ausgelegt haben, sofern das Bundesverfassungsgericht das nicht selbst sagt. Eine ausdrückliche bewußte Falschauslegung aber führt zu einem anderen Paradigma, dem der Justizrevolution. Vgl. dazu Theodor Schilling, Justizrevolutionen, Der Staat 51 (2012), 525 ff. 41 Das dürfte erklären, warum „es bereits an Begriff und Konzept verfassungsrichterlicher Verfassungsfortbildung [fehlt]“, wie Jestaedt (Fn. 35), 143, bemängelt (Hervorhebung im Original). 42 Kritisch Marion Albers, Schlußwort, VVDStRL 71 (2012), 364, 366. 43 Hierzu rechtsvergleichend Theodor Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen (1994), 239 Anm. 208. – Vgl. auch Wysk (Fn. 14), 141: „Wenn die letztverbindliche Auslegung des Gesetzes heute selbstverständlich den Richtern zugewiesen ist, dann beruht das … auch auf der Einsicht, daß es anders gar nicht geht“; MacCormick (Fn. 22), 179: „Once the law has been made, it is entirely up to the courts to figure out what it means and apply it according to their own reasons and reasoning“. 44 Vgl. Jestaedt (Fn. 35), 82: „die Macht zu verbindlicher Verfassungsinterpretation [schließt] zwangsläufig die Macht ein …, die Grundlagen der eigenen, in der Verfassung niedergelegten Kompetenzen autoritativ … feststellen zu können“.

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des Grenzorgans für beliebiges Verhalten keine Unrechtsfolge angedroht45 ; seine Entscheidungen sind ohne weiteres rechtskräftig. III. Das Beispiel der Radbruch’schen Formel Es ist nun zu zeigen, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeiten eines Grenzorgans nutzt, über die den Fachgerichten gezogene Grenze der Rechtsfortbildung hinauszugehen, also – in der traditionellen Terminologie – gegen das Gesetz zu entscheiden. Daß es das tut, ist weithin anerkannt46. So wird in der Literatur namentlich die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts47 als Justizstaatsstreich48 bezeichnet, mit der dieses, ganz kurz gesagt, das Privatrecht den Grundrechten des Grundgesetzes unterstellt und damit seine Kontrollbefugnisse über zivilrechtliche Entscheidungen erheblich ausgedehnt hat49. Die für diese Charakterisierung der Entscheidung angeführten Argumente sprechen zugleich für eine Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenze der Rechtsfortbildung50. Ich will mich stattdessen mit der Rechtsprechung zur Radbruch’schen Formel befassen. 1. Die Radbruch’sche Formel Ein Jahr nach dem Zusammenbruch des NS-Staats erschien ein Aufsatz Gustav Radbruchs über „gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“51. Darin wird der Widerstreit „zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz und zwischen einem gerechten, aber nicht in Gesetzesform gegossenen Recht … [als] Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst“52 45 Das schließt natürlich nicht aus, daß das Bundesverfassungsgericht tatsächlich verfassungsakzessorisch und gesetzesdeterminiert agiert, wie Andreas Voßkuhle, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz (6. Aufl. 2010), Bd. 3, Art. 93 Rdn. 18, ihm attestiert. 46 Jestaedt (Fn. 35), 144, formuliert, „daß dem Bundesverfassungsgericht gemeinhein eine größere Auslegungsfreiheit … zugestanden wird als den Fachgerichten …“. Möllers (Fn. 30), 406, spricht von dem „sehr eigenständigen Umgang“ des Bundesverfassungsgerichts mit Rechtsbindungen. Kloepfer (Fn. 5), 34, sieht die Möglichkeit eines „stillen Verfassungswandels“. 47 BVerfGE 7, 198. 48 Prantl (Fn. 27), bezeichnet BVerfG, 2PBvU 1/11 vom 3. 7. 2012, als „juristischen Handstreich“. 49 Alex Stone Sweet, The Juridical Coup d’État and the Problem of Authority, GLJ 8 (2007), 915, 919 ff. 50 Vgl. dazu Lepsius (Fn. 28), 186 ff. Ibid., 246: „Auch sprechen wir nicht von einer verfassungsricherlichen Rechtsfortbildung – um die es sich der Sache nach oft handelt.“ 51 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105. 52 Ibid., S. 107.

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beschrieben, der dahin zu lösen sei, „daß das … positive Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Rechts zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. … Wo Gerechtigkeit [aber] nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit … bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wird, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur“53.

2. Die Positivierung der Formel bei der Abwicklung des NS-Staats Die Radbruch’sche Formel tritt als Aussage über geltendes Recht auf. Sie war gleichwohl zunächst – jedenfalls unter dem Aspekt des positiven Rechts – Nichtrecht. Zu positivem Recht wurde sie erst und nur insoweit, als sie von den Gerichten im Wege der Rechtsfortbildung angewandt wurde. Das geschah in zwei historischen Situationen: bei der Abwicklung der Rechtsfolgen des NS-Staats54 und bei der derjenigen der DDR. So heißt es im Zusammenhang der Diskriminierung von Juden im NS-Staat: „Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen, die auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit Bezug haben, deutlich mißachten, schaffen kein materielles Recht und ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibt Unrecht.“55

An anderer Stelle heißt es im Zusammenhang mit Rechtfertigungsgründen für eine Tötung: „Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes oder zu dem Naturrecht tritt … oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“56

Schließlich heißt es im Zusammenhang mit der Frage der Fortgeltung des NSBeamtenrechts: „Zwar mag das hier … vom Nationalsozialismus gesetzte Recht in einem höheren, philosophischen Sinne ,Unrecht‘ darstellen. Aber es würde eine in hohem Grade unrealistische 53

Ibid. Ein ähnliches Ergebnis folgert Hans Welzel, Gesetz und Gewissen, in: E. v. Caemmerer/E. Friesenhahn/R. Lange (Hrsg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages 1860 – 1960 (1960), 383, 399, aus dem Widerstreit von Gesetz und Gewissen. 54 Frühe höchstgerichtliche Fälle der Anwendung sind BGHSt 2, 234, 239 f. vom 29. 1. 1952; BGHZ 3, 94, 107 vom 12. 7. 1951; BVerfGE 3, 58, 118 f. vom 17. 12. 1953, denen teilweise entsprechende Instanzentscheidungen vorhergingen. 55 BGHSt 2, 234, 239 f. 56 BGHZ 3, 94, 107.

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Betrachtungsweise sein, diesen Gedanken positiv-rechtlich dahin auszubauen, daß dieses (formale) Recht ex post als nichtig und die dadurch bewirkte Umwandlung des Beamtenverhältnisses als nicht vorhanden betrachtet würde. Ein solche Auffassung würde übersehen, daß es auch eine ,soziologische‘ Geltung von Rechtsvorschriften gibt, die erst dort bedeutungslos wird, wo solche Vorschriften in so evidentem Widerspruch mit den alles formale Recht beherrschenden Prinzipien der Gerechtigkeit treten, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht spräche.“57

Diese Rechtsprechung hat also beide Teile der Radbruch’schen Formel positiviert. Dabei zeigt sich ein Grundproblem der Radbruch’schen Formel: Sie gibt sich als Aussage über das jeweils aktuelle Recht, reagiert aber, wie Radbruchs Aufsatz deutlich macht, auf ein intertemporales Problem. Sie stellt einen „Kunstgriff“ dar, der „die intertemporale Rechtsanwendung [vereinfachte], indem die Rückwirkungsproblematik ausgeklammert wurde“58. Das Problem war nicht die auch seinerzeit nur noch historisch interessante Frage, ob der Radbruch’schen Formel widersprechendes Recht vor der Kapitulation des NS-Staats „Recht“ in irgendeinem Sinne war59 ; das Problem war vielmehr, wie die nachkriegsdeutschen Gerichte und dann die Gerichte der jungen Bundesrepublik mit den Folgen der NS-Rechtslage umgehen sollten60. Das wird noch am ehesten in der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erkannt, wenn dort von der „soziologischen“ Geltung von Rechtsvorschriften (ihrer Wirksamkeit?) die Rede ist, die offenbar auch evident ungerechtem Recht zukommt, dort aber „bedeutungslos“ wird. Das kann nur bedeuten, daß die Gerichte der neuen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland61, um nicht „Unrecht zu sprechen“, einst soziologisch geltendes (wirksames?) Recht, dessen Geltung „bedeutungslos“ war, außer Betracht lassen müssen. Es ist zu bezweifeln, daß sich diese Rechtsfortbildung im Rahmen der später vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Grenzen62 hielt. Jedenfalls die unverhüllte Berufung auf Naturrecht63, insbesondere die „Gerechtigkeit“, ist schwerlich mit dem Verbot vereinbar, „daß der Richter seine eigene materielle Gerechtig57

BVerfG 3, 58, 118 f. So Heß (Fn. 3), 255. 59 Das war nach der Grundnorm des NS-Staates zu bejahen; vgl. Horst Dreier, Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: H. Mayer (Hg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis. Festschrift Robert Walter zum 60. Geburtstag (1991), 117, 132 f. 60 Gustav Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 131, 136, erklärte die Rückwirkung für unzulässig, doch könnten (Straf-)Gesetze rückwirkend erlassen werden, „wenn sie eigentlich nicht mehr zurückwirken, weil dem Rechtsinhalt dieser Gesetze entsprechendes, übergesetzliches Recht schon zur Tatzeit galt“. 61 Heß (Fn. 3), 256, hält den Rückgriff auf Naturrecht „für psychologisch verständlich. … Man knüpfte an den überkommenen Rechtszustand an und betrachtete die NS-Zeit als ,juristischen Unfall‘“. 62 Vgl. Fn. 18 und Text daselbst. 63 Vgl. etwa Heß (Fn. 3), 255. 58

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keitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt“64, auch wenn man unter „Gesetzgeber“ in diesem Sinne offensichtlich den demokratischen Gesetzgeber des Grundgesetzes verstehen muß. Dessen Vorstellungen werden durch den „Kunstgriff“ gerade ausgeschaltet, und es bleibt daher unerörtert, warum das Rückwirkungsverbot des Art. 123 Abs. 2 GG anders als Art. 7 Abs. 2 der (Europäischen) Menschenrechtskonvention vom 4. 11. 195065 und trotz der Urteile des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals, die bei Kriegsverbrechen die rückwirkende Bestrafung zuließen, keine Sondervorschrift für NS-Verbrechen enthält66. Da diese frühen Entscheidungen gleichwohl weiterhin zustimmend in der Rechtsprechung zitiert werden67, ist davon auszugehen, daß die Radbruch’sche Formel in dem dort angenommenen Umfang Eingang in das geltende deutsche Recht gefunden hat. 3. Die Fortentwicklung der Formel bei der Abwicklung der DDR a) Von dieser Ausgangsbasis aus haben Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht im Anschluß an die deutsche Einigung im Wege der weiteren Rechtsfortbildung68 die Abwicklung der Folgen des DDR-Rechts in Angriff genommen. Dabei sind beide Gerichte – erneut – über die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen hinausgegangen. Der Bundesgerichtshof hat dabei berücksichtigt, daß „die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl bleibt die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist“69.

Um diese Grenze zu bestimmen, hat er sich wesentlich auf den auch von der DDR ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte70 (IP) berufen, dessen Art. 12 Abs. 2 die Ausreisefreiheit gewährleistet. Es ist kaum zu bestreiten, daß das DDR-Grenzregime gegen Art. 12 Abs. 2 IP verstieß. Darüber hinaus sah der Bundesgerichtshof in dem Grenzregime, namentlich in dem sog. 64

Vgl. BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGK 8, 10, 14; BVerfG, 2 BvR 2216/06 vom 26. 9. 2011, Abs.-Nr. 45. 65 ETS Nr. 5. 66 Demgegenüber hat der Parlamentarische Rat auf die NS-Gewalt- und Willkürherrschaft mit den Bestimmungen zur wehrhaften „Demokratie, der Verwirkung von Grundrechten oder auch der Ewigkeitsgarantie expliziert reagiert“: Lepsius (Fn. 28), 254. 67 Insbesondere BGHSt 2, 234 in BVerfG 95, 96 (Mauerschützen) und BGHSt 39, 1 (Mauerschützen). 68 BVerfGE 95, 96, 135: „Der Bundesgerichtshof hat seine Rechtsprechung … fortentwickelt“. 69 BGHSt 39, 1, 16. 70 Vom 19. 12. 1966, UNTS Bd. 999, S. 171.

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Schießbefehl, einen Verstoß gegen Art. 6 IP – Recht auf Leben – in der Form der „willkürlichen Tötung“; die Grenze zur Willkür sei überschritten, wenn der Schußwaffengebrauch an der Grenze dem Zweck diene, Dritte vom unerlaubten Grenzübertritt abzuschrecken71. Mit der Verletzung dieser beiden Artikel, so ist der Bundesgerichtshof zu verstehen, habe die DDR jene äußerste Grenze überschritten, die dem Staat nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt sei72. Hierauf gesützte Rechtfertigungsgründe seien daher außer Acht zu lassen73. b) In dieser Rechtsprechung, die das Bundesverfassungsgericht billigt74, liegt eine Rechtsfortbildung gegenüber der Rechtsprechung zum NS-Unrecht, da, wie der Bundesgerichtshof richtig festgestellt hat, zum einen im Tatsächlichen „die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann“ und zum anderen der einst naturrechtliche Maßstab des unerträglichen Widerspruchs zwischen positivem Gesetz und Gerechtigkeit durch die konkreten positiven Maßstäbe des Internationalen Paktes ersetzt wird75. Damit werden die Voraussetzungen für ein Außerachtlassen von positivem Recht gegenüber der Rechtsprechung zu den NS-Verbechen deutlich gesenkt. Es ist schwer zu sehen, inwiefern das – sicherlich paktwidrige und menschenunwürdige – Grenzregime der DDR in einem „unerträglichen“ Widerspruch zur Gerechtigkeit gestanden haben soll. Dem Ausreiseverbot als solchem kommt unter den Konventionsrechten kein Höchstwert zu76. Die Durchsetzung dieses Verbots vermittels des Schießbefehls ist sicherlich unverhältnismäßig, rechtfertigt aber noch nicht die Annahme eines unerträglichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit77. Schließlich wußte jeder „Republikflüchtling“, was ihm drohte, was auch den Vorwurf der „willkürlichen“ Tötung zweifelhaft erscheinen läßt.

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BGHSt 39, 1, 21. Vgl. auch die Zusammenfassung in BVerfG 95, 96, 135. 73 Die Aussage, deutsche Richter dürften sich nicht „mit Hilfe der internationalen Menschenrechte von der Bindung an (deutsches) Recht und Gesetz lösen“, die Armin Höland, Wirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im deutschen Recht (2011), 136, auf BVerfGE 87, 273, 280; 96, 152, 170 stützt, trifft also in dieser allgemeinen Form nicht zu. 74 BVerfG 95, 96, 135. 75 Zur „objektiven Wertordnng“ der Grundrechte wirft Lepsius (Fn. 28), 197, die Frage auf, ob die Formel „eine spezifisch antinationalsozialistische Stoßrichtung hat und daher auf Gegenwartsprobleme nicht mehr bruchlos anwendbar ist“. Vgl. auch BVerfGE 124, 300, 327 f. – Wunsiedel. 76 Solche Höchstwerte verkörpern die Verbote der Tötung, der Folter und der Sklaverei sowie das Recht auf Freiheit; vgl. Theodor Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz (2. Aufl. 2010), Rdn. 183, 195, mit weiteren Nachweisen. 77 Vgl. auch die Hinweise in BGHSt 39, 1, 21 und BVerfGE 95, 96, 136: „Zwar trifft es zu, daß die gesetzlichen Vorschriften der DDR, soweit sie den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze regelten, den Vorschriften der Bundesrepublik über die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wortlaut entsprachen.“ 72

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Mit dieser Rechtsfortbildung setzten Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht ihre eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des demokratischen (Verfassungs-)Gesetzgebers. Art. 4 des Einigungsvertrags78 ändert das Grundgesetz in mehreren Punkten ab; Art. 103 Abs. 2 GG gehört nicht dazu. Vielmehr sieht der Vertrag ausdrücklich vor79, daß auf die vor dem Beitritt der DDR auf ihrem Gebiet begangenen Straftaten das Recht der DDR Anwendung findet, sofern es milder als das bundesdeutsche Recht war. Danach war ein Rechtfertigungsgrund des DDR-Rechts zu beachten. Dem Gesetzgeber des Einigungsvertragsgesetzes war bekannt, daß Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts gegen vorgeordnete Rechtsgrundsätze verstoßen könnten. Wenn er – mit verfassungsändernder Mehrheit – gleichwohl keinen Anlaß sah, für die Taten der „Mauerschützen“ eine Durchbrechung des Art. 103 Abs. 2 GG vorzusehen – gerüchteweise verlautete, damit habe vermieden werden sollen, das DDR-System zu „singularisieren“ –, so konnten die Gerichte diese Rechtfertigungsgründe nicht unbeachtet lassen, ohne ihre Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen und damit die vom Bundesverfassungsgericht der Rechtsfortbildung gezogenen Grenzen zu überschreiten. Genau das aber hat der Bundesgerichtshof, vom Bundesverfassungsgericht gebilligt, dadurch getan, daß er Art. 103 Abs. 2 GG dahin auslegt, es sei nicht auf das im Tatzeitpunkt am Tatort tatsächlich angewandte DDR-Recht, sondern auf das „richtig interpretierte Gesetz“ abzustellen; „[d]ie Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund angewandt wird, ist nicht schutzwürdig“80. Das Bundesverfassungsgericht sekundiert, die Regelung des Einigungsvertrags könne „zu einem Konflikt zwischen den unverzichtbaren rechtsstaatlichen Geboten des Grundgesetzes und dem absoluten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG führen“81. c) Die Rechtsautorität hat entschieden und damit gezeigt, daß die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Grenzen der Rechtsfortbildung für das Bundesverfassungsgericht als Grenzorgan (und die Fachgerichte, die in seinem Sinne entscheiden) nicht gelten. Wer die Entscheidung billigt, weil sie es erleichtere, mit der Hinterlassenschaft von Unrechtsregimen fertig zu werden82 – für den Rechtswissenschaftler kann das nur zulässiger Ausdruck seiner persönlichen Auffassung sein, nicht angemaßte verbindliche Aussage über geltendes Recht –, sollte sehen, was er damit in Kauf nimmt: die Indolenz eines Gesetzgebers, der sich aus politischen Gründen nicht zutraut, das vermutlich auch von ihm als erforderlich Erachtete in Gesetzesform zu gießen, und die Mißachtung der Gesetze eines solchen Gesetzge78

BGBl. II 1990, S. 885. Anh. I Kap. III Sachgebiet C Abschn. II Nr. 1 b. 80 BGHSt 39, 1, 29, mit weiteren Nachweisen. Dagegen etwa Jörg Polakiewicz, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte der stafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177, 188. 81 BVerfG 95, 96, 133. 82 So Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 890, 891. 79

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bers durch die Richterschaft. Beides ist der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer Weise abträglich, die durch den Zugewinn an Einzelfallgerechtigkeit, den die Radbruch’sche Formel in ihrem zweiten Teil zudem nur bei Untätigkeit des Gesetzgebers verspricht, in keiner Weise aufgewogen wird. IV. Schluß Die Rechtsfortbildungskompetenz des Grenzorgans Bundesverfassungsgericht ist nach alledem – im Rahmen der Verfassung – weitestgehend unbeschränkt83 ; der positiv-rechtliche Ansatz läßt sich zur Beschränkung der Rechtsfortbildung durch das Bundesverfassungsgericht nicht nutzbar machen und der rechtstheoretische Ansatz gibt dem Grenzorgan seiner Natur nach weitestgehend freie Hand84. Nur eine Grenze kann auch das Grenzorgan rein rechtlich nicht überschreiten, solange es sich in diesem Rahmen hält: Es kann seine Entscheidung nicht ausdrücklich oder sonst zweifelsfrei auf eine Norm stützen, die nicht in der Verfassung ermächtigt ist, unter der es errichtet wurde, ohne eine Justizrevolution auszulösen. Das ist jedoch eine eigene Frage, die einer eigenen Untersuchung bedarf85. Diesseits jener äußersten Grenze gibt es viele gute Gründe für das Bundesverfassungsgericht, verfassungsakzessorisch – und das muß hier heißen: in überzeugender Auseinandersetzung mit der herrschenden Meinung – zu entscheiden: moralische, soziologische wie die juristische Sozialisation seiner Mitglieder86, Klugheitsgründe wie die Bedachtnahme auf seine Reputation und Legitimität87; im engen Sinne rechtliche Gründe kann es hierfür nicht geben.

83 Hillgruber (Fn. 9), 745, irrt also, wenn er sagt: „Doch erlaubte selbst eine erwiesene Unmöglichkeit effektiver Gesetzesbindung nicht, von ihr Abstand zu nehmen. Denn wenn es sie tatsächlich nicht gäbe, müßte man ihre Möglichkeit unter der Geltung des Grundgesetzes normativ unterstellen, denn das Grundgesetz postuliert nun einmal die bindende Kraft des Rechts … und ,unterwirft‘ den Richter dem Gesetz“. Das Grundgesetz stellt aber zugleich das Bundesverfassungsgericht als Grenzorgan von der Gesetzesbindung frei. 84 Wenn Jestaedt (Fn. 35), 150, formuliert, „Letztentscheidung und Kompetenzüberschreitung [seien] bereits institutionell-funktionell nicht mehr eindeutig zu trennen“, so liegt das neben der Sache; eine Kompetenzüberschreitung des Grenzorgans ist (diesseits der Justizrevolution) begrifflich ausgeschlossen. 85 Vgl. dazu Schilling (Fn. 40). 86 Dazu vgl. etwa Albie Sachs, The Strange Alchemy of Life and Law (2009), 47 ff. 87 Dazu vgl. Christoph Engel, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), 338, 339.

Asymmetrischer Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht im Informationsrecht Von Friedrich Schoch I. „Information“ als individuelle Freiheitsbedingung und staatliches Steuerungsinstrument 1. „Information“ als Gegenstand des Rechts Der Umgang staatlicher Stellen mit „Information“ ist seit jeher – auch – ein Rechtsproblem. Die Sensibilität von Judikatur und Literatur nimmt insoweit zu, allerdings vollzieht sich die Entwicklung des Problembewusstseins, wie zu zeigen sein wird, asymmetrisch. In Bezug auf die Erhebung von Informationen sind Rechtsprechung und Schrifttum seit langer Zeit sensibilisiert, jedenfalls wenn es um personenbezogene Informationen1 geht.2 Die Verwendung von Informationen, insbesondere in Gestalt der öffentlichen Verbreitung (sog. Publikumsinformation3), führt in der juristischen Diskussion demgegenüber eher ein Schattendasein.4 Vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zeigt sich unterschiedlich interessiert: Die Erhebung personenbezogener Informationen durch staatliche (und sonstige öffentliche) Stellen wird im Konfliktfall hinsichtlich der Rechtmäßigkeitskontrolle dem kompletten rechtsstaatlichen Rechtfertigungsprogramm unterworfen;5 die amtliche Publikumsinformation scheint demgegenüber von grundrechtlichen und sonstigen rechtsstaatlichen Bindungen verfassungsgerichtlich weitgehend dispensiert zu sein.6 Dieser Befund verdient eine nähere Analyse (s. u. II.). Bevor rechtlichen Fragestellungen nachgespürt wird, sollte ein Mindestmaß an Klarheit zu einigen Charakteristika des Untersuchungsgegenstands „Information“7 1 Zwischen „Informationen“ und „Daten“ ist zu unterscheiden, Kloepfer, Informationsrecht, 2002, § 1 Rn. 58 f.; ausführlich M. Albers, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Aufl. 2012, § 22 Rn. 7 ff. 2 Grundlegend BVerfGE 65, 1 ff. („Volkszählungsurteil“). 3 Zum Begriff Gramm, Der Staat 30 (1991), 51 ff.; Bumke, Die Verwaltung 37 (2004), 3 ff. 4 Zu der Problematik frühzeitig allerdings Kloepfer, Staatliche Informationen als Lenkungsmittel, 1998. 5 Vgl. dazu Schoch, in: Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 1491 ff. 6 Überblick dazu bei Schoch, NJW 2012, 2844 ff. 7 Es ist nicht mehr umstritten, dass „Information“ (als solche) Gegenstand des Rechts sein kann; vgl. Gurlit, DVBl 2003, 1119.

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herrschen.8 Im Ausgangspunkt ist nicht zweifelhaft, dass „Information“ für Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und jedes Individuum zu einem „Rohstoff“ des Wissens, der Macht, der Produktion und der Veränderung geworden ist.9 Wenn Wissen „Macht“ bedeutet und wenn Wissen auf „Information“ basiert,10 sind aus staatlicher Sicht die Informationsgenerierung und die Informationsverwendung für die Gestaltung des Gemeinwesens von herausragender Bedeutung. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf personenbezogene Informationen. 2. Charakteristika von „Information“ Die Charakteristika von „Information“ lassen sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Das Phänomen „Information“ entzieht sich kurzen, griffigen Beschreibungen. Zu leisten ist vor rechtsnormativem Hintergrund indes die Benennung von Kennzeichen, Gehalten und möglichen Effekten von „Information“. Im Anschluss an frühere Überlegungen11 kann festgehalten werden: - „Information“ ist als „Rohstoff“ in mannigfachen und abschließend nicht beschreibbaren Verwendungszusammenhängen nutzbar.12 - „Information“ kennt keinen Verlust durch Ge- bzw. Verbrauch dergestalt, dass der durch die Informationserhebung Betroffene bzw. der Informierende durch die Übermittlung einer Information diese verlöre. - „Information“ als solche ist im Rechtssinne unverbindlich, sie regelt nichts, sondern kann als Wissenserklärung verstanden werden, der der Empfänger eine Bedeutung zuerkennen mag oder nicht. - „Information“ wirkt als Wissensgenerierung nur indirekt, denn selbst wenn eine Verhaltenslenkung intendiert ist, kann der Effekt ausbleiben,13 er kann aber auch erhebliche Wirkungen verursachen.14

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Zum Begriff „Information“ ausführlich Schoch, IFG, Kommentar, 2009, § 2 Rn. 10 ff.; zusammenfassend Albers, in: GVwR II (Fn. 1), § 22 Rn. 12. 9 Schoch, VVDStRL 57 (1998), 158 (168, 179 ff.). 10 A.-B. Kaiser, Die Kommunikation der Verwaltung, 2009, S. 243 ff.; zur Abschichtung von „Daten“, „Informationen“, „Wissen“, „Kommunikation“ Albers, in: GVwR II (Fn. 1), § 22 Rn. 8 ff., 14 ff., 22 ff. 11 Schoch, AfP 2010, 313 (314 f.). 12 Hierauf reagiert die Rechtsordnung bei der Erhebung personenbezogener Informationen mit dem Gebot der Zweckbindung; vgl. dazu auch unten III. 2. b) und c). 13 Als Musterbeispiel gilt insoweit die Warnung vor den Gesundheitsgefahren des Rauchens; dennoch Eignung, „den Verbraucher zumindest von einem bedenkenlosen Konsum von Tabak abzuhalten“, bejahend BVerfGE 95, 173 (185). 14 BVerwGE 71, 183 (195) attestiert der Veröffentlichung von Arzneimittel-Transparenzlisten eine „Durchschlagskraft, die der Wirkung eines unmittelbaren staatlichen Zwangseingriffs in das Marktgeschehen zulasten einzelner Unternehmer gleichkommt“.

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- „Information“ ist irreversibel, kann also nicht (wie z. B. ein Gesetz oder ein Verwaltungsakt) aufgehoben, sondern allenfalls mit Gegendarstellung, Richtigstellung oder sonstiger Korrektur kontrastiert werden.15 Schon diese knappe Skizze zeigt, dass „Information“ sowohl belanglos als auch besonders wirkungsmächtig sein kann. Die potentielle „Gefährlichkeit“ von Information betrifft sowohl ihre Generierung als auch ihre Verwendung; die behördliche Erhebung personenbezogener Informationen kann dem Staat in gewisser Weise „Herrschaftswissen“ vermitteln, die Publikumsinformation kann das Verhalten von Individuen mit unabsehbaren Folgen z. B. für Unternehmen oder Individuen beeinflussen. 3. Aufgaben der Informationsrechtsordnung Der amtliche Umgang mit personenbezogenen Informationen ist juristisch kein Thema des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; auf dieses Grundrecht kann sich der Staat nicht berufen.16 In grundrechtlicher Perspektive dominiert naturgemäß die Schutzdimension, die die Informationsrechtsordnung17 zu gewährleisten hat.18 Das gilt sowohl für die behördliche Informationsbeschaffung als auch für die staatliche Informationstätigkeit gegenüber der Öffentlichkeit. Dieser Ansatz deutet darauf hin, dass staatliches Informationsverhalten mit der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik domestiziert werden kann. In Bezug auf die Publikumsinformation („Staatskommunikation“) steht dieser Annahme jedoch die These entgegen, die Informationsbeziehungen zwischen dem Staat und dem Individuum seien in der Rechtsordnung asymmetrisch angelegt; sie bedürften keiner eigenen Begründung und Rechtfertigung durch besondere Rechtsnormen.19 Es ist jedoch gerade die Frage, ob die behauptete Asymmetrie verfassungskonform ist. Zur Beantwortung bedarf es zunächst einer Analyse der unterschiedlichen verfassungsgerichtlichen Entscheidungsrationalitäten bezüglich der Informationsgenerierung einerseits und der Publikumsinformation andererseits (II.). Anschließend kann nach der Überzeugungskraft der festzuhaltenden Diskrepanzen gefragt werden (III.).

15 Treffend am Beispiel der „Warnung“ Käß, WiVerw 2002, 197 (208): „Auch eine Rücknahme der Warnung bzw. eine Berichtigung der Warnaussage kann die faktischen Wirkungen der Warnung regelmäßig nicht umfassend beseitigen.“ 16 BVerfG-K, NJW 2011, 511 Tz. 23; OVG NW, MMR 2011, 771 (772). 17 Zum „Informationsrecht“ als einem neuen Rechtsgebiet Wahl, in: Festschrift für WolfRüdiger Schenke, 2011, S. 1305 ff. 18 Dies akzentuierend Albers, in: GVwR II (Fn. 1), § 22 Rn. 35 ff. 19 So Gusy, in: GVwR II (Fn. 1), § 23 Rn. 30 unter Berufung auf BVerfGE 105, 252 (268 ff.) – „Glykol“.

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II. Grundrechtsschutz in der informationsrechtlichen Judikatur des BVerfG 1. Schutzbereichsebene a) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die behördliche Erhebung personenbezogener Informationen20 ist der klassische Anwendungsfall des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG). Nach der bekannten Formel des BVerfG umfasst dieses Recht die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu entscheiden.21 Der Grundrechtsträger befindet darüber, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.22 Das BVerfG akzentuiert den Schutz(bereich) dergestalt, dass dem Grundrechtsinhaber ein Abwehranspruch gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe der auf ihn bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten gewährt wird.23 Ausdrücklich betont das Gericht, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze vor jeder Form der Erhebung personenbezogener Informationen.24 Das Schutzkonzept trägt Gefährdungen und Verletzungen der Persönlichkeit Rechnung, die sich für den Einzelnen aus informationsbezogenen Maßnahmen, insbesondere unter den Bedingungen moderner Datenverarbeitung, ergeben.25 Damit verknüpft ist ein Freiheitsversprechen, das auf die Entscheidungsautonomie des Grundrechtsträgers pocht: Individuelle Selbstbestimmung setze Entscheidungsfreiheit des Einzelnen über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit voraus, sich entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten.26 Folgenreich ist in diesem Konzept die Ausdehnung des Schutzversprechens auf den öffentlichen Raum: Auch wenn die betroffene Information öffentlich zugänglich sei, entfalle der grundrechtliche Schutz nicht; in der Öffentlichkeit schütze das Recht auf informationelle Selbstbestimmung das Interesse des Einzelnen, dass personenbezogene Informationen nicht im Zuge automatisierter Informationserhebung zur Spei-

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Auch in diesem Zusammenhang ist der (eingeführte) Begriff „Daten“ unpassend, Schoch, FS Stern (Fn. 5), S. 1492 f.; dies sieht z. T. auch das BVerfG, vgl. Text zu und Nachw. in Fn. 24, 27, 44. 21 BVerfGE 65, 1 (43); BVerfG-K, NVwZ 1990, 1162; NJW 2002, 2164; E 113, 24 (46); E 115, 166 (188). – Krit. zu diesem Konzept Bull, NJW 2009, 3279 (3282): „Irrweg“. 22 BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (690); NJW 2008, 281; NJW 2009, 3293 Tz. 15. 23 BVerfGE 103, 21 (33); BVerfG-K, NJW 2007, 351 Tz. 65; BVerfGE 128, 1 (42). 24 BVerfGE 67, 100 (143); 115, 166 (190). 25 BVerfGE 120, 351 (360); 120, 378 (397). 26 BVerfGE 115, 320 (341 f.).

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cherung mit der Möglichkeit der Weiterverwertung erfasst würden.27 Dieser z. B. im Vergleich mit dem US-amerikanischen Recht28 extrem weite Grundrechtsschutz bildet die Basis für die Qualifizierung aller möglichen staatlichen Maßnahmen als „Grundrechtseingriff“ (II. 2. a)); dieses Modell hat seinen Preis auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung (II. 3. a)). b) Grundrechtsschutz bei staatlichem Informationshandeln Die Verwendung amtlicher Informationen in Gestalt der Publikumsinformation kann unterschiedliche Grundrechte betreffen. Dies macht eine Analyse der einschlägigen Rechtsprechung der vergangenen etwa zehn Jahre deutlich. So hat das BVerfG gegenüber herabsetzenden Äußerungen der Bundeszentrale für politische Bildung29 in Bezug auf eine bestimmte Person das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG) herangezogen;30 dasselbe geschah bei bestimmten personenbezogenen Aussagen in einem Verfassungsschutzbericht.31 Informationen der Bundesregierung über religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften wurden am Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gemessen;32 das gilt auch hinsichtlich der Schutzerklärungen einer Landesregierung gegen die „Scientology“-Organisation.33 Für die Zulässigkeit der Erwähnung eines Presseverlags im Verfassungsschutzbericht eines Landes ist das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) maßgebend.34 Amtliche Negativäußerungen in Bezug auf einen Verein berühren die Vereinsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG).35 Uneinheitlich ist das Bild zur Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Das BVerfG hat in seiner „Glykol“-Entscheidung gemeint, Art. 12 Abs. 1 GG schütze nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener regierungsamtlicher Informationen am Markt, die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein könnten, selbst wenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirkten.36 Diese Auffassung hat erhebliche Kritik erfahren,37 zumal in 27

BVerfGE 120, 378 (399). Dazu Elixmann, Datenschutz und Suchmaschinen, 2012, S. 180 ff., 183: keine begründete Vertraulichkeitserwartung für alle offen einsehbaren Bereiche. 29 Nichtrechtsfähige Anstalt im Geschäftsbereich des BMI, § 1 Abs. 1 des Erlasses vom 24. 1. 2001, GMBl S. 270. 30 BVerfG-K, NJW 2011, 511 Tz. 21 = ZUM 2010, 957 Tz. 21. 31 BVerwGE 131, 171 Rn. 13 (zu einer Vereinigung von Muslimen). 32 BVerfGE 105, 279 (292 ff.); dazu Cremer, JuS 2003, 747 ff. 33 BVerwG, NJW 2006, 1303. 34 BVerfGE 113, 63 (75); dazu G. Bertram, NJW 2005, 2890 f.; Murswiek, NVwZ 2006, 121 ff.; Wisuschil, ZUM 2006, 294 ff. 35 OVG Bremen, NJW 2010, 3738; OVG NW, NVwZ-RR 2006, 273. 36 BVerfGE 105, 252 (265). 37 Murswiek, NVwZ 2003, 1 ff.; Porsch, ZLR 2003, 175 (179 ff.); Huber, JZ 2003, 290 ff.; Bethge, Jura 2003, 327 ff.; Huber, ZLR 2004, 241 (253 ff.); Hellmann, NVwZ 2005, 163 ff. 28

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diesem Modell der Grundrechtseingriff und seine Rechtfertigung verschmelzen.38 Die Verwaltungsrechtsprechung hält denn auch Art. 12 Abs. 1 GG für anwendbar, wenn negative amtliche Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit den Wettbewerb in seiner Funktionsweise stören und in der Folge den Wettbewerber (Unternehmer) beeinträchtigen.39 2. Grundrechtseingriff a) Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die Qualifizierung einer staatlichen Maßnahme als Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann mittlerweile auf eine gesicherte Rechtsprechung zurückgreifen. Verlangt der Staat vom Einzelnen die Bekanntgabe personenbezogener Informationen, handelt es sich ebenso um einen Grundrechtseingriff wie bei der (automatischen) Verarbeitung derartiger Informationen; generell ist jede staatliche Erhebung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Informationen als Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu qualifizieren.40 Angeknüpft wird ersichtlich an den „Informationskreislauf“.41 Die Erhebung personenbezogener Informationen ist ohnehin stets ein Grundrechtseingriff.42 Am Beispiel der „Rasterfahndung“ hat das BVerfG betont, dass dies auch für die Übermittlung(sanordnung), die (vorläufige) Speicherung und den Daten-/Informationsabgleich gilt.43 In seiner Entscheidung zum GenTG-Standortregister betont das Gericht, Beeinträchtigungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung könnten „insbesondere in der Beschaffung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Informationen liegen“.44 Geklärt ist auch, dass „allein schon in der schlichten Datenübermittlung von einer Stelle an eine andere ein rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff“ liegt.45 Bei öffentlich zugänglichen Quellen soll zwar noch nicht in der Erhebung personenbezogener Informationen ein Grundrechtseingriff zu sehen sein, wohl aber in der 38

Eingeräumt von BVerfGE 105, 252 (273): „Mit der Feststellung der Beeinträchtigung des Schutzbereichs steht in solchen Fällen auch die Rechtswidrigkeit fest“. 39 NdsOVG, NVwZ-RR 2010, 639 (642); OVG NW, NVwZ 2012, 767. 40 BVerfG-K, NVwZ 2005, 681 (682); dazu Bespr. Klatt, NVwZ 2007, 51 ff. 41 In Parallele zu § 3 Abs. 3 bis 5 BDSG geht es um das Erheben (Beschaffen), Verarbeiten (Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren, Löschen) und sonstige Nutzen (Verwenden) personenbezogener Informationen. Es handelt sich bei den Maßnahmen um „getrennte Eingriffe“, die „je eigener Rechtsgrundlage bedürfen“, so Masing, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 467 (477); abl. zu diesem phasenspezifischen Ansatz Albers, in: GVwR II (Fn. 1), § 22 Rn. 73. 42 BVerfG-K, NJW 2009, 3293 Tz. 15 (m. w. N.). 43 BVerfGE 115, 320 (343 f.); zu dieser Entscheidung Brenneisen/Bock, DuD 2006, 685 ff.; Bausback, NJW 2006, 1922 ff.; Kirchberg, CR 2007, 10 ff.; Robrecht, SächsVBl 2007, 80 ff.; Schewe, NVwZ 2007, 174 ff. 44 BVerfGE 128, 1 (45). 45 BVerwG, NJW 2005, 2330 (2331).

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systematischen Erfassung, Sammlung und Verarbeitung, weil aus den gewonnenen Informationen ein zusätzlicher Aussagewert entstehe, aus dem sich die für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung spezifische Gefährdungslage46 für die Freiheitsrechte oder die Privatheit des Betroffenen ergebe.47 In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es, dass z. B. die offene Videoüberwachung im öffentlichen Raum – auf Grund ihrer angeblichen abschreckenden Wirkung und der dadurch verursachten Verhaltenslenkung – als Eingriff48 in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung qualifiziert wird.49 Die jüngere Rechtsprechung verallgemeinert diesen Gedanken, postuliert einen Schutz vor dem „Gefühl des Überwachtwerdens“ und qualifiziert den von einer staatlichen Maßnahme ausgehenden – vermeintlichen – „Einschüchterungseffekt“ als Grundrechtseingriff.50 Offen bleibt, woher die Rechtsprechung ihre Gewissheit zum Effekt der „Einschüchterung“ nimmt und nach welchen Maßstäben insoweit geurteilt wird.51 Eine hohe Eingriffsintensität wird Maßnahmen zugewiesen, die durch „Verdachtslosigkeit“ und eine „große Streubreite“ gekennzeichnet sind;52 auch die „Heimlichkeit“ einer staatlichen Informationsmaßnahme erhöhe das Gewicht des Grundrechtseingriffs.53 b) Staatliche Publikumsinformation als Grundrechtseingriff Bei der staatlichen Publikumsinformation besteht im Ausgangspunkt Übereinstimmung darüber, dass nicht jedes amtliche Informationshandeln als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist. Mustert man die jüngere Rechtsprechung durch, zeigt sich folgende Kasuistik: 46 BVerfGE 120, 378 (397 f.) stellt die „Persönlichkeitsgefährdung“ dem Grundrechtseingriff gleich und spricht insoweit von „Eingriffspotential“. 47 BVerfGE 120, 351 (362). 48 Ausnahme (am Beispiel der automatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung): Daten werden „unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, ausgesondert“; so BVerfGE 120, 378 (399). 49 BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (690); dazu Bespr. Fetzer/Zöller, NVwZ 2007, 775 ff.; ferner (am Beispiel der Geschwindigkeitsmessung durch Videoaufzeichnung) BVerfG-K, NJW 2009, 3293 Tz. 16, m. Bespr. Bull, NJW 2009, 3279 ff. – Allg. zur Videoüberwachung Siegel, VerwArch 102 (2011), 159 ff. 50 BVerfGE 113, 29 (46); 115, 166 (188); BVerfG-K, NJW 2007, 351 Tz. 65 (dazu Saurer, RDV 2007, 100 ff.; Nachbaur, NJW 2007, 335 ff.); BVerfGE 120, 378 (402, 430). 51 Krit. zur These vom „Einschüchterungseffekt“ als Grundrechtseingriff Bull, Informationelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2009, S. 47 und 61 ff.; Gusy, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 395 (411 f.); Enders, in: Festschrift für Würtenberger, 2013, S. 655 (660, 661, 667). 52 BVerfGE 115, 320 (354) – Rasterfahndung; BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (691) – Videoüberwachung. – Krit. zum Argument „Streubreite“ Volkmann, Jura 2007, 132 (134). 53 BVerfGE 120, 378 (402 f.); krit. zum Argument „Heimlichkeit“ Volkmann, JZ 2006, 918 (919 f.).

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- Als Eingriff werden den Grundrechtsträger diffamierende bzw. herabsetzende amtliche Äußerungen gewertet.54 - Schutzerklärungen gegen die „Scientology“-Organisation sind Beeinträchtigungen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, weil sie auf einen Abbruch von Geschäftsbeziehungen mit „Scientologen“ zielen.55 - Der Erwähnung von Grundrechtsträgern in einem Verfassungsschutzbericht wird wegen der „negativen Sanktion“ des Staates die Qualität eines Grundrechtseingriffs beigemessen.56 - Einem amtlichen öffentlichen Aufruf, der bezweckt, bestimmte Aktivitäten eines Vereins und die Verbreitung der von diesem vertretenen Meinungen zu hindern, wird wegen der mittelbar-faktischen Wirkungen Eingriffsqualität attestiert.57 - Amtliche Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit, die durch Beeinflussung des Verhaltens der Marktteilnehmer darauf zielen, die berufliche Betätigung von Unternehmen zu behindern, werden ebenfalls als Grundrechtseingriff qualifiziert.58 Bei der Formulierung allgemeiner Kriterien für die Konturierung des Grundrechtseingriffs durch staatliches Informationshandeln können in der Rechtsprechung drei Auffassungen identifiziert werden. Die ältere Judikatur wertet eine amtliche Publikumsinformation als Grundrechtseingriff, wenn unter Inanspruchnahme staatlicher Autorität beabsichtigt und zielgerichtet oder vorhersehbar und in Kauf genommen schwerwiegende Einbußen grundrechtlich geschützter Freiheit herbeigeführt werden.59 Das BVerfG hat die Figur des „funktionalen Äquivalents“ eingeführt; danach ist der Eingriffsbegriff erfüllt, wenn sich die Informationsmaßnahme nach ihrer Zielsetzung und ihren Wirkungen als Ersatz für eine staatliche Maßnahme darstellt, die als Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne zu qualifizieren ist.60 Die dritte Auffassung gewinnt das Verdikt „Eingriff“ aus dem Wechselspiel der Informationsmaßnahme mit dem Schutzbereich anhand der Freiheitseinbuße und findet sich durch die Rechtsprechung des EuGH repräsentiert; danach ist – am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit – jede staatliche Informationsmaßnahme als „Eingriff“ zu qualifizieren, 54 BVerfGE 105, 279 (298 ff.) zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG; BVerfG-K, NJW 2011, 511 Tz. 22 zu Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG; OVG Bremen, NJW 2010, 3738 zu Art. 9 Abs. 1 GG. 55 BVerwG, NJW 2006, 1303 Tz. 19 ff. zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. 56 BVerfGE 113, 63 (77) zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG; BVerwGE 131, 171 Rn. 15 zu Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG. 57 OVG NW, NVwZ-RR 2006, 273 (274) zu Art. 9 Abs. 1 GG. 58 BayVGH, NVwZ-RR 2003, 121 (122) zu Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG; NdsOVG, NVwZ-RR 2010, 639 (642) zu Art. 12 Abs. 1 GG. 59 BVerwGE 82, 76 (79); 87, 37 (43 f.); BVerwG, NJW 1996, 3161; HessVGH, NVwZ 1995, 611 (612); OVG NW, NJW 1995, 1629 (1630). 60 BVerfGE 105, 252 (273); 105, 279 (303); 113, 63 (76); ebenso BVerwG, NJW 2006, 1303 (1304); BVerwGE 131, 171 Rn. 15; NdsOVG, NVwZ-RR 2010, 639 (640); abl. Albers, in: GVwR II (Fn. 1), § 22 Rn. 73 Fn. 283.

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die geeignet ist, den Handel in der EU unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.61 3. Rechtfertigung des Eingriffs Wird im konkreten Fall ein Grundrechtseingriff bejaht, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung. Hier nun zeigt sich, dass das BVerfG (und ein Teil der Verwaltungsrechtsprechung) mit unterschiedlichen Standards operiert: Beim Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung werden strenge rechtsstaatliche Anforderungen formuliert; beim grundrechtsbeeinträchtigenden staatlichen Informationshandeln sollen dagegen die herkömmlichen verfassungsrechtlichen Sicherungen (insbesondere der Gesetzesvorbehalt, z. T. auch die Kompetenzordnung) keine Anwendung finden. a) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgt bekannten Standards und bedarf daher im vorliegenden Zusammenhang nur einer knappen Skizze. Ausgangspunkt der juristischen Legitimation des Eingriffs ist der Gesetzesvorbehalt. Da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet ist, muss der Einzelne Beschränkungen seines Rechts im Interesse überwiegender Gemeinwohlbelange hinnehmen; Voraussetzung hierfür ist jedoch eine verfassungsmäßige gesetzliche Grundlage.62 Dabei kann das Gesetz selbst als Grundrechtseingriff zu qualifizieren sein oder das Gesetz kann die Verwaltung zum Eingriff ermächtigen. Eine Verwaltungsvorschrift genügt dem Gesetzesvorbehalt nicht.63 Strenge rechtsstaatliche Anforderungen werden verfassungsgerichtlich für die Ausgestaltung des betreffenden Gesetzes formuliert. Es gilt das Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit; die Beschränkungen der informationellen Selbstbestimmung müssen sich aus dem Gesetz klar und für den Bürger deutlich ergeben.64 Der Gesetzgeber muss nach der Judikatur insbesondere den Verwendungszweck der erhobenen Informationen bereichsspezifisch, präzise und für den Betroffenen er-

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EuGHE 1982, 4005 = NJW 1983, 2755 („Buy Irish“); EuGHE 2002, 9977 = NJW 2002, 3609 („CMA-Gütezeichen“); EuGHE 2007, 2749 = EuZW 2007, 480 Tz. 60 (Warnung vor italienischen Produkten), dazu H. Weiß, EuZW 2008, 74 ff. 62 BVerfGE 65, 1 (44); BVerfG-K, NVwZ 1990, 1162; BVerfGE 113, 29 (50); 115, 320 (345). 63 BVerfG-K, NJW 2009, 3293 Tz. 19; krit. Bull, NJW 2009, 3279 (3282): „Verrechtlichungsfalle“. 64 BVerfGE 65, 1 (46); 100, 33 (70); 103, 21 (33 f.); 113, 29 (50 f.), dazu Kutzner, NJW 2005, 2652; E 115, 320 (365); BVerfG-K, NJW 2007, 351 Tz. 69, dazu Saurer, RDV 2007, 100 und Nachbaur, NJW 2007, 335; BVerfG-K, NJW 2009, 1405 Tz. 30; NJW 2010, 2717 Tz. 8; RDV 2010, 276.

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kennbar bestimmen.65 Insoweit wird dem Gebot der Zweckbindung eine „herausgehobene Bedeutung“ zugeschrieben; das gilt vor allem, wenn eine Informationssammlung erlaubt wird, deren Zwecksetzung vom Zweck der Informationserhebung abweicht (Zweckänderung).66 Nur der Vollständigkeit halber sei notiert, dass das Übermaßverbot für jeden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine Grenze markiert. Erlaubt sind nur solche Eingriffe, die einen verfassungslegitimen Zweck verfolgen und zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich sowie verhältnismäßig sind.67 Auch wenn ein Gesetz diesen Anforderungen genügt, kann die darauf basierende Einzelfallmaßnahme gegen das Übermaßverbot verstoßen; dies hat das BVerfG verschiedentlich festgestellt.68 b) Staatliches Informationshandeln Durch die staatliche Publikumsinformation können verschiedene Grundrechte betroffen sein (s. o. II. 1. b). Im Falle des Grundrechtseingriffs (II. 2. b) müsste an sich der jeweils maßgebliche Schrankenvorbehalt Beachtung finden: beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG, bei der Religionsund Weltanschauungsfreiheit – da vorbehaltlos gewährleistet – kollidierende Verfassungsrechtsgüter, bei der Pressefreiheit die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG, bei der Vereinigungsfreiheit – da Art. 9 Abs. 2 GG insoweit irrelevant ist – kollidierende Verfassungsrechtsgüter, bei der Berufsfreiheit der Regelungsvorbehalt gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. In allen Konstellationen muss nach geltendem Verfassungsrecht Grundlage des Eingriffs ein Gesetz sein. Das BVerfG ignoriert den grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt bekanntlich mit der Behauptung, grundrechtsbeeinträchtigendes staatliches Informationshandeln lasse sich gesetzlich sinnvoll nicht regeln.69 Zutreffend ist diese unbegründet gebliebene These, wie die Gesetzgebungspraxis zeigt,70 nicht.71 Die regierungsamtliche Publikumsinformation hat das BVerfG auf die „Aufgabe der Staatsleitung“ ge65

BVerfGE 115, 166 (191), dazu Geis/Geis, K&R 2006, 279; BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (690), dazu Fetzer/Zöller, NVwZ 2007, 775; BVerfGE 120, 378 (407 f.); 128, 1 (47). 66 BVerfGE 118, 168 (187 f.); 120, 351 (366 f.). 67 BVerfGE 115, 166 (190 ff.); BVerfG-K, NJW 2008, 1435 Tz. 21 ff. 68 Z. B. BVerfG-K, NVwZ 2005, 681 (682 f.); BVerfGE 113, 29 (61 f.); 115, 166 (199 ff.). 69 BVerfG-K, NJW 1989, 3269 (3270); BVerfGE 105, 279 (304); akzeptiert – indes ohne Nachprüfung – von EGMR, NVwZ 2010, 177 Tz. 89. 70 Beispiele zur Normierung von Anforderungen an die amtliche Publikumsinformation: § 26 Abs. 2 S. 2 Nr. 9 und § 31 ProdSG; § 39 Abs. 2 S. 2 Nr. 9, § 40 LFGB; § 6 Abs. 1 S. 3 VIG; § 10 UIG; § 34 AMG; § 28 Abs. 4 S. 2 MPG; § 45n Abs. 3 TKG; § 9 StrVG; § 3 und § 4 Abs. 2 Nr. 4 IfSG; § 16 Abs. 2 BVerfSchG (und Parallelbestimmungen im Landesrecht). 71 Klement, DÖV 2005, 507 ff. – Geht es um Gefahrenabwehr, steht für die amtliche Publikumsinformation mit grundrechtsbeeinträchtigender Wirkung die Generalklausel des Polizei- und Ordnungsrechts zur Verfügung; so im „Fall Birkel“ bereits LG Stuttgart, NJW 1989, 2257 (2258).

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stützt;72 später hat das Gericht diesen „Eingriffstitel“ ohne jede Begründung auf eine Verwaltungsbehörde übertragen.73 Ein Großteil der Verwaltungsrechtsprechung folgt diesem Ansatz bereitwillig und verlangt für den behördlichen Grundrechtseingriff durch amtliches Informationshandeln – unabhängig vom betroffenen Grundrecht und vom geltenden Schrankenvorbehalt – lediglich eine Aufgabenzuweisungsnorm74 sowie die Beachtung des Sachlichkeitsgebots und des Übermaßverbots.75 Juristisch haltbar ist diese Judikatur nicht. Richtig ist vielmehr diejenige Rechtsprechung, die für staatliches Informationshandeln, das als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist, zur Rechtfertigung eine gesetzliche Ermächtigung fordert.76 Dies wird vereinzelt auch vom BVerfG anerkannt.77 Dass dabei die zuständige Behörde zu agieren hat,78 sollte ebenfalls eine Selbstverständlichkeit sein; die Ignorierung der Art. 83 ff. GG79 bei der amtlichen Publikumsinformation ist durch nichts gerechtfertigt. III. Asymmetrien im Grundrechtsschutz 1. Divergierende Standards Der vorstehende „Binnenrechtsvergleich“ macht deutlich, dass nach h. M. bei grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen im deutschen Informationsrecht unterschiedlich strenge Standards gelten (sollen): Dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung werden alle bekannten Schutzmechanismen zuteil, der Grundrechtseingriff durch staatliches Informationshandeln hingegen wird mit einer Art „Sonderdog72 BVerfGE 105, 279 (301 f.); BVerfG-K, NVwZ-RR 2002, 801; NJW 2002, 3458 (3459); dem folgend VerfGH RP, NVwZ 2008, 897 (898). 73 Am Beispiel der Bundeszentrale für politische Bildung (dazu Nachw. o. Fn. 29) BVerfGK, NJW 2011, 511 Tz. 23 (m. Anm. Bertram) = ZUM 2010, 957 Tz. 23 (m. Anm. Ladeur); abl. dazu Schoch, NVwZ 2011, 193 (196 f.). 74 Dieser Aspekt hat die Gerichte zuletzt mehrfach mit öffentlichen Äußerungen einer IHK im Rahmen des § 1 Abs. 1 IHKG beschäftigt; vgl. etwa BVerwG, NVwZ-RR 2010, 882 = GewArch 2010, 400 (m. Anm. Eisenmenger), dazu Jahn, ThürVBl 2010, 268 und Möllering, GewArch 2011, 56; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2008, 241; VG Stuttgart, NVwZ 2011, 895; ausf. zur Problematik Hövelberndt, DÖV 2011, 628 ff. 75 So zur Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG: OVG NW, NVwZ-RR 2006, 273 (274); OVG Bremen, NJW 2010, 3738; VG Arnsberg, GewArch 2012, 397, bestätigt durch OVG NW, GewArch 2012, 398. – Bzgl. Art. 12 Abs. 1 GG: OVG NW, NWVBl 2010, 355 (356). – Bzgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG: VG Stuttgart, NVwZ-RR 2011, 615 (616). 76 BVerwG, NJW 2006, 1303 Tz. 28; BVerwGE 131, 171 Rn. 21; OVG NW, NVwZ 2012, 767 (768) m. Anm. R.-G. Müller; OVG NW, MMR 2011, 771 (772). 77 BVerfGE 113, 63 (78 f.) zum Grundrechtseingriff durch Verfassungsschutzbericht. 78 Vgl. dazu am Beispiel der Preisgabe einer Information an eine Verbraucherschutzorganisation VGH BW, NVwZ 2011, 443 (444 f.) = ZLR 2010, 754 (759 ff.) m. Anm. Werner. 79 So BVerfGE 105, 252 (271); 105, 279 (307), jeweils zum Regierungshandeln; ebenso – ohne Begründung – z. B. Broß/Mayer, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Vorb Art. 83 – 87 Rn. 18.

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matik“ überzogen, die rechtsstaatliche Sicherungen lockert.80 Die Diskrepanzen zeigen sich besonders deutlich beim informationellen amtlichen Agieren im öffentlichen Raum: Informationserhebung versus Informationsverbreitung. Beim Datenschutz scheut das BVerfG nicht die „Verrechtlichung des Alltäglichen“.81 So wird die offene Videoüberwachung als „intensiver Grundrechtseingriff“ qualifiziert, für den die allgemeine Regelung für Datenerhebungen durch staatliche Stellen im Datenschutzgesetz keine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage sein soll.82 Dass man dies im Rechtsstaat auch ganz anders sehen kann, zeigt die Schweiz; das dortige Bundesgericht erkennt, Aufzeichnungen von Videoüberwachungen (sogar auf Grund Polizeirechts) wögen nicht schwer, weil der Privatbereich der betroffenen Personen im Allgemeinen nicht berührt und zudem die Öffentlichkeit mit Hinweistafeln auf den Einsatz derartiger Überwachungsmaßnahmen aufmerksam gemacht werde.83 Diese Wertung ist realitätsgerechter, plausibler und überzeugender als die vom BVerfG vorgenommene Zuschreibung. Bei den formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen fällt auf, dass die h. M. beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht nur die Beachtung des Gesetzesvorbehalts einfordert, sondern die Ausgestaltung des Gesetzes zudem mit Vorgaben zur Normenbestimmtheit und Normenklarheit konfrontiert. Demgegenüber wird der Grundrechtseingriff durch staatliches Informationshandeln vom Gesetzesvorbehalt weitgehend dispensiert; für „Normenbestimmtheit“ und „Normenklarheit“ fehlt folglich schon die Grundlage. Bei der Gesetzesanwendung liegt ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung selbst dann vor, wenn die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Eingriff zwar gewahrt sind, jedoch ein Verstoß gegen die sachliche Behördenzuständigkeit gegeben ist.84 Bei der amtlichen Publikumsinformation hingegen sollen im Falle des Regierungshandelns nicht einmal die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Verbandskompetenz gelten.85

80 Näher zur Kritik an dem „grundrechtlichen Sonderregime“ Huber, JZ 2003, 290 (292 ff.). 81 Dazu Hoffmann-Riem, AöR 123 (1998), 513 (528); vgl. ferner unten zu Fn. 103. 82 BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (691); im Anschluss daran BVerwGE 141, 329 Rn. 23 ff. 83 Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 2007, 200 (202). 84 BVerwG, NJW 2011, 2330 (2331). 85 Geradezu bedrückend die – nicht begründete – Behauptung, aus dem „überregionalen Charakter“ einer Publikumsinformation ergebe sich eine Zuständigkeit der Bundesregierung; so BVerfGE 105, 252 (271); 105, 279 (306 f.); anders noch – ohne dass dies in den neueren Entscheidungen kenntlich gemacht worden wäre – BVerfGE 12, 205 (252) und 98, 218 (249 f.): überregionale Bedeutung einer Angelegenheit kein Kompetenztitel für den Bund im Bereich der Exekutive. – Ein anderes Rechtsbewusstsein zeigt die in Fn. 86 nachgewiesene Entscheidung des BVerfG.

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2. Brüche in der Argumentation des BVerfG Der skizzierte Befund ist juristisch bereits an sich beunruhigend. Die Judikatur des BVerfG verliert weiter an Überzeugungskraft, wenn einige Argumentationsdefizite und vor allem Argumentationsbrüche verdeutlicht werden. Diese betreffen die Aushebelung des Gesetzesvorbehalts, die Ignorierung der Zweckbindung einer Erhebung personenbezogener Informationen und die Ausblendung der Informationsübermittlung als Rechtsproblem. a) Aushebelung des Gesetzesvorbehalts Der Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts löst zur Prüfung der Rechtfertigung den insoweit geltenden Schrankenvorbehalt aus. Das gilt seit jeher auch für die amtliche Publikumsinformation; der Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis (zum Grundrechtseingriff) widerspricht rechtsstaatlichen Standards.86 So war z. B. unbestritten, dass der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG) nur auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden darf.87 Dies gilt für jede Exekutivmaßnahme, ergehe sie rechtsförmlich oder informationell.88 Warum dies nun anders sein soll, erklärt das BVerfG nicht. Im „Fall Löw“ hat das Gericht in der erheblichen Stigmatisierung des Betroffenen durch eine behördliche öffentliche Äußerung eine Grundrechtsbeeinträchtigung gesehen, die der Rechtfertigung bedürfe, „um vor Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG Bestand haben zu können“; ohne dass eine besondere gesetzliche Eingriffsermächtigung notwendig sei, könne der Eingriff – bei Wahrung des Übermaßverbots – unter Rückgriff auf die der Bundesregierung zukommende „Aufgabe der Staatsleitung“ („kompetenzielle Rechtsgrundlage“) gerechtfertigt werden.89 Warum der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht entgegen der bisherigen Rechtsprechung90 keine gesetzliche Grundlage braucht, wird nicht erläutert; und wieso die Bundeszentrale für politische Bildung eine „Aufgabe der Staatsleitung“ wahrnimmt, bleibt ebenfalls rätselhaft. – Die hier anhand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgezeigten Argumentationsdefizite des BVerfG gelten auch in Bezug auf andere betroffene Grundrechte.

86 BVerwG, NJW 1996, 3161 (3162) am Beispiel des Art. 12 Abs. 1 GG; ferner BVerfG-K, NJW 1999, 3404 (3405) unter Betonung der Zuständigkeitswahrung bei amtlichem Informationshandeln. 87 BVerfGE 32, 273 (279); 65, 1 (44); 89, 69 (84). 88 Bethge, in: Handbuch der Grundrechte III, 2009, § 58 Rn. 53 und Rn. 106. 89 BVerfG-K, NJW 2011, 511 Tz. 23 = ZUM 2010, 957 Tz. 21; krit. Ladeur, ZUM 2010, 960; abl. Schoch, NVwZ 2011, 193 (196). 90 Vgl. Nachw. oben Fn. 87.

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b) Ignorierung der Zweckbindung Zu den tragenden Säulen des deutschen Datenschutzrechts zählt der Grundsatz der Zweckbindung.91 Insbesondere der Verwendungszweck personenbezogener Informationen ist hinreichend klar und präzise gesetzlich festzulegen.92 Konsequenterweise bedarf jede Zweckänderung einer eigenen, neuen gesetzlichen Ermächtigung.93 Dies erklärt die vom BVerfG postulierte grundsätzliche Unzulässigkeit einer behördlichen Vorratsdatenspeicherung.94 Wenn durch die Zweckbindung nicht Daten, sondern Informationszusammenhänge geschützt werden, zerfällt in der Tat die Zweckbindung bei öffentlicher Zugänglichkeit vormals zu einem bestimmten Zweck erhobener personenbezogener Informationen.95 Vor diesem Hintergrund ist nicht zu verstehen, wieso die h. M. den Tatbestand der Zweckänderung nicht erkennt, wenn personenbezogene Informationen von einer Behörde zu einen „Zweck X“ erhoben worden sind und zur amtlichen Publikumsinformation („Zweck Y“) verwendet werden. Spätestens an dieser Stelle müsste auffallen, dass die informationsrechtliche Judikatur hinsichtlich der Informationserhebung einerseits und der Informationsverwendung andererseits nicht kohärent ist; Datenschutzrecht und Informationsrecht passen an dieser Schnittstelle nicht mehr zusammen. In Teilen der Rechtsordnung, insbesondere im Verbraucherinformationsrecht, hat der Gesetzgeber die Problematik erkannt und die Zweckänderung durch ausdrückliche Befugnisnormen für die Publikumsinformation legitimiert.96 Warum dies in anderen Bereichen anders sein soll, müsste erst einmal begründet werden. c) Informationsübermittlung als Rechtsproblem Eng mit dem vorstehend skizzierten Problem der Zweckbindung bzw. Zweckänderung verknüpft, gleichsam nur einen Perspektivenwechsel darstellend, ist die Frage der Zulässigkeit der Informationsübermittlung. Schon bei der behördlichen Gestattung des individuellen Informationszugangs (z. B. nach dem IFG) liegt in der Offenbarung personenbezogener Informationen ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.97 Bei der amtlichen Publikumsinformation verschärft sich die Problematik. 91 Masing, VVDStRL 63 (2004), 377 (399): Zweckbindung als unangefochtener Eckpfeiler jeden modernen Datenschutzes; ähnlich Spiecker, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 263 (272). 92 BVerfGE 100, 313 (360); 118, 168 (187 f.); 120, 351 (366 f.). 93 Masing, NJW 2012, 2305 (2306). 94 BVerfGE 65, 1 (46); 115, 320 (350); 125, 260 (321). 95 So Masing, VVDStRL 63 (2004), 377 (400). 96 Einzelheiten dazu bei Schoch, NJW 2012, 2844 (2847 ff.); speziell zu § 40 Abs. 1a LFGB Schoch, NVwZ 2012, 1497 (1501 f.). 97 Schoch, IFG, 2009, § 5 Rn. 9; der „Eingriff“ ist allerdings durch das IFG (ebenso: UIG, VIG etc.) legitimiert, d. h. i. S. d. §§ 16 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 14 Abs. 2 Nr. 1 BDSG zulässig.

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Das BVerfG qualifiziert die öffentliche Bekanntmachung personenbezogener Informationen durch staatliche Stellen als „Sonderform der Datenübermittlung“, die einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt.98 Frühzeitig hat das Gericht betont, die (ursprüngliche) Zweckbindung personenbezogener Informationen werde durch eine auf die Anonymisierung verzichtende öffentliche Bekanntmachung unterlaufen und im Ergebnis aufgelöst; bei einer derartigen Publikumsinformation, die die intensivste Form einer Übermittlung personenbezogener Informationen darstelle, handele es sich datenschutzrechtlich um eine Datenübermittlung „auf Vorrat“.99 Erst vor diesem Hintergrund werden die rechtsdogmatischen Fehlleistungen des BVerfG in seiner „Glykol“-Entscheidung100 vollständig deutlich: Verwaltungsintern erhobene personenbezogene Informationen, die im Zusammenhang mit der behördlichen Ermittlung der Anteile von Diethylenglykol an bestimmten Weinen generiert worden waren (Zweckbindung), wurden vom (seinerzeitigen) Bundesgesundheitsministerium veröffentlicht (Zweckänderung)101; dass diese amtliche Publikumsinformation – unabhängig von den Rechtsfragen zu Art. 12 Abs. 1 GG – als im Rechtssinne durch ein Gesetz legitimierungsbedürftige „Datenübermittlung an nichtöffentliche Stellen“ einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen könnte, hat das BVerfG nicht einmal in Betracht gezogen.102 3. Desiderat: Angleichung der Schutzstandards Die vom BVerfG zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickelten und durchgesetzten Schutzstandards einerseits und die Standards bei grundrechtsbeeinträchtigender staatlicher Publikumsinformation andererseits laufen ersichtlich auseinander. Zu rechtfertigen ist diese „Scherenentwicklung“ kaum. Zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung dürfen inzwischen sogar gewisse Übertreibungen konstatiert werden: Da in der Informationsgesellschaft irgendwelche Gefahren irgendwelcher Art für die informationelle Selbstbestimmung überall lauern, sei – so eine vor geraumer Zeit erhobene Forderung – zur Vermeidung einer dysfunktionalen Verrechtlichung des Alltäglichen eine restriktivere Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs bzw. des Eingriffs angezeigt.103 Zum Schutzbereich 98

BVerfG-K, NJW 2008, 1435 Tz. 18; BVerfGE 128, 1 (45). BVerfG-K, NVwZ 1990, 1162, mit Hinweis darauf, es sei weder vorhersehbar noch bestimmbar, wer von den publizierten Informationen (Daten) Kenntnis erlangen werde und wie diese Informationen (Daten) verwendet werden könnten. 100 Vgl. zur Kritik Nachw. o. Fn. 37. 101 Vgl. zu diesem Sachverhalt BVerfGE 105, 252 (254 f.). 102 BVerfGE 105, 252 (279) scheidet Art. 2 Abs. 1 GG („Wettbewerbsfreiheit“) als Prüfungsmaßstab wegen des speziellen Art. 12 Abs. 1 GG aus; zu Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG findet sich nichts. 103 Hoffmann-Riem, in: Liber amicorum Norbert Reich, 1997, S. 777 (782); ders., AöR 123 (1998), 513 (527 f.). 99

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könnte der überfällige „Rückbau“ durch eine Rückbesinnung auf die Wurzeln des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (einschließlich der „Sphärentheorie“) gelingen; beim Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung ist der eingetretenen Uferlosigkeit eine Orientierung und Konturierung anhand objektiv relevanter und bestimmbarer Freiheitseinbußen (in Reflexion der Freiheitsversprechen des Schutzbereichs) entgegenzusetzen.104 Auf der anderen Seite sollte die Rechtsprechung bei der amtlichen Publikumsinformation sensibler werden für die Bedeutung und Wahrung grundrechtlicher (rechtsstaatlicher) Anforderungen. In der Angleichung der Schutzstandards läge ein Gewinn für das Informationsrecht.

104

Schoch, FS Stern (Fn. 5), S. 1506 ff.

Europapolitik zwischen Exekutive und Legislative Von Rupert Scholz I. Allgemeine Problemstellung Je weiter der Prozess der europäischen Integration voranschreitet, desto mehr verstärken sich die ebenso institutionellen wie strukturellen Probleme im Verhältnis von demokratischer Legislative und rechtsstaatlicher Exekutive.1 Die Europäische Union selbst befindet sich heute in einer durchaus gravierend zu nennenden institutionellen Krise, die vor allem das System der europäischen Institutionen und ihrer Korrespondenz zu den nationalen Mitgliedsstaaten bzw. deren demokratischen Legitimationsstrukturen betrifft. Diese Krise hat sich mit den aktuellen Problemen der Währungsunion und den massiven Staatsverschuldungen einzelner Mitgliedsstaaten noch evident verstärkt, worauf gesondert zurückzukommen sein wird (siehe anschließend unter II.). Die Grundstruktur der Europäischen Union als supranationaler „Staatenverbund“2 ist in vielfältiger Hinsicht nicht mehr stimmig. Sie leidet in hohem Maß an Funktions- wie Legitimationsdefiziten. Im Hinblick auf das Grundprinzip der demokratischen Legitimation aller staatlich-hoheitlichen Gewalt dokumentiert diese Krise nicht zuletzt das inzwischen fast landläufig beklagte Wort vom „Demokratiedefizit“ der Europäischen Union.3 Es geht jedoch nicht nur um demokratische Legitimationszusammenhänge, es geht auch und namentlich um das Gesamtgefüge von supranationaler Integration (Vergemeinschaftung) einerseits und zwischenstaatlicher Intergouvernementalität andererseits. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind unverändert „Herren der Verträge“. Jede Kompetenz der Europäischen Union leitet sich unverändert aus den nationalen Souveränitätsbefugnissen ab und bedarf folgerichtig der demokratisch-nationalen Legitimation – einmündend in das Prinzip der abgeleiteten Einzelermächtigung (vgl. Art. 4, 5 EUV)4 und ebenso einmündend in das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 EUV, das in der Realität jedoch kaum noch eine substantielle Rolle spielt, das vielmehr von dem exekutivischen Kompetenzexpansionismus namentlich der Europäischen Kommission immer wieder über-

1 Vgl. dazu näher u. a. Scholz, Wege zu mehr europäischer Demokratie, in: Durner/Peine/ Shirvani (Hrsg.), Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa. Festschrift für HansJürgen Papier zum 70. Geburtstag, 2013, S. 153 ff. 2 Vgl. BVerfGE 89, 155 (181 ff.); 123, 267 (348). 3 Vgl. dazu schon Scholz, in: FS Papier, 2013; ders., Parlamentarische Demokratie in der Bewährung, 2012, S. 375 ff. 4 Vgl. BVerfGE 89, 155 (187 ff.); 123, 267 (349); 126, 286 (302 f.).

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spielt oder negiert wird.5 In diesem Sinne ist die Europäische Union mit ihren Organen – Kommissionen, Rat, Europäischer Rat – längst zu einer überbürokratisierten Exekutiv-Union geworden, d. h. einer integrationspolitischen Formation, die vor allem in demokratiestaatlicher Hinsicht vielfältig notleidend geworden ist. Soweit sich der Prozess der europäischen Integration in intergouvernementaler Form vollzieht, ist unverändert das Völkerrecht und damit der Primat der Außenpolitik maßgebend. Innerstaatlich bedeutet dies, dass nach den Regelungen der Art. 32, 59 GG zwar das demokratisch-parlamentarische Ratifikationsrecht zu entsprechenden völkerrechtlichen Verträgen maßgebend ist, dass im Übrigen aber das vorrangig exekutivische Mandat namentlich der Bundesregierung dominiert.6 Insoweit besteht für die Europapolitik – als Teil der Außenpolitik – kein allgemeiner Parlamentsvorbehalt. Art. 23 GG verfügt zwar bestimmte partizipatorische Mitwirkungsrechte für Bundestag und Bundesrat; diese verdrängen aber den exekutivischen Primat der Bundesregierung für die Europapolitik gemäß Art. 32 GG nicht.7 Soweit das Prinzip der Vergemeinschaftung gilt, bestehen die originären Kompetenzen der Organe der Europäischen Union;8 und diese weisen wiederum einen klaren supranational-exekutivischen Kompetenzprimat aus.9 Die Kommission ist ein exekutivisches Organ, ebenso der Rat und der Europäische Rat. Die nötige demokratische Legitimation soll zwar über das Europäische Parlament vermittelt werden. Dies stellt aber nach wie vor kein vollgültiges demokratisches Verfassungsorgan dar. Es repräsentiert keinen europäischen Volkssouverän, es repräsentiert nicht den demokratiestaatlich selbstverständlichen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (one man – one vote) und es verfügt auch kompetenziell noch nicht einmal über ein echtes legislatorisches Initiativrecht.10 Aus nationaler Sicht versteht sich Europapolitik nach wie vor als Außen- und nicht als Innenpolitik. Verfassungspolitisch wird zwar mit Recht häufig davon gesprochen, dass die Europapolitik längst zu einem Tatbestand (auch) der Innenpolitik geworden ist. Diese Feststellung ist richtig, wenn man beispielsweise erkennt, dass inzwischen weit über 50 % aller innerstaatlich wahrgenommenen legislatorischen Zuständigkeiten von Bundestag und Bundesrat von den supranationalen Rechtsetzungen der Europäischen Union überlagert oder präformiert werden. Da diese supranationalen Rechtsetzungsvorgaben aber wiederum in dominierend-exekutivischer Kompetenz, also namentlich über Kommission und Rat, entwickelt werden, erschließt sich von neuem bzw. auch von dieser Seite her ein deutliches kompetenzielles Übergewicht der Exekutive gegenüber der (nationalen) Legislative.

5

Vgl. dazu m. w. Nachw. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 99 ff. Vgl. näher Scholz, a.a.O., Rn. 131 ff. 7 Vgl. näher Scholz, a.a.O., Rn. 132; siehe auch BVerfGE 104, 151 (206 ff.); Klein, ZG 2012, 209 (212 ff.). 8 Vgl. BVerfGE 22, 293 (296); 37, 271 (277 f.). 9 Vgl. näher Scholz, FS Papier, 2013. 10 Vgl. BVerfGE 123, 370 ff. 6

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Das Verhältnis von Legislative und Exekutive bestimmt sich verfassungsrechtlich vorrangig nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2/28 Abs. 1 GG). Gewaltenteilung in diesem Sinne bedeutet zwar keine starre Kompetenztrennung, bedeutet aber – in rechtsstaatlicher Hinsicht – prinzipieller Vorrang von Gesetz und Gesetzgebung und bedeutet zum anderen prinzipielle Gleichgewichtigkeit beider Staatsgewalten, also von Legislative wie Exekutive, nach dem Prinzip von „checks and balances“. Konkret erlaubt das Gewaltenteilungsprinzip zwar durchaus auch kompetenzielle Verschiebungen oder Umschichtungen bzw. auch kompetenzielle Verflechtungen von Legislative und Exekutive.11 Dies aber nur soweit, wie das Grundprinzip der Gewaltenteilung und ihres Gebots von ausgewogenen „checks and balances“ gewahrt und der Kernbereich der verschiedenen Gewalten unverändert bleibt.12 Alles dies ist heute in ein deutliches Ungleichgewicht geraten. Von unionsrechtlicher Seite her wächst der exekutivische Kompetenzprimat und von nationaler Seite vermögen mit dem die demokratischen Grundverantwortlichkeiten von Bundestag und Bundesrat kaum noch Schritt zu halten.13 Einen Versuch zur Lösung dieser Probleme stellt die Regelung des Art. 23 GG dar, auf die noch gesondert zurückzukommen sein wird (vgl. im Folgenden unter III.). Aber schon an dieser Stelle ist festzuhalten, dass gerade im Lichte neuerer Entwicklungen auch diese Regelung des Art. 23 GG, die die national-exekutivische Europapolitik an (demokratisch legitimierende) Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat zu binden sucht, nur noch bedingt funktionsfähig erscheint. II. Insbesondere: ESM und SKSV Die vorstehend umschriebene allgemeine Problemlage hat sich im Zuge der aktuellen Euro-Krise und der zu ihrer Überwindung entwickelten neuen Haftungs- wie Regelungssysteme noch massiv verstärkt. Maßgebend ist hier zunächst der Vertrag zur Einrichtung des europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV-BT-Drucks. 17/ 9045 – BGBl. I 2012, S. 1918) und zum anderen der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKSV-BTDrucks. 17/9046).14 11

Vgl. BVerfGE 9, 268 (279 f.); 12, 180 (186); 22, 106 (111); 95, 1 (15); 96, 375 (394). Vgl. BVerfGE 95, 15. 13 Vgl. näher Scholz, FS Papier, 2013. 14 Vgl. dazu besonders BVerfG, DVBl 2012, 894 ff.; BVerfG, NVwZ 2012, 495 ff.; BVerfG, NJW 2011, 2946 ff.; BVerfG, NJW 2012, 3145 ff.; EuGH, Entscheidung vom 27. 11. 2012; Kube, WM 2012, 245 ff.; ders., AöR 137, 2012, 205 ff.; Kube/Reimer, NJW 2010, 1911 ff.; Weber, DVBl 2012, 801 ff.; Hölscheidt/Rohleder, DVBl 2012, 806 ff.; Lorz/Sauer, DÖV 2012, 573 ff.; Cromme, DÖV 2012, 209 ff.; Hofmann/Konow, ZG 2012, 138 ff.; v. Lewinski, ZG 2012, 164 ff.; Philipp, ZRP 2011, 240 ff.; Knopp, NJW 2010, 1777 ff.; ders., NVwZ 2011, 1480 ff.; Calliess, NVwZ 2012, 1 ff.; ders., Das europäische Solidaritätsprinzip und die Krise des Euro – Von der Rechtsgemeinschaft zur Solidaritätsgemeinschaft?, in: 12

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Zweck des ESM ist es, „Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedsstaaten unabdingbar ist. Zu diesem Zweck ist der ESM berechtigt Mittel aufzunehmen, indem er Finanzinstrumente begibt oder mit ESM-Mitgliedern, Finanzinstituten oder sonstigen Dritten finanzielle oder sonstige Vereinbarungen oder Übereinkünfte schließt.“ (Zielbestimmung des ESMV). Auf dieser Grundlage stellen die Mitgliedsstaaten der EuroZone bestimmte Beiträge zum Stammkapital des ESM bereit, über die die Organe des ESM im Einzelnen bestimmen. Organe des ESM sind der Gouverneursrat und ein Direktorium mit Geschäftsführendem Direktor (Art. 4 ESMV). Nach Art. 5 ESMV „ernennt jedes ESM-Mitglied ein Mitglied eines Gouverneursrats“, das nationales Regierungsmitglied ist (in Deutschland: der Bundesfinanzminister). Nach Art. 6 ESMV wird wiederum für jeden Mitgliedsstaat ein Direktoriumsmitglied benannt. Die Zuständigkeiten des ESM sind außerordentlich weitreichend, obwohl nach Art. 8 Abs. 5 ESMV „die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds unter allen Umständen auf seinen Anteil an genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt“ bleiben soll. „Kein ESM-Mitglied haftet aufgrund seiner Mitgliedschaft für die Verpflichtungen des ESM. Die Verpflichtung der ESM-Mitglieder zur Leistung von Kapitalbeiträgen zum genehmigten Stammkapital gemäß diesem Vertrag bleibt unberührt, falls ein ESM-Mitglied Finanzhilfe vom ESM erhält oder die Voraussetzungen dafür erfüllt.“ Im Zusammenhang mit dieser Regelung bestehen jedoch durchaus erhebliche Gefahren dahingehend, dass es in Wahrheit bzw. in der Zukunft nicht bei einer solchen Haftungsbeschränkung der einzelnen ESM-Mitgliedsstaaten verbleibt. Vor allem über den revidierten erhöhten Kapitalabruf (Art. 9 Abs. 2 und 3 S. 1 i.V.m. Art. 25 Abs. 2 ESMV) können sich erhebliche Probleme für die nationale Budgethoheit ergeben, worauf das BVerfG in seiner Entscheidung vom 12. 09. 2012 nicht nur hingewiesen hat, sondern wogegen das BVerfG auch einen völkerrechtlich wirksamen Vorbehalt bzw. eine entsprechende Vorbehaltserklärung von Seiten der Bundesrepublik Deutschland gefordert hat, um den ESMV im Ergebnis verfassungskonform Calliess (hrsg.), Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 62 vom 08. 03. 2011; ders., VVDStRL 71, 2012, S. 113 ff.; Schorkopf, VVDStRL 71, 2012, S. 183 ff.; Haversath, Solidarität im Recht. Gegenseitige Verbundenheit als Grund und Grenze hoheitlichen Handelns, in: Calliess (Hrsg.), Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 76 vom 09. 05. 2012; Pagenkopf, NVwZ 2011, 1473 ff.; Wieland, NVwZ 2011, 340 ff.; Fassbender, NVwZ 2010, 799 ff.; Thym, EuZW 2011, 167 ff.; Horn, NJW 2011, 1389 ff.; Kerber/Städter, EuZW 2011, 536 ff.; Schröder, DÖV 2011, 61 ff.; Polzin, DÖV 2011, 209 ff.; Häde, EuR, 2010, 854 ff.; Hentschelmann, EuR 2011, 282 ff.; Nettesheim, EuR 2011, 765 ff.; Möllers/Reinhardt, JZ 2012, 693 ff.; Ohler, DVBl 2011, 1061 ff.; H. Klein, ZG 2012, 209 ff.; Moench/Ruttloff, DVBl 2012, 1261 ff.; Kalb/Roßner, NVwZ 2012, 1071 ff.; Rathke, DÖV 2012, 751 ff.; Glaser, DÖV 2012, 901 ff.; Pilz, DÖV 2012, 909 ff.; Forkel, ZRP 2012, 240 ff.; Boehme-Neßler, ZRP 2012, 237 ff.

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zu halten.15 Schon in seinem Urteil vom 07. 09. 2011 hat das BVerfG „die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages bei der Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen der Griechenland-Hilfe und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (nur deshalb) als gesichert angesehen, weil das finanzielle Gesamtengagement der Bundesrepublik Deutschland der Höhe nach begrenzt war, der Deutsche Bundestag jeder Hilfsmaßnahme größeren Umfangs im Einzelnen zustimmen musste, ihm die Kontrolle über die Konditionalität der Hilfen zustand und diese Hilfen zeitlich begrenzt waren.“16 In seiner Entscheidung vom 12. 09. 2012 hat das BVerfG dies erneut betont und für den ESM-Vertrag festgehalten, dass das mit ihm „verbundene finanzielle Gesamtengagement der Bundesrepublik Deutschland nur bei verfassungskonformer Auslegung“ im vorstehenden Sinne zu halten ist. Mit Recht betont das BVerfG die Budgethoheit des Deutschen Bundestages, die nicht „entparlamentarisiert“ werden darf, die insbesondere nicht auf supranationale Entscheidungsträger in der Weise verlagert werden darf, dass die im Demokratieprinzip wurzelnde Entscheidungs- und Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages verdrängt oder überlagert wird. Mit Recht hat das BVerfG diese Grundsätze zur Budgethoheit des Deutschen Bundestages dem absoluten Verfassungsvorbehalt des Art. 79 Abs. 3 GG unterstellt.17 Die Frage bleibt jedoch, ob diese Grundsätze im vorgesehenen Entscheidungssystem des ESM unverändert gültig und wirksam bleiben bzw. ob der vom BVerfG geforderte völkerrechtliche Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland wirklich hinlänglich trägt.18 Skeptisch müssen insoweit vor allem die Regelungen im ESMV zur Rechtsstellung von Gouverneursrat und Direktorium stimmen. Denn diesen 15

Vgl. NJW 2012, 3145 (3146 ff.). Vgl. DVBl 2011, 1288 (1289 ff.). 17 Vgl. NJW 2012, 3147 ff.; zu den Gefahren einer „Entparlamentarisierung des Budgets“ siehe besonders klar Klein, ZG 2012, 212 ff. Zur Frage, ob das Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers gemäß Art. 112 S. 2 GG zu weiteren Lasten im Rahmen des ESM, d. h. ohne parlamentarische Ermächtigung, führen darf, siehe mit Recht kritisch Kalb/Roßner, NVwZ 2012, 1071 ff. Hier droht ein echter Kompetenzkonflikt, ist der Bundesfinanzminister doch (zugleich) Mitglied im Gouverneursrat des ESM! Eine verfassungskonforme Lösung dieses Konflikts ist nach hiesiger Auffassung nur über eine einschränkende Auslegung des Art. 112 S. 2 GG dahingehend möglich, dass in solchen Fällen der (allgemeine) Parlamentsvorbehalt für das Budgetrecht gegenüber dem (speziellen) Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers in jedem Fall vorrangig bleibt. Ein weiteres Kompetenzproblem wirft der (Reform-)Vorschlag von Bundesfinanzminister Schäuble auf, demzufolge dem für Währungsfragen zuständigen Mitglied der Europäischen Kommission das Recht eingeräumt werden soll, nationale Haushalte der Euro-Staaten zu suspendieren, wenn sie die vereinbarten Defizitkriterien nicht einhalten (vgl. FAZ vom 17. 10. 2012). Auch eine solche Befugnis des zuständigen EU-Kommissars muss die nationale Budgethoheit wahren, darf diese nicht substantiell derogieren. Wenn es aber bei einem bloßen Beanstandungsrecht (bloße Rüge) bleibt, die nationalen Parlamente also letztentscheidungsbefugt bleiben, wird man insoweit keinen Verfassungsverstoß zu reklamieren haben (vgl. Klein, FAZ vom 20. 10. 2012, S. 14). 18 Zweifelnd etwa Talmon, FAZ vom 20. 09. 2012, S. 8. 16

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soll nicht nur eine berufliche Schweigepflicht (Art. 34 ESMV), sondern auch ein Maß besonderer persönlicher Immunität zustehen (Art. 35 ESMV). Mit anderen Worten: Diese exekutivischen Organe des ESM sollen ganz deutlich von allen persönlichen wie sachlichen Abhängigkeiten, nicht zuletzt gegenüber nationalen Instanzen befreit werden. Mit Recht hat das BVerfG demgegenüber festgehalten, dass auch diese Regelungen verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden müssen, dass namentlich die Informationspflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag und dessen Kontrollrechte gegenüber der Bundesregierung nicht in Frage gestellt werden dürfen. Von der parlamentarischen Budgethoheit bis zum parlamentarischen Informations- und Kontrollrecht geht es um den absolut geschützten „Kernbereich“ der Legislative, der ebenso auf dem Demokratieprinzip wie auf dem Gewaltenteilungsprinzip beruht. Auch dies schafft auf der anderen Seite keinen allgemeinen Parlamentsvorbehalt für die Europapolitik der Bundesregierung, begründet aber – unabhängig von Art. 23 GG bzw. auch jenseits der dort vorgesehenen Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat – partielle bzw. konkrete Vorbehaltsrechte für das Parlament – nämlich soweit, wie europapolitische Hoheitsakte der Exekutive in solche Kompetenzreservate der Legislative einbrechen (können). Über das Gesetz zu dem Vertrag vom 02. 02. 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Gesetz zum Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion sowie über das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am ESM haben Bundestag und Bundesrat versucht, diesen verfassungsrechtlichen Vorbehalten gerecht zu werden. Nach Art. 2 des erstgenannten Gesetzes gilt, dass „Erhöhungen des genehmigten Stammkapitals nach Art. 10 Abs. 1 des Vertrags zum Inkrafttreten einer bundesgesetzlichen Ermächtigung zur Bereitstellung weiteren Kapitals bedürfen“ (Abs. 1). Nach Art. 2 Abs. 2 dürfen der deutsche Gouverneur im Gouverneursrat und der deutsche Direktor im Direktorium „einem Beschlussvorschlag zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags nur zustimmen oder sich bei der Abstimmung über einen solchen Beschlussvorschlag der Stimme enthalten, wenn hierzu zuvor durch Bundesgesetz ermächtigt wurde“. Nach § 4 ESM-FinanzierungsG gilt der Parlamentsvorbehalt für Entscheidungen im Europäischen Stabilitätsmechanismus: Nach § 4 Abs. 1 ESM-FinanzierungsG „wird in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus, die die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betreffen, diese vom Plenum des Deutschen Bundestages wahrgenommen“. Nach § 5 Abs. 1 ESM-FinanzierungsG „wird in allen sonstigen die Haushaltsverantwortung des Deutschen Bundestages berührenden Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus, in denen eine Entscheidung des Plenums gemäß § 4 nicht vorgesehen ist, der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages beteiligt“. Nach § 5 Abs. 2 S. 2 ESM-FinanzierungsG gelten für die Beteiligung deutscher Vertreter gleichartige Regelungen wie für den Gouverneursrat und das Direktorium im ESM. Von Bedeutung ist schließlich die Regelung des § 6 ESM-FinanzierungsG, die ein „Sondergremium“ in den Fällen vorsieht, in denen es um den „Aufkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt nach Art. 18 des Vertrags

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zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus“ geht. Hier soll die Bundesregierung „die besondere Vertraulichkeit der Angelegenheit geltend machen“ dürfen. Die eigentlich maßgebenden Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages sollen nach § 6 Abs. 2 ESM-FinanzierungsG „von Mitgliedern des Haushaltsausschusses wahrgenommen werden, die vom Deutschen Bundestag für die Dauer einer Legislaturperiode in geheimer Wahl mit der Mehrheit des Deutschen Bundestages gewählt werden“. Fasst man diese Neuregelungen zur Überwindung der Euro-Krise zusammen und misst sie an den verfassungsrechtlichen Grundgeboten der Budgethoheit des Deutschen Bundestages, so sehen sich zumindest Grenzen erreicht, die von verfassungsrechtlich außerordentlicher Problematik sind und auch bleiben werden. Ob die vom BVerfG geforderten völkerrechtlichen Vorbehalte der Bundesrepublik Deutschland in der Praxis wirklich tragfähig sein werden, wird sich erst zu erweisen haben. Jedenfalls bleibt aber eins festzuhalten: Die Budgethoheit der nationalen Legislative wird in massiver Weise zugunsten eines supranationalen Exekutivmechanismus eingeschränkt und damit wird das vom Gewaltenteilungsgrundsatz gebotene Gleichgewicht von Legislative und Exekutive erneut in wesentlicher Form zugunsten der Exekutive verschoben.

III. Quasi-kondominialer Lösungsansatz in Art. 23 GG Die mit den vorgenannten Regelungen zur Überwindung der Euro-Krise in besonderer Weise aufgebrochenen Grundprobleme des Verhältnisses von Legislative und Exekutive in der Europapolitik bestanden in der Sache allerdings schon vor diesen Neuregelungen (siehe bereits oben unter I.). Eine verfassungsrechtliche Antwort auf diese Problemlagen suchte die Regelung des Art. 23 GG zu geben, die nicht nur das Staatsziel der Europäischen Union und die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union statuierte (Abs. 1),19 sondern die darüber hinaus „in Angelegenheiten der Europäischen Union“ Bundestag und Bundesrat ein Mitwirkungsrecht einräumte (Abs. 2 S. 1), die Bundesregierung zur „frühestmöglichen“ Information von Bundestag und Bundesrat verpflichtete (Abs. 2 S. 2) und die in Abs. 3 – 6 die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat in europapolitischen Angelegenheiten im Einzelnen regelte.20 Zur Ausführung dieser Vorschriften im Einzelnen sind gemäß Art. 23 Abs. 7 GG das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG), das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) sowie das Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union erlassen worden (IntegratVG).21 19

Vgl. näher hierzu Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 1 ff., 50 ff., 147 ff. Vgl. näher hierzu Scholz, a.a.O., Rn. 127 ff. 21 Vgl. näher hierzu Scholz, a.a.O., Rn. 152 ff., 162 ff. 20

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Alle diese Regelungen betreffen sowohl den intergouvernementalen als auch den vergemeinschafteten Bereich der Europapolitik. Insgesamt kann von einem „quasikondominialen“ System der Zusammenarbeit von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat gesprochen werden – ein System, das sich ebenso auf die Begründung der Europäischen Union, deren völkerrechtliche Vertragsgrundlagen sowie auf alle weiterführenden bzw. integrationsausführenden Regelungen bezieht. Ungeachtet dessen bleibt die Europapolitik in ihrer Qualität als Außenpolitik jedoch in der prinzipiellen exekutivischen Zuständigkeit der Bundesregierung, wird über Art. 23 GG also kein entsprechend außenpolitisches Grundmandat von Bundestag und Bundesrat begründet. Die durch Art. 23 GG verfügte „quasi-kondominiale“ Zuständigkeit für die Europapolitik ist ausschließlich innerstaatlicher und nicht auch außenpolitischer Art. Damit verbleibt es auch bei kompetenziellen Schnittflächen und potenziellen Konfliktlagen zwischen Exekutive einerseits und Legislative andererseits. Eine Lösung hierzu sucht insbesondere die Regelung des § 9 Abs. 4 S. 5 EUZBBG, derzufolge „das Recht der Bundesregierung, in Kenntnis der Stellungnahme des Bundestages aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen, unberührt bleibt“. Im gleichen Sinne bestimmt § 10 Abs. 2 und 3 EUZBBG, dass bei den Tatbeständen von „Beitritt und Vertragsrevision“ die Bundesregierung über das Recht verfügt, „in Kenntnis der Stellungnahme des Bundestages aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen.“ Das Gleiche gilt schließlich „für Vorschläge und Initiativen zur Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union“ (§ 10 Abs. 3 EUZBBG). Diese Regelungen relativieren die Vorgaben des IntegratVG und werfen damit die Frage auf, ob ein solches Abweichungsrecht der Bundesregierung bei Vorliegen „außen- oder integrationspolitischer Gründe“ mit Art. 23 Abs. 1 und 3 GG zu vereinbaren ist. Nach hiesiger Auffassung ist diese Frage nur teilweise zu bejahen.22 Soweit es um Tatbestände der ordentlichen Vertragsänderung geht, greift schon der gesetzgeberische Parlamentsvorbehalt gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG, der sich insoweit mit den Regelungen aus Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG in verfassungsrechtlich strikter Weise verbindet. Jedes Verfahren der ordentlichen Vertragsänderung bedingt einen entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag, der zwingend und komplett dem parlamentarischen Ratifikationsvorbehalt unterliegt. Folgerichtig kann es insoweit kein Abweichungsrecht der Bundesregierung geben. Die Regelung des § 10 Abs. 3 IntegratVG bezieht sich zwar nur auf „Vorschläge und Initiativen zur Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union“, bezieht sich also lediglich auf das Vorfeld einer (ratifikationsbedürftigen) Vertragsänderung. In verfassungskonformer Auslegung ist dennoch festzuhalten, dass zwar im vorgenannten Vorfeld der Bundesregierung ein entsprechendes Abweichungsrecht zuzuerkennen ist, nicht aber im Bereich des förmlichen Vertragsänderungsverfahrens gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Soweit es um die weiteren Fälle des vereinfachten oder des besonderen Vertragsänderungsverfahrens (§§ 2, 3 IntegratVG), um die Brückenklauseln gemäß 22

Vgl. näher hierzu Scholz, a.a.O., Rn. 151.

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§§ 4 – 6 IntegratVG, um die Kompetenzklausel gemäß § 7 IntegratVG, um die Flexibilitätsklausel gemäß § 8 IntegratVG, um das Notbremseverfahren gemäß § 9 IntegratVG oder um das Ablehnungsrecht bei Brückenklauseln gemäß § 10 IntegratVG geht, ist nach hiesiger Auffassung ein Abweichungsrecht der Bundesregierung bei Vorliegen „wichtiger außen- oder integrationspolitischer Gründe“ anzuerkennen. Selbst mit dieser Maßgabe sind Konfliktfälle in der Praxis jedoch nicht auszuschließen. Verfassungsrechtlich sind die Regelungen des § 9 Abs. 4 S. 5 und des § 10 Abs. 2 – 3 EUZBBG jedoch unter dem (gewaltenteilungsrelevanten) Aspekt eines „Kernbereichs exekutivischer Eigenverantwortung“ zu rechtfertigen, der naturgemäß auch für den außenpolitischen und damit auch europapolitischen Kompetenzprimat der Bundesregierung Geltung beanspruchen darf.23 Blickt man auf die vorstehend unter II. geschilderten neuen Problemlagen des ESM und des SKSV zurück, so stellen sich auch hier vergleichbare Probleme. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 12. 09. 2012 mit Recht darauf hingewiesen, dass auch diese völkerrechtlichen Vertragswerke nicht nur der Regelung des Art. 59 Abs. 2, sondern auch der des Art. 23 GG unterstehen.24 Auf der Grundlage dessen ist auch die vorstehend zitierte Regelung des § 6 ESM-FinanzierungsG zu würdigen, die der Bundesregierung das Recht einräumt, in den Fällen des Art. 18 ESMV „die besondere Vertraulichkeit der Angelegenheit geltend zu machen“, und derzufolge die Beteiligungsrechte des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages von einem speziellen „Sondergremium“ wahrgenommen werden sollen. Nach § 6 Abs. 1 S. 2 ESM-FinanzierungsG soll „die besondere Vertraulichkeit vorliegen, sofern bereits die Tatsache der Beratung oder Beschlussfassung geheim gehalten werden muss, um den Erfolg der Maßnahme nicht zu vereiteln“. Dies alleine genügt nach hiesiger Auffassung jedoch nicht. Im Einklang mit dem IntegratVG muss es sich bei diesen „Vertraulichkeits“Gründen auch um solche handeln, die von „wichtiger außen- oder integrationspolitischer“ Bedeutung sind.

IV. Verfassungsrechtliche Weiterentwicklung Die vorstehend skizzierten Entwicklungen belegen nicht nur das (weitere) Anwachsen eines exekutivischen Kompetenzprimats gegenüber der Legislative im Bereich der Europapolitik, sondern sie dokumentieren auch das Erfordernis, weitere verfassungsrechtliche Vorkehrungen zum Schutz der demokratischen Legislativbefugnisse zu schaffen. Mit anderen Worten: Der bisherige Lösungsansatz des Art. 23 GG muss nach hiesiger Auffassung weiter zugunsten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates ausgebaut werden. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass es um eine nicht nur kompetenzrechtliche Stärkung der Legislative als solcher gehen muss, sondern dass es auch um eine entsprechend effektive Lösung gehen muss. Schon die bisherige Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Europapo23 24

Vgl. näher hierzu Scholz, a.a.O., Rn. 151. Vgl. NJW 2012, 3148 ff.

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litik der Bundesregierung hat sich in vielfältiger Weise als wenig effektiv erwiesen. Dies liegt vor allem daran, dass europapolitische Regelungsgegenstände, die von den Organen der Europäischen Union, vor allem von der Kommission, aufgenommen werden und für die gemäß Art. 23 GG eine Beteiligung von Bundestag und Bundesrat gefordert ist, im Deutschen Bundestag in aller Regel allen thematisch möglicherweise zuständigen Fachausschüssen zugewiesen werden, ohne dass eine durchgreifende und vor allem auch zeitnahe Koordinierung erfolgt bzw. ermöglicht wird. Gerade vor diesem Hintergrund ist durch das Gesetz vom 21. 12. 1992 (BGBl. I S. 2086) die Regelung des Art. 45 GG eingeführt worden, derzufolge „der Bundestag einen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union bestellt“ (S. 1). Dieser Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ist als ständiger Ausschuss vorgesehen. Der Bundestag kann „ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Art. 23 GG gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen“ (S. 2). Nach der Verfassungsnovelle vom 13. 12. 2007 (BGBl. 2008 II S. 1038) heißt es weiter, dass der Bundestag „ihn (sc. den hiesigen Ausschuss) auch ermächtigen kann, die Rechte wahrzunehmen, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind“. Dies bedeutet, dass der Europa-Ausschuss des Bundestages voll an die Stelle des Plenums treten kann; er verfügt insoweit über die Zuständigkeit eines echten „Hauptausschusses“.25 Von dieser Ermächtigung hat der Deutsche Bundestag bisher jedoch keinen Gebrauch gemacht. Wie die Bestimmungen der §§ 93 – 93 b GO-BT belegen, verfügt der Europa-Ausschuss nach wie vor über keine entsprechend konstitutive „Hauptausschuss“-Zuständigkeit. Er steht nach wie vor neben den übrigen Fachausschüssen und wenn er eine Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung zu einem Unionsdokument abgeben will, so hat er – wie es ausdrücklich heißt – zuvor „eine Stellungnahme der beteiligten Ausschüsse einzuholen“ (§ 93 b Abs. 3 S. 1 GO-BT). In der Konsequenz hat dies dazu geführt, dass die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Europapolitik so, wie sie gemäß Art. 23 GG gewollt und gefordert ist, nach wie vor wenig effektiv ist. Oder anders ausgedrückt: Die Intention, die den Verfassungsgesetzgeber beim Erlass der Art. 23 und 45 GG geleitet hat, die Beteiligung des Bundestages an der exekutivischen Europapolitik möglichst effektiv und funktionstüchtig zu halten, sieht sich nach wie vor nicht realisiert. Anders und ungleich besser ist die Situation hinsichtlich der Mitwirkung des Bundesrates an der Europapolitik der Bundesregierung gemäß Art. 23 GG bestellt. Nach Art. 52 Abs. 3 a GG „kann der Bundesrat für Angelegenheiten der Europäischen Union eine Europa-Kammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten“. Von dieser Ermächtigung hat der Bundesrat Gebrauch gemacht (vgl. §§ 45 b ff. GO-BR).26 Auch darüber hinaus hat der Bundesrat erkannt, dass es nur über diesen Weg möglich ist, eine wirksame Beteiligung des Bundesrates bzw. der Bundesländer an der Europapolitik der Bundesregierung zu gewährleisten. Folgerichtig bestimmt § 45 a Abs. 2 GO-BR, dass „die Beteiligung mehrerer Ausschüsse an der Beratung einer Unterrichtung (über Vorhaben im Rah25 26

Vgl. näher Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 155, Art. 45 Rn. 1 ff. Vgl. näher Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 52 Rn. 26 ff.

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men der Europäischen Union) möglichst beschränkt werden soll. Dies gilt insbesondere für Unterrichtungen, deren Eilbedürftigkeit (§ 45 d Abs. 2 GO-BR) bereits zum Zeitpunkt der Zuweisung absehbar ist“. Damit ergibt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Bundestag und Bundesrat. Wo der Bundesrat von den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten einer effektiven Beteiligung an der Europapolitik der Bundesregierung wirksam Gebrauch gemacht hat, dort hat der Bundestag dies nach wie vor und leider unterlassen. Ein weiteres Problem ergibt sich noch aus den unterschiedlichen Kompetenzmaterien, die nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung einerseits dem Bund und andererseits den Ländern zugewiesen sind (vgl. Art. 72 ff GG). Diese innerstaatliche Kompetenzteilung korrespondiert keineswegs mit der europarechtlichen Kompetenzteilung zwischen der Europäischen Union einerseits und den Mitgliedsstaaten andererseits. Folgerichtig können bestimmte Regelungsgegenstände, die die Europäische Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aufnimmt oder zu regeln sucht, innerstaatlich auf unterschiedliche Kompetenzzuweisungen zwischen Bund und Ländern stoßen – mit der weiteren Konsequenz, dass sich auch hinsichtlich der Beteiligungsrechte von Bundestag einerseits und Bundesrat andererseits Komplikationen ergeben können. Hieran ändert auch die Regelung des Art. 23 Abs. 5 S. 1 – 2 GG nichts, derzufolge „die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates (auch) berücksichtigt, soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im Übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat“ (S. 1) bzw. derzufolge „bei der Willensbildung des Bundes die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen ist, wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind“.27 Es verbleibt dabei, dass europäische Regelungen, die innerstaatlich sowohl in den Kompetenzbereich des Bundes als auch in den der Länder fallen, gleichermaßen den Beteiligungsbefugnissen von Bundestag und Bundesrat unterfallen und demgemäß – im Verhältnis zur Europäischen Union – einer gemeinsamen oder koordinierten Stellungnahme bedürfen. Dies kann jedoch zu ebenso inhaltlichen wie zeitlichen Schwierigkeiten größten Ausmaßes führen – mit der Konsequenz, dass die Beteiligung der Legislative an Angelegenheiten der Europäischen Union insgesamt funktionsuntüchtig bleibt oder wird. Ein weiteres Problem stellt sich auf Seiten des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit den währungspolitischen Maßnahmen nach Maßgabe von ESMV und SKSV. Wie oben gezeigt, soll sich der Parlamentsvorbehalt für Entscheidungen im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus zum einen über das Plenum des Deutschen Bundestages und zum anderen über die Beteiligung seines Haushaltsausschusses realisieren (vgl. §§ 4, 5 ESM-FinanzierungsG). Hinzu kommt noch das genannte Sondergremium gemäß § 6 ESM-FinanzierungsG. Soweit es um Zuständigkeiten des Plenums des Deutschen Bundestages geht, stellt sich verfassungsrechtlich kein Problem. Anders sieht es jedoch mit den vorgesehenen Zuständigkeiten des 27

Vgl. dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 169 ff.

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Haushaltsausschusses bzw. des genannten „Sondergremiums“ aus. Das BVerfG hat diese Zuständigkeiten des Haushaltsausschusses zwar verfassungsrechtlich nicht grundsätzlich beanstandet.28 Es hat zum anderen aber darauf hingewiesen, dass „das Budgetrecht und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ des Deutschen Bundestages grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum wahrgenommen werden. „Eine selbständige und plenarersetzende Tätigkeit des Haushaltsausschusses darf demgemäß lediglich bei untergeordneten oder bereits ausreichend klar durch das Plenum vorherbestimmten Entscheidungen erfolgen“.29 Selbst diese Feststellung ist jedoch von wenig rechtlicher Klarheit und wird vom BVerfG auch selbst beispielsweise im Zusammenhang mit Maßnahmen gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 ESM-FinanzierungsG problematisiert; denn – wie das BVerfG mit Recht ausführt – hier „könnten dem Haushaltsausschuss Befugnisse zugewiesen sein, die wegen ihrer Tragweite vom Plenum wahrzunehmen sind“.30 Unabhängig hiervon stellt sich die verfassungsrechtliche Grundfrage, ob dem Haushaltsausschuss überhaupt solche konstitutiven Befugnisse zugewiesen werden dürfen. Denn nach der gegebenen Verfassungslage verfügt auch der Haushaltsausschuss nur über das Recht, die Entscheidungen des Bundestagsplenums zum Haushaltsplan und zur Haushaltswirtschaft vorzubereiten. Eine Delegation von auch nach außen wirksamen Entscheidungsbefugnissen des Plenums auf den Haushaltsausschuss ist verfassungsrechtlich im Grunde nicht vorgesehen. Dieser Problematik stellt sich das BVerfG aber in seiner bisherigen Rechtsprechung leider nicht. Das BVerfG geht ohne nähere Begründung davon aus, dass dem Haushaltsausschuss solche konstitutiven Entscheidungsbefugnisse vom Plenum des Deutschen Bundestages übertragen werden können.31 Für eine solche Regelung sprechen sicherlich wichtige allgemein- wie speziell-finanzpolitische Erfordernisse, ist das Plenum des Deutschen Bundestages doch mit Sicherheit nicht in der Lage, in sämtlichen hier einschlägig werdenden Regelungs- und Entscheidungsfragen selbst ebenso inhaltlich-kompetent wie zeitlich-effektiv tätig werden zu können. Aber dieses politische Argument führt über die verfassungsrechtliche Rechtslage nicht hinweg.32 Es bleibt bei der Frage, ob entsprechende Delegationen vom Plenum auf den Haushaltsausschuss verfassungsrechtlich statthaft sind. Wie vom BVerfG – insoweit durchaus mit Recht – zunächst festgestellt wird, gilt für das Recht des Deutschen Bundestages bzw. für das Demokratieprinzip allgemein die Regelung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, demzufolge das Parlamentsrecht vom „Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten an den Entscheidungen des Bundestages“ bestimmt wird.33 Dies bedeutet, dass grundsätzlich nur 28 Vgl. NJW 2012, 3148 ff.; siehe weiterhin BVerfG, DVBl 2012, 894 ff.; BVerfG, NVwZ 2012, 495 ff.; BVerfG, NJW 2011, 2946 ff. 29 Vgl. NJW 2012, 3149 ff. 30 Vgl. NJW 2012, 3149 ff. 31 Vgl. die Nachweise in Fn. 28. 32 Siehe hierzu auch Nettesheim, NJW 2012, 1409 (1410); Thym, JZ 2011, 1011 (1012); Moench/Ruttloff, DVBl 2012, 1261 ff. 33 Vgl. BVerfG, NJW 2012, 3149 ff.

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Plenarentscheidungen des Bundestages verfassungsmäßig sind. Auf der anderen Seite steht das verfassungsrechtlich ebenso relevante Rechtsgut der Funktionsfähigkeit des Parlaments.34 Zu deren Sicherung verfügt der Bundestag über seine Geschäftsordnungsautonomie gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG. Das BVerfG weist zwar darauf hin, dass diese Geschäftsordnungsautonomie bzw. dieses parlamentarische Selbstorganisationsrecht es nicht gestattet, „den Abgeordneten Rechte vollständig zu entziehen“.35 Deshalb sollen Aufgabenübertragungen auf Bundestags-Ausschüsse nach Maßgabe der GO-BT prinzipiell auf die Vorbereitung der Beratungen und Beschlüsse des Bundestagsplenums beschränkt sein.36 Andererseits weist das BVerfG auch darauf hin, dass das GG in einigen ausdrücklich vorgesehenen Fällen vorsieht, dass der Bundestag „Befugnisse zur selbständigen und plenarersetzenden Wahrnehmung auf Ausschüsse übertragen kann“.37 Offen bleibt dabei aber die Frage, ob dies auch ohne eine spezielle verfassungsrechtliche Ermächtigung durchgesetzt werden darf bzw. aufgrund der GO-BT statthaft ist. Das BVerfG beschränkt sich leider auf die lapidare Bemerkung, dass dies „hier keiner grundsätzlichen Entscheidung bedarf“.38 Dem kann indessen gerade im Hinblick auf die Regelungen im ESM-FinanzierungsG keinesfalls zugestimmt werden. Hier hätte es einer ausdrücklichen verfassungsgerichtlichen Entscheidung bedurft. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf die – zutreffende – Entscheidung des BVerfG vom 28. 02. 2012 zum EFSF, in der das BVerfG das sog. „Neuner-Gremium“, das hier sogar anstelle des Haushaltsausschusses finanzpolitische Entscheidungsbefugnisse erhalten sollte, für verfassungswidrig erklärt hat.39 Folgerichtig bedarf es einer grundsätzlichen Klärung bzw. Klarstellung im GG selbst, wann und unter welchen Voraussetzungen der Bundestag seine (Plenar-)Befugnisse auf einen Ausschuss oder ein sonstiges Untergremium delegieren darf.40 Nach der gegebenen Verfassungsrechtslage besteht eine solche Delegationsbefugnis für den Bundestag nur im Falle des Europa-Ausschusses gemäß Art. 45 S. 2 – 3 GG.41 Tatsächlich finden sich jedoch auch noch weitere Beispiele, in denen entsprechend verfahren worden ist, ohne dass das GG eine entsprechende Delegationsermächtigung ausdrücklich bereitgestellt hat.42 Dies gilt zum einen für den Verfassungsrichterwahlausschuss gemäß § 6 BVerfGG, der die nach Art. 94 Abs. 1 34

Vgl. dazu BVerfG, DVBl 89, 820 (822); BVerfGE 84, 304 (321 ff.); BVerfG, NJW 2012, 3149 ff. 35 Vgl. NJW 2012, 3152 ff. 36 Vgl. BVerfG, NJW 2012, 3150 ff.; siehe auch Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 40 Rn. 135 f. 37 Vgl. NJW 2012, 3158. 38 Vgl. NJW 2012, 3158. 39 Vgl. BVerfG, NVwZ 2012, 495 ff. 40 Vgl. dazu Moench/Ruttloff, DVBl 2012, 1261 ff.; Kasten, DÖV 1985, 222 ff.; Berg, Der Staat 1970, 21 ff.; Kreuzer, Der Staat 1968, 183 ff. 41 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 45 Rn. 7. 42 Vgl. z. B. Moench/Ruttloff, DVBl 2012, 1263 ff.

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S. 2 GG vom Bundestag zu wählenden Mitglieder des BVerfG von einem Wahlausschuss wählen lässt. Dies gilt zum anderen für die Übertragung der sog. Vorentscheidung in Immunitätssachen auf den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung gemäß Anlage 6 GO-BT. Danach sieht Nr. 7 des Beschlusses gemäß Anlage 6 GO-BT vor, dass der hiesige Ausschuss seine Vorentscheidung über die Aufhebung der Immunität im Einzelfall trifft und diese kraft Fiktion als Entscheidung des Deutschen Bundestages selbst gilt, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach Mitteilung schriftlich beim Präsidenten hiergegen Widerspruch eingelegt wird. Das Verfahren der (mittelbaren) Wahl von Bundesverfassungsrichtern hat das BVerfG für verfassungsmäßig erklärt;43 im Ergebnis nach hiesiger Auffassung zu Recht.44 Im zweiten Fall fehlt es, soweit ersichtlich, noch an einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG können Abgeordnetenrechte im Rahmen der Ausgestaltung parlamentarischer Geschäftsgänge über das Selbstorganisationsrecht des Bundestages „nur zum Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ vorgenommen werden.45 Es geht mit anderen Worten um eine Abwägung zwischen den originär-demokratischen Statusrechten der Abgeordneten einerseits und den Anforderungen zur Funktionsfähigkeit des Parlamentsbetriebes andererseits. In letzterer Hinsicht sind vor allem Gründe der Geheimhaltung oder der Eilbedürftigkeit von auch verfassungsrechtlicher Relevanz.46 Grenzen liegen mit Sicherheit aber überall dort, wo das GG schon selbst eine Entscheidung durch die „Mehrheit der Mitglieder des Bundestages“ im Sinne des Art. 121 GG vorsieht (vgl. z. B. Art. 61 Abs. 1, 63, 67, 77 GG).47 Eine weitere Grenze liegt mit Sicherheit dort, wo nach Maßgabe der sog. „Wesentlichkeitstheorie“ des BVerfG48 Entscheidungen dem Gesetzgeber vorbehalten sind.49 Unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit sind in prinzipiell statthaften Delegationsfällen jedenfalls Informationsrechte zugunsten der (übrigen) Abgeordneten zu reklamieren.50 Selbst diese Kriterien vermitteln aber noch keine wirkliche Rechtssicherheit. Mit anderen Worten: Es bedarf dringend einer klaren verfassungsgesetzlichen Aussage zu der Frage, ob, wann und unter welchen Voraussetzungen der Bun-

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Vgl. BVerfG, DÖV 2012, 733; BVerfGE 65, 152 (155 ff.). Vgl. Scholz, ZRP 2012, 191; a. A. Landfried, ZRP 2012, 191; kritisch auch Moench/ Ruttloff, DVBl 2012, 1268; Lammert, FAZ vom 18. 10. 2012, S. 6. 45 Vgl. NJW 2012, 3156 ff. 46 Vgl. BVerfG, a.a.O.; zur Geheimhaltung als Teil des Kernbereichs exekutivischer Kompetenzen vgl. allgemein bereits Scholz, Parlamentarische Demokratie in der Bewährung, S. 103 (142 ff.). 47 Vgl. Moench/Ruttloff, DVBl 2012, 1267. 48 Vgl. dazu u. a. BVerfGE 49, 89 (126); 61, 260 (275); 77, 170 (231); 80, 124 (132); 88, 103 (116); 108, 282 (311); 123, 39 (78). 49 Siehe auch Moench/Ruttloff, DVBl 2012, 1267 f. 50 Vgl. BVerfG, NJW 2012, 3156 ff. 44

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destag eigene konstitutive Entscheidungsbefugnisse auf bestimmte Ausschüsse oder sonstige Untergremien delegieren darf. Vorbild einer solchen verfassungsrechtlichen Regelung kann wiederum nur die Bestimmung des Art. 45 S. 2 – 3 GG sein. Was hier für den Europa-Ausschuss des Deutschen Bundestages ermächtigungsmäßig vorgesehen ist, sollte in vergleichbarer Form auch für alle anderen Fälle, in denen entsprechende Delegationsvorgänge in Frage stehen, kraft ausdrücklicher Verfassungsgesetzlichkeit vorgesehen werden. Dies gilt heute insbesondere für den Haushaltsausschuss. Die diesem über das ESM-FinanzierungsG zugewiesenen Entscheidungsbefugnisse bedürfen nach hiesiger Auffassung einer eindeutigen und ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Delegationsermächtigung. Diese sollte sehr rasch nach dem unmittelbaren Vorbild des Art. 45 S. 2 – 3 GG geschaffen werden. Hinsichtlich der Regelung des Art. 45 S. 2 – 3 GG selbst sollte der Deutsche Bundestag von der ihm hier vorgesehenen Delegationsbefugnis ebenso rasch bzw. endlich Gebrauch machen. Denn nur dann lässt sich eine wirkliche Effektuierung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages an der Europapolitik der Bundesregierung erreichen. Dies gilt auch für die sog. Subsidiaritätsklage gemäß Art. 23 Abs. 1 a GG, mittels derer der Deutsche Bundestag im Falle der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch einen Gesetzgebungsakt der Europäischen Union Klage beim EuGH erheben kann.51 Auch diese Kompetenz des Bundestages ist bisher praktisch leergelaufen. Wenn der Europa-Ausschuss jedoch die Ermächtigung des Art. 45 S. 3 GG erführe, würde sich hieran mit Sicherheit rasch etwas ändern. Das Plenum des Bundestages und all seine (sonstigen) Fachausschüsse sind jedenfalls nicht imstande, eine entsprechende Subsidiaritätskontrolle europäischer Rechtsakte wirksam und mit der gebotenen fachlichen Konsequenz durchzuführen. Hinsichtlich der oben angesprochenen Kompetenzprobleme zwischen Bundestag und Bundesrat bei der Wahrnehmung der diesen zustehenden Beteiligungsrechte an der Europapolitik der Bundesregierung gemäß Art. 23 GG sollte ebenfalls an eine neue bzw. zusätzliche verfassungsrechtliche Regelung gedacht werden. Wie gezeigt, bedarf es hier einer Entscheidungsinstanz, die dann wirksam werden kann, wenn eine von den Organen der Europäischen Union in Angriff genommene Regelung innerstaatlich ebenso Kompetenzen des Bundes wie solche der Länder berührt. Die sich hier offenbarende Kompetenzproblematik zwischen Bundestag einerseits und Bundesrat bzw. Europa-Kammer des Bundesrates andererseits bedarf einer schlichtenden Instanz, die beiden Seiten gerecht zu werden vermag. Ein Vorbild hierfür könnte der Gemeinsame Ausschuss gemäß Art. 53 a GG sein, der für den Verteidigungsfall ein für Bundestag und Bundesrat gemeinsames, freilich nicht paritätisch besetztes Entscheidungsgremium darstellt. Einen solchen Gemeinsamen Ausschuss sollte man auch für die Europapolitik einführen, wobei dieser Gemeinsame Ausschuss allerdings paritätisch von Bundestag und Bundesrat zu besetzen wäre. Dieser Gemeinsame Ausschuss könnte sich beispielsweise aus Mitgliedern des Bundestags51

Siehe dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 112.

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ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union einerseits und Mitgliedern der Europa-Kammer des Bundesrates andererseits zusammensetzen, die in entsprechender Parität in solchen Fällen zur Entscheidung berufen wären, in denen sich Kompetenzüberschneidungen zwischen Bund und Ländern im Rahmen der Beteiligungsverfahren nach Maßgabe des Art. 23 GG ergeben. Folgerichtig sollte in den Tatbestand des Art. 23 GG die Möglichkeit eines solchen Gemeinsamen Ausschusses aufgenommen werden (konkret im Rahmen des Art. 23 Abs. 5 GG). V. Fazit Je mehr die Europapolitik zu einer Form supranational bestimmter Innenpolitik wird, je weiter die Europapolitik sich also von der ursprünglichen Außenpolitik entfernt, desto mehr bedarf es der verfassungsrechtlichen Reaktion. Vor allem die Rechte des Deutschen Bundestages müssen gegenüber dem wachsenden supranationalen Exekutivprimat gestärkt werden. Möglichkeiten hierzu bietet namentlich die Delegationsermächtigung des Art. 45 S. 2 – 3 GG; aber von dieser Ermächtigung muss endlich Gebrauch gemacht werden. Auch für das Verhältnis von Bundestag und Bundesrat sind weitere effektuierende Beteiligungsvorkehrungen im Rahmen des Art. 23 GG notwendig. Insbesondere bedarf es aber einer verfassungsrechtlichen Regelung für die gewachsenen Delegationsbefugnisse des Haushaltsausschusses im Rahmen jener Maßnahmen, die zur Überwindung der Euro-Krise auf europäischer Ebene getroffen wurden und für die sich leicht vorhersagen lässt, dass sie nicht das letzte Wort auf dem Wege zu einer europäischen Fiskalunion bleiben werden. Des Weiteren sollte das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat im Rahmen der Beteiligungsrechte gemäß Art. 23 GG institutionell verstärkt werden („Gemeinsamer Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union“).

Das Recht der Integrationsgemeinschaft Europäische Union Von Rainer Wahl* I. Historisierung des Europarechts 1. Die schwach ausgebildete geschichtliche Reflexion im Europarecht Das mehr als 60 Jahre alte Grundgesetz und sein Verfassungsrecht sind in den letzten Jahren mehrfach historisiert worden, zuletzt durch die große, rasch zum Standardwerk gewordene Gesamtdarstellung von Michael Stolleis.1 Die lange Geltungsdauer des Grundgesetzes – die längste in der neueren Verfassungsgeschichte – legte es nahe, dessen langen Entwicklungslinien, seinen Strukturen und den tragenden Instituten auf ihrem Weg von 1949 in die Gegenwart nachzugehen und zu einer vergleichenden Gesamtbeurteilung des GG im Rahmen der deutschen und der europäischen Verfassungsgeschichte zu kommen. Erstaunlich ist demgegenüber, dass die Geschichte des Rechts der EU weniger Aufmerksamkeit gefunden hat. Dabei ist die EWG/EG/EU auch schon über 55 Jahre alt. Eine ihrer wichtigsten Institutionen, der EuGH, konnte am 4. Dezember 2012 bereits sein 60. Jubiläum feiern, weil er schon als Gericht der 1952 gegründeten Montanunion entstanden war.2 * Der Text schließt an meinen Aufsatz: Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013 (im Erscheinen) an, in dem das Konzept des besonderen Entwicklungspfades für das deutsche Öffentliche Recht nach 1949 entwickelt worden ist. Bei der Übertragung dieses Ansatzes auf das Recht der EWG/EG/EU haben sich so viele diskussionsbedürftige Probleme und Fragen gestellt, dass hier aus Raum- und Zeitgründen dem Text der Vorzug gelassen wurde; die Anmerkungen beziehen sich im wesentlichen auf Nachweise von Zitaten und der direkt in Bezug genommenen Literatur. Eine breitere Auseinandersetzung mit der Literatur bleibt einer künftigen vergleichenden Darstellung des deutschen und des europäischen Rechts in der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive überlassen. 1 Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Bd. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost. 1945 – 1990, 2012; außerdem Rainer Wahl. Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006; ders, Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013, (im Erschein); Jörn Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 2009; sowie die Beiträge in: Schönberger/Jestaedt/Lepsius/Möllers, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2012. 2 Im weiteren Text ist das Recht der EMRK ausgeklammert. Wenn gleichwohl zuweilen das Recht der EWG/EG/EU als Europarecht und europäisch bezeichnet wird, dann geschieht dies aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung.

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Überraschend ist es, dass im Europarecht die geschichtliche Dimension wenig beachtet wird und wenig Gewicht hat; immerhin hatte „Europa“ auf dem Weg von der EWG über die EG zur EU eine bewegte Geschichte über mehrere Phasen hinweg, wie schon die Namensänderungen zum Ausdruck bringen. Mit ihrem Leitbegriff der Integration ist das Werden und Wachsen und immer Weiterwachsen schon von Anfang an der neuen Gemeinschaft eingeschrieben. War und ist die EU in hohem Maße entwicklungsgeprägt, ist Historisierung als Methode und Zugang zum Recht der EU von vornherein nahegelegt. Ein entwicklungsgeschichtliches Denken ist der politischen Gemeinschaft EWG/EG/EU und ihrem Recht mehr als bei vielen anderen Rechtsordnungen angemessen. Dabei können geschichtliche Analysen einer Rechtsordnung durchaus unterschiedliche Ansätze verfolgen. Insofern ist auch die Geschichte des Öffentlichen Rechts der Bundesrepublik3 oder der Europäischen Union pluralistisch, es gibt verschiedene Zugänge und unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Im Folgenden werde ich, wie schon für das deutsche Öffentliche Recht nach 1949,4 eine Variante historischen Denkens für das Europarecht fruchtbar machen, nämlich eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive. 2. Das Konzept der Entwicklungsgeschichte im Abriss Die hier verfolgte Variante einer (Entwicklungs)Geschichte interessiert sich nicht für die Gesamtheit der Rechtsfiguren, Rechtsinstitute und grundlegenden Rechtsprinzipien einer Rechtsordnung, sondern nur für einen Ausschnitt von ihnen, nämlich für die Eigenarten und strukturgebenden Instituten oder Figuren, die die Individualität einer Rechtsordnung begründen und deshalb auch die Unterschiede zu anderen Rechtsordnungen ausmachen. Eigenarten kennzeichnen eine spezifische Rechtsordnung und durch sie unterscheiden sie sich. Deshalb interessieren am europäischen Recht neben den Gemeinsamkeiten (gemeinsame Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten) auch seine Besonderheiten im Verglich zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Eine leitende Vorstellung der Entwicklungsgeschichte ist es, dass solche Eigenarten nicht zufällig so geworden sind, wie sie sind, sondern dass sie in geschichtlichen Prozessen und vielfältigen Kontexten geformt und einige zu bestimmenden Bestandteilen auch noch des geltenden Rechts geworden sind. Deshalb sind solche Eigenarten auch in der Gegenwart wirksame Faktoren. Eine an dieser Stelle nicht weiter begründete Prämisse der weiteren Überlegungen ist es, dass es in der weiten Welt des Rechts sowohl Gemeinsamkeiten und also ähnliche Strukturen

3 Deshalb kann es verschiedene Geschichten des Öffentlichen Rechts geben. Das Werk vom Stolleis (Fn. 1) hat Schwerpunkte in der Geschichte der Staatsrechtslehre, der Institutionen und der Staatsrechtslehrer als individuelle Wissenschaftler; der Text und seine Vorarbeiten bemühen sich dagegen um die Geschichte des inhaltlichen Rechts, der Rechtsfiguren und Rechtsinstitute, kurz der Eigenarten des deutschen Staats- und Verfassungsrechts. 4 Wahl, Herausforderungen (Fn. 1); ders., Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013 (im Erscheinen).

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als auch bedeutsame Unterschiede gibt.5 Das Recht und alle Rechtsordnungen sind Kulturerscheinungen. Deshalb sind die rechtsbildenden Faktoren nicht überall die gleichen. Sie wirken sich auch nicht gleich aus, sondern sie differieren gemäß der spezifischen gesellschaftlichen, geschichtlichen, wirtschaftlichen und kultureller Eigenarten. Solche Eigenarten einer Rechtsordnung führen zu bestimmten Grundvorstellungen über wichtige Themen des Rechts, wie etwa die Bedeutung des Verfahrens6 oder über die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung oder über die unerlässliche, aber immer prekäre Abgrenzung von Recht und Politik.7 Zu letzterem gehören etwa grundsätzliche und grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen darüber, wie (Verfassungs)Recht auszulegen ist, damit der Handlungsspielraum des Parlaments oder der Verwaltung nicht übermäßig eingegrenzt wird. Dahinter stehen wenig explizit und wenig exakt ausgesprochene Vorstellungen darüber, wie weit die Kompetenzen von (Verfassungs)Gerichten gegenüber der Politik reichen sollen.8 Bei den genannten Beispielen handelt es sich um Grundfragen, die in jeder Rechtsordnung auftreten und die – das ist die These – keineswegs überall gleich entschieden werden, mehr noch: Die unterschiedlichen Antworten der verschiedenen Rechtsordnungen zu diesen Problemkreisen konstituieren und prägen die Besonderheiten und Eigenarten eben dieser Rechtsordnungen. Und genau der Analyse solcher Eigenarten und ihrer inneren Zusammengehörigkeit geht das entwicklungsgeschichtliche Denken nach, mit dem Ziel spezifische Entwicklungspfade der einzelnen Rechtsordnungen zu identifizieren (dazu unten V.). Der Begriff Entwicklungspfad stammt aus den Wirtschaftswissenschaften. Im weiteren Text wird nur der Begriff, nicht aber das wirtschaftswissenschaftliche Theo-

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Mit dem Ziel, Eigenarten und Unterschiede zu beobachten, stehen die weiteren Ausführungen durchaus im Gegensatz zu dominanten Gegenwartsströmungen. Diese richten sich vielfach auf die Beobachtung von Vereinheitlichung im Raum der EU und – als deren Vorstufe – auf mögliche Gemeinsamkeiten in den europäischen Rechtsordnungen. Zu wenig wird dabei beachtet, dass sich Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsordnungen aus dem Methoden- und Interpretationsverständnis und überhaupt aus dem Rechtsverständnis ergeben (wie weit reicht die Kompetenz der Gerichte, nur zum Auslegen oder auch zur (weiten) Rechtsfortbildung?). 6 Insoweit gibt es hinreichend große Unterschiede zwischen dem englischen Recht und dem deutschen, denen verschiedene Grundvorstellungen von der Bedeutung des Verfahrens zugrunde liegen. 7 Dazu beispielhaft und treffend für die im Text behandelten Probleme Frank Schorkopf, Der Europäische Weg, 2010, S, 115: „Dass Recht der Politik Grenzen setzt, ist auch in der EU eine unbestrittene Regel. Doch der Grenzverlauf zwischen beiden Systemen ist ein anderer als in der deutschen Rechtsordnung.“ 8 Wenn ein deutscher Verfassungsrichter im Rahmen einer Tagung in London über seine zuletzt entschiedenen Fälle berichtet, kann er leicht erstaunt-entsetzte Reaktionen seiner Kollegen vom englischen Supreme Court hören, die nie daran dächten, solche Fälle als Fragen des Rechts zu verstehen.

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riekonzept als solches übernommen.9 Ein juristischer Entwicklungspfad entsteht, wenn und weil verschiedene Eigenarten im Recht ein Ganzes bilden, weil ihnen eine die einzelnen Eigenarten verbindende Vorstellung zugrunde liegt.10 Deshalb werden die Entwicklungen des Rechts und der Rechtsordnungen nicht nur von der neueren Großtendenz der Konvergenz, sondern auch von den bleibenden Unterschiedlichkeiten des Rechts mitbestimmt, die aus den je spezifischen kulturellen Faktoren resultieren.11 3. Das entwicklungsgeschichtliche Denken auf der Ebene des EU-Rechts Die entwicklungsgeschichtliche Reflexion ist in besonderer Weise beim EURecht angezeigt. Die EU als sich in der Zeit fortentwickelnde und vertiefende Integrations-Gemeinschaft ist in besonderer Weise der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive geöffnet und für einen solchen Ansatz prädestiniert. So könnte man denken; tatsächlich aber ist der 55 Jahre lange Weg der EWG/EG/EU von geschichtlicher (Selbst)Reflexion im Europarecht nicht gerade gepflastert.12 Von Bedeutung ist dabei, dass die Entwicklungsgeschichte nicht aus grauer Vorzeit und nicht im Stil: „Es war einmal“ erzählt, sondern sie berichtet: „Von dem, was damals begonnen hat, ist heute im geltenden Recht noch vieles wirksam.“ Und genau diese Brücke von der Entstehung und von früheren Phasen zur Gegenwart zu schlagen, ist bei jeder Reflexion über die EU unverzichtbar. Schon die Abfolge der Namen: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft, Europäische Union zeigt eine politische Einheit, die sich häufig verwandelt hat, deren Recht aus den Schichten der verschiedenen Phasen besteht. Es kommt hinzu, dass die EU eine immer in (Weiter)Entwicklung befindliche politische Einheit war und dass für sie das Entwicklungsmoment geradezu konstitutiv ist. Insofern ist das Nachdenken über die EU fast notwendigerweise eine Reflexion über ihre Geschichte und – bezogen auf das Recht – die Entwicklungsgeschichte ihres Rechts. Die These von der notwendigen oder jedenfalls angemessenen entwicklungsgeschichtlichen Perspektive auf das Recht der EU steht in starkem Kontrast zur vorherrschenden Sichtweise der europarechtlichen Literatur, jedenfalls in deren dominie9

Offen soll bleiben, ob die Parallele zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaft an dieser Stelle auch inhaltliche Früchte trägt. 10 Dazu am Beispiel des Grundgesetzes (u. a. hoher Verrechtlichungsgrad) unten V. 1. 11 Das differiert natürlich in den einzelnen Rechtsgebieten: Das Wirtschaftsrecht ist eher an möglichst weltweiter Vereinheitlichung interessiert, aber schon die Reaktion auf den – ebenfalls weltweiten – Terrorismus fällt in den verschiedenen Rechtsordnungen und Rechtskulturen unterschiedlich aus 12 Als Ausnahmen seien hervorgehoben Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, 2. Aufl. 2007; Frank Schorkopf, Der Europäische Weg, 2010 und Anna Katharina Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht. Die Europäisierung der deutschen Rechtsordnung in historisch-empirischer Sicht, 2011.

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rendem Teil, der sich in stark positivistischer Weise mit dem geltenden Recht beschäftigt. Die historische Dimension oder die Selbst- Historisierung spielt ein geringe Rolle. Natürlich wird auf die Entstehungsgeschichte der EWG und der einzelnen Phasen eingegangen, aber zumeist als ein vom heutigen geltenden Recht weitgehend abtrennbarer Anfangs-Zustand. Die Fragestellung, ob Weichenstellungen aus der Anfangszeit auch noch das heutige geltende Recht (und die Europapolitik) prägen und zum Teil determinieren, wird kaum verfolgt.13 Im Text wird dagegen eine Gegenposition vertreten und eine Verbindung zwischen der Entwicklungsgeprägtheit der EU einerseits und dem in ihm vorherrschenden Rechtsverständnis, das angesichts dieser Eigenarten einen stark evolutiven oder evolutionistischen Charakter angenommen hat, andererseits hergestellt. II. Die Erfolgsgeschichte des Rechts der EWG/EG/EU 1. Die Ausbildung der neuen Rechtsordnung als Erfolgsgeschichte Eine Erfolgsgeschichte ist die Herausbildung und Konsolidierung einer eigenen und neuen Rechtsordnung allemal, auch wenn diese auszeichnende Vokabel für das europäische Recht längst nicht so häufig vergeben wird wie für die Verfassungs- und Rechtsordnung der Bundesrepublik. Eine Erfolgsgeschichte war zunächst auch die neue supranationale Gemeinschaft selbst. Hatte am Anfang die Erinnerung an die jahrhunderte langen innereuropäischen Kriege ein wichtiges Ferment der Zusammenhalts gebildet, so ist es in der Gegenwart, trotz (Finanz)Krise, am Ende doch die Einsicht oder die Furcht der Politiker, der Völker und der einzelnen, dass jeder der Mitgliedstaaten allein für sich genommen nur noch eine marginale Rolle in der Welt spielen könnte (das gilt auch für die ehemaligen Großmächte Vereinigtes Königreich und Frankreich). Von einer Erfolgsgeschichte ist darüber hinaus und vor allem im Bereich des Rechts zu sprechen, geht es doch um den Auf- und Aasbau einer völlig neuen und eigenständigen Rechtsordnung von Null auf ein hohes Niveau. Das „europäische Recht“ der EU umfasst alles, was Recht ist.14 Von den frühen Tagen der EWG an hat die neue Gemeinschaft rasch und erfolgreich eine eigene Rechtsordnung aufge13

Dass die damalige EWG als Ersatz oder Umweg für den gerade gescheiterten Doppelplan: EVG und Politische Union verstanden worden ist, wird für die Entstehungsgeschichte der EWG, für das Jahr 1957 durchaus vermerkt. Dass dies aber eine durchgehende Eigenart der EU begründet haben könnte, wird nicht in Erwägung gezogen: Das Umweghafte als ein dauerhafter Modus und als ein dauerhaftes Kennzeichen der neuen Gemeinschaft wird nicht in Erwägung gezogen. 14 Ausführlich zu den unterschiedlichen „Dimensionen“ des Rechts und zum Folgenden Wahl, Europäisierung: Die miteinander verbundenen Entwicklungen von Rechtsordnungen als ganzen, in: Hans-Heinrich Trute/Thomas Groß/Hans Christian Röhl/Christoph Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 869 ff., 877 – 879, 889 – 897.

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baut. Das EU-Recht präsentiert sich schon lange nicht mehr nur als eine große Anzahl von Rechtsvorschriften – die oft zitierte und bespottete Zahl und Detailliertheit von „Brüsseler Vorschriften“ –, sondern als eine eigene selbständige Rechtsordnung. Diese hat alles hervorgebracht, was zum Recht gehört: Regeln, Rechtsvorschriften, Rechtsinstitute, Rechtsfiguren, Methoden und Auslegungsgrundsätze, ein eigenes Rechtsverständnis, Gerichte und eine europäische Rechtspraxis. An dieser ganzen Entwicklung überrascht nur eines, dass sie von den Beobachtern und den einzelnen in den Mitgliedstaaten als so selbstverständlich genommen wurde. Sieht man näher hin, handelte es sich um eine Staunen erregende Entwicklung, nämlich zur Ausbildung einer vollständigen neuen Rechtsordnung in sehr rascher Geschwindigkeit. Dieses Ereignis, dass eine völlig neue Rechtsordnung entsteht, kommt nicht so oft vor. In Deutschland mag man an die Entstehung des Reichsrechts nach 1871 denken, als zu den vorhandenen, in längerer Zeit ausgereiften Landesrechten das Recht der neuen größeren deutschen Einheit hinzu kam. Schon bei einem überschlägigen Vergleich wird man aber nicht verkennen, dass damals die Ausgangssituation insofern leichter war, als die Landesrechte in ihrer Rechtskultur homogener waren als dies bei den Mitgliedstaaten der EWG um 1958 und danach der Fall. Trotz aller gemeinsamer Verfassungstraditionen und vergleichbarer Rechtsvorstellungen in den Mitgliedstaaten streuten die Alternativen und Eigenarten der europäischen Rechtsordnungen stärker. 2. Die EU als Rechtsgemeinschaft a) Als wichtiger Bestandteil einer Entwicklungsgeschichte des Rechts ist vorab die Bedeutung des Rechts für die neue politische Gemeinschaft zu bestimmen. Schon in der EWG musste das Recht einen besonderen Stellenwert haben, da die Schaffung einer völlig neuen Einheit nur durch (Völker)Recht geschehen konnte. Noch größer war der Bedarf nach Recht, weil die EWG anders als die Montanunion in immenser Weise auf Rechtsetzung ausgerichtet war. Gerade als eine Gesetzgebungs-Einheit auf supranationaler Basis war die EU völlig neuartig Die Erfolgsgeschichte auf dem Feld des Rechts hat schon früh einen prägnanten Ausdruck in der auf Walter Hallstein zurückgehenden und weit verbreiteten Qualifizierung der EWG als einer Rechtsgemeinschaft gefunden.15 Der Begriff ist ein stol15

Erstmalig wohl in der Rede Walter Hallsteins „Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft“ von 1962 zur Ehrenpromotion in Padua, abgedruckt in: Oppermann, Thomas/Kohler, Joachim (Hrsg.), Walter Hallstein: Europäische Reden, 1979, S. 343 ff.: später ders., Der unvollendete Bundesstaat: Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, 1969, S. 33. sowie auch ders., Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. (1979), S. 51 – 77. – Zur Begriffsgenese Manfred Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 (546), sowie insgesamt zum Konzept der „Rechtsgemeinschaft“; Franz C. Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Gunnar F. Schuppert/Maurizio Bach/Ingolf Pernice (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 429 (bes. 430 m. Fn. 1), sowie Schorkopf (Fn.12), S. 116 ff.; Haltern (Fn. 12), S. 169 ff. (unter dem Titel: Rule of law in Europa).

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zer Ausspruch darüber, dass das, was die EU zusammenhält, nicht Macht oder Gewaltanwendung sei, sondern das Recht16, dass die Treue zu den Verträgen, die sich im Alltag in der Befolgung der EU-Rechtsetzung zeige, entscheidend sei. Zum Ausdruck kommt darin auch, dass das Medium Recht in der EU eine bedeutsame, vielleicht noch größere Rolle als in den Staaten spielt.17 Was das Fehlen der spezifischen Gewalt–Instrumente, also des Militärs, der Polizei und ein Zwangsvollstreckungsapparat betrifft, so ist eine Klarstellung oder eine Ergänzung angezeigt. Zutreffend ist, dass die EU nicht über die typischen GewaltInstrumente wie die Staaten verfügt. Die Abwesenheit von Gewalt im Recht in Europa kann aber nur der proklamieren und loben, der beim Stichwort Europa nur an die EU denkt. Dies aber ist verkürzt: „Europa“, das sind die EU und die Mitgliedstaaten zusammen. Europa ist eine Gesamtkonstellation aus EU und den Mitgliedstaaten. Sieht man dies so – und man muss dies so sehen –, dann kann von Abwesenheit von Gewalt und Fehlen von Machtinstrumenten, überhaupt vom Gewaltmonopol der öffentlichen Herrschaft, keine Rede sein. Die Durchführung des Gewaltmonopols zur Durchsetzung des Rechts, endend z. B. in der Zwangsvollstreckung durch den von der Polizei begleiteten Gerichtsvollzieher, gibt es natürlich in „Europa“, – jedoch bei den Mitgliedstaaten. Aber ohne diese Instrumente der Mitgliedstaaten wäre das Recht der EU ohne Durchsetzungsinstrumente. Und ohne solche Durchsetzungs- und Sanktionsinstrumente war und ist Recht nicht effektiv. Auch was die Gewalt nach außen betrifft, so ist in der EU der Menschheitstraum von einem gesellschaftlichen Zusammenleben ohne Gewalt nicht Wirklichkeit geworden. Offensichtlich gibt es die Gewaltinstrumente, nur liegen sie bei den Mitgliedstaaten bzw. bei einer eigenen internationalen Organisation NATO, sie sind aber im Raum Europas vorhanden, wie es immer war. 3. Abstufungen in der Erfolgsgeschichte Eine Erfolgsgeschichte ist das europäische Recht nicht auf seiner ganzen Breite. Es hat nämlich bedeutsame Binnendifferenzierungen und unterteilt sich in mindestens drei Rechtskreise. a) Der erste umfangreichste und am meisten behandelte Rechtskreis ist das föderale Rechtsverhältnis zwischen der EU mit ihrer eigenständigen Rechtsordnung und den Mitgliedstaaten. Die Rechtsgemeinschaft EU, die ohne eigene Durchsetzungsinstrumente ist, muss wegen der Unvollständigkeit ihres Rechts18 ein direktes 16 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist in dreifacher Hinsicht ein Phänomen des Rechts: Sie ist Schöpfung des Rechts, sie ist Rechtsquelle und sie ist Rechtsordnung, so die Formulierung von Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33 f. 17 Ein wichtiger Vorbehalt ist zu machen. Das Recht bedarf auch in der EU, eigentlich gerade in ihr, der Akzeptanz durch die letztlich betroffenen Adressaten, also die Bürgerinnen und Bürger. Das Unionsrecht kann sein Potential nicht ausschöpfen, wenn die Union selbst nicht genügend bei den Bürgerinnen und Bürger ankommt. 18 Zur strukturellen Unvollständigkeit des Rechts der EU Wahl, Die Rechtsbildung in Europa als Entwicklungslabor, JZ 2012, 861, 868, 869.

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Rechtsverhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten ausbilden (Umsetzungsund Durchsetzungsrechtsverhältnis). Das Europarecht ist voll von den Konflikten, die sich aus diesem Verhältnis ergeben und die Entscheidungsbände des EuGH ausfüllen. Bezogen auf diese Rechtsverhältnisse ist der Erfolg der EU groß und wiederum staunenswert. Der Vorrang des EU-Rechts ist durchgesetzt. Kein Mitgliedstaat und kein mitgliedstaatliches Gericht hatten bisher Erfolg, wenn es gegen die Rechtsprechung des EuGH oder gegen den Vorrang angegangen ist. Hier kann die Normalität des Rechtes beobachtet werden: was strittig ist, wird von einem Gericht entschieden und durchgesetzt. Die EU hat dieses Rechtsverhältnis sozusagen perfekt im Griff. Die Effektivität in diesem Rechtsverhältnis bleibt hinter Effektivitätsniveaus in den Staaten in keiner Weise zurück. Ein Vorbehalt ist wichtig: Das EURecht ist in seinem Vorrang effektiv, sofern es um das law in the books geht. Das law in action oder law in practice in den Mitgliedstaaten kann von den Schreibtischen in Brüssel aus nicht gesehen werden und Abweichungen nicht erkannt werden. b) Eine ähnliche Erfolgsgeschichte gibt es dagegen in dem föderalen Grundverhältnis zwischen der EU und den Verfassungen der Mitgliedstaaten nicht zu beobachten. In diesem Grundverhältnis ist immer noch umstritten, ob sich der Vorrang des Gemeinschaftsrechts und insb. seines Sekundärrechts auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten erstreckt oder nicht. Die in diesen Streit verwendeten Begriffe „Letztentscheidungsbefugnis“ und „ausbrechende Rechtsakte“ zeigen mit aller Deutlichkeit, dass es hier um zentrale Probleme, auch um Machtprobleme und nicht nur um die Auslegung des einen oder anderen Begriffs geht.19 Es handelt sich um einen Dissens, der geeignet ist, die EU-Rechtsordnung an ihrer Basis zu verunsichern und ihren Erfolg zu relativieren, jedenfalls dann, wenn man mit der dort bestehenden Schwebelage nicht klug umgeht. c) Im dritten Rechtskreis geht es um die Kontrolle der obersten Organe einer politischen Einheit. Das Anspruchsniveau, das die Verfassungsstaaten in der zweiten Hälfte des 20. Jh. insofern durch die Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeiten gelegt haben, ist dem Grundsatz nach recht hoch; es schlägt sich in der Vorstellung einer Art acquis constitutionel aus. Es gehört zur Normalausstattung eines VerfassungsStaates, dass es eine Verfassungsgerichtsbarkeit und damit eine rechtliche Bindung der obersten Verfassungsorgane sowie eine gerichtliche Kontrolle gibt. Was für die Staaten gilt, muss nicht unbedingt auf die EU übertragen werden. Sicher ist nur, dass das Fehlen eines solchen Gerichtschutzes auch und gerade gegenüber der Rechtsetzungstätigkeit der EU als beachtliches Defizit empfunden werden kann. Es ist naheliegend, dass die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten erwarten, dass sie gegenüber den vergleichbar eingreifenden Rechtsetzungsakten der EU in einer ähnlichen Weise gerichtliche Kontrolle anrufen können wie gegenüber der Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten. Diese Erwartungen treffen nun auf ein gegensätzliches Rollenverständnis des EuGH. Er sieht sich primär als Gericht gegenüber den Mit19 Nachweise dazu bei Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat Bd. 48 (2009), S. 587, 591 ff.

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gliedstaaten im Umsetzungsverhältnis, und nur in sehr geringem Maße als „Verfassungsgericht“ gegenüber den politischen Organen der EU selbst.20 Für den Betrachter ergibt sich demnach das folgende Bild: Der EuGH ist ein scharfer und entschlossener Hüter des EU-Rechts im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, also konkret gegenüber deren Parlamenten. Der EuGH ist aber gleichzeitig ein sehr zögerlicher, wenig entschlossener und insgesamt eher defizitäres Gericht im Verhältnis zu den politischen Hauptorganen der EU. Die Normsetzung der EU wird kaum an den materiellen Grundsätzen des Primärrechts geprüft. Es kann nicht ausbleiben, dass die einzelnen in den Mitgliedstaaten diese Rechtslage als ein schwerwiegendes und bedenkliches Defizit ansehen. Der EuGH erscheint im Hinblick auf Normenkontrollen gegenüber dem EU-Recht, als ob er eine Kontrollhemmung gegenüber den politischen Organen der EU hätte, während ihm der Vorwurf der Rechtsverletzung gegenüber den Parlamenten der Mitgliedstaaten leicht fällt. Denn dass die Organe der EU die Rechtsetzung in so viel unbezweifelbarer Weise als die mitgliedstaatlichen Parlamente durchführen, darf als Erklärung mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Jedenfalls ist dies ein zweites Feld und Rechtsverhältnis, bei dem von einer Erfolgsgeschichte nicht gesprochen werden kann. III. Kategorien der Entwicklungsgeschichte Mit jeder Entwicklungsgeschichte einer konkreten Rechtsordnung ist eine Historisierung des geltenden Rechts verbunden. Für sie gilt wie für jede geschichtliche Betrachtung, dass es nicht nur eine Perspektive, sondern mehrere Zugänge zu den Themen gibt. Deshalb empfiehlt es sich, die bisher implizit verwendeten Leitvorstellungen der hier vorzustellenden Entwicklungsgeschichte ausdrücklich darzulegen und eigene Kategorien zu bilden, mit deren Hilfe die Entwicklungsverläufe von Rechtsordnungen oder von einzelnen ihrer Rechtsinstituten beschrieben werden können. Die Hauptkategorien eines entwicklungsgeschichtlichen Denkens sind, wie an anderer Stelle dargelegt:21 die Gründungs- bzw. Anfangsphase einer Rechtsordnung, Weichenstellungen sowie Entwicklungssprünge und das Konzept des Entwicklungspfad. Am Europarecht sollen diese Kategorien der juristischen Entwicklungsgeschichte in der Absicht exemplifiziert werden, einige Eigenarten und Besonderheiten dieser ab 1958 neu entstandenen Rechtsordnung herauszuarbeiten. Dies kann jedoch nicht flächendeckend, sondern nur sehr selektiv geschehen.

20 Grundsätzlich bejaht von EuGH Rs. 294/83, Slg.1986, 1339- Les verts: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist „eine Rechtsgemeinschaft der Art … dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag stehen“. Der normative Anspruch auf Kontrolle ist damit formuliert; auf einem anderen Blatt steht, ob und wie eine solche Kontrolle tatsächlich geübt wird. 21 Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013.

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IV. Die Gründungsphase 1. Ein Anfang von Null aus Eine neue politische Gemeinschaft bedarf einer ausgeprägten und expliziten Gründungsphase und sie hat sie im Falle der ersten Jahre der EWG auch gehabt, mit großen Höhen und neuen Entwürfen, auch mit einigen Besonderheiten, die weitere Fragen stellen. So viel Anfang gab es selten. Die ersten Jahre der EWG sahen den schon erwähnten Aufbau einer völlig neuen Rechtsordnung, eine Entwicklung von Null zu einer ausgereiften Rechtsordnung als Ganzer. Aber – und dies ist eine zweites Kennzeichen – diese staunenswerte Entwicklung spielte sich über längere Zeit quasi im Verborgenen ab.22 Die öffentliche Aufmerksamkeit in den sechs Gründungsstaaten war vom Werden der EWG kaum berührt; es gab viele andere politische Themen, die EWG wurde als relativ schmaler wirtschaftsbezogener Sektor in der öffentlichen Gesamt-Agenda eingeschätzt – und tatsächlich wurde der Ost-West-Gegensatz mit allen seinen Verästelungen politisch wichtiger eingeschätzt als das Heranwachsen der EWG. Die Gründungsphase23 ist charakterisiert zum einen durch den epochaler Aufbau einer neuen Gemeinschaft, die rasch den Sprung von einem völkerrechtlichen Verein zu einer veritablen supranationalen Gemeinschaft machte, und zum zweiten durch das schon erwähnte Werden im Windsschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Manche bahnbrechende Entscheidungen des EuGH, die die Stellung der Mitgliedstaaten langfristig stark veränderte und verminderte, blieben praktisch ohne Reaktion, vielleicht sogar ohne Kenntnisnahme. Die Erhöhung des Gewichts des EuGH, die die Entscheidungen van Gend & Loos sowie Costa/ENEL zur Folge hatten,24 wären vielleicht im starken Licht der großen Aufmerksamkeit nicht so einfach über die Bühne gegangen. Große Weichenstellungen im Windschatten der Politik – das war das Erfolgsgeheimnis. 2. Kein Gründungsmythos Dabei hatte der Gründungsakt selbst, wie auch schon im Falle des Grundgesetzes,25 nicht die große Resonanz, wie es das Ereignis verdient hätte. Die Gründung ist auch später nicht so intensiv erinnert worden, wie man es hätte erwarten können. Die Vertragsunterzeichnung auf dem Kapitol in Rom fand zwar an einem der geschichtsträchtigsten Orte überhaupt statt: er war so wie aus dem Lehrbuch für ganz große Inszenierungen. Aber sie war eine Staatsaktion höchsten Ranges, weniger 22

Mangold (Fn. 12), S. 169 – 299: Die Rechtswissenschaft und das Gemeinschaftsrecht; s. auch Wahl (Fn. 18), S. 861 f. 23 Von einer Gründungsphase spricht auch Haltern (Fn. 12), S. 39 ff. 24 Näher unten IV. 4. und 5. 25 Dazu Wahl, Die praktische Wirksamkeit von Verfassungen: Der Fall des Grundgesetzes, in: FS Stern, 2012, 233 ff.

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oder gar nicht für die Bürgerinnen und Bürger gemacht. Die schöne Theatralik hatte also weder 1957 noch später eine große Resonanz bei den Bürgerinnen und Bürgern ausgelöst. Einen Gründungsmythos hat die europäische Integration auch nicht hervorgebracht. Ein Datum eines kollektiven europäischen Gedächtnisses ist Rom 1957 nicht – dies im Unterschied zur Gründung und dem daran anschließenden Mythos in den USA in den Jahren 1776/1787 oder in Frankreich 1789. Das Kapitol in Rom und der Tag 25. März 1957 sind kein Erinnerungs-Ort und kein ErinnerungsDatum.26 Die Bürgerinnen und Bürger, die 1957 offensichtlich nicht als ein Teil des jetzt beginnenden europäischen Projekts angesprochen waren, reagierten insofern systemgemäß, sie nahmen nämlich von der neuen Einheit wenig Kenntnis. Als direkte Wähler zum Parlament waren sie noch lange Zeit nicht gefragt; erst 1979 gab es die erste Direktwahl. Zum Europatag wurden später zwei Tage erkoren, zum einen der 5. Mai wegen der Gründung des Europarates 1949, zum anderen der 9. Mai als Tag der Schumann-Erklärung von 1950, die am Anfang der Montanunion steht. Insofern hat auch der Europatag keine direkte Verbindung mit dem 25. März 1957, dem Gründungstag der EWG. Wie sollten Bürgerinnen und Bürger, die so wenig angesprochen oder beteiligt wurden, auf den Gedanken kommen, dass in den neuen europäischen Institutionen ihre Sache betrieben wird? Es gehört zu den Grundproblemen auch der heutigen EU, dass sie diesen defizitären Anfang auch später nicht hat glaubwürdig und entschieden überwinden oder ausgleichen können. Ihre Aufmerksamkeit und ihre politischen Interessen richten die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten auf ihren Staat, und erst mit einigem Abstand auf die EU. Bezeichnend für die geringe Ausstattung der EU mit Symbolen ist auch die weitere Geschichte des Europatags. Während im EU-Verfassungsvertrag der Europatag zusammen mit weiteren Symbolen der Europäischen Union aufgeführt war (Artikel I – 8), wurde diese Bestimmung in den Lissabon-Vertrag nicht übernommen – die Union war wieder in ihre überkommene Sprachweise der Technokratie zurückgefallen. Technokratie war aber nicht nur die verschleiernd-nüchterne Sprache der EWG (dazu unten V. 3.), sondern dieses Konzept, in der Sache politisch zu handeln, ohne die Politik als das, was sie ist, offen zu betreiben, steht auch generell bei der Gründung der EWG und der Ausbildung eines esprit de corps in Brüssel Pate. Technokratische Herrschaft ist aber notwendigerweise zugleich ein Elitenprojekt und eine auf Eliten beschränktes Projekt – auch dies ein Charakteristikum der jungen EWG, das sie den weiteren Jahrzehnten der Entwicklung mit auf den Weg gegeben hat. Der Grund, warum hier solche außerjuristischen Merkmale erwähnt sind und sich die Überlegungen nicht auf die „harten“ juristischen Normen beschränkt, ist einfach: Jede politische Gemeinschaft und auch jedes Recht ist letztlich davon abhängig, dass sie von den Adressaten – das sind letztlich immer wieder die Einzelnen – mitgetragen und akzeptiert werden.

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Sie konnten es auch nicht sein, da nur 6 der heute 27 Mitglieder damals dabei waren.

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3. Umwegstrategie Beim Start hatte die EWG 1958 trotz allen Neuigkeitscharakters schon eine folgenreiche Geschichte hinter sich. An ihrer Wiege fand sie schon mehrere beschriebene Blätter der Geschichte europäischer Einigungsbestrebungen vor. In die Reihe der Stationen des europäischen Nachkriegsprojekts gehörten die Gründung des Europarats 1949, die Verabschiedung und das Inkrafttreten der EMRK 1950/53, die Pariser Verträge von 1951/1952, die beiden Projekte einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) von 1952 und einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) von 1953) – im Geschwindschritt schien sich eine europäische Bewegung von oben her installiert und etabliert zu haben. Dann kam das spektakuläre Scheitern der EVU 1954 und alsbald das Suchen nach einer Ersatzlösung. Die Weichenstellung in Richtung Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entsprang einer strategischen (europa)politischen Entscheidung zugunsten einer Umweg-Strategie oder eine Strategie der Umwege. Ihr Inhalt war: Keine Aufgabe des Ziels einer politischen Union, aber Zurückstellung des öffentlichen Redens und Diskutierens über dieses Ziel. Stattdessen wurde das Ziel der wirtschaftlichen funktionalen Integration proklamiert. Die wirtschaftliche Integration, oder generell gesagt, der neue Zentralbegriff der Integration war als Geburtshelfer und Wegbereiter einer späteren politischen Gemeinschaft oder Union gedacht, ohne dass dies deutlich oder deutlich genug gemacht wurde und ohne dass diejenigen, für die und mit denen man eine politische Union nur machen kann, die Bürgerinnen und Bürger, angesprochen waren. Von diesem gedanklichen Ansatz her war auch klar: Alles, was der EWG/EG/EU und ihrer wirtschaftlichen Integration dient, ist nicht nur ein Selbstzweck, sondern es ist auch und besonders deshalb erwünscht, weil es eben dadurch auch dem Fernziel der politischen Union dient. Die wirtschaftlichen Maßnahmen und Programme sind gesteuert oder besser gesagt: übersteuert vom politischen Fernziel. Damit erhalten wirtschaftliche Integrationsmaßnahmen in der Sicht der europäischen Entscheidungsträger immer auch ein zusätzliches Gewicht. Sie wiegen wegen ihres weiterreichenden Beitrags stärker, sie haben einen über das Wirtschaftliche hinausgehenden Mehrwert in sich. Wer im Rahmen dieses Ansatzes von Integration und Integrationsfortschritten spricht, denkt dabei auch immer an die Integrationsschritte als Motor für die zukünftige politische Union. Deshalb sind z. B. wirtschaftspolitische Maßnahmen in diesem Kontext immer doppelfunktional und immer mehr, als sie zu sein scheinen. Das Umweghafte schlug sich auch in dem bemerkenswerten und auffälligen Umgang mit zentralen Begriffen der neuen Einheit nieder. Als Alternative gegenüber einer politischen Union und als Markierung der Unterschiede gegenüber den Staaten hielt die EWG terminologisch eine Art Abstandgebot gegenüber den traditionellen staats- und verfassungsrechtlichen Begriffen ein. Die Verträge, obwohl der Funktion

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nach eine Verfassung27, durften diesen Begriff nicht tragen. Das wichtigste Gestaltungsmittel hieß nicht „Gesetz“, sondern in schmerzlich distanzierter Nüchternheit „Verordnung“ und „Richtlinie“. Und natürlich durfte die Kommission auch nicht „Regierung“ heißen. Anfangs wurde dieser Kernbestand von nüchternen, technokratischen Begriffe noch durch die Bezeichnung „Gemeinsame Versammlung“ (mit beratender Funktion) gesteigert. 1962 versuchte sich die Versammlung, in „Europäisches Parlament“ umzubenennen, eine Bezeichnung, die in die Verträge selbst aber erst 1986 eingeführt wurde. Sprachlich so weit heruntergedimmt ist keine andere politische Gemeinschaft in die Welt und in die Geschichte gekommen. Der Versuch des Verfassungsvertrags diese Begriffspolitik zu beenden und ausdrücklich das Feld der Symbole zu betreten, scheiterte.28 Und so heißt nach 50 Jahren der zweite Grundvertrag der EU tatsächlich: „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV)! Die europarechtliche und europawissenschaftliche Literatur thematisieren diese Umwegs-Strategie durchaus; von der Anschlussfrage nehmen sie jedoch wenig Notiz. In der hier verfolgten entwicklungsgeschichtlichen Perspektive stellt sich nämlich die weiterführende Frage, ob diese Gründung und die ersten Jahre ein isolierbarer oder abspaltbarer Teil der Geschichte der EWG/EG/EU sind oder ob diese Umgehungsstrategie ein durchgehender Zug dieser Geschichte ist (und werden musste) und durchaus auch noch in der Gegenwart zu beobachten ist. Selbst im ehrgeizigsten und fortschrittlichsten Projekt der EU in den letzten Jahren, in dem des Verfassungs-Vertrags, ist das Endziel der EU nicht genannt und nicht konkretisiert worden. Die Diskussion über die sog. Finalität der EU hat alles andere als klare Wortmeldungen hervorgebracht29. Deshalb sprechen die besseren Gründe dafür, dass das Umweghafte, die Strategie der Umwege, nicht nur eine Politik der fünfziger und sechziger Jahre war, sondern die EU auch in ihrem siebten Jahrzehnt begleitet und in ihrem Grundzug bestimmt. Vor diesem Hintergrund muss die Undeutlichkeit, mit der auf die Frage nach der Finalität der EU beantwortet wird, zu Skepsis und Sorge Anlass geben. Angesichts einer Tradition der Doppelstrategie ist ein ungeteiltes Vertrauen nicht zu empfehlen. Das Gleiche gilt auch, wenn die Zielsetzung eines staatsanalogen Gebildes, etwa eines Bundesstaates, ständig verneint wird. Es ist ein Vorteil des entwicklungsgeschichtlichen Denkens, dass es über die vergangenen Ereignisse und Verläufe nicht nur berichtet, sondern dass es darüber hinaus danach fragt, welche der früheren Ereignisse und Verläufe sich tief in das Selbstverständnis der EWG/EG/EU eingeschrieben haben. Die Entwicklungsgeschichte interessiert sich, wie schon oben erwähnt, nicht nur für Vergangenes als Vergangenes, 27 Der offizielle Gebrauch des Begriffs Verfassung beginnt mit der Auffassung des Generalanwalts Lagrange v. 25. 6. 1964 zu EuGH Rs 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1279 (1289); Les Verts/European Parliament Slg., 1986, 1357 (1365), Rz. 23: „charte constitutionelle de base qu’est le traité“. 28 Es wurde als Teil der Lehren aus den gescheiterten Volksabstimmungen in den Niederlanden und Frankreich angesehen, auf die neue Semantik zu verzichten. 29 Zu „Bewegung und Finalität“ zuletzt Schorkopf (Fn. 12), 178 ff.

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sondern für Vergangenes als der Beginn von Mustern, Gewohnheiten und einem Selbstverständnis – kurz: für die Begründung eines Entwicklungspfades. Muster, die in der Vergangenheit geprägt wurden, können auch die die Gegenwart und Zukunft prägen. Ergänzt sei noch, dass diese Umweg-Strategie nicht geeignet sein konnte, die Bürger und Bürgerinnen für den eigentlich angezielten Weg zu einer Variante der politischen Union zu motivieren oder gar zu begeistern. Gerade weil dieser Weg recht lange sein würde und viel Hindernisse zu überwinden hätte, wäre es positiver gewesen, bei den Bürgerinnen und Bürger mit den zweifelhaft vorhandenen positiven Seiten einer solchen Entwicklung um Zustimmung zu werben. Statt einer gezielten Politik mit den Bürger(innen) blieb das europäische Projekt am Anfang und auch in der Gegenwart in den Bahnen eines Elitenprojekt30, also eines Projekt der Regierungen und der Brüsseler Kommission in enger Verbindung mit wirtschaftliche Eliten und der ideenmäßig- ideologischen Abstützung auf die Freiheit der Märkte und einen Binnenmarkt ohne Grenzen. 4. Die zweite rechtliche Gründung der EWG durch van Gend & Loos und Costa/E.N.E.L. Der Ruhm der beiden Entscheidungen van Gend & Loos31 sowie Costa/E.N.E.L.32 sowie der darin liegenden Aufbauleistung des EuGH ist groß und berechtigt. In keinem anderen Rechtsakt nach 1958 ist die Aufbau- und Gründungsphase der EWG so präsent wie in diesen beiden Entscheidungen. Sie haben die Phase der völkerrechtlichen Interpretation der EWG beendet und zugleich den Charakter der EWG als supranationale Gemeinschaft, wenn nicht begründet33, so doch in überzeugende rechtliche Formen und Gestalt gebracht. Was 1957 von Vertragspartnern wahrscheinlich noch gar nicht angedacht war, die rechtlichen Bausteine der Supranationalität34, wurde in diesen beiden Entscheidungen in klarer und überraschend knapper Redeweise entwickelt – eine veritable zweite rechtliche Gründung der EWG.

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Dazu Schorkopf (Fn.12), S. 134 f., insg. 131 ff. Van Gend & Loos, Urteil v. 5. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1. Die Entscheidung betraf einen Zollfall. Die holländische Unternehmen van Gend & Loos wollte chemische Erzeugnisse aus Deutschland einführen. Im Streit war, ob der bisherige niedrige Gemeinschafts-Zollsatz oder ein neuerdings eingeführter erhöhter niederländischer zu zahlen war. In seinem Kern bejahte die Entscheidung die Direktwirkung des EWG-Rechts für und gegen die einzelnen. 32 Urteil v. 15. Juli 1964, Rs 6/4, Flaminio Costa/E.N.E.L, Slg.1964, 1253. 33 Die Vorläufer-Gemeinschaft der Montanunion war zwar schon eine Art Probelauf für die Strukturelemente der Supranationalität, die dabei gewonnenen Einsichten waren aber nicht stark verbreitet. Die Bedeutung der Jahre der Montanunion als „Prozesse des Erlernens von Supranationalität“ stellt Mangold (Fn. 12) S. 90 – 114 heraus. 34 So wörtlich Schorkopf (Fn. 12), S. 40 und 40 – 46. Treffend S. 45: „Die beiden Entscheidungen tragen bis heute den Gründungsmythos der supranationalen Integration mit“. 31

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Die beiden Entscheidungen sind in jedem Lehrbuch und zahlreichen Aufsätzen umfassend kommentiert.35 In entwicklungsgeschichtlicher Perspektive ragen sie auch deshalb heraus, weil sie die eigenständige Rechtsordnung der EWG erst wirklich errichtet und mit tragenden Pfeilern versehen haben. Wenn man auch mit guten Gründen annehmen kann, dass den Vertragsschließenden von 1957 der Vorrang des Gemeinschaftsrechts und dessen unmittelbare Anwendung nicht vor Augen gestanden hat, so gilt doch: In der Logik des Vertragsschlusses und der Errichtung einer engeren Gemeinschaft als es die bisherigen völkerrechtlichen Verbindungen dargestellt haben, lagen mit einer inneren Konsequenz all die Bausteine, die der EuGH 1963/64 entwickelt hat. Jedenfalls war es eine stringente Antwort auf das neuartige Problem, dass die EWG in besonderem Maße auch rechtsetzend tätig war. Jenseits ihrer dogmatisch–theoretischen Bedeutung sei hier hinzugefügt. 1961 und 1962 befand sich die EWG in einer politisch schwierigen Situation, einer (drohenden) Blockade der eigentlichen politischen Rechtsetzung im Rat.36 In einer Situation des (drohenden) Stillstands der expliziten Rechtsetzung setzte der EuGH auf sein Richterrecht als Aushilfe und Ersatz. Die beiden großen Entscheidungen stärkten das Gemeinschaftsrecht und damit das Recht, dem der EuGH seine Rolle verdankt. Wie bei anderen großen Entscheidungen wie Marbury vs. Madison (1803) und dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1958)37 bereichern die beiden Entscheidungen des EuGH von 1961/62 das Verständnis über die entsprechenden Verfassungen oder Grundverträge, sie haben aber darüber hinaus eines gemeinsam: Sie verstärkten die Bedeutung des jeweiligen höchsten Rechts oder erhöhten dessen Rang – und erhöhten zugleich sich selbst als das jeweilige Höchstgericht, weil mit der Rangerhöhung des jeweiligen „Verfassungs“-Rechts auch ihre Entscheidungsbefugnisse als höchstes Gericht ausgeweitet waren. Dies macht es erforderlich über die Rolle des EuGH im Rechtssystem der EWG näher zu betrachten. 5. Rangerhöhung des Gemeinschaftsrechts und institutionelle Selbsterhöhung des EuGH Nach dem Vertrag sichert der Gerichtshof „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Art. 19 EUV). Schon die beiden Groß-Entscheidungen aus den Jahren 1963/64, sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der 35

In einem weiten Kontext kommentiert von Haltern (Fn. 12), S. 437 – 490; ff.; Mangold (Fn. 12), S. 117 – 127; s. auch Fn. 36. 36 Zum politischen Umfeld der beiden Entscheidungen Mangold (Fn. 12), S. 118 ff. und Haltern (Fn. 12) § 8. – Eine ein- und tiefgehende historische Kontextualisierung von Costa/ E.N.E.L bei Mangold, Costa v ENEL (1964): On the Importance of Contemporary Legal History, in: Eliana Augusti / Norman Domeier / Fritz Georg von Graevenitz / Markus J. Prutsch (ed.), Inter-Trans-Supra? Legal Relations and Power Structures in History, Jahrbuch junge Rechtsgeschichte / Yearbook of Young Legal History, 2011, S. 220 – 234. 37 Dazu Rainer Wahl, Große Entscheidungen: Marbury v. Madison, Lüth, Costa/E.N.E.L. in: Anter (Hrsg.): Wilhelm Hennis’ Politische Wissenschaft, 2013, S. 181, 188 ff., 196 ff.

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EWG, zeigen das Gericht in einer gerne übernommenen Rolle als Ersatz-Gesetzgeber oder in der Funktion der Aushilfe in der Situation der ausbleibenden politischen Rechtsetzung. Die Alternative, dass beim Nein oder Ungenügen der Politik, weitere (Integrations)Maßnahmen schlicht nicht getroffen werden können, schied häufig von Anfang an aus. Es wird zu prüfen sein, ob dieses Rollenverständnis darauf besteht, dass der Vertrag Zielsetzungen enthält, die sowohl für die politischen Organe wie auch für den EuGH gelten und sozusagen arbeitsteilig aufgeben sind, so dass der EuGH bei Schwächen der politischen Organe einen eigenen Auftrag zur Erreichung der Ziele verspüren kann. Der EuGH hat jedenfalls von Anfang an ein anderes Rollenverständnis ausgebildet als die Verfassungsgerichtshöfe der Staaten. Profilierten sich staatliche Verfassungsgerichte in ihren Anfangs- und Aufbaujahren mit Urteilen, die der politischen Gesetzgebung meist im Namen der Grundrechte Grenzen setzten und Gesetze aufhoben, profilierte sich der EuGH damit, den politisch steckengebliebenen Gesetzgeber zu überholen, mehr an Integration zu verwirklichen, als dies der gegenwärtige politische Prozess hergegeben hatte. In den beiden großen Entscheidungen gab der EuGH ein Lehrstück darüber, was alles und wie viel ein Höchstgericht neu entwickeln oder erfinden kann: die unmittelbare Anwendung des Vertrags,38 den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten,39 und den Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts.40 Der EuGH begründete ein Vorbild für ein Höchstgericht, das nicht Abstand nimmt, immer wieder eine explizit politische oder rechtspolitische Rolle zu spielen. In der Politikwissenschaft und nicht selten auch in der Rechtswissenschaft nennt man den EuGH deshalb immer wieder einen politischen Akteur, der eine Agenda, eine Integrations-Fortschritts- Agenda verwirklichen wolle.41 Bei dieser Beschreibung und Zuschreibung muss man jedoch differenzieren. Eine politische Rolle in der Art, wie Parlament und Regierung sie spielen können und sollen, nämlich aus eigenem Entschluss Themen aufzugreifen und Probleme gestaltend zu bewältigen, ist einem Gericht natürlich verwehrt und auch faktisch gar nicht möglich, weil ein Gericht, ohne dass ein Kläger oder Antragssteller das Problem anhängig macht, nichts tun kann.42 Und aus dem gleichen Grund kann ein Gericht nicht in einer kon38

So in der Entscheidung van Gend & Loos (Fn. 31). So in der Entscheidung Costa/E.N.E.L. (Fn. 32); die beiden Urteile müssen in dem dazu gehörigen Umfeld gesehen werden, in dem es auch von EuGH selbst gesehen wurde. Dem Gericht war klar, das Themen beider Entscheidungen (direkte Wirkung gegenüber dem Bürger und Vorrang) zwei Seiten einer Medaille waren. Darin beweist sich der EuGH als political player: Er hat die Thematik auf zwei Entscheidungen verteilt, um die Aufmerksamkeit zu splitten. 40 Dieser Grundsatz ist auch ein wichtiges Argument in Costa/E.N.E.L, s. Haltern (Fn. 12), S. 440 f. (Rn. 922 f.); vgl. auch Bernhard Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV, EGV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union und europäischer Grundrechtscharta. Kommentar, 2007, Art. 220 EGV Rz. 28. 41 Dazu zuletzt Mangold (Fn. 12), S. 138 ff., auch S. 49 f., 124 f. (mit Nachweisen). 42 Aber selbst bei dieser generellen Kennzeichnung von Gerichten überhaupt, gibt es beim EuGH eine folgenreiche Besonderheit. Sehr wichtige Fälle kommen zum EuGH im Wege des 39

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tinuierlichen Weise entscheiden oder zu einem selbst gewählten Zeitpunkt prozessual tätig werden. Aber die Qualifikation einer Institution oder eines Organs als politisch oder nicht, ist nicht eine Frage einer streng distinkten Ja- oder Nein-Entscheidung. Es gibt stattdessen ein ganzes Spektrum an Rollenverständnissen eines Gerichts und damit auch vielfältige Abstufungen zwischen den beiden extremen Polen („reines“ Gericht und politischer Akteur); ähnlich gibt es für die Charakterisierung als politischer Akteur zahlreiche Varianten. Beachtet man dies, liegt es nahe, den EuGH zumindest als rechtspolitischen player zu qualifizieren. Sein Programm für diese Rolle entnimmt der EuGH dem Integrationsziel, dem Programm des Weiterschreitens und Vertiefens.43 Insofern gibt es immerhin einen Kompass und eine Richtungsangabe.44 Aber es bleibt die noch unten zu erörternde Frage der Weite dieses rechtspolitischen Integrationsprogramms (dazu insgesamt unten V 2 und VI). Zusammenfassend kann man dem EuGH gerichtlichen Aktivismus und ein aktivistisches Grundverständnis attestieren, jedenfalls gemessen an dem, was bisher von staatlichen Verfassungsgerichten üblich war. Selbst die beiden am meisten genannten Höchstgerichte, der US-amerikanische Supreme Court und das deutsche Bundesverfassungsgericht, haben dieses Ausmaß und Niveau an aktiver Rolle nicht erreicht. Der EuGH ist eines der aktivsten Gerichte der Welt, weil es sich in besonderer Weise der Zukunft und der Verwirklichung von weitgestreckten Zielen verpflichtet weiß. Und der EuGH kann das aktivistischste Gericht der Welt sein, wenn und soweit er den Integrationsauftrag der Verträge auch als einen Teil seines rechtlichen Auftrags begreift. Dann könnte es auch der EuGH zu seinen Aufgaben zählen, das Integrationsziel in arbeitsteiliger Weise auch mit den Mitteln eines Gerichts zu verfolgen (Judizieren aus dem Geist der Integration).45 Es kommt hinzu, dass der EUGH in seinen kompetenzausdehnend wirkenden Entscheidungen von seiner zugehörigen Wissenschaft, dem Europarecht, recht wenig kritisiert wird – dies kann man insgesamt eine Idealkonstellation für ein Gericht nennen.

Vertragsverletzungs-Verfahrens. Diese nun werden von der Kommission ausgelöst, sie sind Antragsteller in diesen Verfahren. Wenn man sich zwischen der Kommission und dem EuGH einig ist oder einig weiß, welche Themen der EuGH gerne behandeln möchte, dann gibt es genug Wege um zu erreichen, dass im Ergebnis ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren durchgeführt wird – ein Ablauf, der von Insidern in Brüssel und Luxemburg nicht geleugnet wird. 43 Das Erweitern, das politische Gegenstück zum Vertiefen, ist natürlich den politischen Organen und den Verträgen vorbehalten. 44 Unabhängig davon, ob man den EuGH insofern als politischen oder nur als rechtspolitischen player ansprechen will, läge auch in der letzteren Qualifizierung eine folgenschwere Befreiung des EuGH gegenüber sonst erlebten Bindungen der Verfassungsgerichte. 45 Es liegt auf der Hand, dass die im Text angesprochenen Fragen und noch weit mehr die vergleichende Beurteilung des EuGH und staatlichen Verfassungsgerichte der intensiven Vertiefung und vor allem umfangreicher Rechtsprechungsanalysen, die sich vor allem auch auf die Methoden bezieht, bedarf. Dies kann hier nicht beiläufig geleistet werden.

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Vermerkt sei noch: Mit der Erhöhung oder Festigung des Rangs und Vorrangs des Gemeinschaftsrechts hatte sich der EuGH zudem selbst aufgewertet, kurz: er hatte sich selbst als Rechtsetzer in den Sattel gehoben und das Tor für ein umfassendes, in diesem Umfang bisher nicht bekanntes Ausmaß an Richterrecht geöffnet. Die Systembedeutung des Richterrechts im Recht der EU ist enorm und auch größer als in manchen staatlichen Rechtsordnungen. Der von Rechtsanwalt Costa provozierte Fall wurde zum Auslöser für die eigentlichen und weiterreichenden rechtspolitischen Zielsetzungen und die Selbsterhöhung des EuGH. Zur Rolle des Ausgangsfalles sei angefügt: Ein zum Reiten fest entschlossener Reiter hätte auch, wenn Rechtsanwalt Costa nicht zur Stelle gewesen wäre, einen anderen Anlass gefunden. Eines ist jedenfalls sicher: zum Jagen musste man den EuGH damals nicht tragen. V. Weichenstellungen Weichenstellungen im Recht sind die großen Entscheidungen in der Zeit nach der Verfassungsgebung, meist in der Form von Richterrecht. Sie geben dem Recht eine dezidierte und meist auch neue Richtung. Ihre auffällige Eigenschaft ist, dass sie alternative Interpretationen wenigstens für die Rechtspraxis abschneiden und zur Grundlage weiterer Interpretationen werden. Meist ist mit einer Weichenstellung verbunden, dass sie nicht rasch wieder korrigiert oder geändert werden, sondern dass sie eine längere oder lange Geltung haben. Man kann sagen, dass die durch eine Weichenstellung getroffene und anerkannte Interpretation eine relativ große Beharrungskraft hat. Die Unterscheidung zwischen Anfangsphase und anschließenden Entwicklungsabschnitten tritt in der Geschichte des deutschen Öffentlichen Rechts klar hervor. Demgegenüber hat die EU und damit auch ihr Recht wiederholtes Fortschreiten auf ein neues Integrationsniveau (oder einen neuen Mitgliedsbestand) erlebt. Gleichwohl gibt es auch bei der EWG eine deutliche Zäsur zwischen der Gründungsphase, die das rechtliche Gebäude errichtete und nachfolgenden wichtigen Entscheidungen, die Alternativen abschnitten und die man als Weichenstellungen bezeichnen kann. Zweifellos gibt es auch nach dem ersten Jahrzehnt grundlegende rechtliche Weiterentwicklungen, die man aber – um im Bild zu bleiben – als Ausbau und Weiterbau, nicht aber als Errichtung eines neuen Rechtsrahmens, einer neuen Rechtsordnung verstehen kann. Die politischen Rahmenbedingungen der weiteren Rechtsentwicklung sind Gründungsphase, Stagnationsphase, Phase der neuen Supranationalität durch die Einheitliche Europäische Akte; Maastricht Amsterdam Nizza; Verfassungsvertrag, Referenden, Reformvertrag Lissabon.46 Hinzu zu setzen wären Erweiterungspolitik und in den letzten Jahren als dominantes Feld die Probleme der Währungsunion seit 2009. Die Suche nach Weichenstellungen im weiteren Fortgang der Rechtsentwicklung der EU konzentriert sich in der EU besonders auf das Richterrecht des EuGH. Der 46

So Haltern (Fn. 12), S. 39 ff. als Phasen der Integration.

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Anteil der expliziten Rechtsetzung ist nämlich in der EU nicht so groß wie in den Staaten. In der Bundesrepublik sind in oder nach der Gründungsphase wichtige Gesetzbücher geschaffen worden wie die VwGO und die Vorläufer-Gerichtsordnungen, die Polizeigesetze, das BauBG. Zusammen mit den schon vorhandenen BGB, StGB, ZPO, ZVG u. a. ergab dies eh’ ein breites Bündel von Kodifikationen, von Ordnungsgesetzen oder Gesetzes-Ordnungen, die selbstverständlich viel Grundlegendes für die Rechtsordnung enthalten. In der EU gibt es aus vielerlei Gründen solche Ordnungsgesetze und allgemeinen Kodifikationen (noch) nicht, so dass auch insofern dem Richterrecht vieles zufällt. Bei der entwicklungsgeschichtliche Analyse von Weichenstellungen – es sind meist weichenstellende Urteile – fällt der Blick nicht nur auf die binnenjuristische Bedeutung mancher Rechtssätze in der Gesamtheit der Rechtsordnung, sondern es interessieren vor allem die Kontexte der Entstehung, vor allem die integrationspolitische Lage der EU zum Zeitpunkt der Entscheidung und die Reaktion des EuGH auf diese Situation. Für die dazu notwendigen, ins Detail gehenden Analysen ist hier nicht der Ort, zumal die Entwicklungen von mehreren Jahrzehnte zu durchforsten wäre. Die Kandidaten für diese Prüfung und Analyse sind die Fälle: Cassis de Dijon, Keck und etwa Francovich. Eine eigene Gruppe von Weichestellungen sind die Urteile, die sich um das Stichwort Effektivität und effet utile ranken. Besonderes Interesse können Urteile haben, die einen weitere Entwicklungen öffnenden Charakter haben, die der Integration und der Maßgeblichkeit des EU-Rechts die Tür geöffnet haben. Dazu gehören aus jüngster Zeit Urteile zur Unionsbürgerschaft. Überhaupt ist die Entwicklung der einschlägigen Begriffe und der Grundvorstellungen vom Marktbürger zum Unionsbürger, die Entdeckung der „bürgerschaftlichen Dimension des Wirtschaftsraums“ bis zur Verknüpfung der Unionsbürgerschaft mit dem Gebot der Nichtdiskriminierung47 ein typischer und der näheren Analyse werter Interpretationsvorgang, der die dominante Richtung vieler wichtiger Entscheidungen des Richterrechts des EuGH deutlich zeigt, nämlich die Verstärkung der Integration. In jüngster Zeit ist die Entscheidung zum Anwendungsbereich der europäischen Grundrechte bemerkenswert, weil sie in der erwartbaren und zu befürchtenden Linie einer denkbar weiten Auslegung und weiten Erstreckung des Anwendungsbereichs der europäischen Grundrechte liegt.48 Viele signifikante Beispiele enthält die in der Literatur gut aufbereitete Geschichte der Ausdehnung der Grundfreiheiten im Wege der Interpretation.

47 48

Schorkopf (Fn . 12), S. 67 und 69. Urteile vom 26. 2. 2013 Rs C- 617/10 und Rs. C- 399/11.

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VI. Der Entwicklungspfad des Rechts der EWG/WG/EU 1. Der Vergleichsfall des deutschen Öffentlichen Rechts nach 1949 Aus der Verallgemeinerung der Kategorie der Weichenstellungen auf die gesamte (Teil)Rechtsordnung entsteht das Schlüsselkonzept des entwicklungsgeschichtlichen Denkens, das Konzept des Entwicklungspfades.49 Deshalb können die eben aufgeführten Charakteristika der Weichenstellungen auch auf das Denken in Entwicklungspfaden übertragen werden. Mit dem Konzept des Entwicklungspfads soll die Frage aufgeworfene und beantwortet werden, ob es für eine konkrete Rechtsordnung spezifische – im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen hervortretende – Eigenarten gibt und worin sie bestehen. Für einen einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad (wie für einzelnen Weichenstellungen) gilt dabei: Die Fortführung und Aufrechterhaltung des eingeschlagenen Pfades geschieht nicht automatisch oder als Folge einer geschichtlichen „Gesetzmäßigkeit“. Ein Entwicklungspfad erspart nicht die kritische Diskussion um seine Richtigkeit und Bewährung. Zu beobachten ist jedoch, dass den zum juristischen Pfad gehörenden Auffassungen eine gewisse Prämie, eine Art Mehrwert an Überzeugungskraft zukommt und eingeräumt wird, nicht zuletzt weil sie mit anderen Elementen zusammen eine kohärentes dogmatisches Gefüge ergeben und als solches die gemeinsame Basis für die Rechtsordnung bilden. Anschaulicher als die abstrakte Darlegung ist die Demonstration des Konzepts an einer konkreten Rechtsordnung. Für deutsche Rechtswissenschaftler bietet es sich naturgemäß an, den Entwicklungspfad des deutschen Öffentlichen Rechts zu bestimmen.50 In starker Zusammenfassung lässt sich mit Hilfe der Grundkategorien der Entwicklungsgeschichte sagen: Das Grundgesetz ist als Nach-Diktatur-Verfassung eine Gegenverfassung zum NS-Regime und partiell auch zu Weimar. 1949 hat keinen Gründungsmythos gehabt, aber es folgten sehr starke Anfangs- und eine veritable Gründungsphase, in der sich die eigenständigen Merkmale ausgebildet haben, nämlich eine starke Tendenz zur Verrechtlichung, die Ausdehnung des Geltungsbereichs von Recht überhaupt, das Aufsaugen von vielen bisherigen rechtsfreien Räumen in Politik und Verwaltung, die Herausbildung eines betont materiellen Rechtsstaats und insb. des Grundrechtsverständnisses. Diese und viele weiteren Strukturelemente können unter den Oberbegriffen der Ver-Rechtlichung und der Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Recht zusammengefasst werden. Diese Kennzeichen sind, dies ist zu betonen, nicht etwa in rein innerjuristischen Diskursen entstanden, sondern in einer engen und starken Verbindung zu kräftigen zeitgenössischen geistigen Strömungen. Den Entwicklungspfad des deutschen Öffentlichen Rechts erkennt man 49 Zum Begriff und Konzept des Entwicklungspfads Wahl, Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013 (im Erscheinen) mit Rückverweisungen. 50 Dazu Wahl (Fn. 25), S. 233, 237 – 254; ders. (Fn. 49).

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am besten mit dem Forschungskonzept von law and context oder constitution and context. Wie so häufig sind es in einem hohen Maße auch die Kontexte, die die Rechtsentwicklung abstützen und zur Kraft und Überzeugungskraft verhelfen. 2. Integration als Schlüsselbegriff der europäischen politischen und rechtlichen Entwicklung Überträgt man dieses Denken auf die europäische Entwicklung, so gilt es, viele Linien und Stränge zu verfolgen. Ungeachtet dessen, stellt sich aber auch für die europäische Rechtsentwicklung die Frage nach der zentralen Besonderheit. Das EWG-Recht startete als neue Rechtsordnung, aber natürlich in einem Umfeld von hochentwickelten (Verfassung)Rechtsordnungen. Diese bildeten den natürlichen Referenzrahmen für das EWG-Recht und gaben ein denkbar hohes Niveau vor. So viel Referenz es auch gab: das Recht der EWG, also das Recht einer eigengearteten, sehr spezifischen neuen politischen Gemeinschaft, hat sehr rasch Eigenarten und Besonderheiten sowie eigene Traditionen und Selbstbezüglichkeiten ausgebildet. Dabei hat sich das EU-Recht weniger in den Inhalten der Normen vom bisher vorhandenen Recht unterschieden, als in einer anderen Hinsicht. Entscheidend für den „Geist“ einer Rechtsordnung sind im gegenwärtigen Europa nämlich nicht primär die ausdrücklichen oder positiv niedergelegten inhaltlichen Rechtssätze, sondern die ungeschriebenen, aber grundlegenden Grundsätzen und Denkgewohnheiten. Im Öffentlichen Recht gehört dazu etwa das selten explizit formulierte, aber doch sehr folgenreiche Rechtsverständnis bzw. das Verständnis davon, was Recht ist, sowie die immer schwierige und häufig unterschiedlich vorgenommene Abgrenzung des Bereichs des Rechts gegenüber dem der Politik. Zu diesen ungeschriebenen, überall vorausgesetzten und durch juristische Ausbildung erlernbaren und auch tatsächlich erlernten Grundsätzen gehören die Abgrenzung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung51 und die Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtspolitik – bei allen diesen Grundbegriffen des Rechts kann es nicht nur Unterschiede geben; es gibt sie auch. Bei den erwähnten Abgrenzungsproblemen – es geht in Wahrheit um das Rechtsverständnis in seinen Konkretisierungen – wird man zwischen dem EU-Recht und den ihrerseits unterschiedlichen nationalen Verfassungsrechten relevante Unterschiede feststellen. Diese und einige anderen Eigenarten werden aber in ihren Auswirkungen auf die EU-Rechtsordnung vor allem durch jenes Merkmal überboten, das die EU als politische Einheit und auch ihr Recht in ihrem Kern geprägt hat und prägt: Es ist das schon häufiger erwähnte Merkmal der Integration, also einer Bewegung und der Orientierung auf ein künftiges, aber im Ungefähren bleibendes (Fern-) Ziel. Den Begriff der Integration (oder seine textliche Umschreibung als immer engere Union der europäischen Völker) gilt es im Folgenden als Schlüsselbegriff der 51 Die Probleme verschwinden nicht, sondern sind gesteigert, wenn man die Existenz einer eigenen Kategorie der Rechtsfortbildung überhaupt leugnet.

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europäischen politischen Sprache und der Rechtssprache zu analysieren.52 Denn „Integration“ hat in der EU einen Doppelcharakter als Zielsetzung und Verfahrensweise der Politik und als Bestandteil der Rechtspolitik und des Rechts. Angesichts dieses Doppelcharakters stellt sich die weiterführende und entscheidende Frage: Hat die Chiffre Integration und die Zielvorgabe des Immer-Weiter-Schreitens auch für die Rechtsordnung der EWG/EG/EU eine zentrale Bedeutung? Prägt dieser Schlüsselbegriff das Rechtsverständnis in dieser Gemeinschaft und macht er etwa auch eine zentrale Eigenart dieser Rechtsordnung aus? Auf dem Weg zur Beantwortung dieser Grundfrage sind die einzelnen Elemente des Integrations-Denkens näher zu beleuchten. 3. Integration, Voranschreiten, Evolution Als fortschreitend sich vertiefende Integrationsgemeinschaft hatte sich die EWG schon von Anfang von den Staaten und deren über 200 jährigen Geschichte unterschieden. In ihrer Idealgestalt haben sich die Staaten, die „Verfassungsstaaten“, wenigstens seit 1945, keine zu erreichenden „Ziele“ gesetzt. Politik war und ist Gestalten in einem Rechtsrahmen, nicht Vollzug von in der Verfassung gesetzten Zielen. Die Verfassungen waren und sind rechtliche Grundordnungen und als solche sind sie auf Stabilität angelegt, das Bewegende ist die Politik, die von der Verfassung rechtlich ermöglicht ist. Deshalb gibt es aus dem Traditionsbestand der Verfassung keine Vorbilder oder Rechtsregeln für eine Bewegung in den Formen des Rechts.53 Die EWG/EG/EU war dagegen mit ihrem zentralen Begriff der Integration und der fortschreitenden Integration von Anfang an auf Bewegung und Dynamik programmiert, Stillstand galt politisch als Rückschritt und Rückschritt als das schlechthin zu Vermeidende. Fortschreitende Integration bedeutete und bedeutete immer wieder einen Zustand oder Zustände der größeren Vertiefung der politischen Einheit und Erweiterung der öffentlichen Gewalt bzw. der öffentlichen Herrschaft54 zu erreichen. Zwar konnten und können die Staaten immer auch neue Staatsaufgaben übernehmen (z. B. sozialstaatliche Aufgaben, Umweltschutz, Verbraucherschutz). Aber zu Recht hat niemand in diesem Aufgabenzuwachs das Erreichen eines neuen Staatstyps gesehen. Integration ist seiner Natur nach ein Steigerungsbegriff. Eine Integrationsgemeinschaft wie die EWG versteht sich am Anfang in einer besonderen Weise als unfertig, als auf dem Weg befindlich, als Gemeinschaft, die ihren End(ausbau)zustand noch nicht erreicht hat, die weitere Stufen vor sich hat. 52 Dazu Schorkopf (Fn. 12) S, 14, 20, 32: treffend S. 20: „Bereits die Wahl des Begriffs „Integration“ für den neuen Typus grenzüberschreitender Zusammenarbeit ist ein erzählendes Element. Es macht das Bewegungselement zum Bauprinzip. Zum Gesamtthema „Bewegung und Finalität“ beachtenswerte Ausführungen ebd. S. 178 – 185. 53 Die Sozialstaats-Klausel im GG setzte und setzt keine konkrete Ziele, keine Programme wie sie dann in Parteiprogrammen stehen konnten. 54 Dass die EU eine Form von Herrschaft ist, die EU also Herrschaft ausübt, ist kein üblicher Sprachgebrauch, warum eigentlich nicht? Denn das EU-Recht berechtigt und verpflichtet aber auch die Einzelnen.

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Mit dem Zentralbegriff der Integration ist ein ganzes Bündel von Assoziationen verbunden, die zusammen eine Art Mentalität der Funktionsträger in der EU, seien es die Politiker, die Beamten der Kommission und die Richter am EuGH, begründeten. Gemäß dieser Grundüberzeugungen und einer Grundgestimmtheit ist alles Fortschreiten und Wachsen positiv belegt. Diese Mentalität ist geprägt von der Überzeugung, dass Fortschreiten auch Fortschritt bedeutet, es ist ihr also ein Fortschrittsverständnis eigen. Es kommt noch die Überzeugung hinzu, im Einklang mit dem großen Zug der Zeit zu stehen. Jede erreichte Integrationsstufe wird als Auftakt und Ausgang eines weiteren Ausgriffs verstanden. Auch in der Frage der Mitgliedschaft zeigt sich eine Bewegung, die sich klare Grenzen nicht geben will und der der Gedanke an eine Revision früherer Beitrittsentscheidungen schon im Ansatz fremd ist. Mehr als bei den Staaten und deren Rechtsordnungen hat deshalb die auf weitere Integration angelegte EU eine Tendenz zur Relativierung des gerade Erreichten und eine Orientierung auf eine noch bessere oder vertieftere Phase. Entstanden ist ein Grundgefühl des Auf-dem-Weg-Seins. Alles bisher zum Verständnis und Selbstverständnis der EU Gesagte lässt sich mit einem anderen Schlüsselbegriff der Moderne zusammenfassen, dem der Evolution. Die EWG/EG/EU war und ist eine politische Gemeinschaft, die sich dem Modell und dem Gedanken der Evolution verschrieben hat und die im Einklang mit ihren Grundimpulsen steht, wenn sie sich evolutiv denkt und voranschreitet. VII. Bewegungsmodus einer Integrationsgemeinschaft und Recht Damit lassen sich die rechtlichen Grundprobleme der EU präziser formulieren. Welche Herausforderungen stellen sich an das Recht der EU, wenn sein Gegenstand eine evolutiv voranschreitende, im Bewegungsmodus agierende Gemeinschaft ist. Wie kann Recht den Bewegungsmodus der EU auffangen und als Recht abbilden? Zunächst drängt sich eine Vorfrage auf, ob dies überhaupt ein (grundsätzliches) Problem ist. Wenn die einzelnen Integrationsstufen oder -niveaus durch ausdrückliche Regelungen der politischen Organe oder gar durch neue Vertragsbestimmungen klar voneinander abgegrenzt wären, dann wären auch die Weiterentwicklungen des Rechts durch die politischen Organe oder die Vertragspartner legitimiert und vollzogen. Für die Rechtsprechung und Rechtsanwendung bliebe die Anwendung der jeweiligen Integrationsstufe; das Richterrecht würde nur eine begrenzte Rolle spielen. Das Weiterschreiten selbst wäre durch die Politik veranlasst.55 Dann in der Tat bestünde kein Problem. Nun ist es aber offensichtlich, dass sich das Weiterschreiten und Evolutionieren des EWG/EG/EU-Rechts nicht immer in dieser Weise vollzogen hat, sondern dass gerade die Rechtsprechung des EuGH unter dem starken 55 So hat der Vertrag von Maastricht 1992 in seiner Präambel die Entschlossenheit ausgedrückt, „den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“ – dies war ein ausdrücklich durch den Vertrag und die politischen Organe vorgenommen Weiterentwicklung.

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Beifall der überwiegenden Auffassungen im Europarecht sich selbst auf den Weg zu weiteren Horizonten gemacht hat. Dafür muss es eine methodische Rechtfertigung geben. So stellt sich die abschließende Grundfrage: Wie muss man sich ein Recht, das sich auf eine fortschreitende Integration bezieht, vorstellen? Bildet das Recht diesen Bewegungsmodus ab und wie tut es das? Kommt in das Recht der EU seinerseits ein evolutiver Charakter und wie äußert er sich? Und die letzte schwierigste Frage: Wie kann Recht, das als eines seiner wichtigsten Elemente Stabilität und Sicherheit des im Recht Festgelegten hat oder anstrebt, den Gedanken der Evolution, des Ständigüber-sich-Hinausweisens verarbeiten und gleichwohl Recht bleiben können, das die Anforderungen an das Recht erfüllt? 1. Evolutive Gemeinschaft und Recht(smethoden) Ob sich das Integrationsdenken und das Evolutionsverständnis, das die Eigenart der politischen Gemeinschaft EU ist, in ihrem Recht und insb. in der Rechtsprechung niederschlägt, lässt sich nicht einfach, umstandslos oder direkt beantworten. Es ist Vorsicht und Behutsamkeit am Platze. Sicher muss und kann man damit rechnen, dass es relevante und folgenreiche Einwirkungen aus den gesamten „Umfeld“ des Rechts, sei es politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Art, auf das Recht gibt. Die Forschungsrichtung: law and contexts oder contexts and law geht diesen Abhängigkeiten nach. Auch in früheren Epochen des Verfassungsund Rechtsdenken ist immer wieder nach der Bedeutung von „Bezügen“ oder „Hintergründen“ für das Recht gefragt und deren Existenz bejaht worden. Es wäre aber ein Irrtum, wenn man meinte, solche philosophische oder zeitgenössische Einflüsse oder Kontexte direkt ins Recht und seine Inhalte übersetzen zu können oder dort ihre unmittelbare Widerspiegelung auffinden zu können. Stattdessen ist der Weg von solchen allgemeinen Vorstellungen ins Recht lang und häufig indirekt. Die Zielorientiertheit, der spezifische Zeitbezug und der Bewegungs- und Fortschreitens-Modus gehen nicht einfach in gewisse Inhalte des Rechts ein. Nach Normen, die direkt Bewegung oder Finalität abbilden, wird man in der Regel auch im EU-Recht vergeblich suchen. Zwar haben Übergangszeiten und -fristen einen Bezug auf die voranschreitenden und Zeit in Anspruch nehmenden Integrationsprogramme. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber um die Kontaktstellen zwischen dem evolutiven Fortschreiten der EU, also ihrem Bewegungsmodus und den Methoden des Rechts. Der Weg von der Politik zum Recht ist ein vermittelter, aber umso wirkungsvollerer. Es ist der Weg über die nicht-inhaltlichen Elemente des Rechts, nämlich über solche Elemente, die das jeweilige Rechtsverständnis in einer Rechtsordnung bestimmen, also Interpretations-Methoden, Regeln oder Vorstellungen über die Rolle von Gerichten. Mit diesen grundsätzlichen Vorstellungen in einer Rechtsordnung wird entschieden, wie weit die Auslegung sich erstrecken darf oder wie begrenzt

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sie bleiben muss, ob Gerichte das Recht fortbilden dürfen oder nicht56. Es ist der Weg über die Methodenverständnisse und die Interpretationsregeln. Der Grundimpetus der EWG/EG/EU, zu weiteren Integrationsstufen fortzuschreiten, kann in die Interpretationsmaximen und das Methodenverständnis eingehen und dort ein ausdehnendes expansives Interpretieren begründen. Insofern gibt es kein evolutives Recht (seinem Inhalt nach), aber es kann ein evolutives oder evolutionsbezogenes Interpretieren geben. Das kann sich bei der Bestimmung des Umfangs von Kompetenzen oder überhaupt beim Ausdehnen, Erweitern oder Neubestimmen von Grundbegriffen zeigen. Vermerkt sei noch, dass die Neubestimmung von Interpretationsmethoden und ggf. deren Ausrichten auf den Bewegungsmodus einer politischen Gemeinschaft an einer besonders wirkungsvollen und folgenreichen Stelle im Gesamtsystem des Rechts ansetzt und sozusagen eine strategisch wichtige „Stellschraube“ betrifft.57 Ein eigenes Rechtsverständnis kann sich auch darin niederschlagen, dass der Rechtsfortbildung, überhaupt einer rechtspolitischen Orientierung von Gerichten und Wissenschaft und dem Richterrecht im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen ein viel größerer Anwendungsbereich eingeräumt wird und dass Rechtspolitik und Rechtsfortbildung als Normalbestandteil des Umgangs von Gerichten mit dem Recht gelten. Insofern bedarf es nur einiger Akzentverschiebungen und die Rechtspraxis ist folgenreich verändert. 2. Evolutive Methode im Recht Interpretationsmethoden und die genannten Konkretisierungen des Rechtsverständnisses sind, obwohl sie für jede Rechtsordnung grundlegend sind, nicht überall einheitlich; der Vergleich zwischen den staatlichen Rechtsordnungen und der EU als Integrationsgemeinschaft zeigt dies. Insofern überrascht es nicht, dass sich die dargelegte Eigenart der EU als politische Einheit im Bewegungsmodus auch in den Methoden und Interpretationsweisen niederschlagen kann. Ob und wie weit der EuGH eine evolutionistische Interpretationsmethode einsetzt und sich damit zu einem aktiven Mitwirkenden beim Weiterschreiten der EU macht, müsste nun in einem eigenen zweiten Teil erörtert werden. Erforderlich wäre die Analyse der Rechtsprechung und ihrer großen Entscheidungen im Einzelnen. Dies kann hier nicht geleistet werden, sondern es können nur die Probleme einer evolutiven Methode mit ihrer spezifischen Zielbezogenheit und der Einbeziehung der Rechtspolitik in das Richterrecht behandelt werden. 56 Diese Schicht von (Methoden)Regeln über den Umgang mit den Normen sind wahrscheinlich von einer Rechtsordnung zur anderen unterschiedlicher als die Inhalte – insoweit reicht die Vergleichung der inhaltlichen Rechtsvorschriften wie es die traditionelle Rechtsvergleichung praktiziert, nicht weit genug. 57 Außerdem ist anzumerken: Auch die eben genannten Grundsätze und Grundlagen einer Rechtsordnung sind nicht deshalb, weil sie grundlegend sind, notwendigerweise in jeder Rechtsordnung gleich. Frühere Rechtsordnungen (etwa das Römische oder das mittelalterliche Recht) und heutige Rechtsordnungen sind gerade in diesen grundlegenden Annahmen und in ihrem Rechtsverständnis nicht gleich. Wenn dem so ist, dann hat die EU-Rechtsordnung selbstverständlich das „Recht“ auf eine eigene Methoden- und Interpretationsverständnis.

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Für die Berechtigung eines evolutiven Interpretierens in der Rechtsordnung der EU spricht zunächst die gerade erwähnte mögliche Parallelität zwischen dem evolutionsbezogenen politischen „Lebensgesetz“ der EU und einer entsprechenden evolutionistischen Interpretationsmethode. Man kann auch die Formel von der „immer engeren Union der Völker Europas“, obwohl sie in der Präambel enthalten ist, als Rechtssatz des europäischen Rechts verstehen und in den evolutiven Methoden einen Ausdruck dieses Rechtssatzes sehen. Nach diesem Gedankengang hätte sich also die evolutive Grundhaltung der europäischen Verträge eine ihr adäquate Interpretationsmethode in einem evolutiven Verständnis des Rechts und der Rechtsanwendung geschaffen. Soweit kann man grundsätzlich einem solchen Gedankengang folgen. Nicht die angenommene Parallelität ist das Problem; fraglich ist vielmehr, wie ein solchermaßen auf die Zukunft hin beschleunigtes Recht den genuin normativen Anforderungen des Rechts gerecht werden kann. Anzusetzen ist dabei an dem Grundsatz: Recht und rechtsgebundene Entscheidungen sollen sich ihrer Eigenart nach nicht durch das Ergebnis, durch die politische Erwünschtheit des Ergebnisses und auch nicht wegen ihrer Eignung, die weitere Integration zu befördern, rechtfertigen, sondern durch Argumentationen, die dem limitierenden Charakter juristischer Begriffe gerecht werden und damit dem Handlungswillen der politischen und exekutiven Organen Grenzen setzen. Eine Formel: „in dubio pro integratione“ wäre dazu nicht geeignet. Deshalb ist auch wichtig, dass schon der Anschein eines solchen Vorgehens vermieden wird. Die normativen Begriffe haben – natürlich – ihren Eigenwert. Sie wollen Handlungsermächtigungen begrenzen, sie an Voraussetzungen binden und die Ermächtigung spezifizieren. Die Gerichte sollen an hand dieser normativen Begriffe die Voraussetzungen und Eingrenzungen überprüfen und insgesamt die im Recht enthaltenen Grenzen geltend machen. Die Einhaltung des limitierenden kompetenzbegrenzenden Charakters normativer Begriffe steht in Gefahr, wenn evolutive Auslegung zur Maxime avanciert und noch gar zur Maxime, im Vorgriff auf Zukünftiges das mögliche kommende Recht schon heute als geltendes auszugeben. Geboten ist eine genuin juristische Einhegung einer evolutiven Methode; nur dann könnte sie sich in das Recht einfügen. Auch hier müsste noch vieles im Einzelnen erörtert und die Argumente theoretisch vertieft werden. Aber auch ohne eine solche Detailuntersuchung kann man eine Beobachtung aus der Praxis in den staatlichen Rechtsordnungen anfügen. Ein Vorgehen der Gerichte und eine Reflexion in der Rechtswissenschaft, die das Limitierende juristischer Begriffe und überhaupt die Begrenzungsfunktion des Normativen hinreichend geltend machen, lässt sich in der Praxis leicht erkennen, nämlich daran, dass staatliche Verfassungs- und Verwaltungsgerichte immer wieder Anlass hatten und Anlass nahmen, die von ihren zu kontrollierenden politischen Instanzen die Verletzung des einschlägigen Rechts vorzuhalten. Es bleibt ein staunenswertes und bemerkenswertes Ergebnis, dass die politischen Organe der EU von dem für sie zuständigen Gericht in jahrzehntelanger Tätigkeit so selten den Vorwurf der Verletzung des EU-Rechts zu hören bekamen. Auch das Europarecht bleibt, was die wissenschaftliche „Kontrolle“ des Handelns der politischen Organe der EU und der

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Rechtsprechungstätigkeit des EuGH angeht, weit hinter der Arbeitsweise der Verfassungsrechtswissenschaft zurück. Die Rede ist hier nicht von den Routine-Entscheidungen der europäischen Gerichte; die Rede ist von der beträchtlichen Zahl von weichenstellenden Urteilen, die die Zukunft in Richtung weiterer Integration öffnen. Es scheint doch einen gewissen Zusammenhang zwischen der evolutiven, das Fortschreiten in sich aufnehmenden Methode und der Seltenheit aufhebender Urteile zu geben. Nicht anders ist es zu beurteilen, wenn der EuGH aus eigenem Antrieb weitere Stufen der Integration anstrebt und aus diesem Grund das bisherige Verständnis von Rechtsbegriffen ausweitet und stark ausweitet. Es fällt schwer, den sich aufdrängenden Eindruck zurückzuweisen, dass der EuGH und das Europarecht sich eher als Teil und Teilnehmer des großen europäischen Projekts, denn als Kontrolleure sehen. Es sei wiederholt: Gefordert ist eine juristische Einhegung der evolutiven, die Zukunft ins Recht hinein nehmenden Methode. Es steht die Antwort darauf aus, welche Voraussetzungen und nähere rechtliche Konkretisierungen eingehalten werden müssen, um evolutives Interpretieren und die Logik der wachsenden Integration mit den Anforderungen des Rechts kompatibel zu machen. Diese wenigen Ausführungen sollen einen Eindruck davon vermitteln, dass das Problemfeld: evolutive Methode und Rechtscharakter des Rechts komplexer und problembeladener ist als gemeinhin angenommen und deshalb verstärkter Aufmerksamkeit und weiterer Analyse bedarf.

Kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen? Von Christian Waldhoff Michael Kloepfer hat sich bleibende Verdienste durch seine Beschäftigung mit dem Gesetz erworben. Nicht nur durch sein bis heute aktuelles und wichtiges Staatsrechtslehrerreferat von 19811, sondern weit darüber hinaus hat er vielfältig zum Thema Gesetzgebung und Rechtsetzung publiziert2, Qualifikationsarbeiten aus diesem Bereich angeregt und betreut3 sowie einen eigenen Schwerpunktbereich im Lehrprogramm der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin etabliert4. Von besonderem Interesse sind Kloepfers Überlegungen vor dem Hintergrund erkannter Defizite5, was das Gesetzgebungsverfahren aus dem Verwaltungsverfahren und dem Planungsrecht übernehmen, „lernen“ könnte6. Seine Kernthese ist, dass im durch materielle Verfassungsbindungen hinsichtlich der Normsetzung nivellierten Gewaltenteilungsschema ein parlamentarische Gesetzgebung und exekutive Normgebung übergreifendes „Normerlassrecht“ möglich werde, sofern und soweit die einfachrechtlichen Regelungen des Verfahrens- und Planungsrechts nicht unbesehen zur Verfassungsinterpretation für das sog. innere Gesetzgebungsverfahren herangezogen, sondern als Konkretisierungen des in der Verfassung ohnehin angelegten aufgefasst werden, sich mithin abstrahiert – wenn auch ungeschrieben – in der Verfassung selbst widerspiegeln7. Dieses Normerlassrecht werde daher mehr „enthüllt“ als ent1

Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 ff. Beginnend mit der Habilitationsschrift: Vorwirkung von Gesetzen, 1974. 3 Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000; Theodor Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994; Thilo Brandner, Gesetzesänderung, 2004. 4 Schwerpunktbereich 2: Rechtspolitik und Rechtsgestaltung mit den Pflichtvorlesungen im Wintersemester: Grundlagen der Rechtserzeugung und Politik; Gesetzgebungslehre, Gesetzgebungstechnik, Gesetzesfolgenabschätzung; Rechtsetzungsrecht; Soziale, ökonomische, kulturelle und politische Dimensionen der Rechtserzeugung – Grenzen des Rechts. Dieses Programm wird im Sommersemester durch zahlreiche Wahlveranstaltungen ergänzt. 5 Zuletzt Michael Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, §§ 6 f. 6 Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen? ZG 1988, S. 289 ff. 7 Die dann freilich – wie auch Kloepfer konzediert – durchaus abgestuft und modifiziert für die parlamentarische Rechtsetzung einerseits, exekutive Normsetzung andererseits wiederum zu konkretisieren sind; vgl. auch Messerschmidt (Fn. 3), S. 817 ff. Grundsätzlich kritisch Jens Kersten, Was kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen? DVBl. 2012, S. 585 (588). 2

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wickelt. Als für ein übergreifendes Normerlassrecht zu prüfende verwaltungsrechtliche Kategorien werden dabei programmatisch erwogen: - Grundsätze über den Vertrauensschutz, insbesondere bei Verwaltungsakten - die Anfechtbarkeit von Verwaltungsakte und die Nichtigkeitslehre - die verwaltungsrechtliche Ermessenslehre - die Selbstbindung der Verwaltung - das Übermaßverbot - Postulate des Verwaltungsverfahrens - Grundsätze der öffentlich-rechtlichen Entschädigung - sowie die Einklagbarkeit von Verwaltungsakten. Das Programm diene – durchaus in Fortsetzung von Intentionen Fritz Werners – als „Wiedervereinigung“ von Verfassungs- und Verwaltungsrecht8. Dies ist alles andere als ein Zufall, repräsentiert doch der Jubilar wie kaum ein anderer die gleichrangige Verwurzelung im Verfassungs- und im Verwaltungsrecht! Die hier skizzierten Überlegungen sollen in dem Michael Kloepfer gewidmeten Beitrag als Inspiration dienen, in der Fragestellung jedoch eine Erweiterung erfahren: Was kann das Verfassungsrecht – auch und vor allem jenseits der Gesetzgebung – insgesamt vom Verwaltungsrecht lernen9 ? Was bedeutet „lernen“ in diesem Zusammenhang? Dabei soll die vom Jubilar in den Vordergrund gestellte Analyse eines übergreifenden Normenerlassrechts ausgeblendet bleiben. Der Reiz der Fragestellung liegt in der Irritation durch die Normenhierarchie und damit in der Relativierung der Normenhierarchie selbst: Nach dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung10 beeinflusst, steuert und bindet das Grundgesetz das Verwaltungsrecht und nicht umgekehrt. Nach den Lernpotentialen des Verfassungs- vom Verwaltungsrecht zu fragen erweist sich damit avers zu der unser juristisches Denken mittlerweile mehr als uns bewusst ist beeinflussenden Denkrichtung.

8 Berechtigte Hinweise zu der – auch im internationalen Vergleich – traditionell großen Nähe zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Deutschland bei Friedrich Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft (= Beiheft 7 zu „Die Verwaltung“), 2007, S. 177 (179 f.). 9 Vgl. etwa auch Kersten (Fn. 7); ferner Schoch (Fn. 8). 10 Vgl. nur Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401.

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I. Problementfaltung Der verwaltungsrechtliche Diskurs der Gegenwart erscheint attraktiv11. An dem mit der Steuerungsdiskussion, der ja vorwiegend verwaltungsrechtlich inspirierten Debatten um Privatisierung, Deregulierung, Europäisierung und Transnationalisierung umschriebenen, teilweise als „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ auf den Begriff gebrachten Paradigmenwechsel12 arbeiten sich die Fachvertreter des Öffentlichen Rechts ab. Der verfassungsrechtliche Diskurs erscheint demgegenüber – ganz anders als etwa in der Weimarer Zeit13 – etwas erlahmt14. Zugegeben: Europäisierung, internationale Öffnung sind auch hier wesentliche und innovative Entwicklungen und Diskussionsfelder. Im Übrigen prägt jedoch der vielgescholtene Verfassungsgerichtspositivismus15 das Feld und erst in der letzten Doppel-Dekade kommen aus einer ganz anderen Ecke, der Staats- bzw. Verfassungstheorie16, überhaupt aus den Grundlagenfächern17 neue Impulse für das Verfassungsrecht18. Methodisch und konzeptionell scheint das Verfassungsrecht gleichwohl im Hintertreffen zu sein, zumal die unionsrechtliche Überlagerung eher über das Verwaltungsrecht

11 Die zurückhaltendere Einschätzung von Rüdiger Breuer, Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 36 (2003), S. 271 ff., beruht eher auf seiner mit Unbehagen vorgenommenen Einschätzung der Normsetzung im Verwaltungsrecht und ihrer europarechtlichen Überlagerung denn auf der Wissenschaft als solcher. 12 Statt vieler Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 1. 13 Vgl. nur Peter Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz. Ein verfassungstheoretischer Vergleich, 2004. 14 Ähnlich Schoch (Fn. 8), S. 198. 15 Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161; Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: Depenheuer/Heintzen/Axer/Jestaedt (Hrsg.), Nomos und Ethos, 2002, S. 183; Michael Kloepfer, Vom Zustand des Verfassungsrechts, JZ 2003, S. 481 (482 f.); differenziert Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 11 (28 ff.); kritisch Schoch (Fn. 8), S. 187 ff. 16 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier erwähnt Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006; ders., Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009; ders., Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1; ders./Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008. Vgl. demgegenüber zu entsprechenden Defiziten in der Staatsrechtswissenschaft Martin Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft (= Beiheft 7 zu: „Die Verwaltung“), 2007, S. 49. 17 Für eine Stärkung der Grundlagenfächer in Forschung und Lehre der Rechtswissenschaft jetzt überzeugend und nachdrücklich Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, 2012. 18 Zur Theorieferne, ja -feindlichkeit der (Nachkriegs-)Staatsrechtslehre und deren Fernwirkungen Matthias Jestaedt, Theorie (Fn. 16); Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008, S. 31 f.

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und damit mittelbar verläuft19 bzw. die Unterscheidung – wie auch andere Gliederungsprinzipien der Rechtsordnung – nicht zuletzt wegen des funktionalen Ansatzes der Integration ignoriert wird. Kurzum: Der „Fortschritt“, die Innovation scheint gegenwärtig eher aus dem Verwaltungsrecht zu kommen. Andererseits stößt der Studierende der Rechtswissenschaft recht schnell auf das zum geflügelten Wort gewordene Diktum des ersten Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Fritz Werner20, wonach Verwaltungsrecht „konkretisiertes Verfassungsrecht“ ist21. Nach zehn Jahren Geltung und auch bereits beachtlicher Wirksamkeit des Grundgesetzes konnte so der überragende Einfluss der Verfassung auf das Verwaltungsrecht schlaglichtartig verdichtet und als Erfolgsgeschichte formuliert werden22. Die verfassungsrechtliche Ebene – sowohl das Grundgesetz als Produkt des Parlamentarischen Rates, als auch das Bundesverfassungsgericht – waren zudem „unbelastet“23, eine Feststellung, die weder für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, noch für den Verwaltungsstab als solchem hätte getroffen werden können. Zugleich konnte man sich so von dem älteren, wohl noch berühmteren, launigen Diktum Otto Mayers aus dem Vorwort der dritten Auflage seines Opus magnum absetzen, der ja eine vermeintliche oder wirkliche Immunisierung des überkommenen, fortbestehenden Verwaltungsrechts im Verhältnis zu wechselnden Verfassungsordnungen beschrieb – 1924, also in relativer Nähe zum fundamentalen legitimatorischen Umschwung von 1918/19 – eine besondere Pointe, die freilich einem traditionellen Verständnis des französischen Verwaltungsrechts und französischer Verwaltungsjuristen genauso entsprochen hätte (nur angemerkt sei, dass freilich über die genuin konstitutionelle Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes24 die vermeintliche Verfassungsferne des Verwaltungsrechts ebenfalls eine Fiktion war. Deutlich vor Mayer hatte etwa Lorenz von Stein in seinem „Handbuch der Verwaltungslehre“ bereits von der Verwaltung als „tätig werdender Verfassung“ gesprochen). Gerade in dem von Werner verwendeten Begriff der Konkretisierung scheint sich anzudeuten, dass das Verwaltungsrecht durch das Grundgesetz determiniert ist, dass es bei Verwaltung und Ver-

19 Peter Axer/Bernd Grzeszick/Wolfgang Kahl/Ute Mager/Ekkehart Reimer (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Beiheft 10 zu „Die Verwaltung“, 2010. 20 Zu ihm als Person: Fritz Werner zum Gedächtnis, 1970. 21 Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl. 1959, S. 527. 22 Vgl. die Analyse von Christoph Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“. Die Entstehung eines grundrechtsabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 53 ff.; vgl. zu dem etwas anders verlaufenden Verhältnis von Verfassungsrecht und Steuerrecht Christian Waldhoff, 60 Jahre Grundgesetz – aus der Sicht des Steuerrechts, JöR 59 (2011), S. 119. 23 Vgl. nur Christian Waldhoff, Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und das Grundgesetz, in: Der Staat 49 (2010), S. 51 (63). 24 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, 1988, S. 116 ff., 129 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 113 ff.

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waltungsrecht um so etwas wie Verfassungsvollzug geht25 : je stärker die Anbindung an die Verfassung, je geringer die Spielräume – die dann als rechtfertigungsbedürftige Ausnahmen, als Abweichung vom Normalzustand erscheinen – sind, desto „idealer“ das Verwaltungsrecht. Die „Vollkonstitutionalisierung“26 des Verwaltungsrechts erscheint so – anders als bei anderen Rechtsgebieten, die weniger der Transformation politischer Entscheidungen dienen, als das Verwaltungsrecht – als Ziel27. Der Reiz der Fragestellung liegt in der wirklichen oder scheinbaren Irritation der Normenhierarchie: Wie soll angesichts des Vorrangs der Verfassung, der unser Denken so stark prägt, die „obere“ von der „unteren“, die fragmentarischere von der konkreteren28, die zielvorgebende von der detaillierenden Normebene „lernen“? Die von Kloepfer in die Diskussion eingeführte29 Lernmetapher gilt es zunächst zu konkretisieren. „Lernen“ i. e.S. können in der Sache nur Personen, Recht als Normenkorpus kann selbstverständlich nicht „lernen“ i.S.e. Tätigkeit. „Lernen“ meint im vorliegenden Zusammenhang also von vornherein ein Bild, eine Metapher, um bestimmte Vorgänge in der Rechtsordnung besser beschreiben zu können. „Lernen“ kann – das dürfte bereits deutlich geworden sein – hier kaum als eine Prägung in der Normenhierarchie von der vorrangigen auf die nachrangige Geltungsebene verstanden werden; ich fasse lernen hier vielmehr als eine Chiffre für Rezeptions-, Transformations-, Öffnungs-, Informations- und Einwirkungsprozesse, bezogen auf Rechtsbereiche auf30. Etwas anspruchsvoller lesen wir in einem Text über lernendes Recht, dass Lernen „sich als reflexiv organisierte Veränderung von Wissensbeständen in der Zeit“, als „produktive Koppelung von Wissensbeständen“ und somit als wechselseitiger Vorgang fassen lässt31. Was damit wirklich gemeint ist und gemeint sein kann, wird am Ende dieses Beitrags noch einmal reflektiert werden. 25

Zur notwendigen Konkretisierung von Verfassungsrecht durch den Gesetzgeber und die Rechtsanwender nur Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rdnr. 60 ff. 26 Vgl. zur Konstitutionalisierungsdiskussion etwa Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Matthias Jestaedt, Eine deutsche Perspektive, in: Masing/Jouanjan (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 2011, S. 37. 27 Dagegen überzeugend etwa unter dem Konzept der Verfassung als „Rahmenordnung“ und der dadurch implizierten politischen Gestaltungsspielräume jeglichen Gesetzgebers Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 (13 ff.). 28 Vgl. etwa Schoch (Fn. 8), S. 183 ff. 29 (Fn. 6), S. 289. 30 Zu einem anderen „Lernvorgang“, dem Verhältnis von juridischem Wissen und Alltagswissen, instruktiv Doris Lucke, Was weiß Recht? in: Cottier/Estermann/Wrase (Hrsg.), Wie wirkt Recht? 2010, S. 147 ff.; auf die Verfassunggebung bzw. Verfassungsänderung bezogen Michael Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung, 1994. 31 Claudio Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 4 Rdnr. 97 ff. (98, 100, Zitate).

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II. Typologie von Lernprozessen Begonnen werden soll mit dem Versuch einer Typologie von Lernprozessen des Verfassungs- vom Verwaltungsrecht. „Typologie“ deutet an, dass hier verschiedene Ebenen und Ansatzpunkte nebeneinandergestellt werden, dass die Beispiele und Unterscheidungen sich überlagern können. Das liegt auch darin begründet, dass nicht immer scharf zwischen „Verfassung“ und „Verfassungsrecht“, zwischen „Verwaltung“ und „Verwaltungsrecht“ unterschieden werden kann und dass die Beispiele teilweise auf der Ebene der Rechtsnormen als solcher, teilweise der Rechtsdogmatik32 anzusiedeln sind. 1. Rezeption einfachrechtlicher Normenbestände Eine erste Gruppe von „Lernprozessen“ ist die Aufnahme einfachgesetzlicher – hier: verwaltungsrechtlicher – Begriffsbildung in die Verfassungsrechtsbegriffe33. Bestes Beispiel ist der verfassungsrechtliche Steuerbegriff der Art. 105 und 106 GG. Dieser ist nichts anderes, als ein Destillat, eine Abstraktion des einfachgesetzlichen Steuerbegriffs wie er im Anschluss an die Definition Otto Mayers in seinem Verwaltungsrechtslehrbuch zunächst in § 1 RAO 1919 und heute in § 3 AO 1977 Eingang gefunden hat34. Das einfachgesetzliche allgemeine Steuerrecht definiert somit den zentralen verfassungsrechtlichen Kompetenzbegriff der Finanzverfassung, um überhaupt entscheiden zu können, ob eine Abgabe eine Steuer oder etwas anderes darstellt. Anders ausgedrückt: Die Kompetenzbegriffe im Grundgesetz müssen einen Inhalt haben, um überhaupt abgrenzend wirken zu können. Diese allgemeine Entwicklung der Aufnahme einfachrechtlicher Begriffe ist bereits in den 1960er Jahren mit der treffenden Formulierung „Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung“ erkannt und beschrieben worden35. Ganz ähnlich stellen sich Lernprozesse im Sinne einer expliziten Öffnung der Verfassung für Verwaltungsrecht, für verwaltungsrechtliche Normen, Rechtsinstitute bzw. Prägungen dar. Das augenfälligste Beispiel ist vielleicht Art. 33 Abs. 5 GG, wonach die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ Maßstab für die Regelung und – jetzt ergänzt – auch Fortentwicklung des Rechts des öffentlichen Dienstes darstellen36. Die alte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts lautet, dass es 32

Dazu jetzt insgesamt Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? 2012. 33 Vgl. auch Kersten (Fn. 7), S. 587. 34 BVerfGE 7, 244 (251). 35 Walter Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964; aufgegriffen und weitergeführt von Kloepfer (Fn. 6), S. 296 f. 36 Dazu etwa Josef Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 32 Rdnr. 62 ff.; Andreas Voßkuhle, Personal, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 3, 2009, § 43 Rdnr. 72 ff.

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sich um Grundsätze handele, die in einem längeren, Tradition bildenden Zeitraum, mindestens jedoch unter der Reichsverfassung von Weimar prägend gewesen seien37. Diese Grundsätze waren mithin im einfachgesetzlichen, unterverfassungsrechtlichen Beamtenrecht verankert und wurden 1948/49 vom Verfassunggeber rezipiert. Nicht zufällig handelt es sich bei Art. 33 Abs. 5 GG um einen Prototyp einer sog. institutionellen Garantie, die mit sog. Institutsgarantien unter die Oberkategorie der Einrichtungsgarantien gefasst werden können38. Die klassische Institutsgarantie ist das Eigentumsrecht des Art. 14 GG39. Hier wird die auch – wenn auch nicht nur – verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Eigentums zwischen dem ersten Satz im Abs. 1 – Gewährleistung des Eigentums – und dem Ausgestaltungsvorbehalt in Satz 2 („Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“) deutlich. Das Verfassungsrecht nimmt mithin bei normgeprägten Grundrechten und grundrechtsähnlichen Gewährleistungen die verwaltungsrechtliche Konkretisierung der jeweiligen Ordnung in die Bestimmung des Schutzgegenstands auf, um in einem dialektischen Prozess dann gleichwohl derartige „Ausgestaltungen“ verfassungsrechtlich an seinem Maßstab prüffähig zu halten. Im Grunde handelt es sich auch hier um die Bewegung von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung – nur nicht lediglich bezogen auf einzelne konkrete Begriffe, sondern ganze Normenkomplexe. Ob diese Einrichtungsgarantien unter dem Grundgesetz mit seinen ausgebauten und effektiven Schranken-Schranken anders als unter dem Weimarer Ringen gegen das Leerlaufen von Grundrechten noch dogmatische Bedeutung haben40, ist zweifelhaft; darauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Überhaupt erscheint es fraglich, ob und inwieweit die Normprägung einige Grundrechte wirklich von den übrigen Freiheitsrechten dogmatisch abhebt oder ob nicht Grundrechte insgesamt auf Ausgestaltung angelegt sind41, ob es sich um eine kategoriale oder lediglich graduelle Unterscheidung handelt. Um hier noch ein aktuelles und umstrittenes Beispiel aus dem Bereich des Informationsrechts zu bringen: Nach Art. 5 Abs. 1 GG hat jeder das Recht „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ – welche Quellen jedoch allgemein zugänglich sind, wird auch durch die einfachgesetzlichen Festlegungen über Aktenöffentlichkeit und Arkanbereiche, also wiederum verwaltungsrechtlich festgelegt. Aus diesem historisch ganz anders zu erklärenden Grundrecht einen Verfassungsauftrag gegen die Arkanmaxime herzuleiten, hat noch nie richtig überzeugt42.

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BVerfGE 8, 332 (343). Begriffsprägend Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Aufl. 1985, S. 140 (zuerst erschienen 1931); vgl. auch Michael Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 43. 39 Für die Verfassungsrechtsprechung grundlegend BVerfGE 24, 367 (388 ff.). 40 In der Tendenz bejahend Ute Mager, Einrichtungsgarantien, 2003. 41 Vgl. Matthias Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, v. a. S. 494 ff., 633 ff. 42 In der Tendenz anders Bernhard Wegener, Der geheime Staat, 2006, S. 390 ff. 38

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2. Funktionsverlagerung zwischen den Ebenen der Verfassung und der Verwaltung / des Verfassungsrechts und des Verwaltungsrechts Zweitens können Rezeptionen im Sinne von Funktionsverlagerungen/-verfehlungen beschrieben werden. Ich meine damit Regelungen in der Verfassung, die eigentlich in das Verwaltungsrecht „gehören“, die man eigentlich dort vermuten würde, die einen „Verwaltungsvorbehalt“43 tangieren. Art. 16a GG, die Formulierung des sog. Asylkompromisses 1993, erreicht eine viel kritisierte Technizität, die verfahrensrechtliche und prozessuale Festlegungen im Sinne eines verfassungskräftigen Sonderregimes für das Asylverfahren trifft, europarechtliche Entwicklungen explizit aufgreift und schon allein optisch den Duktus des Grundrechtsabschnitts des Grundgesetzes sprengt44. Äußerlich weniger auffällig, in der Sache jedoch eine weitere Stufe an Detaillierung und Technizität betretend, zeigen sich neuere Ergänzungen der Finanzverfassung (Art. 106a GG, die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs betreffend45 und jetzt auch die sog. Schuldenbremse der Föderalismusreform II, hier insbesondere auch Übergangsvorschriften (Art. 143c und d GG)46). In diesen Fällen wird der für unsere Fragestellung zentrale fragmentarische Charakter von Verfassungsrecht47 durch politische Kompromisshaftigkeit überspielt. Bekannterweise äußern sich Kompromisse in verfassungsrechtlichen Normen auf zweierlei Weise: Entweder, es wird in der Sache nichts geregelt und ein „dilatorischer Formelkompromiss“ eingegangen; oder: durch übergroße Technizität versuchen die am Kompromiss beteiligten Gruppen möglichst viele ihrer Positionen im Normtext ohne Auslegungsspielräume unterzubringen48. Die Funktionsverschiebung / Funktionsverfehlung der verfassungsrechtlichen Ebene der hier beschriebenen Art gehören zum zweiten Kompromisstyp. Die Problematik dieses Bereichs liegt weniger in verfassungsästhetischen Fragen, die bei der Föderalismusreform II immerhin den Bundestagspräsidenten an seiner Zustimmung zu den seiner Meinung nach sprachlich verunglückten neuen Vorschriften hinderten, als vielmehr in einem demokratietheoretischen Problem der erschwerten Abänderbarkeit, eines Entzugs aus dem durch

43 Dazu Hartmut Maurer und Friedrich E. Schnapp, Der Verwaltungsvorbehalt, VVDStRL 43 (1985), S. 135 und 172. 44 Michael Brenner, Die neuartige Technizität des Verfassungsrechts und die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, AöR 120 (1995), S. 248; Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35; Kloepfer (Fn. 15), S. 484 f. 45 Vgl. Jürgen W. Hidien, Der spezielle Finanzierungsausgleich gem. Art. 106a GG, DVBl. 1997, S. 595. 46 Statt vieler Christian Waldhoff/Peter Dieterich, Die Föderalismusreform II – Instrument zur Bewältigung der staatlichen Finanzkrise oder verfassungsrechtliches Placebo? ZG 2009, S. 97. 47 Wiederum Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 (16 f.). 48 Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis, Kompromisshafte Verfassungsnormen, 2010.

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einfache demokratische Mehrheiten geprägten politischen Alltagsgeschäft49. Der Vorrang der Verfassung und die erschwerte Abänderbarkeit korrespondieren mit ihrem fragmentarischen Charakter und führen zu Friktionen, sobald der Verfassungstext die Detaillierung und Regelungsschärfe des einfachen Verwaltungsrechts erreicht50. 3. Rezeption dogmatischer Figuren des Verwaltungsrechts im Verfassungsrecht Schließlich – drittens und letztens – der Kern der Sache, die Übernahme von Konzepten, dogmatischen Gebäuden und Paradigmen des Verwaltungs- in das Verfassungsrecht. Der „Klassiker“ ist hier die Übernahme, Veränderung und Weiterentwicklung des aus der Rechtsprechung des Preußischen OVG überkommenen polizeirechtlichen Übermaßverbots zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als alles dirigierender grundrechtlicher Schranken-Schranke, ja noch mehr: der Abwägung als Grundform verfassungsrechtlicher Argumentation51. Hierbei handelt es sich sogar um eine der wenigen nachhaltigen deutschen rechtsdogmatischen Exporterfolge auf die unionale Rechtsebene52. Zu nennen wäre der weite Bereich der Prozeduralisierung, das Organisationsrecht oder Art. 20a GG (die Konstitutionalisierung des Umweltschutzes) oder Art. 87 f GG (Post und Telekommunikation), wo sich Verfassungsrecht als abstrahiertes Verwaltungsrecht zeigt, Entscheidungen des Verwaltungsgesetzgebers und der Verwaltungsgerichtsbarkeit werden als angemessen und verallgemeinerbar erkannt und dann konstitutionalisiert durch verfassungskräftige Festschreibung.

49 Allgemein Dieter Grimm, Recht und Politik, JuS 1969, S. 501; konkret Kersten (Fn. 7), S. 587. 50 Am Beispiel der Forderung, den sog. Atomausstieg verfassungskräftig festzuschreiben, entsprechend kritisch Michael Kloepfer, Herrschaft auf Zeit, FAZ v. 15. 6. 2011, S. 8. 51 Prägend Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, 2. Aufl. 1998; zur historischen Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes m.w.N. Barbara Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995. Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Herstellung einer Zweck-Mittel-Relation; der zentrale Unterschied zwischen der verwaltungs-/polizeirechtlichen und der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung besteht freilich darin, dass der Gesetzgeber innerhalb der Rahmenordnung der Verfassung den Zweck als Ausgangspart dieser Relationierung frei wählen kann, während die Verwaltung im Vollzug des Verwaltungsrechts hinsichtlich des Zweckes durch das Verwaltungsrecht fremdprogrammiert ist; vgl. näher Kersten (Fn. 7), S. 588, der daher hinsichtlich dieses vielfach bejubelten Rezeptionserfolges angesichts der bestehenden funktionalen Unterschiede zwischen Verwaltung/Verwaltungsrecht sowie Verfassung/Verfassungsrecht zu einer ambivalenten Bewertung dieses „Lernvorgangs“ gelangt. Verstünde man entgegen der (auch) hier vertretenen Auffassung Gesetzgebung freilich als Verfassungsvollzug, als Optimierungsaufgabe, mutierten „die Gesetzmäßigkeitsanforderungen für Verwaltungsmaßnahmen“ zu „Rechtmäßigkeitsanforderungen für Gesetze“, so treffend Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 74. 52 Johannes Saurer, Die Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Der Staat 51 (2012), S. 3 (8 ff.).

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4. Zwischenergebnis Als Zwischenfazit kann festgehalten werden: Betrachtet man die Typologie von „Lernvorgängen“, so wird die Paradoxie der Umkehrung der Normenhierarchie durch die hier verwendete Lernmetapher durch den notwendig fragmentarischen Charakter jeglichen Verfassungsrechts aufgefangen und erklärt. Exogene Entwicklungen erreichen nun einmal im Regelfall zuerst die konkrete Ebene der Ausführung und Umsetzung. Hinzu kommt, dass mit dem deutschen Modell der verselbständigten Verfassungsgerichtsbarkeit53 dieses auf die Aktivierung verfassungsrechtlicher Argumente institutionell geradezu angewiesen ist: Der „Stoff“ und die juristische Vorbereitung dieses Stoffes – man könnte auch von Sachverhaltsprägung54 sprechen – in zumeist drei verwaltungsgerichtlichen Instanzen dient nicht nur der Entlastung der Verfassungsgerichtsbarkeit55, sondern ist notwendige Voraussetzung und Aufbereitung für eine verfassungsrechtliche Prüfung56 (die im Übrigen ja auch schon in den uneingeschränkt verfassungsgebundenen fachgerichtlichen Instanzen stattgefunden hat oder zumindest hätte stattfinden müssen!). Es ist vielfach vergessen, dass etwa das Bundesverwaltungsgericht lange vor dem Apothekenurteil von 1958 anhand einer Art Entrümpelung des ausgesprochen dirigistischen Wirtschaftsverwaltungsrechts des Dritten Reiches, insbesondere der Kriegszeit etwa bei der Verwerfung von Bedürfnisprüfungen bei Gaststätten die Grundrechtsdogmatik zu Art. 12 GG vorgeprägt hatte57; um einen Verfassungs- und Verwaltungshistoriker zu zitieren: „Das Verfassungsgericht trug der Verwaltungsgerichtsbarkeit hier also nicht etwa die Fackel voran, sondern die Schleppe hinterher.“58 Schlagwortartig ist dem „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ das „Verfassungsrecht als abstrahiertes oder gebündeltes Verwaltungsrecht“ gegenüberzustellen. III. Gelungenes und misslungenes „Lernen“ des Verfassungs- vom Verwaltungsrecht Mein dritter Teil betrifft Beispiele gelungenen und misslungenen Lernens59 am Beispiel der letztlich eine Rezeption aus dem Verwaltungsrecht darstellenden 53

Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rdnr. 3. In der Tendenz umgekehrte Beobachtungen in: Rupert Scholz/Dieter Lorenz/Christian Pestalozza/Michael Kloepfer/Hans D. Jarass/Christoph Degenhart/Oliver Lepsius, Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008. 55 BVerfGE 47, 144 (145): „Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben aller Gerichte, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bei Verfassungsverletzungen Rechtsschutz zu gewähren.“ 56 BVerfGE 9, 3 (7 f.); 65, 1 (38); 79, 29 (37): „Fallanschauung der Fachgerichte“. 57 BVerwGE 1, 48; dazu Schönberger (Fn. 22), S. 69 ff. m.w.N. 58 Schönberger (Fn. 22), S. 71. 59 Anderer Zugriff bei Kersten (Fn. 7), S. 587, 589, der seine Kategorie des „rezipierenden Lernens“ grundsätzlich kritisch, demgegenüber das „reagierende Lernen“, d. h. die Möglichkeit der Verwerfung oder Approbation verwaltungsrechtlicher Innovationen, positiv bewertet; der Unterschied zu der hier vorgelegten Analyse besteht u. a. darin, dass das „reagierende 54

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Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren. Die Leitentscheidung ist der „Mülheim-Kärlich“-Beschluss von 197960. Das differenzierte atomrechtliche Genehmigungsverfahren – ein besonderes förmliches Verwaltungsverfahren – wird in der Entscheidung als Absicherung und Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflicht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG gedeutet, da so eine hinreichende Beteiligung der Betroffenen gesichert sei; zudem handele es sich um eine Vorverlagerung von Rechtsschutz, da bereits im Verwaltungsverfahren Einwendungen Berücksichtigung fänden. Verwaltungsverfahren sind strukturierte Prozeduren für die Erzeugung von (Verwaltungs-)Entscheidungen unter rechtlich kanalisierter Gewinnung und Verarbeitung von Information sowie Artikulation: Die Verwaltung erhält neue Instrumente zur Sachverhaltsermittlung i.w.S. und die Betroffenen erhalten eine Plattform, ihre Interessen in die administrative Entscheidungsfindung einzubringen61. Die ganze Vielfalt der verfahrensrechtlichen Instrumente erschließt erst die Anschauung aus Referenzgebieten des Fachrechts62. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ließ zwar die Frage offen, ob die grundrechtliche Schutzpflicht solche Regelungen erzwinge, denn diese waren und sind im Atomrecht ja vorhanden; der Konnex zwischen Grundrechtsschutz und (Verwaltungs-)Verfahren wurde gleichwohl hergestellt und für die Grundrechtsdogmatik fruchtbar gemacht. Der Mülheim-Kärlich-Beschluss erging zu einer Zeit der Euphorie des Verfahrensgedankens63 kurz nach dessen Normativierung im Verwaltungsverfahrensgesetz64. Er kann – jenseits der Feststellung der doch eher kursorischen Bedeutung und der Grenzen dieser RechtsfiLernen“ der Normenhierarchie folgt, den Vorrang der Verfassung ausspielt und damit nicht die hier zentral gesetzte Irritation abbildet. 60 BVerfGE 53, 30 (59 ff.); Konrad Redeker, Grundgesetzliche Rechte auf Verfahrensteilhabe – Bemerkungen zu einem status activus processualis, NJW 1980, S. 1593 (1594); zuvor in Ansätzen und unterschiedlichen Zusammenhängen bereits BVerfGE 24, 367 (401); Nachweise der vorlaufenden Rechtsprechung insgesamt und Hinweis darauf, dass vom Verfassungsgericht zunächst der gerichtliche, dann erst der verwaltungsrechtliche Verfahrensgedanke fruchtbar gemacht worden sei bei Hans-Werner Laubinger, Grundrechtsschutz durch Gestaltung des Verwaltungsverfahrens, VerwArch. 73 (1982), S. 60 (62 ff.). 61 Funktionen des Verwaltungsverfahrens in Anlehnung an Matthias Schmidt-Preuß, Gegenwart und Zukunft des Verfahrensrecht, NVwZ 2005, S. 489; ausführlich Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 27; wesentlich Vorarbeit für die Übertragung in die Grundrechtsdogmatik durch Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff., 86 ff., 121 ff., 135 ff., 189 f. – Forderung nach einem „status activus processualis“. 62 Schmidt-Preuß (Fn. 61), S. 490; vgl. auch Hans Christian Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 30. 63 Vgl. nur Jost Pietzcker, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 193 ff.; Peter Lerche/Walter Schmitt Glaeser/ Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984. 64 (Zwischen-)Bilanz bei Friedrich Schoch, Der Verfahrensgedanke im allgemeinen Verwaltungsrecht. Anspruch und Wirklichkeit nach 15 Jahren VwVfG, Die Verwaltung 25 (1992), S. 21 ff.

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gur65 – als gelungene Befruchtung der Grundrechtsdogmatik durch das Verwaltungs(verfahrens-)recht gelesen werden. Der verwaltungsrechtliche Verfahrensgedanke entfaltete hier „eine beachtliche Produktivkraft“, „die die juristische Phantasie beflügelt“ hat66. Für unsere Fragestellung entscheidend ist dabei, dass nicht nur (der Normenhierarchie folgend) der allgemeine Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens i.S.d. Verwaltungsverfahrens als „konkretisiertem Verfassungsrecht“ anerkannt ist67, sondern dass (gegenläufig zur Normenhierarchie) eine spezifisch verwaltungsrechtliche Figur zur weiteren Grundrechtsentfaltung im Sinne ihrer Effektuierung eingesetzt wird. Mag ein Teil der Euphorie auch inzwischen abgeklungen sein, handelt es sich doch um einen innovativen Lernprozess der Grundrechtsdogmatik vom Verwaltungsrecht68. Dass derartige „Lernvorgänge“ auch misslingen können, zeigt eine spätere erneute Bezugnahme auf diese Rechtsfigur desselben Karlsruher Senats. In dem (zweiten) Rundfunkgebührenurteil von 200769 wird das allgemeine parlamentarische Gesetzgebungsverfahren durch verfahrensrechtliche Anforderungen modifiziert, so dass im Ergebnis die Entscheidungsbefugnis der (Landes-)Parlamente wenn nicht ausgeschaltet, so doch entscheidend zurückgedrängt wird. Der rundfunkverfassungsrechtliche Satz der Trennung zwischen der medienpolitischen Konkretisierung des Rundfunkauftrags und der Gebührenfestsetzung könne nur durch „prozedurale Absicherung“ garantiert werden. Die Finanzbedarfsanmeldungen der Rundfunkanstalten werden so durch ein vermeintlich unabhängiges, vermeintlich pluralistisch bzw. expertokratisch zusammengesetztes Gremium, die KEF „geprüft“ und approbiert. Zugegebenermaßen wird hier nicht auf das Verwaltungsverfahren und auch nicht auf die Mülheim-Kärlich-Entscheidung explizit Bezug genommen, es wird gleichwohl ein institutionell ohnehin schon überfrachtetes70 Freiheitsrecht mit einer weiteren verfahrensrechtlichen Dimension aufgeladen. In der Sache handelt es sich zudem um eine Umkehrung der Wesentlichkeitstheorie: Im Rundfunkbereich als besonders wesentlich erkannte Entscheidungen können danach dem Gesetzgeber gerade nicht überlassen bleiben, da dieser nun an ein besonderes, aus dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit deduziertes (Sonder-)Verfahren gebunden wird71. 65 Vgl. v. a. Fritz Ossenbühl, Grundrechtsschutz im und durch Verfahrensrecht, in: FS für Kurt Eichenberger, 1982, S. 183 (189 ff.); Laubinger (Fn. 60), S. 80 ff. 66 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 45 Rdnr. 8. 67 Dazu etwa Laubinger (Fn. 60), S. 60 f.; Jürgen Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1984. 68 Abgewogen Schmidt-Aßmann (Fn. 66), Rdnr. 35 ff. 69 BVerfGE 119, 181 (222 ff.) im Anschluss an BVerfGE 90, 60 (94 ff.). 70 Zur Kritik etwa Martin Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 163 Rdnr. 152 ff. 71 Philipp Karl Julius Mohr, Legitimationsdefizite bei der Bestimmung der Höhe der Rundfunkgebühr, 2012, S. 183 f.

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Vergleicht man diese beiden hier nur kursorisch referierten Fälle der Anwendung der gleichen Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren – einmal in Bezug auf Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG, das andere Mal zur Sicherung der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG – als Beispiele für „Lernvorgänge“ der Verfassungs- von der Verwaltungsrechtsdogmatik, wird deutlich, dass die Rezeption solcher Figuren aus dem Bereich des Verwaltungsverfahrens bei der Messung konkreter Verwaltungsverfahren an einem Freiheitsgrundrecht bereichernd sein kann, dass die Modifikation der staatsorganisationsrechtlich vorgezeichneten und verfassungsrechtlich fixierten Gesetzgebungsverfahren durch externe zusätzliche Prozeduralisierungen hingegen problematisch bleibt. Der Unterschied liegt darin, dass im Mülheim-Kärlich-Beschluss das einfachrechtlich vorgezeichnete Verfahren für die explizit in der Verfassung kaum näher ausgestaltete Grundrechtsdogmatik fruchtbar gemacht wird, dass im Rundfunkgebührenurteil hingegen ein staatsorganisationsrechtlich in den (Landes-)Verfassungen durchnormiertes Legislationsverfahren unter Berufung auf anderweitig gewonnene prozedurale Anforderungen richterrechtlich modifiziert wird. Anders gewendet: Die dogmatische Idee und Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren funktioniert in Bezug auf verwaltungsrechtliche Genehmigungsverfahren, nicht jedoch im Hinblick auf in den Verfassungen geregelte Gesetzgebungsverfahren. Letztere gewährleisten als solche bereits aus ihrer prozeduralen Logik heraus „Schutz“. IV. Conclusio Was können wir festhalten, wenn wir gedanklich wieder einen Schritt zurücktreten und das bisher ausgeführte auf einer etwas abstrakteren Ebene erneut spiegeln wollen? 1. Die historische Dimension Die Verfassung, das Verfassungsrecht, die Verfassungsgerichtsbarkeit „lernen“ ständig von der Verwaltung, dem Verwaltungsrecht oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit. In historischer Perspektive war das immer so, wahrscheinlich sogar deutlicher als in der GegenwArt. Je weniger umfassend der Vorranganspruch der Verfassung ist72, je fragmentarischer die Verfassungsrechtsnormen daherkommen und je durchsetzungsschwächer das Verfassungsrecht mangels institutionalisierter Verfassungsgerichtsbarkeit erscheint, desto stärker bleiben notwendigerweise die Prägekräfte des Verwaltungsrechts in diesem Kräfteparallelogramm. In der preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte hätte man lange Zeit von einem Konzept „Verwaltung statt Verfassung“ oder mit Reinhart Koselleck von „Verwaltung als Verfassungsersatz“ sprechen können73: Ohne moderne Verfassungsurkunde wurden be72 Zur historischen Entwicklung Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485; Christoph Schönberger, Der Vorrang der Verfassung, in: FS für Rainer Wahl, 2011, S. 385. 73 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Taschenbuchausgabe 1989, S. 163: „Verwaltung und Verfassung waren zur Reformzeit keine Begriffe, deren erster

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tont administrative, technokratische Reformen – die bekanntesten durch Stein und Hardenberg nach 1806 – mit weitreichenden Wirkungen durchgeführt74. Die ständig aufgeschobenen oder gebrochenen Verfassungsversprechen der preußischen Monarchie wurden gleichsam kompensiert durch verwaltungsrechtliche Innovation75. Nicht zuletzt im Sinne eines fortgesetzten aufgeklärten Absolutismus, einer obrigkeitsstaatlichen Fachmannsideologie unter nicht von der Hand zu weisenden Effektivitätspostulaten, freilich unter Vernachlässigung der Legitimationsfrage, konnte sich so der durchaus modernen rechtsstaatlichen Anforderungen standhaltende preußische Verwaltungsstaat weiterentwickeln. Nicht nur hier, sondern im Grunde bis 1918 erscheint – um eine Formulierung Christoph Schönbergers in der Festschrift zum 200jährigen Fakultätsjubiläum aufzugreifen – in gewisser Umkehrung des eingangs gebrachten Zitats von Fritz Werner Verfassungsrecht als gebündeltes Verwaltungsrecht76. „Verwaltung statt Verfassung“ kann über lange Zeit, auch noch über 1918/19 hinweg als Konzept preußischer Verwaltungstradition charakterisiert werden. Zu fragen ist, in welchen Phasen der historischen Entwicklung das Verwaltungs-, in welchen das Verfassungsrecht impulsgebend wirkte. Bis 1918 bei paralleler Dogmatisierung (einerseits ausgehend von Gerber/Laband77, andererseits vor allem von Otto Mayer78) angesichts der Steuerungsschwäche des Verfassungsrechts das Verwaltungsrecht. In der Weimarer Republik bricht der Methoden- und Richtungsstreit in dem Zeitpunkt aus, als erkannt wurde, dass die tradierten Kategorien des konstitutionellen Staatsrechts nicht mehr tragen angesichts eines einheitlichen Legitimationsmodells der Volkssouveränität79. In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur wenden sich früher oder später praktisch sämtliche Fachvertreter schon aus Gründen des Selbstschutzes vom Verfassungsrecht ab und wirken auf dem vermeintlich unpolitischeren Gebiet des Verwaltungsrechts – zumal sich die Verwaltung nicht nur durch die Kriegswirtschaft und zahlreiche Interventions- und Lenkungsansätze wandelt80. Ernst Forsthoffs wirkmächtige Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträ-

dem zweiten strikt untergeordnet gedacht wurde. Der Begriff der Verfassung war damals elastisch genug, die Gesamtheit der landrechtlichen und altständischen Sozial- und Herrschaftsordnung so gut zu umschließen wie provinzielles und lokales Herkommen, durch die insgesamt die monarchisch gesteuerte Verwaltung – als Polizei sich dem Begriff der Politik nähernd – gesetzgebend, anordnend, befehlend und verbietend hindurchgriff.“ 74 Koselleck (Fn. 73), S. 163 ff.; Christopher Clark, Preußen, 8. Aufl. 2008, S. 364 ff. 75 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, 1983/1998, S. 33 ff. 76 Rudolf von Gneist (1816 – 1895), in: FS 200 Jahre Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin, 2010, S. 241 (251). 77 Carl Friedrich von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 3 Bde. 1876 – 82. 78 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bde., 3. Aufl. 1924. 79 Christoph Möllers, Der Methodenstreit als politischer Generationenkonflikt, Der Staat 35 (2004), S. 399. 80 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 65 ff., 351 ff.

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ger“ stellt nur das bekannteste Beispiel dar81. Die Zeit des frühen Grundgesetzes ist dann wiederum eher durch verfassungsrechtliche Dominanz geprägt, galt es doch angesichts des weitreichenden Anspruchs der Verfassung und vor allem der Verfassungsgerichtsbarkeit alle Rechtsgebiete, insbesondere auch das Verwaltungsrecht zu konstitutionalisieren82. Das Werner-Zitat wurde bereits als Ausdruck dieses Phänomens eingeordnet. Das war auch letztlich mehr als die von Michael Stolleis für die Zeit von 1949 bis 1965 so genannte „Rekonstruktion des Rechtsstaats“83. Das gesamte Verwaltungsrecht wird durch das Grundgesetz „geprägt und überformt“. Es gehört zur Ironie dieser historisch als Reaktion auf das Unrechtsregime verständlichen Tendenz, dieses Wegs „von Mayer zu Werner“ in der Überwindung des Verwaltungsrechts des Obrigkeitsstaates, dass durch eine starke Betonung von Kategorien des konstitutionellen Staatsrechts wie der Ausweitung des Vorbehalts des Gesetzes verbunden mit gesteigerter Gesetzesbindung, der Betonung des Rechtsschutzes aufbauend auf subjektiv-öffentlichen Rechten (Art. 19 Abs. 4 GG als Krönung des Verfassungswerks) und des großen Misstrauens gegen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume der Verwaltung in gewisser Weise konstitutionelle Kategorien perfektioniert wurden – was Schönberger etwa dazu veranlasst, für diese Phase von „Nachkonstitutionalismus“ zu sprechen84. In den letzten 25 Jahren hat sich, wie dargelegt, der Trend erneut gewendet. 2. Abschließende Überlegungen Unter den Bedingungen von Normgeltung85 kann die Chiffre vom „Lernen“ sinnvoll nur von „unten“ nach „oben“, von der normhierarchisch nachrangigen zur normhierarchisch vorrangigen Ebene verwendet werden. In der entgegengesetzten Richtung wäre eher von „Bindung“, „Prägung“ oder „Determination“ zu sprechen. In freier Anknüpfung an Hegels dialektisches Bild von „Herr und Knecht“86 könnte man sagen, dass die materielle Überdetermination des Verwaltungsrechts auf das Verfassungsrecht „zurückschlägt“, diesem die Logik des Verwaltungsrechts gleichsam aufzwingt: „Der Knecht kennt seinen Herrn besser als dieser sich selbst!“ Durch die europarechtliche – und in geringerem Umfang die international-rechtliche – Überlagerung ist dieses vermeintlich klare Abschichtungsgefüge freilich dif81

Näher Jens Kersten, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk Ernst Forsthoffs, Der Staat 44 (2005), S. 543; Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, 2011, S. 154 ff. 82 Wiederum Schönberger (Fn. 22), S. 55 ff. 83 Michael Stolleis, Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 2 Rdnr. 90 ff. 84 (Fn. 22), S. 83. 85 Anders im wirklichen Leben: Kinder lernen von ihren Eltern und Lehrern durchaus in einem nicht von vornherein unhierarchischen Zusammenhang. 86 Vgl. Phänomenologie des Geistes, 1807, Kapitel 22.

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ferenzierter geworden. Das wäre ein weiteres Thema. Angesichts der Tatsache eines ausgebauten normhierarchischen Vorrangs der Verfassung und eines Anwendungsvorrangs des Unionsrecht einerseits, der hier beschriebenen tendenziell gegenläufigen „Lernprozesse“ andererseits ist es für eine dialektisch-aufhebende Reformulierung der beiden geflügelten und strukturell ebenfalls gegenläufigen Zitate von Mayer und Werner heute noch zu früh.

Rahmenbedingungen von normativer Kraft und optimaler Realisierung der Verfassung Von Thomas Würtenberger* Michael Kloepfer, der Meister des Großen Lehrbuchs,1 hat in seinem monumentalen zweibändigen Verfassungsrecht2 die Verfassung als die Kraft bezeichnet, „die ein Gemeinwesen im Innersten zusammenhält“.3 Wie aber kann eine Verfassung, und das Grundgesetz im Besonderen, eine solche Kraft entfalten? Hierzu fordert der Jubilar eine für Staat und Gesellschaft „optimale Verfassungsrealisierung“4, die von zwei Voraussetzungen abhängt: Zum einen bedarf es günstiger geistiger, sozialer, ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen, zum anderen einer optimalen juristischen Wirkkraft der Verfassung.5 Dieses Optimierungsgebot lässt sich dahin verstehen, dass der Sinn der verfassungsrechtlichen Vorgaben unter den sich jeweils ändernden Verhältnissen um des Zusammenhalts des Gemeinwesens willen in optimaler Weise realisiert werden kann.6 Voraussetzung hierfür ist die normative Kraft der Verfassung, also ihre Fähigkeit, die Lebensverhältnisse zu gestalten und nicht bloßes politisches Programm zu bleiben. Wie ein solches Konzept, das nicht allein auf die normative Kraft der Verfassung zielt, sondern diese zugleich unter ein Optimierungsgebot stellt, eingelöst werden kann, ist Thema der folgenden Überlegungen. In einem ersten Abschnitt wird dem Konzept der „normativen Kraft“ nachgegangen, mit dem bereits Konrad Hesse die Verfassungsauslegung in den Dienst einer optimalen Verfassungsverwirklichung gestellt hat. In einem zweiten Abschnitt wird der „normativen Kraft der Verfassung“ ein Gegenentwurf zum Verhältnis von Verfassungswirklichkeit und Verfassungstext gegenübergestellt. Dieser Gegenentwurf lenkt den Blick auf die vielfältigen Formen der Verfassungswirklichkeit, die sich zumindest teilweise der normativen Kraft des Grundgesetzes entziehen. Ein dritter und * Herrn Steffen Tanneberger danke ich für die Durchsicht des Manuskripts und weiterführende Hinweise. 1 Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl., 2004; ders., Informationsrecht, 2002. 2 Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Band I und II, 2011. 3 Kloepfer (Fn. 2), Band I, S. V. 4 Kloepfer (Fn. 3), § 1 Rn. 180. 5 Kloepfer (Fn. 3), § 1 Rn. 170, 180. 6 Das hier angesprochene Optimierungsgebot ist von dem viel diskutierten rechtlichen Gebot der Optimierung, etwa bei der Auflösung von Grundrechtskollisionen, zu unterscheiden (hierzu Thomas Würtenberger/Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 5 Rn. 41 f.).

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zentraler Abschnitt widmet sich den Rahmenbedingungen für eine optimale Realisierung der normativen Vorgaben des Grundgesetzes. Hier wird insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzugehen sein, die ganz wesentlich dazu beigetragen hat, die normativen Vorgaben des Grundgesetzes zu konkretisieren und damit Rechtswirklichkeit werden zu lassen. Gleichwohl ist die normative Kraft der Verfassung nicht ungebrochen, weshalb in dem abschließenden vierten Abschnitt nach den systemimmanenten Begrenzungen ihrer normativen Kraft und in der Folge der optimalen Realisierung des Verfassungsrechts zu fragen ist. I. Von der normativen Kraft Die Frage nach der normativen Kraft war eine der zentralen staatstheoretischen Problemstellungen des 20. Jahrhunderts. Und dies nicht von ungefähr, hat sie doch zum Gegenstand, was zur positivrechtlichen Geltung von Normen hinzutreten muss, damit diese als allseits befolgtes Recht die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmen. 1. Georg Jellineks Lehre von der normativen Kraft des Faktischen In seiner Allgemeinen Staatslehre fragte Georg Jellinek, wie im Falle einer Revolution an die Stelle einer alten politisch-rechtlichen Ordnung eine neue Rechtsordnung treten könne. Da das neue Recht nicht auf die Rechtsquellen der alten Ordnung zurückzuführen sei, bedürfe es eines weiteren Kriteriums, um als geltendes Recht qualifiziert zu werden. Dieses Kriterium sieht Jellinek in der normativen Kraft des Faktischen. Entwickelt wird es am Beispiel von Staatsumwälzungen, bei denen rechtlose Macht mit machtlosem Recht kämpft.7 Hier soll die normative Kraft des Faktischen zur Geltung neuen Rechts führen. Begründet wird dies mit einem psychologisierenden Ansatz, der die normative Kraft des Faktischen auf die Natur des Menschen zurückführt. Dem Menschen soll das Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar sein als das Neue. Eine wesentliche Funktionsbedingung der „legitimierenden“ Wirkung der normativen Kraft des Faktischen sei, dass aus ihr die Überzeugung hervorgehe, dass die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse als Recht anzuerkennen sind.8 Wo diese Überzeugung ausbleibe, könne die faktische Ordnung nur durch Gewalt aufrechterhalten werden, was jedenfalls auf Dauer nicht durchsetzbar sei. Wenn lediglich faktisch Geltendes durch gewohnheitsmäßige Anerkennung zur Norm geworden sei, würden – dem Außenstehenden auch noch so ungerecht erscheinende Zustände – von der Rechtsgemeinschaft als rechtmäßig empfunden werden. Die Umwandlung der zunächst rein faktischen Macht des Staates in rechtlich legitimierte Macht sei stets auf den psychologischen Schluss zurückführbar, dass 7 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (Neudr. 1966), S. 285; ders., Der Kampf des alten mit dem neuen Recht, 1907, S. 6. 8 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 342.

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das Faktische auch so sein solle, wie es ist. Nach der Meinung Jellineks liege daher ein richtiger Kern in der These einer legitimierenden Anerkennung historisch gewordenen Rechts, da sich „im letzten Grunde das Recht stets aus der durch lange Zeiträume geübten Anerkennung faktischer Verhältnisse ableite“9. Zur Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Fragestellungen lässt sich Jellineks These von der normativen Kraft des Faktischen erweitern: Verfassungsnormen erlangen dadurch normative Kraft, dass sie in einer langen Verfassungstradition und in einer die politischen Generationen übergreifenden politisch-rechtlichen Tradition wurzeln. Gewiss mag Jellineks Verbindung von normativer Kraft und Richtigkeitsüberzeugungen in der Bevölkerung eine zu einseitige Sicht komplexer Wechselwirkungen sein; mit seiner psychologisierenden Argumentation hat er aber aus heutiger Perspektive die normative Kraft von Recht auf dessen Akzeptanz gestützt – eine Verbindungslinie, auf die noch zurückzukommen sein wird. 2. Die normative Kraft der Verfassung Georg Jellineks „normativer Kraft des Faktischen“ setzte Konrad Hesse die „normative Kraft der Verfassung“ entgegen. Seine wesentliche These umriss Hesse in Form einer (rhetorischen) Frage: „Gibt es neben der bestimmenden Macht der tatsächlichen Verhältnisse und der gegebenen politischen und sozialen Kräfte auch eine bestimmende Kraft des Verfassungsrechts? Worauf beruht diese Kraft und wie weit reicht sie?“ Diese Frage beantwortete Hesse in der ihm eigenen, zwischen Gegensätzen vermittelnden Weise, dahin, dass eine „gegenseitige Bedingtheit von rechtlicher Verfassung einerseits, politischer und sozialer Wirklichkeit andererseits“ bestehe: Die „wirkliche Verfassung“, also die reale politische Ordnung, und die rechtliche Verfassung stünden „in einem Verhältnis korrelativer Zuordnung. Sie sind aufeinander bezogen, aber nicht schlechthin voneinander abhängig; vielmehr kommt der rechtlichen Verfassung eine, wenn auch nur relative, eigenständige Bedeutung zu. Ihr Geltungsanspruch ist ein Faktor in dem Kräftefeld, aus dessen Wirken die staatliche Wirklichkeit hervorgeht.10 So anerkannte und verteidigte Hesse den normativen Eigenstand der Verfassung, freilich ohne diesen wiederum von seinen ökonomischen, technischen, sozialen und geistigen Bedingtheiten ablösen zu wollen: „Wirklichkeitsbedingtheit und Normativität der Verfassung lassen sich nur unterscheiden, sie lassen sich weder voneinander trennen noch miteinander identifizieren“11. Weiter fragte Hesse nach den Möglichkeiten und Grenzen der normativen Kraft der Verfassung: Auch diese lassen sich nur mit Blick auf ihren Wirklichkeitsbezug 9

Jellinek (Fn. 8), S. 344. Vorstehende Zitate aus Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 6, 9. 11 Hesse (Fn. 10), S. 8.

10

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bestimmen:12 So könne die Verfassung nur wirken, wenn sie an die „individuelle Beschaffenheit der Gegenwart“ anknüpft und diese „in die Zukunft hinein zu bilden sucht“. Dementsprechend dürfe die Verfassung „den Staat nicht abstrakt-theoretisch ohne Rücksicht auf die geschichtlichen Gegebenheiten und Kräfte … zu konstruieren suchen“, wenn sie die tatsächlichen Verhältnisse tatsächlich in ihrem Sinne beeinflussen und gestalten wolle. Schließlich benennt Hesse die „Voraussetzungen, unter denen die Verfassung ein optimales Maß an normativer Kraft zu entfalten vermag“: Hierzu soll neben der bereits erwähnten Anknüpfung der Verfassung an die individuellen Umstände ihrer Zeit auch die Fähigkeit gehören, in einer „sich wandelnden politischen und sozialen Wirklichkeit lebensfähig zu bleiben“. Dabei beruhe die normative Kraft der Verfassung nicht allein auf der „kluge[n] Anpassung an das Gegebene“: Hinzu kommen müsse ganz entscheidend der „Wille zur Verfassung“ nicht nur im Bewusstsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen, sondern auch im allgemeinen Bewusstsein des Volkes. Postuliert wurde damit ein Denken von der Verfassung her, das das Primat des Politischen in Schranken weist. Daraus resultierte ein bedeutender Neuansatz für die Verfassungsinterpretation. Diese stellte Hesse, anders als bislang üblich, in den Dienst optimaler Verfassungsverwirklichung: Es soll stets jene Auslegung geboten sein, „die unter den konkreten Bedingungen … den Sinn der normativen Regelung optimal verwirklicht“13. Hesse fasste seine Thesen zum Komplex der „Normativität der Verfassung“ wie folgt zusammenfassen: „Die rechtliche Verfassung ist durch die geschichtliche Wirklichkeit bedingt. Sie lässt sich nicht von den konkreten Gegebenheiten einer Zeit ablösen, denen gegenüber ihr Geltungsanspruch sich nur realisieren lässt, wenn sie diese Gegebenheiten in Rechnung stellt. Die rechtliche Verfassung ist aber nicht nur Ausdruck der jeweiligen Wirklichkeit. Vermöge ihres normativen Elements ordnet und gestaltet sie ihrerseits die politische und soziale Wirklichkeit. Aus dieser korrelativen Zuordnung von Sein und Sollen ergeben sich die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der normativen Kraft einer Verfassung“14. Auf der ersten Tagung der Assistenten des Öffentlichen Rechts, der „kleinen Staatsrechtslehrertagung“ 1961 in Hamburg griff Ernst Wolfgang Böckenförde die Thesen von Hesse, seinem späteren Freiburger Kollegen, auf. Sein Referat mit dem Titel „Normative Kraft der Verfassung? Methodische Vorfragen einer Verfassungstheorie“ wurde zwar nicht als solches publiziert,15 fand aber in seinen Grundgedanken Eingang in eine breit angelegte Rezension von Hesses Antrittsvorlesung.16 12

Hesse (Fn. 10), S. 9. Hesse (Fn. 10), S. 15. 14 Hesse (Fn. 10), S. 16. 15 Vgl. Alexander Hollerbach, Vermischte Reminiszenzen: Rückblicke auf die ersten vier Tagungen, in: Dalibor u. a. (Hg.), Perspektiven des Öffentlichen Rechts, 2011, S. 33, 37. 16 Ernst Wolfgang Böckenförde, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 118 (1962), S. 172 ff. 13

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Gewürdigt wurde, dass Hesse die Kluft zwischen Sein und Sollen, die nach überwiegender philosophischer Sichtweise streng voneinander abzuschichten sind, zu überbrücken suchte. Allerdings kritisierte Böckenförde die korrelative Zuordnung von Faktum und Norm in Gestalt des von Hesse postulierten „Willens zur Verfassung“, der letztlich die normative Kraft der Verfassung tragen sollte: Was war unter diesem „Willen zur Verfassung“ im Einzelnen zu verstehen? Welchen Inhalt sollte ein Denken von der Verfassung her haben? Eine Antwort auf diese offen gebliebenen Fragen kann ein stärker akzentuierter Wirklichkeitsbezug geben, nämlich „dass das Normative … als das im Wirklichen normativ Mögliche erkannt und realisiert werde“17. Letztlich stellte Hesse mit seinem Konzept „das Prinzip der normativen [Kraft der] Verfassung über das Prinzip der Volkssouveränität“18. Verdeutlichen lässt sich dieser Ansatz mit allen seinen Konsequenzen durch die Gegenüberstellung mit der bis weit in das 20. Jahrhundert vorherrschenden Verfassungstheorie und Verfassungspraxis in Frankreich. Nach der französischen Theorie von der „loi-écran“ legen sich die vom Parlament als Souverän beschlossenen und demokratisch legitimierten Gesetze wie ein Schleier um die Verfassung und schirmen damit deren normative Kraft ab.19 Ganz anders Hesses Konzept der normativen Kraft der Verfassung: Diese soll das einfache Recht durchdringen und bestimmen, dieses wird damit mehr von der Verfassung als vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber her gedacht, was letztlich einer der Erklärungsgründe für die besondere Rolle der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit sein mag. Für den deutschen Bereich mag man, in Paraphrase des französischen Bildes, von einer „constitution-écran“ sprechen, also von einer Verfassung, die wie ein Schleier die Gesetze umgibt. Seit den Überlegungen Hesses Mitte der 1950er Jahre hat sich das konkrete Verhältnis von Norm und Wirklichkeit, d. h. von Grundgesetz und der Lebenswirklichkeit verändert: Das Postulat der normativen Kraft der Verfassung, ihrer Fähigkeit, die Wirklichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen, ist eingelöst. Mitte der 1950er Jahre stand das Grundgesetz noch als „vorweggenommene“ Verfassung vielfach in Opposition zu einer rückständigen Wirklichkeit und hat diesen Widerspruch in wesentlichen Bereichen durch die Konkretisierung seiner normativen Vorgaben aufgelöst. Die normative Kraft der Verfassung ist das theoretische Konzept, die Verfassung selbst zur Wirklichkeit werden zu lassen. Hesses Konzept der normativen Kraft der Verfassung war ein entscheidender Vorgriff auf eine mittlerweile weitgehend anerkannte neue Verfassungstheorie des Grundgesetzes.20 Das Grundgesetz als zukunftsoffene Verfassung und die immerwährende Aufgabe der Konkretisierung des Verfassungstextes – auf beides ist 17

Böckenförde (Fn. 16), S. 174. Hesse (Fn. 10), S. 20. 19 Vgl. Thomas Würtenberger, Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungshandeln?, VVDStRL 58 (1999), S. 139, 151 m. w. N. 20 Zippelius/Würtenberger (Fn. 6), § 5 Rn. 21 ff., § 7 Rn. 32 ff. zum Grundgesetz als „Grundordnung“. 18

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noch zurückzukommen – gehen als theoretische Konzepte letztlich auf seine Freiburger Antrittsvorlesung zurück. Nur wer diesen theoretischen Ansatz nachvollzieht, begreift die Quellen der normativen Kraft des Grundgesetzes. Der Ansatz von Hesse ist insofern der Philosophie Hegels verpflichtet, als es ihm um die zeitgemäße, auch die dem Zeitgeist gemäße Fortentwicklung des Verfassungsrechts geht. Hier berührt sich die normative Kraft der Verfassung mit der Akzeptanzthematik, wie sie seit den beginnenden 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts diskutiert wird.21 Denn das Grundgesetz entfaltet nur dann normative Kraft, wenn seine konkretisierende Fortentwicklung vom individuellen ebenso wie vom kollektiven Rechtsbewusstsein getragen und insbesondere von der politischen Klasse als überwiegend „richtig“, zumindest aber als annehmbar begriffen wird. II. Die Verfassungswirklichkeit Wechseln wir die bisher eher normativ angeleitete Sichtweise und befassen wir uns mit dem vom Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis entwickelten Gegenkonzept der Verfassungswirklichkeit.22 Hennis wandte sich mit Nachdruck gegen verfassungstheoretische Ansätze, die der Verfassung „eine Art Generalauftrag“ entnehmen und deren allgemeine Begriffe „konkretisieren“ wollten.23 Stattdessen verwies er auf darauf, dass die Verfassungswirklichkeit nicht allein von der normativen Kraft des Grundgesetzes bestimmt werde, sich diesem normativen Anspruch bisweilen auch entziehe. 1. Das Phänomen der Verfassungswirklichkeit „Verfassungswirklichkeit“ ist jener Teil des wirklichen Zusammenlebens einer staatlichen Gemeinschaft, der in den Regelungsbereich von Normen und Grundsätzen der Verfassung fällt. Gemeint ist damit das tatsächliche Verhalten der Staatsorgane und der in einem Staate lebenden Menschen, das sich an der Verfassung auszurichten glaubt: an der Verfassung, so wie sie diese verstehen – mag nun ihr Verhalten einer objektiv korrekten Auslegung der Verfassung entsprechen oder nicht. „Gelebte Verfassungswirklichkeit“ in diesem Sinne sind folglich die empirisch fassbaren, subjektiv an der Verfassung orientierten, tatsächlichen Handlungsweisen der im Staat lebenden Menschen. Auch das Ausmaß, in dem Bürger oder Staatsorgane von den

21 Vgl. die Freiburger Antrittsvorlesung von Thomas Würtenberger, Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991, 257 ff. sowie ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996; ders., Die Akzeptanz von Gesetzen, in: Soziale Integration. Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999, S. 380 ff. 22 Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968. 23 Hennis (Fn. 22), S. 20.

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Verfassungsnormen abweichen, ist – als „Negativposten“ – Teil der Verfassungswirklichkeit.24 Die Verfassungswirklichkeit in Deutschland wird zu einem wesentlichen Teil durch die Staatsrechtslehre geprägt. Im Prozess der Gesetzgebung wirkt sie durch ihre Expertise auf die Verfassungskonformität der Gesetzesentwürfe hin. In Prozessen vor dem Bundesverfassungsgericht sind es vielfach Staatsrechtslehrer, die als Parteivertreter auftreten und sich nicht nur mit ihren „professoralen“ Kollegen des Gerichts auf Augenhöhe streiten. Ein derart weit reichender Beitrag der Staatsrechtslehre, sei es in Form der Politikberatung im Gesetzgebungsverfahren, sei es im Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht dürfte weltweit einzigartig sein. Gleiches gilt für den entscheidenden Einfluss der Staatsrechtslehre im Bundesverfassungsgericht selbst: Die Richterinnen und Richter rekrutieren sich auch aus dem Kreis der Staatsrechtslehrer. Damit inkorporiert die Verfassungswirklichkeit gleichsam die Streiter für die normative Kraft der Verfassung und bestätigt damit auf personaler Ebene die Wechselbezüglichkeit von Norm und Wirklichkeit, von der schon Hesse wusste! Von der Verfassungswirklichkeit in dem eben dargestellten, umfassenden Sinn ist ein engerer, juridischer Begriff von Verfassungswirklichkeit zu unterscheiden. Er bezeichnet die institutionalisierte Konkretisierung der Verfassungsrechtssätze: Diese vollzieht sich in der Weise, dass die Verfassung von Staatsorganen ausgelegt und angewandt wird und insbesondere durch eine selbstbewusste Verfassungsgerichtsbarkeit die Chance organisierter Durchsetzung erhält.25 Was sich als Ergebnis dieser Konkretisierung herausstellt, kann man als rechtlich gewährleistete Verfassungswirklichkeit bezeichnen. 2. Zum Wandel der Verfassungswirklichkeit In vielen Bereichen, von der Ämterpatronage in Verwaltung und Justiz bis zur Beachtung der haushaltsrechtlichen Stabilitätskriterien,26 entzieht sich die Verfassungswirklichkeit seit jeher der normativen Kraft der Verfassung. Die Verfassungswirklichkeit ist zudem einem steten Wandel unterworfen. Hier geht es nicht um Änderungen des Verfassungsrechts, sondern um Änderungen der Verfassungspraxis. Solche Änderungen in der Verfassungspraxis stoßen dann auf ein besonderes Interesse, wenn sie sich von normativen Leitmodellen des Grundgesetzes entfernen. Aus jüngerer Zeit seien folgende Beispiele aus dem Bereich des Parlamentarismus genannt: (1) Der Bundestag war als Ort und institutioneller Rahmen für die öffentliche Diskussion und die materielle Beschlussfassung vorgesehen. Beiden Funktionen wird die Praxis des Parlamentarismus nicht, mindestens nicht in der ursprünglich 24

Vgl. Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1987, S. 27 ff. Würtenberger/Zippelius (Fn. 6), § 7 Rn. 71. 26 Vgl. bereits Hennis (Fn. 22), S. 7 ff.

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vorgesehenen Weise, gerecht. So werden die wesentlichen Entscheidungen vorab in den Ausschüssen des Bundestages getroffen. Auch die Plenardebatten bleiben oft genug ohne Substanz und finden nicht vor dem Plenum, sondern vor leeren Abgeordnetenbänken statt. Die Gesetzestexte, über die abgestimmt wird, werden von der großen Mehrzahl der Abgeordneten, so sie bei der Abstimmung überhaupt zu gegen sind, nicht nachvollzogen. (2) Eine öffentliche Debatte im Bundestag findet kaum mehr statt. Die öffentliche politische Auseinandersetzung hat sich in einschlägige mediale Formate, insbesondere in Fernsehrunden verschoben. Augenfällige Konsequenz und zugleich Eingeständnis dieser Marginalisierung der Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments ist die neuerdings auch förmlich gebilligte Praxis, Redebeiträge zu Protokoll abzugeben. Eine solche parlamentarische Öffentlichkeit im schriftlichen Verfahren widerspricht allen Anforderungen eines parlamentarischen Systems.27 (3) Eine weitere Entparlamentarisierung erfolgt dadurch, dass die eigentliche politische Willensbildung in besonderen Kommissionen, etwa der Hartz IV-Kommission, erfolgt. Dem Bundestag verbleibt nur noch, den außerparlamentarisch ausgehandelten Kompromiss nachzuvollziehen.28 In diesen Bereichen parlamentarischer Praxis, die naturgemäß kaum verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegen, entfernt sich die Wirklichkeit des derzeitigen Parlamentarismus ganz erheblich von seinem verfassungsstaatlichen und grundgesetzlichen Ideal. Das Grundgesetz hat in diesen wichtigen Bereichen an normativer Kraft eingebüßt. III. Die konkretisierende Verfassungsentwicklung als Garant ihrer optimalen Realisierung Indikator für die normative Kraft einer Verfassung, ebenso für ihre optimale Realisierung ist ihre Akzeptanz, d. h. die Bereitschaft der Rechtsunterworfenen, sie im Wesentlichen ohne Zwang zu befolgen, weil sie als gerechte oder zumindest annehmbare Ordnung empfunden wird.29 Optimierungsstrategien, die – wie eingangs bemerkt – darauf zielen, die Gemeinschaft im Innersten zusammen zu halten, sind damit Akzeptanzerhaltungs- und -beschaffungsstrategien. Diese Akzeptanz zu gewinnen und zu erhalten, ist eine stete Herausforderung für die Verfassungspraxis und die Fortentwicklung des Verfassungsrechts. Dabei lautet die zentrale Fragestellung für alle Akteure: Wie kann erreicht werden, dass das Grundgesetz gegenüber 27 Claudia Kornmeier, Rede zu Protokoll – der Bundestag formalisiert ein lange praktiziertes Verfahren, DÖV 2010, 676 ff. 28 Nachweise bei Würtenberger/Zippelius (Fn. 6), § 11 Rn. 53. 29 Zur Akzeptanz des Grundgesetzes Andreas Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltsicherung – Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 2009, 917 mit Fn. 1; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 16 I 2.

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Wandlungen der sozialen, kulturellen oder technischen Gegebenheiten, ebenso dem Wertewandel und den wechselnden Herausforderungen der internationalen Beziehungen seine dirigierende Kraft erhält und dadurch diese Prozesse normativ zu steuern vermag? Wie kann erreicht werden, dass die – ihrerseits weiter zu entwickelnden – normativen Vorgaben von einer weitgehenden Akzeptanz sowohl des gesellschaftlichen als auch des politischen Bereichs getragen werden? 1. Verfassungsänderungen als Akzeptanzbeschaffungsstrategien Änderungen in den kollektiven Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, also im Zeitgeist,30 haben wiederholt auf das Grundgesetz eingewirkt. Die neu eingefügten Staatsziele haben die Wertetafeln des Grundgesetzes erweitert und zu dessen normativer Kraft durch Anpassung an die Erfordernisse der Zeit beigetragen. Zu nennen ist insbesondere das neue Staatsziel Umweltschutz. Art. 20a GG wurde nach einer fast zwei Jahrzehnte andauernden Diskussion in das Grundgesetz aufgenommen, nachdem der Umweltschutz auch im kollektiven Bewusstsein eine besondere Bedeutung erlangt hatte. Von besonderer Bedeutung ist nicht zuletzt der neue Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, der die tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu fördern verlangt und damit die im kollektiven Bewusstsein sich vollzogene stille Revolution der Rolle der Frau31 in der Gesellschaft aufnimmt.32 2. Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichem und verfassungsrechtlichem Wandel In einer Verfassung können nicht alle Entwicklungen vorausgesehen und geregelt sein. Je größer der historische Abstand zum Zeitpunkt ihres Erlasses, desto dringlicher wird die Aufgabe, die Verfassung fortzubilden. Verfassungsrechtsnormen stehen in vielfältigen Wechselbeziehungen zu den Realitäten der staatlichen Gemeinschaft, insbesondere zu den politischen, ökonomischen und sozialen Interessen und Machtverhältnissen, ebenso zu den Realitäten des Parteienwesens und schließlich zu der öffentlichen bzw. der in den Massenmedien veröffentlichten Meinung. 30

Hierzu Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991, S. 105 ff. Nach Josef Isensee, Vom Stil der Verfassung, 1999, S. 34 handelt es sich hier um eine Referenz gegenüber „dem feministischen Zeitgeist“; die neu gefassten Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 20a GG bezeichnet er als „symbolische Verfassungsgesetzgebung“, was deren Bedeutung für die politisch-rechtliche Entwicklung wohl kaum gerecht wird. 32 Die neue Staatszielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG bestätigte und verstärkte allerdings lediglich die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 2 GG a.F. Dieses hatte das Gleichberechtigungsgebot bereits auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt (BVerfGE 85, 191 [207]) und gesetzliche Ungleichbehandlungen für gerechtfertigt erklärt, wenn sie dem Ausgleich eines Nachteils dienen, der eine Geschlechtergruppe typischerweise trifft (BVerfGE 74, 163 [179 ff.]). Dies zeigt, dass Änderungen der normativen Kraft des Verfassungstextes in gleicher Weise durch Verfassungsrichterrecht und durch den verfassungsändernden Gesetzgeber erfolgen können; hierauf ist zurückzukommen. 31

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Diese Faktoren gewinnen auch auf die Entscheidung darüber Einfluss, wie die Verfassung inhaltlich auszugestalten und fortzuentwickeln sei.33 Bei der Auslegung der Verfassungsnormen sind die Realitäten zu berücksichtigen: Die Konkretisierung der Normen vollzieht sich in Bezug zur Lebenswirklichkeit. Von dieser hängt insbesondere ab, welche Auslegung einer Norm zur größten Wirksamkeit verhilft. Treten nach Erlass der Verfassung soziale, technologische oder ökonomische Veränderungen ein oder wandeln sich die kollektiven Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, so können diese einen Bedeutungswandel einzelner Verfassungsnormen, einen „stillen Verfassungswandel“ mithin, bewirken. Eine „Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter Umständen mit ihnen wandeln“.34 So konnten etwa neu entstandene Formen wirtschaftlicher Existenzsicherung die Konkretisierung des Art. 14 GG und neue Kommunikationstechniken die Konkretisierung des Art. 5 Abs. 1 GG beeinflussen.35 Ganz allgemein formuliert geht es um ein diskursives Bewerten und Abwägen, wenn Normen des Verfassungsrechts mit Blick auf eine sich wandelnde gesellschaftliche Wirklichkeit konkretisiert und fortentwickelt werden.36 Leitziel bei der Fortentwicklung des Grundrechtsteils ist und war eine Effektivierung der individuellen und kollektiven Freiheit, sei es durch eine zumeist extensive Schutzbereichsinterpretation oder gar eine Etablierung neuer Grundrechte, sei es durch eine Akzentuierung der Schranken-Schranken, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die Verfassungsnormen weisen oft einen beträchtlichen Bedeutungsspielraum auf, innerhalb dessen der normative Gehalt von Begriffen oder Prinzipien unter Einbeziehung einer sich ändernden sozialen Wirklichkeit näher zu konkretisieren ist.37 Hier geht es nicht darum, durch die klassischen Auslegungsregeln den in Verfassungsbestimmungen bereits vorgegebenen Norminhalt zu ermitteln, sondern Verfassungsbestimmungen rechtsschöpferisch fortzuentwickeln. Kurzum: Es geht nicht um Rechtserkenntnis, sondern um Rechtsschöpfung, also um rechtsschöpferische Verfassungsentwicklung. 3. Das Grundgesetz als offene Verfassung Diese auf Effektuierung der normativen Vorgaben der Verfassung in einer sich wandelnden Wirklichkeit abzielende Methode der Verfassungsauslegung wurzelt 33 Reinhold Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 2. Aufl. 1991, §§ 5 II; 12. 34 BVerfGE 34, 269 (288). 35 BVerfGE 53, 257 (290 f.); 57, 295 (322 f.). 36 Thomas Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: Joachim Bohnert (Hg.), Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 223, 230 ff. 37 Zur Verfassungsinterpretation als Konkretisierung: Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rn. 60 ff.; kritisch Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: FS für Isensee, 2002, S. 183, 197 ff.

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in einem bestimmten Verständnis dessen, was eine Verfassung sein und leisten soll. Das Grundgesetz ist vor allem im Grundrechtsteil, aber auch in seinen Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmungen keine starre, sondern eine offene und bewegliche Verfassung. Damit kann und konnte das Grundgesetz in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht den sich wandelnden sozialen und ökonomischen Verhältnissen gerecht werden. Das Grundgesetz wird als eine Grundordnung verstanden, die Politik und Recht in (fast) allen Bereichen mit normativer Verbindlichkeit Richtung und Maßstab gibt. Nach diesem Konzept sind die Grundrechte nicht bloß Abwehrrechte, sondern verpflichten den Staat auch zu grundrechtlichem Schutz – Sicherung grundrechtlicher Freiheit als staatliche Aufgabe. Institutionelle Gewährleistungen, etwa von Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG oder des Eigentums in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, können sich bei technischen, sozialen oder ökonomischen Veränderungen wandeln. Gleiches gilt für Verfassungsprinzipien wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit. Angesichts der sich wandelnden technischen, sozialen oder ökonomischen Verhältnisse sind die verfassungsrechtlichen Regelungen und Prinzipien immer wieder neu zu konkretisieren und damit zu verwirklichen. Diese Konkretisierung des Grundgesetzes knüpft dabei an den Text des Grundgesetzes in seiner überkommenen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht an, um sodann, ggf. in kritischer Auseinandersetzung mit der Karlsruher Rechtsprechung, für eine sich ändernde sozio-ökonomische Wirklichkeit oder für sich wandelnde Wertund Richtigkeitsvorstellungen aus allgemeinen Verfassungsprinzipien neue verfassungsrechtliche Vorgaben zu entwickeln. 4. Das Grundgesetz als dirigierende Verfassung Das Grundgesetz ordnet und begrenzt nicht allein das staatliche Handeln, sondern ist darüber hinaus eine dirigierende Verfassung. Dabei verhält es sich nicht so, dass dem Grundgesetz mit Blick auf den sozio-ökonomischen Wandel nur eine reaktive Funktion zukommen würde. Vielmehr ist dem tatsächlichen Wandel stets im Rahmen und im Lichte der normativen Kraft der Verfassung Rechnung zu tragen. Es gilt nicht nur, die Verfassung an die veränderten Bedingungen anzupassen, sondern zugleich den tatsächlichen Wandel verfassungsrechtlich einzufangen und anzuleiten. Dabei wird gerade bei der Fortentwicklung der Verfassung die eingangs beschriebene Reziprozität der normativen Kraft des Faktischen und der normativen Kraft der Verfassung plastisch: Mag auch der Anstoß für die Fortentwicklung der Verfassung durch die äußeren Umstände bedingt sein, so muss sich diese doch in der normativen Substanz der Verfassung verorten lassen. Dementsprechend weist die Verfassung gewissermaßen über sich selbst hinaus, indem sie aus ihrer Substanz heraus die eigene Fortentwicklung anzuleiten, zu dirigieren vermag. Dies lässt sich an der dogmatischen Fortentwicklung der Grundrechtsfunktionen nachvollziehen: Die klassische, am Schutz vor staatlichen Eingriffen orientierte Grundrechtstheorie hat eine bedeutsame Dimension hinzugewonnen: Grundrechte

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sind Elemente einer das Recht und die Politik dirigierenden objektiven Ordnung, die den Staat zur Schutzgewähr (grundrechtliche Schutzpflichten) verpflichten. Weitere Beispiele sind u. a. die Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der unter Einbeziehung der technischen Veränderungen aus Art. 5 Abs. 1 GG und dem Demokratieprinzip eine verfassungsrechtliche Rundfunkordnung entwickelt wurde, oder die Rechtsprechung zu Art. 14 GG, in welcher das Bundesverfassungsgericht den Eigentumsbegriff – den Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragend – fortentwickelt hat. Die Konzeption, dem Grundgesetz Richtung und Maßstab für Politik und Recht zu entnehmen, führt zu einer situations-, zeit- und bereichsspezifischen Verfassungsverwirklichung. Eine solche prozesshafte Verfassungsverwirklichung38 kommt in einer sehr weit ausgreifenden richterrechtlichen Fortentwicklung des Grundgesetzes zum Ausdruck (sog. Verfassungsrichterrecht bzw. Richterverfassungsrecht). Überspitzt formuliert steht das Verfassungsrecht nur im Ansatz im Grundgesetz, zu einem weitaus größeren Teil aber in den über 130 Bänden der Verfassungsgerichtsentscheidungen. Das Verständnis des Grundgesetzes als einer situations-, zeit- und bereichsspezifisch zu konkretisierenden Grundordnung leitet zu dem viel diskutierten Schlagwort der „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ über: Die Fortentwicklung des Grundgesetzes gibt der Entwicklung und Auslegung des einfachen Rechts in zentralen Bereichen eine sich stets aktualisierende „Richtlinie“39 vor. Diese Determinationskraft des Grundgesetzes für das einfache Recht reicht teils soweit, dass sich dieses nur noch als konkretisiertes Verfassungsrecht begreifen lässt, wie dies Fritz Werner40 bereits vor längerer Zeit für das Verwaltungsrecht konstatiert hat. Ein derart weites Ausgreifen des Verfassungsrechts in die einfache Rechtsordnung lässt das Grundgesetz zu einer dirigierenden Verfassung werden. Auf die Kritik an dieser Entwicklung41 wird noch zurückzukommen sein. 5. Das Bundesverfassungsgericht als Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt Der Prozess der Verfassungsentwicklung wird ganz wesentlich vom Bundesverfassungsgericht beherrscht. Methodische Voraussetzung der Innovations- und Gestaltungskraft des Bundesverfassungsgerichts ist sein Bekenntnis zur objektiven Ver38

Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 817 ff. BVerfGE 96, 375 (398). 40 Fritz Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl. 1959, S. 527; Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders. u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77, 86. 41 Vgl. Christian Starck, HdStR, 1. Aufl. § 164 Rn. 5 ff.; Ernst Wolfgang Böckenförde, NJW 1976, S. 2091; Helge Lothar Batt, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, 2003, S. 377: Gefahr einer Herabsetzung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers durch die Herrschaft der die Verfassung auslegenden Verfassungsgerichtsbarkeit. 39

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fassungsauslegung. Zu Recht hat sich das Bundesverfassungsgericht methodologisch nicht auf die sog. subjektive Auslegung, mithin darauf beschränkt, die normativen Vorgaben des Grundgesetzes lediglich historisch und aus der Situation der Verfassunggebung heraus erfassen zu wollen.42 Erst die methodische Emanzipation des Verfassungsgerichts von den historischen Umständen der Verfassunggebung erlaubte es dem Bundesverfassungsgericht das zu werden, was es heute ist: Der entscheidende Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt!43 a) Zum Fortschreiben des „pacte social“ durch Verfassungswandel Von Verfassungswandel – und damit nicht lediglich von Verfassungskonkretisierung – lässt sich sprechen, wenn ein neuer theoretischer Ansatz der Verfassungsauslegung zu Grunde gelegt wird44 oder wenn ganz allgemein eine Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht aufgegeben und durch eine andere Verfassungskonkretisierung ersetzt wird.45 Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzungen für einen solchen Verfassungswandel in zahlreichen Entscheidungen deutlich gemacht. Eine Veränderung der sozialen oder ökonomischen Verhältnisse, aber auch von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen in der Bevölkerung können eine Änderung der Verfassungsauslegung erforderlich machen.46 Das Verfassungsrichterrecht schreibt mindestens bei grundsätzlichen Neuorientierungen den – wie die französische Staatstheorie formuliert – „pacte social“ fort, indem es die Verfassung über die Generationen hinweg an die Gegebenheiten der Zeit anpasst.47 Soll durch Verfassungskonkretisierung oder Verfassungswandel der „pacte social“ mit gestaltet werden, ist das Bundesverfassungsgericht auf ein 42

Hierzu Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 332 ff. Zu diesem Terminus Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 395 ff. 44 So stellt es einen Wandel in der Interpretation der Grundrechte dar, wenn diese als Elemente objektiver Ordnung und nicht mehr bloß als Abwehrrechte verstanden werden, wenn aus ihnen Schutzpflichten hergeleitet werden, die nicht „untermäßig“ erfüllt werden dürfen und damit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eingeschränkt wird (BVerfGE 7, 198, 225; 39, 1, 41). Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in internationalem Vergleich, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 19 Rn. 1) hat dies als die spektakulärste Entdeckung des deutschen Staatsrechts nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. 45 Hierzu aus ausländischer Sicht und rechtsvergleichend: Michel Fromont, Les revirements de jurisprudence de la Cour constitutionnelle fédérale d’Allemagne, in: Les Cahiers du Conseil Constitutionnel, No 20 (2006), S. 110 ff.; Thierry Di Manno, Les revirements de jurisprudence du Conseil constitutionnel français, ebd., S. 135 ff.; Elisabeth Zoller, Les revirements de jurisprudence de la Cour suprême des Etats-Unis, ebd., S. 104 ff. 46 BVerfGE 96, 260 (263); BVerfG K, DVBl. 2004, 1108 ff.; zur Zukunftsoffenheit durch Erfindung neuer offener Grundrechte und durch flexible dogmatische Figuren vgl. Voßkuhle (Fn. 29), S. 919 ff. 47 Di Manno (Fn. 45), S. 102. 43

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hohes Maß an Akzeptanz in Gesellschaft und Politik angewiesen.48 Hierfür stehen die Zeichen gut: Das Bundesverfassungsgericht genießt bei Meinungsumfragen eine sehr hohe Akzeptanz. Es ist eine Art von Gesellschaftsgericht, das in seinen Entscheidungen die Hoffnungen und Ängste in der Gesellschaft aufzugreifen und in weitgehend akzeptanzfähiger Weise zu verarbeiten vermag.49 Seine Urteile basieren auf Stellungnahmen aus dem politischen Bereich und auf einer umfänglichen Sachverhaltswürdigung. Fallorientiert werden fast lehrbuchartig die verfassungsrechtlichen Maßstäbe und Vorgaben entwickelt. Es bemüht sich um eine mediale Vermittlung seiner Entscheidungen und Entscheidungsgründe. So etwa werben die Verfassungsrichter in den Massenmedien ebenso wie in den Fachpublikationen für die Rechtsprechung des Gerichts und tragen auch auf diese Weise zur Akzeptanz und dem Ansehen des Verfassungsgerichts bei. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig präzise, von der normativen Kraft der Verfassung oder von der Akzeptanz des Grundgesetzes zu sprechen. Genauer wäre es, eine institutionelle Perspektive einzunehmen und auf die normative Kraft der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzustellen. So ist doch gerade das Verfassungsgericht der institutionelle Transmissionsriemen, der das Abstraktum Verfassung für die Bevölkerung greifbar und begreifbar macht. So gesehen entfaltet das Grundgesetz nicht als Verfassungstext, sondern in seiner Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht die ihm eigentümliche normative Kraft. b) Zum Dialog zwischen verfassungsänderndem Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht Über diese gesellschaftsvertragliche Anknüpfung hinaus ist viel darüber nachgedacht worden, was die Verfassungsgerichtsbarkeit legitimiert, durch eine weit ausgreifende Verfassungsfortbildung letztlich die Funktionen des verfassungsändernden Gesetzgebers zu übernehmen.50 Denn an sich sollte es Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers sein, den Verfassungstext, etwa durch Schaffung neuer Grundrechte, an veränderte Zeitumstände anzupassen. Wie bei allem Richterrecht mag hier als letzte Legitimationsquelle dienen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber seinerseits durch eine Änderung der Verfassung dem Verfassungsrichterrecht und damit dem Verfassungswandel entgegentreten und seinerseits die Initiative zur Fortentwicklung des „pacte social“ ergreifen kann. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat der verfassungsändernde Gesetzgeber verschiedentlich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge48 Würtenberger (Fn. 36), S. 239 ff.; Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9, 54 f., 58 (das Bundesverfassungsgericht „als eine Art Trendscout für neue gesellschaftliche Entwicklungen“). 49 Würtenberger (Fn. 36), S. 240. 50 Vgl. Thomas Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: Guggenberger/Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 57 ff.

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richts auch in einem korrigierenden Sinne Einfluss genommen.51 Dies betraf etwa die Novellierung der Erforderlichkeitsklausel für bundesgesetzliche Regelungen in Art. 72 Abs. 2 GG. Die Neufassung aus dem Jahr 1994 verfolgte das Ziel, die Einhaltung der Erforderlichkeitsklausel durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen,52 was dieses bislang abgelehnt hatte. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe spektakulärer Entscheidungen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes beschnitten hatte,53 brachte die Föderalismusreform des Jahres 2006 wiederum eine deutliche Beschränkung des Anwendungsbereiches des Art. 72 Abs. 2 GG.54 Auch die Neuregelungen des Asylrechts in Art. 16a GG oder des Lauschangriffs in Art. 13 Abs. 3 bis 6 GG sind Reaktionen des verfassungsändernden Gesetzgebers auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.55 6. Zwischenbemerkung Damit sind die Rahmenbedingungen für die normative Kraft und damit die Wirkungsmöglichkeiten des Grundgesetzes umrissen: Das Grundgesetz als offene und dirigierende Verfassung muss sinnstiftend und maßstabbildend für allen Wandel im gesellschaftlichen und politischen Bereich sowie in den Lebensformen und Wertvorstellungen sein. Dieser Sinnstiftung und Maßstabsetzung ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet. Bei der Konkretisierung und beim Wandel des Grundgesetzes schreibt es den Gesellschaftsvertrag fort. Die breite Akzeptanz dieser Rechtsprechung ist Kriterium dafür, dass das Grundgesetz kraft seiner Fortentwicklung die Gemeinschaft im Innersten zusammen hält. IV. Zu den Grenzen der normativen Kraft der Verfassung Eine übermächtige Dominanz der Verfassungsgerichtsbarkeit mag dazu führen, dass die normative Kraft der Verfassung „zum übermächtigen Gegenspieler“ des Demokratieprinzips wird. Hinsichtlich der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung im Allgemeinen und neuerdings vor allem bei seiner sicherheitsverfassungsrechtli-

51 Auch auf unionsrechtlicher Ebene lassen sich Vertragsänderungen beobachten, die auf eine limitierende Auslegung der Verträge durch den EuGH reagieren (vgl. das Gats-Gutachten des EuGH vom 15. 11. 1994, Slg. I-5399 ff., auf das 2001 im Vertrag von Nizza durch eine Ergänzung des Art. 133 EGV reagiert wurde). 52 Vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG. 53 Hierzu ausführlich Thomas Würtenberger, Art. 72 II GG – eine berechenbare Kompetenzausübungsregel?, 2005, S. 61 ff., 74 ff. 54 BT-Drs. S. 16/813, S. 2. 55 Josef Isensee, Vom Stil der Verfassung, S. 75; Matthias Jestaedt, Phänomen Verfassungsgericht, S. 91 zur Kritik des Bundesverfassungsgerichts am Unterlaufen seiner Autorität, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber seine Entscheidungen „korrigiert“.

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chen Rechtsprechung56 wird dem Bundesverfassungsgericht vorgehalten, durch seine Verfassungsentwicklung die Prärogative des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur politischen Gestaltung allzu sehr einzuschränken. Seine Letztentscheidungskompetenz, der eine Kompetenzüberschreitung kaum vorgeworfen werden kann,57 führt zu folgender Ambivalenz: Nur durch verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die allseits akzeptiert ist, gewinnt die Verfassung normative Kraft. Gegenläufig hierzu kann eine zu dirigistisch werdende normative Kraft der Verfassung das von der Verfassung vorausgesetzte Koordinatenkreuz zwischen verfassungsrechtlicher Bindung und demokratischer politischer Gestaltung in bedenklicher Weise verschieben. Dementsprechend ist Verfassungsrechtsprechung immer auch ein Balanceakt zwischen materiellen Verfassungsvorgaben und funktionellen Zuständigkeitsverteilungen; die Verfassung will das inhaltlich „richtige“ Ergebnis nicht um jeden Preis: Vielmehr sind das materielle Korrekturbedürfnis und der Eingriff in die funktionale Zuständigkeitsverteilung zur praktischen Konkordanz zu bringen. Eine ganz andere Frage ist, inwieweit die normative Kraft der Verfassung durch einen internationalisierten Konstitutionalismus58 in ein neues politisch-rechtliches Spannungsfeld gelangt. Mit der Internationalisierung und Globalisierung des Verfassungsrechts59 findet die normative Kraft nationaler Verfassungen immer engere Grenzen. Vor allem die Grundrechtsjudikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überlagert zunehmend die Grundrechtsentwicklung durch das Bundesverfassungsgericht. Vergleichbares gilt im Bereich der Europäischen Union. So etwa hat die derzeit angestrebte Datenschutzverordnung das Potential, die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Datenschutzes zu verdrängen und dadurch das seit dem Volkszählungsurteil errichtete System verfassungsgerichtlichen Privatsphären- und Datenschutzes praktisch außer Geltung zu setzen.60 Die normative Kraft der Verfassung ist in Zukunft auch im Hinblick auf jene verfassungsrechtlichen Vorgaben zu bestimmen, die nicht mehr auf den nationalen Souverän und die von ihm eingerichtete Verfassungsgerichtsbarkeit zurückgeführt werden können. 56

Hierzu Thomas Würtenberger, Entwicklungslinien des Sicherheitsverfassungsrechts, in: Matthias Ruffert (Hg.), Festschrift für Meinhard Schröder, 2012, S. 285 ff. 57 Hierzu Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidungskompetenz, 2000. 58 Vgl. Constance Grewe/Michael Riegner, International Constitutionalism in Ethnical Divided Societies, in: von Bogdandy/Wolfrum (Hg.), Max Planck Yearbook of United Nations, Vol. 15, 2011, S. 1 ff. 59 Zu dieser Entwicklung Thomas Würtenberger, Verfassungsänderungen und Verfassungswandel des Grundgesetzes, in: Verfassungsänderungen. Beiheft 20 zu Der Staat, 2012, S. 287, 299 ff. (zum Verfassungswandel des Grundgesetzes durch unionsrechtliche Vorgaben, durch eine völkerrechtskonforme Auslegung und durch ein gemeineuropäisches Verfassungsrecht). 60 Johannes Masing, Ein Abschied von den Grundrechten. Die Europäische Kommission plant per Verordnung eine ausnehmend problematische Neuordnung des Datenschutzes, Süddeutsche Zeitung vom 9. 1. 2012, S. 10; Schönberger (Fn. 48), S. 60.

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Der Wille zu einem europäisierten und internationalisierten Verfassungsrecht ist ebenso wie dessen Akzeptanzfähigkeit keine Selbstverständlichkeit. Hier stehen der europäische Integrationsprozess ebenso wie der „europäische Verfassungsgerichtsverbund“61 vor neuen Aufgaben.

61

Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff.

II. Umwelt-, Technik- und Katastrophenrecht

Der Rechtsrahmen der internationalen Klimapolitik nach der Konferenz von Doha Probleme und Perspektiven Von Michael Bothe Nicht nur das nationale, auch das internationale Umweltrecht verdankt dem Jubilar wesentliche Impulse. Er war mit seinen Gedanken stets an der Spitze der Entwicklung zu finden. Schon in der ersten Auflage seines Umweltrechts 1989 hat er Richtungsweisendes zum Umweltvölkerrecht gesagt.1 Deshalb seien ihm einige Überlegungen zu aktuellen Ereignissen auf diesem Feld gewidmet, bei denen die Rechtsentwicklung sich in einer Sackgasse zu verlieren droht, nämlich zur Entwicklung der rechtlichen Instrumente der globalen Klimapolitik. I. Die Doha-Konferenz und der Rechtsrahmen der Klimapolitik Die 1992 angenommene Rahmenkonvention über Klimawandel (UNFCCC) ist der rechtliche Rahmen für die internationale Politik im Kampf gegen den Klimawandel und seine schädlichen Folgen. Seit Anbeginn war es ein komplexer Rahmen, und er ist seitdem noch viel komplexer geworden. Das Anliegen dieses Beitrags ist eine Analyse seiner rechtlichen Entwicklung, wie sie sich nach der Konferenz von Doha (November/Dezember 2012) darstellt. Der Schwerpunkt wird dabei auf dem Herzstück dieses Rechtsregimes liegen, nämlich dem Kyoto-Protokoll (KP). Es soll aber auch die Entwicklung über das KP hinaus gezeigt werden. Die Rahmenkonvention verfolgt beim Klimaschutz einen zweispurigen Ansatz: Anpassung an die Folgen (adaptation) einerseits, Abmilderung des Treibhauseffekts (mitigation) andrerseits. Als Rahmenkonvention ist sie, wie andere derartige Umweltabkommen auch, darauf angelegt, einen dynamischen Prozess der Problemlösung rechtlich zu steuern und voranzubringen. Mittel dazu ist eine Entwicklung politischer Prozesse und von Sekundärnormen, die diese Problemlösung weiter und

1

M. Kloepfer, Umweltrecht, 1989, S. 314 ff.

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konkreter in eine richtige Richtung steuern sollen. Foren dieser Entwicklung sind vor allem die regelmäßigen Vertragsstaatenkonferenzen.2 Als klar wurde, dass die relativ weichen Verpflichtungen der Konvention zur Reduktion der Emission von Treibhausgasen nicht ausreichen würden, um einen weiteren Anstieg der Erderwärmung zu verhindern, beschloss die Vertragsstaatenkonferenz das sog. Berliner Mandat, um strengere Reduktionspflichten auszuhandeln. Das Ergebnis war das Kyoto-Protokoll 1997,3 das die Rahmenkonvention ergänzt. Sein Schwerpunkt ist Reduktion, nicht Anpassung. Es war ein wichtiger, aber doch, wie zu zeigen sein wird, begrenzter Fortschritt der Klimapolitik. Es war und ist Aufgabe der Vertragsstaatenkonferenzen der UNFCCC, weitere Fortschritte zu erreichen. Auch das KP ist kein Vertrag, der nur statische Verhaltensvorschriften für Staaten schafft. Es bedarf seinerseits der weiteren Entwicklung durch Sekundärnormen und eine internationale Administration. Diese Entwicklung ist in die Hände einer eigenen Vertragsstaatenkonferenz gelegt, die seit Inkrafttreten des KP zeitgleich mit der der UNFCCC tagt, aber von dieser zu unterscheiden ist. Die Doha-Konferenz4 war die 18. Konferenz der Mitgliedstaaten der Rahmenkonvention (CP.18) und die 8. Versammlung der Parteien des Kyoto-Protokolls (CMP.8). II. Der Ausgangspunkt: die wesentlichen Merkmale des Kyoto-Protokolls Vor einer Analyse der Entscheidung von Doha, das Kyoto-Protokoll fortzuführen, sind die wesentlichen Elemente des Regelungsregimes des Klimaschutzes kurz in Erinnerung zu rufen. Das gestattet es, die Elemente des Übergangs zu einem neuen Regime des Klimaschutzes klarer darzustellen. Das KP ist auf unbestimmte Zeit geschlossen, enthält jedoch einen zeitlichen Rahmen für die präzisen quantitativ bestimmten Pflichten, die es den in Annex I der Klimarahmenkonvention genannten Staaten, d. h. den alten entwickelten Industriestaaten auferlegt. Für die Verpflichtungsperiode 2008 – 2012 wird das Globalziel einer Verminderung des Ausstoßes von Treibhausgasen in Höhe von 5 % des Emissionsniveaus von 1990 festgelegt. Dieses Globalziel wird heruntergebrochen in quantitativ bestimmte Pflichten der einzelnen Staaten bezüglich der Netto-Veränderungen des Ausstoßes von Treibhausgasen. Diese Netto-Veränderung wird berechnet durch einen Vergleich der laufenden Gesamtemissionen eines Landes abzüglich

2 Vgl. L. Rajamani, Addressing the ,Post-Kyoto‘ Stress Disorder: Reflections on the Emerging Legal Architecture of the Climate Regime, ICLQ 58 (2009), S. 803 – 834, 824 ff. 3 Zur Entwicklung vgl. Michael Bothe/Eckard Rehbinder, Introduction: Climate Change as a Problem of Law and Policy: the International Climate Change Regime and its European Implementation, in M. Bothe/E. Rehbinder (Hrsg.), Climate Change Policy, 2005, S. 1 ff. 4 Eine erste Analyse der Ergebnisse bietet A. Savaresi, Marginal Progress and Challenges Ahead, Environmental Policy and Law 43 (2013), S. 18 – 21.

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des Abbaus in Senken mit den entsprechenden Werten des Bezugsjahres (in der Regel 1990). Das KP trat in Kraft mit der Erfüllung eines doppelten Quorums: Ratifikation oder Beitritt von mindestens 55 Mitgliedstaaten der UNFCCC sowie von Annex I-Staaten, die zusammen mindestens 55 % der gesamten CO2-Emissionen dieser Staaten ausmachen. Da die kombinierten Emissionen der USA und der Russischen Föderation mehr als 45 % (USA 35 %, Russland ca. 16 %) ausmachten und die USA die Ratifikation ablehnte, konnte das KP nur durch die Ratifikation seitens der RF in Kraft treten. Dies erfolgte 2004. Um das Erreichen des vorgesehenen Reduktionsziel zu erleichtern, sieht das KP drei „flexible Mechanismen“ vor: gemeinsame Erfüllung (Joint Implementation, JI, Art. 6), Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism, CDM, Art. 12) und Emissionshandel (emission trading, ET, Art. 17). Diese ökonomischen Instrumente sollen die Kosten der Erfüllung der KP-Pflichten dadurch senken, dass sie erlauben, Reduktionen, die in einem Staat erfolgen, unter gewissen Umständen dem Emissionsminderungskonto eines anderen Staates gutzuschreiben. Sie erlauben es mit anderen Worten, Reduktionen an dem Ort durchzuführen, wo dies am kostengünstigsten möglich ist. Diese Mechanismen wurden in großem Umfang genutzt. Insbesondere CDM hat Transaktionen in Milliardenhöhe generiert.5 Ein mit den genannten ökonomischen Instrumenten verwandter Mechanismus ist die Staatengruppen eingeräumte Möglichkeit, ihre Verpflichtungen gemeinsam zu erfüllen (Art. 4 KP). Dies hat zu einer weitreichenden Umverteilung der Reduktionslasten (sog. burden sharing agreement) zwischen den EU-Staaten geführt (sog. EU Bubble).6 Das Funktionieren des KP-Regimes wird gesichert durch ein hoch entwickeltes System der Erfüllungskontrolle (Compliance control, Art. 18). Die auf die alten Industriestaaten begrenzte Reichweite der Verpflichtungen des KP erklärt es, dass das Protokoll keinen Finanzmechanismus zugunsten der Entwicklungsländer vorsieht, wie ihn andere multilaterale Umweltabkommen (multilateral environmental agreements, MEA) vorsehen. Ein solcher gehört in andere Teile des Regimes der UNFCCC.7 Freilich ist auch der CDM ein Mechanismus, der Investitionen in Entwicklungsländern und Technologie-Transfer in diese Länder fördert. Die Annex I-Staaten, die Verpflichtungen übernommen haben, haben Ende 2012 das vorgeschriebene Ziel im Großen und Ganzen erreicht.8 Aber diese Reduktionen ma5 Vgl. Guidance relating to the Clean Development Mechanism, Decision 5/CMP.8, OP 3, wo von einer gesamten Investitionssumme von über 215 Milliarden USD in über 5.200 Projekten die Rede ist. 6 Dazu L. Massai, The Kyoto Protocol in the EU, 2011, insbesondere S. 61 ff. 7 Dazu unten Abschnitt VI. 8 Die abschließenden Statistiken sind noch nicht verfügbar. Einige Staaten werden von den flexiblen Mechanismen Gebrauch machen müssen, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

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chen nur einen geringen Teil der Einschränkungen des Ausstoßes von Treibhausgasen aus, die weltweit notwendig wären. Der Gesamtgehalt an Treibhausgasen in der Atmosphäre steigt immer noch. Das KP konnte darum nur ein erster Schritt sein, der das Problem der Erwärmung der Erdatmosphäre nur teilweise angeht. Kritiker machen geltend, dass auch diese Reduktionspflichten zu mild seien. Andrerseits ist das Regime jedenfalls kurzfristig sehr kostenträchtig. Dies hat zu Einwänden gegen das System geführt, die die Wettbewerbsfähigkeit der verpflichteten Staaten gegenüber denen, die keine solchen Verpflichtungen zu tragen haben, beeinträchtigt sehen. Das wird als unberechtigter Vorteil der Schwellenländer (insbesondere China, Indien und Brasilien) angesehen, die ja keine Annex I-Staaten sind. Es ist ein wesentlicher Grund für die Nicht-Ratifikation seitens der USA, die nunmehr zu einem Konkurrenzvorteil für die USA wird. Der Beitrag des KP im Kampf gegen die Klimaänderung mag wichtig gewesen sein, aber es war und bleibt ein begrenzter Beitrag. Es ist darum notwendig, einen umfassenderen Ansatz im Rahmen der UNFCCC zu entwickeln. Das wird weiter unten dargestellt.9 Zunächst ist auf das Schicksal des KP auf der Doha-Konferenz einzugehen. III. Die Fortsetzung des Kyoto-Protokolls nach den Entscheidungen von Doha Da die erste Verpflichtungsperiode Ende 2012 auslief, war die Doha-Konferenz die letzte Gelegenheit, Maßnahmen zum Klimaschutz vor ihrem Ende zu treffen. Es musste also etwas mit dem KP geschehen. Die Konferenz hat im Konsens10 Änderungen des KP angenommen, die eine neue Verpflichtungsperiode 2013 – 2020 (KP2) mit erhöhten Reduktionspflichten (quantified emission limitation and reduction commitments; QELRC) festlegen. Die einschlägige Resolution der Konferenz11 führt Art. 20 und 21 KP als diejenigen Bestimmungen an, auf die sich das Änderungsverfahren stützt. Art. 20 betrifft Änderungen im Text des Protokolls. Diese Änderungen, seien sie im Konsens, seien sie mit Mehrheit angenommen, treten in Kraft 90 Tage nach Eingang der Annahmeerklärung von mindestens drei Viertel aller KP-Vertragsparteien, und zwar nur für die Parteien, die die Änderung angenommen haben (Art 20 Abs. 4). Die Änderung der Anhänge ist an sich einfacher, aber die Bestimmung über die Anhänge A und B (Art. 21 Abs. 7), um die es hier geht, verweist wiederum auf Art. 20, und zwar mit der Maßgabe, dass die Änderung für einen „betroffenen“ (d. h. mit QELRCs belasteten) Staat nur mit dessen

Deutschland dürfte sein Ziel deutlich übererfüllen, die EU insgesamt wird auch ihr Ziel erfüllen. 9 Dazu unten Abschnitt VI. 10 Es wird berichtet, dass der Vorsitzende in der Schlusssitzung zwei Staaten, die Einwände erheben wollten, übersehen hat. Vgl. Savaresi (Fn. 4), S. 20. 11 Decision 1/CMP.8.

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ausdrücklicher Zustimmung gilt. Keinem Staat kann die Erhöhung seiner Reduktionspflichten durch Mehrheitsentscheidung auferlegt werden. Ein wesentliches Element der in Doha angenommenen Änderungen sind die neuen QELRCs in Annex B für die neue Verpflichtungsperiode. Diese Änderungen treten wie vorgeschrieben in Kraft nach besonderen Annahmeerklärungen, die nach der Annahme des Textes abzugeben sind, durch mindestens drei Viertel der Mitgliedstaaten, mit der genannten Maßgabe. Der von diesen Änderungen verfolgte Ansatz ist eine Fortsetzung des bisherigen Konzepts des KP von 1997, in dessen Mittelpunkt die QELRCs für eine bestimmte Verpflichtungsperiode stehen. Das wesentliche Instrument des Klimaschutzes wird also nicht geändert. Das neue Gesamtziel im geänderten Art. 3 KP ist eine Reduktion um 18 % im Verhältnis zu den Emissionen von 1999. Der wesentliche Grund der Kritik an den Ergebnissen von Doha ist nicht, dass das alte Konzept nicht geändert wurde, sondern es wird die Höhe der quantitativ festgelegten Verpflichtungen als unzureichend für einen wirksamen Klimaschutz angesehen. Das neue Ziel bleibt deutlich unterhalb des vom Intergovernmental Panel on Climate Change empfohlenen Minimums von 20 %.12 Nur die EU und ihre Mitgliedstaaten (sowie Kroatien im Hinblick auf einen möglichen Beitritt) haben dieses Ziel für sich akzeptiert. Die Resolutionen der Doha-Konferenz gehen allerdings auf diese Kritik ein, und zwar in doppelter Weise: Zu ersten gibt es ein Verfahren,13 nach dem jede Vertragspartei, die einen neuen QELRC akzeptiert hat, einseitig den „Ehrgeiz“ („ambition“) ihrer Verpflichtung überprüfen kann. Ein Druck dahingehend, dass dies auch geschieht, besteht allerdings nur durch ein Notifikationsverfahren, das die einschlägigen Maßnahmen einer Vertragspartei zur Kenntnis des Sekretariats und schließlich zu der der Vertragsstaaten-Konferenz bringt. Der zweite Weg ist die Möglichkeit,14 dass Annex I-Staaten ein Verfahren einleiten, das zur Annahme höherer QELRCs nach Annex B auf der nächsten Konferenz der KP-Vertragsstaaten führt. Beide Verfahren sind nichts als eine freundliche Einladung an die Staaten, die bereits neue QELRCs akzeptiert haben, ein gutes Beispiel zu geben und ihre bereits eingegangenen Verpflichtungen freiwillig noch zu erhöhen. Probleme ergeben sich auch daraus, dass nicht alle Staaten, die bislang QELRCs akzeptiert hatten, die neuen Verpflichtungen eingehen. Bereits auf der Konferenz von Durban hatten Kanada, Japan, Neuseeland und die Russische Föderation ihre Weigerung erklärt, dies zu tun. Sie sind bei dieser Weigerung geblieben. Für die Wirkung, die das KP auf die weltweite Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre hat, bedeutet dies, dass der Beitrag des KP zur Lösung des Problems noch geringer geworden ist: nur ca. 15 % der gesamten weltweit anfallenden Emissionen von Treibhausgasen fallen unter das KP. 12

Savaresi (Fn. 4), S. 19 f. Decision 1/CMP.8, OP 7. 14 Art. 3 Abs. 1ter und quater KP (Neufassung). 13

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Rechtstechnisch reagieren die Beschlüsse von Doha auf diese Weigerung auf eine etwas merkwürdige Weise. Die vier genannten Staaten werden noch in einem besonderen Abschnitt der Liste aufgeführt, aber nur mit ihren alten QELRCs, während die Stelle, wo die neuen Verpflichtungen aufgeführt werden, bei diesen Staaten einfach leer bleibt. Was die rechtliche Stellung dieser Staaten angeht, so muss man zwischen ihnen unterscheiden, was auch in Fußnoten zur neuen Liste erklärt wird. Kanada hat von der Möglichkeit des Art. 27 KP Gebrauch gemacht, das Protokoll durch eine Erklärung gegenüber dem Depositar zu kündigen. Die Erklärung wird ein Jahr nach ihrem Zugang beim Depositar wirksam. Dieses Datum war für Kanada der 15. 12. 2012. Kanada ist also nicht mehr Vertragspartei des KP. Die Tatsache, dass es noch in der Liste aufgeführt ist, stellt eine historische Fußnote dar und ist ohne rechtliche Bedeutung. Japan15 und die Russische Föderation16 hatten bereits 2011 angezeigt, dass sie nicht die Absicht hatten, quantitative Reduktionspflichten für eine neue Periode zu übernehmen. An dieser Haltung der beiden Länder hat sich nichts geändert. Auf dieser Basis haben sie auf der Konferenz offenbar keine Einwände gegen den Konsens erhoben. Wenn die beiden Länder nicht noch ihre Haltung ändern, dann haben sie keine Reduktionspflichten mehr. Wie dargelegt können solche Verpflichtungen den Staaten nicht durch Mehrheitsbeschluss auferlegt werden. Man kann sich allerdings die Frage stellen, ob es für einen Staat der Liste des Annex I der UNFCCC überhaupt rechtlich möglich ist, Vertragspartei des KP zu sein, ohne QELRCs zu übernehmen. So gesehen könnte man auch der Auffassung sein, dass die Erklärungen der beiden Staaten auf eine konkludente Kündigung des KP hinauslaufen. Beide Staaten wären dann beispielsweise nicht mehr berechtigt, an der Vertragsstaatenkonferenz des KP teilzunehmen. Eine solche Auslegung der einschlägigen Erklärung ist nicht möglich im Falle Neuseelands.17 Dieser Staat hat ausdrücklich erklärt, Vertragspartei des KP bleiben zu wollen, dass es aber nur quantitative Verpflichtungen nach Maßgabe der Rahmenkonvention übernehmen würde. Diese Erklärung bezieht sich offenbar auf weitergehende Entwicklungen unter dem Dach der Rahmenkonvention, ökonomische Instrumente zu vereinbaren, die zu den QELRCs nach dem KP hinzutreten.18 Es ist eine Frage der Auslegung des KP, ob eine solche Vorgehensweise rechtlich möglich ist. Offenbar haben die Vertragsstaaten das aber akzeptiert. Man wird also den Doha-Konsens als eine „subsequent practice“ im Sinne des Art. 38 Abs. 3(a) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜV) ansehen müssen, die für die Auslegung von Bedeutung ist. Daraus folgt, dass in der Tat ein Annex IStaat Vertragspartei des KP sein kann, ohne QELRCs zu übernehmen. Er ist dann 15

Mitteilung vom 10. 12. 2010. Mitteilung vom 08. 12. 2010. 17 Doc. FCC/KP/CMP/2012/L.9, Annex 1, Fußnote 15. 18 Siehe unten Abschnitt VI. 16

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außer an die Reduktionspflichten an alle Pflichten aus dem KP gebunden, insbesondere an die Überwachungs- und Berichtspflichten. Allerdings fehlt in diesem Fall, wie sogleich zu zeigen sein wird, ein wesentlicher Anreiz zu Befolgung dieser Pflichten.19 Auch wenn man also die Möglichkeit bejaht, dass Annex I-Staaten ohne QELRCs Vertragsparteien des KP sein können, besteht ein weiteres Problem hinsichtlich der Gültigkeit der besagten Änderungen: wie oben dargestellt, konnte das KP erst in Kraft treten, als die Ratifikationen und Beitritte mindestens 55 % der gesamten Emissionen der Annex I-Staaten ausmachten. Nach der russischen Weigerung der Übernahme von QELRCs ist dieser Prozentsatz deutlich verfehlt. Allerdings enthalten die Bestimmungen über das Inkrafttreten von Änderungen (Art. 20, 21) kein Quorum wie Art. 25 Abs. 1, der das erste Inkrafttreten des KP regelt. Die Änderungen sind also im Hinblick auf das zu regelnde Problem zwar zu schwach, jedoch rechtlich gültig. Die Änderungen nehmen auch die Fortsetzung dessen auf, was als „EU Bubble“ nach Art. 4 KP bekannt wurde. Die Möglichkeit der gemeinsamen Erfüllung der Reduktionspflichten war maßgeschneidert für die EG (jetzt EU), und nur diese hat die Möglichkeit auch genutzt. Sie hat auch erklärt, diese Möglichkeit für die neue Verpflichtungsperiode nutzen zu wollen.20 Da sich zum Zeitpunkt der Annahme des KP die Möglichkeit der Osterweiterung der EG abzeichnete, wurde der Mitgliederbestand zum Zwecke der Anwendung des Art. 4 sozusagen eingefroren oder „versteinert“ („petrified“). Nur die fünfzehn Staaten, die der EU zum Zeitpunkt der Ratifikation angehörten, konnten von der Möglichkeit der gemeinsamen Erfüllung der Reduktionspflichten Gebrauch machen.21 Die EG/EU sollte, das war der Hintergrund der Regelung, nicht von dem relativ leichten Erreichen der Reduktionspflichten in den osteuropäischen Staaten profitieren. Denn durch die De-Industrialisierung Osteuropas in den 90er Jahren ergab sich dort ohnehin eine Minderung der Emissionen. Für die neue Verpflichtungsperiode ist allerdings klar, dass Art. 4 von der EU mit allen ihren 27 Mitgliedern, genutzt werden kann, einschließlich Malta und Zypern, die 1997 noch keine QELRCs hatten. Art. 4 ist zwar immer noch maßgeschneidert für die EU, kann aber auch von eigens zu diesem Zweck gebildeten Gruppen von Staaten durch Abschluss eines entsprechenden Vertrages genutzt werden. Kroatien hat sich diese Möglichkeit vorbehalten, indem es erklärte, gegebenenfalls seine Pflichten gemeinsam mit der EU und ihren Mitgliedstaaten erfüllen zu wollen.22 Diese Erklärung ist in der Perspektive eines EU-Beitritts Kroatiens zu verstehen. Denn wenn dieser Beitritt nach der Erklärung der EU, die Änderungen des Annex B des KP anzunehmen, erfolgte, wäre Kroatien nach Art. 4 Abs. 4 KP, der zitierten Versteinerungsklausel, von der EU-Bubble 19

Siehe unten Abschnitt IV. Decision 1/CMP.8, Annex 1, Fußnote 4. 21 Dazu Massai (Fn. 6), S. 99 ff. 22 Decision 1/CMP.8, Annex 1, Fußnote 6. 20

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ausgeschlossen. Wird aber die kroatische Erklärung von der EU akzeptiert, dann kann Kroatien auch schon vor einem EU-Beitritt der EU-Bubble angehören. Von der Möglichkeit einer gemeinsamen Erfüllung mit der EU will auch Island Gebrauch machen.23 Eine weitere streitige Frage des Übergangs zwischen den Verpflichtungsperioden ist die Verwendung von Überschüssen der ersten Periode.24 Bei dem Streit geht es nicht nur um die sozusagen reine Lehre, nach der sich kein Staat auf Lorbeeren ausruhen sollte, die durch Anstrengungen an anderer Stelle (ein Argument gegen die flexiblen Mechanismen!) oder zu anderer Zeit erarbeitet wurden. Es geht immer noch um ein altes Problem, nämlich die Emissionsminderungen in den „Staaten im Übergang zur Marktwirtschaft“, die auf deren industriellem Niedergang nach 1990 beruhen und sich nun für die Emissionsbilanzen nach dem KP als vorteilhaft erweisen (Problem der sog. heißen Luft). Dadurch wurden erhebliche Überschüsse erzielt. Soweit ein Staat am Ende der ersten Verpflichtungsperiode die Emissionen in höherem Maße begrenzt oder reduziert hat, als dies nach Art. 3 KP vorgeschrieben war, so kann dieser Überschuss zur Erfüllung von Verpflichtungen der darauf folgenden Verpflichtungsperiode genutzt werden. Dieses „banking“ wird durch Art. 3 Abs. 13 KP gestattet. Die Doha-Konferenz hat dazu eine Klärung von Bewertungsregeln beschlossen.25 Darüber hinaus haben einige Staaten sowie die EU „politische Erklärungen“ abgegeben, keine solchen Überschüsse aus der ersten Verpflichtungsperiode erwerben oder gebrauchen zu wollen.26 Das bedeutet hauptsächlich eine Beschränkung des Emissionshandels, da solche Überschuss-Einheiten auf diesem Wege erworben würden.27 Dass diese Erklärungen ausdrücklich als „politisch“ bezeichnet werden, bedeutet das Fehlen rechtlicher Verbindlichkeit. Der Erwerb solcher ÜberschussEinheiten wäre also nicht rechtswidrig, er würde allerdings legitime Erwartungen verletzen. Wie in anderen Fällen ist die Unterscheidung zwischen rechtlich verbindlichen und nur „politischen“ Verpflichtungen schwierig.28 Bis zum Inkrafttreten der dargestellten Änderungen nach Art. 20 Abs. 4 KP wird es einige Zeit dauern. Diese Zwischenzeit wird durch eine Entscheidung der Konferenz über die vorläufige Anwendung überbrückt. Die Möglichkeit der vorläufigen Anwendung wird durch Art. 25 WÜV eröffnet. Da die Änderungen selbst keine Vorschriften über die vorläufige Anwendung enthalten, ist Grundlage einer solchen, dass sich die Staaten in sonstiger Weise (Art. 25 Abs. 1(b) WÜV) darauf einigen. Die einschlägige Konferenz-Entscheidung stellt noch nicht selbst eine solche Einigung dar, 23

Decision 1/CMP.8, Annex 1, Fußnote 8. Savaresi (Fn. 4), S. 20. 25 Decision 1/CMP.8, OP 23 ff. 26 Decision 1/CMP.8, Annex II. 27 Siehe unten Text zu Fn. 30 und 32. 28 P. Gauthier, Non-binding agreements, insbes. Rn. 11 ff., in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, www.mpepil.com, zuletzt aufgerufen 02. 03. 2013. 24

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eröffnet aber die Möglichkeit dafür. Die Vertragsparteien können die Tatsache, dass sie die Änderungen vorläufig anwenden, dem Depositar notifizieren. Die Vertragsparteien müssen also zwei Erklärungen abgeben: eine über die vorläufige Anwendung, eine weitere über die endgültige Annahme (Art. 20). Die „Einigung“ über die vorläufige Anwendung käme also über ein Netzwerk einseitiger Erklärungen zustande. Soweit Staaten die vorläufige Anwendung nicht erklären, verlangt eine Entscheidung der Konferenz, dass sie „implement their commitment and other responsibilities in relation to the second commitment period“, allerdings nur „in a manner consistent with their national legislation“. Dieser Vorbehalt nationaler Gesetzgebung ist in der modernen Vertragspraxis nicht selten anzutreffen. Man kann sich fragen, ob man es hier mit einer „vorläufigen Anwendung light“ zu tun hat, oder mit einer Konkretisierung der vor Inkrafttreten eines Vertrages bestehenden Pflicht (Art. 18 WÜV), Ziel und Zweck (object and purpose) des Vertrages nicht zu vereiteln. IV. Die flexiblen Mechanismen nach dem neuen Kyoto-Protokoll Hinsichtlich der sog. flexiblen Mechanismen (JI, CDM, ET)29 wirft der Übergang zu dem geänderten KP vor allem zwei Fragen auf: - Was wird aus alten Projekten mit längerer Laufzeit? - Wer ist zur Teilnahme an neuen Projekten berechtigt? Das Funktionieren der flexiblen Mechanismen hängt, jedenfalls trifft das für CDM zu, nicht unbedingt von der Existenz von QELRCs nach Art. 3 ab. Die nach Art. 12 unternommenen und zertifizierten Projekte sind in der Praxis auf längere Dauer ausgelegt. Im Design dieser Projekte gibt es, soweit ersichtlich, keine Bezugnahmen auf das mögliche Ende einer Verpflichtungsperiode. Man darf also folgern, dass die vor oder während der ersten Verpflichtungsperiode begonnenen Projekte auf jeden Fall über das Ende der Verpflichtungsperiode hinaus durchgeführt werden sollen. Durch diese Projekte wurden wohlerworbene Rechte begründet, die zu achten sind. Die Übergangsvorschriften der Konferenzbeschlüsse über die Änderungen bestätigen diese Auffassung.30 Annex I-Vertragsparteien (Industriestaaten) und andere Staaten (Entwicklungsländer) nehmen also weiter an den begonnenen CDM-Projekten teil. Diese Möglichkeit wird auch auf Vorhaben ausgedehnt, die in der neuen Verpflichtungsperiode begonnen werden. CDM-Projekte generieren zertifizierte Emissionsminderungen (certified emission reductions – CER) für die teilnehmenden Annex I-Staaten. Es ist folgerichtig, dass der weitere Erwerb und die Übertragung solcher CER nur den Staaten möglich ist, die 29 30

Siehe oben Abschnitt II. Decision 1/CMP.8, OP 12 und 13.

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QELRCs für die zweite Verpflichtungsperiode übernommen haben.31 Dasselbe gilt für Projekte der JI und für ET.32 Freilich bestimmen die einschlägigen Paragraphen der Entscheidungen diese Fragen nicht selbst. Das Recht, an diesen Mechanismen teilzunehmen oder der Ausschluss desselben ergeben sich aus dem Vertrag selbst und aus den hierzu erlassenen Ausführungsvorschriften. Deshalb sind die Entscheidungen als Auslegung des KP formuliert, als Klarstellung („clarification“) der rechtlichen Situation. Sie sind nicht als verbindliche Entscheidungen über das Verfahren dieser Mechanismen zu verstehen, zu deren Erlass die Vertragsstaaten-Konferenz des KP nach Art 6 Abs. 2, 12 Abs. 7 und 17 ermächtigt wäre. Da diese Entscheidungen nur die Vertragsstaaten selbst ansprechen, wäre es vertretbar, dass nichtstaatliche Akteure, die an Projekten beteiligt sein können („authorized legal entities“ nach den Verfahrensvorschriften über Emission Trading,33 ferner Art. 6 Abs. 3, 12 Abs. 9 KP), dies auch dann tun könnten, wenn die Vertragspartei, zu der sie gehören, nicht dazu berechtigt wäre. Das wäre jedoch nicht vereinbar mit den Verfahrensvorschriften, die die Berechtigung nicht-staatlicher Akteure an die Teilnahmeberechtigung der Staaten binden, zu denen sie gehören. Das ergibt sich aus der inneren Logik der flexiblen Mechanismen: Wenn ein Staat Vorteile aus diesen Mechanismen ableiten will, dann muss er die Kernvorschriften des KP respektieren. Sonst könnten sich aus der Beteiligung an flexiblen Mechanismen durch Privatunternehmen für deren Staat unerwünschte Mitnahmeeffekte ergeben. Der Ausschluss von der Beteiligung hat allerdings eine bedauerliche Nebenfolge. Die Möglichkeit der Teilnahme ist ja auch an die Erfüllung der Überwachungs- und Berichtspflichten gebunden. Wenn ein Staat ohnehin nicht teilnehmen kann, entfällt ein wichtiger Anreiz für die Erfüllung der letztgenannten Pflichten. Mit den genannten Anpassungen funktionieren also die flexiblen Mechanismen während der zweiten Verpflichtungsperiode weiter. Das bedeutet auch, dass die offenen Verfahrensfragen dieser Mechanismen auf der Tagesordnung bleiben. Für JI und CDM hat die Konferenz neue Leitlinien („guidance“) erlassen.34 Für CDM insbesondere bleibt die Entwicklung des Regelwerks eine wichtige Aufgabe des Executive Board.35 Eine Frage, für die die Antwort aussteht, ist die Entwicklung eines Überprüfungsverfahrens für Entscheidungen im Rahmen des CDM.36

31

OP 13 a.E. OP 15. 33 Annex to Decision 11/CMP.1. 34 Guidance relating to the Clean Development Mechanism, oben Anm. 5; Guidance on the implementation of Art. 6 of the Kyoto Protocol, Decision 6/CMP.8. 35 Guidance relating to the Clean Development Mechanism, OP 18. 36 Dazu M. Bothe/T. Marauhn/E. Rehbinder/A. M. Böhringer/J. Horst, Clean Development Mechanism: Proposal for an Appeals Process, Environmental Policy and Law 41 (2011), S. 14 ff. 32

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V. Folgerungen für die Sicherung der Vertragsbefolgung (compliance) Da der grundlegende Ansatz des KP nicht geändert wurde, gibt es auch keine Notwendigkeit zur Anpassung des „compliance mechanism“, der auf die Verpflichtungsstruktur für die erste Verpflichtungsperiode abgestimmt ist. Die einzige Änderung ist das Auftreten von Annex I-Staaten, die keine QELRCs übernommen haben. Hinsichtlich dieser Staaten besteht weiter die Notwendigkeit, die Erfüllung ihrer Überwachungs- und Berichtspflichten zu prüfen. Das kann, wie soeben ausgeführt, sogar noch notwendiger sein, da bei ihnen ein wichtiger Anreiz für die Erfüllung dieser Pflichten ausfällt. VI. Die Weiterentwicklung des Regelwerks der Klimarahmenkonvention Es wurde eingangs bereits gezeigt, dass das Kyoto-Protokoll nur einen (wenn auch wesentlichen) Teilaspekt der Klimaproblematik anspricht. Die Regelungen des KP konzentrieren sich auf Minderung des Treibhauseffekts, d. h. auf eine Begrenzung des Gehalts von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Maßnahmen zur Anpassung an die Wirkungen des Treibhauseffekts liegen außerhalb des Regelungsbereichs des KP. Ihr Rechtsrahmen ist allein die Rahmenkonvention. Daran hat sich nichts geändert. Solche Maßnahmen sind aber ein wesentliches praktisches Problem. Ferner enthält das KP präzise Reduktionsverpflichtungen, aber nur für die sog. Annex I Staaten. Den Beitrag anderer Staaten zur Lösung des Klimaproblems lässt es offen. Das kann und soll so nicht bleiben.37 All dies bedeutet, dass unter dem größeren Dach der UNFCCC weitere Schritte zur Lösung des Klimaproblems getan werden mussten. Schritte auf diesem Weg waren der Bali Action Plan,38 der Copenhagen Accord 200939 und schließlich die Durban Platform 2011.40 Dieser umfassendere Ansatz sollte zu neuen rechtlichen Instrumenten führen, die das KP ergänzen oder ersetzen. Dies ist bislang nicht gelungen. Im Bali Action Plan wurde eine Verhandlungsgruppe eingesetzt, die Ad Hoc Working Group on Long-term Cooperative Action. Sie hat für die Doha-Konferenz einen letzten Bericht erstattet und wurde aufgelöst. Wesentliche Fortschritte hat sie nicht erzielt.41 Schon auf der vorherigen Vertragsstaatenkonferenz in Durban war eine neue Verhandlungsplattform eingerichtet worden, die Durban Platform for En-

37

Vgl. Savaresi (Fn. 4), S. 18. Decision 1/CP.13. 39 Agreement made by the Heads of State and Government as well as by Heads of Delegations at the Copenhagen Conference, noted by and annexed to Decision 2/CP.15. 40 Decision 1/CP.17. 41 Savaresi (Fn. 4), S. 18 f. 38

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hanced Action.42 Die Vertragsstaatenkonferenz von Durban hat in der Tat gewisse Vorprägungen der neuen Instrumente des Klimaschutzes geschaffen, die es nun auszubauen galt – was aber, wie sogleich zu zeigen sein wird, noch nicht gelungen ist. 1. Finanzmechanismen Ein zentraler Punkt der Verhandlungen war der Finanzaspekt. Der Finanzmechanismus der Rahmenkonvention wird von den Entwicklungsländern allgemein als unbefriedigend empfunden. Art. 11 UNFCCC schafft nur einen allgemeinen Rahmen, keine konkreten Finanzierungpflichten. Seit Annahme des KP wurden verschiedene finanzielle Instrumente in diesem weiteren Rahmen vorgeschlagen. Finanztransfers waren ein entscheidendes Thema der Verhandlungen der letzten Vertragsstaatenkonferenzen des KP. Solche Transfers sind die Bedingung für eine Beteiligung der Entwicklungsländer an Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels. Dies ist der Hintergrund und Sinn des „Copenhagen Accord“ und der Kopenhagener Verpflichtungserklärungen. Der „Accord“ ist eine Zusage der auf der Vertragsstaatenkonferenz von Kopenhagen vertretenen Staats- und Regierungschefs sowie Delegationsleiter, die durch eine Konferenzentscheidung zur Kenntnis genommen wurde.43 Ziff. 8 des Copenhagen Accord ist von besonderer Bedeutung: „… The collective commitment by developed countries is to provide new and additional resources … approaching USD 30 billion for the period 2010 – 2012 with balanced allocation between adaptation and mitigation … In the context of meaningful mitigation actions and transparency on implementation, developed countries commit to a goal of mobilizing jointly USD 100 billion dollars a year by 2020 to address the needs of developing countries. This funding will come from a wide variety of sources, public and private, bilateral and multilateral, including alternative sources of finance …“.

Die Industriestaaten behaupten, sie hätten den ersten Teil der Verpflichtung bislang eingehalten. Das ist etwas schwierig nachzuvollziehen. Die Quellen, aus denen diese Finanzierung gekommen sein soll, sind disparat. Die Doha-Konferenz hat in dieser Beziehung keinen wirklichen Fortschritt gebracht. Der wichtigste Schritt in der Entwicklung von Transfermechanismen war die Errichtung eines „Green Climate Fund“ durch den sog. Copenhagen Accord. Der Fonds wurde errichtet, und die Konferenz von Doha bestimmte Korea als Sitz des Sekretariats.44 Eine Reihe von Staaten haben Verpflichtungserklärungen abgegeben, die Kosten des Sekretariats zu tragen.45 Ob der Fonds den Entwicklungsländern nachhaltig Hilfe sowohl bei der Minderung des Treibhauseffekts als auch bei der Anpassung leisten kann, bleibt abzuwarten. 42 Decision 1/CP.17: „Establishment of an Ad Hoc Working Group on the Durban Platform for Enhanced Action“. 43 Decision 2/CP.15, Ziff. 10. 44 Decision 6/CP.18, OP 3. 45 Ebenda, OP 13.

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Ein neuer Teil der finanzpolitischen Agenda ist das Thema „loss and damage associated with climate change impacts in developing countries that are particularly vulnerable to the adverse effects of climate change to enhance adaptive capacity“.46 Dies bedeutet die Anerkennung der besonderen Bedrohung, die das mögliche Ansteigen des Meeresspiegels darstellt. Dazu soll die nächste Vertragsstaatenkonferenz einen institutionellen Rahmen schaffen. 2. Das rechtliche (?) Regime weiterer Schritte Auch die Verhandlungen über das erforderliche neue Instrument, das Rahmen und Leitlinie für den Kampf gegen den Klimawandel bietet und das Kyoto-Protokoll ergänzt oder ersetzt, haben durch die Doha-Konferenz keinen wesentlichen Fortschritt erzielt. Die einschlägige Entscheidung47 bestätigt nur die früheren Entscheidungen und fasst einige wenige Verfahrensschritte ins Auge: die Organisation von Konferenzen und Workshops, Fristen für Information und neue Vorschläge, die Regierungen vorlegen sollen, und nicht zuletzt eine Erklärung des UN-Generalsekretärs, der 2014 ein hochrangiges Treffen einberufen wird. In der Sache bestätigt die Doha-Konferenz frühere Entscheidungen. Die Lage bezüglich des Fortschritts im Hinblick auf die Annahme eines neuen Instruments muss in einer Gesamtschau der früheren Entscheidungen gesehen werden. Das wirft die folgende Rechtsfrage auf: Besteht eine Rechtspflicht, oder wenigstens eine politische Verpflichtung, ein neues verbindliches Instrument zu verhandeln (pactum de negotiando) oder gar abzuschließen (pactum de contrahendo)? Die Fragen unterteilt sich in zwei Unterfragen, wofür der zur Durchführung der Durban Platform eingesetzte Ausschuss zwei Arbeitsrichtungen („workstreams“) einrichtete, die von der Doha-Konferenz übernommen wurden:48 Die erste bezieht sich auf ein Instrument, das den Rahmen für die Klimapolitik ab 2020 abgeben soll. Die zweite bezieht sich auf den Zeitraum von 2013 bis 2020. Beide werden von der einschlägigen Entscheidung der Doha-Konferenz49 wie folgt angesprochen: „4. Determined to adopt a protocol, another legal instrument or an agreed outcome with legal force under the Convention applicable to all Parties at its twenty-first session, to be held from Wednesday, 2 December to Sunday, 13 December 2015, and for it to come into effect and be implemented from 2020. 5. Decides to identify and explore in 2013 options for a range of actions that can close the pre-2020 ambition gap with a view to identifying further activities for its plan of work in 2014 ensuring the highest possible mitigation efforts under the Convention.“

Der zweite zitierte Paragraph, der sich auf die Zeit bis 2020 bezieht, enthält keine inhaltliche Entscheidung. Es werden keinerlei konkrete Maßnahmen ins Auge ge46

Decision 3/CP.18. Decision 2/CP.18 „Advancing the Durban Platform“. 48 Savaresi (Fn. 4), S. 20. 49 Decision 2/CP.18. 47

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fasst. Es ist nichts als eine Entschließung, die Frage weiter zu behandeln. Einige Ideen, die auf dem Tisch liegen, werden wohl weiter behandelt: Eine von ihnen ist „Nationally Appropriate Mitigation Action“ (NAMA). Dieser Ansatz ist wohl typisch für einen Trend, mehr Wert auf freiwillige nationale Maßnahmen als auf internationale Rechtspflichten zu legen. Die nationale Aktion wird sozusagen international abgesegnet, wodurch es erleichtert wird, eine internationale Finanzierung, etwa durch die Weltbank, zu erhalten. Ob und inwieweit eine solche Finanzierung auf die Verpflichtungserklärungen von Cancún und Kopenhagen anzurechnen ist, ist eine interessante Frage. Was den erstgenannten Paragraphen angeht, der sich auf die Situation ab 2020 bezieht, so stellen sich vier Fragen: - Bedeutet seine Formulierung rechtliche Verbindlichkeit? - Wenn ja, hat die Vertragsstaatenversammlung die Befugnis, verbindliche Entscheidungen zu erlassen? - Welches soll der Rechtscharakter des anzunehmenden Regelungsinstruments sein? - Gibt es schon inhaltliche Vorgaben für die neue Regelung? Die Vertragsstaatenversammlung ist „entschlossen“, in zwei Jahren ein Regelungsinstrument zu beschließen. So wird ein politischer Wille formuliert, keine rechtliche Verbindlichkeit. Es liegt kein „pactum“ im Sinne einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung vor, erst recht nicht ein pactum de contrahendo. Ob die Formulierung wenigstens eine politische Verpflichtung der Staaten enthält, die sich an der Formulierung des politischen Willens beteiligt haben, kann man diskutieren. Das Sekretariat der Rahmenkonvention scheint bei der Formulierung der diesbezüglichen Presseerklärung jedenfalls von einer solchen Verpflichtung auszugehen: „Governments have agreed to speedily work toward a universal climate change agreement …“.50 Für das Instrument, mit dem das letztgenannte „agreement“ formuliert werden soll, bietet die Resolution der Doha-Konferenz drei Varianten an: ein „Protokoll“, ein „andres Rechtsinstrument“ sowie ein „vereinbartes Ergebnis“ (agreed outcome). Das Wort „Vertrag“ wird offenbar geflissentlich vermieden, obwohl klar ist, dass ein „Protokoll“ wie das Kyoto-Protokoll, abgeschlossen im Rahmen des Regimes der UNFCCC, ein völkerrechtlicher Vertrag ist. Wenn das „andere Rechtsinstrument“ rechtlich verbindlich sein soll, dann kann es gleichfalls nur ein Vertrag sein. Da es an einer Befugnis, rechtlich verbindliche Konferenzentscheidungen zu treffen, insofern fehlt, komm nur der Vertrag als Mittel zum Schaffen rechtlich verbindlicher Verpflichtungen in Frage,51 ob das Dokument nun Vertrag oder anders genannt wird.52 50

sers. 51

Climate Change Secretariat, Press release vom 08. 12. 2012, Hervorhebung des VerfasMalgosia Fitzmaurice, Treaties, Rn. 6 ff., in: Max Planck Encyclopedia (Fn. 28).

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Nach Art. 2 Abs. 1(a) WÜV wird Vertrag definiert als „an international agreement concluded between States in written form and governed by international law, … whatever its particular designation“.53 Es gibt freilich Alternativen zum Vertrag dadurch, dass Instrumente angenommen werden, die zwar gesicherte Verhaltenserwartungen schaffen, aber eben nicht solche rechtlicher Art, z. B. wie schon ausgeführt politische Verpflichtungen (political commitments). Allerdings sind solche Instrumente keine „Rechtsinstrumente“, jedenfalls nicht in engerem Sinne. Der Ausdruck „vereinbartes Ergebnis“54 hört sich eher nach einer lediglich politischen Verpflichtung an. Aber solche schaffen auch gewisse gesicherte Verhaltenserwartungen. Diese Art von Dokument ist in der heutigen internationalen Praxis durchaus üblich. Solche politischen Verpflichtungen können sogar zum Gegenstand einer eingehenden Erfüllungskontrolle gemacht werden. Die Unterscheidung zwischen solchen politischen und rechtlichen Verpflichtungen ist darum nicht immer einfach.55 Allerdings deutet der Zusatz „with legal force“ darauf hin, dass eben doch rechtliche Verbindlichkeit gewollt war. Dann ist man der Sache nach wieder beim Vertrag. Was dieses Spiel mit Worten eigentlich soll, erschließt sich dem Betrachten nur schwer. Offenbar geht es einmal mehr um in den internationalen Beziehungen häufiger verwandte Euphemismen, die das eigentlich Gewollte (hier: vertragliche Bindung) verbal angenehmer machen sollen. Für die vierte Frage ist darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Regelung „applicable to all Parties“ handeln soll. Damit bleibt allerdings nicht eine hoch umstrittene Frage offen: Inwieweit ist die völlig unterschiedliche Behandlung der Verpflichtungen der sog. Annex I-Staaten, d. h. der alten Industriestaaten, und der anderen Staaten (Entwicklungsländer, aber auch neue Industriestaaten einschließlich China, Indien und Brasilien), wie sie sich aus dem KP ergibt, aufrecht zu erhalten? Die kontroverse Diskussion darüber hat noch nicht zu einer Entscheidung geführt.56 Sie wird auch von dem Design der neuen Regelungsmechanismen abhängen. VII. Schlussfolgerungen Die Klimarahmenkonvention hat für die weltweite Klimapolitik zunächst einen recht weichen Rahmen mit einer Reihe vager und allgemeiner Verpflichtungen geschaffen. Die Entwicklung verlief aber ähnlich wie bei anderen vergleichbaren Vertragsregimen: Das Regime hat sich durch umfangreiche Sekundärnormen weiter entwickelt. Der rechtliche oder nicht-rechtliche Charakter dieser Sekundärnormen ist unterschiedlich. Die Tendenz der Entwicklungs- und Schwellenländer geht immer 52

Fitzmaurice (Fn 51), Rn. 5. Hervorhebung des Verfassers. 54 Zu den Unsicherheiten, die mit der Verwendung dieses Begriffs verbunden sind, Rajamani (Fn. 2), S. 805 ff. 55 Gautier (Fn. 28). 56 Savaresi (Fn. 4), S. 21. 53

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noch dahin, harte rechtliche Verpflichtungen zwar den alten Industriestaaten aufzubürden, aber solche nicht selbst zu akzeptieren. Bislang ist das einzige Sekundärregime in Vertragsform das KP. Es hat seine eigenen Sekundärnormen hervorgebracht. Auch ihr Rechtscharakter ist unterschiedlich. Anders als die Vertragsstaatenversammlung der Rahmenkonvention hat die des KP Entscheidungsbefugnisse, d. h. sie kann Normen schaffen, die alle Vertragsparteien binden (Art. 6 Abs. 2, 12 Abs. 7, 17, in gewissem Umfang auch Art. 1857). Da der Kampf gegen den Klimawandel hoch umstritten ist und Staaten ihre damit in Zusammenhang stehenden Interessen durchaus unterschiedlich sehen, ist es in diesem System äußerst schwierig, rechtlich verbindliche Sekundärnormen zu schaffen. Das Ergebnis dieser Schwierigkeit ist ein oft schwer durchschaubares Spiel mit rechtstechnischen Details. Es wurde gezeigt, dass dies auch für die Verhandlungen der Doha-Konferenz zutrifft. Das erschwert auch die Bewertung ihrer Ergebnisse. Die Entscheidung über die Durban Platform58 ist ein gutes Beispiel für die rechtlichen Zweideutigkeiten, hinter denen sich die politische Unfähigkeit des Systems verbirgt, echten Fortschritt bei der Lösung der Probleme zu erreichen, deren Lösung eigentlich Aufgabe des Regimes ist. Ein wesentlicher Vorteil des Kyoto-Protokolls ist, dass es klare und genaue Rechtsnormen enthält. Aber diese gelten eben nur für die alten Industriestaaten (Annex I-Staaten). Das entspricht der bereits erwähnten Grundhaltung der Entwicklungs- und Schwellenländer, Verpflichtungen dieser Art nur den Industriestaaten aufzubürden.59 Daran hat sich auch auf der Doha-Konferenz nichts geändert. Viele der letztgenannten Staaten, vor allem in Europa, haben sich entschlossen, mit dieser Haltung der anderen zu leben und dennoch weitreichende strikte Verpflichtungen zu akzeptieren. Andere Länder verfolgen einen anderen Ansatz, insbesondere die USA, aber zunächst auch Australien. Einige Staaten haben im Lauf der Zeit die Seiten gewechselt. Australien akzeptiert nun harte Verpflichtungen, die Russische Föderation, Kanada, Neuseeland und Japan sind in die andere Richtung gegangen. Das Bestreben, das Regelwerk zum Kampf gegen den Klimawandel fortzuentwickeln, hat während der letzten Vertragsstaatenkonferenzen im Wesentlichen drei Pfade eingeschlagen: - Eine Fortsetzung und Verbesserung des Kyoto-Protokolls; - die Entwicklung eines umfassenderen Instruments für die globale Klimapolitik ab 2020; - Fortschritte außerhalb des Regelungsbereichs des KP noch vor 2020. Das KP wurde in der Tat fortgesetzt, und zwar mit erhöhten Reduktionspflichten, die aber von Kritikern mit einem gewissen Recht als immer noch unzureichend an57 Eine Begrenzung der rechtlichen Verbindlichkeit von Entscheidungen nach dieser Vorschrift ergibt sich aus Satz 2. 58 Text zu Fn. 47. 59 Vgl. Bothe/Rehbinder (Fn. 3).

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gesehen werden. Es ist jedoch wichtig, dass der hoch komplexe Apparat dieses Vertragsregimes erhalten blieb. Die Mechanismen dieses Vertragsregimes wurden sogar fortentwickelt, allerdings nur in wenigen Details. Versuche, die Reduktionspflichten doch noch weiter zu verschärfen, sind vage geblieben. Das Ausscheren einiger Staaten hat den Beitrag, den das Kyoto-Protokoll zum Kampf gegen die Erderwärmung liefert, geschwächt. Auch bei der Entwicklung eines umfassenden Instruments für die globale Klimapolitik wurde kein wirklicher Fortschritt erzielt. Das einzige Ergebnis ist ein politischer Entschluss, Verhandlungen mit dem Ziel fortzuführen, ein solches Instrument 2015 anzunehmen. Eine rechtliche Verpflichtung ist mit diesem „Entschluss“ nicht verbunden. Für Fortschritte außerhalb des Regelungsbereichs des KP ist das Ergebnis noch schwächer. In den beiden Verhandlungsrichtungen (workstream) wird eine Debatte über Regelungsinstrumente geführt. Finanzielle Anreize spielen eine wichtige Rolle. Flexible Mechanismen, die neben die des KP treten, werden diskutiert. Freiwillige nationale Maßnahmen erfahren eine größere Aufmerksamkeit. Es ist nicht der Zweck dieses Beitrags, die Ergebnisse der Doha-Konferenz unter politischen Gesichtspunkten zu bewerten. Der Schwerpunkt lag auf einer Analyse der rechtlichen Instrumente des Kampfes gegen den Klimawandel. Aber die Langsamkeit der Entwicklung rechtlicher Instrumente ist die Folge einer politischen Entscheidungsunfähigkeit des Systems. Die Unvollkommenheit des Rechtsregimes entspringt der Unvollkommenheit des internationalen politischen Systems. Diese politische Lähmung ist plastisch als „Post-Kyoto Stress“ beschrieben worden.60 Die Klimapolitik leidet im Grunde daran, dass es ihr an einem Wegbereiter fehlt, der in anderen Rechtsbereichen Fortschritt beschleunigt hat, nämlich an sichtbaren Katastrophen. Solche Katastrophen haben immer wieder das internationale System zu unvermuteten Fortschritten gezwungen. Wichtige Beispiele für diesen Prozess sind der völkerrechtliche Schutz der Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und auch andere Bereiche des Umweltrechts (etwa Meeresverschmutzung durch Öl). Auch Fehler der Klimapolitik können Katastrophen hervorrufen. Aber wenn sie sichtbar werden, ist es zu spät.

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Rajamani (Fn. 2).

Entwicklungen des Rechtsschutzes im Umweltrecht Von Rüdiger Breuer I. Einleitung Über den „Rechtsschutz im Umweltschutz“ hat Michael Kloepfer schon im Jahre 1984 auf der Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht referiert.1 Seine Situationsanalyse hob seinerzeit die unverkennbaren „Probleme des Umweltrechtsschutzes“ hervor. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die von Horst Sendler kritisierten „Hypertrophien“2 und konstatierte „Prozesslawinen“, jahrelange Gerichtsverfahren mit manchmal Tausenden von Klägern, „expansionistische Eilverfahren“, mehrere Hundert Seiten starke Urteilsbegründungen und die „fast regelmäßige“ Ausschöpfung des vielstufigen Instanzenzuges. Die gesetzgeberischen Maßnahmen zur Kürzung des Instanzenzuges und zur Verfahrensstraffung3 vermögen die tieferliegenden Probleme der konstatierten Befunde nicht zu lösen, sondern allenfalls eine oberflächliche Eindämmung der Konfliktphänomene zu erreichen. Kloepfer hat diese Entwicklungen wiederholt geschildert, zugleich aber immer wieder auf die ungelösten Probleme des Umweltrechtsschutzes hingewiesen.4 Hierbei kommt dem verfassungsrechtlichen Gebot effektiven und zeitgerechten Rechtsschutzes zentrale Bedeutung zu. Zu Recht hat Kloepfer daran erinnert, dass der effektive Rechtsschutz „eine Umsetzung bzw. Umsetzbarkeit des materiellen Rechts in soziale Wirklichkeit“ fordert.5 Dennoch hat Kloepfer in seinem vorerwähnten Referat eine Erfolgsbilanz des Rechtsschutzes im Umweltschutz ausgemacht: Trotz der ungünstigen Bedingungen sei es den Gerichten bisher (bezogen auf die Mitte der 1980-er Jahre) „überwiegend gelungen, einen erheblichen Beitrag zur Deutung, Verfestigung, Systematisierung und Fortbildung des jungen, teilweise etwas überhastet entstandenen Rechtsgebiets 1

Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 ff. und 77 (1986), 30 ff. Sendler, DVBl. 1982, 157 (164); auch Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, 1979, S. 7. 3 Insbesondere: 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 1. 11. 1996, BGBl. I S. 1626; Gesetz zur Beschleunigung von Planungsvorhaben für Infrastrukturvorhaben vom 9. 12. 2006, BGBl. I S. 2833. 4 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 8 Rn. 7 ff.; ders., Umweltschutzrecht, 2. Aufl. 2011, § 5 Rn. 3. 5 Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 (373). 2

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Rüdiger Breuer

zu leisten“.6 Mit dieser positiven Beurteilung kontrastierte schon damals die Liste der tieferliegenden Probleme, die hier nur in Stichworten wiedergegeben werden können. Hierzu gehören:7 - die Komplexität und Kompliziertheit der seinerzeit „neuen“ Materie mit ihren naturwissenschaftlich-technischen Sachverhalten, - die nicht selten unzulängliche Programmierung durch den Gesetzgeber, dem Kloepfer die Neigung zur „politischen Poesie“ sowie zu Ad-hoc-Kompromissen, normativer Inkonsequenz und allzu unbestimmten Rechtsbegriffen attestierte, - Schwachstellen des materiellen Umweltrechts wie Verzahnungsdefizite und Wertungswidersprüche zwischen einzelnen Vorschriften und Gesetzen, - die starke, durch politische, wirtschaftliche und ökologische Folgewirkungen bedingte Verbissenheit vieler Umweltrechtsstreitigkeiten, - Divergenzen zwischen Verfahrensrecht und Verfahrenswirklichkeit, die dazu führen, dass das bisherige Rechtsschutzsystem einseitig auf den Individualrechtsschutz zugeschnitten ist und kollektive Interessen – wie viele Umweltbelange – nur sehr unvollkommen, d. h. nur mittelbar, wehrfähig sind, - die vom Verfahrensrecht nur unvollkommen verarbeitete Konstellation polygonaler Rechtsverhältnisse bei Drittanfechtungen, - die häufig politische Motivierung von Klagen, die in publizitätsträchtigen Verfahren nur noch bedingt Ausdruck individueller Rechtsbetroffenheit ist, - ein „zunehmend ambivalentes Aufgabenverständnis der Gerichte“, dass sich von der klassischen kassatorischen und revisorischen Funktion zu einer stärker reformatorischen Funktion bewegt8 und geneigt ist, bei der Überprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe eigene fachliche Wertungen vorzunehmen und diese an die Stelle der Einschätzung der Verwaltung zu setzen, und - eine zunehmende Bereitschaft zum Rechtsbruch, die Kloepfer nicht allein bei ökologisch bewegten Widerstandsaktionen nach dem Motto „in der einen Hand den Pflasterstein und in der anderen die Klageschrift“ gesehen, sondern auch auf Seiten der Verwaltung kritisiert hat:9 „Möglicherweise wächst aber auch die Bereitschaft der Verwaltung selbst, das geltende Recht bis an seine Grenzen auszuschöpfen und diese auch zu überschreiten. Dies schließt den Dolus eventualis zum Rechtsbruch ein. Die Verwaltung sieht sich heute vielfach gewissermaßen nicht mehr als neutrale übergeordnete Macht mit dem Allgemeinwohlauftrag der Rechtswahrung und -verwirklichung, sondern eher als interessengebundene Partei, die das

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Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 (374). Vgl. im Einzelnen Klopefer, VerwArch. 76 (1985), 371 (376 ff.). 8 So schon Bettermann, in: Merten (Hrsg.), Die Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsgesetze zu einer Verwaltungsprozeßordnung, 1978, S. 91 ff., 109 ff. 9 Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 (378). 7

Entwicklungen des Rechtsschutzes im Umweltrecht

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Recht zur Wahrung der von ihr verfochtenen Gemeinwohlbelange möglichst extensiv ausnutzen will.“

Als der Deutsche Juristentag im Jahre 1986 über das Thema „Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts“ verhandelt hat10, standen aus öffentlich-rechtlicher Sicht zwei scheinbar widersprüchliche Wahrnehmungen einander gegenüber: einerseits die Perspektive eines unzureichenden Individualschutzes gegen Umweltbelastungen und andererseits die Perspektive eines ausufernden „Rechtsschutzes im Umweltschutz“11. Dreh- und Angelpunkt der hierzu geführten Debatte war der Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz, d. h. die Frage der Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) sowie der funktionsgleichen, namentlich für den vorläufigen Rechtsschutz maßgeblichen Antragsbefugnis. Dass die seinerzeit beobachteten Funktionsdefizite keineswegs überwunden sind, zeigt sich, wenn man den Rechtsschutz auf dem Gebiet des Umweltrechts von heutiger Warte aus betrachtet. Indessen sind gegenwärtig durchaus bemerkenswerte Entwicklungen zu verzeichnen, die großenteils auf europäisches Recht zurückgehen. Die Umsetzung in das deutsche Recht ist insoweit zwiespältig und teilweise inkonsequent geblieben. Im Folgenden seien diese Entwicklungen in drei Teilbereichen12 verfolgt, die als Schlüsselfragen des Rechtsschutzes im Umweltrecht anzusprechen sind. Hierbei handelt es sich um - den Zugang zum Umweltrechtsschutz, insbesondere die Klagebefugnis, - die Kontrollmaßstäbe des Umweltrechtsschutzes, insbesondere die gerichtliche Kontrolldichte, und - den vorläufigen Rechtsschutz.

II. Der Zugang zum Umweltrechtsschutz Der Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz steht und fällt mit der Beantwortung der Frage nach der Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) sowie der funktionsgleichen Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO) und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Die Entscheidung dieser Schlüsselfrage des Verwaltungsrechtsschutzes richtet sich grundsätzlich nach dem nationalen Prozessrecht. Dessen Regelungen sind jedoch beim heutigen Entwicklungsstand durch europäisches Recht überformt und modifiziert. Die europarechtlichen Vorgaben wirken sich insbesondere im Anwendungsbereich des Umweltrechts aus und modifizieren somit den Zugang zum Umweltrechtsschutz. Dadurch ist das deutsche System 10

Vgl. vor allem Marburger, Gutachten C zum 49. DJT, 1986. Vgl. Breuer, DVBl. 1986, 849 ff. m. w. N. 12 Zu deren Hervorhebung schon Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 8 Rn. 16, 17 ff., 55 ff., 76 ff. 11

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des verwaltungsprozessualen Individualrechtsschutzes unter einen vielfach beschriebenen Anpassungsdruck geraten.13 Dessen Folgen für die Rechtspraxis sind gegenwärtig erst in Umrissen erkennbar. 1. Die gegensätzlichen Modelle der Verletzten- und der Interessentenklage Um die entstandene Bewegung zutreffend erfassen und beurteilen zu können, muss man sich die prinzipiellen Prämissen und die alternativen Gestaltungsmöglichkeiten des Verwaltungsrechtsschutzes vergegenwärtigen. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Teilstaaten die Verwaltungsgerichtsbarkeit als gesonderter, mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteter Zweig der rechtsprechenden Gewalt geschaffen wurde, war kontrovers, ob sie mit einer objektiven Rechtskontrolle14 oder mit dem Individualrechtsschutz betraut werden sollte. Dabei hat sich bekanntlich das süddeutsche Modell des verwaltungsgerichtlichen Individualrechtsschutzes durchgesetzt.15 In dessen Rahmen wäre eine Popularklage widersprüchlich. Klärungsbedürftig blieb jedoch, ob der Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz entweder aufgrund der faktischen Betroffenheit nach dem Konzept der Interessentenklage oder, juristischer Engführung folgend, nach dem Konzept der Verletztenklage ausgestaltet werden sollte. Mit dem Erfordernis der Klage- oder Antragsbefugnis i. S. der §§ 42 Abs. 2 und 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, derzufolge die Klage oder ein verwaltungsprozessualer Antrag nur zulässig ist, wenn der Kläger oder Antragsteller geltend macht, durch den angegriffenen Hoheitsakt oder durch dessen Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein, hat der deutsche Gesetzgeber das Modell des Individualrechtsschutzes nach dem strikten Leitbild der Verletztenklage ausgeformt.16 Dementsprechend setzt die Begründetheit einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage neben der Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns voraus, dass der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). All dies wird im Umweltrechtsschutz vor allem bei Klagen und Anträgen Dritter relevant. Insbesondere schränkt die juristische Engführung des Individualrechtsschutzes mittels der Klage- oder Antragsbefugnis den Umwelt-Nachbarschutz so ein, dass dessen räumliche und sachliche Reichweite typischerweise hinter den faktischen, durch Beeinträchtigungen oder Risiken bewirkten Betroffenheiten zurückbleibt.17 13

Eindringlich dazu Wahl, in: Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 237 ff. Hierfür v. Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 1872. 15 Vgl. statt vieler: Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 2 Rn. 6 ff.; Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, 1999, S. 6 ff., 167 ff., 202 ff. 16 Grundlegend Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, 1979; aus rechtsvergleichender Sicht: Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 39 ff.; auch Hufen (Fn. 15), § 14 Rn. 53 ff. 17 Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 (376, 381 ff.). 14

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Der Kläger oder Antragsteller muss mithin nach deutschem Recht ein subjektivöffentliches Recht vorweisen können. Zu dessen Begründung bedarf es einer Schutznorm, d. h. einer Rechtsnorm, die zumindest auch dem Schutz des jeweiligen Klägers oder Antragstellers dient. Hierauf zielt die herrschende Schutznormtheorie, deren Anwendung ein rechtspraktisches, von zahlreichen Unsicherheiten durchsetztes Problemfeld bildet.18 Im französischen Verwaltungsrecht gilt demgegenüber die wichtigste Klageart, nämlich der recours pour excès de pouvoir, als Verfahren der objektiven Rechtskontrolle. Deren Maßstab ist die Gesetzmäßigkeit (légalité) des Verwaltungshandelns.19 Die Zulässigkeit einer Klage setzt demgemäß nicht die Geltendmachung eines subjektiven Rechts und seiner Verletzung voraus. Begründet ist die Klage grundsätzlich unter der alleinigen Voraussetzung, dass das angegriffene Verwaltungshandeln gegen objektives Recht verstößt.20 Dennoch kennt auch das französische Recht keine Popularklage. Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage ist im recours pour excès de pouvoir ein „intérêt pour agir“.21 Darunter wird ein Interesse des Klägers an der gerichtlichen Entscheidung über die geltend gemachte Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungshandelns verstanden. Dieses Interesse kann rechtlicher, aber auch wirtschaftlicher oder ideeller Art sein. Nachbarklagen sind hiernach zulässig, soweit tatsächliche Auswirkungen eines Vorhabens, dessen Rechtmäßigkeit der Kläger bestreitet, für diesen spürbar sind. Dabei wird lediglich ein hinreichendes Näheverhältnis (proximité) verlangt, aus dem sich die tatsächlichen, für den Kläger spürbaren Auswirkungen ergeben.22 Bei größeren Vorhaben mit weitreichenden Umweltauswirkungen können auch Personen in der weiteren Umgebung über das geforderte „intérêt pour agir“ verfügen.23 Durch diese Merkmale hebt sich die Interessentenklage des französischen Verwaltungsrechts von der Verletztenklage des deutschen Rechts ab.

18 Vgl. statt vieler: Classen (Fn. 16), S. 40 ff.; Hufen (Fn. 15), § 14 Rn. 72 ff.; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 42 Rn. 386 ff.; Wahl, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 94 ff.; Breuer, DVBl. 1986, 849 (854); Bauer, AöR 113 (1988), 582 ff.; in der Rechtsprechung z. B. BVerwGE 81, 329 (334); 92, 313 (317). 19 Classen (Fn. 16), S. 57 m. w. N.; Schlette, Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, 1991, S. 78; C. Lerche, in: Frowein (Hrsg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, S. 1 (5). 20 Classen (Fn. 16), S. 58; Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S. 113, 114. 21 Näher dazu Classen (Fn. 16), S. 59 ff. m. w. N., insbesondere zur Rechtsprechung des Conseil d’Etat; Ruffert (Fn. 20), S. 114 ff. 22 Vgl. Classen (Fn. 16), S. 60 m. w. N. 23 Vgl. Classen (Fn. 16), S. 60 m. w. N.

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2. Tendenzen zur Konvergenz zwischen den gegensätzlichen Rechtsschutzmodellen am Beispiel des wasserrechtlichen Drittschutzes Der Gegensatz zwischen den Modellen der Verletzen- und der Interessentenklage darf indessen nicht als kategorisches Hindernis einer Konvergenz missverstanden werden. Ein Beispiel für eine bereits gegenwärtig erkennbare Konvergenz bildet im deutschen Recht der wasserrechtliche Drittschutz nach Maßgabe des Gebots der Rücksichtnahme. Nach den herkömmlichen Grundsätzen der Schutznormtheorie und des Wasser-Nachbarrechts ist ein Drittschutz nur im Anwendungsbereich der wasserbehördlichen Bewilligung sowie der gehobenen, nachbarrechtlich formalisierten Erlaubnis so durchnormiert, dass positivierte Schutznormen existieren, deren Verletzung ein Drittbetroffener geltend machen kann (so §§ 14 und 15 Abs. 2 WHG, zuvor § 8 Abs. 3, 4 und § 10 WHG a. F. i. V. m. landesrechtlichen Ausfüllungsvorschriften).24 Demgegenüber entbehrt die einfache, nachbarrechtlich nicht formalisierte Erlaubnis im Wasserrecht derartiger positivierter Schutznormen. Dieser Befund hat lange zu prinzipiellen Fehlvorstellungen geführt. Manche Interpreten wollten insoweit jeden rechtlichen Drittschutz gegenüber der einfachen wasserbehördlichen Erlaubnis verneinen.25 Andere wollten einen Drittschutz unmittelbar, pauschal und präterlegal aus den Grundrechten der Art. 2 Abs. 2 und 14 Abs. 1 GG herleiten.26 Solche Fehlvorstellungen haben sich in beiden Richtungen als voreilig und einseitig erwiesen und nicht durchgesetzt. Das BVerwG hat jedoch mit seiner Rechtsprechung zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme einen mittleren und tragfähigen Weg eingeschlagen. Hierdurch ist sichergestellt, dass der Drittschutz im Anwendungsbereich der einfachen wasserrechtlichen Erlaubnis nicht leerläuft. Nach der Rechtsprechung des BVerwG bleibt es zwar dabei, dass der Drittschutz grundsätzlich auch im Wasserrecht aus Rechtsnormen abzuleiten ist, die der Behörde den Schutz bestimmter nachbarlicher Belange auferlegen. Indessen ist nach § 13 Abs. 1 WHG (zuvor nach § 4 Abs. 1 Satz 2 WHG a. F.) bei allen wasserrechtlichen Gestattungen auf die individuellen Interessen Dritter Rücksicht zu nehmen.27 Auch im Anwendungsbereich der einfachen wasserrechtlichen Erlaubnis ist die Wasserbehörde daher verpflichtet, bei ihren Ermessensentscheidungen die gebotene Rücksicht auf die Interessen Dritter walten zu lassen. Demgemäß hat § 13 Abs. 1 WHG (wie zuvor schon § 4 Abs. 1 Satz 2 WHG a. F.) drittschützenden Charakter. Zwar ist ein geschützter Personenkreis in den genannten 24

Vgl. Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 66 m. N. zur Rechtsprechung. 25 Vgl. dazu die Hinweise in BVerwGE 78, 40 (45). 26 In diesem Sinne BVerwGE 36, 248 (250 f.); 41, 58 (66); auf dem Gebiet des Baurechts auch BVerwGE 52, 122 (125 ff.); dagegen Wahl, Abschied von den „Ansprüchen aus Art. 14 GG“, in: FS für Konrad Redeker, 1993, S. 245 ff.; Breuer (Fn. 24), Rn. 687, 727. 27 BVerwGE 78, 40 (43); auch BVerwG, ZfW 1988, 337; BVerwG, ZfW-Sonderheft 1988 Nr. 31; OVG Greifswald, NVwZ-RR 1996, 197; im Schrifttum: Knauber, NVwZ 1988, 997 ff.; Burgi, ZfW 1990, 245 (253 ff.); Breuer (Fn. 24), Rn. 729 ff.

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Vorschriften nicht eindeutig abgegrenzt. Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an. Maßgeblich ist vielmehr, „dass sich aus individualisierenden Merkmalen des Genehmigungstatbestandes ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet“.28 Geschützt sind nach dieser interpretatorisch gewonnenen Generalklausel „alle rechtmäßigen Wasserbenutzer und schließlich diejenigen Personen, deren private Belange nach Lage der Dinge von der Benutzung betroffen werden und deren Beeinträchtigung tunlichst zu vermeiden ist“.29 Allerdings vermittelt das Gebot der Rücksichtnahme Drittschutz nur insoweit, als die Belange eines Umwelt-Nachbarn in einer qualifizierten und individualisierten Weise betroffen sind.30 Wann eine solche qualifizierte und individualisierte Betroffenheit vorliegt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei ist auf bereits vorhandene Nutzungen sowie auf die wasserwirtschaftliche Bedeutung einer bestehenden oder beabsichtigten Nutzung abzustellen.31 Die so begründete Klagebefugnis hält sich zwar im terminologischen und rechtskonstruktiven Rahmen der Schutznormtheorie. Wegen ihres generalklauselartigen Charakters und ihrer Orientierung am Leitbild eines fairen Interessenausgleichs mutiert sie jedoch der Sache nach zum Einfallstor einer Interessentenklage. 3. Europarechtskonforme Auslegung der Klagebefugnis: Europarechtliche Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes und das Beispiel des effet utile der Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG Die Voraussetzungen und die Reichweite der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO müssen überdies europarechtskonform ausgelegt werden. Dabei ist der supranationale Anwendungsvorrang des Europarechts zu beachten. Soweit Rechtsvorschriften der Europäischen Union in nationales Recht umgesetzt sind und durch nationale Behörden vollzogen werden (sogenannter indirekter mittelbarer Vollzug des Unionsrechts),32 unterliegt dieser Vollzug zwar dem nationalen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht. Dies gilt auch für die Zulässigkeitsvoraussetzungen verwaltungsgerichtlicher Klagen, insbesondere für die Klagebefugnis i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO. Bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Verfahrensrechts sind jedoch die Anforderungen des Unionsrechts an die Effektivität des Rechtsschutzes und den effet utile, d. h. die praktische Wirksamkeit des europäischen Sekundärrechts, zu beachten. Infolgedessen darf die Frage nach den Voraussetzun28

BVerwGE 78, 40 (43) unter Bezugnahme auf BVerwG, Buchholz 406.19 Nr. 71. BVerwGE 78, 40 (43). 30 BVerwGE 78, 40 (44) unter Bezugnahme auf BVerwGE 52, 122 (129 ff.) und BVerwG, Buchholz 406.19 Nr. 71. 31 BVerwGE 78, 40 (44) unter Hervorhebung der Träger der öffentlichen Wasserversorgung. 32 Vgl. zur Systematik der Vollzugstypen Rengeling, Durchführung von Gemeinschaftsrecht, in: ders. (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 2. Aufl. 2003, Bd. I, §§ 27 bis 29. 29

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gen und der Reichweite der Klagebefugnis nicht mehr allein nach nationalem Prozessrecht entschieden werden.33 a) Europarechtliche Entwicklung der Klagebefugnis in Richtung der Interessentenklage Gerade auf dem Gebiet des Umweltrechts haben die unionsrechtlichen Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes und den effet utile des europäischen Sekundärrechts eine maßgebende Bedeutung erlangt. Dies trifft namentlich im Anwendungsbereich der EU-Umweltrichtlinien zu, deren effet utile durch die Rechtsprechung mit den Mitteln des Rechtsschutzes gestärkt worden ist. So sind mit der Frage nach der Klagbarkeit der Umweltziele des Art. 4 i. V. m. Anhang V der Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG (WRRL)34 und der inhaltsgleichen Bewirtschaftungsziele der §§ 27 ff. WHG die Effektivität des Rechtsschutzes und der effet utile der zentralen Zielvorgaben dieser Richtlinie sowie ihrer Umsetzung in das deutsche Recht auf den Prüfstand gestellt. Der EuGH hat mehrfach entschieden, dass die Betroffenen in allen Fällen, in denen die Nichtbeachtung der Maßnahmen, die in Richtlinien über die Qualität der Luft und des Trinkwassers zum Zweck des Schutzes der öffentlichen Gesundheit vorgegeben werden, die Gesundheit von Personen gefährden könnte, in der Lage sein müssen, sich auf die in diesen Richtlinien enthaltenen zwingenden Vorschriften zu berufen.35 Insoweit liegen nach der Rechtsprechung des EuGH klagbare Rechtspositionen Betroffener insbesondere vor, wenn EU-Richtlinien intentional dem Schutz der menschlichen Gesundheit, der Volksgesundheit oder dem Verbraucherschutz dienen. Eine derart intendierte Schutzrichtung ist auf der Ebene des Europarechts jedoch nicht erforderlich. Demgemäß ist die im deutschen Recht herrschende Schutznormtheorie auf der europäischen Ebene so nicht maßgebend. Vielmehr ist die Praktizierung dieser Theorie auch beim indirekten mittelbaren Vollzug von EU-Recht, insbesondere von EU-Umweltrichtlinien, korrekturbedürftig geworden. Es kommt demnach nicht entscheidend auf die individualschützende Regelungsintention des europäischen Normgebers an.36 Anerkanntermaßen ist eine europarechtliche Norm geeignet, als Grundlage klagbarer individueller Rechtspositionen zu dienen, wenn sie Angelegenheiten regelt, an denen Einzelpersonen als Partizipanten beteiligt 33 Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 42 Rn. 152 ff.; Sodan, in: Sodan/Ziekow (Fn. 18), § 42 Rn. 400; eingehend zum Ganzen Ruffert (Fn. 20), S. 71 ff., 224 ff. 34 Vom 22. 12. 2000, ABl. EG, L 327/1; zuletzt geändert durch Richtlinie 2009/31/EG, ABl. EU, L 140/114. 35 EuGH, Slg. 1991, I-2567, 2601 (Schwefeldioxid und Schwebestaub); EuGH, Slg. 1991, I-2607, 2631 (Bleigehalt der Luft); EuGH, Slg. 1991, I-4983, 5023 (Trinkwasser); EuGH, Slg. 2008, I-6223, Rn. 38 (Luftqualität, Feinstaub, Anspruch auf Erstellung eines Aktionsplans). 36 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2003, § 36 Rn. 18.

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sind.37 In diesem Sinne hat der EuGH bereits die frühere Grundwasserrichtlinie 80/ 68/EWG38 ohne einen ausdrücklichen Hinweis im Normtext aufgrund eines sachbedingten, weit verstandenen Individualbezuges dahin ausgelegt, dass die Vorschriften der Richtlinie Rechte und Pflichten des Einzelnen begründen sollen.39 Nach dem vorrangigen EU-Recht ist daher die Vorstellung überholt, nur typische Individualgüter und subjektive öffentliche Rechte i. S. des deutschen Verwaltungsrechts könnten klagbare Rechte Einzelner begründen. Vielmehr genügt nach den europarechtlichen Vorgaben bereits die im Interesse der Allgemeinheit gelegene Sicherung und Erhaltung einer Umweltressource, „die eine Angelegenheit sämtlicher Marktbürger ist und damit zwangsläufig einzelnen als Teil dieser Gesamtheit zugute kommt“.40 Für die Klagebefugnis reicht es hiernach aus, wenn eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende Norm den Schutz der Interessen Einzelner notwendig mitumfasst.41 Erforderlich, aber auch ausreichend, ist demgemäß, dass der Einzelne (d. h. eine natürliche oder juristische Person) ein „unmittelbares Interesse“ an der Einhaltung der europarechtlichen Norm hat.42 Wenn ein Gewässereigentümer oder ein Wassernutzer, Wasserversorger oder Gewässeranlieger am Gemeingut Wasser in einem Flussgebiet partizipiert, hat er ein „unmittelbares Interesse“ an der Einhaltung der Schutzanforderungen und der Umweltziele der WRRL in dem betroffenen Gewässer und in dessen Ufer-, Auen- und Überschwemmungsbereich. Folglich kann der betroffene Umwelt-Nachbar sich gegen erlittene oder drohende Nachteile wehren und die gebotene, auch ihm zugute kommende Einhaltung der verletzten Vorschriften der WRRL in der betroffenen Gewässerzone geltend machen. Die Klagbarkeit dieser individuellen Rechtspositionen ist ein notwendiges Element der praktischen Wirksamkeit (effet utile) der WRRL, insbesondere der Umweltqualitätsziele gemäß Art. 4 i.V.m. Anhang V der WRRL. Die Auslegung und Anwendung der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO darf nicht hinter dem so definierten, europarechtlich gebotenen Interessentenschutz zurückbleiben.43

37 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Fn. 36), § 36 Rn. 19; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (72); Winter, NVwZ 1999, 469 (473). 38 Vom 17. 12. 1979, ABl. EG, L 20/43. 39 EuGH, Slg. 1991, I-825, 867 (Grundwasser); zustimmend Gellermann, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann (Fn. 36), § 36 Rn. 20. 40 So Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Fn. 36), § 36 Rn. 20; Kopp/ Schenke (Fn. 33), § 42 Rn. 154. 41 EuGH, Slg. 1996, I-4845, 4883 (Dillenkofer u. a.); Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann (Fn. 36), § 36 Rn. 20; Epiney, NVwZ 1999, 485 (487); Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hrsg.), Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 160 f. 42 EuGH, Slg. 1991, I-3757, 3790 (Verholen u. a.); Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann (Fn. 36), § 36 Rn. 21; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (72); Schoch, NVwZ 1999, 457 (464). 43 So auch Kopp/Schenke (Fn. 33), § 42 Rn. 154 m. w. N.

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4. Rechtssystematisches Zwischenfazit In rechtssystematischer Hinsicht bleibt klarzustellen, dass das Verwaltungsprozessrecht nach wie vor der mitgliedstaatlichen Gesetzgebungskompetenz unterliegt. Auch die normative Regelung des Zugangs zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz obliegt somit grundsätzlich dem Gesetzesrecht der Mitgliedstaaten. Dies gilt auch für die normative Ausgestaltung des Individualrechtsschutzes. Das Europarecht fordert nicht etwa eine Popularklage vor den nationalen Gerichten. Insbesondere bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen, ob er den Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nach dem in Deutschland etablierten Modell der Verletztenklage oder nach dem französischem Modell der Interessentenklage ausgestaltet. Auch die zuvor beobachtete Konvergenz dieser gegensätzlichen Modelle findet grundsätzlich auf der Ebene des nationalen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrechts statt. Die nationalen Gesetzgeber können die materiellrechtlichen Schutznormen mithin vermehren und so den Kreis der klagbaren Individualrechte erweitern oder – mit gleicher Tendenz – die prozessuale, im deutschen Recht so bezeichnete Klage- oder Antragsbefugnis zur gerichtlichen Geltendmachung bestimmter Rechtspositionen und Rechtsverletzungen ausdehnen. Dabei kommt der Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts durch die nationalen Gerichte eine wichtige Rolle zu. Die Konvergenz zwischen den gegensätzlichen Modellen der Verletzten- und der Interessentenklage kann durch die Offenheit der rechtsvergleichenden Perspektive gefördert werden. Darüber hinaus können europarechtliche Normen, auf den Anwendungsvorrang des Europarechts gestützt, dem Einzelnen durch supranationale Vorgaben klagbare Rechte oder prozessuale Klagebefugnisse gewähren und ihm so den Individualrechtsschutz eröffnen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Normen des europäischen Sekundärrechts, vor allem um Richtlinien i. S. des Art. 288 Abs. 3 AEUV, die der Umsetzung in nationales Recht bedürfen und nur ausnahmsweise, insbesondere bei fehlender oder unzureichender Umsetzung, unmittelbare Wirkung für den einzelnen Bürger entfalten.44 Eine derartige „Subjektivierung“ des europäischen Sekundärrechts45 kann entweder durch die explizite Zuerkennung individueller Rechte oder Klagebefugnisse oder durch die implizite Gewährung solcher Rechte oder Befugnisse geschehen. Von einer impliziten Gewährung kann insbesondere dort gesprochen werden, wo europarechtliche Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes und der supranational geforderte effet utile einer europäischen Verordnung oder Richtlinie nach der Erkenntnis des EuGH klagbare Rechte oder Klagebefugnisse des Einzelnen verlangen. Hierfür steht das oben vorgestellte Beispiel der Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG,46 aber auch der Anwendungsbereich der Luftqualitäts-

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Näher dazu Ruffert (Fn. 20), S. 72 ff., 159 ff., 225 ff., 320 ff. Vgl. Ruffert (Fn. 20), S. 215, 341: „Strukturprinzip der funktionalen Subjektivierung des Gemeinschaftsrechts“. 46 Vgl. dazu oben Abschnitt II. 3. 45

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rahmenrichtlinie, der der EuGH einen Anspruch des Einzelnen auf Erstellung eines Aktionsplans entnommen hat.47 Als Zwischenfazit ist daher festzuhalten, dass der Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nicht mehr in nationaler Autarkie, sondern nur noch unter Beachtung des europarechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes sowie des effet utile und der fachspezifischen Anforderungen europäischer Verordnungen und Richtlinien bestimmt werden kann. Die Konkretisierung dieser europarechtlichen Vorgaben ist vor allem eine Aufgabe des EuGH. Daraus folgt, dass in jüngerer Zeit überall dort, wo unmittelbar oder mittelbar europäisches Recht anzuwenden ist, die Rechtsprechung des EuGH für den Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz eine wegweisende Rolle übernommen hat. All dies hat namentlich für den Umweltrechtsschutz eine maßgebliche Bedeutung erlangt. Hierin liegt ein systemimmanenter und folgenschwerer, oft unterschätzter Ansatzpunkt für die Europäisierung des nationalen Verwaltungsprozessrechts.48 Funktional betrachtet, werden die Bürger hierdurch zur Durchsetzung des europäischen Rechts aktiviert.49 5. Verbandsklage Trotz der nachgezeichneten, durch die europäische Rechtsharmonisierung angestoßenen Entwicklungstendenzen von der Verletzten- zur Interessentenklage haften dem Individualrechtsschutz im Bereich des Umweltschutzes nach wie vor signifikante Durchsetzungsschwächen an. Zu deren Kompensation und zur Verminderung des im Umweltrecht immer wieder konstatierten Vollzugsdefizits ist seit langem die Einführung der altruistischen Verbandsklage gefordert worden.50 Diese Forderung ist in Deutschland zunächst auf Einwände gestoßen, die nicht nur den Bruch mit dem deutschen System des Individualrechtsschutzes, sondern auch das demokratische und rechtsstaatliche Legitimationsproblem altruistischer Verbandsklagen widerspiegeln.51 Hieraus resultierte die kritische Frage, wie die Legitimation privater, nicht in eigenen Rechten betroffener Verbände zur Anfechtung von Entscheidungen der

47 EuGH, Slg. 2008, I-6221 (Janecek) zu der Richtlinie 96/62/EG, die zwischenzeitlich durch die Richtlinie 2008/50/EG vom 21. 5. 2008, ABl. EU, L 152/1, abgelöst worden ist; vgl. dazu Fonk, NVwZ 2009, 69 ff.; Faßbender, EuR 2009, 400 ff.; Breuer, Klagbare Ansprüche auf Planung – Königsweg oder Holzweg des Rechtsschutzes?, in: FS für Dieter Sellner, 2010, S. 493 ff. 48 Ruffert (Fn. 20), S. 71 ff., 224 ff., 291 ff.; auch Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2000, S. 27 f.; Huber, BayVBl. 2001, 577 (579). 49 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997; auch Classen (Fn. 20), S. 73 ff.; Huber, BayVBl. 2001, 577 (579). 50 So Rehbinder/Burgbacher/Knieper, Bürgerklage im Umweltrecht, 1972, S. 117 f., 133, 151 f.; Faber, Die Verbandsklage im Verwaltungsprozeß, 1972, S. 10, 47 ff., 91; Rehbinder, ZRP 1976, 157 ff. 51 So z. B. Weyreuther, Verwaltungskontrolle durch Verbände?, 1975, S. 42 ff.; Ule/Laubinger, Gutachten B zum 52. DJT, 1978, S. 96 ff.; Breuer, NJW 1978, 1558 (1561 ff.).

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demokratisch legitimierten und rechtstaatlich gebundenen Exekutive begründet werden kann. Nachdem die Verbandsklage deshalb zunächst nur in das Landesnaturschutzrecht einiger Bundesländer eingegangen war, wurde sie auf Bundesebene erstmals in § 61 BNatSchG 2002 geregelt. Die dort getroffene Regelung ist in den geltenden § 64 BNatSchG übergegangen, der die Rechtsbehelfe anerkannter Naturschutzvereinigungen normiert.52 Über den Bereich des Naturschutzrechts hinausgehend, hat der deutsche Gesetzgeber sodann aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Århus-Konvention vom 25. 6. 1998 sowie zur Umsetzung der europäischen Richtlinie 2003/35/EG vom 26. 5. 2003 mit dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vom 7. 12. 2006 Rechtsbehelfe von anerkannten inländischen oder ausländischen Vereinigungen zugelassen.53 Das Nebeneinander der Rechtsbehelfe nach § 64 BNatSchG und § 2 UmwRG ist wenig überzeugend und nur historisch zu erklären, wird aber durch § 64 Abs. 1 BNatSchG bestätigt; danach kann eine anerkannte Naturschutzvereinigung neben den Rechtsbehelfen nach § 2 UmwRG Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen bestimmte naturschutzrechtliche Entscheidungen einlegen. Nach beiden Rechtsgrundlagen kann eine anerkannte Vereinigung, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen bestimmte Verwaltungsentscheidungen einlegen, sofern näher bezeichnete gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind (so § 2 UmwRG, sinngemäß auch § 64 BNatSchG). Die ursprünglich in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG geregelte Beschränkung der „Vereinigungsklage“ auf die Geltendmachung einer Verletzung von Vorschriften, die Rechte Einzelner begründen, verstieß nach der Erkenntnis des EuGH gegen europäisches Recht, und zwar gegen die durch die Richtlinie 2003/35/EG eingefügte Norm des Art. 10 a der UVP-Richtlinie 85/337/EWG.54 Seitdem ist die in der ursprünglichen Fassung des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG geregelte Beschränkung der Verbandsklage nicht mehr anwendbar.55 Der deutsche Gesetzgeber hat auf die Rechtserkenntnis des EuGH und die dadurch entstandene Rechtslage reagiert, indem er durch das Änderungsgesetz vom 21. 1. 201356 in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG die Wörter „Rechte Einzelner begründen“ gestrichen hat. Damit ist endgültig geklärt, dass die „Vereinigungsklage“, d. h. die umweltrechtliche Verbandsklage, gemäß den völker- und eu52 Zur Entstehungsgeschichte dieser Norm Schlacke, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, § 64 Rn. 11 ff.; Heselhaus, in: Frenz/Müggenborg (Hrsg.), BNatSchG, 2011, § 64 Rn. 1 ff. 53 Vgl. hierzu Durner/Walter (Hrsg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Århus-Konvention, 2005, mit Referaten von Walter, Ziekow und Durner sowie mit Abdruck der Rechtsgrundlagen im Anhang. 54 EuGH, NVwZ 2011, 801 ff. (Trianel) mit Anm. von Schlacke, S. 804 f. 55 Näher dazu Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 58 ff. und § 2 UmwRG Rn. 2; Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. Aufl. 2012, § 6 Rn. 175 ff. 56 BGBl. 2013, I S. 95 ff.; kritisch dazu Michler, NuR 2013, 22 ff.

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roparechtlichen Vorgaben von der Geltendmachung einer Verletzung eigener subjektiver Rechte unabhängig, also von dem Erfordernis einer individuellen Klagebefugnis i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO freigestellt ist. Für die Rechtspraxis ist die Übergangsvorschrift des § 5 Abs. 2 UmwRG bedeutsam. Danach gelten Anerkennungen nach § 3 UmwRG i. d. F. vom 28. 2. 2010, nach § 59 BNatSchG i. d. F. vom 28. 2. 2010 oder aufgrund landesrechtlicher Vorschriften im Rahmen des § 60 BNatSchG i. d. F. vom 28. 2. 2010, die vor dem 28. 02. 2010 erteilt worden sind, sowie Anerkennungen des Bundes und der Länder nach § 29 BNatSchG in der bis zum 3. 4. 2002 geltenden Fassung als Anerkennungen i. S. des geltenden UmwRG fort. Auch eine Vereinigung, die über eine hierunter fallende landesnaturschutzrechtliche Anerkennung verfügt, ist daher berechtigt, einen Rechtsbehelf gemäß § 2 UmwRG einzulegen. Dabei ist sie allerdings auf die Geltendmachung der Verletzung von naturschutzrechtlichen Vorschriften beschränkt.57 Zu diesen gehören indessen alle Rechtsnormen, die zumindest auch Belangen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu dienen bestimmt sind (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG). Unter die hiernach rügefähigen Vorschriften fallen – neben den Normen des Bundes- und Landesnaturschutzrechts im engeren Sinne – auch naturschutzbezogene, fachlich spezialisierte Regelungen des deutschen und europäischen Umweltrechts. Dies gilt u. a. für Regelungen des Gewässerschutzes, insbesondere für die Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG, für die UVP-Richtlinie 85/337/EWG, die FFH-Richtlinie 92/43/EWG und die Vogelschutzrichtlinie 2009/147/EG (jeweils einschließlich der späteren Änderungsrichtlinien).58 Wenn eine nach den Vorschriften des Naturschutzrechts anerkannte „Vereinigung“ aufgrund des § 5 Abs. 2 UmwRG einen Rechtsbehelf nach § 2 UmwRG einlegt, ist ihre Rügebefugnis auch hierbei auf die Geltendmachung der Verletzung von naturschutzrechtlichen Normen beschränkt.59 Zu diesen gehören, wie erwähnt, auch die naturschutzbezogenen, fachlich spezialisierten Regelungen anderer Rechtsquellen. Im Einzelnen betrachtet, erfordert die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs nach § 2 UmwRG wie auch nach § 64 BNatSchG neben der Statthaftigkeit der gewählten Klageart (die regelmäßig in einer Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO bestehen wird) und der Rechtsbehelfsberechtigung (aufgrund einer Anerkennung nach § 3 oder § 5 Abs. 2 UmwRG) weitere formelle Voraussetzungen. Zu diesen gehören ein zulässiger Rechtsbehelfsgegenstand, die Rügebefugnis, die Betroffenheit des satzungsmäßigen Aufgabenbereichs der klagenden Vereinigung, deren Mitwirkung in einem vorangegangenen Verwaltungsverfahren (Akzessorietät des Rechtsbehelfs

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OVG Bremen, ZUR 2010, 42; VG Kassel, Beschl. v. 2.8.2012 – 4 L 81/12.KS, juris, Rn. 108; Schlacke, in: Hoppe/Beckmann (Hrsg.), UVPG, 4. Aufl. 2012, § 5 UmwRG Rn. 23. 58 Schlacke (Fn. 52), § 64 Rn. 38 f.; Heselhaus, in: Frenz/Müggenborg (Fn. 52), § 64 Rn. 26. 59 VG Kassel (Fn. 57) unter Bezugnahme auf BT-Drucks. 16/12274, S. 19.

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nach § 2 Abs. 3 UmwRG sowie nach § 64 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG) und die Einhaltung der verwaltungsprozessualen Klagefrist (nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO).60 Schon diese Zulässigkeitsvoraussetzungen zeigen, dass die Verbandsklage nach geltendem Recht kein Selbstläufer ist. Nach den bisherigen Erfahrungen ist die bisweilen befürchtete Flut von Verbandsklagen ausgeblieben.61 Das völker- und europarechtlich wie auch nach deutschem Recht vorgegebene Instrument der Verbandsklage hat vielmehr – jedenfalls in Deutschland – die Bewährungsprobe letztlich noch vor sich. Eines muss allerdings betont werden: Wenn die von Kloepfer hervorgehobene, in der Praxis durchaus virulente Bereitschaft der Verwaltung, die Grenzen des geltenden Rechts auszuschöpfen und auch zu überschreiten,62 um sich greift und die Durchsetzungsschwächen des Individualrechtsschutzes – wie der Anwalt immer wieder erleben muss – zur Ohnmacht des Bürgers führt und dieser trotz realer Betroffenheit seiner Interessen um die Zuerkennung der häufig eng verstandenen Klagebefugnis ringen muss, stellt die Verbandsklage ein beachtenswertes Instrument zur Verbesserung des Rechtsschutzes dar. Insbesondere der Umweltrechtsschutz kann hiervon profitieren. Den Rechtsbehelfen der anerkannten Verbände wächst so die Funktion eines rechtsstaatlichen Korrektivs zu. Hieraus ergibt sich eine materielle Legitimation, die der Übermacht und Selbstherrlichkeit der öffentlichen Verwaltung entgegengesetzt werden kann. 6. Schieflagen des Rechtsschutzes Eine „Schieflage im Verhältnis von Verbandsklagerecht und Individualrechtsschutz“ wird von manchen darin gesehen, dass durch die Rechtsentwicklung und insbesondere auch durch die Rechtsprechung des EuGH die Hürde für den Gerichtszugang zu Gunsten von Verbänden stark abgesenkt worden sei, für den betroffenen Einzelnen aber unverändert hoch geblieben sei.63 Auch vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG erscheine diese Schlechterstellung des Individualklägers „schwer vermittelbar“.64 Hierin liegt in der Tat ein Wertungswiderspruch. Dieser sollte indessen dadurch behoben werden, dass im deutschen System des Individualrechtsschutzes die Klagebefugnis i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO europarechtskonform ausgelegt und im Geiste der bereits eingeleiteten Konvergenz dem Modell der Interessentenklage angenähert wird. Es gilt mithin, die Durchsetzungsschwächen des Individualrechtsschutzes abzubauen. Nicht etwa sollten umgekehrt die Hürden des Verbandsklagerechts wieder angehoben werden – was ohnehin unter europarechtlichen Vorzeichen bedenklich erschiene. 60

Vgl. zum Ganzen Schlacke (Fn. 52), § 64 Rn. 25 ff.; dies., in: Gärditz (Fn. 55), § 2 UmwRG Rn. 4 ff. 61 Vgl. Schlacke (Fn. 52), § 64 Rn. 1 ff. m. w. N. 62 Vgl. oben Abschnitt I. mit Fn. 9. 63 So Leidinger, NVwZ 2011, 1345 (1347) im Anschluss an EuGH, NVwZ 2011, 801 (Trianel). 64 Leidinger, NVwZ 2011, 1345 (1347).

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Eine weitere Schieflage zeigt sich im Verhältnis zwischen dem Verbandsklagerecht und der beschränkten Klagebefugnis der Gemeinden gegenüber umweltrelevanten Vorhaben. Selbst wenn solche Vorhaben das Gebiet, die Grundstücke oder die Einrichtungen der betroffenen Gemeinde durch Immissionen oder sonstige Umwelteinwirkungen beeinträchtigen, ergibt sich daraus nach den tradierten deutschen Rechtsprinzipien der Schutznormtheorie nicht notwendigerweise eine Klagebefugnis der Gemeinde i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO.65 Im Hinblick darauf, dass die Gemeinde als Selbstverwaltungskörperschaft nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG die politische und rechtliche Organisation der örtlichen Gemeinschaft bildet und zu deren Interessenwahrnehmung berufen ist, erscheint es im staats- und verwaltungsrechtlichen Kontext sinnwidrig, wenn ihre umwelt- und raumbezogene Klageberechtigung hinter derjenigen der privaten Umweltverbände zurückbleibt. III. Kontrollmaßstäbe im Umweltrechtsschutz Wenn man aus den dargelegten Gründen für einen erweiterten Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Umweltrechtsschutz plädiert, stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Kontrollmaßstäben und der gerichtlichen Kontrolldichte. Aus rechtssystematischer wie aus rechtspraktischer Sicht sollte einleuchten, dass der rechtsuchende Bürger nicht alles haben kann, was er sich wünschen mag: weit geöffnete Tore des verwaltungsgerichtlichen Umweltrechtsschutzes, eine strikte und umfassende Kontrolle des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens und eine ebenso strikte und umfassende Kontrolle der materiellrechtlichen „Richtigkeit“ getroffener Verwaltungsentscheidungen. Wer all dies kumulieren will, läuft Gefahr, die befürchteten „Hypertrophien“ des Umweltrechtsschutzes heraufzubeschwören. Deshalb muss über eine Erweiterung des Zugangs zum verwaltungsgerichtlichen Umweltrechtsschutz im Zusammenhang mit den formell- und materiellrechtlichen Kontrollmaßstäben und der gerichtlichen Kontrolldichte entschieden werden.66 Damit wird freilich ein weites Problemfeld eröffnet, das zur Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Verwaltungsrechtsschutzes zwingt. Hierzu können an dieser Stelle nur einige Eckpunkte markiert werden, die der Gesetzgeber und die künftige Rechtsprechung im Auge behalten müssen. Im deutschen Gesetzesrecht und bei seiner Anwendung herrscht die Tendenz, dem Verwaltungsverfahren eine bloße Hilfsfunktion für die materiell „richtige“ Verwaltungsentscheidung zuzuschreiben und dementsprechend die Kontrolle des Verwaltungsverfahrens zu minimieren.67 Hierfür stehen die verwaltungsverfahrensrechtli65 Dazu schon Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 (385 f.); ders., Umweltrecht (Fn. 4), § 8 Rn. 32; ders., Umweltschutzrecht (Fn. 4), § 5 Rn. 13. 66 Dazu schon Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 (385 f.); ders., Umweltrecht (Fn. 4), § 8 Rn. 32; ders., Umweltschutzrecht (Fn. 4), § 5 Rn. 27 ff. 67 Vgl. zur „dienenden Funktion“ des Verwaltungsverfahrensrechts Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 27 Rn. 64 f.

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chen Vorschriften über die Heilung von Verfahrens- und Formfehlern sowie über die Irrelevanz von Verfahrensfehlern bei fehlender Kausalität, nämlich „wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat“ (§§ 45, 46 VwVfG). In die gleiche Richtung weisen die weitreichenden Planerhaltungsvorschriften im Bauplanungsrecht (§§ 214 ff. BauGB) und die restriktive, die Relevanz verfahrensrechtlicher Fehler weithin verneinende Rechtsprechung zum Fachplanungsrecht.68 Diese Distanziertheit gegenüber dem Verfahrensrecht verdient Kritik. Gerade wenn, wie sogleich zu zeigen ist, den Gerichten eine materiellrechtliche Kontrolle nur in beschränktem Maße möglich ist, kommt der verfahrensrechtlichen Korrektheit eine gesteigerte Bedeutung zu. Verfahrensfehlerhafte Verwaltungsentscheidungen leiden insbesondere im komplexen Umweltrecht regelmäßig an einem Mangel, der das Vertrauen des Bürgers in den unbeeinflussten Entscheidungsvorgang und die Alternativlosigkeit des Entscheidungsergebnisses erschüttern. Wenn man demgemäß neben dem erweiterten Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Umweltrechtsschutz auch eine verschärfte Verfahrenskontrolle befürwortet, drängt sich umso mehr die Frage auf, ob die materiellrechtliche „Richtigkeit“ getroffener Verwaltungsentscheidungen wirklich stets und in vollem Umfang justitiabel ist. Hierfür scheint auf den ersten Blick das juristische Dogma der grundsätzlichen Justitiabilität unbestimmter Rechtsbegriffe sowie der hiermit verbundenen, gerade im Umweltrecht vorherrschenden Verneinung administrativer Beurteilungsspielräume69 zu sprechen. Hiervon abweichend, sah allerdings der Entwurf der Unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch de lege ferenda unter der Überschrift „Überprüfungen von Prognosen und Bewertungen“ eine deutlich verminderte Kontrolldichte vor. So lautete § 43 UGB-KomE:70 „Bei der Anwendung der umweltrechtlichen Vorschriften sind behördliche Prognosen und Bewertungen, die technischen oder naturwissenschaftlichen Sachverstand voraussetzen, im gerichtlichen Verfahren nur darauf zu überprüfen, ob 1. das für die Prognose oder Bewertung vorgeschriebene Verfahren eingehalten worden ist und 2. die behördliche Prognose oder Bewertung nachvollziehbar ist, insbesondere ob die Sachverhaltsermittlung und -feststellung zutreffend und vollständig ist, ob die einschlägigen technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in Betracht gezogen worden sind und die Bewertungsmaßstäbe der Sache angemessen sind.“

Mit dieser Entwurfsbestimmung war die Frage nach einer Tendenzwende des Rechtsschutzes auf dem Gebiet des Umweltschutzes gestellt. Unabhängig davon, dass der Kommissionsentwurf später gescheitert ist, bleibt jedoch daran zu erinnern, dass § 43 UGB-KomE über das an sich begrüßenswerte Ziel, das unbewältigte Problem der Justitiabilität komplexer umweltrechtlicher Verwaltungsentscheidungen 68

Vgl. dazu die Kritik bei Steinberg/Wickel/Müller (Fn. 55), § 6 Rn. 18 ff. Vgl. dazu Breuer, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1998, UTR 45, 1998, S. 161 (168 ff.). 70 BMU (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, S. 124 f., 525 ff. (Begründung). 69

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durch materielle Kontrollkriterien einzugrenzen und handhabbar zu machen, sachlich hinausgeschossen ist.71 Die seinerzeitige Entwurfsbestimmung hat es versäumt, die Beschränkung der gerichtlichen Prognose- und Bewertungskontrolle von organisations- und verfahrensrechtlichen Kautelen zur formalisierten und verlässlichen Einbindung des naturwissenschaftlichen und technischen Sachverstandes abhängig zu machen.72 Hierzu sind in der seinerzeitigen Diskussion denkbare und praktikable Wege aufgezeigt worden.73 Auch aus heutiger Sicht bleibt zu betonen, dass das Anliegen einer sach- und funktionsgerechten Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle bei komplexen Sachverhalten sowie im Grenzbereich der ökologischen und technologischen Erkenntnisse unabweisbar ist.74 Zu dahingehenden Restriktionen der gerichtlichen Kontrolle besteht umso mehr Anlass, als das europäische Umweltrecht in zunehmendem Maße eine finale Struktur aufweist, die sich von der konditionalen Struktur des tradierten deutschen Verwaltungsrechts unterscheidet.75 Dies ist im Bereich des Anlagenzulassungsrechts für die frühere IVU-Richtlinie 96/61/EG und die neue Industrieemissionen-Richtlinie 2010/75/EU sowie in den Bereichen der Luftreinhaltung und des Gewässerschutzes nachgewiesen.76 In diesem Sinne gilt es, die Kontrollmaßstäbe und die materielle Kontrolldichte des Umweltrechtsschutzes zu konkretisieren und nachzujustieren. Dabei sollten möglichst europaeinheitliche Lösungen angestrebt werden. IV. Vorläufiger Rechtsschutz Zutreffend ist die Feststellung, dass der Umweltrechtsschutz sich zunehmend in die Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 und § 123 VwGO verlagert hat, so dass der vorläufige Rechtsschutz häufig gegenüber den langwierigen Verfahren der Hauptsache dominierend geworden ist.77 Dieser faktische Funktionswandel des vorläufigen Rechtsschutzes hat dazu geführt, dass die Verwaltung Anlagengenehmigungen und andere umweltrechtliche Gestattungsakte angesichts der unkalkulierbaren Dauer der Hauptsacheverfahren regelmäßig für sofort vollziehbar erklärt und Drittbetroffene hierauf mit einem Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO reagieren.78 71

Vgl. zur Kritik Breuer (Fn. 69), S. 185 ff. Breuer (Fn. 69), S. 196 ff., 211 f. 73 Vgl. Breuer (Fn. 69), S. 172 ff., 200 ff.; auch Wahl, NVwZ 1991, 409 ff.; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 130 ff., 452 f., 457, 460 ff. 74 Breuer (Fn. 69), S. 212. 75 Näher dazu Breuer, AöR 127 (2002), 523 ff. 76 Vgl. Breuer, AöR 127 (2002), 523 (556 ff.); ders., in: Aktuelle Probleme des Umweltund Technikrechts, UTR 109, 2011, S. 9 (32 ff.); zur Luftreinhaltung oben in und bei Fn. 47; zum Gewässerschutz Breuer, ZfW 2005, 1 ff. 77 Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 4), § 8 Rn. 76 ff.; ders., Umweltschutzrecht (Fn. 4), § 5 Rn. 24 f. 78 Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 4), § 8 Rn. 76: „Spiralbewegung“. 72

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Infolge dieser Entwicklung drohen der Effektivität des Umweltrechtsschutzes empfindliche Einbußen. Frustrationen rechtsuchender Bürger werden gesteigert, wenn die Verwaltungsgerichte ihrer Neigung folgen, in Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren, sondern auf eine Interessenabwägung abzustellen79 und dabei – unter Offenlassung der materiellrechtlichen Beurteilung – den wirtschaftlichen Interessen des Vorhabenträgers eine überwiegende Bedeutung zuerkennen. V. Fazit Der Umweltrechtsschutz wird auch in Zukunft ein schwieriges Feld bleiben. In seinem Erscheinungsbild werden auch künftig Durchsetzungsschwächen des Individualrechtsschutzes und Frustrationen Drittbetroffener zu den prägenden Merkmalen gehören. Umso mehr besteht Anlass, die quälende Engführung der Klagebefugnis i. S. des deutschen Prozessrechts (§ 42 Abs. 2 VwGO) aufzugeben und den Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Umweltrechtsschutz europarechtskonform sowie im Einklang mit dem Recht anderer europäischer Staaten in Richtung der Interessentenklage zu erweitern. Dadurch würde eine wünschenswerte Konzentration auf die materiellen Umweltrechtskonflikte gefördert. Dem frustrierenden Bild behördlichen und gerichtlichen Abwiegelns könnte so entgegengewirkt werden. Ähnliches gilt für die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungsverfahrens; die insoweit restriktive, verfahrensrechtliche Fehler weithin negierende Haltung des deutschen Gesetzesrechts und der einschlägigen Rechtsprechung sollte korrigiert werden. Langfristig ist im nationalen wie im europäischen Recht die Aufgabe gestellt, die materiellen Kontrollmaßstäbe und die gerichtliche Kontrolldichte im Umweltrechtsschutz neu zu justieren. Wenn dies gelingt, kann auch der problematische Druck zur Streitverlagerung in die Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sowie zu unbefriedigenden gerichtlichen Interessenabwägungen vermindert werden.

79 Zum Prüfungsmaßstab im Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO statt vieler: Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 80 Rn. 369 ff.; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 80 Rn. 137 ff.; Windthorst, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, § 80 Rn. 215 ff.; jeweils m. w. N.

Zur grundrechtlichen Übermacht von Umweltbelastern Von David Bruch I. Problemstellung Private Akteure können auf die Lebensgestaltung anderer Bürger einen erheblichen Einfluss haben und in nicht unbedeutendem Maße Freiheitsbeeinträchtigungen anderer Bürger verursachen. Dies gilt nicht nur für Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, (Sport-)Verbände, Banken, Hedgefonds, große Wirtschaftsunternehmen, die als Arbeitgeber etwa für das Wohl einer Vielzahl von Menschen mitverantwortlich sind, sowie für alte und neue Medien, welche die öffentliche Meinung beeinflussen und deren Tätigkeit stets im Konflikt zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht geraten kann, sondern auch für Betreiber von umweltbelastenden Anlagen. Unter der Prämisse betrachtet, dass die Umwelt als natürliche Lebensgrundlage Freiheitsausübungsvoraussetzung ist, bewirken solche Umweltbelaster nicht unerhebliche Freiheitsreduzierungen. Der Schutz vor Freiheitsreduzierungen soll im Allgemeinen – entsprechend der ureigenen Zwecksetzung von Grund- bzw. Menschenrechten – im deutschen Rechtsstaat insbesondere durch die Grundrechte des Grundgesetzes erfolgen. Zwei Aspekte führen jedoch dazu, dass im mehrpoligen Verhältnis von Umweltbelaster, Staat und Bürger, der von der Umweltbelastung betroffen ist, im Hinblick auf die Freiheitssicherung ein Ungleichgewicht zugunsten der Umweltbelaster besteht. Dieses wird vom Jubilar auch als „Grundrechtsübermacht“1, von anderen Autoren als „Asymmetrie des grundrechtlichen Status“2 bezeichnet. Der erste Grund für die Grundrechtsübermacht von Umweltbelastern resultiert aus der herrschenden Grundrechtsdogmatik. Ein Umweltbelaster kann sich nach h. M. gegenüber seine unternehmerische Freiheit beschränkenden Maßnahmen (vor allem staatlicher Umweltschutz) stets auf Grundrechte (namentlich Art. 12 Abs. 1, 14 GG) berufen.3 Ein Bürger, dessen Freiheit von Umweltbelastern beein1

s. Kloepfer, in: FS Kühne, 2013 (i. E.). Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 89 ff.; daran anknüpfend: Bruch, Umweltpflichtigkeit der grundrechtlichen Schutzbereiche, 2012, S. 22 ff. 3 Vgl. Blasberg, Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Grundeigentums zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, 2008, S. 62 ff., 92; Couzinet, Die Zulässigkeit von Immissionen im anlagenbezogenen Immissionsschutzrecht, 2007, S. 62 ff.; Brattig, Handel mit Treibhausgas-Emissionszertifikaten in der EG, 2004, S. 147 f.; Mehrbrey, Verfassungsrecht2

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trächtigt wird (z. B. Kraftwerksanrainer, Flussanrainer, landwirtschaftlich Tätige in der Nähe von industriellen Produktionsstätten), hat hingegen gegen diese Freiheitsbeeinträchtigungen nur bedingt eine grundrechtliche Handhabe. Dies folgt zum einen daraus, dass eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte mit Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG regelmäßig abgelehnt wird.4 Zum anderen hilft dem Bürger, welcher von einer Umweltbelastung betroffen ist, auch der Verweis auf die Schutzpflichtendimension5 nicht, weil diese ausschließlich gegen den Staat gerichtet ist und nach h. M. überhaupt nur dann verletzt ist, wenn der Staat gar keine oder lediglich Maßnahmen getroffen hat, die zu Erreichung des Schutzziels völlig unzulänglich oder gänzlich ungeeignet sind.6 Der zweite Grund für die Grundrechtsübermacht ist ein tatsächlicher: Im Verhältnis Umweltbelaster-Belasteter wird das Ungleichgewicht dadurch verstärkt, dass die Verursacher von Umweltbelastungen regelmäßig „marktstarke“ Akteure sind7 – jedenfalls bei größeren Umweltbelastern handelt es sich nämlich um große Unternehmen (z. B. Energieversorgungsunternehmen, Chemie-, Pharma- und Schwerindustrieunternehmen, Abfallverwertungs- und Abfallbeseitigungsunternehmen) –, während die von den Umweltbelastungen betroffenen Bürger häufig keine vergleichbare (wirtschaftliche, aber auch politische) Durchsetzungsmacht haben und deshalb als „marktschwache“ Akteure bezeichnet werden können. Insgesamt besteht im Verhältnis der Umweltbelaster zu Bürgern, die von den Umweltbelastern beeinträchtigt werden, also ein nicht unerhebliches Ungleichgewicht was den Schutz durch die Grundrechte anbelangt. Umweltbelaster haben mithin eine Grundrechtsübermacht. Mehrere Lösungswege erscheinen erfolgversprechend um die Grundrechtsübermacht von Umweltbelastern zu brechen. Bei diesen kann einerseits zwischen Ansätzen unterschieden werden, durch die der grundrechtliche Schutz von Umweltbelastern „reduziert“ wird (s. u. II.), und solchen Ansätzen, welche die grundrechtliche Position der Belasteten stärken (s. u. III.). liche Grenzen eines Marktes handelbarer Emissionsrechte, 2003, S. 47 ff.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 543 ff.; Haddenhorst, Die allgemeine Umweltnutzungsfreiheit, 2001, S. 66 ff., 141 ff.; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 344 ff.; Lühle, Beschränkungen und Verbote des Kraftfahrzeugverkehrs zur Verminderung der Luftbelastung, 1998, S. 49 ff.; Dirninger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, 1991, S. 89 ff. 4 Vgl. nur Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 51 Rn. 42 ff. m.w.N.; Höfling, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 111 m.w.N.; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 1509 ff. Wegen Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG gilt bekanntlich eine Ausnahme für die Koalitionsfreiheit. 5 s. dazu etwa folgende Fälle mit Umweltbezug: BVerfGE 49, 89 (141 f.) – Kalkar; BVerfGE 53, 30 (57) – Mülheim-Kärlich; BVerfGE 56, 54 (73 ff.) – Fluglärm; BVerfG, NJW 1983, 2931 (2932) – Waldschäden; BVerfG-K, NJW 2002, 1638 (1639) – Mobilfunk-Elektrosmog. 6 Vgl. etwa BVerfGE 56, 54 (81); 77, 381 (405); 79, 174 (202); BVerfG-K, NJW 2002, 1638 (1639); s. a. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 48 Rn. 69; Sachs, in: ders., GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 1 Rn. 36. 7 Zu der Unterscheidung von „marktschwachen“ und „marktstarken“ Akteuren s. Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (228 ff.).

Zur grundrechtlichen Übermacht von Umweltbelastern

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II. Reduktion des grundrechtlichen Schutzes von Umweltbelastern Der Ausgleich des Ungleichgewichts durch Reduzierung des grundrechtlichen Schutzes der Umweltbelaster ist insoweit möglich, als bei der Prüfung der abwehrrechtlichen Dimension – also quasi auf Seiten des Umweltbelasters – der Aspekt des Umweltschutzes stärker berücksichtigt wird. Dies kann prinzipiell auf der Ebene der grundrechtlichen Schutzbereiche sowie bei der Eingriffsrechtfertigung geschehen. So lassen sich die grundrechtlichen Schutzbereiche in einem gewissen Maße zu Ungunsten der Umweltbelaster reduzieren (s. u. 1.) und auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung folgt aus dem Teilhabegedanke eine Verbesserung des Umweltschutzes (s. u. 2.). Ob auch die Betonung des Umweltschutzgedankens im Rahmen einer „mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung“ Verbesserungen bringen kann, ist jedoch fraglich (s. u. 3.). 1. Begrenzung der Schutzbereiche der Grundrechte der Umweltbelaster Ob die grundrechtlichen Schutzbereiche auch umweltbelastende Tätigkeiten schützen, ist im Schrifttum schon häufig thematisiert worden.8 Während die h. M. diese Frage bejaht,9 schließen andere Autoren umweltbelastende Tätigkeiten generell aus den Schutzbereichen der Grundrechte aus.10 Auch wurden vermittelnde Ansichten vertreten, wonach jedenfalls „schwere bzw. gemeingefährliche Umweltbelastungen“11 oder „evident umweltschädliche Verhaltensweisen“12 aus den grundrechtlichen Schutzbereichen auszuschließen seien. In der Rechtsprechung sind die Schutzbereiche der Grundrechte von Umweltbelastern bisher stets als eröffnet angesehen worden.13

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s. dazu etwa Calliess (Fn. 3), S. 543 ff.; Haddenhorst (Fn. 3), S. 66 ff.; 141 ff.; Blasberg (Fn. 3), S. 62 ff., 92; Bruch (Fn. 2), S. 76 ff. 9 Vgl. Blasberg (Fn. 3), S. 62 ff., 92; Couzinet (Fn. 3), S. 62 ff.; Brattig (Fn. 3), S. 147 f.; Mehrbrey (Fn. 3), S. 47 ff.; Calliess (Fn. 3), S. 543 ff.; Haddenhorst (Fn. 3), S. 66 ff., 141 ff.; Voßkuhle (Fn. 3), S. 344 ff.; Lühle (Fn. 3), S. 49 ff.; Dirninger (Fn. 3), S. 89 ff. 10 s. insbesondere Lorenz, in: FS Lerche, 1993, S. 267 (275 ff.); Schmidt, in: FS Zacher, 1998, S. 947 (961 ff.); Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473 (498). 11 Kloepfer, in: FS Lerche, 1993, S. 755 (759 f.); ders., Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 59. 12 Schmidt (Fn. 10), S. 956. 13 s. z. B. BVerwGE 124, 47 (58 ff.); vgl. BVerfGE 102, 1 (14 ff.). Dies auch gilt auch für die Nassauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts; vgl. BVerfGE 58, 300 (330 ff.). Darin legt das Gericht zwar dar, dass das Grundwasser nicht zum Eigentum eines Grundstückeigentümers gehört. Die umweltverschmutzende Nutzung des Eigentums am Grundstück wird gleichwohl als von Art. 14 GG geschützt angesehen; s. dazu vertiefend Bruch (Fn. 2), S. 239 ff.

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Die h. M. überzeugt indessen m. E. nicht.14 Auch wenn die h. M. letztlich kein schrankenloses „Grundrecht auf Umweltverschmutzung“ propagiert – umweltschützende staatliche Maßnahmen sind nach h. M. schließlich als Eingriffe in die grundrechtlichen Schutzbereiche (vor allem von Art. 12, 14 GG und ggf. von Art. 2 Abs. 1 GG) aus Gründen des Umweltschutzes (Art. 20a GG), des Gesundheitsschutzes (staatliche Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und des Eigentumsschutzes (staatliche Schutzpflicht für das Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG) verfassungsrechtlich regelmäßig gerechtfertigt –15, sprechen gleichwohl die besseren Gründe für ein restriktiveres Verständnis der grundrechtlichen Schutzbereiche. Gegen ein schrankenloses Schutzbereichsverständnis spricht nicht nur, dass es unredlich erscheint, einerseits ein weites Schutzbereichsverständnis zu fordern, in der Mehrzahl der Fälle dann jedoch andererseits den effektiven grundrechtlichen Schutz zu versagen, weil der Schutzbereichseingriff häufig gerechtfertigt ist,16 sondern auch, dass das weite Schutzbereichsverständnis in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zu einer maßstabslosen Abwägungskonstellation führt.17 Die h. M. bezweckt durch das weite Schutzbereichsverständnis die Schaffung einer Kollisionslage, in der sich die grundrechtlich geschützte Freiheit einerseits und die der Freiheitsausübung entgegengesetzten Schutzgüter (Umweltschutz, Grundrechte der von der Umweltbelastung betroffenen Bürgern) gegenüber stehen und die durch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen aufgelöst werden soll.18 Diese Abwägung läuft dabei jedoch u. a. Gefahr, von wertenden Vorfestlegungen der Grundrechtsanwender erheblich beeinflusst zu sein19 und das Gewaltenteilungsprinzip zu verletzen, weil das die Grundrechte anwendende Gericht letztlich eine abwägende – eigentlich nur dem Gesetzgeber zustehende – Zweckmäßigkeitsentscheidung trifft.20 Vor allem aber ist die durch das weite Schutzbereichsverständnis geschaffene Abwägungssituation vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit zu kritisieren, weil sie keine besonders struk-

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Vgl. Bruch (Fn. 2), S. 101 ff. s. nur Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 61; vgl. auch Calliess (Fn. 3), S. 551. 16 Isensee, in: ders./Kirchhof, HbStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 174; vgl. auch Stemmler, Das „Neminem-laedere-Gebot“, 2005, S. 89 m.w.N. 17 Bruch (Fn. 2), S. 83 ff. m.w.N. 18 Kloepfer, in: FG 25 Jahre BVerfG, 1976, S. 405 (407); Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 260, 289; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 173 ff.; Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 88 f.; Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, 2000, S. 182. 19 van Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, 1981, S. 116. 20 Vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 64 ff. m.w.N.; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (190, 191); Hochhuth, JZ 2002, 743 (747 f., 752); Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, 2001, S. 445 (461 f.); Leisner, NJW 1997, 636 (638); Starck, JuS 1981, 237 (246); vgl. auch Alexy (Fn. 18), S. 298 f. 15

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turierte und rationale Grundrechtsprüfung ermöglicht.21 Soweit es die individualrechtsschützende Funktion der Grundrechte zulässt, ist deshalb das weite Schutzbereichsverständnis zu Lasten einer Engerfassung der grundrechtlichen Schutzbereiche zurückzudrängen. Ein engeres – bestimmte Umweltbelastungen aus den grundrechtlichen Schutzbereichen ausschließendes – Verständnis vermag die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte stärker zu berücksichtigen22 und die Rolle der Gerichte wieder stärker auf ihre Rechtssprechungsfunktion zu reduzieren.23 Dabei darf ein enges Schutzbereichsverständnis allerdings auch nicht über das Ziel hinausschießen. Aus der – aus historischen Gründen besonders zu achtenden – individualrechtsschützenden Funktion der Grundrechte folgt m. E., dass ein enges Schutzbereichsverständnis lediglich bei den Spezialfreiheitsrechte Anwendung finden darf24 und darüber hinaus eindeutige Kriterien aufzeigen muss, unter welchen Voraussetzungen die Eröffnung der Schutzbereiche von Art. 12 Abs. 1 GG und/oder von Art. 14 GG abgelehnt werden muss.25 In Anlehnung an die Ansicht des Jubilars, dass schwere und gemeingefährliche Umweltbelastungen grundrechtlich nicht geschützt sind, ist daher „nur“ anzunehmen, dass sich jedenfalls die Verursacher von unmittelbar gesundheitsschädlichen oder gar für den Menschen tödlich wirkenden Umweltbelastungen nicht auf Art. 12 Abs. 1 GG und/oder Art. 14 GG berufen können.26 Verursachen also im Einzelfall Kraftwerke, industrielle Produktionsstätten oder auch Abfallbeseitigungsanlagen Umweltbelastungen, durch die ein gesundes menschliches Leben in unmittelbarer Nähe zu diesen Betrieben vereitelt wird, so ist es den Betreibern solcher Anlagen versagt, sich auf Art. 12 Abs. 1 GG und/oder Art. 14 GG zu berufen. Ein solches Verständnis lässt sich auch mit dem Gedanken begründen, dass Spezialfreiheitsrechte nicht zu einem Verhalten berechtigen können, durch das eine wesentliche Grundrechtsausübungsvoraussetzung – nämlich die natürlichen Lebensgrundlagen (insbesondere Wasser, Luft und Boden)27 – vernichtet wird.28 Unter derselben Prä21

So z. B. auch Ossenbühl, VVDStRl 39 (1981), 189; Schlink, EuGRZ 1984, 457 (462); Isensee (Fn. 16), § 111 Rn. 175; Hoffmann-Riem (Fn. 7), 229; Volkmann, JZ 2005, 261 (266 f., 270); Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473 (478); Stemmler (Fn. 16), S. 95. 22 Bruch (Fn. 2), S. 102 f. m.w.N., 112 ff. 23 Vgl. insbesondere Rusteberg (Fn. 20), S. 64 ff. m.w.N. 24 Dem tritt insbesondere Kahl mit der Behauptung entgegen, dass es wenig konsequent sei, bestimmte Begebenheiten bei einer engen Tatbestandstheorie aus den Schutzbereichen der speziellen Grundrechte auszuschließen, nur um sie wieder über Art. 2 Abs. 1 GG „einzufangen“; vgl. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (188); s. dazu auch Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, 2011, S. 232. Zu diesem Einwand s. Bruch (Fn. 2), S. 93 ff. 25 Bruch (Fn. 2), S. 83 ff.; vgl. auch Volkmann (Fn. 21), 270; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473 (478). 26 Bruch (Fn. 2), S. 210 ff. 27 Dieser Gedanke findet sich etwa bei Murswiek, JZ 1988, 985 (985, 992 f.); Bosselmann, Ökologische Grundrechte, 1998, S. 37 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 54.

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misse lässt sich zudem rechtfertigen, dass fremde grundrechtlich geschützte Güter gegen den Willen des Berechtigten in Anspruch nehmende Handlungen (z. B. Abladen von Müll auf einem fremden Grundstück) von Art. 12 Abs. 1 GG und/oder Art. 14 GG nicht geschützt sein können. Eine derartige Instrumentalisierung fremden Eigentums untergräbt schließlich das Gewaltmonopol des Staates als Grundrechtsausübungsvoraussetzung.29 2. Verständnis der Grundrechte als Teilhaberechte Die Nutzung von Umweltgütern (Luft, Boden, Wasser) wird von Murswiek als Teilhabe an der Umwelt qualifiziert.30 Ein Recht zur Teilhabe an der Umwelt würden, so Murswiek, die Grundrechte indessen nicht gewährleisten, da ein solches Recht mit der faktischen Knappheit der Umweltgüter sowie der Bedeutung der Güter für das Allgemeinwohl nicht vereinbar sei. Gegen Beschränkungen der faktischen Teilhabe an Umweltgütern, insbesondere durch das Umweltrecht, böten die Grundrechte dementsprechend grundsätzlich keinen Schutz.31 Vor allem für die umweltbelastende Produktion von Waren oder Energie und die Abfallentsorgungsindustrie bestünden dementsprechend keine Rechte auf Teilhabe an der Umwelt.32 Grundrechtliche Umweltnutzungsbefugnisse bestünden ausnahmsweise nur dann, wenn sie „bei Erlaß des Grundgesetzes so selbstverständlich vorhanden waren, daß ihr Gegebensein zum einen nicht als juristisch problematisierungs- oder gar gewährleistungsbedürftig erschien und“, wenn sie „zweitens selbstverständliche und notwendige Voraussetzung für die Ausübung im Grundgesetz gewährleisteter Freiheitsrechte oder für die unversehrte Existenz von im Grundgesetz gewährleisteten Rechtsgütern“ seien.33 Zu diesen verfassungsrechtlich garantierten Teilhaberechten gehörten etwa das aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG folgende Recht auf Nutzung der Luft als Atemluft und das Recht auf die Verursachung von unvermeidbaren Emissionen bei der Heizung von Wohnräumen. Die Teilhabetheorie von Murswiek stellt keine Theorie zur Engerfassung der grundrechtlichen Schutzbereiche dar.34 Das Nichtbestehen eines Teilhaberechts zur Umweltnutzung (z. B. des gewerblichen Anlagenbetreibers) führt nach der Sichtweise von Murswiek nämlich nicht zur Nichteröffnung des Schutzbereichs eines 28

Bruch (Fn. 2), S. 210 ff. Bruch (Fn. 2), S. 225 ff.; zum Gewaltmonopol des Staates als Grundrechtsausübungsvoraussetzung s. Isensee (Fn. 16), § 111 Rn. 176; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473 (495). 30 Murswiek, JZ 1988, 985 (992 f.); ders., DVBl. 1994, 79 (81); ders., in: Isensee/Kirchhof, HbStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 112 Rn. 83. 31 Murswiek, JZ 1988, 985 (992); ders., in: Isensee/Kirchhof, HbStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 112 Rn. 83. 32 Murswiek, DVBl. 1994, 79 (81 f.). 33 Murswiek, DVBl. 1994, 79 (82). 34 Bruch (Fn. 2), S. 109; a. A. Schmidt (Fn. 10), S. 954; s. a. Calliess (Fn. 3), S. 544. 29

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Grundrechts in seiner abwehrrechtlichen Funktion.35 Das Nichtbestehen eines Teilhaberechts ist nach der Teilhaberechtstheorie indessen nicht funktionslos, sondern wird für die Abwehrrechte des Umweltbelasters bei der Eingriffsrechtfertigung virulent. Laut Murswiek sei die Versagung der Teilhabe an der Umwelt bspw. durch das Umweltrecht – entsprechend des Nichtbestehens eines Teilhaberechts des Umweltbelasters – grundsätzlich ein gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich (oder die Schutzbereiche) eines Grundrechts (oder der Grundrechte) des Umweltbelasters. Diene eine Regelung der Ressourcenbewirtschaftung, dann sei dies – verbunden mit der Erkenntnis der Knappheit des bewirtschafteten Gutes – im Prinzip eine ausreichende Rechtfertigung. Nur wenn ein verfassungsrechtliches Teilhaberecht bestehe (etwa Recht auf Atemluft aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), könne sich eine umweltschützende staatliche Maßnahme als verfassungswidriger Eingriff in die grundrechtlichen Abwehrrechte des Umweltbelasters darstellen.36 Für die Teilhabetheorie spricht angesichts der individualrechtsschützenden Funktion der Grundrechte, dass sie rechtssichere Festlegungen trifft, unter welchen Voraussetzungen staatliche umweltschützende Maßnahmen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind. Problematisch ist allerdings zum Einen, dass die Grundrechte dem Umweltschutz bei strikter Anwendung der Teilhabetheorie – dies gilt gerade im Hinblick auf die wirtschaftlichen Grundrechte – nahezu keine Grenzen mehr setzen könnten. Außer bei besonders schwerwiegenden Eingriffen zum Schutz der Umwelt (z. B. Beschränkung des Rechts auf Atemluft) würden die Grundrechte für Umweltbelaster letztlich funktionslos. Zum Anderen ist zweifelhaft, ob die Prämisse von Murswiek im Hinblick auf die historische Entwicklung der Berufs- und der Eigentumsfreiheit richtig ist, dass insbesondere die Möglichkeit der Umweltnutzung durch Fabriken bei Erlass des Grundgesetzes nicht selbstverständliche Voraussetzung der Freiheitsausübung war. Gerade mit Blick auf das geringe Umweltbewusstsein in der Mitte des 20. Jahrhunderts37 erscheint es vielmehr so, dass die Inanspruchnahme der Umwelt durch industrielle Produktionsstätten als elementarer Aspekt der Ausübung der Berufs- und der Eigentumsfreiheit angesehen wurde. Angesichts dessen kann die Teilhabetheorie m. E. allenfalls dazu verwendet werden, eine Art widerlegliche Vermutung in die Abwägung auf der Ebene der Prüfung der Eingriffsrechtfertigung einzuführen. Wenn umweltschützende Maßnahmen wirtschaftliche Freiheit beschränken, dann wäre es wegen Art. 20a GG und aufgrund des Umstands, dass die Umwelt Grundrechtsausübungsvoraussetzung ist, denkbar, regelmäßig eine Eingriffsrechtfertigung anzunehmen. Aufgrund der individualrechtsschützenden Funktion der Grundrechte müsste diese Vermutung aber mit Hilfe eines besonderen Begründungsaufwandes widerlegt werden können. Aus der Teilhabetheorie lässt sich also der Gedanke herleiten: „Im Zweifel für die Umwelt“. 35

s. dazu Murswiek, DVBl. 1994, 79 (83). Murswiek, DVBl. 1994, 79 (83). 37 s. dazu Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsentwicklung, 1995, S. 91 (91 f., 93 ff., 97 ff.). 36

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3. Mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung Calliess schlägt vor, auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung eine mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen.38 In Anlehnung an die Vorgaben des Über- und des Untermaßverbots müsse im mehrpoligen Verhältnis von Umweltbelaster, Umwelt und betroffenem Bürger bei der Eingriffsrechtfertigung im Hinblick auf jede Rechtsposition gesondert geprüft werden, ob die konkrete staatliche umweltschützende Maßnahme geeignet und erforderlich sei; auf der dritten Stufe der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung laufen nach Ansicht von Calliess dann die drei Prüfungsstränge zusammen, es komme zu einer mehrpoligen Güterabwägung, in deren Rahmen die Wechselbezüge zwischen den Rechtspositionen des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses berücksichtigt und zum Ausgleich gebracht würden.39 Dieses Vorgehen ist letztlich der Ausdruck der mittelbaren Grundrechtsbindung Privater. Es erscheint grundsätzlich möglich, dass auch hierdurch der Aspekt des Umweltschutzes auf der Ebene des Grundgesetzes besser berücksichtigt werden kann. Calliess ist sich bewusst, dass sich letztlich auch bei dieser mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung die mit der Abwägung zusammenhängenden Probleme (s. dazu auch oben 1.) stellen.40 Insbesondere erkennt er – wie auch andere Anhänger eines weiten Verständnisses der grundrechtlichen Schutzbereiche41 – an, dass eine Abwägung zu Problemen mit dem Prinzip der Gewaltenteilung führt.42 Calliess möchte dem dadurch entgegenwirken, dass er gesetzgeberischen Prognoseentscheidungen einen gewissen Kalkulations- und Beurteilungsspielraum einräumt.43 Letztlich geht es Calliess also darum, den Vorrang der gesetzgeberischen Einschätzung vor einer richterlichen Zweckmäßigkeitsüberlegung als Prinzip und Abwägungsaspekt in die Abwägung mit einzubeziehen. Er folgt damit entsprechenden Überlegungen anderer Autoren.44 Aus mehreren Gründen ist die Idee der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung wenig geeignet, das Problem der Grundrechtsübermacht von Umweltbelastern zu lösen. Zunächst ändert die Einstellung des Vorrangs der gesetzgeberischen Einschätzung in die Abwägung wenig daran, dass es letztlich auch bei der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung wieder zu einer Abwägungskonstellation kommt, bei der Umweltschutzgesichtspunkte, die Pflicht zur Berücksichtigung der Grundrechte Dritter oder auch das Prinzip des Vorrangs der gesetzgeberischen Einschätzung 38

Calliess (Fn. 3), S. 566 ff. Calliess (Fn. 3), S. 579 f. 40 Calliess (Fn. 3), S. 583 ff. 41 Alexy (Fn. 18), S. 88 f., 120; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 208 ff. 42 Calliess (Fn. 3), S. 584 ff. 43 Calliess (Fn. 3), S. 588 f. 44 Rusteberg (Fn. 20), S. 67 unter Verweis auf Alexy (Fn. 18), S. 88 f., 120; Jestaedt (Fn. 41), S. 208 ff. 39

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„wegabgewogen“ werden können.45 Dass dies kein theoretischer Einwand ist, zeigt sich etwa im Hinblick auf die Gewährung eines Beurteilungs- und Prognosespielraums daran, dass das Bundesverfassungsgericht in einigen seiner Entscheidungen ausgeprägte Kontrollen legislativer Prognosen vornahm und diese auch durch eigene judikative Gegenprognosen ersetzt hat.46 Dabei wird die Gefahr des „Wegabwiegens“ der Umweltschutzgesichtspunkte sowie des Prinzips des Vorrangs der gesetzgeberischen Prognose verschärft durch das Fehlen einer Wesensgehaltssicherung. Eine solche Sicherung besteht mit Art. 19 Abs. 2 GG in erster Linie für die Freiheitsrechte der Umweltbelaster, daneben auch noch für die Grundrechte der von den Umweltbelastern beeinträchtigten Grundrechtsträger; eine vergleichbare unüberwindbare Grenze sieht das Grundgesetz für die Abwägungsaspekte des Umweltschutzes und des Gewaltenteilungsprinzips indessen nicht vor. Darüber hinaus ist das Abwägungsergebnis – dies gilt auch im Hinblick auf das Prinzip des Vorrangs gesetzgeberischer Prognoseentscheidungen – von subjektiven Vorfestlegungen der Richter abhängig. Die Frage, wann alle Abwägungsaspekte optimal verwirklicht sind, kann, je nach Ansicht über die Bedeutung der einzelnen Abwägungsgesichtspunkte, somit auf unterschiedliche Art und Weisen beantwortet werden.47 Die bundesverfassungsgerichtliche Abwägung beruht dementsprechend auf „Faktoren eines richterlichen Dezisionismus“.48 Abgesehen davon ist fraglich, ob das Modell der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung überhaupt eine Neuerung gegenüber einer „gewöhnlichen“ umfassenden Angemessenheitsprüfung bringt, weil auch schon bei dieser letztlich alle widerstreitenden Aspekte gegeneinander abgewogen werden. III. Stärkung der Position des Belasteten Der Ausgleich des Ungleichgewichts zwischen den grundrechtlichen Positionen kann darüber hinaus auch durch die eigenständige Stärkung der grundrechtlichen Position derjenigen Grundrechtsträger erfolgen, die von Umweltbelastern beeinträchtigt werden. Als Instrumente sind hier grundsätzlich das Zulassen einer unmittelbaren Drittwirkung (s. u. 1.),49 die Stärkung der Schutzpflichtendimension (s. u. 2.) sowie die Schaffung eines Grundrechts auf Umweltschutz (s. u. 3.) denkbar.

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Rusteberg (Fn. 20), S. 67; Bruch (Fn. 2), S. 100, 104. s. dazu BVerfGE 7, 377 (412 ff.) – Apothekenurteil; 11, 30 (45 ff.) – Kassenzulassung; 39, 1 (52 ff.) – Schwangerschaftsabbruch. 47 Vgl. auch Bruch (Fn. 2), S. 80 f. 48 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, S. 620; Bethge, in: Isensee/Kirchhof, HbStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 137 Rn. 28. 49 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 50 Rn. 43. 46

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1. Unmittelbare Drittwirkung? Die unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten wird mit Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 1 GG zu Recht abgelehnt.50 Gegen eine solche unmittelbare Drittwirkung spricht neben diesen Vorschriften nicht nur die Entstehungsgeschichte der Grundrechte – es ging bei der Einführung der Grundrechte zuvorderst um die Verhinderung eines mit der Herrschaft der Nationalsozialisten vergleichbaren totalitären Staatssystems51 –, sondern auch der Umkehrschluss aus dem Umstand, dass das Grundgesetz eine unmittelbare Drittwirkung ausdrücklich nur für die Koalitionsfreiheit vorsieht (s. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG).52 Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte zum Schutz vor Umweltbelastern lässt sich mithin nicht durch Auslegung aus dem Grundgesetz herauslesen.53 Denkbar wäre damit allenfalls eine Änderung des Verfassungstextes. Eine solche Verfassungsänderung würde jedoch das bestehende System der Grundrechte und des Grundrechtsschutzes überfordern und ist daher abzulehnen. Könnten sich die Bürger gegenüber anderen Privaten unmittelbar auf die Grundrechte berufen, so wäre die Privatautonomie und damit die Kernsubstanz des Privatrechts nicht nur beeinträchtigt, sondern sogar zerstört.54 Auch Differenzierungen zwischen Gleichheitsund den Freiheitsgrundrechten ließen sich dann grundrechtsdogmatisch nicht mehr aufrechterhalten.55 Darüber hinaus würde die Einführung einer unmittelbaren Drittwirkung zu einer Überforderung des Bundesverfassungsgerichts führen. Das Bundesverfassungsgericht würde letztlich zu einer „Superrevisionsinstanz“,56 welches sich dann nicht nur mit dem Schutz der Bürger vor dem Staat, sondern vor allem mit dem Schutz der Bürger untereinander befassen müsste. Jeder könnte dann – nach Beschreitung des Rechtswegs – gegen Jeden klagen. Dies würde das Bundesverfassungsgericht vor unlösbare Kapazitätsprobleme stellen. Die Einführung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte kann aufgrund der grundlegenden Einwände daher keine Lösung für das Problem der Grundrechtsübermacht von Umweltbelastern sein.

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Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 50 Rn. 47. s. dazu auch Bruch (Fn. 2), S. 93 ff. m. w. N. 52 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 50 Rn. 47 ff., 53. 53 A. A. z. B. Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 14 f. Unter dessen Präsidentschaft hat das Bundesarbeitsgericht eine unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten angenommen. Das Gericht ist mittlerweile davon abgerückt; vgl. BAGE 47, 363 (374 f.); 48, 122 (138). 54 So deutlich: Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 9 Rn. 38. 55 Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 50 Rn. 48. 56 s. zu dieser Problematik Röhl, JZ 1957, 105 (106). Das Bundesverfassungsgericht überprüft bei Verfassungsbeschwerden gegen zivilgerichtliche Urteile daher bekanntermaßen nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts; vgl. BVerfGE 18, 85 (92). 51

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2. Stärkung der Schutzpflichtendimension Wie erwähnt, geht die h. M. davon aus, dass die Schutzpflichtendimension der Grundrechte nur dann verletzt ist, wenn der Staat gar keine oder lediglich Maßnahmen getroffen hat, die zur Erreichung des Schutzziels völlig unzulänglich oder gänzlich ungeeignet sind.57 Zugleich führte dieser zurückgenommene Entscheidungsmaßstab dazu, dass Bürger nur selten überhaupt zum Bundesverfassungsgericht durchdringen, wenn sie eine Verletzung der Schutzpflichtendimension der Grundrechte geltend machen wollen, weil Verfassungsbeschwerden mangels Beschwerdebefugnis als unzulässig abgewiesen werden oder nicht zur Entscheidung angenommen werden. Couzinet schlägt daher vor, die Prüfung des Grundrechts in seiner Schutzpflichtendimension der Prüfung eines Abwehrrechts anzugleichen.58 Couzinet nimmt daher bei Verletzungen oder Gefährdungen von grundrechtlich geschützten Gütern durch Private an, dass stets ein „Eingriff“ in die Schutzpflichtendimension vorliegt. Dieser Eingriff könne u. U. gerechtfertigt werden, wenn sich der eingreifende Bürger z. B. auf Grundrechte wie Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 14 GG berufen könne. Wie die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte muss eine solches Verständnis der Grundrechte jedoch abgelehnt werden. Insoweit mit dieser Ansicht jede umweltbelastende Tätigkeit als privater „Eingriff“ in grundrechtlich geschützte Güter qualifiziert werden soll, deshalb die Möglichkeit einer Rechtsverletzung bejaht wird und damit die Befugnis verliehen werden soll, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, gelten dieselben Einwände, die schon gegen die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte geltend gemacht wurden (s. o. 1.). Letztlich stellt eine derartige Sichtweise nämlich die verkappte Einführung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte dar. Zwar trifft eine so verstandene Schutzpflicht nach wie vor primär den Staat. Dies würde jedoch nichts daran ändern, dass der Bürger jede ihn beeinträchtigende Umweltbelastung eines Privaten gerichtlich überprüfen lassen könnte. Dies würde ebenfalls zur Überforderung der Grundrechte und des Grundrechtsschutzsystems führen. Insbesondere stünde das Bundesverfassungsgericht vor unlösbaren Kapazitätsproblemen. 3. Grundrecht auf Umweltschutz Zuletzt wäre es noch denkbar, den grundrechtlichen Status der von Umweltbelastern beeinträchtigten Bürger durch die Schaffung eines Grundrechts auf Umwelt-

57 Vgl. etwa BVerfGE 56, 54 (81); 77, 381 (405); 79, 174 (202); BVerfG-K, NJW 2002, 1638 (1639); s. a. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 48 Rn. 69; Sachs, in: ders., GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 1 Rn. 36. 58 s. dazu Couzinet, Die Zulässigkeit von Immissionen im anlagenbezogenen Immissionsschutzrecht, 2007, S. 105 ff.

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schutz59 zu stärken. Ein solches Grundrecht kennt das Grundgesetz ausdrücklich nicht. Insbesondere folgt aus Art. 20a GG nach h. M. keine solche subjektive Rechtsposition.60 Bevor jedoch über die verfassungspolitische Sinnhaftigkeit der Schaffung eines solchen Grundrechts nachgedacht wird, ist darauf hinzuweisen, dass den Grundrechten schon jetzt Elemente eines Grundrechts auf Umweltschutz zu entnehmen sind. Leistungsaspekte eines solchen Grundrechts folgen zum Einen – wie bereits mehrfach erwähnt – schon aus den grundrechtlichen Schutzpflichten. Hiernach ist der Staat ja gerade dazu verpflichtet, sich (in gewissem Maße) schützend und fördernd vor die Grundrechte der Bürger zu stellen, die durch Umweltbelaster gefährdet oder beeinträchtigt werden. Zum Anderen folgen Leistungsaspekte aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20a GG. So ergibt sich aus diesen Bestimmungen ein Recht auf die Gewährleistung eines ökologischen Existenzminimums.61 Die Befürworter eines aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Rechts auf ein ökologisches Existenzminimum nehmen an, dass zu den Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch das ökologische Existenzminimum gehöre.62 Zu beachten ist, dass Art. 1 Abs. 1 GG aber erst beeinträchtigt sein kann, „wenn die Existenz einer für das menschliche Leben in Deutschland unentbehrlichen Lebensgrundlage gefährdet ist“63. Ein Anspruch auf Schutz – d. h. auf Leistung – liegt damit nur in „Extremsituationen der Gefährdung des ökologischen Existenzminimums“ vor.64 Ob neben diesen Sicherungen des Umweltschutzes auch noch die ausdrückliche Regelung eines echten Grundrechts auf Umweltschutz notwendig ist, ist – dies gilt selbst angesichts des Problems der Grundrechtsübermacht von Umweltbelastern – zweifelhaft. Hiergegen spricht schon, dass ein solches Grundrecht das bestehende Schutzniveau nur erhöhen könnte, wenn es als echtes Leistungsrecht ausgestaltet würde. In einem solchen Fall würden dann jedoch nicht nur die schon in Bezug auf die unmittelbare Drittwirkung erwähnten Einwände gelten (insbesondere Überlastung des Bundesverfassungsgerichts als Hüter der Grundrechte), sondern auch die sich aus dem Umstand ergebenden Probleme unberücksichtigt bleiben, dass Rechtsträger und Schutzgut eines solchen Grundrechts auseinander fallen würden. Die Um59 s. dazu grundlegend BT-Drs. 6/2710, S. 9 f.; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978; s.a. Stober, JZ 1988, 426 (430). 60 Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 12 Rn. 17. 61 Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 31 m. w. N.; Hoppe, in: FS Kriele, 1997, S. 219 (229) leitet das Recht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20a GG ab. Andere Autoren stellen auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ab; vgl. Kloepfer, DVBl. 1979, 639 ff. 62 s. zum Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums allgemein: Leisner, Existenzsicherung, 2007, S. 107 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 55 Rn. 29 ff. sowie zuletzt BVerfGE 125, 175 (225). 63 Höfling, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 31 unter Berufung auf Murswiek, NVwZ 1996, 222 (228). 64 Dreier, in: ders., GG, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Rn. 123; vgl. auch Hoppe, in (Fn. 61), S. 229.

Zur grundrechtlichen Übermacht von Umweltbelastern

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welt ist schließlich als Gemeinschaftsgut nicht in Individualrechte aufteilbar, ihre generelle Funktionsfähigkeit ist nicht individuell eingrenzbar.65 Würde ein Grundrecht auf Umweltschutz geschaffen, welches hinter einer derartigen Wirkung zurückbleibt, so wäre es demgegenüber funktionslos, da der Schutz der Umwelt und der Bürger, die durch Umweltbelaster beeinträchtigt werden, insoweit auch durch Schutzpflicht- und Leistungsaspekte der anderen Grundrechte (ggf. i. V. m. Art. 20a GG) geschützt sind. Ein Grundrecht auf Umweltschutz wäre im Übrigen auch dann funktionslos, wenn es wegen der aufgezählten Einwände lediglich als Abwehrrecht gegen staatliche Umweltverschmutzungen konzipiert werden würde.66 Für diesen Fall würden schließlich auch alle anderen Grundrechte dem Bürger Schutz gewähren. Zuletzt ist zu bedenken, dass die Idee eines Grundrechts auf Umweltschutz aus der Zeit stammt, in der die Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmung des Art. 20a GG noch nicht im Grundgesetz geregelt war. Die Idee des Grundrechts auf Umweltschutz wurde nicht als Ergänzung einer umweltschützenden Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmung erdacht, sondern eigentlich als Alternative67. Würde nun dennoch ein Grundrecht auf Umweltschutz im Grundgesetz geregelt, würden sich Probleme der Abgrenzung und des Zusammenwirkens von Art. 20a GG und eines Umweltschutzgrundrechts stellen. Die Einführung eines Grundrechts auf Umweltschutz würde das Grundgesetz letztlich umweltpolitisch überfrachten und ist daher abzulehnen.

IV. Ergebnis Im Ergebnis gilt, dass sich die Grundrechtsübermacht der Umweltbelaster vor allem durch die (gemäßigte) Engerfassung der Schutzbereiche der Spezialfreiheitsrechte sowie – auf der Ebene der Prüfung der Eingriffsrechtfertigung – durch die umfassende Berücksichtigung des Teilhabegedankens und des Umstands, dass die Umwelt Grundrechtsausübungsvoraussetzung ist, bekämpfen lässt. Letztlich kann durch das Zusammenwirken der vorzugswürdigen Lösungsansätze gelingen, was Aufgabe der Grundrechte in einer modernen Gesellschaft ist: Freiheitssicherung unter Ausgleich von Individual- und Gemeinwohlinteressen.68 Weniger sinnvoll ist dagegen der Versuch, den grundrechtlichen Status der Bürger, die von Umweltbelastern beeinträchtigt werden, durch die Bejahung der unmittelbaren Drittwirkung, die Stärkung der grundrechtlichen Schutzpflichtendimension oder die ausdrückliche Schaffung eines Grundrechts auf Umweltschutz zu verbessern. Derartige Lösungsansätze führen insbesondere zu einer Abkehr von der histo65

Kloepfer, Umweltschutzrecht, 2. Aufl. 2011, § 2 Rn. 10. s. dazu Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978, S. 6 m. w. N. 67 s. etwa Der Bundesminister des Innern/Der Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge, Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, Rn. 130 ff. 68 s. dazu Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 54 Rn. 24. 66

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rischen Bedeutung der Grundrechte sowie zur Überlastung der zum Schutz der Grundrechte berufenen Gerichte.

Soft Law und bindende Verträge im internationalen Chemikalienrecht Von Wolfgang Durner I. Michael Kloepfers Beitrag zur Systematisierung des deutschen und internationalen Gefahrstoffrechts Michael Kloepfer ist ein beneidenswert vielseitiger Vertreter des öffentlichen Rechts, dem es im Laufe seines Wissenschaftlerlebens gelungen ist, auf ganz unterschiedlichen Gebieten des Staats- und Verwaltungsrechts – so etwa in den Bereichen der Gesetzgebungslehre oder des Informationsrechts – übergreifende Arbeiten vorzulegen und vielfach neue Grundstrukturen hervortreten zu lassen. Es tut dieser Lebensleistung keinen Abbruch, wenn man feststellt, dass das Œuvre Kloepfers insgesamt wohl doch am stärksten mit der Systematisierung und Entwicklung des Umweltrechts verbunden ist. Durch eine Reihe monographischer Arbeiten, vor allem im Zusammenhang mit den bislang erfolglosen Bemühungen um eine Kodifikation des Umweltrechts, durch unzählige Tagungen zu Einzelthemen und nicht zuletzt durch sein maßstabsetzendes Lehrbuch und dessen Studienfassung hat Kloepfer die deutschen Vorstellungen – auch die des Verfassers – zu Struktur, geschichtlicher Bedingtheit, internationalem Standort und Weiterentwicklungsperspektiven des Umweltrechts geprägt wie kaum ein anderer Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Über der Bewunderung für diese Durchdringung des Umweltrechts insgesamt sollte freilich nicht in Vergessenheit geraten, dass Kloepfer auch zu einzelnen Teilbereichen des Umweltrechts Entscheidendes beigetragen hat. Zu diesen Bereichen zählte vor allem in den 80er Jahren auch das Chemikalien- und Gefahrstoffrecht. Auf diesem Gebiet hat Kloepfer neben so grundlegenden Arbeiten wie der als Band 2 der Schriften zum Umweltrecht erschienenen kommentierenden Darstellung des Chemikaliengesetzes1 von vornherein stets auch internationale Entwicklungen in den Blick genommen. Im Zentrum steht dabei – erschienen 1985 als Band 4 der Schriften zum Umweltrecht – die zusammen mit Klaus Bosselmann verfasste Studie zu Grundbegriffen des internationalen Chemikalienrechts, die den Versuch darstellte, „[…] einen praktischen Beitrag zur Harmonisierung des Umweltrechts durch Vorbereitung und Unterstützung einer unter deutscher Leitung tagenden OECD-Exper1 Kloepfer, Chemikaliengesetz, Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen, 1982; vgl. auch ders., Das Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz), NJW 1981, S. 17.

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tengruppe für ein internationales Glossarium von Schlüsselbegriffen des Umweltchemikalienrechts zu leisten“.2 Dieses Vorhaben beruhte auf der Einsicht, dass der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). „[…] ein erheblicher Teil der Verantwortung für eine Harmonisierung unter den westlichen Staaten“ übertragen worden sei und mit einem deutschen Beitrag zu diesem Prozess zugleich ein „[…] Weg zur internationalen Rechtsvereinheitlichung“ beschritten werde.3 Mit diesem Werk leisteten Kloepfer und Bosselmann in der Sache einen deutschen Beitrag zur Formulierung des durch die OECD vorgelegten Soft Law, das – wie Kloepfer später in seinem Lehrbuch beschrieb – durch seine schlichte Beachtung, durch seine Rolle als Auslegungshilfe völkerrechtlicher Verträge und „als potenzielle Vorstufe der Rechtsentstehung in politisch umstrittenen Bereichen“ eine erhebliche Steuerungskraft entfalten könne.4 Hat die OECD diese Erwartungen erfüllt? Spielt das Soft Law im Bereich der Gefahrstoffe heute tatsächlich die durch Kloepfer beschriebene Rolle und ist das Chemikalienrecht dadurch tatsächlich harmonisiert worden? Diesen Fragen widmet sich der folgende den Spuren Kloepfers nachforschende Beitrag. II. Gefahrstoffe als Gegenstand der internationalen Umweltpolitik Dabei ist zunächst festzustellen, dass Gefahrstoffe seit der Zeit des Entstehens der erwähnten Arbeiten Kloepfers in weit größerem Maße zum Gegenstand der internationalen Umweltpolitik wurden, als dies seinerzeit zu erwarten war. Verglichen mit der Abfallproblematik rückte nämlich das Schädigungspotential der Verbreitung von Gefahrstoffen verspätet in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Viele der mittlerweile reglementierten Gefahrstoffe hatten und haben eine wichtige Funktion als Wirtschaftsgut und sind daher im Welthandel global verbreitet. Erst mit nahezu einem Jahrzehnt Verspätung setzte daher die Ausarbeitung globaler internationaler Vereinbarungen zum Gefahrstoffrecht ein, die noch heute gegenüber dem Regelungsniveau des nationalen Rechts und des Unionsrechts in vielerlei Hinsicht „unvollkommen“ wirkt.5 Soft Law erfüllte in diesem Prozess eine zentrale katalytische Funktion. Den Auslöser einer weltweiten Neubewertung der Chemikalienpolitik bildete eine Reihe aufsehenerregender internationaler Giftmüllskandale in den 70er und 2

Kloepfer/Bosselmann, Zentralbegriffe des Umweltchemikalienrechts, 1985, Vorwort S. V; vgl. auch Kloepfer, Aspekte der internationalen Harmonisierung des Umweltrechts – Zur Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung im Chemikalienrecht –, UPR 1984, S. 281 ff.; vgl. zudem auch bereits Kloepfer/Knebel, Umweltchemikaliengesetz. Rechtsvergleichende Analyse von Schlüsselbegriffen, Berichte des Umweltbundesamtes 7/81. 3 Kloepfer/Bosselmann (Fn. 2), S. 3 und 13. 4 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 9 Rn. 12. 5 So die Einschätzung bei Rehbinder, Stoffrecht, in: Hansmann/Sellner (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl. 2012, § 11 Rn. 255 f.

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80er Jahren, verursacht durch problematische Exporte insbesondere von Pestiziden in die Dritte Welt,6 die als einer unter mehreren Faktoren Anlass zu einer Solidarisierung der internationalen Umweltbewegung mit der Dritten Welt gaben und damit erheblich zur ökologischen Bewusstseinsbildung beitrugen.7 Eines der aufsehenerregendsten Ereignisse dieser Art bildete namentlich die verheerende Chemiekatastrophe im indischen Bhopal am 3. Dezember 1984.8 Ein zentraler Teilaspekt dieser Problematik ist die große und weiterhin anwachsende Bandbreite der industriell erzeugten und benutzten Stoffe,9 deren Gefahrenpotential nur für einen Bruchteil der Stoffarten bekannt ist.10 Trotz ihrer Gefahrenpotentiale sind allerdings viele dieser Stoffe für die moderne Industriegesellschaft derzeit unverzichtbar oder – wie z. B. das bei allen Verbrennungsprozessen entstehende Quecksilber11 – zumindest momentan unvermeidbar. Wird jedoch die grenzüberschreitende Verbringung gefährlicher Stoffe zugelassen, so führt dies – ebenso wie der Export umweltgefährdender Abfälle und Technologien oder die Auslagerung risikoreicher Prozesse in andere Länder – zu einem zwischenstaatlichen „Transfer von Umweltrisiken“, der im Ausgangspunkt ganz ähnliche Interessenkonflikte aufwirft wie die grenzüberschreitende Umweltverschmutzung.12 Ähnlich wie in den 80er Jahren die Erarbeitung und Unterzeichnung des Basler Übereinkommens über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung13 weithin als Versuch gesehen wurde, ein „Ende 6 Vgl. Bernstorff/Stairs, POPs in Africa. Hazardous Waste Trade 1980 – 2000. A Greenpeace Inventory, 2. Aufl. 2001; Pallemaerts, Toxics and Transnational Law. International and European Regulation of Toxic Substances as Legal Symbolism, 2003, S. 421; illustrativ auch das Beispiel bei Ross, Legally Binding Prior Informed Consent, Colorado Journal of International Environmental Law and Policy 10 (1999), 499. 7 Vgl. besonders Radkau, Die Ära der Ökologie: Eine Weltgeschichte, 2011, S. 194 f. 8 Vgl. zu alledem Hofmann, Lernen aus Katastrophen. Nach den Unfällen von Harrisburg, Seveso und Sandoz, 2008; Nanda/Bailey, Nature and Scope of the Problem, in: Handl/Lutz (Hrsg.), Transferring Hazardous Technologies and Substances: The International Legal Challenge, 1989 S. 3 ff. 9 Wirth, Hazardous Substances and Activities, in: Bodansky/Brunnée/Hey (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Environmental Law, 2007, S. 394 (395) erwähnt 26 Millionen verschiedener Stoffe, von denen (so S. 399) aber nur etwa 100.000 industriell genutzt würden. Ähnliche Zahlen finden sich für den Markt der Union, vgl. Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 19 Rn. 30. 10 Näher Beyerlin/Marauhn, International Environmental Law, 2011, S. 211 f. mwN. 11 Zum Problem zuletzt Durner/Gies, Ende der Kohlenutzung kraft europäischen Wasserrechts?, 2012, S. 5, sowie vertiefend die Beiträge in: Zuber/Newman (Hrsg.), Mercury Pollution: A Transdisciplinary Treatment, 2011. 12 Grundlegend für eine einheitliche Betrachtung des Gesamtphänomens Rublack, Der grenzüberschreitende Transfer von Umweltrisiken im Völkerrecht, 1993; vgl. weiter Handl/ Lutz, The Transboundary Trade in Hazardous Technologies and Substances from a Policy Perspective, in: dies. (Fn. 8), S. 40 ff. 13 Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung vom 22. 3. 1989 (BGBl. 1994 II, 2704).

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des Giftmüllkolonialismus“ herbeizuführen,14 stand daher zunächst auch die Reglementierung der entsprechenden Gefahrstoffverbringungen in die Dritte Welt im Zentrum der internationalen Chemikalienpolitik. Ein regelungstechnisches Schlüsselelement zur Bewältigung solcher Konflikte ist das in verschiedenen Verträgen verankerte Verfahren der vorherigen Zustimmung des Importstaats (die sog. PIC-Prozedur), das verfahrensrechtliche Voraussetzungen formuliert, unter denen eine Verbringung gefährlicher Chemikalien formell zulässig ist. Dieses ursprünglich in SoftLaw-Standards von UNEP und der OECD entwickelte und empfohlene Verfahren wurde für den Bereich gefährlicher Abfälle 1989 im Basler Übereinkommen bindend verankert und bildet anschließend 1998 den konzeptionellen Ausgangspunkt des Rotterdamer Übereinkommens über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im internationalen Handel.15 Freilich setzt eine „informierte Entscheidung“ des Importstaats gerade im Gefahrstoffbereich die Existenz hinreichend aussagekräftiger Informationen über den einzelnen Stoff voraus, die tatsächlich vielfach objektiv schon gar nicht vorhanden sind. Zudem hat sich über Jahrzehnte immer wieder erwiesen, dass vor allem Entwicklungsländer logistisch und verwaltungstechnisch vielfach kaum in der Lage sind, den Anforderungen des PIC-Verfahrens gerecht zu werden und die Implikationen einer Einfuhrnotifikation wirklich zu verarbeiten.16 Vor allem jedoch geht das Gefährdungspotential bestimmter gefährlicher Stoffe über bilaterale Problemstellungen deutlich hinaus, wie die auf atmosphärische und wassergebundene Ferntransporte zurückgehende wachsende Anreicherung persistenter Umweltschadstoffe in Tieren aus arktischen Regionen17 oder in menschlichen Nahrungsketten ebenso verdeutlicht wie das global wirkende Problem der Entsorgung FCKW-haltiger Klimaanlagen in der Dritten Welt.18 Aus all diesen Gründen bedarf das PIC-Verfahren jedenfalls in bestimmten Fällen flankierender materieller Reglementierungen. Materielle Verbote 14 Vgl. Bartram/Engel, Ende des Giftmüllkolonialismus?, VN 1989, 115 ff.; Cusack, International Law and the Transboundary Shipment of Hazardous Waste to the Third World. Will the Basel Convention Make a Difference?, American University International Law Review 5 (1990), 393 ff.; allgemeiner auch Buck/Helm, Zehn Jahre Basler Übereinkommen. Internationaler Handel mit gefährlichen Abfällen, 1999, S. 12 f. zur „Abfallverbringung als Teil des Nord-Süd-Konflikts“. 15 Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im internationalen Handel vom 10. 9. 1998 (BGBl. 2000 II, 1059). 16 Näher Cox, The Trafigura Case and the System of Prior Informed Consent Under the Basel Convention – A Broken System?, LEAD-Journal 6 (2010), 263 (277 f.); Gündling, Prior Notification and Consultation, in: Handl/Lutz (Fn. 8), S. 63 (293), jeweils mwN. 17 Näher Kallenborn/Herzke, Schadstoff-Ferntransport in die Arktis, Umweltwissenschaften und Schadstoff-Forschung 13 (2001), 216 ff. 18 Auf diese Globalität verweist Winter, Dangerous Chemicals: A Global Problem on Its Way to Global Governance, in: Führ/Wahl/von Wilmowsky (Hrsg.), Umweltrecht und Umweltwissenschaft. Festschrift für Eckard Rehbinder, 2007, S. 819 (821).

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und Beschränkungen bilden daher neben der PIC-Prozedur immer mehr ein zweites regelungstechnisches Schlüsselelement des internationalen Gefahrstoffrechts. III. Soft Law für den Umgang mit gefährlichen Stoffen Wie Kloepfer bereits 1985 feststellte, unterliegt die internationale Verbringung und Behandlung gefährlicher Chemikalien einem hochkomplexen Netz formeller und informaler Regeln, in denen neben bindenden völkerrechtlichen Verträgen auch informale Standards und Empfehlungen sowie Elemente der supranationalen industriellen Selbstregulierung eine wichtige Rolle spielen.19 Teilweise sind diese Soft-Law-Instrumente auf der Ebene allgemeiner oder programmatischer Rechtsprinzipien angesiedelt: So sollen die Staaten nach Grundsatz 14 der Rio-Erklärung „tatkräftig zusammenarbeiten“, um im Hinblick auf stark umwelt- oder gesundheitsgefährdende Tätigkeiten und Stoffe „[…] die Verlegung und den Transfer in andere Länder […] zu erschweren oder zu verhindern.20 Neben solche Leitlinien treten jedoch vielfach – ebenfalls in formal unverbindlicher Form – konkrete technische Anleitungen und prozedurale Verhaltensstandards, die auf unmittelbare Vollziehbarkeit angelegt sind. Die Ausprägung dieses Phänomens ist in vielerlei Hinsicht den Besonderheiten der Aufgabenstellung geschuldet: Das umweltpolitische Anforderungsprofil der international verbreiteten Stoffe ist derart unterschiedlich und komplex, dass sich der sinnhafte Anwendungsbereich abstrakter Rechtssätze vor allem auf Grundsatznormen und Verfahrensregelungen beschränkt. Im Detail birgt dann jedoch jede Stoffgruppe unterschiedliche Risiken21 und bedarf daher – auf der Grundlage einer individuellen Risikobewertung – eines spezifischen Risikomanagements. Die insoweit erforderlichen differenzierten materiellen Standards sind auf internationaler Ebene nur schwer zu entwickeln. In dieser und in vergleichbaren Situationen bedient sich das Völkerrecht daher oft generalklauselartiger Standards – insbesondere des Verweises auf „beste verfügbare Techniken“ (BATs) – und setzt im Übrigen auf einschlägige nationale Regelungen und selbstregulative Industriestandards, um diese Vorgaben auszufüllen.22 Dieser Ansatz wurde namentlich im Zusammenhang mit 19 Illustrativ dazu Winter (Fn 18), S. 823 ff.; vgl. zum Folgenden weiter Lutz/Aron, Codes of Conduct and other international Instruments, in: Handl/Lutz (Fn. 8), S. 129 ff.; Pache, Gefahrstoffrecht, in: Koch (Hrsg.), Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 12 Rn. 20 ff.; Pallemaerts (Fn. 6), S. 718 ff.; Wirth (Fn. 9), S. 397 ff.; aus einer allgemeineren Perspektive auch die Beiträge bei Kloepfer, Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, 1998. 20 Zum Hintergrund dieses Grundsatzes Pallemaerts (Fn. 6), S. 555 f. 21 So exemplarisch Heintz/Reinhardt, Chemie und Umwelt, 4. Aufl. 2000, S. 293 f.; die Breite der entsprechenden Schädigungspotentiale verdeutlicht auch die Übersicht bei Clapp, Toxic Exports: The Transfer of Hazardous Wastes from Rich to Poor Countries, 2001, S. 26 f. 22 Vgl. für das Chemikalienrecht Wirth (Fn. 9), S. 405 f.; zur Parallelentwicklung auf der Ebene des Unionsrechts besonders Raasch, Die Harmonisierung der Verfahrensstandards im europäischen Abfallrecht, 2008. Weitergehend ist die u. a. von Grosz, Sustainable Waste Trade Under WTO Law. Chances and Risks of the Legal Frameworks Regulation of Transboundary

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persistenten organischen Schadstoffen (POPs) aufgegriffen. Ähnlich wie im nationalen Recht führen derartige de-facto-Verweisungen einerseits zu Rechtsunsicherheiten im Hinblick auf das völkerrechtlich Geschuldete, können indes potentiell im besten Fall auch zu einer Dynamisierung der entsprechenden Standards beitragen, wenn Staaten, regionale Integrationsgemeinschaften oder auch NGOs die Wissensgenerierung und die technischen Standards unilateral vorantreiben und ihre Erkenntnisse über Soft Law in den internationalen Diskurs einspeisen.23 Dieses im Bereich des Gefahrstoffrechts produzierte Soft Law weist viele jener Merkmale auf, auf die Kloepfer in seinem Lehrbuch hinweist und die auch im weiteren Umweltvölkerrecht bereits oft beschrieben wurden24 : Gegenüber der dornenreichen Verhandlung und Verabschiedung förmlicher völkerrechtlicher Verträge gilt für die Erarbeitung unverbindlicher Standards und Empfehlungskataloge sowohl verfahrenstechnisch als auch im Hinblick auf die Schaffung des erforderlichen politischen Grundkonsenses ein deutlich reduziertes Anforderungsprofil. Gerade der zunächst unverbindliche Charakter und die damit verbundenen Spielräume erleichtern den Staaten die Zustimmung zu entsprechenden Resolutionen und schaffen die Möglichkeit einer Erprobung der entsprechenden Standards ohne Gefahr einer Rechtsverletzung. Die Steuerungskraft entsprechender Normen kann der förmlichen Vertragsrechts gleichwohl im Einzelfall relativ nahe kommen. Zugleich kann Soft Law als Vorstufe nachfolgender bindender Übereinkommen und als Auslegungshilfe dem späteren Völkerrecht den Weg bereiten. Dies war namentlich bei dem erwähnten Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien der Fall Eine maßgebliche Kraft bei der Schaffung und Weiterentwicklung entsprechender Soft-Law-Standards, aber auch der Vorbereitung bindender Instrumente ist seit Jahrzehnten die bereits durch Kloepfer gewürdigte OECD. Durch eine Reihe von Entscheidungen, detaillierten technischen Leitfäden und Standardformularen hat die OECD ganz erheblich zur Herausbildung einheitlicher Standards für die Verbringung, den Transport sowie die Behandlung gefährlicher Stoffe und vor allem den entsprechenden Informationsaustausch beigetragen.25 Angesichts der mangelnden ReMovements of Wastes, 2011, S. 121 vertretene These, nach der als Element der „due diligence“ völkerrechtlich stets eine Anwendung der besten verfügbaren Techniken geschuldet sei. Dies dürfte indes das bestehende Recht überzeichnen. 23 Näher dazu Birnie/Boyle/Redgwell, International Law and the Environment, 3. Aufl. 2009, S. 148 f., sowie allgemeiner Bodansky, The Art and Craft of International Environmental Law, 2010, S. 77 ff., 130 ff. und 145 ff. 24 Vgl. für das Umweltrecht statt vieler die Beschreibungen bei Beyerlin/Marauhn (Fn. 10), S. 289 ff.; Dupuy, Soft Law and the International Law of the Environment, Michigan Journal of International Law 12 (1991), 420 ff.; Sands/Peel, Principles of International Environmental Law, 3. Aufl. 2012, S. 55 und 108 ff.; Toope, Formality and Informality, in: Bodansky/ Brunnée/Hey (Fn. 9), S. 107 ff.; aus einer allgemeineren völkerrechtlichen Perspektive knapp von Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 281 f. 25 Vgl. Decision on the Systematic Investigation of Existing Chemicals v. 26. 6. 1987 – C (87)90/FINAL; Decision concerning the Mutual Acceptance of Data in the Assessment of

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präsentativität der Organisation und ihres – aus Sicht der Entwicklungsländer unzureichenden – Schwerpunkts auf informatischen Aspekten wird die Legitimität der OECD-Standards zwar vielfach kritisch gesehen.26 Tatsächlich steht im Zentrum der Bestrebungen der OECD meist eher die verfahrenstechnische Einhegung des Umgangs mit Stoffen als das Instrument der Verbote. Dennoch ist der Beitrag der OECD zur Durchnormierung des internationalen Stoffrechts insgesamt hochbedeutsam. Einen noch wichtigeren völkerrechtlichen Beitrag für den Umgang mit Gefahrstoffen hat allerdings das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) geleistet. Durch eine Reihe von Empfehlungskatalogen und Leitfäden entwickelte UNEP wegweisende Grundprinzipien,27 die teilweise auch durch die UN-Vollversammlung aufgegriffen wurden28 und modellbildend für die nachfolgende Erarbeitung völkerrechtlicher Verträge werden sollten. Auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat – mit anderen Akzenten – vergleichbare Empfehlungen und teilweise auch konkrete Standards im Bereich der Pestizide entwickelt.29 Im Anschluss an die Rio-Konferenz von 1992 wurden dann im UNO-Rahmen einige weitere Kooperationen und gemeinsame Einrichtungen geschaffen:30 Hervorzuheben sind das Wirken des 1994 in Stockholm gegründeten Internationalen Forums für Chemikaliensicherheit, dessen Sekretariat bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf angesiedelt ist und das Empfehlungen und Aktionspläne zur Chemikaliensicherheit erarbeiten soll (darunter namentlich die Bahia-Erklärung zur Chemikaliensicherheit aus dem Jahr 2000). Das 1995 gegründete Interinstitutionelle Programm für den umweltgerechten Umgang mit Chemikalien unterstützt insbesondere Entwicklungsländer bei der Umsetzung des POPs-Übereinkommens.31 Hinzu trat Chemicals v. 12. 5. 1981 – C(81)30/FINAL mit Änderungen v. 26. 11. 1997 – C(97)186/ FINAL; Recommendation concerning Chemical Accident Prevention, Preparedness and Response v. 15. 1. 2004 – C(2003)221. 26 Vgl. etwa Wirth (Fn. 9), S. 400 f. und 404. 27 Vgl. namentlich UNEP, Shipment of Banned and Severely Restricted Chemicals (1984); Exchange of Information on Chemicals in International Trade (1984, mehrfach geändert); London Guidelines for the Exchange of Information on Chemicals in International Trade (1987); Code of Ethics in Chemicals for the Industrial Sector (1994); umfassend zu dieser “pioneering role” des UNEP Pallemaerts (Fn. 6), S. 441 ff. und 551 ff.; Nagai, Environmental Law and International Trade in Hazardous Chemicals, in: Sun Lin/Kurukulasuriya (Hrsg.), Unep’s New Way Forward. Environmental Law and Sustainable Development, 1995, S. 247 ff. 28 Vgl. besonders GA (Res) A/34/173 (1979), Exchange of information on banned hazardous chemicals and unsafe pharmaceutical products, UN Doc A/34/PV.106, und dazu Langlet, Prior Informed Consent and Hazardous Trade, 2. Aufl. 2009, S. 117 f. 29 Vgl etwa Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), International Code of Conduct on the Distribution and Use of Pesticides, 2003. 30 Vgl. zum Folgenden Wirth (Fn. 9), S. 401. 31 Vgl. unter den in diesem Rahmen erarbeiteten Dokumenten namentlich das interessante, in der Sache an Kloepfers und Bosselmanns Arbeiten anknüpfende Projekt einer terminolo-

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2006 der gemeinsam von Regierungen und der Industrie getragene „Strategische Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement“ („Strategic Approach to International Chemicals Management“ – SAICM), der die verschiedenen internationalen Ansätze zur Chemikaliensicherheit global vernetzen soll.32 Im Zentrum dieser Aktivitäten steht zumeist die Beschaffung entsprechender Daten und die Risikoabschätzung, weniger jedoch der Erlass verbindlicher Regelungen.33 Die reale verhaltenssteuernde Kraft all dieser immer komplexeren Initiativen und Institutionen ist daher nicht zuletzt auf Grund der Wechselwirkungen nur schwer abzuschätzen. IV. Positivierung des Soft Law in völkerrechtlichen Verträgen Die Empfehlungen von UNEP und OECD haben in ihren beiden Schlüsselansätzen – dem PIC-Verfahren und den materiellen Verboten – tatsächlich zu Positivierungen im Völkervertragsrecht geführt. Im Zentrum der völkerrechtlichen Instrumente steht der verfahrensrechtliche Ansatz des Rotterdamer Übereinkommens über das PIC-Verfahren für bestimmte gefährliche Chemikalien aus dem Jahr 1998,34 der instrumentell durch den materiell-rechtlichen Ansatz des drei Jahre später geschlossenen Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe (dem POPs-Übereinkommen)35 ergänzt wird. 1. Das Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung Regelungstechnisch geht das Rotterdamer Übereinkommen unmittelbar auf die Empfehlungen von UNEP und der OECD zur Einhaltung eines PIC-Verfahrens nach dem Vorbild des Basler Übereinkommens zurück.36 Parallel zu diesen prozeduralen Vorstößen bemühte sich UNEP um die Erarbeitung einer Liste jener Chemikalien, die dem PIC-Erfordernis unterworfen werden sollten.37 Auf der Grundlage diegischen Vereinheitlichung: Inter-Organization Programme for the Sound Management of Chemicals, Harmonization Project Document No. 1: IPCS Risk Assessment Terminology, 2004. 32 Näher Umweltbundesamt, Fortschrittsbericht zur nationalen Umsetzung des Strategischen Ansatzes zum Internationalen Chemikalienmanagement (SAICM), UBA-Texte 11/09, S. 5 ff.; Perrez, The Strategic Approach to International Chemicals Management: Lost Opportunity or Foundation for a Brave New World?, Review of European Community and International Environmental Law 15 (2006), 245 ff. 33 Rehbinder (Fn. 5), § 11 Rn. 255 f. 34 Vgl. oben Fn. 15. 35 Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe vom 23. 5. 2001 (BGBl. 2002 II, 804). 36 Dazu und zur Entstehungsgeschichte Kummer, Prior Informed Consent for Chemicals in International Trade: The 1998 Rotterdam Convention, Review of European Community and International Environmental Law 8 (1999), 323 ff. 37 Dazu Pallemaerts (Fn. 6), S. 516 ff.

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ser Empfehlungen entwickelte sich sukzessive der internationale umweltpolitische Konsens, dass jedenfalls bei Stoffen mit einem besonders hohen Gefährdungspotential mindestens die Abgabe einer Ausfuhrnotifikation des Exportstaats bzw. sogar die Durchführung eines vollständigen PIC-Verfahrens angemessen sei.38 Dieser Konsens materialisierte sich schließlich 1998 im Abschluss des durch UNEP vorbereiteten Rotterdamer Übereinkommens, das zwar den bis dahin erreichten Soft-Law-Konsens positivierte, zugleich jedoch durch die Beschränkung auf das prozedurale PIC-Erfordernis und dessen eher engen Anwendungsbereich hinter vielen umweltpolitischen Erwartungen zurückblieb.39 Das Rotterdamer Übereinkommen dient nach seinem Art. 1 dem Schutz von (menschlicher) Gesundheit und Umwelt vor potenziellem Schaden durch den internationalen Handel mit gefährlichen Chemikalien, indem der Informationsaustausch über die Merkmale dieser Chemikalien erleichtert und ein nationaler Entscheidungsprozess über ihre Ein- und Ausfuhr und die Weiterleitung dieser Entscheidungen an die Vertragsparteien institutionalisiert werden. Im Zentrum des Vertrags steht also ein völkerrechtliches Informationssystem. Der erwähnte Entscheidungsprozess gilt nach Art. 3 Abs. 1 „für verbotene oder strengen Beschränkungen unterliegende Chemikalien“ sowie für „besonders gefährliche Pestizidformulierungen“.40 Die nähere Bestimmung dieses Anwendungsbereich bildet freilich ein Grundproblem des gesamten Übereinkommens: Dem PIC-Verfahren der vorherigen Zustimmung, unterliegen nämlich vor allem die in Anlage III aufgenommenen Stoffe, welche zunächst nur 22 Pestizide und fünf Chemikalien umfasste, mittlerweile aber auf 41 Stoffe erweitert wurde.41 Ohne förmliche Aufnahme von Chemikalien in den Anhang wird keinem Staat ein Recht auf jene Informationen zuerkannt, die zur Verhängung entsprechender Verbote faktisch erforderlich sind.42 Gemäß dem Verfahren nach Art. 5 notifiziert jede Vertragspartei, die eine unmittelbar geltende Rechtsvorschrift zu einer Chemikalie erlassen hat, diese dem Sekretariat unter Übermittlung sämtlicher relevanter Informationen. Sobald das Sekretariat aus zwei PIC-Regionen mindestens je eine Notifikation zu einer bestimmten Chemikalie erhalten hat, leitet es diese Dokumente gem. Art. 5 Abs. 4 an einen wissenschaftlich besetzten Chemi38 Umfassend dazu Pallemaerts (Fn. 6), S. 441 ff. und 511 ff. der die beiden Phasen eines „Focus on Export Notifications“ und eines nachfolgenden „Consensus on Prior Informed Consent“ unterscheidet; vgl. weiter Gündling (Fn. 16), S. 65 ff. 39 Eingehend zu den problematischen Punkten und der Verhandlungsgeschichte Pallemaerts (Fn. 6), S. 551 ff. mwN; tabellarisch listet die Kritikpunke (u. a. das Fehlen eines Verbots des Handels mit Nicht-Vertragsstaaten) McDorman, The Rotterdam Convention on the Prior Informed Consent Procedure for Certain Hazardous Chemicals and Pesticides in International Trade: Some Legal Notes, Review of European Community and International Environmental Law 13 (2004), 187 (188). 40 Diese Definitionen entstanden als Kompromiss zwischen den divergierenden Standpunkten insbesondere der EU und den USA, vgl. im Einzelnen Pallemaerts (Fn. 6), S. 572 ff. 41 Näher dazu McDorman (Fn. 39), S. 191 ff. 42 Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 23), S. 447 f.

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kalienprüfungsausschuss weiter. Dieses Gremium überprüft die vorgelegten Informationen und übermittelt der Vertragsstaatenkonferenz eine Empfehlung hinsichtlich der Erfassung des Stoffes durch das Vertragswerk. Auf Grundlage dieser Empfehlung entscheidet schließlich die Konferenz der Vertragsparteien gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 2 darüber, ob die Chemikalie in Anlage III aufgeführt und damit dem Verfahren der vorherigen Zustimmung unterworfen werden soll. Damit setzt die Erweiterung des Anhangs trotz aller Bemühungen um eine wissenschaftliche Objektivierung letztlich doch den politischen Konsens aller beteiligten Staaten voraus, selbst wenn entsprechende Beschlüsse dann ohne weitere Ratifikationsprozesse wirksam werden.43 Für die so erfassten Chemikalien normieren Art. 10 Verpflichtungen im Hinblick auf die Einfuhr und Art. 11 im Hinblick auf die Ausfuhr. Diese Regelungen institutionalisieren ein – gegenüber dem Basler Vorbild freilich stärker auf das Sekretariat ausgerichtetes – PIC-Verfahren der vorherigen Zustimmung, das nur zwischen Vertragsparteien zur Anwendung kommt.44 Die starke Einbindung des Sekretariats in diese Ausprägung des PIC-Verfahrens und insbesondere dessen Überprüfung der vorgelegten Informationen entspricht insbesondere dem Bedürfnis jener Importstaaten, die über keine ausreichende Expertise verfügen, um das Gefahrenpotential jedes Stoffes im Einzelfall zu beurteilen.45 Über die Reglementierung der in Anhang III gelisteten Stoffe hinaus fordert Art. 12 Abs. 1 auch dann eine Ausfuhrnotifikation, wenn eine vom Exportstaat verbotene oder strengen Beschränkungen unterworfene Chemikalie ausgeführt wird. Nach dem Grundgedanken dieser Norm soll sich der Exportstaat gleichsam an seinen eigenen Standards messen lassen. In diesem Fall notifiziert diese Partei der einführenden Vertragspartei die Ausfuhr unter Beifügung der in Anlage V aufgeführten Informationen. Nach Sinn und Zweck der Bestimmung ist über die Abgabe der Ausfuhrnotifikation hinaus keine Zustimmung des Importstaats erforderlich, wohl aber ein Einfuhrverbot möglich.46 2. Das Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe Angesichts der instrumentellen Grenzen einer umweltpolitischen Bewältigung der Gefahrstoffproblematik durch die PIC-Prozedur bedarf ein problemgerechtes Regelungsmodell über den verfahrensrechtlichen Ansatz des Rotterdamer Überein43

Näher und kritisch dazu Pallemaerts (Fn. 6), 574 ff. Zum Folgenden McDorman (Fn. 39), S. 188 ff.; Langlet (Fn. 28), S. 128 ff.; Kummer (Fn. 36), S. 329 charakterisiert dieses Verfahren als „immensely cumbersome and complicated“. 45 Krueger, Prior Informed Consent and the Basel Convention: The Hazards of What Isn’t Known, The Journal of Environment Development 7 (1998), 115 (134); vgl. auch Secretariat of the Rotterdam Convention, Guide on the Development of National Laws to Implement the Rotterdam Convention, 2004, S. 54. 46 Kummer (Fn. 36), S. 328. 44

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kommens hinaus weiterer Elemente der Wissensgenerierung und – auf dieser Grundlage – der Möglichkeit, die Herstellung, Verwendung und Verbreitung bestimmter Stoffe zu beschränken, zu reglementieren und gegebenenfalls sogar zu verbieten. Dies ist der Ansatz des 2004 in Kraft getretenen Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe – des sog. POPs-Übereinkommens –, das sich auf jene Stoffe konzentriert, bei denen das Bedürfnis nach materiellen Vorgaben am handgreiflichsten ist, weil sie sich über internationale Grenzen hinweg verbreiten, dauerhaft in der Umwelt verbleiben und sich über die Nahrungsmittelketten anreichern können. Die seit 1995 laufenden Verhandlungen über diesen Vertrag waren von erheblichen Spannungen zwischen der Europäischen Union einerseits und einer u. a. aus den USA, Japan und Australien bestehenden Gruppe von Industriestaaten andererseits geprägt, in deren Zentrum die Frage stand, ob die Erzeugung und Verbreitung der zwölf von Beginn an durch das Vorhaben erfassten Stoffe (das sog. Dirty Dozen) vollständig verboten oder nur eingeschränkt werden sollte.47 Im Ergebnis werden Produktion, Verwendung und Freisetzung persistenter organischer Schadstoffe zwar erheblichen Einschränkung unterworfen,48 zugleich bleibt jedoch der Anwendungsbereich des Regimes vorläufig stark begrenzt. Anders als im Rahmen des Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung stehen im Zentrum des POPs-Übereinkommens spezifische materielle Verbote für jeden einzelnen der wenigen erfassten Stoffe: Im Hinblick auf die neun in Anlage A aufgenommenen Chemikalien verpflichtet Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) zur Einstellung der Produktion, Verwendung, Einfuhr und Ausfuhr, bezüglich der in Anlage B aufgenommenen Chemikalien Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) grundsätzlich nur zur Beschränkung der Produktion und Verwendung.49 Freilich gelten die entsprechenden Pflichten zur Einstellung oder Beschränkung der Produktion und Verwendung nicht durchgängig und sofort, sondern nach Maßgabe der teilweise weitreichenden Ausnahmeregelungen nach den Anlagen A und B. Nach diesen Maßstäben gilt beispielsweise für den Einsatz als Termitenvernichtungsmittel weiterhin eine Ausnahme vom Verbot des Anlage A-Stoffs Heptachlor, während nach Anlage B die „Bekämpfung von Krankheitsüberträgern“ weiterhin ein „akzeptabler Zweck“ für den Einsatz von DDT bleibt, ein totales Verbot also gerade nicht verhängt wird. Hinzu treten derzeitig noch länderspezifische Ausnahmeregelungen nach Art. 4 Abs. 3, die indes nach Art. 4 Abs. 4 und 7 spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten des Übereinkommens – also 2014 – auslaufen werden.50 Auch grenzüberschreitende Verbringungen sind nur noch zum Zweck einer umweltgerechten Entsor47 Eingehend zu den Verhandlungsprozessen und dem Entstehungshintergrund der einzelnen Vorschriften Bilcke, The Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, Review of European Community and International Environmental Law 11 (2002), 328 ff. 48 Dazu Hagen/Walls, The Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, Natural Resources & Environment 19 (2005), S. 49 ff. 49 Daneben existiert mit Anlage C noch eine Liste für Chemikalien, die nach Art. 5 lediglich einer Produktionsverringerungspflicht unterliegen. 50 Näher Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 23), S. 449.

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gung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. d) oder nach Maßgabe der „spezifischen Ausnahmeregelung“ nach Anlage A oder eines „akzeptablen Zwecks“ nach Anlage B zulässig.51 Zahlreiche POPs entstehen freilich als Nebenprodukte insbesondere in Verbrennungsprozessen. Für ein vollständiges Verbot dieser Freisetzungen fanden sich im Verhandlungsprozess des Übereinkommens angesichts verbreiteter Zweifel an ihrer Realisierbarkeit keine ausreichenden Mehrheiten.52 Art. 5 normiert jedoch als Mindeststandard eine Reihe von Maßnahmen zur Verringerung oder Verhinderung von Freisetzungen unerwünschter POPs. Dazu zählt u. a. auch die „Förderung“ der Anwendung der besten verfügbaren Techniken und besten Umweltschutzpraktiken für bestehende Quellen und die „Anordnung“ der Anwendung der besten verfügbaren Techniken (BATs) für neue Quellen.53 In nuce normiert das Übereinkommen somit anlagenrechtliche Anforderungen, die zwischen Alt- und Neuanlagen differenzieren. Eine – ähnlich wie bereits im Rotterdamer Übereinkommen – hochumstrittene und für das gesamte Übereinkommen weichenstellende Regelung bildet Art. 8 über die „Aufnahme von Chemikalien in die Anlagen A, B und C“. Diese Vorschrift normiert ein kompliziertes neunstufiges Verfahren, in dem – ausgehend von einem Aufnahmevorschlag einer Vertragspartei über die Prüfung durch das Sekretariat und einen „Überprüfungsausschuss für persistente organische Schadstoffe“ – am Ende die Konferenz der Vertragsparteien „in vorsorgender Weise unter angemessener Berücksichtigung der Empfehlungen des Ausschusses einschließlich etwaiger wissenschaftlicher Unsicherheiten“ beschließt, ob die entsprechende Chemikalie und entsprechende Kontrollmaßnahmen in die Anlagen A, B und/oder C aufzunehmen sind.54 Trotz aller Versuche einer Objektivierung der Entscheidungsfindung steht so die Aufnahme neuer Stoffe am Ende – ähnlich wie im Rotterdamer Übereinkommen – erneut unter dem Vorbehalt einer Konsensbildung der Vertragsstaaten, die angesichts der weitreichenden Implikationen nicht frei von politischen Elementen bleibt.55 So ist gegenüber der vielfach geforderten Ausweitung des Katalogs der Anlagen angesichts der Schwierigkeiten einer vollständigen Eliminierung erheblicher Widerstand zu erwarten.56 Gleichwohl gelang es 2009, die Kataloge um weitere

51 Näher Wiser/Orellana, Specific Trade Obligations in the Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, Bridges Review 8 (2004), 9. 52 Auch dazu Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 23), S. 449 f. 53 Vgl. zu dieser im Konventionstext stark relativierten Pflicht Bilcke (Fn. 54), S. 335. 54 Näher Bilcke (Fn. 54), S. 337 ff. 55 Eingehend dazu Templeton, Framing Elite Policy Discourse: Science and the Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, 2011. 56 Wirth (Fn. 9), S. 404; vgl. weiter die Darstellung bei Yoder, Lessons from Stockholm: Evaluating the Global Convention on Persistent Organic Pollutants, Indiana Journal of Global Legal Studies 10 (2002), 113 (137 ff.).

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acht zu eliminierende Anlage A-Stoffe und einen zu beschränkenden Anlage B-Stoff zu erweitern.57 V. Rezeption des Soft Law – Soft Law als Auslegungshilfe Insgesamt zeigt sich, dass die Kernelemente des durch UNEP und die OECD entwickelten Soft Law seit Ende der 90er Jahre in bindendes Völkervertragsrecht überführt wurden und dabei der verfahrensrechtliche Ansatz des Rotterdamer Übereinkommens durch den materiell-rechtlichen Ansatz des Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe ergänzt wird. Neben solchen Prozessen einer formalen Positivierung kann das internationale Soft Law jedoch auch dadurch Steuerungskraft entfalten, dass es – ohne unmittelbare Verbindlichkeit erlangt zu haben – durch die Staatengemeinschaft schlichtweg befolgt oder im nationalen Recht rezipiert wird. Hinzu tritt die Rolle des Soft Law als Auslegungshilfe. Auch für diese Funktionen liefert das Chemikalienrecht verschiedene Beispiele. Die Rezeption unverbindlicher Soft-Law-Standards erfolgt meist durch den Erlass nationaler Regelungen. Eine ganze Reihe der eingangs erwähnten Standards hat auf diesem Wege Eingang in das deutsche und das europäische Recht gefunden. So legt in Deutschland § 25 Abs. 1 Satz 2 PflSchG fest, dass bei der Ausfuhr von Pflanzenschutzmitteln internationale Vereinbarungen, insbesondere die Verhaltenskodizes der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO für das Inverkehrbringen und die Anwendung von Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln,58 zu berücksichtigen sind.59 Das durch eine Reihe verschiedener UN-Institutionen geschaffene rechtlich unverbindliche „Globally Harmonized System of Classification and Labeling of Chemicals“60 wird in der Europäischen Union durch die Verordnung Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen in unmittelbar geltendes bindendes Recht überführt.61

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Vgl. dazu im Schrifttum Pache (Fn. 19), § 12 Rn. 27. Vgl. oben Fn. 29. 59 Zu dieser Norm und der Rezeption internationaler Standards im Umweltrecht bereits Durner, Internationales Umweltverwaltungsrecht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 121 (144 f. und 161 f.). 60 United Nations, Globally Harmonized System of Classification and Labelling of Chemicals (GHS), Third revised edition 2009; dazu Pache (Fn. 19), § 12 Rn. 31 f. 61 Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 12. 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen (Abl. L 268/14); dazu und zu der in Teilen übergangsweise noch geltenden Vorgängerrichtlinie 67/ 548/EWG Becker, Schon wieder neues Chemikalienrecht: Zur so genannten GHS-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kenzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, NVwZ 2009, 1011 ff.; Meßerschmidt (Fn. 9), § 19 Rn. 187 ff. und 203 ff.; Pache (Fn. 19), § 12 Rn. 113 ff.; Wahl, Die EG-GHS-Verordnung – Ein Überblick, StoffR 2008, 249 ff. 58

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Eine weitere, in ihren Wirkungen schwächere Form der Steuerung durch Soft Law ist schließlich seine Heranziehung als Auslegungshilfe für die Interpretation bindender völkerrechtlicher Verträge. So wird seit einigen Jahren versucht, die in Art. 5 des Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe normierte Pflicht zur Anwendung der „besten verfügbaren Techniken“ (BATs) durch informale Empfehlungen und Erhebungen zu konkretisieren.62 In dem vielbeachteten Rechtsstreit vor dem Internationalen Gerichtshof um die vorgebliche Völkerrechtswidrigkeit der Zellstofffabrik am Fluss Uruguay berief sich Argentinien allerdings vergebens auf eine Verletzung dieser Standards. Denn nach der Überzeugung des Gerichts brachte Uruguay durch die Anwendung der in den Empfehlungen dokumentierten weltweit üblichen Methoden die „besten verfügbaren Techniken“ zur Anwendung.63 VI. Ausblick Blickt man zurück auf die Ausgangsfragen dieses Beitrags, so bestätigt sich Kloepfers Analyse: Das im Bereich der Gefahrstoffe und Chemikalien entwickelte Soft Law hat – durch seine Funktion als Auslegungshilfe für bindende völkerrechtliche Verträge, durch seine Rezeption in den nationalen und supranationalen Rechtsordnungen, vor allem jedoch durch seine Rolle als potenzielle Vorstufe der Entstehung des Rotterdamer Übereinkommens über das PIC-Verfahren für bestimmte gefährliche Chemikalien und des Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe – tatsächlich maßgeblich zu einer internationalen Harmonisierung des Chemikalienrechts beigetragen. Was sich allerdings nicht durchgesetzt hat sind die durch Kloepfer und Bosselmann entwickelten Vorschläge zu einer abstrakten Harmonisierung der Definitionen für „gefährliche“ Stoffe und Zubereitungen.64 Vielmehr beharrt die Staatengemeinschaft gerade bei der Festlegung der Anwendungsbereiche der beiden zentralen völkerrechtlichen Übereinkommen auf einer einzelfallbezogenen, politisch legitimierten Entscheidung für jeden konkret reglementierten Stoff.

62 Näher UNEP, Overview and Summary of Outcomes from the Regional Consultations on the Draft Guidelines on Best Available Techniques (BAT) and Best Environmental Practices (BEP) relevant to Article 5 and Annex C of the Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants (POPs), 2005. 63 ICJ, Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil v 20. 4. 2010, ICJ Rep 2010, 14 (43 und 88); vgl. dazu auch McIntyre, The World Court’s Ongoing Contribution to International Water Law: The Pulp Mills Case between Argentina and Uruguay, Water Alternatives 4 (2011), 124 (134 f.). 64 Kloepfer/Bosselmann (Fn. 2), S. 159 ff.

Katastrophenschutzrecht und maritime Sicherheit* Von Wilfried Erbguth I. Einleitung Gedanken des Jubilars zum Katastrophenschutzrecht gilt es aufzugreifen und den Versuch zu unternehmen, Teilaspekte dieses Rechtsgebietes auf den maritimen Bereich zu übertragen. Konkret stellt sich die Frage, inwieweit sich Parallelen zum maritimen Sicherheitsrecht ergeben und ob das Katastrophenschutzrecht Ansätze zur Optimierung maritimer Sicherheit bereitstellen kann. 1. Katastrophenbegriff Der Begriff „Katastrophe“ ist weit zu verstehen und umfasst neben Naturkatastrophen technische Katastrophen, Großunfälle verschiedener Verkehrsträger sowie kriegerische und terroristische Einwirkungen.1 Dabei handelt es sich um Geschehen, die Leben oder Gesundheit zahlreicher Menschen, die Umwelt, erhebliche Sachwerte oder die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung in ungewöhnlichem Maße gefährden oder beschädigen.2 Katastrophen zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie Souveränitätsansprüche und -befugnisse ignorieren und grenzüberschreitend wirken.3 Dergestalt können sie sich auch oder gerade wegen des sensiblen Ökosystems „Meer“ im maritimen Bereich ereignen. Nicht zuletzt sei insoweit an die beiden letzten schweren Öltankerunfälle der Erika (1999) und der Prestige (2002)4 erinnert.

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Frau wissenschaftlicher Mitarbeiterin Caroline Wegener ist für die wesentliche Unterstützung bei der Abfassung des Beitrags zu danken. 1 Vgl. Kloepfer, Michael: Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, Baden-Baden 2008, S. 9. 2 Vgl. Kloepfer, Michael: Katastrophenschutzrecht – Strukturen und Grundfragen –, in: VerwArch 98 (2007), 163 (167). 3 Vgl. Stober, Rolf: Katastrophenschutz als Befugnisausübung in der Mehrebenenverwaltung, in: Kloepfer, Michael, Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, Baden-Baden 2008, S. 50. 4 Vgl. Höltmann, Michael: Schiffssicherheit und Meeresumweltschutz in der EU nach Erika und Prestige, Die Vereinbarkeit der legislativen Maßnahmen der EU mit dem internationalen Seerecht, Baden-Baden 2012, S. 13.

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Infolge zunehmender Nutzungen des Meeresraums steigt das Risiko weiterer solcher Großunfälle, wobei die Palette der jeweiligen Inanspruchnahmen zu Wasser von solchen herkömmlicher Natur (z. B. Schifffahrt und Fischerei) bis hin zu Erscheinungen neuerer Zeit (z. B. Offshore-Windenergienutzung, Meeresbergbau) reicht. Neben dem Kollisionsrisiko rücken auf kriminellen Handlungen basierende Bedrohungen in den Vordergrund, die sich in ihrem Verlauf zu einer Großschadenslage der beschriebenen Art entwickeln können. Gemeint sind See-Piraterie und Terrorismus; aber auch illegale Fischerei und Ölverklappung stellen Gefährdungen dar, die schlimmstenfalls in einer Katastrophe (etwa einer Umweltkatastrophe) münden können. 2. Katastrophenschutzrecht Das Katastrophenschutzrecht als relativ junges Rechtsgebiet versucht, derartigen Katastrophen planvoll entgegenzuwirken,5 wobei es sich eines Stufenmodells der Vermeidung, Vorsorge, Bekämpfung und Nachsorge bedient.6 Nachzugehen ist der Frage, ob eine Übertragung jenes Modells auf den maritimen Bereich möglich ist und welche Maßnahmen ergriffen werden müssten, um dessen Nutzen möglichst weitgehend ausschöpfen zu können. Bevor indes auf die Parallelen von Katastrophenschutzrecht und maritimem Sicherheitsrecht eingegangen wird (dazu unter IV.), sollen zunächst drei mögliche Gefährdungsszenarien, von denen vorstehend einige umrissen worden sind, dargestellt werden (dazu unter II.), um sodann das rechtliche Rahmenwerk zur maritimen Sicherheit in der gebotenen Kürze vorzustellen (dazu unter III.). II. Gefährdungsszenarien Im Meeresbereich sind verschiedene Szenarien denkbar, die zu einer Katastrophe führen können. Wegen der weitreichenden Folgen, die mit einer solchen Katastrophe einhergehen, legt es schon die Möglichkeit ihres Eintritts nahe, Katastrophenschutzrecht im maritimen Bereich modellhaft Anwendung finden zu lassen. 1. Kriminelle Handlungen Ein mögliches Bedrohungsszenario beschreibt kriminelle Handlungen auf See. Hierzu zählen die bereits angesprochene See-Piraterie, der Terrorismus sowie die illegale Fischerei und Ölverklappung. Terroristische Aktivitäten dieser Art können Folgen sowohl personeller, wirtschaftlicher, aber auch ökologischer Art nach sich ziehen. So stellen Schiffe wie 5

Vgl. Kloepfer (Fn. 2), 164 f. Vgl. Kloepfer, Michael/Deye, Sandra: Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, in: DVBl 2009, 1208 (1212 ff.). 6

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Windenergieanlagen- bzw. Öl-Plattformen lohnende Angriffsziele für terroristische Aktionen dar. Aus Sicht von Terroristen sind mehrere Möglichkeiten denkbar, den betroffenen Staat unter Druck zu setzen. Beispielhaft seien mögliche Geiselnahmen der Besatzung oder die Drohung mit erheblichen Umweltverschmutzungen durch Ableiten des im Schiff befindlichen Öls genannt. Als unliebsamer Nebeneffekt derartiger Angriffe dürften sich überdies durch den Terrorakt die Versicherungssummen für den jeweiligen Raum erhöhen und dieser zu einem unbeliebten Areal für die Schifffahrt werden. Für Deutschland als auf den Export angewiesene Nation7 wäre dies in wirtschaftlicher Hinsicht ein enormer Rückschritt. Ferner ist eine durch Terroristen herbeigeführte Kollision mit einem Sperrwerk im Mündungsgebiet von Flüssen vorstellbar. Die Beschädigung eines Deiches mit entsprechenden Überflutungen und dem Austritt gefährlicher Schadstoffe kann solcherart zur Gefährdung unzähliger Menschenleben führen. Nicht zu vernachlässigen sind des Weiteren die illegale Fischerei und die illegale Verklappung von Öl, Sondermüll bzw. Gefahrenstoffen. Durch illegale Fischerei wird nicht nur der Wirtschaft ein erheblicher Schaden zugefügt; die hiermit einhergehende Überfischung zieht auch ökologische Veränderungen und Schäden nach sich. Die illegale Verklappung von Öl schließlich kann dazu führen, dass das ökologische Gleichgewicht aus der Bahn gerät – was zugleich (und wiederum) negative wirtschaftliche Auswirkungen gravierenden Ausmaßes zur Folge hat. In besonderem Maße wird die wirtschaftliche Betätigung durch die See-Piraterie gestört. Diese ist zwar so alt ist wie der Seehandel selbst,8 hat aber in den letzten Jahren geradezu eine Renaissance erlebt.9 So beträgt der weltweit durch die See-Piraterie verursachte Schaden nach Schätzungen der Internationalen Handelskammer mehr als 13 Milliarden Euro pro Jahr.10 Überdies kommt es im Zusammenhang mit Übergriffen durch See-Piraten vielfach zu Personenschäden. 2. Kollision Mit der zunehmenden Nutzung des Meeresraumes steigt das Risiko großer Schiffsunfälle. Insoweit gilt es insbesondere den forcierten Ausbau von OffshoreWindparks in den Blick zu nehmen. Bspw. führt ein Abdriften von Schiffen – etwa im Gefolge eines Maschinenschadens oder einer Sturmflut – zunehmend zu Kollisionsgefahren mit Windenergie-Einrichtungen. Derartige Unfälle können besonders folgenschwer geraten, weil neben der Besatzung des Schiffes auch das 7 Vgl. Schiedermair, Stephanie: Piratenjagd im Golf von Aden, in: AöR, Band 135 (2010), 185 (211). 8 Vgl. Schiedermair (Fn. 7), 185. 9 Vgl. Schladebach, Marcus/Esau, Charlotte: Aktuelle Herausforderungen im Seerecht, in: DVBl 2012, 475 ff. 10 Vgl. Fischer-Lescano, Andreas/Tohidipur, Timo: Rechtsrahmen der Maßnahmen gegen die Seepiraten, in: NJW 2009, 1243 ff.

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auf der Windenergie-Plattform tätige Personal bedroht ist. Eine Gefährdung bestünde ferner für die kritische Energieversorgungsinfrastruktur und – wegen des auslaufenden Öls – für die Meeresumwelt. Zu Kollisionen kann es natürlich auch zwischen Schiffen selbst kommen – mit zu befürchtenden ähnlich schweren Folgen. 3. Sturmflut Letztlich können Sturmfluten Katastrophen nach sich ziehen. Solche Ereignisse gefährden insbesondere Hafenanlagen. Auch für die Energieversorgung wichtige Offshore-Windparks können in Mitleidenschaft gezogen werden. Ein großes Gefährdungspotenzial besteht dabei für die auf der Offshore-Plattform arbeitenden Personen, ferner für diejenigen, die Rettungsmaßnahmen, bspw. mit Hubschraubern, durchführen, dies wegen der Windverhältnisse auf offener See und der begrenzten Manövriermöglichkeiten auf der Plattform. Schließlich kann es zu Deichbrüchen mit Überflutungen kommen, die Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen gefährden. III. Aktueller rechtlicher Rahmen Vor dem Hintergrund möglicher Gefährdungsszenarien kann das auf die Abwehr jener Bedrohungen gerichtete Rechtsregime umrissen werden. Maritime Sicherheit vereint als Querschnittsaufgabe eine Reihe verschiedener (Rechts-)Bereiche. Hierzu gehört nicht nur die Schiffssicherheit; vielmehr sind auch die allgemeine Gefahren- und die spezifische Terrorabwehr, ferner der effektive Umgang mit der See-Piraterie u. a.m. erfasst. Sicherheit zur See verschreibt sich demzufolge der Sicherung der Meere und seiner Nutzungen. Dementsprechend lautet das Motto der Internationalen Schifffahrtsorganisation (IMO)11: „Sichere, geschützte und effiziente Schifffahrt auf sauberen Meeren“.12 1. Völkerrechtliche Vorgaben Die so verstandene maritime Sicherheit wird durch eine Vielzahl internationaler Übereinkommen und deren Umsetzung in das nationale Recht gewährleistet. Allen voran ist das VN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ)13 zu nennen, auch als „Verfassung

11 Die IMO (engl. International Maritime Organization) nahm ihre Tätigkeit im Januar 1959 auf. Die Organisation verzeichnet derzeit 170 Mitglieder (http://www.imo.org/about/ pages/faqs.aspx). 12 Vgl. http://www.imo.org/about/pages/faqs.aspx. 13 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982/1994 (BGBl. 1994 II S. 1798 ff.).

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der Meere“ bezeichnet.14 Ziel dieses Übereinkommens ist die Regelung sämtlicher grundlegender Fragen, die das Seerecht betreffen.15 Dazu zählen auch solche zur maritimen Sicherheit. Weitere bedeutsame Übereinkommen auf internationaler Ebene sind das SOLASÜbereinkommen16, das MARPOL-Übereinkommen17 und der ISPS-Code18. Für den Ostseeraum sind im vorliegenden Zusammenhang ferner das HELCOM-Übereinkommen19 sowie dessen Pendant für den Nordostatlantikraum, das OSPAR-Übereinkommen20, zu nennen. 2. Supranationale Vorgaben Unter europarechtlichen Aspekten geht es im Zeichen der Schiffssicherheit vornehmlich um die Umsetzung der ERIKA-Pakete21 und um das europarechtlich durch die Richtlinie 2005/65/EG22 und die Verordnung (EG) Nr. 725/200423 geprägte Hafensicherheitsrecht.

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So u. a. Proelß, Alexander: Der Beitrag des Völkerrechts zu einem maritimen Infrastrukturrecht, in: Ehlers, Peter/Erbguth, Wilfried, Infrastrukturrecht zur See: Neue Wege der Meeresordnung, Dokumentation des Rostocker Gesprächs zum Seerecht 2008, BadenBaden 2009, S. 13 (15). 15 Vgl. wie vor. 16 Internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (engl. International Convention for the Safety of Life at Sea) von 1974. 17 Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzungen durch Schiffe (engl. International Convention for the Prevention of Marine Pollution from Ships) von 1973/1978. 18 Engl. International Ship and Port Facility Security Code von 2002. 19 Übereinkommen über den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebietes (engl. Convention on the Protection of the Marine Environment of the Baltic Sea Area) von 1974. 20 Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks (engl. Convention for the Protection of the Marine Environment of the North-East Atlantic) von 1992. 21 Insgesamt handelt es sich um drei Pakete, ERIKA I, ERIKA II und ERIKA III. Das erste Paket wurde nach den Havarien der Tanker Erika und Prestige verabschiedet. Die ersten Vorschriften des Erika-I-Paketes sind 2003 in Kraft getreten. Die Mitgliedstaaten einigten sich darauf, strengere Hafenkontrollen durchzuführen, verschärfte Regelungen für Klassifikationsgesellschaften einzuführen und Einhüllentanker bis 2010 außer Dienst zu stellen. Mit dem 2004 in Kraft getretenen Erika-II-Paket führten die Mitgliedstaaten ein System zur Überwachung des Seeverkehrs ein. Ferner wurde die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (engl. EUROPEAN MARITIME SAFETY AGENCY – EMSA) gegründet sowie ein besserer Ausgleich für Opfer einer Ölkatastrophe vereinbart. Schließlich richtet sich das Erika-III-Paket, welches 2009 in Kraft getreten ist, darauf, bestehende Rechtsvorschriften zu ergänzen. 22 RL 2005/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Erhöhung der Gefahrenabwehr in Häfen, ABl. L 310/28. 23 Verordnung (EG) Nr. 725/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Erhöhung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen, ABl. L 129/6.

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Zur Bekämpfung der See-Piraterie – hauptsächlich vor der Küste Somalias – beschloss die EU ferner im Dezember 2008 die „Atalanta-Operation“24 als ersten maritimen Militäreinsatz in der Geschichte der EU.25 Besagte Seeoperation stützt sich auf ein Mandat des UN-Sicherheitsrats, das auf der Grundlage verschiedener Resolutionen zur Pirateriebekämpfung in den Hoheitsgewässern Somalias und auf Hoher See ermächtigt.26 3. Nationale Vorgaben Aus nationaler Sicht sind ebenfalls deutliche Aktivitäten zur Optimierung der maritimen Sicherheit zu verzeichnen. Dazu gehört die Einrichtung des Maritimen Sicherheitszentrums (MSZ) in Cuxhaven. Als Kernstück des MSZ nahm das Gemeinsame Lagezentrum See (GLZ-See) am 1. Januar 2007 in Cuxhaven seinen Betrieb auf.27 Hier arbeiten die operativen Einheiten des Bundes und der Küstenländer in einem optimierten Netzwerk zusammen.28 4. Mehrebenensystem und Koordinationsbedarf Obgleich die vorstehende Darstellung lediglich einen kleinen Ausschnitt dessen wiedergibt, was als maritimes Sicherheitsrecht bezeichnet werden kann, erweisen sich doch erste Parallelen zum Katastrophenschutzrecht. Denn bei Letzterem handelt es sich wie beim Schutz maritimer Sicherheit um eine Mehrebenenaufgabe,29 die völkerrechtlichen, supranationalen und nationalen Regelungen entspringt.30 Beiden Rechtsgebieten ist daher gemein, dass ein erhöhter Koordinationsbedarf besteht,31 der daraus resultiert, dass die Vorgaben der verschiedenen Ebenen sinnvoll aufeinander abgestimmt sein müssen, um einen effektiven Schutz gewährleisten zu können. Bezogen auf den maritimen Bereich ist daher die Schaffung eines Koordinierungsinstrumentariums in einem umfassenden Sinn notwendig.32 Nur so können Doppelbelastungen bzw. gegenseitige Behinderungen bei der Wahrnehmung der Si-

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Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP vom 10. 11. 2008, ABl. L 301/33. Vgl. Fischer-Lescano/Tohidipur (Fn. 10). 26 Vgl. Aust, Helmut Philipp: Pirateriebekämpfung im Lichte von Grundgesetz und Völkerrecht auf dem verwaltungsgerichtlichen Prüfstand, in: DVBl 2012, 484 ff. 27 Vgl. http://www.msz-cuxhaven.de/MSZ-Info.pdf. 28 Vgl. http://www.msz-cuxhaven.de/MSZ-Info.pdf. 29 Vgl. Stober (Fn. 3). 30 Vgl. Kloepfer/Deye (Fn. 6), 1212. 31 Vgl. für das Katastrophenschutzrecht Cronenburg, Ulrich: Katastrophenschutz: Gesellschaftliche oder staatliche Aufgabe? – Hilfsorganisationen, Ehrenamtliche Helfer und Verhältnis zum Staat –, in: Kloepfer, Michael, Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, Baden-Baden 2008, S. 28; Kloepfer (Fn. 6), 1216. 32 Vgl. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland, 2. Auflage 2010, S. 27. 25

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cherungsaufgabe sowie Reibungsverluste kompetenzieller Art vermieden und Synergieeffekte geschaffen werden. IV. Infrastrukturrecht zur See als maritimes Sicherheitsrecht: Annäherungen Diesen Auftrag kann ggf. das Infrastrukturrecht nach dem Modell des Katastrophenschutzrechts33 wahrnehmen, kommt ihm doch bereits auf landseitiger Ebene die Aufgabe zu, Herausforderungen personeller, materieller und institutioneller Art aufeinander abzustimmen.34 Wären die terrestrischen Erfahrungswerte zumindest teilweise auf den Meeresbereich übertragbar, könnte die soeben beschriebene Harmonisierung die Möglichkeit eröffnen, bestehende – aber bislang unentdeckte – Potenziale aufzuspüren und zu nutzen. Durch die hiermit verbesserte Zusammenarbeit wären zum einen schnellere resp. kürzere Wege sichergestellt, zum anderen könnte vermeidbar sein, dass sich die jeweiligen Operateure bei Abwehrmaßnahmen gegenseitig behindern und damit wertvolle Zeit fruchtlos verstreicht. Auf gefährliche Situationen sollte dann besser und flexibler reagiert werden können. Dem Stufenmodell des Katastrophenschutzrechts folgend, stellt die Katastrophenvermeidung – in diesem Fall also die Vermeidung von Gefahren für die maritime Sicherheit – das vorrangige Ziel dar. Sie zielt darauf ab, Gefahren im Voraus zu erkennen und somit erst gar nicht zur Entstehung gelangen zu lassen.35 Für den hier fraglichen Bereich könnte dies durch die Inanspruchnahme maritimer Raumordnung als Kern des maritimen Infrastrukturrechts erreicht werden36. Fraglich ist jedoch, ob die Übertragung der terrestrisch gestalteten Infrastruktur auf den maritimen Bereich ohne weiteres möglich ist. Dafür ist zunächst zu klären, welche Bedeutung dem Begriff „Infrastrukturrecht“ zukommt. Es handelt sich um Querschnittsrecht, das bislang keinem einheitlichen Regelwerk entnommen werden kann.37 So existiert eine Vielzahl verschiedener Infrastrukturen. Im maritimen Bereich können sich infrastrukturelle Anforderungen beispielsweise für die Schifffahrtswege, Offshore-Windenergieanlagen nebst ange-

33

Dazu vor Fn. 6. Dazu etwa Erbguth, Wilfried: Nationales Infrastrukturrecht zur See, in: DVBl. 2009, 265 (265 f.). 35 Vgl. Kloepfer (Fn. 2), 169. 36 Zu dieser Rolle der Raumordnung Erbguth (Fn. 34), 265 ff. 37 Vgl. Erbguth, Wilfried: Maritimes Infrastrukturrecht im nationalen Recht, in: Ehlers, Peter/Erbguth, Wilfried, Infrastrukturrecht zur See: Neue Wege der Meeresordnung, Dokumentation des Rostocker Gesprächs zum Seerecht 2008, Baden-Baden 2009, S. 47 (48). 34

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bundener Leitungen sowie für die Öl- und Gasförderung ergeben.38 Die Aufzählung ist bei weitem nicht abschließend. Es verwundert daher nicht, dass sich die Suche nach einem einheitlichen Infrastruktur(rechts)begriff als wenig erfolgversprechend darstellt. Vielmehr kann auf eine Reihe unterschiedlicher Sichtweisen zurückgegriffen werden, das Phänomen (Recht der) „Infrastruktur“ je nach seiner Ausprägung einer Erklärung zuzuführen.39 Aus jenem Arsenal dürfte derjenige Vorschlag weiterführend sein, der von einer „wirtschaftlichen Infrastruktur“ unter Beachtung ihrer rechtlichen Strukturen ausgeht – handelt es sich doch bei der Frage maritimer Sicherheit im Wesentlichen um die Sicherung der wirtschaftlichen Nutzung des Meeresraumes.40 Unter wirtschaftlicher Infrastruktur werden dabei „alle von der öffentlichen Hand getragenen oder beeinflußten Maßnahmen zur Schaffung, Unterhaltung sowie zur bedarfsgerechten, dem technischen Fortschritt entsprechenden Weiterentwicklung von Einrichtungen umfaßt, die geeignet sind, gegenwärtig und künftig eine funktionierende, leistungs- und wettbewerbsfähige Wirtschaftstätigkeit zu gewährleisten“.41 Um die Teilfelder der maritimen Sicherheit untereinander in effizienter Weise zu koordinieren, bedarf es daher einer in diesem Sinne zu verstehenden Infrastruktur. Das „Ob“ einer maritimen Infrastruktur wird daher zu bejahen sein.42 Dann verbleibt allerdings die Frage nach dem „Wie“ einer solchen Infrastruktur. Der Fokus richtet sich also konkret auf bestehende oder zu schaffende Institute und Instrumente, die „dazu geeignet sind, gegenwärtig und künftig eine funktionierende, leistungs- und wettbewerbsfähige [mithin sichere] Wirtschaftstätigkeit zu gewährleisten“.43 1. Maritime Raumordnung Als eine solche Einrichtung rückt die Raumordnung in den Vordergrund, zumal sie auf terrestrischer Ebene im Zentrum infrastruktureller Aufgabenerledigung steht.44 Raumordnerisches Handeln könnte daher gleichermaßen das wesentliche Arsenal eines maritimen Infrastrukturrechts liefern, sofern sie sich auch zur See als ge38 Vgl. Wickel, Martin: Europäische Ansätze für ein maritimes Infrastrukturrecht, in: Ehlers, Peter/Erbguth, Wilfried, Infrastrukturrecht zur See: Neue Wege der Meeresordnung, Dokumentation des Rostocker Gesprächs zum Seerecht 2008, Baden-Baden 2009, S. 26 (27). 39 Vgl. zu den jeweiligen Infrastrukturbegriffen: Hermes, Georg: Staatliche Infrastrukturverantwortung: rechtliche Grundstrukturen netzgebundener Transport- und Übertragungssysteme zwischen Daseinsvorsorge und Wettbewerbsregulierung am Beispiel der leitungsgebundenen Energieversorgung in Europa, Tübingen 1998, S. 164 ff. 40 Dies gilt auch im Hinblick auf die von der maritimen Sicherheit erfasste Umweltsicherheit, da mit dem Erhalt einer guten Meeresumwelt unmittelbar Faktoren wirtschaftlicher Art, wie beispielsweise die Ausübung des Fischereigewerbes (sofern man diese nicht ihrerseits als Verschmutzungsfaktor ansieht), verbunden sind (vgl. dazu auch: http://www.mw.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=5592&article_id=15612&_psmand=18). 41 Vgl. Hermes (Fn. 39), 171. 42 Auch Erbguth (Fn. 34), 266. 43 Vgl. Hermes (Fn. 39), 171. 44 Vgl. Erbguth (Fn. 34).

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eignet erwiese, die konfligierenden Nutzungs- und Schutzinteressen gesamtplanerisch zu koordinieren. Das wäre anzunehmen, wenn man mit der Europäischen Kommission unter maritimer Raumordnung den „Prozess der Analyse sowie der räumlichen und zeitlichen Verteilung menschlicher Tätigkeiten in Meeresbereichen“ verstehen will, „den öffentliche Behörden zur Verwirklichung ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Zielsetzungen vornehmen“.45 Dieser Definition zufolge könnten u. a. Gefahrensituationen der beschriebenen Art einer Analyse zugeführt werden, um ihre zukünftige Vermeidung durch den Rückgriff auf die so gewonnenen Daten zu ermöglichen. Dementsprechend legt auch die sogenannte „Neue Strategie“ Gefahren- und Risikoanalysen als Ausgangspunkt einer funktionierenden Konzeption zum Schutz der Gesellschaft vor Gefahren fest.46 Grundvoraussetzung ist allerdings, dass das terrestrisch geprägte Instrumentarium der Raumordnung auch im maritimen Bereich eingesetzt werden kann. Aus rechtlicher Sicht wirkt sich insbesondere das SRÜ für die Einrichtung einer maritimen Raumordnung grenzziehend aus. Je nach betroffener Meereszone ergeben sich dabei unterschiedliche grundsätzliche rechtliche Vorgaben, die es auch mit Blick auf einen Einsatz der Raumordnung zu beachten gilt. Das SRÜ unterteilt die Meere insofern in „innere Gewässer“, das „Küstenmeer“, die „Anschlusszone“, die „Ausschließliche Wirtschaftszone“ (AWZ), den „Festlandsockel“ und die „Hohe See“.47 Im hier interessierenden Zusammenhang sind die Gebiete Küstenmeer und AWZ besonders relevant.48 a) Küstenmeer Das Küstenmeer, also die sogenannte 12-Seemeilen-Zone, unterfällt – in Abhängigkeit von ihrer Proklamation –49 als Hoheitsgebiet der staatlichen Souveränität.50 Danach findet in diesem Gebiet die nationale Rechtsordnung in vollem Umfang An-

45

771. 46

Vgl. Maritime Raumordnung in der EU – aktueller Stand und Ausblick, KOM (2010)

Vgl. Fn. 32, S. 46. Vgl. Keller, Maxi: Das Planungs- und Zulassungsregime für Offshore-Windenergieanlagen in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) – anhand völkerrechtlicher, gemeinschaftsrechtlicher und innerstaatlicher Vorgaben, Baden-Baden 2006, S. 38. 48 So auch Schubert, Mathias: Rechtliche Aspekte der maritimen Raumplanung unter besonderer Berücksichtigung der Fischerei, in: Lukowicz, Mathias/Hilge, Volker (Hrsg.), Marine Raumordnung – Interessenkonflikt mit der deutschen Fischerei oder Werkzeug für das Management, Arbeiten des deutschen Fischerei-Verbandes e.V., Heft 87, Hamburg 2009, S. 51 (57). 49 Die Proklamation erfolgte in der Bundesrepublik Deutschland für Nord- und Ostsee am 11. November 1994; vgl. Bekanntmachung der Proklamation der Bundesregierung über die Ausweitung des deutschen Küstenmeeres vom 11. November 1994 (BGBl. I S. 3428). 50 Vgl. Art. 2, 3 SRÜ. 47

370

Wilfried Erbguth

wendung.51 Das bedeutet, dass das Küstenmeer raumordnerischen Regelungen grundsätzlich zugänglich ist.52 Beschränkt wird diese Regelungsbefugnis lediglich durch das Recht der friedlichen Durchfahrt,53 welches jedoch seinerseits durch den Küstenstaat eingeschränkt werden kann (vgl. Art. 21 Abs. 1 SRÜ).54 Ferner kann der Küstenstaat von fremden Schiffen, die das Recht der friedlichen Durchfahrt in Anspruch nehmen, verlangen, dass sie die vorgesehenen Schifffahrtswege und Verkehrstrennungsgebiete nutzen.55 Unter diesen Aspekten ist der Rahmen einer maritimen Raumordnung im Küstenmeer in rechtlicher Hinsicht abgesteckt. Den Befund der Möglichkeit, Raumordnung im maritimen Bereich betreiben zu können, bestätigen dann auch die Küstenländer durch die Erstreckung ihrer Raumordnungspläne56 auf das Küstenmeer.57 Konkret bezogen auf ein maritimes Infrastrukturrecht, bereitet allerdings die Erkenntnis Schwierigkeiten, dass das terrestrisch geschaffene Infrastrukturrecht und das (Raum-)Planungssystem mit ihrer Unterscheidung zwischen Gesamtplanung und Fachplanung nicht auf den Meeresbereich zugeschnitten sind und folglich in vielerlei Hinsicht nicht „passen“.58 So können insbesondere die Bauleitplanung und fachplanerische Instrumente wegen der gebietsspezifischen Gegebenheiten auf See nicht oder nur schwer zur Anwendung gelangen:59 Mangels Inkommunalisierung des Küstenmeers wird der Einsatz der Bauleitplanung bereits am Fehlen der Gebietshoheit der Gemeinden scheitern; aber selbst bei deren Vorliegen wären Festsetzungen weder nach § 30 Abs. 1 BauGB noch nach § 30 Abs. 3 BauGB i. V. m. § 9 Abs. 1 BauGB möglich bzw. sinnvoll.60 Der Ausfall fachplanerischer Instrumente zeigt sich etwa am Beispiel immissionsschutzrechtlicher Pläne (z. B. Lärmminderungspläne nach §§ 47a ff. BImSchG), die sich explizit auf den für Menschen entstehenden Umgebungslärm beziehen, der sich jedoch 51 Vgl. Zimmermann, Andreas: Rechtliche Probleme bei der Errichtung seegestützter Windenergieanlagen, in: DÖV 2003, 133, (134). 52 Vgl. Schubert (Fn. 48), S. 59. 53 Vgl. Art. 17 ff. SRÜ. 54 Vgl. Art. 21 Abs. 1 SRÜ. 55 Vgl. Art. 22 Abs. 1 SRÜ. 56 Für Mecklenburg-Vorpommern: Landesraumentwicklungsprogramm MecklenburgVorpommern (LEP M-V) von 2005; für Niedersachsen: Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen (LROP) von 2008; für Schleswig-Holstein: Landesentwicklungsplan Schleswig-Holstein (LEP) von 2010; die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sind in die Aktivitäten der angrenzenden Küstenländer eingebunden. 57 Ausführlich dazu Erbguth, Wilfried/Schubert, Mathias: Arbeitskreis „Maritime Raumordnung“ der Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Maritime Raumordnung – Interessenlage, Rechtslage, Praxis, Fortentwicklung –, S. 90 ff. 58 Ausführlich dazu Erbguth (Fn. 34), 267 ff., der eine grundsätzliche Eignung der Raumordnung zur Koordinierung konfligierender Nutzungs- und Schutzinteressen anerkennt. 59 So Erbguth (Fn. 34), 267 f., mit Beispielen für einen Ausfall an Fach- und Bauleitplanung. 60 Vgl. Erbguth (Fn. 34), 268.

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auf dem Meer praktisch nicht ergibt.61 Nach alledem fehlt der Raumordnung als „Planung der Planungen“ u. a. der sie charakterisierende Unterbau.62 Gleichwohl agiert die maritime Raumordnung gesamtplanerisch, indem sie kollidierende Belange zu Wasser räumlich abstimmt. Deshalb ist ihr trotz jener Einschränkungen nicht die Geeignetheit abzusprechen, als Kernbestand eines Infrastrukturrechts zur See die maritime Sicherheit zu fördern.63 Festzuhalten bleibt daher, dass sich das seewärtige Infrastrukturrecht geeigneter Instrumente der terrestrisch geprägten Raumordnung bedienen kann; jene sind allerdings den besonderen Eigenarten des Nutzungsraumes „See“ anzupassen und dementsprechend fortzuschreiben. Dieser Befund zeigt bezeichnender Weise Parallelen zum Katastrophenschutzrecht auf, weil dieses ebenfalls auf das raumordnerische Grundinstrumentarium zurückgreifen kann, das freilich den besonderen Umständen des Katastrophenschutzes angepasst bzw. weiterentwickelt werden muss.64 b) AWZ Die deutsche AWZ65 wird ebenfalls zunehmend zu weiteren Zwecken als lediglich der Schifffahrt und Fischerei genutzt. Insbesondere treibt die Bundesregierung den Ausbau von Offshore-Windenergieanlagen zur Stromerzeugung voran. Um die verschiedenen Nutzungen auch in diesem Bereich koordinieren zu können und Risiken für die maritime Sicherheit – namentlich die Kollisionsgefahr – zu minimieren oder gar nicht zur Entstehung gelangen zu lassen, wird daher überprüfungsbedürftig, ob die Raumordnung auch in der AWZ Einsatz finden kann. Die Dinge stellen sich hier anders als im Küstenmeer dar: Die AWZ bildet den Bereich seewärts der 12-Seemeilen-Zone, welcher sich bis zu einer maximalen Breite von 200 Seemeilen von der Basislinie erstreckt.66 In jenem Gebiet sind der Bundesrepublik Deutschland wie anderen Küstenstaaten lediglich souveräne Rechte67 und Hoheitsbefugnisse68 eingeräumt, die wiederum durch die „Rechte und Pflichten anderer Staaten in der ausschließlichen Wirtschaftszone“ ein-

61

Vgl. wie vor. Vgl. wie vor, 267 ff. 63 Näher zu alldem Erbguth (Fn. 34). 64 Vgl. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland, 2. Aufl. 2010, S. 46. 65 Die Proklamation erfolgte in der Bundsrepublik für Nord- und Ostsee am 25. 11. 1995, vgl. Proklamation der Bundesrepublik Deutschland über die Errichtung einer ausschließlichen Wirtschaftszone der Bundesrepublik Deutschland in der Nordsee und in der Ostsee vom 25. November 1994 (BGBl. 1994 II S. 3770). 66 Vgl. Art. 55, 57 SRÜ. 67 Vgl. Art. 56 Abs. 1 lit. a SRÜ. 68 Vgl. Art. 56 Abs. 1 lit. b SRÜ. 62

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geschränkt werden.69 Durch die ausschließliche Zuweisung der in Art. 56 Abs. 1 SRÜ vorgehaltenen Nutzungsrechte an den jeweiligen Küstenstaat trifft dieser die Entscheidung über das „Ob“ und das „Wie“ derer Inanspruchnahme.70 Die Planungskompetenz folgt hierbei der Sachkompetenz, sodass die Befugnis des Küstenstaates zur sektoralen Planung gegeben ist.71 In gesamtplanerischer Hinsicht ist eine solche zwar nicht ausdrücklich geregelt;72 sie lässt sich jedoch dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Effektivitätsgrundsatz sowie dem Grundsatz der necessary implication entnehmen.73 Nach alledem kann von einer Einsatzmöglichkeit maritimer Raumordnung (beschränkt auf die Koordinierung der zugewiesenen souveränen Rechte und Hoheitsbefugnisse) auch in der deutschen AWZ ausgegangen werden. Dergestalt hat Deutschland erstmals im Jahre 2009 Raumordnungspläne für seine AWZ in Nord- und Ostsee aufgestellt.74 Wie im Bereich des Küstenmeeres kommt es allerdings auch in der (deutschen) AWZ zu einem Ausfall der Fach- sowie der Bauleitplanung,75 sodass auch in diesem Zusammenhang ggf. ein Fortschreibungsbedarf besteht. Auf die Erörterung zum Küstenmeer sei verwiesen.76 c) Europarechtliche Umsetzung einer maritimen Raumordnung Wie bedeutet, kann eine effektive maritime Sicherheit nur dann funktionieren, wenn die verschiedenen Ebenen Hand in Hand arbeiten.77 Ein weiterer Schritt ist es daher zu beleuchten, ob maritime Raumordnung auch auf europäischer Ebene betrieben wird bzw. werden kann. Die Notwendigkeit eines maritimen Infrastrukturrechts bestätigend, sind seit geraumer Zeit Aktivitäten der EU zur Etablierung eines europaweiten Raumordnungsrechts zur See zu verzeichnen. Das gilt vorliegend insbesondere für das „Grünbuch“ zur künftigen Meerespolitik der EU (2007)78, welches durch das „Blaubuch“79 fort69

Vgl. Art. 58 Abs. 1 iVm Art. 87 SRÜ. Vgl. Erbguth, Wilfried/Mahlburg, Stefan: Steuerung von Offshore-Windenergieanlagen in der Ausschließlichen Wirtschaftszone – Raumordnerische Handlungsmöglichkeiten des Bundes und der Länder, in: DÖV 2003, 665. 71 Vgl. Erbguth, Wilfried/Müller, Chris: Raumordnung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone?, in: DVBl 2003, 625 (627). 72 Vgl. wie vor 627 f. 73 Ausführlich dazu Schubert (Fn. 48), 62 ff. 74 Ausführlich dazu Erbguth, Wilfried: Raumordnungspläne für die deutsche Ausschließliche Wirtschaftszone – Inhalte und rechtliche Beurteilung –, in: UPR 2011, 207 ff. 75 Vgl. Erbguth (Fn. 34), 272. 76 s. o. unter IV. 1., a). 77 s. o. unter III. 4. 78 Eine europäische Vision für Ozeane und Meere, KOM (2006) 275 endg. 79 Eine integrierte Meerespolitik für die Europäische Union, KOM (2007), 575 endg. 70

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geschrieben worden ist, das wiederum im Jahre 2008 durch den „Fahrplan für die maritime Raumordnung“80 ergänzt wurde und ab 2009 durch Jahresberichte konkretisiert und aktualisiert wird.81 An anderer Stelle82 ist dargelegt worden, dass der EU für eine maritime Raumordnung auch nach dem Vertrag von Lissabon keine Regelungsbefugnisse zustehen.83 Insbesondere ergibt sich wegen des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung keine EU-Kompetenz aus dem neu eingeführten Ziel des „territorialen Zusammenhaltes“.84 Auch aus den in Titel XVIII AEUV formulierten Zielen einer gemeinsamen Struktur- und Regionalpolitik, die nunmehr auch auf den territorialen Zusammenhalt ausgerichtet sind, folgt keine Kompetenzerweiterung.85 Die Europäische Kommission ihrerseits geht in diesem Sinne von einer Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Bereich gesamträumlicher Planung aus.86 Trotz Fehlens einer diesbezüglichen Kompetenz ist allerdings damit zu rechnen, dass die EU eine Richtlinie (jedenfalls) zur Vereinheitlichung der maritimen raumordnungsrechtlichen Lage in den Mitgliedstaaten erlassen wird.87 Hier gilt es, die oben behandelten Problemstellungen aufzugreifen und das Regelwerk des terrestrisch geprägten Raumordnungsrechts mit den Besonderheiten des Meeresraumes in Einklang zu bringen. Dazu sollten die Inanspruchnahme informeller, sichernder und flankierender Instrumente, eine Erweiterung der Öffentlichkeitsbeteiligung unter gleichzeitiger grenzüberschreitender Beteiligung, ferner Instrumente wie das Monitoring sowie die Mediation bedacht werden.88 Dabei ergibt sich insofern eine zusätzliche Parallele zum Katastrophenrecht, als auch hier eine rechtzeitige und zutreffende Information unverzichtbar ist, um einen effektiven Katastrophenschutz gewährleisten zu können.89

80 Mitteilung der Kommission – Fahrplan für die maritime Raumordnung: Ausarbeitung gemeinsamer Grundsätze in der EU, KOM (2008) 791 endg. 81 Vgl. zu alledem Erbguth, Wilfried: Maritime Raumordnung – Entwicklung der internationalen, supranationalen und nationalen Rechtsgrundlagen –, in: DÖV 2011, 373 (376). 82 Vgl. Erbguth, Wilfried/Schubert, Mathias: Europäisches Raumordnungsrecht: Neue Regelungskompetenzen der EU im Gefolge des Vertrages von Lissabon?, in: AöR 2012, 72 ff. 83 Umstr.; a. A. Ritter, Ernst-Hasso: Europäische Raumentwicklungspolitik – Inhalte, Akteure, Verfahren, Detmold 2009, S. 24 ff. 84 Näher dazu Erbguth (Fn. 81), 377. 85 Vgl. wie vor. 86 Vgl. Fn. 45. 87 Dazu Erbguth, Wilfried: Europarechtliche Vorgaben für eine maritime Raumordnung: Empfehlungen, in: NUR 2012, 85 (86). 88 Vgl. wie vor 90 f. 89 Vgl. Kloepfer (Fn. 1), 13.

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2. Zu den Möglichkeiten maritimer Raumordnung, konkret maritime Sicherheit zu gewährleisten Im Näheren bleibt jedoch überprüfungsbedürftig, inwieweit ein solches maritimes Raumordnungsrecht als Kern des Infrastrukturrechts konkret geeignet ist, die Entstehung von (potentiellen) Gefahren für die maritime Sicherheit im Bezug auf kriminelle Handlungen und Schiffsunfälle aufzuspüren, zu beseitigen bzw. zu reduzieren. Bereits aus dem Raumordnungsgesetz90 geht hervor, dass die Hauptaufgabe der Raumordnung darin besteht, „unterschiedliche Anforderungen an den Raum aufeinander abzustimmen“ und „Konflikte auszugleichen“ sowie „Vorsorge für einzelne Nutzungen und Funktionen des Raumes [zu] treffen“ und somit die Gestaltung, Ordnung und Sicherung des Raumes zu gewährleisten.91 Leitvorstellung bei der Erfüllung dieser Aufgaben ist gemäß § 1 Abs. 2 ROG „eine nachhaltige Raumentwicklung, die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen führt“. Danach ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Raumordnung aufgrund ihres Koordinierungsauftrags und der Bindung an die Nachhaltigkeit in räumlicher Hinsicht grundsätzlich zur Erreichung der beschriebenen Aufgabe und Leitvorstellung geeignet ist. Im Näheren können etwa auf der Grundlage des § 2 Abs. 2 Nr. 3 S. 4, 6 ROG durch räumliche Trennung potentiell gefährlicher Nutzungen oder „sichere Wegeführung“ kritischer Infrastrukturen diese und die Verkehrssicherheit vorausschauend geschützt werden; solcherart lassen sich Konflikte frühzeitig erkennen und strategischen Lösungen zuführen92. Insbesondere dürfte die Raumordnung zu einer Optimierung der Schiffssicherheit führen. Das Kollisionsrisiko, welches durch die verschiedenen Meeresnutzungen, namentlich den Ausbau von Offshore-Windenergieanlagen, die Trassensicherung für die Anbindung an das landseitige Stromnetz, den Meeresbergbau sowie den Tourismus hervorgerufen wird, kann unter Separierung von Schutzgütern einerseits und Risikopotenzialen andererseits mittels der Festlegung von Gebietskategorien im Sinne des § 8 Abs. 7 ROG minimiert werden. Durch ein Monitoring lässt sich ferner die räumliche Risikoausbreitung dokumentieren, sodass zum einen Gesamtanalysen der Risikobehaftung eines Raumes erstellt werden können und zum anderen die Möglichkeit eröffnet wäre, auf gerade diese Analysen flexibel zu reagieren. Mit Hilfe der Risikoanalysen wäre es folglich möglich, eine an den tatsächlichen Bedürf-

90 Raumordnungsgesetz vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2986), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 31. Juli 2009 (BGBl. I S. 2585). 91 Vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 ROG. 92 Vgl. Proelß (Fn. 14), S. 14.

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nissen und Notwendigkeiten ausgerichtete Planung des Gefahrenmanagements durchzuführen.93 Auch kann durch Raumordnung eine Erforschung der räumlichen Gegebenheiten des küstenfernen Schiffsverkehrs veranlasst werden94, dies gerade im supra- und internationalen Kontext. Das wiederum trägt wesentlich zur schnelleren Aufklärung krimineller Handlungen wie der illegalen Ölverklappung oder etwaiger Piraterie bei. Insgesamt sichert raumordnerisches Handeln eine umfassende Interessenabwägung zwischen den vorstehend genannten Nutzungen, die es erleichtern kann, bestehende – und zum Teil unentdeckte – Risiken für die maritime Sicherheit (z. B. Kollisions- und damit einhergehende Umweltrisiken) aufzudecken. Auch kann Raumordnung dazu beitragen, die Planungssicherheit von Unternehmen zu verbessern, die in Technologien für eine optimierte maritime Sicherheit investieren.95 Endlich dient sie aber auch der besseren Entscheidungsfindung,96 sodass künftige Gefährdungsszenarien in räumlicher Hinsicht frühzeitig erfasst werden können. Nach alledem kann der Einsatz maritimer Raumordnung dem Entstehen von Sicherheitsproblemen, seien sie terroristischer, seien sie unfalltechnischer Art u. ä., in räumlicher Hinsicht ganz wesentlich vorbeugen. 3. Verhältnis maritimer Raumordnung zum übrigen maritimen Sicherheitsrecht Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass das maritime Sicherheitsrecht, bestehend aus völkerrechtlichen, supranationalen und nationalen Vorschriften, den Rahmen für das raumordnerische Instrumentarium absteckt und dessen Fortschreibung nahe legt.97 Gleichzeitig dient das rechtliche Rahmenwerk der Gefahrenbekämpfung sowie -nachsorge und füllt folglich die beiden letzten Ebenen des Stufenmodells98 aus. Primäres Ziel des Katastrophenrechts/maritimen Sicherheitsrechts stellt jedoch die Gefahrenvermeidung bzw. -vorsorge dar. Maritime Raumordnung kann nach dem Erörterten hierzu wesentlich beitragen; ihr dürfte im sicherheitsrechtlichen Regelungsgeflecht die zentrale planerisch-vorsorgende Rolle zukommen.

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So ausdrücklich für den Katastrophenschutz Fn. 32, 52. Dahlke, Christian: Maritime Raumordnung – Werkzeug für die Lösung von Nutzungskonflikten auf dem Meer?, in: Lukowicz, Mathias/Hilge, Volker (Hrsg.), Marine Raumordnung – Interessenkonflikt mit der deutschen Fischerei oder Werkzeug für das Management, Arbeiten des deutschen Fischerei-Verbandes e.V., Heft 87, Hamburg 2009, S. 41 (48). 95 Ähnlich dazu Fn. 45. 96 Vgl. Fn. 80. 97 Hier sei insbesondere auf die Entwicklungen auf EU-Ebene verwiesen, s. o. unter IV. 1. c). 98 Entwickelt im Katastrophenrecht, vgl. vor Fn. 6. 94

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V. Zusammenfassung und Ausblick Katastrophenschutzrecht sowie maritimes Sicherheitsrecht stellen jeweils eine Mehrebenenaufgabe dar, die einen erhöhten Koordinierungsaufwand erfordert. Das Katastrophenschutzrecht bedient sich dabei eines Stufenmodells, welches sich aus Katastrophenvermeidung, -vorsorge, -bekämpfung und -nachsorge zusammensetzt. Besagtes Modell kann auf den maritimen Bereich übertragen werden. So ließe sich ein maritimes Sicherheitsinfrastrukturrecht entwickeln, welches auf den beschriebenen vier Elementen basiert, wobei das Hauptaugenmerk auf dem primären Ziel ruht, die jeweiligen Gefahren erst gar nicht zur Entstehung gelangen zu lassen. Im Mittelpunkt steht daher die Vermeidung von Gefahren als erste Stufe des Modells. Die Überlegungen haben sich dementsprechend mit der Frage auseinandergesetzt, wie eine Gefahrenprävention im Meeresbereich ausgestaltet werden kann. Da das Raumordnungsrecht diese Aufgabe in wesentlichen Teilen bereits zu Land wahrnimmt, kann es auch als Kern eines maritimen Infrastrukturrechts begriffen werden. Allerdings bedarf es über die Ansätze des zuvor Behandelten hinaus der näheren Untersuchung, inwieweit das raumordnerische Handlungsarsenal zur Gefahrenvorsorge im maritimen Bereich konkret Aussagen treffen kann, ob es der Fortentwicklung bedarf – oder ob sich darüber hinaus die Einführung neuer Agenden vonnöten erweist.

Aktuelle Probleme des Umweltrechtsschutzes Von Claudio Franzius I. Einführung Das Umweltrecht, so haben wir von Michael Kloepfer gelernt, ist ein Laboratorium der Gesamtrechtsordnung.1 Es war das Umweltrecht, von dem aus der Steuerungsgedanke die Verwaltungsrechtswissenschaft mit dem Plädoyer erfasste, das Verwaltungsrecht insgesamt stärker auf seine Steuerungsleistungen auszurichten.2 Diese Perspektivenverschiebung war richtig, mag das Steuerungsparadigma heute auch vor neue Herausforderungen durch Governance-Konzepte3 gestellt sein, die vom Wirtschafts- und Regulierungsrecht auf das Umweltrecht zurückwirken. Im Umweltrecht begegnen uns aber auch ältere Rechtsschutzfragen im neuen Gewand. Das zeigen die Auseinandersetzungen um die völker- und unionsrechtlich determinierte Umweltverbandsklage nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz.4 Kloepfer hat sich frühzeitig mit dem Umweltrechtsschutz beschäftigt und dabei Wegmarken gesetzt.5 Was hat sich seit dieser „Entdeckerzeit“ verändert? Drei Großbaustellen können ausgemacht werden: Eine übergreifende, wenngleich nicht neue, aber durch das internationale und europäische Umweltrecht wieder in den Vordergrund gerückte Frage lautet, inwieweit der subjektive Rechtsschutz der Ergänzung durch Formen objektiver Rechtskontrolle bedarf (II.). Daran schließen sich Fragen nach einer Stärkung des Verfahrensrechtsschutzes und einer Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte an (III.). Ob eine Vorverlagerung des Rechtsschutzes in 1

Kloepfer, Zur Rechtsumbildung durch Umweltschutz, 1989, 51. Übersicht: Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 1. 3 Vgl. Trute, Die konstitutive Rolle der Rechtsanwendung, in: ders./Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 211 (222 ff.); Franzius, VerwArch 97 (2006), 186 (187 ff.). 4 Das „Trianel“ Urteil des EuGH, Rs. C-115/09 BUND/Bezirksregierung Arnsberg, Slg. 2011, I-0000 hat eine Novellierung des UmwRG notwendig gemacht, die am 29. 1. 2013 in Kraft getreten ist, BGBl I S. 95. Der Reformgesetzgeber beschränkt sich nicht auf das unionsrechtlich geforderte, sondern zielt mit der neuen Regelung in § 4a UmwRG auch auf prozessuales Sonderrecht. Zur Novelle Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 52 ff. 5 Kloepfer, VerwArch 76 (1985), 371; VerwArch 77 (1986), 30. Überblick: Sparwasser, Gerichtlicher Rechtsschutz im Umweltrecht, in: Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, 1017. 2

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der „Planungskaskade“ erforderlich ist, wird von der Praxis abhängen, vor allem in der Anwendung des neuen Planungsregimes für länderübergreifende Energieleitungen (IV.). In einem frühen Planungsstadium werden individuelle Rechte nur schwer zu identifizieren sein, was gerichtliche Kontrollen nicht prinzipiell ausschließt. Davon sollte man sich aber nicht zu viel versprechen (V.). II. Objektivierung der Rechtskontrolle? 1. Systementscheidung zugunsten des Individualrechtsschutzes Gebietet ein effektiver Umweltrechtsschutz die Stärkung der Umweltverbandsklage? In Deutschland folgt der Verwaltungsrechtsschutz der Systementscheidung für den Individualrechtsschutz.6 Maßgeblich ist das Vorliegen eines subjektiv-öffentlichen Rechts, das dem Einzelnen die Rechtsmacht verleiht, mit Hilfe der Rechtsordnung „eigene Interessen“ zu verfolgen.7 Der Zugang zum Gericht knüpft an die eigene Rechtsverletzung an. Deshalb lassen sich weite Teile des Umweltrechts wie das überwiegend objektive Naturschutzrecht nicht vor Gericht bringen. Verstöße gegen objektives Umweltrecht können nur geltend gemacht werden, wenn Einzelnen oder anerkannten Vereinigungen eine entsprechende Klageberechtigung ausdrücklich zugewiesen ist. Der Verwaltungsprozess ist vom Modell der Verletztenklage geprägt. Ausgeschlossen ist nicht nur die Popularklage, sondern auch die Interessentenklage.8 Obwohl der Zusammenhang zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle9 seit langer Zeit bekannt ist, fällt es der Praxis mit der Schutznorm-

6 Vgl. Schoch, NVwZ 1999, 457; Wahl, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, vor § 42 Abs. 2 Rn. 11 ff.; ders./Schütz, ebd., § 42 Abs. 2 Rn. 37 – 42, 150 – 249. 7 Statt vieler Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 69 ff.; krit. Scherzberg, in: Ehlers/Erichsen (Hrsg.), Allg. VerwR, 14. Aufl. 2010, § 12 Rn. 3 ff. Heute wird nicht mehr auf die Rechtsmacht, sondern auf den Normzweck abgestellt. 8 Vgl. Skouris, Verletzten- und Interessentenklage im Verwaltungsprozess, 1979; Wegener, Die Rechte des Einzelnen, 1998, 17 ff.; Reiling, Zu individuellen Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2004, 104 ff. Dass das Unionsrecht dem (französischen) Modell der Interessentenklage folge, ist so pauschal nicht richtig, vgl. Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 (341 ff.). Dennoch fordert der unionsrechtliche Umbau des nationalen Prozessrechts das Modell des Individualrechtsschutzes heraus vgl. aus unterschiedlicher Richtung Leidinger, NVwZ 2011, 1345; Berkemann, DVBl 2011, 1253 (1257 ff.); offener Ziekow, NVwZ 2010, 793. 9 Vgl. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, 176; Krebs, Subjektiver Rechtsschutz und objektive Rechtskontrolle, in: FS Menger, 1985, 191; Krüper, Gemeinwohl im Prozess, 2009, 224 („wechselbezügliches Verhältnis der Konfluenz“); Groß, Die Verwaltung 43 (2010), 349 (372), wonach das Verhältnis beider Funktionen immer wieder Wandlungen unterlag und durch kein unabänderliches Dogma vorgegeben, sondern Gegenstand politischer Gestaltung sei.

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lehre trotz aller Anpassungen und Flexibilitätsreserven10 schwer, diese Wechselbezüglichkeit überzeugend auszuformen. Die Klagebefugnis als gesetzliches Regulativ des gerichtlichen Kontrollzugangs11 gebietet keine umfassende Subjektivierung des Rechtsschutzes (b). Sie verlangt aber ein Überdenken der Möglichkeiten, die Formen überindividuellen Rechtsschutzes mit den partiellen Objektivierungen der Rechtskontrolle im System des Individualrechtsschutzes zu verarbeiten (c). 2. Peter Janecek und der Anspruch auf Luftreinhalteplanung Zum einen erfasst die Subjektivierung des Rechtsschutzes vermehrt Planungsentscheidungen, wie es in der Janecek-Entscheidung des EuGH zur Anfechtbarkeit von Luftaktionsplänen zum Ausdruck gekommen ist.12 Die Implementierung des europäischen Luftreinhalterechts zur Bekämpfung der Feinstaubbelastung stellte die Behörden und Gerichte in Deutschland vor große Herausforderungen.13 Schon die Rechtsnatur der Luftreinhalte- oder Aktionspläne war und ist umstritten. Ein Dritter, der von gesundheitsrelevanten Überschreitungen der Grenzwerte betroffen ist, könne sein Recht auf Abwehr gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch Feinstaub nur im Wege planunabhängiger Maßnahmen durchsetzen. Einen Anspruch auf Erstellung eines Aktionsplans nach § 47 Abs. 2 BImSchG a.F. lehnte das BVerwG ab.14 Auf die Vorlage des 7. Senats, ob sich eine drittschützende Ausgestaltung der behördlichen Planerstellungspflicht aus Art. 7 Abs. 3 Luftqualitäts-Rahmenrichtlinie ergebe, erklärte der EuGH einen Anspruch des Einzelnen auf Planerstellung für unionsrechtlich geboten. Danach sind Drittbetroffene nicht auf verkehrsbeschränkende Einzelmaßnahmen zu verweisen, sondern können einen Aktionsplan mit der Leistungsklage einklagen. Es handelt sich um ein Musterbeispiel für die viel beschworene Mobilisierung des Bürgers15 zur Durchsetzung des europäischen Umweltrechts.

10 Siehe etwa Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005. 11 So der Titel bei Groß, Die Verwaltung 43 (2010), 349. 12 EuGH Rs. C-237/07 Janecek, Slg. 2008, I-6221 Rn. 39 ff.; anders die Feinstaubentscheidungen des BVerwG, BVerwGE 128, 278; 129, 296; dazu Faßbender, EuR 2009, 400; R. Breuer, Klagbare Ansprüche auf Planung – Königsweg oder Holzweg des Rechtsschutzes? in: FS Sellner, 2010, 493. 13 Calliess, NVwZ 2006, 1; Kloepfer, Die Feinstaubproblematik im System des neuen Luftreinhalterechts, in: FS Rehbinder, 2007, 379; G. Kirchhof, AöR 135 (2010), 29. 14 BVerwG, Beschl. v. 29. 3. 2007, JZ 2007, 1097 (1099 ff.). 15 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers zur Durchsetzung des Rechts, 1997; Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR III, 2009, § 50 Rn. 149 ff.; krit. Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 (354 f.), der die Ausweitung des Kreises der Träger subjektiver Rechtspositionen eher als Folge des individualistischen Ansatzes sieht, den der EuGH mit Blick auf die Stellung des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt vertritt.

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Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Es kommt zwar selten vor, dass die europäischen Gesetzgeber die Rechtsprechung des EuGH korrigieren. Doch hier haben wir ein solches Beispiel mit der Einführung einer Ermessensvorschrift in Art. 24 Luftqualitätsrichtlinie, umgesetzt durch § 47 Abs. 2 BImSchG n.F. und § 28 Abs. 1 der 39. BImSchV. Besteht die Gefahr einer Überschreitung der festgelegten Feinstaubgrenzwerte (PM 10 und PM 2,5), kann die Behörde einen Plan für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen aufstellen. Das muss jedoch zur Bewältigung der Feinstaubbelastung nicht mehr geschehen. Anders liegt es bei der Grenzwertüberschreitung für Schwefeldioxid und Stickstoffdioxid, wo der Anspruch auf Planung bestehen bleibt. Die Änderung der Richtlinie für die Luftqualitätspolitik mag den besonderen Implementationsschwierigkeiten der mitgliedstaatlichen Behörden geschuldet sein.16 Es bedeutet für die Aktionspläne zur Verbesserung der Einhaltung der Feinstaubgrenzwerte jedoch den Verlust des subjektiven Rechts. Was nach deutschem Recht nicht bestanden hat und bestehen konnte, wird jetzt auch nach Unionsrecht nicht mehr gefordert. Denn der Einzelne kann sich auf die Bestimmungen der Richtlinie nur berufen, wenn diese unbedingt und hinreichend genau sind. Das ist bei zwingenden Rechtsvorschriften der Fall, nicht aber bei solchen, die Behörden ein Ermessen einräumen. Selbst eine subjektiv-rechtliche Aufladung eines Anspruchs auf fehlerfreie Ermessensausübung könnte ausscheiden, mag eine Ermessensreduzierung auf Null auch denkbar bleiben.17 Was lernen wir daraus? Nun, dass die Europäisierung des nationalen Prozessrechts nicht eindimensional in eine Richtung verläuft.18 Was die Gerichte geben, können die Gesetzgeber wieder nehmen. Für den „implementationssensiblen“ Feinstaub bewirkte die Änderung der europäischen Luftqualitätspolitik eine Entsubjektivierung bzw. Deaktivierung des Bürgers.19 3. Trianel-Entscheidung und Umweltverbandsklage Auf der anderen Seite stellt die unions- und völkerrechtliche angestoßene Objektivierung der Rechtskontrolle mit der Umweltverbandsklage20 eine Herausforderung für den subjektiven Rechtsschutz im deutschen Verwaltungsprozessrecht dar. Bewirkte die Janecek-Entscheidung ein dogmatisches Überdenken der Vorstellung, es könne kein subjektiv-öffentliches Recht auf Planung geben, so stellt sich in der

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Vgl. Cancik, ZUR 2011, 283 (285, 294 f.). Kahl, JZ 2010, 718 (719); Koch/Braun, NVwZ 2010, 1199 (1205); Köck, in: Giesberts/ Reinhardt (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar Umweltrecht, BImSchG, § 47 Rn. 22; skeptisch Sparwasser/Engel, NVwZ 2010, 1513 (1519 f.). 18 Allg. Wahl, JZ 2012, 861. 19 Sparwasser/Engel, NVwZ 2010, 1513 (1519). 20 Vgl. Koch, NVwZ 2007, 369; Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR III, 2009, § 50 Rn. 7, 174 ff. 17

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Konstellation der Verbandsklage, wie sie der Trianel-Entscheidung21 zugrundeliegt, die noch nicht als erledigt zu betrachtende „Systemfrage“ nach den subjektiv-rechtlichen Grenzen objektiver Rechtskontrolle. Dass die vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion einer „schutznormakzessorischen“ Klage22 in § 2 Abs. 1 UmwRG a.F. unter der Voraussetzung, dass Rechtsvorschriften gerügt werden, die Rechte einzelner begründen, den Vorgaben der Gewährleistung eines „weiten Zugangs zu den Gerichten“ nach Art. 11 UVP-RL widerspricht, war eine im Schrifttum schon länger verbreitete Auffassung.23 Dasselbe gilt für den entsprechend beschränkten Kontrollmaßstab und -umfang, wie es § 2 Abs. 5 UmwRG a.F. für die Begründetheit der Klage vorsah. Nach der Trianel-Entscheidung des EuGH darf die Rüge von Verstößen gegen Vorschriften des Umweltrechts, die aus dem Unionsrecht hervorgegangen sind, nicht auf Vorschriften beschränkt werden, die Rechte einzelner begründen. Ist eine UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen, muss Umweltverbänden ein eigenes Klagerecht eingeräumt sein. Insoweit konnten sich staatlich anerkannte Umweltverbände (§ 3 UmwRG) zur Begründung ihrer Klagebefugnis mit Blick auf die Einhaltung des unionsrechtlich determinierten Umweltrechts unmittelbar auf die gleichlautenden Regelungen in Art. 11 UVP-RL (ex Art. 10a) und Art. 25 IE-RL (ex Art. 15a IVURL) berufen.24 Das reformierte Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz25 sieht den Wegfall der Beschränkung auf grundsätzlich drittschützende Vorschriften vor. Abgrenzungsprobleme werden dadurch vermieden, dass auch (allein) nationales Umweltrecht zu den rügefähigen Gegenständen der Umweltverbandsklage erklärt wird.26 Zwar scheint sich aus 21 EuGH Rs. C-115/09 BUND/Bezirksregierung Arnsberg, Slg. 2011, I-0000 Rn. 45 ff. Zu den Folgen Berkemann, DVBl 2011, 1253. 22 Begriff: Ziekow, NVwZ 2007, 259 (261). 23 Calliess, NuR 2006, 601 (613); Ziekow, NVwZ 2007, 259 (260); Schmidt/Kremer, ZUR 2007, 57 (61); Schlacke, NuR 2007, 267 (272 f.); Koch, NVwZ 2007, 369 (376 ff.); Wegener, UTR 98 (2008), 319 (339 ff.); Fischer-Lescano, JZ 2008, 373 (378 ff.); Franzius, NuR 2009, 384 (386); Berkemann, NordÖR 2009, 336 (338); Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR III, 2009, § 50 Rn. 181; Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010, 277 f.; anders v. Danwitz, NVwZ 2004, 272 ff. 24 VGH BW, Urt. v. 20. 7. 2011, ZUR 2011, 600 (601 ff.); BVerwG, Urt. v. 29. 9. 2011, ZUR 2012, 187 (188 ff.); Urt. v. 20. 12. 2011, NVwZ 2012, 573. Auch das OVG NW hat im Ausgangsfall zum Trianel-Kraftwerk § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG unangewendet gelassen und die Rüge nach Vorschriften, die keine subjektiven Rechte Einzelner begründen, zugelassen, vgl. OVG NW, Urt. v. 1. 12. 2011, NWVBl 2012, 181; dazu Durner/Paus, NuR 2012, 325; Enderle/ Thaysen, UPR 2012, 173. 25 Art. 1 des Gesetzes zur Änderung der Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften v. 21. 1. 2013. Überblick zu den Änderungen: Michler, NuR 2013, 22. 26 Durner/Paus, DVBl 2011, 759 (763); Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 61; weitergehend Wegener, ZUR 2011, 363 (366); Bunge, NuR 2011, 605 (613).

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kompetenzrechtlichen Gründen das reformauslösende Trianel-Urteil nur auf europäisches Umweltrecht zu beziehen.27 Eine solche Beschränkung enthält Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention jedoch nicht. Aus diesem Grund erstreckt § 2 Abs. 1 UmwRG n.F. die rügefähigen Normen auch auf solche Normen, für die – wie beim Vorsorgegrundsatz nach § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BImSchG – umstritten ist, inwieweit sie aus dem Unionsrecht hervorgegangen sind. Das löst nicht alle Abgrenzungsprobleme, da in der Praxis – zum Beispiel mit Normen des Baurechts – häufig Vorschriften in Frage stehen, die nur mittelbar dem Umweltschutz dienen.28 Insoweit setzt sich die Sektoralisierung des internationalen Umweltrechts auf der nationalen Ebene fort. Stützt sich der Gesetzgeber wie bei der naturschutzrechtlichen Vereinsklage nach § 64 BNatSchG auf die Ausnahmeregelung des § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO, provoziert dies den Vorwurf einer Schieflage29 und erschwert die Integration in die prozessuale Regel subjektiver Rechte, wie sie gemäß § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO von den Verwaltungsgerichten in Deutschland praktiziert wird.30 Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit. Rechtspolitisch wird zwar darüber nachgedacht, den überindividuellen Rechtsschutz im Umweltrecht – oder im Rahmen der Verwaltungsgerichtsordnung31 – zu stärken.32 Das setzt indes ein gesetzgeberisches Tätigwerden mit der Schaffung weiterer Ausnahmetatbestände im Sinne des § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO voraus. Ein Sonderregime für den Umweltrechtsschutz mit den Umweltverbänden als „Anwälten der Natur“33 mag begrüßt werden, zumal empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbandsklagen zu keiner inakzeptablen 27 Ob der Vergleich mit Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention, der zwar auch nationales Umweltrecht erfasst, aber keine Aufnahme im Unionsrecht gefunden hat, diese Auslegung gebietet, ist umstritten; wie hier Schwerdtfeger, EuR 2012, 80 (85 f.); anders Wegener, ZUR 2011, 363 (366) mit einer Bindung aus Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention auch für nationales Recht. 28 Darauf wird die Begründetheitsprüfung beschränkt, vgl. VGH BW, Urt. v. 20. 7. 2011, ZUR 2011, 600. Allerdings ist die Voraussetzung, dass die in Frage stehende Vorschrift dem Umweltschutz dient, weit zu verstehen. Einen Umweltbezug wird man auch nach der AarhusKonvention fordern müssen. Anders wäre es, man würde sich aus eigenem Antrieb zu einer „großen“ Lösung im Rahmen der VwGO entschließen. Dem will der Gesetzgeber – bislang – nicht nachkommen. 29 Leidinger, NVwZ 2011, 1345; abl. Groß, JURA 2012, 386; Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Art. 2 UmwRG Rn. 2. 30 Sieht man in der „Privilegierung“ von Nichtregierungsorganisationen ein Problem, so lasse sich dieses „nicht durch eine hinter die Richtlinienvorgaben zurückbleibende Ausgestaltung der Vereinsklage, sondern nur durch die Beseitigung der Schlechterstellung der Individualkläger“ lösen: Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 8 Rn. 183. 31 Z.B. über einen § 42a VwGO, vgl. Schlacke, NVwZ 2011, 804 (805). Für rechtspolitisch diskussionswürdig hält eine solche „große“ Lösung Gärditz, ZfU 2012, 249 (254). 32 Vgl. Wegener, Rechte des Einzelnen (Fn. 8), 295 f. Dafür spricht, dass sich überindividuelle Rechtsbehelfe auch in anderen Rechtsgebieten finden, etwa im Sozial- und Verbraucherschutzrecht, vgl. Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, 2008, 129 ff., 336 ff. 33 BVerwGE 92, 258 (262); Ziekow/Siegel, Anerkannte Naturschutzverbände als Anwälte der Natur, 2000; Fischer-Lescano, JZ 2008, 373 (377): „Advokatorische Verbandsklage“.

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Verzögerung der Zulassung von Industrieanlagen führen, vielmehr eine relativ hohe Erfolgsquote aufweisen und die Behörden anhalten, auch nicht drittschützende Vorschriften mit der gebotenen Sorgfalt anzuwenden.34 Die prozessuale Sonderstellung der Umweltverbände stellt den Individualrechtsschutz nicht in Frage, sondern hilft die Lücken zu schließen, die bei der Durchsetzung des Umweltrechts durch die subjektiv-rechtlichen Beschränkungen der Individualklage entstehen.35 Indem das objektive Umweltrecht einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen wird, erhöht sich die Chance auf eine Verringerung von Vollzugsdefiziten, für die nach der Filterfunktion der Klagebefugnis keine Individualkläger zu finden sind. Denn ein effektiver Umweltrechtsschutz hat auch eine demokratische Funktion für die Durchsetzung von Gesetzen.36 An dieser Stelle fragt sich, ob der gewählte Weg zwingend ist. Verlangt die demokratische Funktion des Umweltrechtsschutzes eine Stärkung objektiver Rechtskontrollen, weil anderenfalls die Gesetze leerzulaufen drohen? Zu einer Entobjektivierung der Rechtskontrolle käme man, wenn es gelingen könnte, die entsprechenden Anpassungen durch eine funktionelle Subjektivierung in § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO mit der Folge vorzunehmen, das subjektive Recht auch auf die Durchsetzung von Allgemeininteressen zu beziehen37 und ohne Ausnahmeregelung des Gesetzgebers in der Praxis europäisierter Normanwendung relevant werden zu lassen. Mit anderen Worten: Statt alle Hoffnungen in die Verbandsklage zu investieren38 und diese von der Regel abzuschirmen, könnten im System der verwaltungsprozessualen Verletztenklage die Interessen des Einzelnen am Schutz von Allgemeininteressen als subjektive Rechte anerkannt werden. Dafür reicht die tatsächliche Betroffenheit 34 Schmidt/Zschiesche/Tryjanowski, NuR 2012, 77 (80 ff.). Das sieht die Bundesregierung offenbar anders, wenn in der Begründung zum neuen § 4a UmwRG die Sorge formuliert wird, dass „das Instrument der Verbandsklage in der Praxis zu sachlich nicht gerechtfertigten Verzögerungen von Vorhaben instrumentalisiert“ werden könne, vgl. BT-Drs. 17/10957, 17. 35 Statt vieler Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz (Fn. 32), 482 f. Auch die im Trianel-Verfahren von der Kommission vorgeschlagene erweiterte Auslegung der „Rechte Einzelner“ im Einzelfall reicht wie die unionsrechtskonforme Auslegung dem EuGH zufolge nicht aus, den Verbänden einen voraussetzungslosen Zugang zu Rechtsschutzverfahren zu gewähren, zust. Schwerdtfeger, EuR 2012, 80 (87 f.); vorher bereits Niederstadt/Weber, NuR 2009, 297 (302 f.); Franzius, NuR 2009, 384 (387). 36 Wegener, Rechtsschutz für gesetzlich geschützte Gemeinwohlbelange als Forderung des Demokratieprinzips?, in: Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, 19; Krüper, Gemeinwohl im Prozess (Fn. 9), 175 ff.; Franzius, NuR 2009, 384 (386); Groß, Die Verwaltung 43 (2010), 349 (371); anders Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 (356), demzufolge die Schutznormtheorie „auf guten demokratisch-funktionalen Gründen“ beruhe. 37 Hong, JZ 2012, 380 (384); Krüper, Gemeinwohl im Prozess (Fn. 9), 169, 184 f., 212 ff. Angeschlossen werden kann damit an das unionsrechtliche Konzept funktionaler subjektiver Rechte, dazu Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der europäischen Gemeinschaften, 1996, 83 ff., 220 ff. Anders als es den Anschein haben könnte, legt das Unionsrecht seinem Verständnis des Bürgers in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen weniger den bourgois als vielmehr den citoyen zugrunde. 38 So auch Ekardt, NVwZ 2012, 530 (532). Empirisches Wissen kann verhindern, dass verfassungsrechtliche Argumente der „Waffengleichheit“ ideologisch überhöht werden.

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nicht aus. Aber die Beschränkung auf personale Rechtsgüter wäre vor dem Hintergrund des weitergehenden Verständnisses, wie es individuellen Rechten im Unionsrecht zugesprochen wird, zu hinterfragen.39 Subjektive Rechte dürften nicht länger als Ersatz, sondern müssten als Ausdruck demokratischer Teilhabe verstanden werden. Sie umfassen dann prinzipiell auch solche Rechte, die das Interesse der Einzelnen an der Wahrnehmung öffentlicher Interessen anerkennen und sie zu deren Durchsetzung ermächtigen. Trotz aller Hindernisse, die einem solchen Umbau der Dogmatik im Weg stehen, hat die materielle Lösung, wie sie auch dem Anspruch nach § 3 UIG zugrundeliegt, gewisse Vorzüge gegenüber der auf § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO gestützten, lediglich Rechte auf Rechtsschutz normierenden prozessualen Lösung.40 Es würde zu einer Annäherung der Klagerechte führen und vermeiden, dass subjektiver Rechtsschutz und objektive Rechtskontrolle gegeneinander ausgespielt werden. Im Modell der Verletztenklage hieße das: Es liegen „materialisierte“ subjektive Rechte vor, die auf die Einhaltung der jeweiligen Norm gerichtet sind.41 Festzuhalten verdient, dass diese Entscheidung nicht unionsrechtlich vorgegeben ist, sondern aus der Perspektive des nationalen Umwelt- bzw. Prozessrechts getroffen wird. Zwar eröffnet Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention nicht bloß Mitgliedern der „betroffenen“ Öffentlichkeit, sondern jeder Person die Möglichkeit der Anfechtbarkeit der Rechtmäßigkeit von Umweltentscheidungen. Die Vorschrift steht aber unter dem doppelten Vorbehalt eines Anknüpfungspunkts im nationalen Prozessrecht und der bislang fehlenden Umsetzung im Unionsrecht.42 Daran ändert die Entscheidung des EuGH zum „Slowakischen Braunbären“43 nichts. Hier wurde aus der prozessual 39 Siegel, DÖV 2012, 709 (710) spricht von einem „Drei-Schichten-Modell“ klagefähiger Positionen. Danach bilden die engste Schicht die Rechte nach der Schutznormlehre, die durch das Unionsrecht aufgeladen, mit Durchsetzungsansprüchen aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsprinzip aber bereits verlassen werde. 40 Vgl. Hong, JZ 2012, 380 (384 f., 388); Schwerdtfeger, Verwaltungsrechtsschutz (Fn. 23), 222 ff.; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allg. VerwR, § 12 Rn. 40. Zur Aufgabe des Kriteriums eines von der Allgemeinheit hinreichend „abgrenzbaren Personenkreises“ im Rahmen der Schutznormlehre Groß, Die Verwaltung 43 (2010), 349 (358 f.); für das Immissionsschutzrecht Koch, in: ders. (Hrsg.), Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 211. 41 Masing, Mobilisierung (Fn. 15), 225 ff.; ders., in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 7 Rn. 93a ff., 112 ff. spricht von „prokuraratorischen“ Rechten. Sie konkretisieren die Freiheit des citoyen, sich öffentliche Interessen zu eigen zu machen, begründen aber keinen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch. Die von Hong, JZ 2012, 380 (388) kritisierte „rechtsdogmatische Denksperre“ macht das Resümee von Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1238) deutlich, wonach die Umweltverbandsklage eine sympathische, aber systematisch fremde Figur sei. 42 Zur Relevanz der Vorschrift für das Unionsrecht Radespiel, EurUP 2011, 238 ff. Für das innerstaatliche Umweltrecht hat Art. 9 Abs. 3 eingeschränkte, aber nicht keine Bedeutung, vgl. Schwerdtfeger, Verwaltungsrechtsschutz (Fn. 23), 286 ff. 43 EuGH, Urt. v. 8. 3. 2011, Rs. C-240/09 Lesoochranárske zoskupenie, Slg. 2011, I-0000 Rn. 49 f.; krit. Wegener, ZUR 2011, 363 (366); Schink, DÖV 2012, 622 (624 ff.). Der Verpflichtungsgrad von Art. 9 Abs. 3 ist schwächer als Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention und zwingt die Vertragsstaaten nicht zur Einführung eines innerstaatlichen Verbandsklagerechts, so wohl auch Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 9.

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aufgeladenen Habitatrichtlinie44 das Recht eines Umweltverbandes hergeleitet, die Beteiligung am Verwaltungsverfahren gerichtlich erzwingen zu können.45 Dass sich aus Richtlinien ohne die Restriktionen der Schutznormlehre auch Rechte des Einzelnen ergeben können, ist unbestritten.46 Mag im Prozessrecht, wie die Fiktion der Rechtsverletzung für Umweltverbände in Art. 9 Abs. 2 UAbs. 2 Aarhus-Konvention mit der Umsetzung durch Art. 11 Abs. 3 UVP-RL47 zeigt, eine Differenzierung zu anders zu behandelnden Individualklagen naheliegen, so ist das im materiellen Recht nach der wirkungsbezogenen Konzeption umweltbezogener Richtlinien48 regelmäßig nicht möglich: Alle von einer Richtlinie in ihren Rechten erfassten Personen müssen im Ergebnis vor den nationalen Gerichten klageberechtigt sein.49

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Das wirklich Neue an der Entscheidung liegt Berkemann, DVBl 2011, 1253 (1256 f.) zufolge darin, dass der EuGH zur Kompetenz der Union für die Umweltpolitik „auf einem hohen Schutzniveau“ (Art. 191 Abs. 2 AEUV) das Prozessrecht funktional dazu rechnet. Das ist kompetenzrechtlich und demokratietheoretisch nicht unproblematisch, hat der Vorschlag der Kommission für eine Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention umsetzenden Klageberechtigungsrichtlinie – KOM (2003) 624 endg. v.14. 10. 2003 – doch nicht die Zustimmung im Rat und Europäischen Parlament gefunden. Die Kommission bereitet eine Gerichtszugangsrichtlinie vor, hat einen Vorschlag bislang aber nicht vorgelegt. 45 Weitergehend im Sinne eines umfassenden Klagerechts für Luftreinhaltepläne VG Wiesbaden, Urt. v. 10. 10. 2011, ZUR 2012, 113 (115 f.) und Urt. v. 16. 8. 2012, 4 K 165/12.WI Rn. 36 ff. mit der Zulassung der Sprungrevision zum BVerwG; VG München, Urt. v. 9. 10. 2012, M 1 K 12.1046 Rn. 25 ff.; s. auch HessVGH, Beschl. v. 19. 3. 2012, 9 B 1916/11 Rn. 39 für die Antragsbefugnis einer Gemeinde. Danach wird der Gerichtszugang im Lichte der Aarhus-Konvention und der EuGH-Rechtssprechung nicht mehr an die Restriktionen der Schutznormlehre geknüpft. 46 Zu Spielräumen der Richtlinienumsetzung Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 (360 ff.). 47 Zur Verstärkerwirkung des Unionsrechts für völkerrechtliche Pflichten Rossi, Europäisiertes internationales Umweltverwaltungsrecht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, 165 (171 ff.). Das Unionsrecht verlangt keine Abstützung prozessualer Rechte in materiellen Rechten. Es spricht Ergebnisverpflichtungen aus, die auch durch ein allein prozessuales Klagerecht erfüllt werden können. Ob aus der Fiktion der Rechtsverletzung für Umweltverbände zu folgern ist, dass sie als Träger solcher subjektiver Rechte zu gelten haben, wie sie das Modell der Verletztenklage zur Voraussetzung der Klagemöglichkeit erkärt, ist unsicher. Einen unionsrechtlichen Zwang, diese Rechte als „materielle prokuratorische Rechte auf Normwahrung oder Normvollziehung“ den subjektiven Rechten des § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO zuzuordnen, gibt es entgegen Hong, JZ 2012, 380 (388) nicht. Das ändert nichts an der Tatsache, dass eine solche Einstufung zur Vermeidung eines „gespaltenen Zugangs“ aus der Sicht des deutschen Verwaltungsrechts vorteilhaft ist. 48 Vgl. Ruffert, DVBl 1998, 69 (74); Winter, NVwZ 1999, 467 (470). 49 Die EuGH-Rechtsprechung schwankt zwischen der Individualisierung des objektiven Rechts und der Instrumentalisierung subjektiver Rechte für die Durchsetzung des Unionsrechts, vgl. Wysk, in: ders. (Hrsg.), VwGO, 2011, Art. 42 Rn. 107 – 109. Dagegen lässt sich nicht pauschal der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie (Art. 291 Abs. 1 AEUV) ins Feld führen und als Kompetenzgrenze mit „Souveränitätsargumenten“ überhöhen. Jede föderale Ordnung ist mit Lerche, VVDStRL 21 (1964), 66 (84 ff.) auf ein gewisses Maß an Verfahrenshomogenität angewiesen.

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III. Stärkung des Verfahrensrechtsschutzes? 1. Prozeduralisierung des Umweltrechts Eine andere Frage betrifft die Relation zwischen erweiterten Rügemöglichkeiten auf der einen Seite und Reduzierungen der gerichtlichen Kontrolldichte auf der anderen Seite.50 Letzteres wird als Konsequenz aus der Trianel-Entscheidung des EuGH aus Gründen der „Waffengleichheit“ gefordert und in § 4a UmwRG mit dem Ziel aufgenommen, einen „Ausgleich zwischen der umweltrechtsschützenden Zielsetzung von Verbandsklagen einerseits und den Belangen der von Verbandsklagen Betroffenen andererseits“ herzustellen.51 Das Umweltrecht räumt der Verwaltung eine Vielzahl von Ermessens- und Gestaltungsspielräumen ein, die eine weitergehende Zurücknahme der Kontrolldichte zweifelhaft erscheinen lassen.52 Mit der Erweiterung der Verbandsklagerechte wächst die Kontrollbreite der Gerichte, die auch die behördliche Einhaltung des objektiven Umweltrechts zu überprüfen haben. Damit ist noch nicht gesagt, ob auch die praktizierte Kontrolltiefe im deutschen Verwaltungsrechtsschutz aufrechterhalten bleiben kann. Das hat jedoch weniger mit den erweiterten Zugangsmöglichkeiten der Öffentlichkeit als vielmehr damit zu tun, dass der Gesetzgeber vermehrt auf verfahrensrechtliche Steuerungen setzt, die Problemlösung gedanklich nicht vorwegnimmt und damit nur begrenzt Rechtmäßigkeitsmaßstäbe für die gerichtliche Kontrolle bereitstellt.53

50 Zur Verknüpfung von Klagebefugnis und Kontrolldichte Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1237 f.) im Anschluss an Wahl, Kagebefugnis und Kontrolldichte: Änderung in der Konzeption des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes?, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 2009, 53 (59 ff.), der sich allerdings gegen die „Kompensationsthese“ ausspricht. Die in § 4a UmwRG wieder aufgegriffene Verbindung von erleichtertem Gerichtszugang und geringerer Kontrolldichte lag bereits §§ 43 f. UGB-KomE zugrunde, traf jedoch schon damals auf Kritik, vgl. Winter, NVwZ 1999, 467 (474) mit der Empfehlung, sich auf die Kernfragen der Streitigkeit zu konzentrieren. 51 So die Begründung der Bundesregierung, BT-Drs 17/10957, 17; krit. Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 67. 52 Köck/Salzborn, ZUR 2012, 203 (207). Von der „Gretchenfrage nach der Kontrolldichte“ sprechen Durner/Paus, NuR 2012, 325 (327) mit Blick auf das abschließende Urteil des OVG NW im Trianel-Verfahren (Urt. v. 1. 12. 2011, NWVBl 2012, 181), das mit 181 Urteilsseiten „eine bislang kaum gekannte Kontrolltiefe“ erreicht habe. Die gesetzliche Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolle bedarf freilich eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrundes, vgl. BVerfG, Urt. v. 31. 5. 2011, NVwZ 2011, 1062 (1065). Ob ein sachlicher Grund für die neuen Regelungen in § 4a UmwRG besteht, kann bezweifelt werden. 53 Zur Verklammerung von Verfahrenssteuerung und materieller Kontrolldichte Wahl, DVBl 2003, 1285; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 7), 4. Kap. Rn. 75, 6. Kap. Rn. 149; Schwarze, Der funktionale Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz, 1974.

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Hier knüpft die Prozeduralisierungsthese an.54 Sie besagt, dass in dem Maße, wie materielle Maßstäbe fehlen, unsicher oder umstritten sind, den Verfahren eine besondere Funktion in der Erzeugung des materiellen Rechts zukommt.55 Deshalb wird eine wichtige Funktion des Verwaltungsverfahrens darin gesehen, das für die Sachentscheidung erforderliche Wissen zu generieren.56 Verfahren kommt ein Eigenwert als Rechtserzeugungsverfahren unter Unsicherheitsbedingungen zu. Denn ist sicher, dass es auch nach der verfahrensabschließenden Entscheidung keine restlose Gewissheit geben kann, bleibt für die Erkenntnis der richtigen Entscheidung kein Raum. Das kann für die gerichtliche Kontrolle nicht folgenlos bleiben und macht Forderungen nach einem stärkeren Verfahrensrechtsschutz plausibel. Damit ist noch nicht gesagt, dass die erhöhte Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern eine Reduzierung der materiellen Ergebniskontrolle durch die Gerichte gebietet. Die Zurücknahme materieller Kontrollen stößt in der Praxis auf wenig Gegenliebe57 und ist auch unionsrechtlich nicht geboten.58 Normativ erwünschten Steuerungswirkungen von Verfahren in komplexen Entscheidungssituationen dürften die Verwaltungsgerichte bei der Überprüfung der Sachentscheidung durch eine faktische Reduzierung der Kontrollintensität ausreichend Rechnung tragen können.59 Jedenfalls müssen unionsrechtlich gebotenen Erweiterungen der Kontrollbreite keine Erweiterungen der Kontrolltiefe korrespondieren.

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Zur „Auflösung materieller Steuerungsformen in Prozeduralität“ Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, 2010, 230 ff.; Franzius, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 4 Rn. 54a. 55 Das entspricht dem unionsrechtlichen Verfahrensverständnis mit der Einschränkung, dass sich weder der Vorrang der Ergebnisfixierung des deutschen Verwaltungsrechts auf Dauer halten noch deren prinzipieller Nachrang gegenüber der Verfahrensgerechtigkeit und -kontrolle proklamieren lassen dürfte, ähnlich Kahl, Die Verwaltung 42 (2009), 463 (474). 56 Ausf. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009. 57 BVerwGE 100, 238 (243 ff.). Die Gerichte sehen das Problem. Behandelt wird es aber vom Normalfall der Ergebniskontrolle aus. Verdient die materielle Rechtskontrolle mit dem Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG keine Abschwächung, kann es auf der verfahrensrechtlichen Seite keine Zugeständnisse geben. Im Anschluss an § 2 Abs. 3 BauGB wäre immerhin eine Vermutungsregel denkbar: Ist das Verfahren fehlerfrei durchgeführt worden, besteht eine Vermutung für die materielle Richtigkeit. 58 Gegen eine Verallgemeinerung Fehling, VVDStRL 70 (2011), 278 (304 ff., 328 f.). Dass sich weite Teile des Verwaltungsrechts – wie das Umweltrecht – der umfassenden materiellrechtlichen Determinierung (mit dem Erhalt einer entsprechend hohen Kontrolldichte) entziehen, zeige lediglich, dass „theoretisch nur zweitbeste Lösungen bei pragmatischer Betrachtung gelegentlich überlegen sein“ können. 59 Vgl. Wahl, Kagebefugnis und Kontrolldichte (Fn. 50), 53 mit Kritik an der zu einfachen Annahme eines Kompensationsverhältnisses zwischen (mehr) Klagebefugnis und (weniger) Kontrolldichte. Eine andere Frage ist es, ob mit der (unionsrechtlichen) Aufwertung des Verfahrensrechts eine hohe Kontrolltiefe des im Verwaltungsverfahren unter dessen Eigenrationalitäten herzustellenden Ergebnisses erhalten bleiben kann, vgl. Schwerdtfeger, Verwaltungsrechtsschutz (Fn. 23), 242 f.; Franzius, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 4 Rn. 54b.

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2. UVP-Verfahrensfehler und Kausalitätsrechtsprechung Wenn es richtig ist, dass sich der Umweltrechtsschutz auf die Sicherung von Verfahrensrechten erstrecken muss, weil das materielle Recht zu einem guten Teil erst durch das Verfahren hervorgebracht wird, dann rückt die Frage nach der Rügefähigkeit von UVP-Verfahrensfehlern in den Vordergrund. § 4 Abs. 1 UmwRG beschränkt ihre Aufwertung zu absoluten Verfahrensfehlern60 und den Aufhebungsanspruch unter Verdrängung des § 46 VwVfG mit der Frage, ob die Entscheidung in der Sache ohne den Fehler anders ausfallen wäre, auf das gänzliche Ausbleiben einer erforderlichen UVP oder Vorprüfung im Einzelfall. Diese restriktive Regelung zur Rügefähigkeit von Verfahrensfehlern trifft seit langer Zeit auf Kritik, wird für unionsrechtswidrig gehalten61 und hat den 7. Senat des BVerwG bewogen, dem EuGH die Frage vorzulegen, inwieweit bei der für möglich gehaltenen Rüge von Teilverstößen62 an der verwaltungsgerichtlichen Kausalitätsrechtsprechung63 festgehalten werden kann.64 Nicht jeder noch so geringe Fehler wird zur Aufhebung der Sachentscheidung führen können, wohl aber wesentliche Verfahrensfehler.65 Das war die ur-

60 Zur Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Verfahrensrechten Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 72 ff. 61 Vgl. Schmidt/Kremer, ZUR 2007, 57 (62); Schwerdtfeger, Verwaltungsrechtsschutz (Fn. 23), 132 f., 204, 244 ff.; Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, § 4 UmwRG Rn. 46; anders Quabeck, Dienende Funktion (Fn. 54), 274 ff.; Fehling, VVDStRL 70 (2011), 278 (311). 62 Zurückhaltend die bisherige Rechtsprechung, vgl. OVG NW, Beschl. v. 15. 9. 2008, 8 B 900/08 Rn. 35 f.; NdsOVG, Beschl. v. 21. 10. 2008, 7 ME 170/07 Rn. 26 ff.; HessVGH, Urt. v. 16. 9. 2009, ZUR 2010, 46 ff.; Urt. v. 25. 9. 2009, 6 C 1600/07, Rn. 10 – 12. 63 Zur „Neujustierung“ dieser Rechtsprechung Murswiek/Ketterer/Sauer/Wöckel, Die Verwaltung 44 (2011), 235 (252 f.) mit dem Hinweis auf BVerwGE 130, 83 (98); 132, 123 (127), wonach „das Erfordernis der konkreten Kausalität ein Stück weit vom Einzelfall gelöst und abstrahiert“ worden sei. 64 BVerwG, Beschl. v. 10. 1. 2012, NVwZ 2012, 448 mit einer Zusammenfassung der Rechtsprechung, für die sich der 7. Senat „Rückendeckung“ durch den EuGH zu versprechen scheint, so Kment, NVwZ 2012, 481 (483). Auch der 9. Senat misst Verfahrensfehler, die nicht unter § 4 Abs. 1 UmwRG fallen, an § 46 VwVfG, vgl. BVerwG, Urt. v. 24. 11. 2011, NVwZ 2012, 557 (558). Noch strenger für die Klagebefugnis der Gemeinde, die auch Fehler im Sinne des § 4 Abs. 1 UmwRG nur im Falle der Geltendmachung der Verletzung eines materiellen Rechts rügen können soll: NdsOVG, Urt. v. 8. 5. 2012, ZUR 2012, 562 (563); a.A. HessVGH, Beschl. v. 19. 3. 2012, 9 B 1916/11 Rn. 34 ff.; Ogorek, NVwZ 2010, 401 (402 f.); Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, § 4 UmwRG Rn. 42. 65 So auch Kment, NVwZ 2007, 274 (277 f.); Gärditz, EurUP 2010, 210 (216); Kahl, NVwZ 2011, 448 (451); Siegel, DÖV 2012, 709 (714 f.); Groß, in: Hansmann/Sellner (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl. 2012, 1221 f. Einen wesentlichen Verfahrensfehler dürfte zum Beispiel die Nichtdurchführung der gebotenen UVP-Öffentlichkeitsbeteiligung darstellen, a.A. HessVGH, Urt. v. 16. 9. 2009, NuR 2010, 438. Ob angesichts des klaren Wortlauts eine unionsrechtskonforme Auslegung möglich ist, wird man als fraglich bezeichnen müssen.

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sprüngliche Intention des Gesetzgebers66 mit dem Vorteil einer Anpassungsflexibilität für unionsrechtliche Vorgaben.67 Demgegenüber ist der Reformgesetzgeber deutlich zurückhaltender. Erweitert wird in § 4 Abs. 1 S. 2 UmwRG n.F. lediglich der Kreis der beiden rügefähigen UVP-Verfahrensfehlertypen um solche Fehler einer Vorprüfung des Einzelfalls, die nicht dem Maßstab von § 3a S. 4 UVPG68 genügen. Hierdurch mag eine bestehende Widersprüchlichkeit69 beseitigt werden, mit der Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf die Frage, ob das Ergebnis nachvollziehbar ist, aber eine neue Angriffsfläche geschaffen.70 Es bleiben Zweifel, ob mit diesem Maßstab den Anforderungen an die verfahrensrechtliche Überprüfbarkeit von Umweltentscheidungen nach Art. 11 UVP-RL und Art. 25 IE-RL hinreichend Rechnung getragen ist.71 Die Bundesregierung hatte im Trianel-Verfahren vor dem EuGH erfolglos argumentiert, die im europäischen Vergleich besonders hohe Kontrolldichte im Verwaltungsprozess rechtfertige eine restriktive Ausgestaltung des Zugangs zu den Gerichten.72 Dieses Kompensationsargument scheint der Gesetzgeber in der umgekehrten Richtung wieder aufzugreifen, wenn in § 4a Abs. 2 UmwRG die Kontrolle von Vorschriften, die eine Beurteilungsermächtigung an die Verwaltung enthalten, auf eine Plausibilitätsprüfung beschränkt wird.73 Damit sollen ausweislich der Gesetzesbe66 § 3 Abs. 1 des Gesetzentwurfs über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der RL 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) v. 21. 2. 2005, abgedruckt in: Durner/Walter, Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der AarhusKonvention, 2005, 176 f.; s. auch den Beschluss des Bundesrates v. 21. 9. 2012, BR-Drs 469/ 12, 3. 67 Kleesiek, Zur Problematik der unterlassenen Umweltverträglichkeitsprüfung. Zugleich eine Untersuchung zur Vereinbarkeit des § 46 VwVfG mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht, 2010, 260 ff. 68 Danach haben Gerichte die UVP-Vorprüfung des Einzelfalls auf Fehler nur darauf zu überprüfen, ob die Vorprüfung entsprechend den Vorgaben von § 3c UVPG durchgeführt worden ist und ob das Ergebnis „nachvollziehbar“ ist. 69 Von einem „Regelungswiderspruch“ spricht Kment, in: Hoppe/Beckmann (Hrsg.), UVPG, 4. Aufl. 2012, § 4 UmwRG Rn. 12; anders Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, § 4 UmwRG Rn. 18. 70 Wenig Problembewusstsein OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. 7. 2010, OVG 11 S 45/09 Rn. 11; OVG Hamburg, Beschl. v. 24. 2. 2010, UPR 2010, 455. Ein Leerlaufen der Kontrolle prognostiziert Michler, NuR 2013, 22 (24). 71 Zweifelnd auch Berkemann, NuR 2011, 780 (787); ders., in: Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 71, 4 f.; Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Art. 4 UmwRG Rn. 8, 46 ff. Die Kommission hat wegen der restriktiven Regelung des § 4 Abs. 1 UmwRG ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, vgl. KOM Nr. 2007/4267 C (2012) 6581 endg v. 27. 9. 2012. 72 Vgl. Schlussanträge von GA’in Sharpston v. 16. 12. 2010 in der Rs. C-115/09 BUND/ Bezirksregierung Arnsberg, Slg. 2011, I-0000 Rn. 76 ff. mit dem Bild, die hohe Kontrolldichte helfe wie ein Ferrari mit verschlossenen Türen wenig, wenn das System als solches für bestimmte Klagen gar nicht zugänglich sei. 73 Grundlegende Bedenken formuliert der Bundesrat in seiner Stellungnahme v. 21. 9. 2012, BR-Drs. 469/12, 4 ff.

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gündung74 keine Beurteilungsspielräume festgeschrieben werden, die über die anerkannten Prüfkriterien der Rechtsprechung, etwa zu Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen, hinausgehen. Mehr als einen (überflüssigen) Verweis auf die bestehende Rechtsprechung wird man der Vorschrift kaum entnehmen dürfen.75 Anders sieht es mit Minimalumsetzungen europäischer Vorgaben aus. Sie erhöhen wie § 4 Abs. 1 UmwRG, der sich auf die Umsetzung der Wells-Entscheidung des EuGH76 beschränkt, das Risiko neuer Verurteilungen durch den EuGH. Dieser macht in jüngeren Entscheidungen deutlich, dass er bei der Kontrolle der Umsetzung der völkerund unionsrechtlichen Vorgaben an die Mitgliedstaaten mit dem Ziel, die materiellrechtliche und – ohne textliche Einschränkungen – verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von umweltrelevanten Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anfechten zu können, nur begrenzt auf die Traditionen in den nationalen Prozessordnungen Rücksicht zu nehmen bereit ist.77 Die Rechtsprechung des EuGH ist zwar nicht über jede Kritik erhaben.78 Häufig geht es aber, wie das Urteil zum „Slowakischen Braunbären“ zeigt, weniger um die Entscheidung als solche, sondern vielmehr um überschießende Interpretationen, die in die Entscheidung mehr hineinlesen als der Verfahrensgegenstand hergibt.79 3. Personelle Reichweite der Klagerechte Als „vertrackt“ stellt sich die personelle Reichweite der Klagerechte dar. Der Gesetzgeber hält mit dem neuen Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz an der Konzeption fest, kein Sonderrecht für Umweltverbände schaffen zu wollen, sondern zur Vermeidung einer für problematisch gehaltenen „Privilegierung“ der Verbände mit den allgemei-

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BT-Drs. 17/10957, 18. So auch Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 72. Treffend der Bundesrat in seiner Stellungsnahme v. 21. 9. 2012, BR-469/12, 6: „Diese Bestimmung ist überflüssig, gesetzessystematisch falsch positioniert und geeignet, Missverständnisse über die Einführung eines speziellen umweltrechtlichen Kontrollmaßstabs bei Beurteilungsspielräumen zu schaffen.“ 76 EuGH, Urt. v. 7. 1. 2004, Rs. C-201/02 Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 57. 77 So die überwiegende Einschätzung im Schrifttum, vgl. Wegener, UTR 98 (2008), 319 (345 f.); Durner/Paus, DVBl 2011, 757 (763); Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 76 mit dem Hinweis auf EuGH, Urt. v. 15. 10. 2009, Rs. C-263/08 Djurgården und EuGH, Urt. v. 8. 3. 2011, Rs. C-240/09 Lesoochranárske zoskupenie. 78 Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention spricht von materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Rechtmäßigkeit, enthält aber anders als Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention keine ausdrückliche Beschränkung auf das Umweltrecht. Deshalb erscheint eine weite Auslegung möglich. 79 Ähnlich Schink, DÖV 2012, 622 (627 ff.), der sich jedoch anders als hier gegen eine Interpretation individueller Verfahrensrechte als subjektive Rechte im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO ausspricht. 75

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nen Regeln des Verwaltungsprozessrechts kompatible Rechtsbehelfe einzurichten. An diesem Anspruch müssen sich die Regelungen messen lassen.80 In der Subjektivierung des objektiven Rechts kommt dies zum Ausdruck. Ein bekanntes Beispiel ist die Subjektivierung von Verfahrenspositionen durch die Anerkennung eines absoluten Beteiligungsrechts von Naturschutzvereinen. Den Rückgriff auf den Ausnahmetatbestand des § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO hält das BVerwG für entbehrlich, da hinter dem Beteiligungsrecht eine materielle Position stehe, deren Schutz und Durchsetzung das Beteiligungsrecht diene.81 Schwieriger sind die Verfahrensrechte nach § 4 Abs. 1 UmwRG einzuordnen, die über § 4 Abs. 3 UmwRG und § 61 Nr. 1 VwGO auf natürliche Personen erstreckt werden. Danach schließt die Qualifizierung als Verfahrensrecht die Anerkennung als subjektives öffentliches Recht nicht länger aus. Nicht nur dort, wo ein materieller Anspruch besteht, kann die Einordnung als subjektives Recht geboten sein. Das Argument, wonach der Kreis der Klageberechtigen schmal gehalten sein muss, damit eine effektive Durchsetzungschance vor Gericht erhalten bleibt, überzeugt nicht. Gelangt der Gesetzgeber zu der Überzeugung, dass bestimmte Interessen von jedermann durchgesetzt werden sollen, können dieser Entscheidung keine vordemokratischen Argumente entgegengehalten werden.82 Nicht immer ist jedoch eine klare Entscheidung des Gesetzgebers nachweisbar. So liegt es bei § 4 Abs. 3 UmwRG.83 § 4 Abs. 1 UmwRG normiert wesentliche Verfahrensfehler, die zur Aufhebung der Sachentscheidung führen, sagt aber nicht, wem der Aufhebungsanspruch zusteht. Es war offen, inwieweit die Rüge von Verfahrensfehlern nach § 4 Abs. 1 UmwRG eine drittschützende Vorschrift nach § 2 Abs. 1 UmwRG a.F. zur Voraussetzung hat. Die Vorschrift schaffe keine neuen Rechtsbehelfe, auf die neben den anerkannten Umweltverbänden andere Personen diesseits einer möglichen Rechtsverletzung zugreifen dürften.84 Jedoch kann der mit dem Hinweis auf die „dienende Funktion“ des Verwaltungsverfahrens begründete Ausschluss der Rügefähigkeit von Verfahrens-

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Da § 4a UmwRG mit dem Versuch, die gerichtliche Kontrolldichte für Umweltentscheidungen herabzusenken, auch für Individualkläger gilt, greifen insoweit die Schranken des Art. 19 Abs. 4 GG. 81 So für § 29 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG a.F. BVerwGE 87, 62 (72 f.). Die Rolle als Sachwalter des Umweltschutzes rechtfertigt es, die Verbandsbeteiligung als selbständig durchsetzbares subjektives Recht zu qualifizieren, vgl. BVerwGE 105, 348 (349 f.). 82 Zutreffend Ekardt, Der Staat 44 (2005), 622 (631). 83 Zum Streitstand Schwerdtfeger, Verwaltungsrechtsschutz (Fn. 23), 89 ff. 84 Die Vorschrift betreffe nur die Sachprüfung im Rahmen eines zulässigen Rechtsbehelfs, habe aber keine Bedeutung für die Klagebefugnis, so BVerwG, Urt. v. 20. 12. 2011, DVBl 2012, 501 mit dem Hinweis auf die Ähnlichkeit zu § 47 VwGO; krit. Kahl, JZ 2012, 667 (673). Vorzugswürdig erscheint die Lesart, wonach § 4 Abs. 3 UmwRG den Anwendungsbereich der § 4 Abs. 1 UmwRG für eine zusätzliche Gruppe, nämlich „Beteiligte“ nach § 61 Nr. 1 und 2 VwGO erschließt und eine Erweiterung des Rechtsschutzes nach § 2 UmwRG bezweckt, so Kment, NVwZ 2007, 274 (276).

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fehlern ohne Anknüpfung an eine materielle Rechtsposition nicht überzeugen.85 Vielmehr spricht einiges dafür, dass § 4 UmwRG das Verfahrensrecht im Rahmen des § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO einer Subjektivierung zuführt86 und den Einzelnen unabhängig von § 2 UmwRG die Möglichkeit verschafft, einen Verstoß gegen Verfahrensrecht in den Grenzen der durch § 4 Abs. 1 UmwRG als rügefähig anerkannten Verfahrensfehler geltend zu machen.87 Auch das BVerwG erweitert den Kreis der klageberechtigten Drittbetroffenen, die bei einem Verstoß gegen § 4 Abs. 1 UmwRG die Aufhebung der Sachentscheidung verlangen können.88 Der prozessuale Anspruch auf Einhaltung wesentlicher Verfahrensvorschriften ergibt sich nicht aus Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention, der die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, der Öffentlichkeit klagbare Rechte unter dem Vorbehalt eines Anknüpfungspunkts im nationalen Recht zu verleihen, sondern aus § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO nach Maßgabe einer subjektiv-rechtlichen Interpretation des in Rede stehenden Verfahrensrechts. Dieser Weg ist auf den ersten Blick beschwerlich, aber langfristig erfolgversprechender als die Perpetuierung eines Sonderregimes, das sich zwar an die unions- und völkerrechtlichen Vorgaben näher anschmiegen könnte, dies aber in einer Sonderdogmatik zu verarbeiten hätte. Ob die Systemorientierung als einem traditionellem Anliegen der deutschen Rechtswissenschaft heute noch trägt, ist zwar durchaus zweifelhaft89 und auch nicht unproblematisch, soweit mit der unter Beschuss geratenen Schutznormlehre an einen fragwürdigen Entwicklungspfad aus vordemokratischer Zeit angeknüpft wird.90 Je besser dies aber gelingt, desto „nachhaltiger“ dürfte dem Überformungspotential des Unions- und Völkerrechts auf das Verwaltungsprozessrecht entsprochen und auf diese Weise auch dem Umweltrechtsschutz gedient werden können. Eine auf Systemintegration angelegte Lösung, wie sie vorliegend für die Einbeziehung der gesetzlichen Gemeinwohl85 Für ein auch dem Einzelnen zustehendes prozessual durchsetzbares subjektives Recht auf Durchführung einer UVP: OVG LSA, Beschl. v. 17. 9. 2008, NVwZ 2009, 340 (341). A.A. NdsOVG, Beschl. v. 21. 10. 2008, NuR 2009, 58 (60); Urt. v. 8. 5. 2012, ZUR 2012, 562 (563); M. Appel, NVwZ 2010, 473 (475 f.). 86 So auch Murswiek/Ketterer/Sauer/Wöckel, Die Verwaltung 44 (2011), 235 (258 f.). 87 So auch Glaser/Klement, Umweltrecht, Beck’sches Examinatorium, 2010, 58 f. 88 BVerwG, Urt. v. 24. 11. 2011, NVwZ 2012, 557 (558); gegenläufig, aber nicht überzeugend BVerwG, Urt. v. 20. 12. 2011, DVBl 2012, 501 und für Gemeinden NdsOVG, Urt. v. 8. 5. 2012, ZUR 2012, 562. Insoweit rächt sich die frühe Festlegung der Rechtsprechung auf die Umweltverträglichkeitsprüfung als unselbständiges Verfahrensrecht ohne materiellen Gehalt, vgl. BVerwGE 100, 238 (243). Dem Leitbild des integrativen Umweltschutzes wird diese Einordnung nicht gerecht. 89 Dazu mit instruktiven Beiträgen: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Ein tragfähiges Konzept?, 2008. Die Zweifel ändern nichts daran, für eine Konsistenz des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes zu sorgen, vgl. Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 44 (2011), 105. 90 Gärditz, ZfU 2012, 249 (254 mit Fn. 30). Die Fokussierung auf den Schutz privater Rechte stammt aus dem Zivilrecht und passt für das Öffentliche Recht mehrpoliger Konflikte nicht. Der Gesetzgeber ist weitgehend frei, objektive Rechtskontrollen einzuführen, solange der von Art. 19 Abs. 4 GG umfasste Individualrechtsschutz nicht aufgegeben wird.

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belange in das subjektive Recht vertreten wird, könnte sich in den Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung91 auch für die Subjektivierung des Verfahrensrechtsschutzes und die Drittindividualklage anbieten. Dabei dürfte sich eine Zweiteilung dergestalt, das erweiterte Verständnis von Verfahrensrechten auf das europäische Umweltrecht zu beschränken, es im nationalen Kontext für den Zugang zu Rechtsschutzverfahren aber an der Konzeption der dienenden Funktion des Verwaltungsverfahrens92 unter den weitreichenden Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften93 zu belassen, kaum als weiterführendes Rezept empfehlen.94 IV. Vorverlagerung des Rechtsschutzes? 1. Dreistufige Infrastrukturplanung Einen dritten Problemkreis bilden Fragen nach dem Rechtsschutz in der Planungskaskade, womit gestufte Planungsprozesse bezeichnet werden.95 Die Infrastrukturplanung ist nach dem Vorbild der Straßenplanung im wesentlichen dreistufig ausgestaltet. Am Anfang steht die Bedarfsplanung in der Form des Gesetzes, gefolgt von der Raumordnungsplanung, deren Ergebnisse bei der vorhabenbezogenen Zulassungsplanung zu berücksichtigen sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 ROG). Diesem dreistufigen Modell folgt die neue Planung von länderübergreifenden Energiehochspannungslei91 Wenig Problembewusstsein: BGH v. 26. 11. 2008, VIII ZR 200/05 (Quelle) mit der Erweiterung um ein Gebot zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung, krit. Pötters/Christensen, JZ 2011, 387 (389 ff.). 92 Zu den Einsichten der Berliner Staatsrechtslehrertagung gehört der Verzicht auf die zu einfachen Fronten zwischen einer (abwertend) dienenden Funktion und einem (aufwertenden) Eigenwert des Verwaltungsverfahrens, vgl. Gurlit, VVDStRL 70 (2011), 227/234 („Der Wert des Verwaltungsverfahrens bestimmt sich nach der Eigenständigkeit seines Beitrags zur Zielerreichung“); ähnlich Fehling, ebd., 278/287 („Dienende Funktion und Eigenwert des Verfahrens sind damit kein Gegensatz, sondern die zwei Seiten einer Medaille“). 93 Ekardt, NVwZ 2012, 530 (532 ff.) spricht von einer „Klagehindernis-Kaskade“. Ob die Vorschriften einer unionsrechtlichen Kontrolle standhalten, ist fraglich. So stößt die Heilung von Verfahrensfehlern im gerichtlichen Verfahren an Grenzen, vgl. EuGH, Urt. v. 15. 1. 2013, Rs. C-416/10 Krishan. Auch die Präklusionsregelung in § 2 Abs. 3 UmwRG kann nicht so einfach mit dem BVerwG (Urt. v. 14. 7. 2010, 9 A 12/10 Rn. 25; Urt. v. 29. 9. 2011, ZUR 2012, 187) für unionsrechtskonform gehalten werden, vgl. Berkemann, DVBl 2011, 1253 (1261); A. Schmidt, ZUR 2012, 210 (218); Frenz, NuR 2012, 619 (621 f.); Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, § 2 UmwRG Rn. 52 f. Die knappen Fristen, aber auch der Umweltverbänden abgeforderte Detaillierungsgrad der Äußerung haben die Kommission veranlasst, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, KOM Nr. 2007/4267 C (2012) 6581 endg v. 27. 9. 2012. Die Bundesregierung strebt eine Klärung durch den EuGH an, vgl. Bericht des BMU an den Umweltausschuss des Deutschen Bundestags, Ausschussdrucksache 17 (16) 636 v. 30. 10. 2012, 3. 94 Statt vieler Hermes, Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsverfahrens, in: FS Wahl, 2011, 689 (705 f.). Es mehren sich die Stimmen, die eine Korrektur der Verfahrensfehlerfolgen im VwVfG anmahnen, vgl. Burgi, DVBl 2011, 1317 (1319 ff.); Kahl, NVwZ 2011, 449 (451); Franzius, GewArch 2012, 225 (231). 95 Überblick: A. Schmidt, ZUR 2012, 210 (212 ff.).

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tungen nach §§ 12a-12 g EnWG für die Bedarfsplanung und nach §§ 4 ff. NABEG für die an die Stelle der Raumordnungsverfahren der Länder tretende Bundesfachplanung durch die Bundesnetzagentur. Deren Entscheidung, der Bundesnetzplan (§ 17 NABEG), soll im Planfeststellungsverfahren nicht bloß zu berücksichtigen, sondern nach § 15 Abs. 1 S. 1 NABEG verbindlich sein. Bedarfspläne, die als parlamentarisches Gesetz erlassen werden, sind der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. Raumordnungspläne, soweit sie nicht als parlamentarisches Gesetz erlassen werden, können demgegenüber Gegenstand einer Normenkontrolle nach § 47 VwGO sein. Die Bündelungsfunktion des Normenkontrollverfahrens ist zeitsparend und eröffnet dieseits der tatsächlichen Verletzung in eigenen Rechten einen phasenspezifischen Rechtsschutz, der insbesondere der Gefahr vorbeugt, dass Fehler im vorgelagerten Planungsverfahren den Planfeststellungsbeschluss „infizieren“ und die Realisierung des Infrastrukturprojekts zeitlich verzögern. § 15 Abs. 3 S. 2 NABEG will für den Netzausbau den phasenspezifischen Rechtsschutz zugunsten des konzentrierten Rechtsschutzes ausschließen. Obwohl wesentliche Entscheidungen auf der vorgelagerten Planungsebene getroffen werden, konzentriert der Gesetzgeber den Individualrechtsschutz gegen die abschließende Zulassungsentscheidung mit einer Inzidentkontrolle vorgelagerter Planungsentscheidungen.96 Weil es aber hier an der Flexibilität des planerischen Berücksichtigungsgebotes fehlt und unsicher ist, inwieweit die vorgelagerten Entscheidungen der Bundesfachplanung nach der Schönefeld-Rechtsprechung des BVerwG97 im Planfeststellungsverfahren noch korrigierbar sind, droht diese Kontrolle leerzulaufen.98 2. Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz Das Unionsrecht verlangt auf den vorgelagerten Ebenen der Planung eine strategische Umweltprüfung mit einer Öffentlichkeitsbeteiligung, womit ein partizipatives, wenngleich thematisch auf Umweltbelange beschränktes Element die Repräsentationsfunktion des allgemeinen Gesetzes ergänzt.99 Die mehrstufige Planung länderübergreifender Höchstspannungsleitungen zur Realisierung der Energiewende lässt (ausdifferenzierte) Öffentlichkeitsbeteiligung und (konzentrierten) Rechtsschutz jedoch auseinanderfallen. Insoweit ist es konsequent, dass sich der Gesetzgeber mit 96

Die Regelung ist nicht ohne Vorbild, vgl. § 16 Abs. 3 UVPG. BVerwGE 125, 116 (135 ff.). Für eine entsprechende Relativierung der Bindung Wagner, DVBl 2011, 1453 (1458); Erbguth, DVBl 2012, 325 (328);); abl. Durner, NuR 2012, 369 (373). Eine strikte Bindungswirkung des Bundesnetzplans (§ 17 NABEG) kollidiert mit dem Abwägungsgebot, das trotz aller „Hochzonungen“ auf die vorgelagerten Planungsebenen aus verfassungsrechtlichen Gründen im Planfeststellungsverfahren zu beachten bleibt, vgl. Moench/ Rutloff, NVwZ 2011, 1040 (1043). 98 Die großräumige Variantenauswahl wird im Planfeststellungsverfahren oder im Gerichtsverfahren nur selten erschüttert werden können, vgl. SRU, Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung, Sondergutachten 2011, 517. Zur Kritik auch Durner, DVBl 2011, 853 (860 f.); ders., NuR 2012, 369 (372 f.). 99 Allg. Gurlit, JZ 2012, 833; I. Appel, NVwZ 2012, 1361; E. Hofmann, JZ 2012, 701. 97

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Blick auf die materielle Einwendungspräklusion zurückhält und den Rechtsschutz nicht davon abhängig macht, dass sich Kläger bereits in der Bundesfachplanung hinreichend detailliert geäußert haben. Aber es bleibt die Frage, ob die Beschränkung des Rechtsschutzes auf die Zulassungsentscheidung mit der Gefahr, dass durch eine fehlerhafte Grobtrassenplanung die Detailplanung nachträglich entwertet wird, mit höherrangigen Vorgaben an den Rechtsschutz vereinbar ist. Das kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Weder das Unions- noch das Verfassungsrecht verbieten dem Gesetzgeber die Entscheidung für den konzentrierten Rechtsschutz. Insbesondere aus dem Trianel-Urteil des EuGH lässt sich keine Verpflichtung zur Einrichtung eines vorgelagerten Rechtsschutzverfahrens entnehmen.100 Denn anders als die Beteiligung der Öffentlichkeit, die nach § 14b UVPG auch für die Aufstellung von Bedarfsplänen101 durchzuführen ist, erstreckt sich die Verpflichtung zur Eröffnung von Klagemöglichkeiten allein auf UVP-pflichtige Projekte mit einem Konkretisierungsgrad des Vorhabens, der auf frühen Planungsstufen kaum anzunehmen ist.102 Der Rechtsschutz folgt also nicht den Regeln über die mehrstufige Beteiligung der Öffentlichkeit: Zum einen geht der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf die frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung über das hinaus, was nach der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie gefordert wird. Zum anderen ergibt sich aus Art. 11 Abs. 2 UVP-RL, dass die Mitgliedstaaten festlegen, in welchem Verfahrensstadium der gebotene Rechtsschutz gewährt wird. Weil auch Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich103 keine Vorverlagerung des Verwaltungsrechtsschutzes fordert, bleibt es der politischen Entscheidung überlassen, den Abschichtungen der ausgebauten Öffentlichkeitsbeteiligung stärkere Abschichtungen des Rechtsschutzes folgen zu lassen. Das sollte mit Blick auf damit verbundene Anfechtungslasten freilich gut überdacht sein.104 V. Ausblick Insgesamt fällt auf, dass erstaunlich selten die Frage aufgeworfen wird, inwieweit der Rechtsschutz für gesetzliche Umweltbelange als Forderung des Demokratieprin-

100 Wie hier A. Schmidt, ZUR 2012, 210 (214); Sellner/Fellenberg, NVwZ 2011, 1025 (1032); a.A. Moench/Rutloff, NVwZ 2011, 1040 (1042). 101 Für den Bundesverkehrswegeplan Wulfhorst, DVBl 2012, 466. 102 Die SUP-Richtlinie fordert keine Öffentlichkeitsbeteiligung für politische Entscheidungen, vgl. Verwiebe, Umweltprüfungen auf Plan- und Programmebene, 2008, 70 f., 206 f. Zu Grenzen der Freistellung der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzgebungsakten EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-118/09 Boxus u. a., Slg. 2011, I-0000 Rn. 36 ff.; Urt. v. 16. 2. 2012, Rs. C-182/10 Solvay u. a., Slg. 2012, I-0000 Rn. 44 ff. 103 Mahnungen: BVerfG, Urt. v. 31. 5. 2011, NVwZ 2011, 1065 (1067 f.). 104 Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. Aufl. 2012, § 7 Rn. 22 ff. Ob der phasenspezifische Rechtsschutz das bessere Modell ist, kann in dieser Pauschalität bezweifelt werden. Jedenfalls bieten sich weitreichende Präklusionswirkungen für die Anfechtung des Planfeststellungsbeschlusses nicht an, a. A. M. Appel, UPR 2011, 406 (415).

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zips verstanden werden kann.105 Zu überdenken ist auch das im Netzausbaubeschleunigungsgesetz bekräftigte Dogma, trotz der weiterreichenden Bindungswirkung von Entscheidungen auf vorgelagerten Planungsstufen den Individualrechtsschutz auf den abschließenden Planfeststellungsbeschluss zu beschränken.106 Es bleibt die Frage, ob nicht in dem Maße, wie bereits im Raumordnungsverfahren, in der Verkehrswegeplanung oder in der neuen Bundesfachplanung überregionaler Höchstspannungsleitungen belastende Entscheidungen getroffen werden, der Rechtsschutz ebenen- und entscheidungsadäquat „nachwachsen“ müsste.107 Ob das im überkommenen System des Individualrechtsschutzes möglich ist, erscheint zweifelhaft. Angesichts des wenig konkreten Planungsstadiums, das ja gerade deshalb einer frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung108 geöffnet werden soll, bleiben Erweiterungen um objektive Rechtskontrollen durch anerkannte Umweltverbände erwägenswert.109 Verfassungs- oder unionsrechtliche Verpflichtungen zur Schaffung neuer Rechtsschutzverfahren bestehen insoweit allerdings nicht.110 Die Klageberechtigung nach Art. 11 UVP-RL bzw. § 2 Abs. 1 UmwRG mit der Erzwingung einer partiell, weil auf die Einhaltung von Umweltvorschriften beschränkten objektiven Rechtskontrolle knüpft an die UVP-Pflichtigkeit des Projekts an, nicht aber an die Verpflichtung zur strategischen Umweltprüfung des projektvorbereitenden Plans. Das Auseinanderfallen von Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz sollte nicht überwertet werden. Denn es mehren sich die Anzeichen, dass Gerichtsverfahren ihre Befriedungsfunktion nicht immer erfüllen und verbleibende Konflikte nicht stets einer akzeptablen Lösung zugeführt werden können. So werfen umstrittene Infrastrukturvorhaben die Frage nach der Konfiktbewältigung durch projektbezogene Abstimmungen und demokratische Mitentscheidung in der Form von Volksabstimmungen auf.111 Hier ist die Zurückhaltung deutscher Juristen sprichwörtlich.112 Denn es geht nicht mehr um das Recht in seiner rechtsstaatlichen Rationalität. Vielmehr kommt an dieser Stelle die Politik im Werben für die „richtige“ Entscheidung wieder ins Spiel.113 Im Recht einen Raum des Politischen anzuerkennen, muss, wie es Kloe105

Siehe aber die N. in Fn. 36. Krit. Franzius, GewArch 2012, 225 (230). 107 Vgl. Wahl, Erscheinungsformen und Probleme der projektorientierten Raumordnung, in: FS Sellner, 2010, 155 (170 ff.); Rojahn, NVwZ 2011, 654 ff. 108 Im Sinne eines Bedarfserörterungsverfahrens Burgi, NVwZ 2012, 277 (278 ff.); Franzius, GewArch 2012, 225 (228 f.); I. Appel, NVwZ 2012, 1361 (1367 f.). 109 A. Schmidt, ZUR 2011, 296 (299 ff.). 110 A. A. Moench/Ruttloff, NVwZ 2011, 1040 (1043). 111 Befürwortend Groß, DÖV 2011, 513 f. Zur Diskussion Franzius, GewArch 2012, 225 ff. 112 Vgl. die Beschlüsse des 69. Deutschen Juristentags, Abteilung Öffentliches Recht: Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie, München 2012, Nr. 29; offener das Gutachten von Ziekow, ebd., D 111 ff. 113 Gegen eine „Verrechtlichung der Kommunikation“ Durner, ZUR 2011, 354 (360 f.). Anders, wenngleich zurückhaltend der Vorschlag für eine frühe Bürgerbeteiligung nach § 25 Abs. 3 VwVfG-E, vgl. Gesetzentwurf zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und 106

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pfer mit dem Hinweis auf die notwendige Revisionsoffenheit des Rechts betont, nicht falsch sein.114 Dem steht, wie das BVerfG in anderem Zusammenhang hervorhebt, auch die „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes nicht entgegen. Art. 79 Abs. 3 GG gewährleiste nicht den unveränderten Bestand des geltenden Rechts, sondern Strukturen und Verfahren, die den demokratischen Prozess offen halten.115 Diese Einsicht in die Kontingenz des demokratischen Gemeinwesens umfasst die Chance auf Verbesserungen des Umweltrechtsschutzes. Sie unterstreicht mit Michael Kloepfer die Notwendigkeit rechtspolitischen Engagements, gilt es das zu Bewahrende doch als beweglich zu verstehen.

Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren (PlVereinhG), vgl. BT-Drs 17/9666 v. 16. 5. 2012; Fehling, Reform der Bürgerbeteiligung für die Planfeststellung von Infrastrukturvorhaben, Bucerius Law Journal 2012, 92 (96 ff.). 114 Zur Figur von Grundlagengesetzen für nachhaltige Lösungen Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, in: ders. (Hrsg.), Gesetzgebung als wissenschaftliche Herausforderung, 2011, 93. Auch in Frankreich – einem Mutterland der Demokratie – gibt es mit dem „loi organique“ höhere Stabilität verbürgende Gesetze. Faktisch wird man in Deutschland die VwGO bzw. die in sie hineingelesene Schutznormlehre – im hier kritisierten Sinne – dazu rechnen können. 115 BVerfG, 2 BvR 1390/12 v. 12. 9. 2012 (ESM/Fiskalvertrag), Abs.-Nr. 222.

Impact Assessment in der EU – Sicherung von Nachhaltigkeit durch Integration Von Wolfgang Kahl und Patrick Hilbert I. Einleitung: Folgenabschätzung und Rechtsetzungsqualität In seinem grundlegenden Trierer Staatsrechtslehrerreferat hat Michael Kloepfer die Diagnose des Regelungsfeldes und die Prognose des weiteren Entwicklungsverlaufs als die zentralen „Mindeststandards für eine rationale gesetzgeberische Entscheidung“ herausgestellt.1 Eingelöst werden kann dieser Anspruch durch Folgenabschätzung vor, bei und nach der Rechtsetzung. Folgenabschätzung und Folgenberücksichtigung können dazu beitragen, Entscheidungen zu rationalisieren,2 wobei dies nicht nur für Rechtsetzungsentscheidungen, sondern auch andere, insbesondere (weitreichende) politische Entscheidungen gilt. Im Mittelpunkt steht dabei die Funktion der Informationsaufbereitung für die Entscheidenden,3 auch wenn dieser unter anderem durch Zeit, Geld, politische Interessen und vor allem Zukunftsungewissheit4 Grenzen gesetzt sind.5 Darüber hinaus können Folgenabschätzungen einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung einer Nachhaltigen Entwicklung leisten.

1

M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (88 ff.), Zitat: S. 90. 2 C. Böhret, Gesetzesfolgenabschätzung, 1997, S. 4; W. Köck, Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzgebungsrechtslehre, VerwArch 93 (2002), S. 1 (3). 3 W. Kahl, Gesetzesfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsprüfung, in: W. Kluth/G. Krings (Hrsg.), Handbuch für Gesetzgebung, 2013 (i.E.), § 13 Rn. 2. 4 Vgl. A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/ E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 34; I. Appel, Aufgaben und Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung, in: M. Eifert/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung, 2009, S. 147 (155, 158). Dazu dass eine Rationalitätssteigerung aber gerade auch aus dem Wissen um das eigene NichtWissen resultieren kann, siehe M. Kloepfer, Planung und prospektive Rechtswissenschaft, in: W. Erbguth/J. Oebbecke/H.-W. Rengeling/M. Schulte (Hrsg.), Festschr. für W. Hoppe, 2000, S. 111 (120); H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 494 f. 5 W. Kahl/P. Hilbert, Folgenabschätzungen als Instrument der Umwelt- und Technikgesetzgebung – Stand und Perspektiven, JbUTR 2009, S. 207 (229 ff.); Köck (Fn. 2), S. 9 ff.; siehe aber auch C. Sicko, Gesetzesfolgenabschätzung und -evaluation: Ein Beitrag zum besseren Umgang mit dem Risikofaktor Recht, in: J. Scharrer u. a. (Hrsg.), Risiko im Recht – Recht im Risiko, 2011, S. 199 (210 ff.).

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Auch auf der Ebene der Europäischen Union hat die Folgenabschätzung unter dem Namen Impact Assessment ihren festen Platz. Sie geht hier über den Bereich der Rechtsetzung hinaus, wenngleich sie vor allem mit dem Projekt „Bessere Rechtsetzung“ verbunden bleibt, wie ein Blick auf ihre Entwicklung zeigt, bei dem auch der Nachhaltigkeits- und Primärrechtsbezug deutlich werden (II.). Impact Assessment findet auf Ebene der EU – parallel zur nationalen Folgenabschätzung6 – sowohl in einer Ex-ante-Perspektive, das heißt prospektiv und begleitend, als auch in einer Ex-post-Perspektive, das heißt evaluierend und kontrollierend, statt. Herzstück des Impact Assessment ist dabei das ex ante erfolgende Integrated Impact Assessment der Kommission, das deshalb im Mittepunkt unserer nachfolgenden Ausführungen stehen soll (III.). Der Beitrag endet mit zusammenfassenden und perspektivischen Überlegungen zur Zukunft und Reformbedürftigkeit des Impact Assessment in der EU (IV.). II. Bessere Rechtsetzung – Impact Assessment – Nachhaltigkeit 1. Impact Assessment als Bestandteil des Konzepts „Bessere Rechtsetzung“ Die Idee des Impact Assessment ist auf Unionsebene nicht neu.7 Seit 1986 existierte das Konzept des Business Impact Assessment (BIA).8 Es zielte jedoch mit zu engem Blick nur auf die Ermittlung der (wirtschaftlichen) Folgen von Regelungsvorschlägen für Unternehmen und hatte überdies Mängel, die seine Tauglichkeit stark einschränkten.9 Daneben unterzog die Kommission ihre Vorschlagsentwürfe einer Voruntersuchung (pre-assessment), um die Zweckmäßigkeit eines Handelns auf Unionsebene beurteilen zu können,10 und führte Impact Assessments in Einzelbereichen durch,11 von denen die Umweltfolgenabschätzungen (environmental assessments)12 6

Hierzu Böhret (Fn. 2), S. 9; Kahl/Hilbert (Fn. 5), S. 211 ff. Siehe zum Impact Assessment vor der hier behandelten Entwicklung ab 2002 H. von Moltke, Gesetzgebung der Europäischen Gemeinschaften, ZG 1993, S. 212 ff.; C. Lange, Gesetzesfolgenabschätzung auf der Ebene der Europäischen Union, ZG 2001, S. 268 (271 ff.); U. Karpen, Gesetzesfolgenabschätzung in der Europäischen Union, AöR 124 (1999), S. 400 (418 ff.). 8 Hierzu Enterprise Directorate-General, European Commission, Business impact assessment pilot project. Final report – Lessons learned and the way forward, Enterprise Papers No 9, 2002 (http://ec.europa.eu/enterprise/newsroom/cf/_getdocument.cfm?doc_id=1842; diese und die nachfolgenden Internetadressen wurden zuletzt am 14. 01. 2013 aufgerufen). 9 Ebd., S. 2 f. 10 Vgl. Ziff. 4, 9 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (ABl. C 340 vom 10. 11. 1997, S. 105); nunmehr Art. 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (ABl. C 83 vom 30. 03. 2010, S. 206). Siehe auch KOM (2001) 726 endg., S. 6 f., 8. 11 Vgl. KOM (2002) 276 endg., S. 3. 12 Vgl. COM (1998) 333 final, S. 6 f. 7

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besondere Erwähnung verdienen. Ingesamt blieb die Folgenabschätzung jedoch zersplittert, einzelproblemorientiert und deshalb letztlich ineffektiv. Eine Stärkung des Impact Assessment erfolgte erst in Verbindung mit dem übergreifenden Projekt „Bessere Rechtsetzung“ („Better Regulation“).13 Das hiermit verfolgte Ziel einer Verbesserung des Regelungsumfelds in der Union bestand zwar schon seit Anfang der 1990er Jahre,14 forciert wurde das Projekt aber erst zu Beginn dieses Millenniums. Erste Ergebnisse markieren hierbei das Weißbuch „Europäisches Regieren“15 der Kommission sowie der Abschlussbericht16 der sog. Mandelkern-Gruppe aus dem Jahr 2001. Auf dieser Grundlage veröffentlichte die Kommission 2002 den Aktionsplan „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“, in dem als eine von 16 Aktionen auch die „Folgenabschätzung für wichtige legislative und politische Initiativen“ genannt ist, die von der Kommission durchgeführt und schrittweise von Ende 2002 an eingeführt werden sollte.17 Hierzu legte die Kommission in ihrer zeitgleich mit dem Aktionsplan beschlossenen Mitteilung über Folgenabschätzung eine „neue integrierte Methode der Folgenabschätzung“ (Integrated Impact Assessment) für alle wichtigen Initiativen fest.18 Die Anwendung dieser neuen Methode vereinbarte die Kommission 2003 mit dem Europäischen Parlament und dem Rat in der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“.19 Auch in der Weiterentwicklung des Projekts „Bessere Rechtsetzung“, dem Konzept der intelligenten Regulierung (smart regulation), bleibt das Integrated Impact Assessment als Kernelement erhalten.20 Die Einführung des Integrated Impact Assessment war ein wichtiger Schritt für die Folgenabschätzungskultur in der EU.21 Es verfolgt einen umfassenden Ansatz, dessen Zielsetzung ambitioniert ist.22 In der Mitteilung über Folgenabschätzung heißt es: „Die neue Folgenabschätzungsmethode integriert sämtliche sektoralen Abschätzungen mittelbarer und unmittelbarer Auswirkungen einer vorgeschlagenen Maßnahme in ein globales Instrument, und überwindet damit die derzeitige Situation, in der eine Reihe partieller und sektoraler Abschätzungen vorgenommen werden. Sie bietet ein gemeinsames Spektrum an grundlegenden Fragen, analytische Min13

A. Renda, Impact Assessment in the EU, 2006, S. 43 ff. Conclusions of the Presidency, European Council in Edinburgh, 11 – 12 December, 1992, SN 456/1/92 REV 1, Annex 3 to Part A. 15 KOM (2001) 428 endg. 16 Mandelkern Group on Better Regulation, Final Report. 13. 11. 2001 (http://ec.europa. eu/governance/better_regulation/documents/mandelkern_report.pdf). 17 KOM (2002) 278 endg., S. 7 f. 18 KOM (2002) 276 endg., S. 2. Die neue Methode kam erstmals 2004 in vollem Umfang zur Anwendung, KOM (2003) 645 endg., S. 12. 19 Ziff. 29 der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ (ABl. C 321 vom 31. 12. 2003, S. 1). 20 KOM (2010) 543 endg., S. 6 ff.; COM (2012) 746 final, S. 6 f. 21 KOM (2009) 15 endg., S. 7. 22 Vgl. Renda (Fn. 13), S. 55. 14

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deststandards und ein gemeinsames Berichterstattungsmuster. Allerdings wird die neue Methode genügend flexibel sein, um die Unterschiede zwischen Strategien der Kommission in den Griff zu bekommen und die speziellen Gegebenheiten einzelner Politikbereiche zu berücksichtigen.“23 Damit soll das Integrated Impact Assessment grundsätzlich alle anderen bisher bestehenden Folgenabschätzungsverfahren in sich aufnehmen. Neben ihm bleibt nur noch die gemäß Art. 27 der Haushaltsordnung, Art. 21 Abs. 1 Durchführungsbestimmung zur Haushaltsordnung vorgeschriebene Ex-ante-Evaluierung der Kosteneffizienz ausgabenwirksamer Programme und Aktionen bestehen, die allerdings, wenn sie neben einem Impact Assessment durchzuführen ist, ebenfalls in dieses integriert wird.24 2. Nachhaltigkeits- und Primärrechtsbezug Das Integrated Impact Assessment ist auf das Engste mit dem Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung im weiten Sinne25 verknüpft, welches Ökologie, Ökonomie und Soziales als grundsätzlich gleichwertige Dimensionen von Nachhaltigkeit anerkennt (sog. Drei-Säulen-Konzept),26 denn es soll vor allem eine vertiefte „Analyse der potenziellen Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt“ ermöglichen.27 Die Berücksichtigung der drei „Säulen“ bei der Entscheidungsfindung und ihr Ausgleich untereinander sind nur innerhalb geeigneter Verfahren möglich,28 wobei dem Integrationsprinzip (Art. 11 AEUV) eine Schlüsselrolle zukommt.29 Ein derartiges Verfahren stellt nicht zuletzt das Integrated Impact Assessment dar.30 Die Kommission wollte hiermit in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Göteborg (Juni 2001) ein Instrument zur Ermittlung der Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit (sustainable impact assessment)31 entwi-

23

KOM (2002) 276 endg., S. 3. KOM (2002) 276 endg., S. 4; SEK (2009) 92, S. 7. 25 Siehe dazu A. Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 44 ff.; W. Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, in: ders. (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 1 (6 ff.). 26 Vgl. K. Gehne, Nachhaltige Entwicklung als Rechtsprinzip, 2011, S. 78 ff.; W. Kahl, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 11 AEUV Rn. 19 ff. 27 KOM (2002) 276 endg., S. 8; siehe auch KOM (2005) 97 endg., S. 5. 28 Glaser (Fn. 25), S. 70 ff.; W. Kahl, Der Nachhaltigkeitsgrundsatz im System der Prinzipien des Umweltrechts, in: H. Bauer/D. Czybulka/W. Kahl/A. Voßkuhle (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 111 (140 ff.). 29 C. Calliess, Verwaltungsorganisationsrechtliche Konsequenzen des integrierten Umweltschutzes, in: M. Ruffert (Hrsg.), Recht und Organisation, 2003, S. 73 (79, 88 ff.); Kahl (Fn. 26), Art. 11 AEUV Rn. 24. 30 Vgl. KOM (2005) 97 endg., S. 5. 31 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Göteborg), 15./16. 06. 2001, SN 200/1/01 REV 1, S. 5. 24

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ckeln.32 Das Integrated Impact Assessment dient somit der Umsetzung der Strategie für nachhaltige Entwicklung der Union,33 wenngleich freilich nicht ausschließlich.34 Zugleich ist es weiterhin dem Ziel einer „Besseren Rechtsetzung“ in der EU verpflichtet,35 wie bereits seine Genese zeigt. Schließlich soll es – in Umsetzung der Lissabon-Strategie36 – zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Union und zu Prosperität beitragen. In der Verknüpfung von Impact Assessment und Nachhaltiger Entwicklung wird zugleich der Primärrechtsbezug der Folgenabschätzung deutlich.37 Der Nachhaltigkeitsgrundsatz ist im Primärrecht der EU fest verwurzelt (vgl. 9. Erwägungsgrund der Präambel, Art. 3 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 11 AEUV, Art. 37 GRCh).38 Insbesondere die umweltrechtliche Integrationsklausel (Art. 11 AEUV) unterstreicht nicht nur, dass die Union sich auf den Grundsatz der Nachhaltigen Entwicklung verpflichtet hat,39 sondern verlangt zu dessen Förderung eine Berücksichtigung der Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung aller Unionspolitiken und -maßnahmen. Diese primär an die Unionsorgane40 gerichtete Berücksichtigungspflicht muss sich auch in der Begründung (Art. 296 Abs. 2 AEUV) des jeweiligen Handelns niederschlagen.41 Berücksichtigung und Begründung sind aber nicht ohne prospektive Erwägungen über die Folgen des geplanten Handelns respektive Nicht-Handelns möglich. Ob Art. 11 AEUV deshalb eine konkrete Rechtspflicht zur Folgenabschätzung (betreffend Umweltbelange) enthält42 oder nur eine Obliegenheit bewirkt,43 ist 32 KOM (2001) 726 endg., S. 8; KOM (2002) 276 endg., S. 2. Siehe auch KOM (2002) 82 endg., S. 15 f.; SEC (2004) 1377, S. 5. 33 KOM (2001) 264 endg., S. 6 f.; KOM (2005) 658 endg., S. 15; Ziff. 10 f. der erneuerten EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung (Ratsdokument Nr. 10917/06 vom 26. 06. 2006); KOM (2007) 642 endg., S. 4; KOM (2009) 400 endg., S. 3 f. 34 Siehe den umfassenden Katalog bei SEK (2009) 92, S. 6; ferner Renda (Fn. 13), S. 52 f.; S. White, Impact Assessment – Experience from the European Commission, in: K. Bizer/S. Lechner/M. Führ (Hrsg.), The European Impact Assessment and the Environment, 2010, S. 59 (61 f.). 35 Siehe nur KOM (2006) 689 endg., S. 4, 6, 10 f. 36 Siehe hierzu m. N. Kahl (Fn. 26), Art. 11 AEUV Rn. 46. 37 K. Bizer/S. Lechner/M. Führ, Improving the Integrated European Impact Assessment?, in: dies. (Hrsg.), The European Impact Assessment and the Environment, 2010, S. 1 (3 ff.). 38 A. Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 74 ff. 39 C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 11 AEUV Rn. 12. 40 Zur (begrenzten) Bindung auch der Mitgliedstaaten siehe A. Epiney, Zur Bindungswirkung der gemeinschaftsrechtlichen „Umweltprinzipien“ für die Mitgliedstaaten, in: C. Gaitanides/S. Kadelbach/G. C. Rodríguez Iglesias (Hrsg.), Festschr. für M. Zuleeg, 2005, S. 633 (637 ff.). 41 M. Schröder, Umweltschutz als Gemeinschaftsziel und Grundsätze des Umweltschutzes, in: H.-W. Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, 2. Aufl. 2003, § 9 Rn. 28. 42 So Windoffer (Fn. 38), S. 126 f.; Calliess (Fn. 39), Art. 11 AEUV Rn. 9, 13; M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 9 Rn. 106.

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noch nicht abschließend geklärt. Die praktische Relevanz dieser Streitfrage ist indes nicht allzu groß, hat sich doch die Kommission bereits seit längerem verpflichtet, bei der Ausarbeitung von Vorschlägen, die erhebliche Auswirkungen für die Umwelt haben können, Umweltverträglichkeitsstudien zu erstellen.44 Neben Art. 11 AEUV verdient Art. 191 Abs. 3 Spstr. 3 AEUV Erwähnung der, gleichsam als Gegenstück zu Art. 11 AEUV,45 vorschreibt, dass bei der Erarbeitung der Umweltpolitik unter anderem die Vorteile und Belastungen aufgrund des Tätigwerdens bzw. eines Nichttätigwerdens berücksichtigt werden. Dieses Berücksichtigungsgebot verlangt, mögliche kurz-, mittel- oder langfristige Auswirkungen finanzieller, ökonomischer, sozialer, kultureller, ökologischer und sonstiger Art als rechtsverbindliche Abwägungskriterien in eine Gesamtabwägung einzustellen.46 Insoweit ist teilweise von der Notwendigkeit einer Gesamtfolgenabschätzung die Rede.47 Das ist hinsichtlich des Umfangs der einzustellenden Belange richtig. Wie bei Art. 11 AEUV ist aber nicht ausgemacht, ob Art. 191 Abs. 3 Spstr. 3 AEUV eine Pflicht zur Folgenabschätzung enthält oder nicht eher ,nur’ eine (deklaratorische) Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (Angemessenheit) ist.48 Insgesamt geht das Primärrecht mithin von der Notwendigkeit einer Folgenabschätzung aus, ohne dass sich ihm eine echte Pflicht hierzu entnehmen lässt.49 Der Wortlaut von Art. 11 AEUV ist hierfür zu wenig eindeutig. Zudem ist eine solche Pflicht ohne weitere Konkretisierung, insbesondere ohne Angaben zu ihrem Umfang, kaum operationabel.50 Vorgaben hinsichtlich des „Wie“ von Folgenabschätzungen enthält aber weder Art. 11 AEUV noch Art. 191 Abs. 3 Spstr. 3 AEUV.51

43 In diese Richtung M. Nettesheim, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (Stand: 2012), Art. 11 AEUV Rn. 25 f. Allgemein i.E. auch I. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, 2006, § 17 Rn. 19. 44 Vgl. Erklärung Nr. 20 zur Schlussakte des Vertrags von Maastricht; Erklärung Nr. 12 zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam. 45 K. Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 3 Rn. 172: „umgekehrte Querschnittsklausel“. 46 Kahl (Fn. 26), Art. 191 AEUV Rn. 117, 124; Calliess (Fn. 39), Art. 191 AEUV Rn. 42, 46. 47 Calliess (Fn. 39), Art. 191 AEUV Rn. 42; Meßerschmidt (Fn. 45), § 3 Rn. 180; Schröder (Fn. 41), § 9 Rn. 53. 48 In letzterem Sinne Kahl (Fn. 26), Art. 191 AEUV Rn. 124; A. Käller, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 191 AEUV Rn. 44; a.A. Schröder (Fn. 41), § 9 Rn. 53. 49 Auch Art. 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit statuiert vor allem eine Begründungspflicht. A.A. Windoffer (Fn. 38), S. 126 ff., 223. 50 Vgl. W. Kahl, Buchbesprechung, Die Verwaltung 45 (2012), S. 143 (145). 51 Nettesheim (Fn. 43), Art. 11 AEUV Rn. 26.

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3. Justiziabilität Die Justiziabilität der Durchführung von Impact Assessments ist schwach ausgeprägt. In Betracht kommt zunächst eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV gegen Rechtsakte der Union, die ohne vorheriges Impact Assessment ergangen sind. Die Nichtdurchführung eines Impact Assessment stellte eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften dar, wenn hierzu eine hinreichend klare Pflicht bestünde. Dies ist aber hinsichtlich des Primärrechts gerade nicht der Fall.52 Zwar können Interinstitutionelle Vereinbarungen wesentliche Formvorschriften begründen.53 Doch ist in Anbetracht des Wortlauts der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ nicht davon auszugehen, dass Kommission, Parlament und Rat hierdurch eine sanktionsfähige Verpflichtung zum Impact Assessment eingehen wollten.54 Eine wesentliche Formvorschrift ist zwar die Begründungspflicht des Art. 296 Abs. 2 AEUV. Wie gesehen wird sie beispielsweise durch Art. 11, 191 Abs. 3 Spstr. 3 AEUV, aber auch Art. 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ausgelöst und eine gerichtliche Kontrolle im Wege der Nichtigkeitsklage eröffnet.55 Da die meisten Impact Assessments aber von der Kommission durchgeführt werden, ist der die Ergebnisse des Impact Assessment zusammenfassende Bericht regelmäßig nicht Teil der Begründung des angegriffenen Aktes, sondern Teil der Begründung des Vorschlags der Kommission (Art. 294 Abs. 2 AEUV).56 Ein unterlassenes Impact Assessment kann damit allenfalls höchst mittelbar zu einer Verletzung wesentlicher Formvorschriften führen und entsprechend justiziabel sein. Allerdings bestehen Wechselbezüge zwischen Impact Assessment und der gerichtlichen Kontrolle dahingehend, dass ein durchgeführtes bzw. nicht durchgeführtes Impact Assessment relevante Informationen hinsichtlich der Ermessensausübung liefern kann, was sich dann gegebenenfalls auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit auswirkt.57 In derartigen Fällen

52

Siehe oben II. 2. M. Krajewski/U. Rösslein, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (Stand: 2012), Art. 295 AEUV Rn. 22. 54 Gleiches gilt für das Gemeinsame interinstitutionelle Konzept für die Folgenabschätzung (Ratsdokument Nr. 14901/05 vom 24. 11. 2005). Wie hier A. C. M. Meuwese, Impact Assessment in EU Lawmaking, 2008, S. 57; a.A. hinsichtlich des interinstitutionellen Konzepts wohl C. Lund, Gesetzesfolgenabschätzung auf europäischer Ebene und in Deutschland, VR 2011, S. 87 (88). 55 Calliess (Fn. 39), Art. 191 AEUV Rn. 47; Käller (Fn. 48), Art. 11 AEUV Rn. 18. 56 E. Hofmann, Die europäische Folgenabschätzung in der Umweltpolitik, ZUR 2006, S. 574 (580 f.), der deshalb mit Recht dafür plädiert, die Impact Assessment Berichte in die Begründungen der Gesetzgebungsakte mit einzubeziehen, um so die Justiziabilität des Impact Assessments zu erhöhen und dadurch seine Qualität zu steigern. 57 A. Alemanno, A Meeting of Minds on Impact Assessment, European Public Law 17 (2011), S. 485 (497 ff.); COM (2012) 373 final, S. 7. 53

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zieht der EuGH das Impact Assessment allerdings nur als Informationsressource heran und kontrolliert es nicht.58 Denkbar ist des Weiteren eine Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV), wenngleich auch insoweit eine hinreichend klar gefasste Pflicht zum Impact Assessment grundsätzlich nur schwerlich zu erkennen ist. Dennoch kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die zahlreichen Äußerungen der Kommission, in denen sie die Notwendigkeit und ihre Bereitschaft zur Folgenabschätzung bekundet, zusammengenommen eine Pflicht zum Impact Assessment begründen, die zwar weniger als eine wesentliche Formvorschrift ist, an der sich die Kommission aber im Rahmen einer Untätigkeitsklage festhalten lassen müsste. Doch bleiben die Erfolgsaussichten einer Untätigkeitsklage, auch in Anbetracht der der Kommission verbleibenden Ermessensspielräume, eher gering. III. Impact Assessment durch die Kommission 1. Kommission als zentraler Akteur Die Kommission ist nicht der einzige Akteur im Bereich des Impact Assessment.59 In der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ ist festgehalten, dass im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV) das Europäische Parlament und der Rat vor der Annahme einer wesentlichen Änderung im Rahmen der ersten Lesung oder im Stadium der Vermittlung ebenfalls Folgenabschätzungen durchführen können.60 Das Zusammenspiel der drei Akteure Kommission, Parlament und Rat wird in deren Gemeinsamen Interinstitutionellen Konzept für die Folgenabschätzung näher umrissen.61 Nichtsdestotrotz ist das Integrated Impact Assessment durch die Kommission der wichtigste Folgenabschätzungsprozess auf EU-Ebene. Der Ablauf des von der Kommission durchgeführten Integrated Impact Assessment wird durch die von der Kommission beschlossenen Leitlinien zur Folgenabschätzung (Impact Assessment Guidelines) determiniert.62 Sie erschienen erstmals 2002 und werden seitdem regelmäßig aktualisiert und überarbeitet. Die zweite Fas-

58 Siehe z. B. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2006, Rs. C-310/04, Spanien/Rat, Slg. 2006, I7285 Rn. 95 ff.; Urteil vom 08. 06. 2010, Rs. C-58/08, Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999 Rn. 51 ff.; Urteil vom 12. 05. 2011, Rs. C-176/09, Luxemburg/Parlament und Rat, n. n. i. d. Slg., Rn. 61 ff. 59 Siehe Windoffer (Fn. 38), S. 223 f.; eingehend Meuwese (Fn. 54), S. 91 ff., insb. 100 ff., 125 ff. 60 Ziff. 30 der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ (ABl. C 321 vom 31. 12. 2003, S. 1). 61 Ratsdokument Nr. 14901/05 vom 24. 11. 2005. Speziell zur Folgenabschätzung im Rat vgl. Ratsdokument Nr. 9382/06 vom 15. 05. 2006. 62 Zu deren Einordnung Meuwese (Fn. 54), S. 56 f.

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sung der Leitlinien erschien 2005 und wurde Anfang 2006 überarbeitet.63 Mittlerweile liegen die Leitlinien in ihrer dritten Fassung von 2009 vor,64 ihre nächste Aktualisierung ist für 2014 angekündigt.65 Da die Durchführung von Impact Assessments durch die Kommission zeit- und kostenintensiv ist, ist nur eine abgestufte und differenzierte Folgenabschätzung verhältnismäßig. Deshalb müssen nicht alle, sondern nur die wichtigen Initiativen der Kommission einen Impact Assessment Prozess durchlaufen.66 Findet ein Impact Assessment statt, hat es zudem kein einheitliches Prüfprogramm, sondern Untersuchungsrahmen und Methodik variieren nach Art67 und Bedeutung des Vorschlags (Grundsatz der proportionalen Analyse).68 2. Untersuchungsgegenstände Die Leitlinien zur Folgenabschätzung bestimmen, dass ein Impact Assessment notwendig ist für alle Rechtsetzungsvorschläge, die Bestandteil des Legislativund Arbeitsprogramms der Kommission sind, außerdem für diejenigen Rechtsetzungsvorschläge, die zwar nicht Teil des Legislativ- und Arbeitsprogramms sind, aber „eindeutig identifizierbare wirtschaftliche, soziale und ökologische Auswirkungen haben“ sowie für die „nichtlegislativen Maßnahmen […], die der Definition zukünftiger Maßnahmen dienen“.69 Erfasst werden sollen, mit anderen Worten, sämtliche Initiativen mit (erheblichen) wirtschaftlichen, sozialen oder umweltbezogenen Auswirkungen. Welche Vorschläge konkret von einem Impact Assessment begleitet werden, entscheiden der Ausschuss für Folgenabschätzung und die betroffenen Abteilungen. 3. Beteiligte Die Gesamtverantwortung für das Impact Assessment liegt bei der für den Sachvorschlag zuständigen Dienststelle70 der Kommission, die das Impact Assessment durchzuführen hat.71 Die anderen Dienststellen werden auf zwei Arten einbezogen. Für jedes einzelne Impact Assessment wird eine Lenkungsgruppe für Folgenabschätzung (Impact Assessment Steering Group, IASG) eingesetzt. Ihre Mitglieder ent63

SEC (2005) 791. Vgl. auch KOM (2005) 97 endg., S. 5 f. SEK (2009) 92. 65 COM (2012) 746 final, S. 7. 66 KOM (2002) 276 endg., S. 5 f. 67 SEK (2009) 92, S. 16 ff. 68 KOM (2002) 276 endg., S. 4, 6, 9; SEC (2004) 1377, S. 5; SEK (2009) 92, S. 15: „Verhältnismäßigkeit der Analyse“. 69 SEK (2009) 92, S. 6. 70 Die Verwendung des Begriffs „Dienststelle“ folgt dem Sprachgebrauch in den einschlägigen Kommissionsdokumenten. Mit dem Dienststellenbegriff sind auch, wenngleich nicht nur die Generaldirektionen der Kommission gemeint. 71 SEK (2009) 92, S. 6. 64

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stammen nicht nur der federführenden Generaldirektion, sondern auch anderen Generaldirektionen, soweit sie inhaltlich betroffen sind oder über brauchbares Knowhow verfügen, sowie dem zuständigen Referat für Politikkoordinierung des Generalsekretariats.72 Daneben werden alle Dienststellen in der dienststellenübergreifenden Konsultation (Inter-service consultation, ISC) in das Verfahren einbezogen. Eine wichtige Rolle spielt ferner der Ausschuss für Folgenabschätzung (Impact Assessment Board, IAB).73 Diesem 2006 ins Leben gerufenen,74 neunköpfigen Gremium gehören der stellvertretende Generalsekretär und acht für zwei Jahre ernannte Kommissionsbeamte aus den Generaldirektionen an.75 Das IAB untersteht direkt dem Kommissionspräsidenten und soll die Qualität der Impact Assessments sichern. Es fungiert hierzu zum einen als Beratungsstelle, die während des Impact Assessment Prozesses, beispielsweise zu Fragen der Methodik, konsultiert werden kann.76 Im Schwerpunkt ist das IAB jedoch als watchdog konzipiert, der die Ergebnisse der durchgeführten Impact Assessments kontrolliert.77 4. Verfahrensablauf Um dem Grundsatz der proportionalen Analyse78 Rechnung zu tragen, beginnt das Verfahren mit einer Prüfung, ob ein Vorschlag eines Impact Assessment bedarf und wie tief dieses gehen soll. Ursprünglich wurde hierfür in einer ersten Phase (sog. vorläufige Abschätzung) ermittelt, welche Vorhaben in einer zweiten Phase einer ausführlichen Folgenabschätzung unterzogen werden sollten.79 Seit der Neufassung der Leitlinien zur Folgenabschätzung im Jahr 2005 wurde die vorläufige Abschätzung ersetzt durch das Erfordernis, jedem Vorschlag, der entsprechend den oben genannten Kriterien potentiell eines Impact Assessment bedarf, einen Ablaufplan (roadmap) beizufügen.80 Die Erstellung der roadmap hat zwar wie die frühere vorläufige Abschätzung eine Filterfunktion, da in der roadmap auch dargelegt werden kann, dass ein Impact Assessment nicht erforderlich ist. Die eigentliche Intention der roadmap ist es aber, das typischerweise folgende Impact Assessment zu strukturieren,81 indem ein Zeitplan und nähere Informationen zu den einzelnen Schritten festgelegt 72

SEK (2009) 92, S. 9. Hierzu http://ec.europa.eu/governance/impact/iab/iab_en.htm. 74 KOM (2006) 689 endg., S. 10 f. 75 Art. 1, 2 der Rules of Procedure of the Impact Assessment Board (http://ec.europa.eu/ governance/impact/iab/docs/iab_rules_of_procedure_final_en.pdf). 76 SEK (2009) 92, S. 11. 77 Kritisch aber Alemanno (Fn. 57), S. 491, der dem IAB nur einen mittelbaren Einfluss attestiert. 78 Siehe oben III. 1. a. E. 79 KOM (2002) 276 endg., S. 7 ff. 80 SEC (2005) 791, S. 7 Fn. 10. Die roadmaps sind im Internet abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/governance/impact/planned_ia/planned_ia_en.htm. 81 Vgl. SEC (2004) 1377, S. 6. 73

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werden, wodurch das Impact Assessment auch in den Strategie- und Programmplanungszyklus der Kommission integriert wird.82 Die roadmap wird vom Generalsekretariat und dem IAB überprüft.83 Zudem wird zu Beginn jedes Impact Assessment eine eigene IASG eingesetzt, die das gesamte Impact Assessment begleitet.84 Auf die Erstellung der roadmap und die Einsetzung der IASG folgt die inhaltliche Kernarbeit des Impact Assessment. Ein guter Teil hiervon besteht aus Informationsbeschaffung.85 Dazu wird auf interne wie externe, bestehende und neu zu schaffende Informationsquellen zugegriffen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Konsultation von betroffenen Interessengruppen.86 Die Bedeutung der möglichst breiten Konsultation interessierter Kreise für die Folgenabschätzung wird immer wieder zutreffend betont,87 Konsultationen aber auch darüber hinaus als Essentiale des Konzepts „Bessere Rechtsetzung“ begriffen, weshalb sie auch ein eigenständiger Teil des Aktionsplans „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“88 und der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“89 sind. Auch Mitgliedstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland wollen über den Weg der Konsultation Einfluss auf das Ergebnis des Impact Assessment nehmen.90 Auf der Grundlage der beschafften Informationen erfolgen die nächsten Schritte: Zunächst sind das anzugehende Problem möglichst genau zu definieren und seine Ursachen zu analysieren, um zu ermitteln, ob ein Tätigwerden auf Ebene der EU notwendig ist.91 Des Weiteren müssen die angestrebten politischen Ziele definiert werden.92 Die Zieldefinition stellt das Verbindungsstück zwischen Problemdefinition und -lösung dar,93 fungiert also als benchmark für letztere. Orientiert an der Zieldefinition sind zur Problemlösung geeignete politische Optionen (inklusive der Untätigkeitsoption) und ihre jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen sowie der mit ihnen verbundene Verwaltungsaufwand zu ermitteln, zu be82

SEK (2009) 92, S. 8; siehe hierzu auch Anhang 1 zu SEK (2009) 92. Kritisch Meuwese (Fn. 54), S. 68 f. 83 SEK (2009) 92, S. 8. 84 SEK (2009) 92, S. 11. 85 SEK (2009) 92, S. 20 ff.; Anhang 5 zu SEK (2009) 92. 86 SEK (2009) 92, S. 21 ff.; siehe auch SWD (2012) 422 final. 87 Vgl. etwa KOM (2005) 97 endg., S. 5. Die kooperative Einbindung gesellschaftlicher Akteure kann dabei auch helfen, die Nachhaltigkeitsorientierung von Entscheidungen zu stärken, vgl. M. Kloepfer, Die Notwendigkeit einer nachhaltigkeitsfähigen Demokratie, GAIA 1 (1992), S. 253 (258 f.). 88 KOM (2002) 278 endg., S. 6 f.; siehe hierzu KOM (2002) 704 endg. 89 Ziff. 25 f. der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ (ABl. C 321 vom 31. 12. 2003, S. 1). 90 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Leitfaden Folgenabschätzung in der Europäischen Union, 2006, S. 20 ff. 91 SEK (2009) 92, S. 24 ff.; Anhang 6 zu SEK (2009) 92. 92 SEK (2009) 92, S. 30 ff. 93 SEK (2009) 92, S. 32.

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werten und auf Grundlage eines Basisszenarios94 zu vergleichen.95 Schlussendlich sind Vorkehrungen für mögliche Ex-post-Folgenabschätzungen zu treffen.96 Die Ergebnisse der geschilderten Schritte werden in einem FolgenabschätzungsBericht (Impact Assessment report) dargestellt. Hierfür fertigt die federführende Dienststelle einen Entwurf an.97 Dieser Entwurf wird zunächst von der IASG überprüft. Danach wird er dem IAB vorgelegt. Das IAB kontrolliert die Ergebnisse des Impact Assessment und muss eine Stellungnahme zu dem Impact Assessment report abgeben.98 Diese Stellungnahme muss, wenngleich sie nicht bindend ist,99 „gebührend berücksichtigt werden“. Dies bedeutet, dass der Impact Assessment report unter Umständen überarbeitet oder sogar die Arbeit in der IASG erneut aufgenommen werden muss.100 In diesem Fall kann auch eine erneute Vorlage des überarbeiteten Impact Assessment reports an das IAB notwendig werden. In ihren Arbeitsmethoden 2010 – 2014 hat die Kommission festgelegt, dass es vor der Einleitung der ISC, die den nächsten Verfahrensschritt darstellt, grundsätzlich einer positiven Stellungnahme des IAB bedarf.101 Für die ISC werden der (überarbeitete) Impact Assessment report und die Stellungnahme(n) des IAB an alle Dienststellen weitergeleitet.102 Die ISC kann wiederum zu Änderungen des Impact Assessment reports führen. Bei grundlegenden Änderungen soll der Bericht dem IAB erneut vorgelegt werden. Nach der ISC existiert eine Endfassung des Impact Assessment reports, die samt einer Zusammenfassung und dem Vorschlagsentwurf selbst dem Kollegium der Kommissare vorgelegt wird. Sofern der Vorschlag angenommen wird, wird er zusammen mit dem Impact Assessment report und dessen Zusammenfassung dem Europäischen Parlament und dem Rat zugeleitet. Alle Impact Assessment reports werden zudem im Internet veröffentlicht.103 IV. Resümee und Reformperspektiven Auf Ebene der EU besteht mit dem Integrated Impact Assessment ein umfassendes Folgenabschätzungssystem, das auch als Nachhaltigkeitsprüfung fungiert und von klaren Zuständigkeiten und Verfahrensvorgaben profitiert. Dies sticht gerade 94

SEK (2009) 92, S. 27 f. SEK (2009) 92, S. 33 ff.; Anhänge 7 ff. zu SEK (2009) 92. 96 SEK (2009) 92, S. 57 f. 97 SEK (2009) 92, S. 9 f.; siehe hierzu auch Anhang 3 zu SEK (2009) 92. 98 SEK (2009) 92, S. 11; zum Ablauf der Kontrolle im IAB siehe SEC (2012) 101 final, S. 10 f., 33 ff. 99 http://ec.europa.eu/governance/impact/iab/iab_en.htm; zu den Hintergründen Meuwese (Fn. 54), S. 73 f. 100 SEK (2009) 92, S. 11. 101 K (2010) 1100, S. 10; siehe auch KOM (2010) 543 endg., S. 7. 102 Dazu und zum Folgenden SEK (2009) 92, S. 12 f. Siehe auch Lund (Fn. 54), S. 89. 103 http://ec.europa.eu/governance/impact/ia_carried_out/cia_2012_en.htm. 95

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im Vergleich mit der Situation in Deutschland positiv ins Auge, wo Gesetzesfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsprüfung (§ 44 Abs. 1 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien)104 bislang ein Schattendasein führen.105 Kehrseite des umfassenden Ansatzes auf EU-Ebene ist freilich seine Komplexität. Sie verstärkt die allgemein-strukturellen Folgenabschätzungsprobleme, wie insbesondere Zeitund Finanzbedarf, aus Zukunftsungewissheit resultierende Prognoseunsicherheiten und damit verbundene große Darstellungsspielräume, noch zusätzlich und stellt erhebliche Anforderungen an die Ausbildung der beteiligten Kommissionsbeamten.106 Aufs Ganze gesehen ist das Integrated Impact Assessment zwar ein theoretisch taugliches Instrument, die Qualität der EU-Gesetzgebung und -Politiken zu steigern, weist allerdings noch Verbesserungspotential hinsichtlich seiner praktischen Umsetzung auf.107 Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Integrated Impact Assessment erst 2002 schrittweise angelaufen ist, erstmals 2004 vollständig implementiert war und seitdem stetig weiterentwickelt wird. Die letzte Überarbeitung der Leitlinien zur Folgenabschätzung im Jahr 2009 hat die Anforderungen für Impact Assessments erneut verschärft. Unter diesen Umständen können eingespielte Routinen und eine „in Fleisch und Blut“ übergegangene Befolgung realistischerweise noch nicht erwartet werden.108 Zugleich wird damit aber auch ein Spannungsfeld deutlich: Für ein langfristig erfolgreiches Impact Assessment sind sowohl die kontinuierliche Überprüfung und Verbesserung der vorgegebenen Abläufe als auch ein gewisses Maß an Kontinuität zwecks Ermöglichung der Umsetzbarkeit der Vorgaben nötig. Dieses Spannungsverhältnis wird durchaus erkannt, dabei aber der fortlaufenden Beobachtung und Optimierung des dynamischen Instruments der Vorrang eingeräumt. So wurde das Impact Assessment System im Jahr 2007 extern evaluiert109 und wird immer wieder internen Untersuchungen110 unterzogen. Bei den unionsinternen 104

Kahl (Fn. 3), § 13 Rn. 14 ff., 40 f., 44 ff. Vgl. P. Nagel, Navigieren beim Driften, SächsVBl. 2010, S. 105 (105 f.); M. Führ/ K. Bizer/S. Hensel, Entwicklungsperspektiven der Gesetzesfolgenabschätzung auf Bundesebene, in: S. Hensel/K. Bizer/M. Führ/J. Lange (Hrsg.), Gesetzesfolgenabschätzung in der Anwendung, 2010, S. 323 (324 ff.). Zu möglichen Reformansätzen siehe C. Calliess, Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung: Zur Konkretisierung eines politischen Konsensbegriffs durch Recht, in: M. Ruffert (Hrsg.), Festschr. für M. Schröder, 2012, S. 515 (527 ff.); Kahl (Fn. 3), § 13 Rn. 57 ff. 106 Renda (Fn. 13), S. 55. 107 Vgl. Europäischer Rechnungshof, Folgenabschätzungen in den EU-Organen: Helfen sie bei der Entscheidungsfindung?, Sonderbericht Nr. 3/2010, insbes. Rn. 85 f. 108 Vgl. SEC (2012) 101 final, S. 14. 109 The Evaluation Partnership, Evaluation of the Commission’s Impact Assessment System. Final Report, 2007 (http://ec.europa.eu/governance/impact/key_docs/docs/tep_eias_fi nal_report.pdf); vgl. auch Bizer/Lechner/Führ (Fn. 37), S. 22 ff. 110 Etwa Europäischer Rechnungshof (Fn. 107); KOM (2008) 32 endg., S. 5 ff.; KOM (2009) 15 endg., S. 8 f.; KOM (2010) 543 endg., S. 6 ff.; sowie Directorate General for Internal Policies, Comparative study on the purpose, scope and procedures of impact assessments carried out in the Member States of the EU, 2011, S. 29 ff., 64 f. (http://www.europarl. europa.eu/committees/de/studiesdownload.html?languageDocument=EN&file=36288). 105

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Wolfgang Kahl und Patrick Hilbert

Untersuchungen kommt den jährlichen Berichten des IAB besondere Bedeutung zu.111 Sie berichten nicht nur über die Arbeit des IAB selbst, sondern auch über die Lage der Folgenabschätzung in den EU-Institutionen allgemein. Außerdem evaluieren sie die Praxis des Integrated Impact Assessment innerhalb der Kommission und geben Verbesserungsvorschläge und Entwicklungshinweise.112 Erweist sich das derzeitige Impact Assessment System als im Großen und Ganzen tauglich, stellen sich vor allem (inter-)institutionelle Fragen. Zwar hat sich innerhalb der Kommission das institutionelle Setting etabliert und nicht zuletzt das IAB und seine Auswirkungen auf die Qualität der Impact Assessments werden positiv bewertet.113 Allerdings ist die Verteilung der Folgenabschätzungsverantwortung zwischen der Kommission und den anderen Institutionen, insbesondere dem Europäischen Parlament, reformbedürftig. Die Kommission hat über die nahezu ausschließlich bei ihr liegende Verantwortung für die Impact Assessments eine zu große Einflussmöglichkeit, die sich nicht ohne weiteres aus ihrem Vorschlagsrecht (Art. 294 Abs. 2 AEUV) erklärt. Zwar sollen Impact Assessments auch nach Auffassung der Kommission nur ein Hilfsinstrument zum Treffen politischer Entscheidungen sowie ein Kommunikationsinstrument zur Einbeziehung interessierter Kreise und nicht etwa ein Ersatz für politische Beurteilungen und Entscheidungen sein.114 Gleichwohl muss der hierin zum Ausdruck kommende – richtige – Anspruch distanzwahrender Neutralität relativiert werden. Denn über die Präsentation möglicher Folgen von Handlungen kann die Kommission auf die Entscheidung über das „Ob“ bestimmter Maßnahmen (mittelbar) durchaus (erheblich) Einfluss nehmen, auch wenn keine rechtliche Bindung (insbesondere der EU-Gesetzgebungsorgane) an die Ergebnisse eines Impact Assessment besteht.115 Die Kommission verschweigt aber nicht, dass sie gestützt auf die Ergebnisse von Impact Assessments mehr Einfluss auf die Verabschiedung von Rechtsakten nehmen möchte.116 Dies steht in gewissem Widerspruch zur Hilfsinstrumentthese. Angesichts dessen verwundert es auch nicht, dass die Kommission der Einbeziehung Dritter oder gar der Auslagerung der Impact Assessments auf Externe117 ablehnend gegenübersteht.118 Dabei erscheint gerade eine stärkere Beteiligung der an111 SEC (2008) 120; SEC (2009) 55; SEC (2009) 1728 final; SEC (2011) 126 final; SEC (2012) 101 final. 112 Zuletzt SEC (2012) 101 final, S. 26 ff. 113 Europäischer Rechnungshof (Fn. 107), Rn. 51 ff., 84; Directorate General for Internal Policies (Fn. 110), S. 64; K. Jacob/S. Veit/J. Hertin, Gestaltung einer Nachhaltigkeitsprüfung im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung, 2009, S. 18, 26; KOM (2009) 15 endg., S. 7; kritisch aber Bizer/Lechner/Führ (Fn. 37), S. 19, 21, 30 f. 114 KOM (2002) 276 endg., S. 3, 5, 10, 11; SEK (2009) 92, S. 4. 115 EuGH, Urteil vom 08. 07. 2010, Rs. C-343/09, Afton Chemical, Slg. 2010, I-7027 Rn. 30. 116 KOM (2002) 278 endg., S. 9; SEK (2009) 92, S. 12 f. 117 G. Ahrens/K.-P. Leier, Bessere Rechtsetzung in der EU nach der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, ZG 2007, S. 383 (392 f.); Lund (Fn. 54), S. 89 f., jeweils m. N. 118 KOM (2010) 543 endg., S. 7.

Impact Assessment in der EU

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deren Institutionen wünschenswert. Zuzustimmen ist vor allem der Forderung, das Europäische Parlament frühzeitiger in den Impact Assessment Prozess einzubeziehen,119 zumal es mittlerweile über eine eigene Direktion für Folgenabschätzung und Europäischen Mehrwert verfügt.

119

Directorate General for Internal Policies (Fn. 110), S. 65.

Umweltschutz im Lissabon-Vertrag und als Rechtfertigung für Handelsbeschränkungen Von Jürgen Knebel I. Entwicklung Das Umweltrecht der Europäischen Union hat sich in den letzten Jahrzehnten außerordentlich schnell entwickelt, sowohl im Primär- wie auch zunehmend im Sekundärrecht. Die Direktivwirkung auf das deutsche Umweltrecht ist entsprechend angewachsen; man spricht davon, dass um die 70 % des nationalen Umweltrechts von der EU präjudiziert wird.1 Auch das Primärrecht hat seinen Anteil an dieser gewaltigen Expansion. Die Entwicklung des europäischen Vertragsrechts über die Einheitliche Europäische Akte von Februar 1986 mit den Art. 130 r – 130 t EWGV2 und die späteren Vertragsänderungen von Maastricht3, Amsterdam4 und Nizza5 bis zum heutigen Vertrag von Lissabon6 zeigen trotz mancher Veränderungen ein hohes Maß an normativer Konsistenz7 mit richtungsweisender Ausstrahlung auf die europäische Umweltpolitik und das die Mitgliedsländer verpflichtende Sekundärrecht (Art. 288 AEUV). II. Umweltschutz im EU-Vertrag Der Vertrag von Lissabon, der an die Stelle des gescheiterten Verfassungsvertrages trat, löst das bisherige „Drei-Säulen-Konzept“ der EU auf (Art. 1 Abs. 3 Satz 1 1

Kloepfer, Michael, Umweltschutzrecht, 2. Aufl. 2011, § 7 Rdn. 2. Die „Einheitliche Europäische Akte“ v. 1. Juli 1987 stellt eine der wichtigsten Revisionen der Gründungsverträge dar und sie steht mit dem Datum des 31. Dezember 1992 für die Vollendung des gemeinschaftlichen Binnenmarktes. 3 Der am 1. November 1993 in Kraft getretene Vertrag begründete die EU und das „DreiSäulen-Modell“ mit dem Ziel der Erweiterung der Europäischen Zusammenarbeit, vgl. Hakenberg, Waltraud, Europarecht, 6. Aufl., 2012, S. 13. 4 Der am 1. Mai 1999 in Kraft getretene Amsterdamer Vertrag brachte Neuerungen in allen drei Säulen der EG und integrierte das Konzept der nachhaltigen Entwicklung in die Querschnittsklausel des Art. 6 EGV, vgl. Epiney, Astrid, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl., 2005, S. 14. 5 Der Vertrag von Nizza galt seit 1. Februar 2003 allerdings ohne große Relevanz für den Umweltschutz. 6 ABl 2007, C 306 S. 1 sowie ABl. 2010, C 83 S. 1. 7 Vgl. dazu im Einzelnen Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 2 Rdn. 5 ff. 2

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Jürgen Knebel

EUV) und gliedert sich nunmehr in den Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). 1. Präambel Bereits in der Präambel des EUV wird die „Stärkung des Umweltschutzes“ als Programmsatz textgleich mit der Präambel des EUV (a. F.) betont. Wie bei jeder Präambel ist ihr normativer Wert begrenzt. Sie zeigt aber immerhin, dass der Umweltschutz zentraler Handlungsrahmen für die Aufstellung europäischer Politik ist und in der Zielhierarchie einen oberen Platz einnimmt. 2. Unionsziel Umweltschutz und Umweltqualität Unter dem Titel „Gemeinsame Bestimmungen“, also sozusagen „vor die Klammer gezogen“, formuliert Art. 3 Abs. 3 EUV das Unionsziel eines „hohen Maßes an Umweltschutz“ verbunden mit der „Verbesserung der Umweltqualität“. Es folgt der Satz „Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“. Die Einbettung der Vorschrift in das Zielbündel des Binnenmarktes, der nachhaltigen Entwicklung Europas, des ausgewogenen Wirtschaftswachstums einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft etc. zeigt, dass der Umweltschutz eigenständiges und zugleich gleichrangiges Ziel neben den anderen genannten Grundzielen der EU ist und nicht etwa als (begleitendes) Annex zum Binnenmarktziel zu betrachten ist. Das „hohe Maß an Umweltschutz“ in Verbindung mit der „Verbesserung der Umweltqualität“ unterstreicht die ökologische Dimension ökonomischen Wachstums in der EU im Sinne der „Nachhaltigkeit“8 und normiert mit dem Verbesserungsgebot ein ökologisches Rückschrittsverbot i. S. eines normativen Verschlechterungsverbots9, das als verpflichtende Direktive für das gesamte umweltschutzmotivierte Sekundärrecht der EU gilt. Das Förderungsziel im Hinblick auf den wissenschaftlichen Fortschritt ist als separates Verfassungsziel neu, wenn auch die EU bislang eine weitreichende Forschungspolitik betrieb und betreibt, Art. 179 ff. AEUV10. Die Nähe zum Vertragsziel „Umweltschutz“ kann nur zweierlei bedeuten: Zu einen muss die technische und wissenschaftliche Entwicklung umweltverträglich sein und zum anderen muss sie 8

Calliess, Christian in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art 3 Rdn. 39; Kloepfer, Umweltschutzrecht, § 7 Rdn. 16 sowie Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 34 ff. 9 Dazu ausführlich Kloepfer, Michael, Umweltrecht, 3. Aufl., 2004, § 4 Rdn. 35 und zur ökologischen Fortentwicklung Storm, Christoph-Peter, Umweltrecht – Einführung – 8. Aufl., 2006, Tz. 73 f; zum aus Art. 20 a GG hergeleiteten Verschlechterungsverbot mit 1994 als Referenzjahr Koch, Hans-Joachim, Klimaschutzrecht in: Tagungen der Gesellschaft für Umweltrecht, Bd. 42, 2011, S. 53. 10 Dazu und insbes. zum Neuigkeitsgehalt dieser Zielsetzung Calliess in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rdn. 40.

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in den Dienst des Umweltschutzes gestellt werden, also Technologien bereitstellen, die unmittelbar die Umweltqualität (aktiv) verbessern11 und damit funktional und instrumentell den Umweltfortschritt befördern. Im deutschen Umweltrecht wird diese Verbindungslinie exemplarisch durch die dynamische Vorsorgeklausel in § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG i. V. m. dem Begriff des „Standes der Technik“ in § 3 Abs. 6 BImSchG verdeutlicht. Etwaige Zielkonflikte zwischen Umweltschutz und Technikfortschritt sollten künftig angesichts zwingend umweltverträglichen Technikfortschritts i. V. m. dem aus dem Vorsorgegebot folgenden Verschlechterungsverbots der Umweltqualität der Vergangenheit angehören.12 3. Querschnittsklausel Dem Querschnittscharakter allen Umweltrechts trägt Art. 11 AEUV in besonderer Weise Rechnung, weil nach dieser Vorschrift „die Erfordernisse des Umweltschutzes … bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden“ müssen. Diese auch als „Integrationsklausel“13 bezeichnete Regelung sichert die Berücksichtigung ökologischer Belange auch solcher Vorschriften, die gar keinen Umweltbezug haben. Aufgrund dieser Verpflichtung des Gesetzgebers auf eine Ökologisierung des gesamten Rechts i. S. einer stetigen „ökologischen Fortentwicklung“14 der gesamten Normmasse müsste man hoffen können, dass bei jedem Rechtssetzungsvorschlag (Art. 288 AEUV) auch eine gesetzesbezogene Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wird15. Der damit verbundene Erwartungsdruck führt hoffentlich dazu, dass die Norm auch tatsächlich umgesetzt wird und nicht nur auf dem Papier steht. Auf jeden Fall löst sich der Umweltschutz normativ aus der Isolation und hat denselben Stellenwert wie alle anderen Politikbereiche. Als Mindeststandard der von Art. 11 AEUV geforderten „Gesetzes-UVP“ kann verlangt werden, dass bei jedem Rechtsakt unter sorgfältiger Folgenabschätzung der Norm

11

Eher zurückhaltend zu dieser Position Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, § 2 Rdn. 12. 12 Dabei kommt eine abstrakt-generelle Betrachtungsweise i. S. einer Umwelt-BilanzAnalyse in Betracht, deren Ergebnis insgesamt für die Umwelt vorteilhafter ausfallen muss. 13 Jans/v. d. Heide, Europäisches Umweltrecht, 2003, S. 18; vgl. auch Calliess in: ders./ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 11 AEUV Rdn 15, wonach die EU im Zusammenhang mit Art. 6 EGV (alt) Integrationsstrategien für notwendig hielt; zur Integrationsklausel vgl. auch Storm, Christoph-Peter, Umweltrecht, Tz. 24. 14 So die eingängige Begriffsprägung von Storm, Peter-Christoph, Umweltrecht, Tz. 73 f. 15 Zur Notwendigkeit und Bedeutung einer Gesetzes-UVP allgemein schon Knebel, Jürgen, Prüfung der Umweltverträglichkeit in: Praxis der Gesetzgebung, hrsg. von der Bundesakademie für Öffentliche Verwaltung, 1984, S. 141 ff., und zu Art. 11 AEUV: Callies, Christian in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 11 AEUV Rdn. 13 a. E.; Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 2 Rdn. 22 m. w. N.; zu Art. 6 EGV (alt) Epiney, Astrid, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 108 ff.

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Jürgen Knebel

diejenige Alternative gewählt wird, die die Umwelt am wenigsten beeinträchtigt.16 Dabei ist darüber hinaus auch immer die Frage zu stellen, ob unter Berücksichtigung des Kohärenzgebotes (Art. 7 AEUV) auch (etwas) weniger geeignete Maßnahmen vorzuziehen sind, wenn dadurch eine erheblich geringere umweltschädliche Alternative ermöglicht wird. Art. 11 AEUV ist weiterhin eine primärrechtlich verbindliche Auslegungsregel, die auch vom EuGH z. B. in der Rs. Concordia Bus17 anerkannt wird. Damit dürften auch die Meinungen, die die Querschnittsklausel für rechtsunverbindlich halten,18 abzulehnen sein. Schließlich spricht schon der Wortlaut des Art. 11 („müssen … einbezogen werden“) auch im Vergleich zur Querschnittsklausel Verbraucherschutz (Art. 12 AEUV) und Tierschutz (Art. 13 AEUV) mit den Formulierungen des „Rechnung-Tragens“ für ein Rechtsgebot, wenn auch der Rat und das Parlament bei der Art und Weise der Umsetzung einen weiten (politischen) Ermessensspielraum haben dürften.19 Gleichwohl ist es Pflicht des EU-Gesetzgebers, bei jedem Rechtsakt die Frage der Umweltverträglichkeit aufzuwerfen und dies auch in die Begründung aufzunehmen (Art. 296 Abs. 2 AEUV). Nur auf diese Weise ist auch eine Justitiabilität des Art. 11 AEUV sichergestellt.20 4. Umweltschutz und Harmonisierung Die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV wird für die Zwecke der Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Binnenmarkt durch Art. 114 Abs. 4 AEUV ergänzt. Binnenmarktrichtlinien beispielsweise müssen ein hohes Umweltschutzniveau sicherstellen (Art. 191 Abs. 2 Satz 1 AEUV) und sog. nationale Alleingänge müssen ein Notifizierungsverfahren durchlaufen, Art. 114 Abs. 4 bis 10 AEUV. Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Umweltrechtsmaterie harmonisiert ist, kann nicht immer dahingestellt bleiben, da die unmittelbare Anwendung der Grundfreiheiten in Art. 34, 35, 45, 49, 56 und 63 AEUV davon abhängt, ob der betreffende Rechtsbereich harmonisiert ist – dann keine eigenständige Prüfung der Art. 34 ff. AEUV – oder nicht. Im letzten Fall ist das Primärrecht unmittelbar Maßstab für die Zulässigkeit grundfreiheitlicher Einschränkungen des Binnenmarkts. Ob 16

Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 2 Rdn. 22. EuGH, RS. C-513/99; Slg 2002, I-7213, Rdn. 57, wonach Umweltbelange auch im tendenziell umweltneutralen Vergaberecht Berücksichtigung finden können. 18 Dazu im Einzelnen Calliess, Christian in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 11 AEUV Rdn. 21 ff. m. w. N. 19 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, spricht in § 2 Rdn. 20 zu Recht davon, dass dies Integrationsmodell des Art. 11 AEUV letztlich dem allgemeinen Governance-Prinzip der Kohärenz entspricht. Das in Art. 3 EUV verpflichtende Prinzip für alle Akteure kann nur mit einem entsprechenden (rechtspolitischen) Ermessensspielraum verwirklicht werden. 20 Zur gerichtlichen Kontrolle der Querschnittsklausel näher Calliess, Christian in: ders./ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 11 AEUV Rdn. 25 f. m. w. N. 17

Umweltschutz im Lissabon-Vertrag

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im Ergebnis die sekundärrechtliche Harmonisierung zu mehr Umweltschutz führt21 als der Maßstab der primärrechtlichen Grundfreiheiten ist nicht sicher auszumachen, zumal die Harmonisierung sich oft aus Kompromissgründen an einheitlichen Mindeststandards orientiert statt am Optimum. 5. Umweltziele der EU Art. 191 AEUV kombiniert Kompetenz- und Zielbestimmungen zum Umweltschutz. Hier finden sich die maßgeblichen materiell-rechtlichen Inhaltsvorgaben für die EU-Umweltpolitik. Erhaltung, Schutz und Qualitätsverbesserung, rationelle Ressourcenverwendung und Klimaschutz sind die Hauptziele (Art. 191 Abs. 1 AEUV), die mit der Verpflichtung auf ein hohes Schutzniveau, mit dem Vorsorgeund Vorbeugungsprinzip und Ursprungsprinzip und mit dem Verursacherprinzip normativ verknüpft werden (Art. 191 Abs. 2 AEUV).22 Ergänzend tritt das Globalitätsprinzip hinzu (Art. 191 Abs. 4 AEUV), das die internationale Zusammenarbeit zum Ziel hat („global governance“). Der Gedanke der Regionalisierung und die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Union runden das Zielbündel ab. a) Hohes Schutzniveau und bestmögliche Umweltstandards Zweifellos ist die Erhaltung, der Schutz und die Qualitätsverbesserung der Umwelt auf hohem Schutzniveau ein anspruchsvolles und ehrgeiziges Ziel, das sowohl die Gefahrenabwehr (mindestens „Erhaltung“ i. S. eines Verschlechterungsverbots), den Schutz (auch unterhalb der Gefahrenabwehrschwelle) und anspruchsvolle Umweltstandards i. S. eines bestmöglichen Umweltschutzes verlangt.23 Die Überlegung, bestmöglicher Umweltschutz sei angesichts einer fehlenden Aufgabenhierarchie im Lissabon-Vertrag abzulehnen, übersieht jedoch, dass auch Konflikte mit gleichrangigen Zielen stets eine Abwägung verlangen, die vielleicht nicht den höchsten Umweltschutz, aber unter den gegebenen Umständen den bestmöglichen Standard erreicht. Auch hier sollte bei einschlägigen Rechtsakten i. S. einer „gesetzesbezogenen UVP-Prüfung“ die Begründungspflicht des EU-Gesetzgebers die Frage umfassen, welche Gesichtspunkte einem Optimum an Umweltschutz entgegenstehen. Eine entsprechende „prozedurale Aufladung“ des Abwägungsvorgangs im Rahmen der Begründungspflicht (Art. 296 Abs. 2 AEUV) i. S. von mehr Transparenz und Nachvoll21

So Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 2 Rdn. 36. Näher zu den Umweltprinzipien Kloepfer, Michael, Umweltrecht 3. Aufl., § 4 Rdn. 1 ff., Storm, Peter-Christoph, Umweltrecht, Tz. 18 ff. 23 Zu dem Topos des „bestmöglichen Umweltschutzes“ ausführlich Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 61 ff. der zu Recht einen Vorranganspruch des Umweltschutzes ablehnt und die Theorie des „bestmöglichen Umweltschutzes“ unter Abwägungsvorbehalt stellt (Rdn. 64 am Ende); siehe auch Epiney, Astrid in: Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 9. Aufl., 2011, § 32 Rdn. 15, die auch den Grundsatz des „bestmöglichen Umweltschutzes“ anerkennt. 22

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ziehbarkeit stärkt mit Sicherheit auch die bislang recht eingeschränkte Justitiabilität24 derartiger Ziel- und Zweckbestimmungen im EU-Recht. b) Vorsorge-, Vorbeugungs- und Ursprungsprinzip Die Vorsorge-, Vorbeugungs- und Ursprungsprinzipien haben einen gemeinsamen Kern: Das Entstehen von Umweltbelastungen ist zu vermeiden, möglichst bereits an ihrem Ursprung.25 Diese Risikominimierung i. S. effektiver Zukunftsvorsorge ist das Herzstück modernen Umweltschutzes. Beides, Risikovermeidung jenseits der Gefahrenschwelle und Ressourcenschonung i. S. d. Nachhaltigkeitsprinzips, ist im modernen Umweltrecht nicht mehr wegzudenken. Alle Begriffe und Prinzipien ergänzen einander, wenn auch die inhaltlichen Schwerpunkte divergieren. Das Nachhaltigkeitsprinzip in Art. 3 Abs. 3 und Abs. 5 Satz 2 EUV bringt in den Zielkanon eine bis dahin im Umweltrecht gewöhnungsbedürftige Dimension, nämlich den Zusammenhang zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen. Da auch diese Ziele in keiner Werthierarchie zueinander stehen, bedürfen sie des Zielausgleichs i. S. praktischer Konkordanz unter Beachtung des allgemeinen Kohärenzgebots des Art. 7 AEUV.26 Idealtypisch dafür sind umweltpolitische Strategien, die das Wirtschaftswachstum von der Umweltbelastung entkoppeln und auf diese Weise Wirtschaft und Umwelt zukunftsweisend miteinander in Einklang bringen. Das Ziel der Union in Art. 3 Abs. 3 Satz 3 EUV, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu fördern, kann dazu beitragen, trotz wirtschaftlicher Prosperität die Umweltqualität zu erhalten und sogar weiter zu verbessern. Entgegengesetzte wirtschaftliche und umweltpolitische Entwicklungen, nach denen der Umweltschutz in der gesamten Umweltbilanz sich auf der Verliererseite befindet, dürften danach künftig nicht mehr vertragskonform sein. Was die soziale Komponente anbelangt, wird mit dem Nachhaltigkeitsprinzip auch dem Aspekt der „Umweltgerechtigkeit“ in seinen mannigfachen Ausprägungen normativ Beachtung geschenkt.27 Sowohl das Problem der gerechten Verteilung von Umweltlasten z. B. im Rahmen einer gerechten räumlichen Anlagenplatzierung wie auch die Frage nach einer gerechten Umweltteilhabe (z. B. Parks, Wald, Natur) finanziell schwacher Bevölkerungsgruppen fallen darunter. Diesem Aspekt dürfte künftig auch in der EU mehr Beachtung geschenkt werden müssen. Zwar war bereits bisher mit Art. 191 Abs. 3 letzter Spiegelstrich AEUV neben regionalen Aspekten 24

Zur Justitiabilität des Standards eines „hohen Schutzniveaus“ Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 65 m. w. N. 25 Kloepfer, Michael, Umweltschutzrecht, § 7 Rdn. 16 und § 3 Rdn. 5 ff; zur Nachhaltigkeit siehe Storm, Christoph-Peter, Umweltrecht, Tz. 11; Zur Entwicklung des Prinzips v. Lersner, Heinrich in: Kimminich/v. Lersner/Storm, HdUR, 2. Aufl., 1986, Bd. II, Sp. 2703 ff. 26 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 39 m. w. N. 27 Zur „Umweltgerechtigkeit“ näher Kloepfer, Michael, Umweltrecht, § 4 Rdn. 5 insbes. mit Beispielen aus den USA.

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auch die soziale Entwicklung der EU von Bedeutung, jedoch nur im Zusammenhang mit einem „Berücksichtigungsgebot“, dem zuweilen zu Unrecht eine geringe rechtliche Bedeutung zugesprochen wurde28. Art. 191 Abs. 3 AEUV ist von seinem Wortlaut her durchaus als rechtlich verbindliches Ziel zu verstehen, das wiederum in Rahmen der Abwägung mit konfligierenden Zielen und bei einer problembezogenen Optimierung nunmehr auch durch die Verbindlichkeit des Nachhaltigkeitsprinzips zusätzlich verstärkt wird. Es werden Begründungspflichten nach Art. 296 Satz 2 AEUV ausgelöst29 und sie dürften bei offensichtlichem Abwägungsausfall auch gerichtlich überprüf- und korrigierbar sein.30 Ist das Ursprungsprinzip des Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV noch im Vorsorgeprinzip des deutschen Umweltrechts zu finden, liegt der Unterschied zum Vorbeugeprinzip nicht sofort auf der Hand. Die Beibehaltung beider Begriffe nebeneinander kann als ein Hinweis auf unterschiedliche Inhalte verstanden werden, weil die englische und französische Fassung („preventive action“ und „action préventive“) auch auf die Verhinderung von Umweltgefahren hindeutet.31 Andererseits zieht der EuGH32 beide Prinzipien gemeinsam heran, ohne zu differenzieren. Die Entstehungsgeschichte schließlich legt auch ein Synonym nahe33. Ob der Grundsatz der Vorbeugung möglicherweise als Vorstufe der Vorsorge verstanden werden kann, kann dahinstehen, da ein solches differenzierendes Begriffsverständnis den anspruchsvollen Bedeutungsgehalt des Vorsorgeprinzips weder erweitert noch einschränkt, also letztlich keine praktischen Folgerungen nach sich zieht. Gleiches gilt, wenn das Vorbeugeprinzip einige Gefahrenabwehrelemente mit einschließt. Für das deutsche Recht hätte dies angesichts recht klarer Begriffsregeln (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BImSchG) ohnehin keine Begriffsinhaltsverschiebung zur Folge. Zweifellos eröffnet das Vorsorgeprinzip der EU jenseits der Gefahrenabwehr erhebliche Handlungsmöglichkeiten auch dort, wo es um den Schutz vor Ungewissheiten geht.34 Entscheidende Frage im Spannungsverhältnis zwischen Schutzpflicht und Grundrechtsschutz ist stets, ab welchem Besorgnispotential reguliert werden darf, wobei ein rechtspolitischer Ermessensspielraum dem EU-Gesetzgeber verbleiben muss. Auf jeden Fall wird durch das Vorsorgeprinzip die grundrechtliche Eingriffsschwelle herabgesetzt, andererseits aber reicht nicht jede Vermutung einer Gefährdung aus, sondern der Eingriff verlangt die Beachtung der Risikoproportionalität, 28

Dazu m. w. N. Calliess in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 191 AEUV Rdn. 45. So auch Calliess in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 191 AEUV Rdn. 47. 30 Dabei ist unbestritten, dass dem EU-Gesetzgeber ein weiter Ermessens- und Gestaltungsspielraum einzuräumen ist, der die Justitiabilität im Ergebnis erheblich einschränkt. Deshalb wird hier die gerichtliche Nachprüfbarkeit im Wesentlichen auf den Abwägungsausfall beschränkt. 31 So Calliess in: ders./Ruffert, AEUV/AEUV, Art. 191 AEUV Rdn. 29. 32 EuGH, verbundene Rs. C-175/98 und C-177/98, Slg. 1999, I-6881 Rdn. 51 f. – Lirussi. 33 Dazu Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 88. 34 Dazu ausführlich m. w. N. Kloepfer, Michael, Umweltrecht, § 3 Rdn. 5 ff., ders., Umweltrecht, § 4 Rdn. 21 ff. 29

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konzeptionelles Vorgehen35 sowie – so der EuG – eine wissenschaftliche Risikobewertung unter voller Berücksichtigung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten36. Damit ist klargestellt, dass Vermutungen oder rein hypothetische Betrachtungen für eine Regulierung nicht ausreichen.37 Nur abgesicherte Risikobewertungen vermögen Grundrechtseingriffe zu legitimieren. Besonders anspruchsvoll ist diese Prüfung insbesondere dann, wenn - zwischen den Wissenschaftlern erhebliche Meinungsunterschiede bestehen oder - die Datenlage (noch) keine abschließende wissenschaftliche Bewertung erlaubt. Im ersten Fall muss sich der Gesetzgeber, also letztlich die zuständige Behörde, nach den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Unabhängigkeit und der Transparenz ein eigenständiges Urteil bilden und auf dieser Grundlage entscheiden. Wissenschaftlicher Streit allein kann dem Vorsorgeprinzip nicht seine praktische Wirksamkeit nehmen. Andererseits sind in solchen Fällen die Ansprüche an die wissenschaftliche Sorgfalt und Redlichkeit besonders hoch. Im zweiten Fall, der auch Überschneidungen mit der ersten Konstellation hat, darf die unzulängliche Datenlage keine Normierungssperre auslösen, da andernfalls auch hier das Vorsorgeprinzip leer liefe. Das Vorsorgeprinzip fordert ein Handeln auch unter Unsicherheit (z. B. bei unzureichender Datenlage), die über eine Regelung „ins Blaue hinein“ hinausgeht, indem wenigstens ein hinreichend belastbarer plausibler Vorsorgeanlass gegeben ist38. Dieser Vorsorgeanlass muss durch objektivierbare Indizien legitimiert sein. Das heißt, eine Rückbindung an objektivierbare Standards ist das Legitimationsminimum zulässiger Risikovorsorge39. Würde man den Eingriffszeitpunkt noch weiter vorverlegen, ist man schnell bei der verfassungsrechtlich unzulässigen Beweislastumkehr, weil der Beweis negativer Tatsachen (keine Umweltfreundlichkeit bzw. Umweltungefährlichkeit) erkenntnistheoretisch ausgeschlossen ist, sog. „probatio diabolica“.40 Den Beweis der Schadensunmöglichkeit führen zu müssen, würde im Ergebnis zur Folge haben, dass kein neuer Stoff oder 35

BVerwGE 69,37 – Fernheizwerk. EuG, RS, T-13,99, Slg. 2002, II-3305, Rdn. 114 ff. – Pfizer; zur Herabsetzung der Eingriffsschwelle insbesondere Epiney, Astrid, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 102. 37 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 111. 38 Kloepfer, Michael, Umweltschutzrecht, § 3 Rdn. 12, ders. Umweltrecht, § 4 Rdn. 23, v. Lersner, Heinrich in: Kimminich/v. Lersner/Storm, HdUR., 2. Aufl. 1986, Bd. II, Sp. 2705 f. Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 102; Epiney, Astrid, Umweltrecht, S. 102 ff., Calliess, Christian in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 191 AEUV Rdn. 30 f. 39 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 105; zum uneinheitlichen Verständnis des europäischen Vorsorgeprinzips aber auch kürzlich Calliess, Christian, EUUmweltrecht in: Hansmann/Sellner, Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl., 2012, Rdn. 67 ff. 40 Kloepfer, Umweltschutzrecht, § 3 Rdn. 7; Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 103. 36

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kein neues Produkt in den Verkehr gebracht werden dürfte, da der Nachweis der Umweltungefährlichkeit nie mit letzter Sicherheit gelingen kann. Eine vollständige Beweislastumkehr41 würde letztlich zum Fortschrittsstillstand führen und wäre ökonomisch, umweltpolitisch und verfassungsrechtlich unvertretbar. c) Verursacherprinzip Das Verursacherprinzip in Art. 191 Abs. 2 Satz 2 a. E. AEUV ist ursprünglich als Kostenzurechnungsprinzip im Gegensatz zum Gemeinlastprinzip verstanden worden („wer verschmutzt zahlt“). Darüber hinaus ist es als Rechtsprinzip auch ein Grundsatz materieller Verantwortungszuweisung. Es gebietet, Umweltbelastungen zu vermeiden und auch diese Kosten zu tragen. Damit wird auch das Vorsorgeprinzip unterstützt42, gleiches gilt für das dem Verursacherprinzip innewohnende ökonomische Gebot der Kosteninternalisierung externer Effekte43 als Anreiz, Umweltschäden zu vermeiden.44 Nicht ganz leicht ist es, den „eigentlichen“ Verursacher zu ermitteln. Diese Schwierigkeit erlaubt indes nicht, das Prinzip selbst über Bord zu werfen und es als „leere Begriffshülse“ oder gar als „Begriffsmüll“ zu verwerfen.45 Als Verursacher wird definiert, „wer die Umwelt, direkt oder indirekt belastet oder eine Bedingung für die Umweltbelastung setzt“.46 Schon dieser Ausgangspunkt zeigt die Probleme bei der Auswahl des „richtigen Verursachers“, wenn Kausalketten und eine Vielzahl von Verursachern vorhanden sind.47 Kloepfer hat zu Recht verdeutlicht, dass die konkrete Heranziehung eines Verursachers sich nicht deduktiv aus dem Verursacherprinzip ableiten lässt, „sondern weitgehend dem Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers unterliegt“, wobei sich die 41 v. Lersner, Heinrich in: Kimminich/v. Lersner/Storm, HdUR, 2. Aufl. 1986, Bd. II, Sp. 2706 spricht in diesem Zusammenhang von einer Umkehr der Darlegungslast, wonach der Emittent die Umweltadäquanz seines Handelns darzulegen hat. Ob mit dieser „hemmenden Wirkung der Umkehr von Regel und Ausnahme“ viel gewonnen ist, dürfte zweifelhaft sein, denn in jedem Fall bedarf eine grundrechtseingreifende Maßnahme auch der Rechtfertigung. Immerhin aber ist dieser Ansatz der Darlegungslast im umweltpolitischen Diskurs im Vorfeld einer Regelung hilfreich. 42 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 3 Rdn. 142. 43 Externe Kosten sind unter wirtschaftswissenschaftlicher Betrachtungsweise solche Kosten, die sich aus einer wirtschaftlichen Einzelaktivität ergeben, nicht aber vom Verursacher, sondern von Dritten, meist der Allgemeinheit, getragen werden, vgl. dazu ausführlich Wicke, Lutz, Umweltökonomie, 4. Aufl., 1993, S. 150 ff. 44 Deutlich Kloepfer, Michael, Umweltrecht, § 4 Rdn. 42 a. E. wenn er schreibt: „Allen Ausprägungen des Verursacherprinzips gemeinsam ist, dass die Umwelt hiernach nicht länger als freies Gut … behandelt bzw. sanktionslos geschädigt werden kann.“ Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen. 45 So aber Adams, Michael, Das „Verursacherprinzip“ als Leerformel, JZ 1989, S. 787 ff. 46 Calliess, Christian in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 191 AEUV Rdn. 35 m. w. N. 47 Kloepfer, Michael, Umweltrecht, § 4 Rdn. 47 a.

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Entscheidung durchaus an verschiedenen Aspekten zu orientieren hat.48 Die zuweilen überzogene (ökonomische) Kritik am Verursacherprinzip übersieht, dass das Verursacherprinzip als Rechtsprinzip keine einklagbare aus sich heraus schlüssige Haftungsverantwortlichkeit statuiert, sondern als verbindliches Prinzip den Gesetzgeber bei der Konkretisierung des Verursacherprinzips leiten soll. Der Gesetzgeber kann dabei das Umweltqualitätsniveau, die Zumutbarkeit, rechtliche Schranken, Störergesichtspunkte, Akzeptanz, ordnungspolitische Aspekte und vieles mehr in den Blick nehmen; mit Kloepfer ist die gesetzgeberische Lösung erst als willkürlich zu verwerfen, wo verfassungsrechtliche Grundsätze verletzt sind49. Das Verursacherprinzip ist letztlich ein richtungsweisendes Rechtsprinzip, das dem Gesetzgeber (national und auf EU-Ebene) zu konkretisieren aufgegeben ist, wobei der Verantwortlichkeitszusammenhang zwischen Störer und Geschädigtem nicht pauschal an äußerlichen Kausalitätskategorien festgemacht werden kann. Auch das Verursacherprinzip beinhaltet wertende Kategorien, die der Gesetzgeber umweltpolitisch konkretisieren kann. Besonders deutlich wird dies bei ubiquitärer Luftverschmutzung, bei der sich alle Kausalitätszurechnungen verflüchtigen; hier können nur Fondslösungen helfen, will man nicht das Gemeinlastprinzip bemühen.50 Und bei Verursacherketten – z. B. beim Kfz-Verkehr – kann der Gesetzgeber auch die Lasten- und Verteilungsgerechtigkeit zusammen mit einem sozialstaatlichen Grundverständnis heranziehen, und an denjenigen anknüpfen, der aus dem Inverkehrbringen den größten wirtschaftlichen Nutzen zieht oder von der Nutzung profitiert oder auch beide zusammen, weil sie gemeinsame Verantwortungslast für die externen Effekte tragen. Auch hier wird deutlich, dass das Verursacherprinzip nicht (immer) die Lösung in sich selbst trägt und auch nicht in der Lage ist, geltende Verantwortlichkeits- und Zuordnungsregeln außer Kraft zu setzen. Es ist aber Wegweisung für die Rechtspolitik, die Umwelt nicht länger als freies Gut zu behandeln und folgenlos zu schädigen. Wenn dem Verursacherprinzip dies zukünftig gelingt, ist viel für die Umwelt gewonnen. d) Das Kooperationsprinzip Das Kooperationsprinzip findet sich nicht in Art. 191 AEUV, sondern wird nunmehr in Art. 11 EUVausdrücklich in das EU-Recht implementiert, indem der Dialog mit dem Bürger und den Verbänden und der Zivilgesellschaft gefordert wird. Das Wort „Kooperation“ wird zwar nicht genannt, der Sache nach aber geht es um Partizipation i. S. einer allgemeinen Teilhabe an politischer Herrschaft.51 Das Prinzip ist deshalb hier auch nicht umweltpolitisch ausgelegt, kommt aber in der Sache dem um-

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Kloepfer, Michael, Umweltrecht, § 4 Rdn. 47 a. Kloepfer, Michael, Umweltrecht, § 4 Rdn. 47 a. 50 Zu Einsatzmöglichkeiten, Zugangs- und Anspruchsvoraussetzungen und Finanzierung Knebel, Jürgen in: Kimminich/v. Lersner/Storm, HdUR, Band II, 2. Aufl. 1986, Sp. 2164 ff. 51 Ruffert, Matthias in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 11 EUV Rdn. 6. 49

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weltrechtlichen Kooperationsansatz sehr nahe und ist den übrigen vorgenannten Prinzipien des Art. 191 AEUV an die Seite zu stellen. EU-rechtlich verpflichtet es die Kommission und den Rat der EU als Gesetzgeber zur Regelung der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Vorhaben und Genehmigungen (z. B. UVP), zur Mitwirkungsmöglichkeit bei Richtlinien- und Verordnungsvorbereitung (Art. 288 AEUV) und schließlich auch zum Daten- und Technologietransfer zwischen der Wirtschaft und dem EU-Gesetzgeber. Aber auch der paktierende Staat stützt sich auf das Kooperationsprinzip, wenn er Selbstverpflichtungen und Umweltvereinbarungen abschließt.52 Die EU selbst ist Initiator, nicht aber selbst Absprachepartner. Sie fordert neuerdings in Richtlinien, Umweltvereinbarungen zu schließen, also gewissermaßen eine Parallelität von Richtlinien und eingepasster Umweltvereinbarung als regulierte Selbstregulierung (Koregulierung).53 Diese Entwicklung zeigt, dass der Gedanke der Selbstregulierung und Selbststeuerung54 auch auf EUEbene aktuell wird und in die gemeinschaftsrechtliche Rechtssetzung integriert wird. Ihre Vorteile wie Deregulierung, gesellschaftliche Selbststeuerung, schnelle Gestaltungsmöglichkeit, Flexibilität sowie Marktkonformität, Akzeptanz und Konsens sind jeweils gegen ihre Nachteile wie hoher Überwachungsaufwand, ggf. rechtliche Unverbindlichkeit und Effizienzschwächen abzuwägen.55 Dass Selbstverpflichtungen keine geeigneten innerstaatlichen Umsetzungsinstrumente für Richtlinien sind, ist zwar unbestritten56, umgekehrt dürfte aber eine umsetzungsbedürftige Richtlinie kein Verbot einer Selbstverpflichtung nach sich ziehen, da der Staat lediglich Erklärungsempfänger ist. Und bis ein Urteil des EuGH wegen unterbliebener Umsetzung ergeht, kann die Umweltpolitik bereits mit Erfolgen informalen Handelns punkten; ein Weg, der jedenfalls der Politik nicht von vornherein aus rechtlichen Gründen verschlossen sein dürfte. 52

Grundsätzlich zum Wandel der Handlungsformen Knebel/Michael/Wicke, Selbstverpflichtungen und normersetzende Umweltverträge als Instrumente des Umweltschutzes, Berichte 5/99 des Umweltbundesamtes, 1999, S. 28 ff.; zum Informalen und zur Duldung grundsätzlich Bohne, Eberhardt, Der informale Rechtsstaat, 1981; kritisch zum Rechtsgehalt des Kooperationsprinzips im Zusammenhang mit Selbstverpflichtungen Rehbinder, Eckard, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente des Umweltschutzes in: Hansmann/Sellner, Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl., 2012, Rdn. 67 ff. 53 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 5 Rdn. 217 mit Beispielen aus jüngster Zeit. 54 Dazu grundsätzlich Kloepfer, Michael, Instrumente des Technikrechts in: Schulte, Martin (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 123. 55 Knebel/Michael/Wicke, Selbstverpflichtungen und normersetzende Umweltverträge als Instrumente des Umweltschutzes, Berichte 5/99 des Umweltbundesamtes, 1999, S. 28 ff., Knebel, Jürgen, Rechtsrahmen für Umweltvereinbarungen in einem Umweltgesetzbuch in: Bohne (Hrsg.), Perspektiven für ein Umweltgesetzbuch, 2002, S. 243 ff. 56 Dies kann allerdings bei rechtlich verbindlichen Vereinbarungen durchaus differenziert betrachtet werden: Knebel/Michael/Wicke, Selbstverpflichtungen und normersetzende Umweltverträge als Instrumente des Umweltschutzes, Berichte 5/99 des Umweltbundesamtes, 1999, S. 162 ff. und Welscher, Antje, Umweltvereinbarungen, Schriften zum europäischen und internationalen Recht, Bd. 10, 2003, S. 119 f und zum Aspekt subjektiver Rechte S. 57 f.

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e) Charta der Grundrechte Art. 37 CdG bestimmt, dass ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in die Politiken der EU einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.57 Die Gleichstellungsnorm des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV sichert der Vorschrift den gleichen Rang wie dem Lissabon-Vertrag, sie geht aber mit seinem eher objektiv-rechtlichen Gehalt (kein Grundrecht!) nicht über die oben genannten Gewährleistungen hinaus. Immerhin aber kann Art. 37 CdG auch als Schranke für die Grundfreiheiten des Art. 34 ff. AEUV herangezogen werden. III. Umweltschutz als Rechtfertigung für Handelsbeschränkungen Die vorgenannten Kapitel haben den hohen primärrechtlichen Stellenwert des Umweltschutzes in der EU beleuchtet. Dem entspricht es, dass Umweltschutz in Anwendung des Abwägungsprinzips mit dem Verbot von Handelsbeschränkungen konfligieren kann. Eine wechselseitige Beschränkung ist zum einen bei den EUrechtlichen Grundfreiheiten der Art. 34, 45, 49, 56 und 63 AEUV möglich und zum anderen bei den Vorschriften des Welthandelsrechts wie GATT, WTO und Umweltvölkerrecht, wobei der Schwerpunkt hier auf der EU-rechtlichen Grundfreiheit des freien Warenverkehrs nach Art. 34 AEUV liegen wird. 1. Umweltschutz und Warenverkehrsfreiheit Die Warenverkehrsfreiheit in Art. 34 AEUV ist die bedeutendste Grundfreiheit des freien Binnenmarktes (Art. 26 AEUV). Sie kann insbesondere mit nationalen produktbezogenen Umweltschutznormen in Konflikt geraten. a) Gleichwertigkeit der Rechtfertigungsgründe Beispielhaft erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang die deutsche Pflichtpfandregelung der Verpackungsverordnung58, die für flüssige Lebensmittel in Einwegverpackungen unterschiedslos für jeden Vertreiber eine Rücknahme- und Pfandpflicht vorsah. Der EuGH hat in Anwendung der (extrem) weiten Dassonville-Formel59 darauf erkannt, dass die höheren Kosten ausländischer Anbieter im Vergleich 57 Zu Art. 37 Charta der Grundrechte näher Calliess, Christian, EU-Umweltrecht in: Hansmann/Sellner, Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl. 2012, Rdn. 102 ff. 58 Siehe dort § 9 der Verpackungsverordnung (Pfanderhebungs- und Rücknahmepflicht für Einweggetränkeverpackungen). 59 EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 Rdn. 5 – Dassonville: Jede Maßnahme „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“ ist als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen.

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zu inländischen Vertreibern im Hinblick auf die Organisation des Pfandsystems und der weiten Beförderung im Verhältnis zu inländischen Anbietern dazu geeignet sind, das Inverkehrbringen in Deutschland zu behindern60. Bei der Keck-Prüfung61 im Hinblick auf vertriebs- oder produktbezogene Regelungen verneint der EuGH die tatbestandsausschließende Vertriebsbezogenheit mit dem Argument, die Verpackungsänderung und die neue Etikettierung sprächen für die Produktbezogenheit62. Selbst bei Annahme einer vertriebsbezogenen Regelung würde der EuGH nach seinen Ausführungen zur Dassonville-Prüfung zu demselben Ergebnis gelangen, da die Regelung der Verpackungsverordnung (zunächst) Aus- und Inländer wegen unterschiedlicher Kostenbelastung tatsächlich unterschiedlich hart trifft. Bedeutsam ist die hier besonders interessierende Rechtfertigungsprüfung. Zunächst wäre rechtssystematisch Art. 36 AEUV mit seinen gesetzlichen Rechtfertigungsgründen – darunter Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen – zu prüfen gewesen, zumal die Abfallvermeidung durchaus Affinitäten zu diesen Rechtsgütern haben kann. Stattdessen wird gleich die Cassis de Dijon-Rechtsprechung63 herangezogen, die aus Gründen zwingender Allgemeininteressen weitere über Art. 36 AEUV hinausgehende Rechtfertigungsgründe erlaubt, sofern die fraglichen Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen (Rdn. 88). Der EuGH stellt fest, dass die Regelung zur Verbesserung der Sortenreinheit der Verpackungsabfälle und zur Verbesserung der Verpackungsabfallverwertung sowie zur Verringerung der Landschaftsvermüllung und des Abfallaufkommens generell beiträgt. Damit ist die Rechtfertigungsprüfung im Wesentlichen abgeschlossen, lediglich Anpassungsfristen gesteht der EuGH den ausländischen Anbietern zu. Auch wenn der Schwerpunkt der Entscheidung auf der Verhältnismäßigkeitsprüfung lag, verwundert es, dass die Umweltprüfung tatsächlich nur recht oberflächlich erfolgt und jede intensivere Auseinandersetzung mit der ökologischen Effizienz flächendeckender Rücknahmesysteme (z. B. Umweltbilanzen) vermissen lässt. In dem der deutschen Pflichtpfandregelung vorgelagertem ähnlichen Fall der „Dänischen Pfandflaschen“64 hatte der EuGH bereits 1988 den Umweltschutz als wesentliches Ziel der Gemeinschaft anerkannt, was heute angesichts des Art. 3 Abs. 3 EUV nicht mehr in Frage steht, aber seinerzeit noch nicht selbstverständlich war. Der Fall „Preußen Elektra“65 thematisierte das deutsche Stromeinspeisungsgesetz, wonach die EVU’s den in ihrem Versorgungsgebiet erzeugten Strom aus erneu60 Rdn. 80 (Fußn. 59) unter Verweis auf EuGH, Rs. 302/86, Slg. 1988, 4607 – Dänische Pfandflaschen. 61 EuGH, verbundene Rs. C-267 und 268/91, Slg. 1993, I-6097 – Keck und Mithouard. 62 Rdn. 83 und 84 (Fußn. 61). 63 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon. 64 Siehe Fußn. 60. 65 EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099 – Preußen-Elektra.

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erbaren Energien zu festgelegten Mindestpreisen abzunehmen haben, worin ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV liege. Denn die EVU’s können ihren Bedarf im Umfang ihrer Abnehmerpflicht nicht aus anderen Mitgliedstaaten decken. Der EuGH rechtfertigte die Einschränkungen des Art. 34 AEUV mit dem Gesundheitsschutz (Art. 36 AEUV) aber hauptsächlich mit dem Argument, die Regelung diene dem Umweltschutz, „da sie zur Vermeidung der Emissionen von Treibhausgasen beiträgt, die zu den Hauptverursachern der Klimaänderungen zählen, zu deren Bekämpfung sich die EU und ihre Mitgliedstaaten verpflichtet haben“.66 Hier wird deutlich, dass der Umweltschutz (hier Klimaerwärmung) in der Bedeutung und Rangfolge zu den Rechtsgütern des Art. 36 AEUV aufgeschlossen hat (Aufwertung des Umweltschutzes) und damit beide Arten von Rechtfertigungen auch einen gleichrangigen Schutzwert haben. Dies gilt auch dann, wenn der Gesundheitsschutz durch Umweltmedien tangiert ist und beide Rechtsgüter (Gesundheit und Umweltschutz) nebeneinander oder je nach Schwerpunkt unterschiedlich als Rechtfertigungsgrund Geltung beanspruchen.67 b) Umweltschutzrechtfertigung und Diskriminierung Das Nebeneinander der geschriebenen Rechtfertigungsgründe in Art. 36 AEUV und der immanenten Schranken der Cassis de Dijon-Rechtsprechung wirft die Frage auf, ob die Umweltschutz-Rechtfertigung nach Cassis nur für nichtdiskriminierende, also nicht nach Herkunft der Ware unterscheidende Vorschriften gilt oder auch wie bei Art. 36 AEUValle Beeinträchtigungsformen einschließlich unmittelbar und mittelbar diskriminierende umfasst. Der EuGH judiziert uneinheitlich bis hin zu einer „Weginterpretation“68 offen diskriminierender Abfallregelungen, wenn er unter Hinweis auf die „Besonderheit der Abfälle“ das eindeutig diskriminierende belgische Verbot, Abfälle aus anderen Mitgliedstaaten in Belgien einzulagern, als nicht diskriminierend bezeichnet und so den Weg für „Cassis“ freimacht.69 Bedenkt man die Stärkung des Umweltschutzes im Primärrecht durch den Lissabon-Vertrag, ist es dogmatisch wenig überzeugend, zwei unterschiedliche Rechtfertigungsprüfungen beizubehalten, die ohnehin nicht trennscharf voneinander abgrenzbar sind. Wieso sollte der in Art. 36 AEUV genannte Schutz von Tieren und Pflanzen oder das nationale Kulturgut auch offene Diskriminierungen rechtfertigen, nicht aber der Umweltschutz, wo sie doch beide letztlich die gleiche Funktion erfüllen?70 66

Rdn. 73 (Fußn. 65). So offenbar der EuGH, Rdn. 75 (Fußn. 65). 68 So deutlich Kingreen, Thorsten in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 – 36 Rdn. 82 m. w. N. 69 EuGH, C-2/90, Slg. 1992, I-4431, Rdn. 34 ff. – Kommission/Belgien. 70 So die Frage von Kingreen, Thorsten in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 – 36 AEUV Rdn. 84. 67

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Solange der EuGH eine saubere und nachvollziehbare rechtsdogmatische Konstruktion dem EU-Recht in der Praxis vorenthält, spricht vieles dafür, dem Umweltschutz als wesentliches Ziel der Gemeinschaft auch dort Rechtfertigungslegitimität beizumessen, wo die Unterscheidung nach Warenherkunft der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhält und auch die sorgfältige Prüfung ergibt, dass mit dieser Regelung tatsächlich und effektiv der Umweltschutz befördert wird71. Die eben angesprochene Entscheidung des EuGH in Sachen „Preußen Elektra“ spricht jedenfalls tendenziell dafür, dass der EuGH Umweltschutz als zwingendes Erfordernis heranzieht, um eine unmittelbar diskriminierend wirkende Maßnahme gegenüber EU-ausländischen Anbietern zu rechtfertigen. Kommt man zu dem Ergebnis, dass auch diskriminierende (aber nicht willkürliche) Maßnahmen durch den Umweltschutz gerechtfertigt werden können, wäre es durchaus denkbar, den Diskriminierungsaspekt im Rahmen einer „verschärften“ Verhältnismäßigkeitsprüfung besonders kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Denn es müsste in diesen Fällen zwingend nachgewiesen werden, dass es keine anderen Alternativen gibt als die Diskriminierung des EU-ausländischen Anbieters, da das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV den Kern des Europäischen Binnenmarktes und der Grundfreiheiten kennzeichnet. Unter diesen Voraussetzungen spricht vieles dafür, den mitgliedstaatlichen Alleingang nicht am Diskriminierungsverbot scheitern zu lassen. 2. Umweltschutzmotivierte Nutzungsbeschränkungen Die das Keck-Urteil auslösende Typologie (vertriebs-/produktbezogen) kommt in den letzten Jahren an ihre dogmatische Grenze, wenn es sich um die Beurteilung der sog. Nutzungsbeschränkungen handelt. In diesen Fällen wird regelungsmäßig nicht an das Produkt oder dessen Vertrieb angeknüpft, sondern an dessen Nutzung. Damit ist eine Einordnung in die klassische Unterscheidung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen nicht mehr möglich. Es wird nicht die Art und Weise der Herstellung, die Verpackung oder der Vertrieb geregelt, sondern erst nach72 Produktion, Inverkehrbringen und Grenzübertritt setzt die staatliche Nutzungsbeschränkung ein. Diese Art von Regelung sprengt die klassischen Keck-Kategorien. Sie werden insbesondere auch im Umweltschutz eine immer größere praktische Bedeutung erlangen. Man denke nur an die möglichen Regelungen von generellen Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Fahrverboten außerhalb der Verkehrsstraßen (Off-Road) oder an Nutzungsbeschränkungen von Elektro- oder Benzinrasenmähern in Hausgärten oder auch an Nutzungsbeschränkungen von Klimaanlagen auf Arbeitsräume. In diesen Fällen sind hochmotivierte Premium-Hersteller, SUV71

Siehe auch Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 2 Rdn. 256 a. E. und Kingreen, Thorsten in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 – 36 AEUV Rdn. 84 f. sowie auch unter Hinweis auf Funktionsidentität Fischer/Keller/Ott/Quarch, EU-Recht in der Praxis, 2012, S. 134. 72 Zum zeitlichen Aspekt in diesem Zusammenhang näher Becker, Ulrich in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 34 AEUV Rdn. 51.

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Produzenten, Hersteller kleinerer Rasenmäher und die Hersteller mobiler und fest eingebauter Klimaanlagen betroffen. Und die Einschränkung der Verkehrsfähigkeit wäre in allen Fällen aus Gründen des Umweltschutzes denkbar. Aber liegt auch ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV („Maßnahme gleicher Wirkung“) vor und legitimiert jede umweltmotivierte Regelung den Eingriff in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit? Ein exemplarischer Fall zu dieser Problematik ist vor einigen Jahren vom EuGH im Fall Mickelsson und Roos73 entschieden worden. Es ging um ein schwedisches Gesetz, das den Gebrauch von sog. Wassermotorrädern auf öffentliche Wasserstraßen und auf von Provinzregierungen zu benennende weitere Wasserflächen beschränkte. Dies wurde mit dem Schutz der Umwelt, der Tierwelt, der Geräuschkulisse und mit dem Gesundheitsschutz gem. Art. 36 AEUV begründet, was der EuGH im Ergebnis als Rechtfertigung akzeptierte. Der EuGH referiert zunächst, was herkömmlich als „Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen“ zu verstehen ist, nämlich Maßnahmen, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Waren aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln und Maßnahmen, wonach Produkte im Absatzland bestimmten Vorschriften entsprechen müssen74. Der folgende Zusatz ist bedeutsam: „Ebenfalls unter diesen Begriff fällt jede sonstige Maßnahme, die den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert“, was im konkreten Fall wegen der nunmehr eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten der Wassermotorräder bejaht wurde.75 Hier wird die „Emanzipation des Marktzugangskriteriums von der Keck-Formel“76 besonders augenfällig, zumal die Keck-Rechtsprechung noch nicht einmal (ansatzweise) herangezogen wird. Nutzungsbeschränkungen könnten also eine Entwicklung beschleunigen, künftig die Behinderung des Marktzugangs als einziges Kriterium für die Prüfung einer Beeinträchtigung i. S. d. Art. 34 AEUV zu verwenden. In diese Richtung gehen auch die Voten einiger Generalanwälte77 bis hin zur Rückkehr zum Diskriminierungsverbot, wobei auch vertreten wird, die Nutzungsbeschränkungen ähnlich der Verkaufsmodalitäten bei der Keck-Formel aus dem Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV auszunehmen, soweit eine mehr als marginale Nutzungsmöglichkeit verbleibt. Von den denkbaren Lösungsmöglichkeiten für die Fallgruppe der Nutzungsbeschränkungen dürfte wohl am ehesten die Überlegung tragfähig sein, die sich von 73 Rs. C-142/05, Slg. 2009, I-4273 – Mickelsson und Roos. Siehe aber auch EuGH, Rs. C110/05, Slg. 2009, I-519 (Komm. ./. Italien) und EuGH, Rs. C-265/06, Slg. 2008, I-2245 (Komm. ./. Portugal). 74 Rdn. 25 (Fußn. 73). 75 Rdn. 25 m. w. N. 76 So Kingreen, Thorsten in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 – 36 AEUV, Rdn. 53. 77 Vgl. GA Bot, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-110/05, Slg. 2009, I-519 Rdn. 83, 109 ff., und GA Maduro, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-158 und 159/04, Slg. 2006, I-8135, Ziff. 42 – 45 (Alfa Vita).

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der Funktion der Grundfreiheiten leiten lässt. Grundidee und Ratio der Warenverkehrsfreiheit lag ursprünglich darin, spezifisch grenzüberschreitende Belastungen zu verhindern. Das bedeutet, dass Art. 34 AEUV im Interesse eines freien Binnenmarktes solche Maßnahmen verbietet, die grenzüberschreitende Sachverhalte ungünstiger behandelt als die rein nationalen Sachverhalte78. Knüpft man so an die Transnationalität an, kann man Maßnahmen, die spezifisch eine grenzüberschreitende Transaktion behindern, von denen unterscheiden, die (faktisch) nur (auch) sozusagen reflexiv, z. B. wegen geringerer Nachfrage, die Transaktion behindern. Nutzungsbeschränkungen aus Umweltschutzgründen treffen in- und ausländische Produkte unterschiedslos und haben typischerweise für in- und ausländische Waren auch die gleichen Auswirkungen. Diejenigen nationalen Regelungen, die „weder final noch objektiv von ihrer Wirkungstypik her eine den Marktzugang beschränkende Tendenz aufweisen“79, sollten nicht als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in den Warenverkehr angesehen werden. Denn es ist in der Tat „gleich unattraktiv, ein nutzloses aus- oder inländischen Produkt zu kaufen“80. Nur dann, wenn durch die Regelung Ausländer ausnahmsweise wegen bestimmter Warengruppen und der Angebotsstruktur signifikant tatsächlich mehr betroffen sind als Inländer, sollte der Tatbestand des Art. 34 AEUV erfüllt sein; in allen anderen Fällen entfällt der Tatbestand. Das sind die weitaus meisten Fälle, die von vornherein dem Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV entzogen sind, natürlich immer unter der Voraussetzung, dass es sich nicht um wirtschaftliche Gründe handelt, keine verschleierte Beschränkung des Handels vorliegt und keine willkürliche Diskriminierung vorliegt. Dieses Ergebnis verträgt sich im Übrigen mit den Wertungen des Art. 114 AEUV, wonach weitergehende Schutzerhöhungen selbst vor und nach einer Harmonisierungsmaßnahme möglich sind, selbst wenn damit der innerstaatliche Warenaustausch und Handel beeinträchtigt wird. Dann muss dies erst recht erlaubt sein, wenn der Regelungsbereich noch nicht harmonisiert ist und damit allein der Maßstab der Grundfreiheiten Anwendung findet. Schließlich steht auch das von der Cassis de Dijon-Rechtsprechung eingeführte Herkunftslandprinzip81 dieser Auslegung nicht im Weg. Es besagt, dass in einem Land der EU rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Waren frei innerhalb der EU zirkulieren dürfen. Bei Nutzungsbeschränkungen wird nicht an die Transnationalität angeknüpft, sondern nachträglich an die Art und Weise der Nutzung und des Einsatzes der Ware: Das Produkt darf verwendet werden, aber nur in gewissen umweltverträglichen Grenzen. Da auch das Herkunftslandprinzip nicht ausnahmslos gilt, sondern Ausnahmen nach Maßgabe zwingender Erfordernisse des Allgemeinwohls ohnehin nach der Cassis-Rechtspre78

So Kingreen, Thorsten in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 – 36 AEUV, Rdn. 60 unter Hinweis auf GA Maduro m. w. N. 79 Herdegen, Matthias, Europarecht, 14. Aufl., 2012 § 15 Rdn. 12. 80 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012 S. 401; siehe auch Becker, Ulrich in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 34 AEUV Rdn. 51. 81 Siehe Fußn. 69.

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chung zulässig sind82 – wenn auch nur auf der Rechtfertigungsebene –, würde eine solche den Art. 34 AEUV beschränkende Tatbestandsfassung i. S. des Bestimmungslandsprinzips die gewachsenen dogmatischen Strukturen nicht zerstören, sondern behutsam und systemgerecht das Phänomen der Nutzungsbeschränkungen einer konstruktiven Lösung zuführen. Damit ist auch nicht jede umweltschutzmotivierte Verwendungsbeschränkung von vornherein legitimiert. Zum einen wird zu prüfen sein, ob der Regelungsbereich Gegenstand sekundärrechtlicher Harmonisierung ist, denn dann sind die spezifischen Anforderungen des Art. 114 AEUVan eine Schutzerhöhung einzuhalten. Zum anderen sind die strengen Anforderungen des EuGH bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. S. d. Erforderlichkeit, Geeignetheit und des mildesten Mittels etc. stets zu beachten, so dass künftige Nutzungsbeschränkungen aus Umweltgründen nicht automatisch den Grundfreiheiten vorgehen. 3. Umweltschutz und andere Grundfreiheiten Es braucht hier nicht der Frage nachgegangen zu werden, ob die Leitentscheidungen des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit auch oder eingeschränkt für die übrigen Grundfreiheiten der Art. 45, 49, 56 und 63 AEUVAnwendung finden können; jedenfalls sind umweltschutzmotivierte Einschränkungen der Ausübung der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit aber auch der Arbeitnehmerfreizügigkeit denkbar. Die Diskussion um die Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. 12. 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt83 zeigt, dass sowohl Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit aus Umweltschutzgründen in Betracht kommen. Die grundsätzlichen Überlegungen zu Nutzungsbeschränkungen aus Umweltschutzgründen gelten – jeweils spezifisch modifiziert – auch hier. 4. Art. XX GATT und Umweltvölkerrecht Auch im Welthandelsrecht der WHO gibt es in Art. XX GATT einen Rechtfertigungsgrund für handelsbeschränkende Maßnahmen, der bei weiter Auslegung dem modernen Umweltschutzverständnis entspricht.84 Es legitimiert Handelsbeschränkungen zum Schutz nationaler Umweltgüter. Streitig und spannend ist die Frage, ob auch bei extraterritorialen Schutzzwecken und bei grenzüberschreitenden Umweltbelastungen Rechtfertigungen greifen können. Dies wäre im Interesse des Umweltschutzes, tangiert aber das Souveränitätsprinzip. Die Interessen müssen hier 82 Das vernachlässigt Classen, Claus Dieter in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl., 2011, § 22 Rdn. 34 wenn er gegen tatbestandsauschließende Nutzungsbeschränkungen einwendet, Art. 34 gehe schließlich von der grundsätzlichen Verkehrsfähigkeit aller im Binnenmarkt hergestellten Produkte in der ganzen Union aus. 83 ABl. L 376 v. 27. 12. 2006, S. 36 ff. 84 Näher dazu Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 4 Rdn. 56.

Umweltschutz im Lissabon-Vertrag

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noch ausbalanciert werden85, was Aufgabe der WTO ist, die im Übrigen das eher schwach ausgeprägte Umweltvölkerrecht dominiert. Da die EU auch Mitglied der WTO ist,86 versucht sie, ihr hohes Umweltschutzniveau zu „exportieren“, muss aber zuweilen auch die eigenen Exportinteressen gegen Umweltschutzmaßnahmen dritter Nicht-EU-Staaten verteidigen.87 Es ist notwendig, aber in der Umsetzung natürlich schwierig, das Welthandelsrecht zu ökologisieren, um langfristig zu einem global hohen Schutzniveau und zu einer Harmonisierung der Umweltschutzmaßstäbe insgesamt zu gelangen. IV. Zusammenfassung 1.

Die primärrechtliche Umweltschutzgewährleistung im Lissabon-Vertrag ist mit Art. 3 Abs. 3 EUV, der Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV und mit Art. 191 AEUV als anspruchsvoll zu qualifizieren. Das „hohe Maß an Umweltschutz“ i. V. m. der „Verbesserung der Umweltqualität“ manifestiert die ökologische Dimension des ökonomischen Wachstums in der EU i. S. der Nachhaltigkeit und eines normativen Verschlechterungsverbots. Die enge Verbindung zum „wissenschaftlichen Fortschritt“ in Art. 3 Abs. 3 EUV bedeutet, dass die technische und wissenschaftliche Entwicklung einerseits umweltverträglich sein muss und andererseits in den Dienst des Umweltschutzes zu stellen ist.

2.

Die rechtlich verbindliche Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV fordert, bei jedem Legislativakt eine gesetzesbezogene UVP durchzuführen und diese auch in der Begründung der Verordnung oder Richtlinie zu dokumentieren (Begründungspflicht, Art. 296 Abs. 2 AEUV).

3.

Auch bei Abwägungen zwischen konfligierenden Rechtsgütern sollte im Interesse eines „hohen Schutzniveaus“ eine Begründungspflicht die Frage umfassen, welche Gesichtspunkte einem Optimum an Umweltschutz entgegenstehen.

4.

Die mit dem Nachhaltigkeitsprinzip verstärkte soziale Sichtweise über Art. 191 Abs. 3 AEUV hinaus, löst Begründungspflichten nach Art. 296 Abs. 2 AEUV aus und dürfte bei offensichtlichem Abwägungsausfall auch justiziabel sein. Darüber hinaus wird auch dem Gesichtspunkt der „Umweltgerechtigkeit“ künftig auch in der EU größere Bedeutung beigemessen werden müssen.

5.

Das Vorsorgeprinzip der EU fordert ein Handeln unter Unsicherheit, es muss aber wenigstens ein hinreichend belastbarer plausibler Vorsorgeanlass i. S. objektivierbarer Indizien gegeben sein.

85 Zur Justitialisierung internationaler Streitbeilegungsverfahren Zangl, Bernhard, Die Internationalisierung der Rechtstaatlichkeit: Streitbeilegung in GATT und WTO, 2006, S. 48 ff. 86 Zur völkerrechtlichen Bindung der EU an die Welthandelsordnung und zur Anwendung der WTO-Vorschriften im Unionsrecht Herdegen, Matthias, Europarecht, 14. Aufl., 2012, § 27 Rdn. 15 ff. 87 Meßerschmidt, Klaus, Europäisches Umweltrecht, § 5 Rdn. 68.

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6.

Das Verursacherprinzip ist keine Leerformel, sondern eine verbindliche Direktive an den Normgeber, die Umwelt nicht länger als freies Gut zu behandeln. Es ist ein Prinzip der Kostenzurechnung und Verantwortlichkeit und ist vom Gesetzgeber zu konkretisieren.

7.

Das Kooperationsprinzip in Art. 11 EUV regelt „Partizipation“ i. S. einer allgemeinen Teilhabe an politischer Herrschaft, kann aber auch umweltspezifisch nutzbar gemacht werden, bis hin zur paktierenden EU, die zwar bei Selbstverpflichtungen und Umweltvereinbarungen nur Initiator, aber nie selbst Absprachepartner ist. Eine umsetzungsbedürftige Richtlinie der EU zieht kein Verbot einer Selbstverpflichtung nach sich.

8.

Der Umweltschutz dient als Rechtfertigung für den Eingriff in Art. 34 AEUV neben der Gesundheit von Mensch, Tieren und Pflanzen (Art. 36 AEUV) als zwingendes Allgemeininteresse i. S. d. Cassis de Dijon-Judikatur des EuGH.

9.

Bemerkenswert ist der Befund, dass der Umweltschutz in Bedeutung und Rangfolge zu den Rechtsgütern in Art. 36 AEUV aufgeschlossen hat. Die Analyse zeigt, dass vieles dafür spricht, den Rechtfertigungsgrund „Umweltschutz“ genauso wie bei den Rechtsgütern des Art. 36 AEUV auch dann anzuwenden, wenn es sich um diskriminierende (nicht aber willkürliche) Maßnahmen gegenüber EU-ausländischen Anbietern handelt. Dem muss eine besonders sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung entsprechen, mit dem Ergebnis, dass die Diskriminierung alternativlos ist.

10. Schwierigkeiten bereiten schließlich umweltmotivierte Nutzungsbeschränkungen, die in der Judikatur des EuGH immerhin für eine Emanzipation des Marktzugangskriteriums von der Keck-Formel geführt haben. Dogmatisch sauber dürfte die Konstruktion sein, die Nutzungsbeschränkungen in aller Regel aus dem Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV herauszunehmen, da sie typischerweise regelungsmäßig nicht in belastender Weise an den Grenzübertritt anknüpfen.

Netzausbau und Umweltschutz im Höchstspannungsnetz Von Matthias Lang* Der politisch gewollte Ausbau der erneuerbaren Energien sowie zunehmende Handelsaktivitäten führen zu erhöhtem Ausbaubedarf in den Energienetzen. Im Vordergrund steht derzeit das Elektrizitätsnetz, genauer das Höchstspannungsnetz.1 Aber auch der Bedarf im Verteilnetz ist riesig.2 Im Gasnetz gibt es ebenfalls Ausbaubedarf.3 Er könnte sich durch neue Technologien wie Power to Gas4 schnell vergrößern, wenn sich diese Technologie zur Speicherung von aus Wind und Sonne erzeugtem Strom im Gasnetz technologisch und wirtschaftlich durchsetzt. Wegen der besonderen derzeitigen praktischen Bedeutung des Netzausbaus im Höchstspannungsnetz5 gerade für die Weiterleitung des in Norddeutschland erzeugten und zukünftig zu erzeugenden onshore- und offshore Windstroms in Verbrauchsgebiete in West- und Süddeutschland soll sich der vorliegende Beitrag auf diesen Bereich beschränken. Im Rahmen der für die Errichtung neuer Höchstspannungsfreileitungen nach § 43 EnWG6 erforderlichen Planfeststellungsverfahren ergeben sich in *

Der Autor ist Rechtsanwalt und Partner bei Bird & Bird LLP in Düsseldorf. Er dankt Herrn stud. iur. Tobias Lübcke für seine Unterstützung bei der Vorbereitung des Manuskripts. 1 Umfangreiche, ständig aktualisierte Informationen hierzu finden sich auf www.netzaus bau.de. 2 Die Stromverteilnetze in Deutschland müssen nach der dena-Verteilnetzstudie aus Dezember 2012 bis 2030 in einer Größenordnung von 135.000 km bis zu 193.000 km ausgebaut und auf einer Länge von 21.000 bis zu 25.000 km umgebaut werden. Dafür müssen zwischen 27,5 Milliarden und 42,5 Milliarden Euro investiert werden. Der genaue Ausbau- und Investitionsbedarf ist abhängig davon, wie hoch der Anteil der regenerativen Stromerzeugung im Jahr 2030 ist. Die Studie ist verfügbar unter http://www.dena.de/fileadmin/user_upload/Publika tionen/Energiesysteme/Dokumente/dena-VNS_Abschlussbericht.pdf (zuletzt abgefragt 09. 04. 2013). 3 Eine gute Übersicht findet sich auf der Internetseite der Bundesnetzagentur unter http:// www.bundesnetzagentur.de/cln_1912/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetGas/GasNetzEntwicklung/ GasNetzEntwicklung_node.html (zuletzt abgefragt 09. 04. 2013). 4 Zu Power to Gas etwa Stellungnahme des Ausschusses der Regionen vom 1. Februar 2013, ABl EU Nr. C 062 vom 02/03/2013 S. 51, Rn. 18; Antoni, ZNER 2013, 25; Valentin/ von Bredow, ET 2011, 99. 5 Bei Freileitungen betrifft dies Leitungen mit 220 kV und 380 kV. 6 Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz – EnWG) vom 7. Juli 2005 (BGBl. I S. 1970), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Januar 2013 (BGBl. I S. 74).

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der Praxis mannigfaltige umweltrechtliche Herausforderungen, von denen im Folgenden einige aktuelle Beispiele exemplarisch erörtert werden. I. Elektromagnetische Felder Von elektrischen Leitern ausgehende elektromagnetische Felder sind seit jeher Gegenstand kontrovers geführter7, umweltrechtlicher Debatten.8 Die Felder lassen sich anhand von elektrischen Feldstärken und magnetischen Flussdichten charakterisieren. Grenzwerte und Regelungen hierzu finden sich vor allem in der 26. BImSchV9 und der BEMFV10. 1. Bisherige Regelung a) Hoch- und Höchstspannungsfreileitungen bedürfen keiner immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach § 4 BImSchG11 i.V.m. § 1 4. BImSchV12. Es handelt sich vielmehr um sonstige ortsfeste Anlagen i.S.d. § 3 Abs. 5 Nr. 1 BImSchG.13 Anzuwenden ist daher § 22 BImSchG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 26. BImSchV. Die Voraussetzungen sind im Rahmen der Planfeststellung nach § 43 EnWG zu prüfen.14 Nach §§ 3, 4 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 2 lit. a) 26. BImSchV findet die Verordnung auf alle Hoch- und Höchstspannungsleitungen Anwendung. Bei den hier relevanten Freileitungen handelt es sich nämlich um Wechselstromanlagen mit einer Frequenz von 50 Hertz und einer Nennspannung von über 1,000 Volt, mithin um Niederfrequenzanlagen.

7 Siehe aus neuerer Zeit stellvertretend den (extremen) Beitrag von Budzinski, NVwZ 2013, 404, allerdings zum Hochfrequenzbereich. 8 Vgl. Greinacher/Freitag, N&R 2011, 39, Determann, NVwZ 1997, 647. 9 Sechsundzwanzigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verordnung über elektromagnetische Felder – 26. BImSchV) vom 16. Dezember 1996 (BGBl. I S. 1966). 10 Die Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung elektromagnetischer Felder (BEMFV) bleibt in dieser Betrachtung außen vor, da ihr Anwendungsbereich nach § 1 BEMFV auf ortsfeste Funkanlagen beschränkt ist. 11 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BImSchG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. September 2002 (BGBl. I S. 3830). 12 Vierte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen – 4. BImSchV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. März 1997 (BGBl. I S. 504), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2012 (BGBl. I S. 1726). 13 Jarass, BImSchG, Kommentar, 9. Auflage 2012, § 22 Rn. 9a. 14 Vgl. Pielow, in: Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 2. Auflage 2010, § 43 EnWG, Rn. 74.

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Anhang 2 zur 26. BImSchV legt bisher für 50-Hertz-Felder für die elektrische Feldstärke einen Grenzwert von 5 Kilovolt pro Meter und für die magnetische Flussdichte einen Grenzwert von 100 Mikrotesla fest. Bei der Einhaltung dieser Grenzwerte bestehen keine Gefahren für die menschliche Gesundheit.15 Auch das BVerwG hat in ständiger Rechtsprechungspraxis keine Zweifel an den auf wissenschaftlichen Empfehlungen beruhenden Grenzwerten.16 Vielmehr hat das Gericht auch jüngst wieder zutreffend festgestellt, dass die Grenzwerte auch durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse nicht überholt sind.17 Im Übrigen hat der Verordnungsgeber bei Erfüllung seiner staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG18 einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum,19 sodass von der Verbindlichkeit der Grenzwerte nach wie vor auszugehen ist.20 b) § 3 Satz 1 26. BImSchVordnet an, dass Niederfrequenzanlagen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen so zu errichten und zu betreiben sind, dass in ihrem Wirkungsbereich selbst bei höchster Anlagenauslastung und unter Berücksichtigung der Immissionen anderer Niederfrequenzanlagen diese Grenzwerte nicht überschritten werden. Satz 2 lässt allerdings zu, dass im Einzelfall kurzzeitige und kleinräumige Überschreitungen außer Betracht bleiben können.21 Das Abstellen auf den praktisch seltenen Fall der maximalen Anlagenauslastung führt dazu, dass die Immissionen von Höchstspannungsleitungen regelmäßig weit unterhalb der Grenzwerte liegen. Die in Anhang 2 zur 26. BImSchV positivierten Grenzwerte liegen überdies weit unterhalb der Schwelle, oberhalb derer eine Gesundheitsschädigung durch elektromagnetische Felder nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand zu besorgen ist.22 Dennoch ordnet § 4 26. BImSchV an, dass zum Zwecke der Vorsorge kurzfristige und kleinräumige Überschreitungen nach § 3 Satz 2 26. BImSchVunzulässig sind, wenn sich die Niederfrequenzanlage in der Nähe von Wohnungen, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, Kinderhorten, 15

BVerwG, NVwZ 2010, 1486 (1487) Rn. 24; Jarass, BImSchG, Kommentar, 9. Auflage 2012, § 23 Rn. 34; Lang in: Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 2. Auflage 2010, 26. BImSchV, § 3 Rn. 12. 16 BVerwG, NVwZ, 2010, 1486 (1487); dass., NVwZ 1996, 1023 (1024); dass., NVwZ 1994, 1000 (1002). 17 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 20. 18 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Juli 2012 (BGBl. I S. 1478). 19 BVerfG, NVwZ 2007, 805; vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. II, Grundrechte, 2010, § 48 Rn. 65; ders., Umweltrecht, 3. Auflage 2004, § 14 Rn. 61 (verweisend auf BVerfG, JZ 1997, 897 ff.). 20 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 20; Lang, in: Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 2. Auflage 2010, 26. BImSchV, § 3 Rn. 13. 21 Siehe dazu auch Lang in: Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 2. Auflage 2010, 26. BImSchV, § 3 Rn. 7 f. 22 Hansmann in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 66. EL 2012, 26. BImSchV, § 3 S. 5.

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Spielplätzen oder ähnlichen Einrichtungen befindet. Diese Regelung soll der Prävention dienen. c) Elektromagnetische Felder von Höchstspannungsleitungen werden besonders dann kritisch hinterfragt, wenn Leitungen in Ortschaften oder nahe an Ortschaften errichtet werden sollen.23 Praktisch sind die Ortschaften vielfach seit der Errichtung der vormals weit außerhalb der Orte gelegenen Leitungen in den 20er oder 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts an die Leitungen herangerückt. Zuweilen wurden die Grundstücke am Rand der Schutzstreifen von Käufern deshalb als attraktiv eingeschätzt, weil die Aussicht – mit Ausnahme der Leitungen – wegen der leitungsbezogenen Baubeschränkungen kaum verbaubar war. Beim Neubau von Leitungen ist heute gegebenenfalls zu prüfen, ob es zu einer Überschreitung der zulässigen Maximalwerte kommen kann und welche Abstände zu Siedlungen und Einzelgebäuden eingehalten werden müssen. Dabei gilt, dass die Immissionsstärke abfällt, je weiter man sich von der Leitung entfernt. Die Anwendung landesrechtlicher Vorschriften, wie etwa Nr. 2.5 des nordrheinwestfälischen Abstandserlasses24, der in Verbindung mit der dazu gehörigen Anlage Nr. 4 Schutzabstände für Hochspannungsfreileitungen festlegt, scheidet allerdings aus. Im Rahmen von Planfeststellungsverfahren ist die Abstandsliste nämlich nicht zuwenden, weil die differenzierte Einzelfallprüfung nach Nr. 3.2 Abstandserlass ohnehin Gegenstand des Planfeststellungsverfahrens ist. d) Der Planfeststellungsbeschluss muss im Übrigen stets das fachplanungsrechtliche Abwägungsgebot des § 43 Satz 3 EnWG wahren. Dabei ist u. a. die gefestigte Rechtsprechung des BVerwG zur Schutzwürdigkeit von Grundstücken und Gebieten auch bei Unterschreitung des immissionsschutzrechtlichen Grenzwertes zu beachten. Danach ist die Schutzwürdigkeit höher, je mehr es nach der Grundstücksoder Gebietsart berechtigterweise Schutz vor Immissionen erwarten kann und je weniger es durch bereits bestehende Störfaktoren tatsächlich „vorbelastet“ ist.25 Dies führt nicht nur zu einer Unterscheidung zwischen Gebietsarten (z. B. Industriegebiet oder Wohngebiet), sondern auch zu einer differenzierenden Einzelfallbetrachtung innerhalb einer Gebietsart.26 Ist etwa ein Wohngebiet bereits seit Jahrzehnten durch eine kreuzende oder vorbeiführende Hochspannungsleitung geprägt, so ist dieses Wohngebiet bei einem Neubau oder einer Veränderung der Hochspannungstrasse weniger schutzwürdig als ein von Vornherein völlig unbelastetes Areal.27 Freilich muss aber dort die Grenze der Berücksichtigung einer die Schutzwürdigkeit min23

Vgl. auch Greinacher, ZUR 2011, 305 (310). Abstände zwischen Industrie- bzw. Gewerbegebieten und Wohngebieten im Rahmen der Bauleiplanung und sonstige für den Immissionsschutz bedeutsame Abstände (Abstandserlass), RdErl. d. Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – V-3 – 8804.25.1 vom 6. 6. 2007. 25 Vgl. dazu auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage 2004, § 14 Rn. 295. 26 BVerwG, NVwZ 1999, 539 (540 f.); dass., NJW 1979, 64 (69). 27 BVerwG, NVwZ 1999, 539 (540 f.); dass., NJW 1979, 64 (69). 24

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dernden Vorbelastung gezogen werden, wo die Immissionen bereits vor Ausführung des Planvorhabens auch im Verhältnis zu anderen Immissionsquellen das Höchstmaß des Zumutbaren bereits erreicht haben oder mit Ausführung des Planvorhabens überschreiten würden.28 Denn hier greift die sich aus seinen Schutzpflichten ergebende Verpflichtung des Staates zur Gefahrenabwehr unmittelbar ein. Hingegen begründen die im Bereich der Risikovorsorge bestehenden Schutzpflichten unterhalb der sachverständig feststellbaren Gefahrenschwelle nicht zwangsläufig die Verpflichtung zu staatlichem Handeln. Ein sozialadäquates Restrisiko ist vielmehr (auch hier) verfassungsgemäß.29 e) Unbedenklich sind nach § 3 Satz 2 26. BImSchV in der Regel kleinräumige und kurzzeitige Überschreitungen. Danach bleiben bei den Grenzwerten kurzzeitige Überschreitungen der Werte um nicht mehr als 100 %, deren Dauer insgesamt nicht mehr als 5 % eines Beurteilungszeitraumes von einem Tag ausmacht, außer Betracht.30 Gleiches gilt für kleinräumige Überschreitungen um nicht mehr als 100 % außerhalb von Gebäuden, soweit nicht im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte für insbesondere durch Berührungsspannungen hervorgerufene Belästigungen bestehen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer für die Nachbarschaft unzumutbar sind31.32 2. Änderung der 26. BImSchV Noch innerhalb der 17. Wahlperiode dürfte mit einer Änderung der 26. BImSchV zu rechnen sein. Auf Vorschlag der Bundesregierung vom 19. Februar 2013 und Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit stimmte der Bundestag am 14. März 2013 einigen Änderungen der 26. BImSchV zu.33 Das Bundeskabinett stimmte am 8. Mai 2013 einem Änderungsentwurf zu, der den zuvor vom Bundesrat geforderten Maßgaben Rechnung trug. Die vorgesehenen Änderungen betreffen auch den Ausbau der Höchstspannungsleitungen. a) Zunächst soll mit der Einfügung von § 3a 26. BImSchV-E ein gesetzlicher Rahmen für die elektromagnetischen Immissionen von Gleichstromanlagen positiviert werden.34 Im Blick hat der Verordnungsgeber hier die Hochspannungs-Gleich28 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 21; dass., NVwZ 1999, 539 (540 f.); dass., NJW 1979, 64 (69). 29 Vgl. zur Hinnahme sozialadäquater Risiken Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. II, Grundrechte, 2010, § 48 Rn. 71 f.; ders., Umweltrecht, 3. Auflage 2004, § 3 Rn. 48, § 15 Rn. 39 (verweisend auf Kalkar-Beschluss (BVerfGE 49, 89)); Lang, in: Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 2. Auflage 2010, 26. BImSchV, § 3 Rn. 13. 30 § 3 Satz 2 Nr. 1 26. BImSchV. 31 § 3 Satz 2 Nr. 2 26. BImSchV. 32 Für Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Kinderhorte, Spielplätze und ähnliche Einrichtungen ist in § 4 BImSchV geregelt, dass kurzfristige oder kurzzeitige Überschreitungen zum Zwecke der Vorsorge unzulässig sind. 33 BT-PlPr 17/228, S. 28576 (D). 34 Zum Verhältnis von Recht und Technik Kloepfer, NuR 1997, 417 (417 f.).

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strom-Übertragung (HGÜ).35 Diese Technologie hat bisher im deutschen Elektrizitätsnetz nur begrenzt Anwendung gefunden. Eine großräumige Einführung ist jedoch durchaus denkbar und in naher Zukunft auch wahrscheinlich.36 Grenzwerte hierfür sollen sich künftig in Anlage 1a zur 26. BImSchV-E finden.37 b) Darüber hinaus gibt es Anpassungen des Grenzwertregimes. In der Verordnungsbegründung wird betont, dass die 26. BImSchV der Anpassung an wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklungen bedürfe. Die künftigen Grenzwerte der 26. BImSchV sollen an die überarbeiteten Grenzwertempfehlungen der ICNIRP aus dem Jahre 2010 angepasst werden.38 Der Erkenntnisfortschritt rechtfertigt im Niederfrequenzbereich eine Erhöhung (und keine Beibehaltung oder Senkung) der Grenzwerte. Insofern setzt Anlage 1a zur 26. BImSchV-E künftig bei einer Frequenz von 50 Hertz einen Grenzwert der magnetischen Flussdichte von 200 Mikrotesla, mithin das Doppelte der derzeitigen Regelung, fest. Eine Änderung des Grenzwertes der elektrischen Feldstärke ist nicht vorgesehen. c) Allerdings wird über die Neufassung des § 3 Abs.1 26. BImSchV-E das derzeitige Schutzniveau bei Hochspannungsleitungen gehalten, da bei Niederfrequenzanlagen (allein) im 50-Hertz-Bereich nur die Hälfte des in Anhang 1a festgesetzten Oberwertes der magnetischen Flussdichte zulässig sein soll. Im Ergebnis verbleibt der Grenzwert damit für den 50 Hertz-Frequenzbereich bei 100 Mikrotesla,39 auch wenn die ICNIRP-Empfehlungen eine Verdoppelung zugelassen hätten. Da sich diese Rückausnahme den wissenschaftlichen Empfehlungen nicht entnehmen lässt, erscheint dieses Vorgehen vornehmlich politisch motiviert. Angesichts der oben bereits erwähnten Einschätzungsprärogative bei Erfüllung seiner staatlichen Schutzpflichten steht dem Verordnungsgeber ein solches Verhalten jedoch zu.40 d) Nach § 4 26. BImSchV-E sollen Betreiber von Gleichstrom- und Niederfrequenzanlagen verpflichtet werden, bei Errichtung und wesentlicher Änderung der Anlagen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die von der jeweiligen Anlage ausgehenden elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Felder nach Stand 35

BT-Drs. 17/12372 S. 6, 12, 13. Während in den vergangenen Dekaden Elektrizität vor allem von Großkraftwerken in relativer Nähe zu den Verbrauchsstätten produziert wurde, wird in Zukunft der Transport von Elektrizität über lange Distanzen schon deshalb stattfinden müssen, weil ein Großteil der deutschen Energieversorgung durch Windfarmen in Norddeutschland und offshore auf offener See sichergestellt werden soll. Mithilfe der HGÜ-Technologie, die bei derzeitigen Windparks auch bereits im Einsatz ist, ließen sich die Energiemengen mit relativ geringem Leitungsverlust aus dem Norden in den Süden leiten. Eingehender zur HGÜ-Thematik Lang/Rademacher, RdE 2013, 145; Spieler, NVwZ 2012, 1139. 37 BT-Drs. 17/12372 S. 6. 38 BT-Drs. 17/12372 S. 10, 15. 39 BT-Drs. 17/12372 S. 13. 40 BVerfG, NVwZ 2007, 805; vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. II, Grundrechte, 2010, § 48 Rn. 65. 36

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der Technik unter Berücksichtigung von Gegebenheiten im Einwirkbereich zu minimieren. Diese Pflicht soll allerdings erst durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung näher konkretisiert werden und soll einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission Rechnung tragen. Die Minimierung von Strahlenimmissionen soll demnach aufgrund der extensiven Begriffsfassung auch schon in der Planungsphase gelten. Für konkrete Inhalte wird aber auf die noch zu erlassene Verwaltungsvorschrift verwiesen. Insofern ist noch unklar, welche praktischen Konsequenzen das Minimierungsgebot bei neu zu bauenden Leitungen haben wird. Hinzutreten soll überdies ein Überspannungsverbot bezogen auf Gebäude oder Gebäudeteile, die zum dauerhaften Aufenthalt von Menschen bestimmt sind. Auch hierfür gibt es keine konkrete wissenschaftliche Rechtfertigung, zumal auch bei überspannten Gebäuden die Immissionen dadurch reduziert werden könnten, dass man die Leitung an höheren Masten führt. Das Überspannungsverbot soll allerdings ausschließlich für Neubauten von 50-Hertz-Niederfrequenzanlagen mit einer Nennspannung von mindestens 220 Kilovolt gelten. Zusätzlich ausgenommen sind bereits eingeleitete Projekte nach dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG)41, soweit diese durch die Neuregelung nachteilig betroffen würden.42 Anzunehmen ist, dass sowohl das Minimierungsgebot wie auch das Überspannungsverbot vorwirkend43 Eingang auch in laufende Planfeststellungsverfahren für Höchstspannungsleitungen finden wird, ungeachtet aktuell fehlender Vorgaben durch eine Verwaltungsvorschrift bzw. gesetzlich angeordneter Nichtanwendbarkeit. e) Geplant ist schließlich, dass die Regelungen zu Bahnstromanlagen mit einer Frequenz von 16,7 Hertz in Zukunft ebenfalls dem Grenzwerteregime der Anlage 1a zur 26. BImSchV-E unterfallen sollen.44 Zweifelhaft ist dabei, ob dies überhaupt von der Verordnungsermächtigung in § 23 Abs. 1 BImSchG gedeckt ist. Denn nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 BImSchG fallen nur Eisenbahnen nach Maßgabe der §§ 41 bis 43 BImSchG in deren Anwendungsbereich. § 41 BImSchG knüpft aber allein an Verkehrsgeräusche an (Lärmschutz), die den Fahranlagen der Bahn und gerade nicht den Oberleitungen entstammen. Wären nur erstere vom BImSchG erfasst, dürfte die 26. BImSchV keine auf § 23 Abs. 1 BImSchG gestützten Werte für elektromagnetische Felder von Bahnstromfern- und Oberleitungen enthalten. Denn mangels Verkehrsgeräuschen fallen diese nicht unter § 2 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 41 BImSchG. Diese Lücke ließe sich dadurch schließen, dass man Bahnstromfern- und Bahnstromoberleitungen unter den allgemeinen Anlagenbegriff des § 2 Abs. 1 Nr. 1 BIm-

41 Gesetz zum Ausbau von Energieleitungen (Energieleitungsausbaugesetz – EnLAG) vom 21. August 2009 (BGBl. I S. 2870). 42 BT-Drs. 17/12372 Sn.13 f. 43 Siehe zur Vorwirkung eingehend Kloepfer, Die Vorwirkung von Gesetzen, 1974. 44 BT-Drs. 17/12372 Sn.7, 14.

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SchG fasst und darauf die Vorschriften des zweiten Teils des BImSchG anwendet.45 Sodann würde die Verordnungsermächtigung des § 23 Abs. 1 BImSchG wieder greifen.46 Dafür spricht § 2 Abs. 1 Nr. 4 BImSchG insofern, als dass hier Eisenbahnen in Verbindung mit öffentlichen Straßen geregelt werden. Insoweit wird lediglich auf Verkehrswege (einschließlich Schienenwege) abgestellt, ohne dass dabei sonstige, für den Betrieb auf diesen Verkehrswegen erforderliche Anlagen vom Anwendungsbereich des BImSchG ausgenommen wären.47 II. Akustische Immissionen Da es sich bei Freileitungen nicht um genehmigungsbedürftige Anlagen i.S.d. § 4 BImSchG handelt, findet auch die 4. BImSchV keine Anwendung.48 Allerdings gibt § 50 Satz 1 BImSchG vor, dass bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen darauf zu achten ist, dass schädliche Umwelteinwirkungen auf ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dienende, sowie auf sonstige schutzbedürftige Gebiete so weit wie möglich vermieden werden. Auf Grundlage des § 48 BImSchG ist deshalb die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm)49 erlassen worden, die gem. Nr. 1 Satz 2 TA Lärm i.V.m. § 50 BImSchG auch für Hoch- und Höchstspannungsleitungen gilt und den Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche sowie der Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen durch Geräusche bezweckt. 1. Koronaeffekt Während Stromleitungen zwar keine Lärmquelle darstellen wie Turbinen oder Motoren, kann es doch – vor allem bei hoher Luftfeuchtigkeit – zu elektrischen Entladungen in der Luft kommen. Der so genannte „Koronaeffekt“ kann Knister- und Prasselgeräusche hervorrufen, deren Lautstärke sich nach der Stärke der Entladung richtet.50 45 Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 66. EL 2012, BImSchG, § 2 Rn. 18; vgl. auch VGH Kassel, NVwZ 1994, 391 (393) und VGH München, NVwZ 1993, 1121. 46 Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 66. EL 2012, BImSchG, § 2 Rn. 18; a.A.: Vallendar, UPR 1997, 129 (132), der unter Eisenbahnen auch die Errichtung der Leitungen als Betriebsanlagen fasst und darauf ausschließlich die §§ 41–43 BImSchG anwenden will. 47 Vgl. aber auch Jarass, BImSchG, Kommentar, 9. Auflage 2012, § 2 Rn. 10 und Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 66. EL 2012, BImSchG, § 2 Rn. 11 f., 18. 48 Siehe oben unter I. 1. a). 49 Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm) vom 26. August 1998 (GMBl S. 503). 50 Vgl. Cole/De Jonghe/Belmans, Die elektrotechnischen Grundlagen für die Planung der 380kV Höchstspannungsleitung, S. 40, 48.

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2. Immissionsrichtwerte TA Lärm Einen Katalog an akustischen Immissionsrichtwerten enthält Nr. 6 TA Lärm. Da Hoch- und Höchstspannungsleistungen üblicherweise im Dauerbetrieb laufen, richtet sich der Immissionswert praktisch nach den Vorgaben für die Nachtzeit. In reinen Wohngebieten beispielsweise darf deshalb nachts ein Geräuschpegel von 35 dB (A) grundsätzlich nicht überschritten werden.51 Die Zurechnung zu einem Schutzniveau erfolgt damit durch den Bebauungsplan oder – wenn dieser nicht vorhanden ist – nach der sich an der tatsächlichen Bebauung orientierenden Schutzbedürftigkeit des Immissionsortes.52 3. Gemengelagen Da im Laufe der Zeit viele Gemeinden nicht zuletzt wegen der eigentlich ruhigen, durch Baubeschränkungen geschützten Lage an Höchstspannungsleitungen herangerückt sind, stellt sich häufig die Frage, welche Lärmwerte in der Randlage gelten. Diese gilt besonders dann, wenn die Randlagen in Bebauungsplänen als reine Wohngebiete festgesetzt sind. Beim Neubau in vorhandenen Trassenräumen steht die existierende, gegebenenfalls durch einen Neubau zu ersetzende Leitung häufig im Außenbereich, für den die TA Lärm keine Richtwerte enthält. Nach zutreffender Ansicht der Rechtsprechung müssen Grundstücke in einer Außen- oder Randlage besonders behandelt werden.53 Dieses Verständnis stützt sich auf Nr. 6.7 TA Lärm. Für so genannte Gemengelagen ist vorgesehen, dass die für die zum Wohnen dienenden Gebiete geltenden Immissionsrichtwerte auf einen geeigneten Zwischenwert der für die aneinandergrenzenden Gebietskategorien geltenden Werte erhöht werden können, soweit dies nach der gegenseitigen Rücksichtnahmepflicht erforderlich ist. Im Konkreten bedeutet dies, dass in der Randlage eines reinen Wohngebietes am Außenbereich auf die Grenzwerte eines allgemeinen Wohngebietes (55 dB (A) tagsüber und 40 dB (A) nachts) abgestellt werden muss.54 Es können unter Umständen sogar die Werte für Mischgebiete (60 dB (A) tagsüber und 45 dB (A) nachts) gelten. Denn mit Rücksicht auf die besondere Lage hat sich der Eigentümer eines in Ortsrandlage gelegenen Grundstücks darauf einzustellen, dass sein Schutzanspruch gegen Vorhaben gemindert ist, die nach § 35 Abs. 1 BauGB55 genau hier privilegiert werden sollen. Das betrifft nach § 35 Abs. 1 Nr. 3 1. Alt. BauGB ge51

Nr. 6 TA Lärm enthält umfassende Regelungen für kurzzeitige Geräuschspitzen, Gemengelagen etc. 52 Vgl. hierzu auch die Ausführungen unter I. 1. d). 53 Vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 30. Oktober 2009 – Az. 6 B 2668/09, Beck RS 2009, 42058; OVG Münster, Beschluss vom 4. November 1999 – Az. 7 B 1339/99, Beck RS 1999, Rn. 20. 54 OVG Münster, Beschluss vom 4. November 1999 – Az. 7 B 1339/99, Beck RS 1999, 17712, Rn. 20; dass., NVwZ 1999, 1360. 55 Baugesetzbuch (BauGB) vom 23. September 2004 (BGBl. I S. 2414), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Juli 2011 (BGBl. I S. 1509).

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rade Elektrizitätsleitungen, die im Außenbereich errichtet werden sollen. Der Eigentümer eines Randlagegrundstücks kann weder verlangen, dass der Außenbereich frei zu bleiben hat oder ausschließlich mit Wohnbebauung versehen werden soll, noch, dass sein Grundstück von jeglichen negativen Immissionen aus dem Außenbereich freizuhalten ist. Vielmehr erschöpft sich sein berechtigtes Interesse darin, dass im Außenbereich keine mit der Wohnnutzung unvereinbare Anlage entsteht,56 mithin also die einschlägigen Obergrenzen eingehalten werden. 4. Prognose Nr. 4.2.b TA Lärm sieht im Übrigen vor, dass bei nicht genehmigungspflichtigen Anlagen wie Stromleitungen eine Prognose der Geräuschimmissionen verlangt werden kann. Kann auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden, die den Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche sicherstellen, entfällt jedoch dieses Erfordernis. Dies ist angesichts der langjährigen Erfahrungen mit Höchstspannungsleitungen häufig der Fall. III. Denkmalschutz Im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für Freileitungen stellen sich auch denkmalschutzrechtliche Fragen.57 Denkmalschutz ist grundsätzlich Ländersache.58 Die Denkmalschutzgesetze der einzelnen Länder unterscheiden sich hinsichtlich der Systematik und des Wortlautes, so dass es zu einer gewissen Zersplitterung kommt.59 Exemplarisch wird im Folgenden deshalb allein vom Recht des Landes Nordrhein-Westfalen ausgegangen. 1. Umweltverträglichkeitsprüfung a) Die seit dem 7. Februar 2012 geltende EU-UmweltverträglichkeitsprüfungsRichtlinie (UVP-RL)60 hat die bis dahin gültige Richtlinie 85/337/EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten vom 27. Juni 1985 abgelöst. Gemäß Art. 3 lit. c UVP-RL hat eine Identifikation, Beschreibung und Bewertung der unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen eines Projektes durch eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu erfolgen, wenn im Einzelfall 56 VGH Kassel, Beschluss vom 30. Oktober 2009 – Az. 6 B 2668/09, Beck RS 2009, 42058. 57 Vgl. hierzu auch allgemein Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 542 ff. 58 Näher Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 197 ff. 59 Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 198. 60 Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012 Nr. L 26 S. 1), Celex-Nr. 3 2011 L 0092.

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Sachgüter oder das kulturelle Erbe betroffen sind.61 Dies setzt das UVPG62 in nationales Recht um. b) Soweit eine Nennspannung von mindestens 110 Kilovolt gegeben ist, findet das UVPG auf Hochspannungsleitungen Anwendung.63 Zunächst stellt die zuständige Behörde auf Antrag des Vorhabensträgers oder anlässlich eines Ersuchens nach § 5 UVPG fest, ob eine UVP-Pflicht besteht.64 Mit § 3c UVPG wird Art. 4 Abs. 1 und 2 UVP-RL umgesetzt. Den Anwendungsbereich des § 3c hat der Gesetzgeber mit der in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 lit. a) UVP-RL vorgesehenen Einzelfalluntersuchung (sog. »Screening«) festgelegt, wobei unterschieden werden muss: Während Satz 1 sog. „A-Vorhaben“65 betrifft, bei denen eine allgemeine Vorprüfung des Einzelfalles zu erfolgen hat, betrifft Satz 2 sog. „S-Verfahren“66, bei denen eine standortbezogene Vorprüfung des Einzelfalles zu erfolgen hat.67 c) Anlage 2 zum UVPG enthält einen recht umfangreichen Katalog an Kriterien für die Vorprüfung des Einzelfalles im Rahmen einer UVP nach § 3c Sätze 1 und 2 UVPG. Handelt es sich um einen Fall der allgemeinen Vorprüfung i.S.d. § 3c Satz 1 UVPG, so ist der Prüfungsumfang beschränkt und hat nach dem Gesetzeswortlaut „überschlägig“ zu erfolgen. Nur wenn sich dabei ergibt, dass unter Berücksichtigung der in Anlage 2 zum UVPG aufgeführten Kriterien erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen auftreten könnten, die nach § 12 UVPG zu berücksichtigen wären, ist eine UVP durchzuführen. Das Gleiche gilt im Falle einer standortbezogenen Vorprüfung i.S.d. § 3c Satz 2 UVPG, sofern trotz der geringen Größe oder Leistung des Vorhabens nur aufgrund besonderer örtlicher Gegebenheiten gemäß den in Nr. 2 der Anlage 2 zum UVPG aufgeführten Schutzkriterien erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen zu erwarten sind. In beiden Fällen ist sodann vorab zu berücksichtigen, inwieweit Umweltauswirkungen durch die vom Vorhabensträger vorgesehenen Vermeidungs- und Verminderungsmaßnahmen offensichtlich ausgeschlossen wurden.68 d) Bei jeder UVP-(Vor-)Prüfung einer Hochspannungsfreileitung ist auf Nr. 2 Anlage 2 zum UVPG zu rekurrieren. Aus denkmalschutzrechtlicher Sicht ist dabei Nr. 2.3.11 der Anlage 2 zu beachten, wonach bei der UVP die Belastbarkeit der Schutzgüter unter besonderer Berücksichtigung von in amtlichen Listen oder Karten verzeichneten Denkmälern, Denkmalensembles, Bodendenkmälern oder Gebieten, 61

Vgl. zum weiten Umweltbegriff auch Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 153 ff. 62 Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Februar 2010 (BGBl. I S. 94), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2012 (BGBl. I S. 1726). 63 § 3 Abs.1 Satz 1 UVPG i.V.m. Nr. 19.1 Anhang 1 zum UVPG. 64 § 3a Satz 1 UVPG. 65 Dies gilt etwa für Vorhaben gemäß Nr. 19.1.2 und 19.1.3 Anlage 1 zum UVPG. 66 Dies gilt etwa für Vorhaben gemäß Nr. 19.1.4 Anlage 1 zum UVPG. 67 Sangenstedt in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 66. EL 2012, UVPG § 3c Rn. 2. 68 3c Satz 3 UVPG.

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die von den durch die Länder bestimmten Denkmalschutzbehörden als archäologisch bedeutende Landschaften eingestuft worden sind, sowie unter Berücksichtigung von Art und Umfang des ihnen jeweils zugewiesenen Schutzes zu beurteilen sind. Das setzt in Nordrhein-Westfalen voraus, dass für das betroffene Gebiet auch tatsächlich Eintragungen in die Denkmalliste gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 DSchG NRW69 vorliegen. Denn in die für einen Planfeststellungsbeschluss erforderliche Abwägung können nur Denkmäler im Rechtssinne eingestellt werden. Dafür erforderlich ist allerdings eine Eintragung in die Denkmalliste, § 3 Abs. 1 Satz 2 DSchG NRW. Spekulationen über das Vorhandensein noch unentdeckter (vor allem Boden-) Denkmäler können nicht in die Abwägungsentscheidung einbezogen werden.70 Zu beachten bleibt aber der vorläufige Schutz des § 4 DSchG NRW, durch den die Eintragung in die Denkmalliste fingiert sein kann. 2. Denkmalschutzrechtliche Nebenbestimmungen In der Praxis finden sich häufig denkmalschutzrechtliche Nebenbestimmungen in Planfeststellungsbeschlüssen für Freileitungen, z. B. zur archäologischen Baubegleitung. Die Zulässigkeit solcher Regelungen ist im Einzelfall zu prüfen. a) Weder das UVPG noch das DSchG NRW sehen Möglichkeiten vor, dem Vorhabensträger die Aufgaben des Denkmalschutzes zu übertragen, wenn noch nicht feststeht, ob überhaupt ein Denkmal betroffen ist. Dementsprechend gibt es auch keine allgemeine Pflicht, Prospektionsmaßnahmen durchzuführen, um etwaige Denkmäler aufzuspüren. Vielmehr obliegt die Denkmalpflege nach § 22 Abs. 1 DSchG NRW den Gemeinden und Gemeindeverbänden als Selbstverwaltungsaufgabe. Im Übrigen obliegen Denkmalschutz und Denkmalpflege dem Land, den Gemeinden und Gemeindeverbänden.71 Soweit nicht der Vorhabensträger ohnehin eine archäologische Baubegleitung durchführt, um Risiken im Bauablauf zu begrenzen, hat die öffentliche Hand in Ermangelung anderweitiger gesetzlicher Regelungen auch grundsätzlich etwaige Kosten von Erkundungsmaßnahmen zu tragen. Auch zählen die Kosten der vorherigen wissenschaftlichen Ausgrabung und Bergung eines Bodendenkmals nicht zu den Beseitigungskosten, die der Vorhabensträger als Kosten eines Beseitigungsvorhabens zu tragen hätte.72 b) Nur im Ausnahmefall, nämlich bei Maßnahmen zur Gewinnung von Bodenschätzen, sieht § 19 Abs. 4 DSchG NRW vor, dass der Behörde während der Abbauarbeiten die Gelegenheit zur begleitenden Überprüfung und Untersuchung eingeräumt werden muss. Diese Sondervorschrift ist aber bei Hochspannungsfreileitungen 69

Gesetz zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler im Lande Nordrhein-Westfalen (Denkmalschutzgesetz – DSchG) vom 11. März 1980 (GV. NW S. 226, ber. S. 716). 70 OVG Münster, NJOZ 2012, 1027 (1028). 71 Vgl. § 1 Abs. 2 DSchG NRW. 72 OVG Münster, Urteil vom 20. 09. 2011 – Az. 10 A 1995/09, Leitsatz 2 (zitiert nach Juris).

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nicht anwendbar. Auch verbietet sich mangels Vergleichbarkeit (keine großräumigen Abbauarbeiten) und angesichts ungleicher Interessenlagen eine Analogie, sodass es mithin einer etwaigen denkmalschutzrechtlichen Nebenbestimmung an der Rechtsgrundlage ermangelt. Dies muss umso mehr in den Fällen gelten, in denen die Nebenbestimmung selbst über das in § 19 Abs. 4 DSchG NRW festgesetzte Maß hinausgehen sollen, etwa wenn eine archäologische Begleitung aller bauseits erforderlichen Erdarbeiten bestimmt würde. IV. Eingriffe in das Landschaftsbild73 Höchstspannungsfreileitungen beeinflussen das Landschaftsbild. Der Ausbau des Höchstspannungsfreileitungsnetzes bringt notwendig Eingriffe in das Landschaftsbild mit sich. § 1 Abs. 5 Satz 3 BNatSchG sieht vor, dass Energieleitungen landschaftsgerecht geführt, gestaltet und so gebündelt werden sollen, dass die Zerschneidung und die Inanspruchnahme der Landschaft sowie Beeinträchtigungen des Naturhaushalts vermieden oder so gering wie möglich gehalten werden. 1. Derzeitige Regelung a) Primär ist der Verursacher eines Eingriffs in Natur und Landschaft verpflichtet, vermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft zu unterlassen.74 Dabei ist eine Beeinträchtigung vermeidbar, wenn zumutbare Alternativen den mit dem Eingriff verfolgten Zweck am gleichen Ort ohne oder mit geringeren Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft erreichen. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG ist der Verursacher verpflichtet, unvermeidbare Beeinträchtigungen durch Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege auszugleichen (Ausgleichsmaßnahmen) oder zu ersetzen (Ersatzmaßnahmen). Nach § 15 Abs. 5 BNatSchG kann auch bei fehlendem Ausgleich und Ersatz ein Eingriff zugelassen werden, nämlich dann, wenn die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege bei der Abwägung aller Anforderungen an Natur und Landschaft anderen Belangen im Range nicht vorgehen. Angesichts der gesetzlich festgehaltenen Notwendigkeit des Netzausbaus75 kann im Ergebnis der Schutz des Landschaftsbildes aus Gemeinwohlgründen zurücktreten. Beim Neubau in bestehenden Trassen ist der zusätzliche Landschaftsbildeingriff – gerade in städtischen und gewerblich-industriell geprägten Gegenden – im Übrigen häufig gering. Wird der Eingriff zugelassen, ergibt sich aus § 15 Abs. 6 Satz 1 BNatSchG eine Pflicht zur Ersatzzahlung für Eingriffe in Natur und Landschaft in Geld. Dabei soll sich die Ersatzzahlung nach den durchschnittlichen Kosten der nicht durchführbaren 73 Vgl. zur Überschneidung von Denkmalschutz- und Naturschutzrecht allgemein auch Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 449 ff. 74 § 15 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG. 75 Vgl. etwa § 1 Abs. 2 Sätze 2 und 3 EnLAG.

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Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen einschließlich der erforderlichen durchschnittlichen Kosten für deren Planung und Unterhaltung sowie die Flächenbereitstellung unter Einbeziehung der Personal- und sonstigen Verwaltungskosten bemessen.76 Soweit diese nicht feststellbar sind, soll sich nach Satz 3 die Ersatzzahlung nach Dauer und Schwere des Eingriffs unter Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile bemessen.77 Zur näheren Regelung, insbesondere zur Höhe der Ersatzzahlung, ist dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) in § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG die Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung eingeräumt. Obwohl ein praktisches Bedürfnis danach besteht, die Einzelheiten zur Kompensation von Eingriffen verbindlich zu regeln, hat das BMU bislang keine entsprechende Vorschrift erlassen.78 Ein entsprechender Entwurf liegt aber bereits vor.79 Bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden Verordnung gilt nach § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG das entsprechende Landesrecht, soweit es den Regelungen des BNatSchG nicht widerspricht. b) Die entsprechenden bisherigen landesrechtlichen Regelungen sind zum Teil recht ausdifferenziert, jedoch durchaus unterschiedlich.80 Während in manchen Ländern durchaus konkrete Vorgaben existieren,81 ist in Nordrhein-Westfalen § 5 Abs. 1 LG NRW82 einschlägig. Die Norm enthält zwar Regelungen zur Durchführung und der Verwendung, jedoch keinen konkreten Anhaltspunkt zur Höhe des Ersatzgeldes, sodass wiederum auf § 15 Abs. 6 BNatSchG zu rekurrieren ist. c) Bei der Festsetzung und der Höhe des zu zahlenden Ersatzgeldes stellen sich in der Praxis einige Herausforderungen. aa) Naturschutzrechtliche Ersatzzahlungsverpflichtungen sind nach Auffassung des BVerwG grundsätzlich mit der Finanzverfassung (Art. 104a ff. GG) vereinbar. Naturschutzrechtliche Ausgleichsabgaben seien auf dem Gedanken der Verursacherhaftung beruhende Bestandteile des von Bundes- und Landesgesetzgeber entwickelten Instrumentariums zum Schutze von Natur und Landschaft. Wer – zulässigerweise – in Natur und Landschaft eingreife, sei zum Ausgleich verpflichtet, und zwar in erster Linie durch tatsächliche Schutzmaßnahmen, um den Eingriff ungeschehen zu machen. Zweckdienlich sei aber auch der Ausgleich an anderer Stelle, indem jeden76

§ 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG. BT-Drs. 16/12274, S. 58 sieht die Subsidiarität des Satzes 3 gegenüber Satz 2 vor. 78 Vgl. Lütkes in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, Kommentar, 1. Auflage 2011, § 15 Rn. 81. 79 Siehe dazu unten unter IV. 2. 80 Lütkes in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, Kommentar, 1. Auflage 2011, § 15 Rn. 83. 81 Vgl. etwa §§ 4 Abs.3, 5 Abs. 2 SächsNatSchAVO, § 2 Abs. 4 NatSchRErsZV ST, § 2 AusglV RP. §§ 6 Abs. 1 und Abs. 2, 15 Abs. 6 Satz 3 NAGBNatSchG. 82 Gesetz zur Sicherung des Naturhaushalts und zur Entwicklung der Landschaft (Landschaftsgesetz – LG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juli 2000 (GV. NRW. S. 568) SGV. NRW. 791. 77

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falls dort Werte oder Funktionsfähigkeiten hergestellt oder gesichert würden. Dies zum einen, weil aus naturschutzrechtlicher Sicht eine Privilegierung des nicht real ausgleichbaren Eingriffes auch dann nicht ersichtlich sei, wenn dieser sonst dem Gemeinwohl diene. Zum anderen aber auch, weil durch die Heranziehung des Verursachers auch die Akzeptanz des Eingriffes selbst gesteigert werde.83 In der Sache entspricht das Ersatzgeld der vom BVerwG geprüften Ausgleichsabgabe, so dass grundsätzlich von einer verfassungsrechtlich zulässigen Sonderabgabe auszugehen ist.84 bb) Nach der Rechtsauffassung des OVG Münster müssen Ersatzmaßnahmen nach Art, Umfang und Durchführungsort konkret zwischen den Beteiligten feststehen, um die fiktiven Kosten errechnen zu können.85 Demnach wird eine bloße Festsetzung der Größe von Kompensationsflächen den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht. Denn ohne Kenntnis vom Wesen der Fläche und den zur Wiederherstellung oder -gestaltung erforderlichen Maßnahmen wird man auch im Hinblick auf den damit verbunden finanziellen Aufwand im Ungewissen bleiben. Praktisch ist es schwierig, die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes mithilfe einer mathematischen Bewertung zur Entwicklung eines gewissen Kompensationsbetrages festzustellen.86 Der Wert eines Landschaftsbildes lässt sich nicht objektiv messen, vielmehr sind Vielfalt, Eigenart und vor allem Schönheit Kriterien, die sich erst durch die wertende Betrachtung des Individuums ergeben können. Dementsprechend dürfte der Bedarf für einen Ausgleich erheblicher Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes nicht in einer bloßen Flächenermittlung quantifizierbar sein, sondern letztlich besser in Form der Benennung von konkreten optisch wirksamen Maßnahmen umschrieben werden können.87 cc) Neben dem soeben aufgeworfenen Problem der Flächenermittlung stellt sich praktisch das Problem der rechtmäßigen Kostenberechnung für durchzuführende Maßnahmen. Ausgleich bedeutet nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BNatSchG, dass die Beein83 BVerwG, NVwZ 1989, 867 (868); siehe zur Thematik auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage 2004, § 4 Rn. 55, § 5 Rn. 252 ff., § 5 Rn. 265. 84 Lütkes, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, Kommentar, 1. Auflage 2011, § 15 Rn. 76. 85 OVG Münster, NVwZ-RR 1996, 648 (650). Zwar unterschied sich die Rechtslage nach den vom OVG Münster anzuwendenden Regelungen insofern von den heutigen, als danach das Ersatzgeld nicht im Fall der Unmöglichkeit von Ersatzmaßnahmen, sondern als Alternative zu möglichen Ersatzmaßnahmen bezahlt werden konnte. Da das OVG die Anforderungen an die Konkretisierung aber ausdrücklich auf die – in dieser Hinsicht der heutigen Rechtslage entsprechenden – fiktiven Maßnahmen bezieht, dürfte die Rechtsauffassung auch für das heutige Recht gelten. 86 Vgl. aber das in NRW häufig genutzte Verfahren von Nohl, Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes durch mastenartige Eingriffe, 1993, verfügbar unter http://www.umwelt. nrw.de/naturschutz/pdf/landschaftsbildbewertung_pdf.pdf (zuletzt abgefragt 09. 04. 2013) sowie Paul/Uther/Neuhoff/Winkler-Hartenstein/Schmidtkunz/Großnick, GIS-gestütztes Verfahren zur Bewertung visueller Eingriffe durch Hochspannungsfreileitungen – Herleitung von Kompensationsmaßnahmen für das Landschaftsbild, in: Naturschutz und Landschaftsplanung – Zeitschrift für Angewandte Ökologie, Heft 5/2004. 87 So OVG Münster, NVwZ-RR 2004, 643 (646).

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trächtigungen wieder beseitigt und Natur und Landschaft wieder hergestellt werden. Beim Bau von Stromleitungen, die für Dekaden an ihrem Standort verweilen werden, ist ein solcher Ausgleich nicht möglich. In Betracht käme also überhaupt nur die Durchführung einer (fiktiven) Ersatzmaßnahme. Ersetzt ist nach § 15 Abs. 2 Satz 3 BNatSchG eine Beeinträchtigung, wenn und sobald die beeinträchtigten Funktionen des Naturhaushalts in dem betroffenen Naturraum in gleichwertiger Weise hergestellt sind und das Landschaftsbild landschaftsgerecht neu gestaltet ist. Es geht hier also nicht um eine gleichartige, sondern (nur) um eine gleichwertige Herstellung. Soweit der Eingriff in Natur und Landschaft beim Bau von Höchstspannungsleitungen durch einen Eingriff in das Landschaftsbild (und z. B. nicht nur temporär durch Aufgrabungen oder Rodungen während der Bauphase) erfolgt, ergibt sich rechtlich die Besonderheit, dass eine Beeinträchtigung des Landschaftsbildes bei jeder denkbaren Maßnahme verbleibt. Im Ergebnis ist daher anzunehmen, dass eine Wiederherstellung des Landschaftsbildes praktisch unmöglich ist.88 dd) Eine weitere Herausforderung stellt die Beantwortung der Frage nach dem Ort der Ersatzvornahme. Häufig versuchen die zuständigen Naturschutzbehörden, diese in ihrem Zuständigkeitsbereich durchführen zu lassen. Bei der Bestimmung des räumlichen Zusammenhangs einer Ersatzmaßnahme ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese nicht an dem Orte des Eingriffs durchgeführt werden muss, sondern nach § 15 Abs. 2 Satz 3 BNatSchG nur „in dem betroffenen Naturraum“89. Solche Naturräume sind regelmäßig weit größer als das administrative Gebiet der jeweiligen Behörde. In der Folge kann die Ersatzmaßnahme auch in einem ganz anderen Kreis oder einer anderen Gemeinde vorgenommen werden. Diese Vorgabe gilt nach dem Gesetzeswortlaut zwar zunächst nur für „echte“ (und nicht fiktive) Maßnahmen. Da jedoch die potentiell „echten“ Ersatzmaßnahmen die Basis für die Berechnung von fiktiven Maßnahmen bilden, gilt diese Vorgabe auch für fiktive Maßnahmen. Eine indirekte Bestätigung findet diese Auffassung darin, dass nach § 15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG die Ersatzzahlung zweckgebunden für Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege möglichst in dem betroffenen Naturraum selbst zu verwenden ist. ee) Als letzte Möglichkeit sieht das Gesetz eine Berechnung des Ersatzgeldes nach § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG anhand von Dauer und Schwere des Eingriffs unter Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile vor. Was dies bei Höchstspannungsleitungen bedeuten soll, ist dem Gesetz nicht wirklich zu entnehmen. Klärungsbedürftig erscheint insofern, ob diese Regelung ohne nähere Konkretisierung überhaupt den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. (1) Zwar wird durch den allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen, Generalklauseln und Ermessensermächtigungen 88

Lütkes, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, Kommentar, 1. Auflage 2011, § 15 Rn. 76. Laut BT-Drs. 16/12274, S.57 orientiert sich der Begriff „Naturraum“ an der Gliederung des Bundesgebietes in 69 naturräumliche Haupteinheiten nach der Klassifizierung in Ssymank, Neue Anforderungen im europäischen Naturschutz, 1994, S. 395 ff. 89

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nicht ausgeschlossen,90 es muss aber stets sichergestellt bleiben, dass staatliches Handeln messbar und in gewissem Ausmaße für den Bürger voraussehbar und berechenbar ist,91 sowie der gerichtlichen Kontrolle zugänglich bleibt.92 Für das Gebühren- und Beitragsrecht hat das BVerwG insoweit festgestellt, dass das Bestimmtheitsgebot allein die dem jeweiligen Sachzusammenhang angemessene Regelungsdichte erfordere und ein Verstoß in der Regel nur dann anzunehmen sei, wenn seitens der Verwaltung eine willkürliche Handhabung eröffnet werde.93 Aufgrund fehlender inhaltlicher Konkretisierung des § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG durch das Recht des Landes Nordrhein-Westfalen ist für den Betroffenen eine Vorausberechnung der Ersatzgeldzahlungen nach aktuell geltendem Recht in NRW unmöglich. Insofern spricht viel für einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot. (2) Um dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen zu können, muss die in § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG postulierte Ersatzgeldregelung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.94 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung setzt eine Abwägung zwischen eingeschränktem Grundrecht einerseits und Schutzgut andererseits voraus. Das hat zur Konsequenz, dass nach den Umständen des Einzelfalles die Freiheitsbeeinträchtigung nach Art und Intensität des Eingriffes zu dem Rechtsgut, dessen Schutz bezweckt wird, außer Verhältnis stehen kann.95 Vorliegend enthält die Regelung in § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG keinerlei näher definierte wirtschaftliche Grenzen. Insbesondere gibt es auch für die „Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile“ keine Grenze. Insofern ist völlig unklar, wie genau die „Berücksichtigung“ erfolgen soll. Was genau sollen die maßgeblichen Vorteile des Verursachers sein? Er baut unter anderem aufgrund gesetzlicher Vorgabe die Leitungen, um den von Dritten erzeugten erneuerbaren Strom abzuleiten, um europaweiten Stromhandel Dritter zu ermöglichen, und um die Versorgungssicherheit herzustellen. Die fehlende Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung führt hier dazu, dass sich jedenfalls aus dem Gesetz nicht sicher bestimmen lässt, ob eine konkrete Ersatzgeldzahlung auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

90 BVerfG, NJW 1959, 475 (475 f.); dass., NJW 1974, 1499 (1500); Grzeszick in: Maunz/ Dürig, GG-Kommentar, 66. EL 2012, Art. 20 Rn. 59; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, Staatsorganisationsrecht, 2011, § 10 Rn. 144. 91 BVerfG, NJW 1974, 1499 (1500); Grzeszick in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 66. EL 2012, Art. 20 Rn. 58; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, Staatsorganisationsrecht, 2011, § 10 Rn. 142. 92 BVerfG, NJW 2004, 2213 (2219 f.); Grzeszick in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 66. EL 2012, Art. 20 Rn. 58; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, Staatsorganisationsrecht, 2011, § 10 Rn. 147. 93 BVerwG, NVwZ 1998, 408 (409). 94 BVerfG, NJW 1989, 2525 (2527). 95 BVerfG, NJW 1979, 1345; Grzeszick in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 66. EL 2012, Art. 20 Rn. 117, 123; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, Staatsorganisationsrecht, 2011, § 10 Rn. 213 ff.

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ff) Wenn man entgegen dem soeben Gesagten davon ausgeht, dass § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit genügt, so stellt sich nach wie vor die Frage, wie die „Schwere des Eingriffs“ ermittelt werden soll, zumal hierzu bisher keine allgemein akzeptierte Berechnungsmethode existiert. Entsprechendes gilt für die Ermittlung dessen, was genau unter einem Vorteil i.S.d. § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG zu verstehen ist. 2. Verordnungsentwurf Das BMU beabsichtigt nunmehr, von seiner Rechtsverordnungsermächtigung Gebrauch zu machen. Erklärtes Ziel der Kompensationsverordnung (BKompV)96 ist es, die Anwendung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung insgesamt transparenter und effektiver zu gestalten. Sie soll die entsprechenden gesetzlichen Anforderungen weiter konkretisieren und bundesweit standardisieren. Das BMU hat erkannt, dass die Heterogenität der bisherigen Regelungen nicht nur Planung und Durchführung von Vorhaben, die administrative Grenzen überschreiten, für alle Beteiligten erschwert, sondern auch direkten Einfluss auf etwaige Investitionsentscheidungen hat.97 Unbeachtet sonstiger Novellierungen wird sich hinsichtlich der soeben aufgeworfenen Problematik bald voraussichtlich einiges ändern. a) In § 2 BKompV werden die allgemeinen Anforderungen an den Ausgleich nach dem neu eingeführten Biotopwertverfahren geregelt. § 4 BKompV enthält Regelungen zur Grundbewertung des Schutzguts Biotope. b) In § 12 Abs. 1 Satz 3 BKompV wird eine Regelvermutung dahingehend aufgestellt, dass Eingriffe in das Landschaftsbild durch Mast- oder Turmbauten oberhalb von 20 Metern über der Oberfläche nicht ausgleichbar oder ersetzbar sind, sodass allein eine Ersatzzahlung in Betracht kommt. Ausnahmsweise kann aber eine Realmaßnahme in Betracht kommen, wenn vergleichbare Anlagen rückgebaut werden. § 12 Abs. 2 BKompV enthält schließlich eine Begründungspflicht für den Verursacher des Eingriffs für die Nichtausgleichbarkeit oder Nichtersetzbarkeit von Beeinträchtigungen des Naturhaushaltes oder des Landschaftsbildes, wobei sich die Begründung für Mast- und Turmbauten oberhalb von 20 Metern Bauhöhe aus § 12 Abs. 1 Satz 3 BKompV ergibt. c) In § 13 soll nun die Regelung zur Höhe der Ersatzzahlung erfolgen. Dabei knüpft Absatz 1 an § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG an, wonach sich die Höhe der Ersatzzahlung nach den durchschnittlichen Kosten der nicht durchführbaren Aus96 Entwurf der Verordnung über die Kompensation von Eingriffen in Natur und Landschaft (Bundeskompensationsverordnung – BKompV) BR-Drs. 332/13. Der Vorentwurf vom 5. November 2012, N I 5 – 70302/1 weicht von diesem Entwurf an vielen Stellen erheblich ab, (Fundstelle [zuletzt abgerufen am 22. März 2013]: http://www.bmu.de/service/publikationen/ downloads/details/artikel/entwurf-verordnung-ueber-die-kompensation-von-eingriffen-in-naturund-landschaft-bundeskompensationsverordnung-bkompv/). 97 Begründung der BKompV, BR-Drs. 332/13, S. 6 f.

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gleichs- oder Ersatzmaßnahmen richtet. Einzubeziehen sind hier die Kosten für die bereitzustellenden Flächen.98 Die Grundlage dafür bilden nach § 13 Abs. 1 BKompV die Bodenrichtwerte, die nach § 196 Abs. 1 Satz 1 BauGB flächendeckend zu ermitteln sind und die die durchschnittlichen Lagewerte für den Boden unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Entwicklungszustands aufzeigen sollen. Nach § 196 Abs. 1 Satz 3 BauGB sind Richtwertzonen zu bilden. d) Für den Fall der Nichtfeststellbarkeit der Kosten der nicht durchführbaren Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen sieht § 13 Abs. 2 BKompV ein pauschaliertes System von Ersatzgeldzahlungen vor. aa) Das System berücksichtigt zum einen die Wertstufe der nach § 5 BKompV bewerteten und durch das Vorhaben betroffenen Schutzgüter (sehr gering, gering, mittel, hoch, sehr hoch, hervorragend). Zum anderen werden entsprechend dem Vorhabenstyp (Mast- und Turmbauten, Gebäude, Abgrabungen, Aufschüttung) auf Basis unterschiedlicher Bemessungsgrundlagen (Meter Anlagenhöhe, Kubikmeter umbauter Raum, in Anspruch genommene Fläche oder Kubikmeter aufgeschütteten Materials) bestimmte Zahlungen fällig. Sind unterschiedliche Wertstufen betroffen, ist ein gemittelter Betrag anzusetzen (§ 13 Satz 2 BKomV). Durch diese Maßsta¨ be sollen unmittelbar die in § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG vorgegebenen Kriterien der Beeintra¨ chtigungsintensita¨ t abgebildet werden. Entsprechendes gelte mittelbar fu¨ r das Kriterium des Vorteils fu¨ r den Verursacher, weil die Maßsta¨ be einen Anhalt fu¨ r die Ho¨ he der Investitionskosten und damit auch fu¨ r den zu erwartenden wirtschaftlichen Nutzen gäben.99 bb) Bei der Landschaftsbildbewertung war bislang die Frage, welche Bereiche wie zur Bewertung heranzuziehen sind, nicht einfach. § 13 Abs. 3 Satz 1 BKompV soll hier für die Ermittlung der maßgeblichen Wertstufe Klarheit bringen. Zur Landschaftsbildermittlung soll ein Umkreis um die Anlage maßgeblich sein, dessen Radius das Fünfzehnfache der Anlagenhöhe beträgt. cc) Für Freileitungsmasten soll entsprechend der ermittelten Wertstufe des betroffenen Landschaftsbildes ein bestimmter Betrag je Meter Anlagenhöhe gezahlt werden. Die Zahlungspflicht soll bei Wertstufe 2 (geringe Beeinträchtigung) mit EUR 100 je Meter Anlagenhöhe beginnen und sich über EUR 200, 300 und 500 auf EUR 800 für Wertstufe 6 (hervorragende Beeinträchtigung) steigern (§ 13 Satz 1 Nr. 1 BKompV). dd) Die BKompV soll künftig auch dem Umstand Rechnung tragen, dass neue Freileitungen einerseits mehrere Masten in Sichtweite umfassen und zudem häufig in bestehenden Trassen gebaut werden. Nach § 13 Abs. 3 Satz 2 BKompV soll sich die errechnete Ersatzzahlung um 7 % reduzieren, wenn das Vorhaben zwei oder mehr Mast- oder Turmbauten umfasst oder im Zusammenhang mit bereits bestehenden Mast- oder Turmbauten errichtet wird. Nach § 13 Abs. 3 Satz 3 BKompV erhöht 98 99

Begründung BKompV, S. 11. BR-Drs. 332/13, S. 114.

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sich die Ersatzzahlung bei Freileitungen schließlich um 10 %, da zwischen den Mastbauten die Landschaft durch Leitungen überspannt wird. ee) Die Entwurfsbegründung geht noch auf Sonderfragen des Netzausbaus ein. Wenn eine bloße Zubeseilung auf schon vorhandenen Masten erfolgt, sei bereits das Vorliegen des Eingriffstatbestandes fraglich, da es an einer Vera¨ nderung der Gestalt oder Nutzung der Grundfla¨ che, wie sie § 14 Absatz 1 BNatSchG voraussetzt, fehlen du¨ rfte. Entsprechendes soll in der Regel fu¨ r reine Masterho¨ hungen gelten. Bei Masterho¨ hungen, bei denen eine Fundamentversta¨ rkung notwendig ist, sowie bei Ersatzbauten soll schließlich fu¨ r die Bewertung der Beeintra¨ chtigungsintensitagt lediglich die Erho¨ hung gegenu¨ ber dem Ausgangszustand relevant sein.100 e) Im Rahmen der entsprechenden Planfeststellungsverfahren ist auch die Übergangsregelung des § 15 Abs. 1 Nr. 1 BKompV zu beachten, wonach die BKompVauf Eingriffe solcher Verfahren keine Anwendung findet, die vor dem ersten Tag des siebten auf das Inkrafttreten der Verordnung folgenden Kalendermonats bei einer Behörde beantragt oder angezeigt worden sind bzw. bei Behördenvorhaben mit deren Vornahme vor dem Tage des Inkrafttretens begonnen worden ist. § 15 Abs. 2 BKompV soll ein Wahlrecht für den Verursacher enthalten, die Verordnung auch vor diesen Terminen anzuwenden. V. Erdkabel Die Diskussion um elektromagnetische Felder, Geräuschimmissionen, Denkmalschutz und Landschaftsbildeingriffe beim Bau von Höchstspannungsleitungen führen regelmäßig zur Frage, ob nicht die Erdverkabelung alle Probleme löst. 1. Erdkabel zur Lösung aller Probleme? Erdkabel lösen nicht alle potentiellen Umweltschutzfragen. Elektromagnetische Felder gibt es auch bei vergrabenen Kabeln. Bei Geräuschimmissionen entfallen zwar die Geräusche durch die Kabel, aber die Stationen zwischen Freileitungen und Erdkabeln können Geräusche emittieren. Beim Denkmalschutz hängt alles davon ab, welcher Art die betroffenen Denkmale sind. Die bei Erdkabeln erforderlichen umfangreichen Erdarbeiten betreffen Denkmale im Boden in wesentlich größerem Umfang als die punktuellen Erdveränderungen beim Mastbau. Landschaftsbildeingriffe im eigentlichen Leitungsbereich sind bei Erdkabeln anders als bei Freileitungen. Es entfallen Masten und Kabel, aber ein Erdkabel mit vier Systemen benötigt eine Trasse von ca. 50 m Breite, in denen vorhandener Wald auch nach Abschluss der Arbeiten nicht mehr wachsen darf. Auch sonst ist im Trassenbereich bei Erdkabeln nur eingeschränkt Vegetation zulässig.101 Beim Erdkabelbau stellen 100

BR-Drs. 332/13, S. 114. Einzelheiten werden im Rahmen der EnLAG-Pilotstrecken gerade erarbeitet, vgl. 50hertz, Freileitung oder Erdkabel, verfügbar unter http://www.50hertz.com/de/file/Erdka bel-Freileitung.pdf (zuletzt abgefragt 08. 04. 2013). 101

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sich aber wegen der erheblichen Erdarbeiten zusätzliche Herausforderungen im Bereich Wasser- und Bodenschutz. Auch kann die Umweltbeeinflussung beim Bau einer Freileitung im Ergebnis niedriger sein, wenn eine neue Trasse direkt neben einer bereits bestehenden Leitung errichtet wird (Bündelungseffekt).102 Im Ergebnis ist daher durchaus fraglich, ob Erdkabel wirklich durchweg, in der Regel oder zumindest per Saldo umweltverträglicher sind.103 Weitere Erkenntnisse hierzu werden sicher die laufenden EnLAG-Pilotprojekte bringen.104 2. Subjektives Recht auf Erdkabel Praktisch relevant ist überdies die Frage, ob ein subjektiver oder klagbarer Anspruch auf Verlegung eins Erdkabels bei aktueller Rechtslage bestehen kann. a) Im Rahmen der Beratungen zum Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz wurde es abgelehnt, Erdkabeln einen grundsätzlichen Vorrang einzuräumen. Dies gilt auch für Leitungen, die in der Nähe von bebauten Gebieten oder besonders schützenswerten Landschaftsteilen verlegt werden.105 De lege lata besteht gem. § 43 h EnWG allein für Leitungen mit einer Nennspannung von höchstens 110 Kilovolt die Verpflichtung, diese als Erdkabel auszuführen. b) Da es im Hochspannungsbereich also keinen gesetzlichen Anknüpfungspunkt für eine Verpflichtung zur Verlegung von Erdkabeln gibt, muss im Einzelfall geprüft werden, ob es Alternativen zur Freileitung gibt, auf die jemand einen subjektiven Anspruch hat. c) Grundsätzlich wird die Alternativenprüfung durch das fachplanungsrechtliche Abwägungsgebot gesteuert. Nicht ausgeschlossen ist dabei, dass der Gesetzgeber gestützt auf sachliche Gründe bindende Vorgaben für die Ausgestaltung des Vorhabens macht und so den Spielraum von Planungsträgern und Planfeststellungsbehörden bei der Alternativenwahl einschränkt.106 So regelt § 43 Satz 1 Nr. 1 EnWG die Planfeststellungsbedürftigkeit von Hochspannungsfreileitungen, ausgenommen Bahnstromfernleitungen, mit einer Nennspannung von 110 Kilovolt oder mehr. Daran knüpft § 1 Abs. 1 EnLAG in Verbindung mit dem in der Anlage zum EnLAG niedergelegten Bedarfsplan an: Den darin aufgelisteten Vorhaben nach § 43 Satz 1 EnWG mit einer Nennspannung von 380 Kilovolt oder mehr wird ein vordringlicher Bedarf beschei102 103

Frage.

Siehe hierzu auch Greinacher, ZUR 2011, 305 (309). Greinacher, ZUR 2011, 305 (310) stellt zutreffend die bessere Umweltverträglichkeit in

104 Zur Erdkabeldiskussion im Übrigen s. aus jüngerer Zeit de Witt/Krause, RdE 2012, 328; Henning/Lühann, UPR 2012, 81; Elspaß/Schwoon, NVwZ 2012, 1066, Hermanns/Austermann, NdsVBl 2010, 175; Scheidler, GewArch 2010, 97; Schiller, UPR 2009, 245; Kocken, IR 2008, 26. 105 Stüer in: Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, Planung – Genehmigung – Rechtsschutz, 4. Auflage 2009, Rn. 3474 und die dazu gehörige Fn. 495. 106 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 27.

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nigt. Durch die Bezugnahme auf § 43 Satz 1 EnWG wird verdeutlicht, dass es sich um Freileitungen handelt. Das lässt den Schluss zu, dass die gesetzliche Bedarfsfeststellung sich auf die Ausführung als Freileitung erstreckt und damit das Erdkabel als alternative Ausführungsmöglichkeit ausschließt.107 Dieses Verständnis wird durch § 2 Abs. 1 und 3 EnLAG gestützt, da in § 2 Abs. 1 vier im Bedarfsplan genannte Leitungen aufgelistet werden, die als Erdkabel errichtet und betrieben oder geändert werden können. § 2 Abs. 3 EnLAG erweitert sodann den an sich auf Freileitungen beschränkten Anwendungsbereich des § 43 Satz 1 EnWG auf die in § 2 Abs. 1 EnLAG bezeichneten Erdverkabelungsvorhaben. Daraus ergibt sich wiederum der Schluss, dass nach der gesetzlichen Regelungssystematik der Bau von 380-Kilovolt-Höchstspannungsfreileitungen die Regel, der Bau von 380-Kilovolt-Höchstpannungserdkabeln stattdessen die auf die gesetzlich geregelten Vorhaben beschränkte Ausnahme bilden soll. Schon aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 EnLAG ergibt sich zudem, dass bei den besagten vier Vorhaben der Einsatz von Erdkabeln auf der Höchstspannungsebene im Übertragungsnetz als Pilotvorhaben getestet werden soll. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers bedarf es also noch der Erprobung der Höchstspannungserdverkabelungstechnologie in der Praxis, ehe es zu einer flächendeckenden Einführung kommen kann. Dieses Verständnis lässt sich auch gut mit der in §§ 1 Abs. 1, 11 Abs. 1 EnWG zum Ausdruck gebrachten, allgemeinen Zielsetzung vereinbaren, wonach das Energieleitungsnetz sicher, zuverlässig und leistungsfähig ausgestaltet werden soll.108 Schließlich lässt sich auch den Gesetzesmaterialien nichts anderes entnehmen, denn dort heißt es, dass „eine abschließende Regelung hinsichtlich der Einsatzmöglichkeit von Erdkabeln auf der Höchstspannungsebene“109 getroffen worden sei. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass über die besagte Regelung hinaus im Wege einer planerischen Abwägung bei EnLAG-Projekten kein Raum für eine Erdverkabelung gegeben sein soll.110 d) Im Ergebnis bedeutet dies, dass derzeit jedenfalls außerhalb der EnLAG-Pilotstrecken kein Anspruch Dritter auf Höchstspannungserdverkabelung existiert.111 VI. Klagebefugnis Von praktischer Relevanz ist schließlich, inwieweit Umweltschutzverbände und betroffene Kommunen klagebefugt sein können.

107

BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 30. BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 29. 109 BT-Drs. 17/4559 S. 6. 110 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 30. 111 Vgl. aber Elspaß/Schwoon, NVwZ 2012, 1066 (1067).

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1. Klagerecht von Verbänden a) Das deutsche Verwaltungsrecht bietet zunächst und grundsätzlich Individualrechtsschutz. Dies ergibt sich aus § 42 Abs. 2 VwGO112, wonach der Kläger für die Zulässigkeit der Klage geltend machen muss, in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein.113 Dies kann insbesondere im naturschutzrechtlichen Bereich problematisch sein, weil nicht alle Umweltgüter einem bestimmten Rechtsträger zugeordnet werden können.114 b) Mit der Richtlinie 2003/35/EG (2003/35/EG-RL)115 wurde das Århus-Übereinkommen116 umgesetzt, aus dem auf nationaler Ebene wiederum unter anderem das UmwRG117 entstand. Zwar konnten fortan inländische und ausländische Umweltverbände Rechtsbehelfe auch dann verfolgen, wenn sie nicht selbst Betroffene waren. Allerdings folgte das UmwRG der Schutznormtheorie des deutschen Verwaltungsrechts und verlangte eine Verletzung von Vorschriften, die zumindest auch den Schutz individueller Rechte bezweckten.118 Somit blieb die Klagebefugnis auf Individualrechtsschutz beschränkt. c) Dieser so genannten »Schutznormakzessorietät« attestierte der EuGH mit seinem Urteil vom 12. Mai 2011 die Unionsrechtswidrigkeit. Art. 10a UVP-RL sehe vor, dass es Umweltverbänden möglich sein müsse, Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen zum Gegenstand eines gerichtlichen Überprüfungsverfahrens zu machen, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen.119 Lege man die Norm teleologisch aus, müsse Umweltverbänden ein Recht auf Zugang zu einem gerichtlichen Überprüfungsverfahren gewährt werden. Dies gelte unabhängig davon, welches Zulassungskriterium der Mitglieds112

Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juli 2012 (BGBl. I S. 1577). 113 Vgl. zur Rechtsschutzstellung Dritter auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage 2004, § 14 Rn. 356 ff. 114 Vgl. Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 473; dezidiert und wie immer lesenswert ders. in: Krämer (ed.), Recht und Um-Welt, Essays in Honour of Prof. Dr. Gerd Winter, 2003, S. 53 ff. 115 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten. 116 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25. Juni 1998 (ABl. 2005 Nr. L 124 S. 4), (BGBl. 2006 II S. 1251), Celex-Nr. 2 2005 A 0517 (01). 117 Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz – UmwRG) vom 7. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2816). 118 Zutreffend Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 477 (mit Verweis auf Koch, NVwZ 2007, 369). 119 EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011 – C–115/09, Rn. 37.

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staat gewählt habe.120 Das bedeute, dass den Mitgliedsstaaten zwar das „Wie“ der Regelung offen stehe, dies aber nicht dazu führen dürfe, dass die Ausübung der durch Unionsrecht verliehenen Rechte unmöglich gemacht werde.121 Konsequenterweise widerspräche es zum einem dem Regelungssinn – nämlich der betroffenen Öffentlichkeit einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren – und zum anderen dem Effektivitätsgrundsatz, wenn Umweltverbände nur deshalb keine Rechtsverletzung geltend machen können, weil die verletzten Vorschriften Allgemeininteressen schützten. Der Begriff der Rechtsverletzung könne also nicht an Voraussetzungen geknüpft werden, die nur bestimmte natürliche oder juristische Personen erfüllen könnten.122 Als Konsequenz ergibt sich, dass aufgrund des Unionsrechtes das Verbandsklagerecht nicht auf subjektive Rechtsverletzungen beschränkt ist.123 Mittlerweile wurde der betreffende § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG geändert,124 sodass nunmehr von einer Unionsrechtskonformität ausgegangen werden kann. d) Bezogen auf Planfeststellungsverfahren für Hoch- und Höchstspannungsfreileitungen bedeutet dies, dass nicht nur Anlieger klagebefugt sein können, sondern auch Umweltverbände, die etwa Eingriffe in Habitate oder Naturschutzgebiete geltend machen wollen.125 Bisweilen wird vorgebracht, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung die frühzeitige Einhaltung des Rechts gewährleiste und dass eine Klageflut deshalb nicht zu befürchten sei, weil Umweltverbände nur in aussichtsreichen Fällen vor Gericht zögen.126 Dem wäre so, wenn die Konsequenz des EuGH-Urteils allein darin bestünde, Umweltverbände (verstärkt) im Anhörungsverfahren nach § 73 VwVfG127 einzubinden. Planfeststellungsbeschlüsse können nun aber auch durch die Verbände angefochten oder die Planfeststellungsbehörden durch sie zu Nebenbestimmungen verpflichtet werden. Abzuwarten bleibt, ob die Stärkung der Umweltverbände mit einer Verzögerung oder Verhinderung des gesetzlich gewollten und ökonomisch wie gesellschaftlich benötigten Netzausbaus einhergehen wird. 2. Klagerecht von Kommunen In seiner jüngsten Rechtsprechung hat sich das BVerwG mit dem Klagerecht von Kommunen gegen Planfeststellungsbeschlüsse befasst. 120

EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011 – C–115/09, Rn. 41 f. EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011 – C–115/09, Rn. 43 f. 122 EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011 – C–115/09, Rn. 46 f. 123 Kloepfer, Denkmalschutz und Umweltschutz, 2012, Rn. 485. 124 Art. 1 Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften vom 21. Januar 2013 (BGBl. I S. 95). 125 Köck/Salzborn, ZUR 2012, 203 (206) würdigen die altruistische Verbandsklage als Ausprägung des Demokratieprinzips und sehen in der Öffentlichkeitsbeteiligung ein demokratisches Kontrollinstitut. 126 Schwerdtfeger, EuR 2012, 80 (89). 127 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102). 121

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a) Das BVerwG hat zuletzt in seiner Entscheidung vom 28. Februar 2013 festgestellt, dass eine Gemeinde bei einer Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss dann antragsbefugt ist, wenn sie als Eigentümerin betroffener Grundstücke auftritt.128 Zwar stehe einer Gemeinde angesichts des personalen Schutzzwecks der Grundrechte das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zu.129 Gleichwohl sei sie nicht daran gehindert, Belastungen abzuwehren, die ihre Rechtsposition als Eigentümer im zivilrechtlichen Sinne betreffen.130 Bezogen auf den Bau von Freileitungen bedeutet dies, dass Kommunen als Eigentümer von Grundstücken, auf denen Masten errichtet oder die von den Schutzstreifen erfasst werden, antragsbefugt sind. Unklar ist bei der Argumentation des BVerwG angesichts des Abstellens auf die zivilrechtliche Eigentümerstellung allerdings, worin genau der öffentlich-rechtliche Charakter der wehrfähigen Rechtsposition besteht. b) Ein weiterer Aspekt dieses Beschlusses betraf die Präklusionsregelung des § 43b Nr. 1 Satz 2 EnWG. Das BVerwG führt dazu aus, dass die allen durch ein planfestzustellendes Verfahren Betroffenen auferlegte Mitwirkungslast des § 43b Nr. 1 Satz 2 EnWG uneingeschränkt auch für die Gebietskörperschaften gelte, die im Planfeststellungsverfahren als Verwaltungsträger der Behörde zur Stellungnahme aufgefordert worden sei. Bei der Betroffenenanhörung nach § 73 Abs. 4 VwVfG mit der Präklusionsmöglichkeit nach § 43b Nr. 1 Satz 2 EnWG und der Behördenanhörung nach § 73 Abs. 2 VwVfG mit der Präklusionsmöglichkeit nach § 43b Nr. 1 Satz 5 i.V.m. § 43a Nr. 7 Satz 4 EnWG handele es sich um gesonderte Verfahrensschritte. Soweit ein Träger öffentlicher Belange durch das Verfahren in eigenen Rechten betroffen sei und sich die Möglichkeit des Klageweges offen halten wolle, müsse er deswegen im Rahmen der Betroffenenbeteiligung frist- und formgerecht Einwendungen erheben. Dabei müssten allerdings die Einwendungen im Rahmen der Betroffenenanhörung und Äußerungen im Rahmen der Behördenanhörung nicht notwendigerweise in getrennten Schriftstücken erfolgen.131 Präkludiert sei die Gemeinde allerdings mit Einwendungen, die Belange betreffen, die sie im Anhörungsverfahren gänzlich unerwähnt gelassen habe und erstmals im gerichtlichen Verfahren dem Planvorhaben entgegen halte.132 c) Schließlich äußerte sich das BVerwG zur Verletzung von Rechten der Kommune nach Art. 28 Abs. 2 GG.133 Danach werde eine Gemeinde durch eine überörtliche Fachplanung in ihrer aus der Selbstverwaltungshoheit ausfließenden Planungshoheit nur dann verletzt, wenn die Fachplanung konkrete gemeindliche Planungen nachhal128

BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 7. BVerfG, NJW 1982, 2173 (2173 ff.); BVerwG, NVwZ 1995, 905; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. II, Grundrechte, 2010, § 49 Rn. 56. 130 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 7; dass., NVwZ 1995, 905. 131 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 12. 132 BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 13. 133 Detailliert zur kommunalen Selbstverwaltung Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, 2011, § 9 Rn. 276 ff. 129

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tig störe oder aufgrund der Großräumigkeit wesentliche Areale des Gemeindegebietes der durchsetzbaren, gemeindlichen Planung entziehe. Dabei müsse die Planfeststellungsbehörde bei ihrer Abwägungsentscheidung auch auf noch nicht verfestigte, aber konkrete und hinreichend substantiierte Planungsabsichten einer Gemeinde derart Rücksicht nehmen, dass diese Planungsmöglichkeiten durch die Fachplanung nicht effektiv verhindert würden.134 Dies ist beim Neubau von Freileitung in bestehenden Trassen aber regelmäßig nicht der Fall.

134

BVerwG, Beschluss vom 28. 02. 2013 – Az. BVerwG 7 VR 13.12, Rn. 23.

Zivilrechtlicher Immissionsschutz für Grundpfandrechte Von Peter Marburger I. Grundpfandrechte Mit dem Sammelbegriff „Grundpfandrechte“ erfasst man die Hypothek (§§ 1113 ff. BGB), die Grundschuld (§§ 1191 ff. BGB) und die Rentenschuld (§§ 1199 ff. BGB). Das BGB behandelt die Hypothek als Grundtypus ausführlich (§§ 1113 – 1190), misst ihr also besondere Bedeutung bei, während es die Grundschuld und die Rentenschuld nur mit wenigen Bestimmungen bedenkt und im Übrigen die Vorschriften über die Hypothek für entsprechend anwendbar erklärt (§§ 1192, 1200). In der Praxis der Kreditsicherung dominiert freilich eindeutig die Grundschuld. Zumal die Kreditinstitute lassen sich bei der Immobilienfinanzierung regelmäßig Grundschulden als Sicherheiten bestellen. Deren Vorzug wird darin gesehen, dass sie – im Gegensatz zur Hypothek (§§ 1113, 1143, 1153 BGB) – nicht von einer gesicherten Forderung abhängig ist (Akzessorietät), so dass ihre Entstehung, ihr Fortbestand und ihr Umfang durch das Schicksal der Forderung nicht unmittelbar beeinflusst werden1. Schon die bisherigen Bemerkungen offenbaren, dass der Titel dieses Beitrags plakativ verkürzt ist. Als Rechte, die nicht in der Welt der realen Dinge, nicht als „körperliche Gegenstände“ (§ 90 BGB), existieren, können Grundpfandrechte durch Immissionen im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB, also zum Beispiel durch Gase, Rauch oder Geräusche, unmittelbar gar nicht beeinträchtigt werden. Vielmehr geht es um störende Einwirkungen auf das mit einer Hypothek oder Grundschuld belastete Grundstück, die zu einer Verschlechterung des Grundstücks führen, welche die „Sicherheit der Hypothek gefährdet“ (§ 1133 S. 1 BGB) bzw. „eine die Sicherheit der Hypothek gefährdende Verschlechterung des Grundstücks“ besorgen lässt (§ 1134 Abs. 1 BGB). Die damit angeschnittenen Probleme sollen im Folgenden, speziell mit Blick auf Immissionen, näher beleuchtet werden. Sie haben ihre gesetzliche Grundlage in den §§ 1133 bis 1135 BGB, die auf die Grundschuld entsprechend anwendbar sind (§ 1192 Abs. 1 BGB).

1 Allerdings können Bereicherungsansprüche (§ 812 Abs. 1 BGB) auf Rückübertragung oder Löschung des Grundpfandrechts entstehen.

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II. Die gesetzliche Regelung zum Schutz der Hypothek Nach § 1134 Abs. 1 BGB kann der Hypothekar auf Unterlassung klagen, wenn der Eigentümer oder ein Dritter derart auf das Grundstück einwirkt, „dass eine die Sicherheit der Hypothek gefährdende Verschlechterung des Grundstücks zu besorgen ist“. Geht die Einwirkung vom Eigentümer aus, muss das Gericht auf Antrag des Gläubigers die zur Gefahrabwendung erforderlichen Maßregeln anordnen (§ 1134 Abs. 2 S. 1 BGB). Das gilt auch, wenn die Verschlechterung zu besorgen ist, weil der Eigentümer die notwendigen Vorkehrungen gegen Einwirkungen Dritter oder gegen andere Beschädigungen unterlässt (§ 1134 Abs. 2 S. 2 BGB). Ist die Sicherheit der Hypothek infolge einer Verschlechterung des Grundstücks bereits gefährdet, so kann der Gläubiger dem Eigentümer eine angemessene Frist zur Beseitigung der Gefährdung setzen (§ 1133 S. 1 BGB). Nach deren Ablauf kann er sofort Befriedigung aus dem Grundstück verlangen, es sei denn, die Gefährdung ist durch Verbesserung des Grundstücks oder durch anderweitige Hypothekenbestellung aufgehoben worden (§ 1133 S. 2, 3 BGB). Nach § 1135 BGB stehen dem Gläubiger die Rechte aus den §§ 1133, 1134 BGB auch dann zu, wenn Zubehörstücke, auf die sich die Hypothek erstreckt (§ 1120 BGB), verschlechtert oder wirtschaftswidrig von dem Grundstück entfernt werden. III. Voraussetzungen der Rechte des Gläubigers 1. Verschlechterung des Grundstücks Sowohl § 1133 als auch § 1134 BGB setzen eine Verschlechterung des Grundstücks voraus. Darunter versteht man „eine den Verkehrswert mindernde Veränderung des Zustandes von Grund und Boden und seiner Bestandteile“2. Die durch normale Alterung bei ordnungsgemäßer Bewirtschaftung eintretende Wertminderung eines Gebäudes fällt nicht darunter, weil sie vorhersehbar ist, der Gläubiger also von vornherein damit rechnen musste. Dasselbe gilt für allgemeine wirtschaftliche Veränderungen, weil sie nicht (nur) das konkrete belastete Grundstück betreffen3. Die Verschlechterung muss bei § 1133 BGB bereits eingetreten sein. Dagegen genügt bei § 1134 BGB, dass eine die Sicherheit der Hypothek gefährdende Verschlechterung des Grundstücks „zu besorgen ist“. Sie braucht nicht durch menschliches Verhalten, zum Beispiel – wie in § 1134 BGB vorausgesetzt – durch Einwir-

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Staudinger/Wolfsteiner, BGB (2009), § 1133 Rn. 6 m. w. Nachw.; vgl. auch MünchKomm./Eickmann, BGB, 5. Aufl. 2009, § 1133 Rn. 3. 3 Planck/Strecker, BGB, 5. Aufl. 1938, § 1133 Anm. 1a; Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 7, 8 m. w. Nachw.

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kungen des Eigentümers oder eines Dritten, verursacht zu sein. Es genügt eine objektive Verschlechterung, etwa durch Naturereignisse4. Schadstoffeinträge, Lärm, üble Gerüche oder ähnliche Immissionen im Sinne des § 906 BGB können die Vermietbarkeit eines Hauses beeinträchtigen, sinkende Mieteinnahmen zur Folge haben und deshalb eine Verschlechterung gemäß §§ 1133, 1134 BGB verursachen, sofern sie nach der Beleihung des Grundstücks (Eintragung der Hypothek)5 aufgetreten sind und für den Gläubiger nicht vorhersehbar waren. 2. Gefährdung der Sicherheit der Hypothek Sowohl § 1133 als auch § 1134 BGB setzen voraus, dass die „Sicherheit der Hypothek“ infolge der Verschlechterung gefährdet wird. Das ist der Fall, wenn die Befriedigungsaussichten des Gläubigers im Wege der Zwangsvollstreckung (§ 1147 BGB) sich deutlich verringert haben und ihm somit ein (teilweiser) Ausfall droht. Im einzelnen hängt die Prognose von den Umständen des jeweiligen Falles ab, etwa vom Rang der Hypothek oder von der Höhe der Beleihung im Verhältnis zum ursprünglichen Grundstückswert6. 3. Weitere Voraussetzungen a) § 1133 BGB: Fristablauf Nach § 1133 BGB kann der Gläubiger dem Eigentümer im Falle einer durch Verschlechterung des Grundstücks eingetretenen Gefährdung der Hypothek eine angemessene Frist zur Beseitigung der Gefährdung bestimmen. Nach fruchtlosem Ablauf der Frist kann der Gläubiger sofort die Zwangsvollstreckung in das Grundstück betreiben (§§ 1133 S. 2, 1147 BGB). b) § 1134 Abs. 1 BGB: Einwirkung Im Gegensatz zu § 1133 BGB, wo eine objektive Verschlechterung genügt, setzt § 1134 BGB menschliches Verhalten voraus. Die Verschlechterung des Grundstücks muss durch eine „Einwirkung“ des Eigentümers oder eines Dritten verursacht worden sein. Darunter ist jedes aktive Tun zu verstehen, das die aus dem Grundstück und seinen Bestandteilen gebildete Haftungssubstanz7 nachhaltig verändert. Als Beispie4 Allg. Ansicht, vgl. Erman/Wenzel, BGB, 13. Aufl. 2011, § 1133 Rn. 3; MünchKomm./ Eickmann (Fn. 2), § 1133 Rn. 4; Planck/Strecker (Fn. 3), § 1133 Anm. 1c; Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 6, jeweils m. w. Nachw. 5 Planck/Strecker (Fn. 3), § 1133 Anm. 1b; Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 14. 6 Näher Görsch, Beschränkte dingliche Rechte und Immissionsschutz, Diss. iur. Trier, 2012, S. 129 f.; MünchKomm./Eickmann (Fn. 2), § 1133 Rn. 9; Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 11 ff., jeweils m. w. Nachw. 7 Zur Verschlechterung des Zubehörs siehe § 1135 BGB.

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le werden etwa der Abbruch von Gebäuden, das Abholzen eines Waldes oder die Entfernung von Bestandteilen genannt8. Von einem benachbarten Grundstück ausgehende Immissionen im Sinne des § 906 BGB können ohne Probleme als Einwirkungen durch einen Dritten gemäß § 1134 Abs. 1 BGB angesehen werden. IV. Rechte des Gläubigers § 1133 S. 2 BGB gewährt dem Gläubiger, wie gezeigt, nach fruchtlosem Fristablauf das Recht auf sofortige Befriedigung aus dem Grundstück. Dagegen hat er keinen Anspruch auf Beseitigung der Gefährdung, weder gegen den Eigentümer noch gegen einen Dritten9. Das erscheint auf den ersten Blick eigenartig, kann der Gläubiger dem Eigentümer doch mit weit reichenden Rechtsfolgen wirksam eine Frist zur Beseitigung setzen. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Lösung jedoch als genau dem Plan des Gesetzgebers und dem Zweck des Gesetzes entsprechend: Der Gläubiger soll sich, falls ihm ein Verlust droht, weil der Eigentümer der Gefährdung der Hypothek nicht rechtzeitig abhilft, möglichst rasch aus dem finanziellen Engagement verabschieden können. Dazu wäre ein im Klagewege durchzusetzender Beseitigungsanspruch, weil viel zu langwierig, kaum geeignet. Die Klage auf Duldung der Zwangsvollstreckung (§§ 1133 S. 2, 1147 BGB) und die anschließende Vollstreckung in das Grundstück bieten dagegen einen angemessenen Schutz. Nach § 1134 Abs. 1 BGB hat der Gläubiger einen Unterlassungsanspruch10 gegen den Eigentümer oder einen Dritten, wenn diese in einer die Hypothek gefährdenden Weise auf das Grundstück einwirken. Einen vom Verschulden unabhängigen Beseitigungsanspruch hat er jedoch auch hier nicht11, obgleich dieser sich hier besser in das Regelungskonzept einfügte als bei § 1133 BGB. Bei Verschulden des Eigentümers oder des Dritten werden die Rechtsbehelfe aus den §§ 1133, 1134 BGB ergänzt durch Schadensersatzansprüche des Gläubigers aus § 823 Abs. 1 BGB, weil die Hypothek als ein „sonstiges Recht“ im Sinne dieser Vorschrift geschützt ist, und aus § 823 Abs. 2 i. V. mit §§ 1133, 1134 BGB12. Nach § 249 8

MünchKomm./Eickmann (Fn. 2), § 1134 Rn. 6 m. Nachw. aus der Rspr. Allg. Ansicht, vgl. nur Erman/Wenzel (Fn. 4), § 1133 Rn. 7; Planck/Strecker (Fn. 3), § 1133 Anm. 2; Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 29, jeweils m. w. Nachw. 10 Der Gesetzeswortlauf „Unterlassungsklage“ beruht noch auf dem Aktionendenken. Heute ist unstreitig, dass es sich um einen materiellrechtlichen Anspruch handelt. 11 So mit Recht die h. M., vgl. Mot. III, S. 670; Erman/Wenzel (Fn.4) § 1134 Rn. 6; Palandt/Bassenge, BGB, 72. Aufl. 2013, §§ 1133 – 1135 Rn. 3; NK/Zimmer, BGB, 2. Aufl. 2009, § 1134 Rn. 22; Planck/Strecker (Fn. 3), § 1134 Anm. 2a; a. M. Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1134 Rn. 11; ähnlich MünchKomm./Eickmann (Fn. 2), § 1134 Rn. 20; näher sogleich unter V. 12 Zutreffend qualifiziert die h. M. auch § 1133 BGB als ein Schutzgesetz zugunsten des Hypothekars, vgl. BGHZ 105, 230 (237 f.); RGZ 73, 333 (335); MünchKomm./Eickmann 9

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Abs. 1 BGB richten sich diese Ansprüche primär auf Beseitigung der Gefährdung der Hypothek. V. Negatorische Rechte analog § 1004 Abs. 1 BGB? Man fragt sich, was den Gesetzgeber bewogen haben mag, für den Schutz der Hypothek vor Beeinträchtigungen mit den §§ 1133 bis 1135 BGB eine besondere Regelung zu schaffen, während er sich bei allen anderen beschränkten dinglichen Rechten darauf beschränkt hat, die „für die Ansprüche aus dem Eigentum geltenden Vorschriften“ oder unmittelbar die „in § 1004 bestimmten Rechte“ für entsprechend anwendbar zu erklären. Das ergibt sich zum Beispiel für die Grunddienstbarkeit aus § 1027 BGB, für den Nießbrauch aus § 1065 BGB, für die beschränkte persönliche Dienstbarkeit aus §§ 1090 Abs. 2, 1027 BGB und für das Mobiliarpfandrecht aus § 1227 BGB13. Dass dem Hypothekar der Besitz an dem belasteten Grundstück fehlt, weist zwar auf einen wichtigen systematischen Unterschied zu den anderen beschränkten dinglichen Rechten hin, erklärt aber nicht den Ausschluss eines Beseitigungsanspruchs. Auch der Hinweis auf die dingliche Natur des Anspruchs in den Gesetzesmaterialien14 kann als Begründung letztlich nicht überzeugen15. Das berechtigt aber nicht dazu, die gesetzliche Regelung einfach durch einen verschuldungsunabhängigen Störungsbeseitigungsanspruch analog § 1004 Abs. 1 BGB oder einen ebenfalls vom Verschulden unabhängigen quasinegatorischen Anspruch analog §§ 823, 1004 Abs. 1 BGB zu ergänzen16. Man darf als gesichert voraussetzen, dass dem Gesetzgeber die Regelung des § 1004 BGB bekannt war, als er die §§ 1133 bis 1135 BGB konzipierte. Wenn er sie gleichwohl nicht für den Schutz der Gläubiger von Grundpfandrechten übernommen hat, kann dies nur auf einer bewussten Entscheidung beruhen. Von einer planwidrigen Regelungslücke, die grundlegende Voraussetzung einer analogen Anwendung des § 1004 BGB wäre17, kann also keine Rede sein. Im Gegenteil formulieren die §§ 1133 bis 1135 BGB ein wohlabgewogenes, in sich stimmiges Konzept: Solange eine die Sicherheit der Hypothek gefährdende Verschlechterung des Grundstücks nur droht („zu besorgen ist“), ist der Unterlassungsanspruch aus § 1134 Abs. 1 BGB der richtige Rechtsbehelf, zumal er im Verhältnis zum Eigentümer noch dadurch ver(Fn. 2), § 1133 Rn. 22; NK/Zimmer (Fn. 11), § 1133 Rn. 5 vgl. auch BGH NJW 1991, 695 f., a. M. Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 3. 13 Ausführlich zu den einzelnen beschränkten dinglichen Rechten im Hinblick auf Immissionen Görsch (Fn. 6), S. 9 ff., 94 ff., 116 ff., 128 ff., 142 ff. 14 Mot. III, S. 670; vgl. auch Planck/Strecker (Fn. 3), § 1134 Anm. 2a mit Anm. 2 Abs. 1 a. E. 15 Insoweit zutreffend Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1134 Rn. 11. 16 So aber Staudinger/Wolfsteiner (wie Fn. 15); wohl auch MünchKomm./Eickmann (Fn. 2), § 1134 Rn. 20. 17 Im Ergebnis wie hier die h. M., vgl. Erman/Wenzel (Fn. 4), § 1134 Rn. 6; NK/Zimmer (Fn. 11), § 1134 Rn. 22; Planck/Strecker (Fn. 3), § 1134 Anm. 2a m. w. Nachw.; vgl. auch Görsch (Fn. 6), S. 131 ff.

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stärkt werden kann, dass das Gericht auf Antrag des Gläubigers die zur Gefahrabwendung erforderlichen Maßregeln anzuordnen hat (§ 1134 Abs. 2 BGB). Was sollte ein zusätzlicher Beseitigungsanspruch bewirken, wenn noch nichts vorhanden ist, das beseitigt werden könnte? Ist dagegen die Gefährdung der Hypothek infolge einer Verschlechterung des Grundstücks bereits eingetreten, zeigt § 1133 BGB ganz deutlich, dass der Gesetzgeber dem Gläubiger gerade keinen Beseitigungsanspruch geben wollte, obwohl dieser systematisch hier passen würde18. Vielmehr erlaubt er ihm, „sofort Befriedigung aus dem Grundstück zu suchen“ (§§ 1133 S. 2, 1147 BGB i. V. mit §§ 864 ff., 869 ZPO, 15 ff., 146 ff. ZVG), wenn der Eigentümer in der ihm gewährten angemessenen Frist keine Abhilfe schafft. Dass dies der angemessenere Rechtsbehelf ist, wurde schon gezeigt.19 VI. Analoge Anwendbarkeit des § 906 BGB? Lange Zeit ist die Frage, ob § 906 BGB im Zusammenhang mit den §§ 1133 bis 1135 BGB analog anwendbar ist, überhaupt nicht gestellt worden20. Dabei drängt sie sich auf, wenn es sich bei den die Sicherheit der Hypothek gefährdenden Einwirkungen auf das beliehene Grundstück um Immissionen handelt, die von einem benachbarten Grundstück ausgehen. Betrachtet man in dem Dreiecksverhältnis zwischen Hypothekar, Eigentümer und Störer zunächst nur die Rechtsbeziehungen zwischen dem Eigentümer und dem Störer (Dritten), so kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Abwehransprüche des Eigentümers aus § 1004 Abs. 1 BGB wegen § 1004 Abs. 2 BGB auch den Duldungspflichten des § 906 BGB unterliegen. Dann aber liegt der Gedanke nahe, dass der Hypothekar grundsätzlich keinen weiterreichenden Schutz gegen Immissionen genießen kann. Er leitet sein Recht vom Eigentümer ab. Die Hypothek ist als beschränktes dingliches Recht ein Minus gegenüber dem umfassenden Eigentum (§ 903 BGB). Vermittelt über das beliehene Grundstück partizipiert sie an dem Nachbarschaftsverhältnis, unterliegt also, ebenso wie jenes, der daraus folgenden Situationsgebundenheit. Aus alledem ließe sich die Folgerung ableiten, dass der Hypothekar Einwirkungen Dritter im Sinne der §§ 1133, 1134 BGB auf das beliehene Grundstück, die der Eigentümer nach § 906 BGB nicht abwehren könnte, ebenfalls dulden müsse. Ein Blick auf § 1133 BGB zeigt freilich, dass dieser Satz in seiner Absolutheit nicht richtig sein kann. Wenn danach der Eigentümer sogar das Risiko einer Grundstücksverschlechterung durch von ihm nicht beeinflussbare Naturereignisse trägt21, so dass der Gläubiger nach Fristablauf sofort die Zwangsvollstreckung einleiten kann

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Im Ergebnis ebenso Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 29. Siehe oben IV. 20 Eingehend dazu neuerdings Görsch (Fn. 6), S. 128 ff. 21 Allg. Ansicht, vgl. nur NK/Zimmer (Fn. 11), § 1133 Rn. 15; Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 6. 19

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(§§ 1133 S. 2, 1147 BGB), muss dies auch für störende Immissionen gelten, die der Eigentümer nach § 906 BGB dulden muss. Anders dürfte dagegen der Unterlassungsanspruch des Hypothekars gegen einen Dritten aus § 1134 Abs. 1 BGB zu beurteilen sein. Hier treffen die Gründe, die vorher für die Gleichbehandlung der Rechte des Gläubigers mit denen des Eigentümers aufgezeigt wurden, uneingeschränkt zu. Methodisch lässt sich dies mit einer Analogie zu § 906 BGB begründen. Der Vorschlag, statt der analogen Anwendung die Voraussetzungen des § 906 BGB in § 1134 Abs. 1 BGB zu integrieren22, ist nur auf den ersten Blick plausibel, überzeugt bei näherer Betrachtung aber nicht. Zwar trifft es zu, dass Einwirkungen auf das beliehene Grundstück, die zu einem erheblichen Ausfall des Hypothekars in der Zwangsvollstreckung führen können und deshalb die Sicherheit der Hypothek gefährden (§ 1134 Abs. 1 BGB), stets auch wesentliche Beeinträchtigungen im Sinne des § 906 BGB sein werden. Wichtige Unterschiede zwischen den beiden Normen blieben dabei allerdings unberücksichtigt. Betroffen ist zum einen die Beweislast. Sie trägt bei der Unterlassungsklage gegen den Dritten aus § 1134 Abs. 1 BGB der klagende Gläubiger23, während nach § 906 BGB der Emittent, also der Dritte i. S. des § 1134 Abs. 1 BGB, das Fehlen oder die Unwesentlichkeit der Beeinträchtigung darzulegen und zu beweisen hat. Zum anderen ließe sich die Regelung des § 906 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB, wonach eine unwesentliche Beeinträchtigung in der Regel vorliegt, wenn bestimmte Grenz- oder Richtwerte nicht überschritten werden24, wohl kaum in § 1134 Abs. 1 BGB einfügen, und dasselbe würde schließlich für das Merkmal der Ortsüblichkeit gemäß § 906 Abs. 2 S. 1 BGB gelten. Mit der analogen Anwendung des § 906 BGB auf den Unterlassungsanspruch gegen den Dritten aus § 1134 Abs. 1 BGB würden die Rechte des Gläubigers nicht übermäßig eingeschränkt, auch wenn ihn in einigen Fällen eine Duldungspflicht träfe. Ihm verblieben jedenfalls der Antrag auf gerichtlich anzuordnende Maßregeln gegen den Eigentümer nach § 1134 Abs. 2 S. 2 BGB, vor allem aber die Möglichkeit, unter den Voraussetzungen des § 1133 BGB, der neben § 1134 BGB anwendbar ist, wenn eine weitere Verschlechterung droht25, sofort die Zwangsvollstreckung in das beliehene Grundstück einzuleiten und auf diese Weise sein finanzielles Risiko zu begrenzen.

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Görsch (Fn. 6), S. 131 f. Staudinger/Wolfsteiner (Fn. 2), § 1133 Rn. 18; Reischl, in: jurisPK-BGB, 5. Aufl. 2010, § 1134 Rn. 23. 24 Dazu ausführlich Staudinger/Roth (2009), § 906 Rn. 188 ff., 202 m. w. Nachw. 25 Planck/Strecker (Fn. 3), § 1134 Anm. 1a. 23

Vom „Gesetz über technische Arbeitsmittel“ zum „Produktsicherheitsgesetz“ Entwicklungsschritte im Recht des Verkehrsverbots Von Franz-Joseph Peine Der Jubilar bringt bekanntlich seit vielen Jahren dem Technikrecht großes Interesse entgegen. Dieses zeigt sich u. a. daran, dass er Herausgeber einer Schriftenreihe zum Technikrecht ist. Ausweislich seines Namens gehört das „Gesetz über technische Arbeitsmittel“ zum Gegenstand „Technikrecht“. Seine „Zentralnorm“ war das Verkehrsverbot für solche technischen Arbeitsmittel, die dem „Stand der Technik“ nicht entsprachen. Das (heutige) Verkehrs-/Bereitstellungsverbot nach § 3 Abs. 1 und 2 ProdSG1 wird im Wesentlichen dem Verbraucherschutzrecht zugeordnet.2 Der Beitrag stellt seine Entwicklung sowie seinen Anwendungsbereich dar und ordnet es in einen größeren rechtlichen Zusammenhang ein. I. Arbeitnehmerschutzrecht 1. Das Problem: Der Schutz des Arbeiters vor gefährlichen Maschinen Bereits seit den 80er-Jahren des vorvorigen Jahrhunderts findet sich in den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten der Wunsch, die Maschinenhersteller durch Gesetz zu zwingen, die zur Verhinderung von Unfällen notwendigen Schutzvorrichtungen mitzuliefern. Diese Bestrebung unterstützten die Berufsgenossenschaften.3 Dieses Faktum belegt, dass der Schutz des Arbeitnehmers vor gefährlichen Maschinen ein sehr altes Problem ist.4 Unmittelbar einsichtig ist auch, dass ein derart gravierendes Problem einer Lösung bedarf – wie auch immer sie aussehen mag. 1

Gesetz über das Bereitstellen von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) v. 8. 11. 2011, BGBl. I, S. 2178. Das G ist nach Art. 37 Abs. 1 Satz 2 am 1. 12. 2011 in Kraft getreten. 2 A. Kapoor/T. Klindt vertreten die Ansicht, dass das Produktsicherheitsgesetz den „Allgemeinen Teil“ des nationalen Produktsicherheitsrechts verkörpere, s. NVwZ 2012, 719. 3 s. RTag-Drs. 753/1928 – 30 vom 21. 1. 1929, S. 35 f. 4 Sehr ausführliche Darstellung des Problems sowie seiner Lösung bei F.-J. Peine, Gesetz über technische Arbeitsmittel – Kommentar, 3. Aufl. 2002, Einleitung, Rdnr. 1 ff. s. auch Peine, Gerätesicherheitsrecht, in: M. Schulte/R. Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technik-

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2. Die Problemlösungsgeschichte a) Seit dem Erkennen des Problems dauerte es mehr als 40 Jahre, bis der Gesetzgeber seine Lösung in Angriff nahm. Den geäußerten Wünschen Rechnung tragend, entschloss sich die Reichsregierung im Jahre 1922 zur Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes über den Maschinenschutz. Er stieß auf lebhaften Widerspruch insbesondere aus Kreisen der Maschinenhersteller.5 Die Reichsregierung stellte seine Weiterverfolgung zurück, da sich in jener Zeit Ansätze zu einer Selbstüberwachung bzw. Selbstkontrolle der Maschinenhersteller zeigten. Diese Bestrebungen wollte die Reichsregierung nicht stören, da sie sich von ihnen eine Lösung des Problems erhoffte – sie setzte mithin auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft.6 Damit war ein erster Anlauf zur gesetzlichen Lösung des Arbeitsschutzproblems gescheitert. b) Nach dem Scheitern entwickelten sich Ansätze der Selbstkontrolle weiter und führten zu einer Zusammenarbeit der Maschinenhersteller mit den Gewerbeaufsichtsbeamten, den Berufsgenossenschaften und den Gewerkschaften in der „Arbeitsgemeinschaft für Unfallverhütung“. Das Problem war mit der Zusammenarbeit aber noch nicht gelöst.7 Zwei Anstöße führten zur Vorlage eines neuen Problemlösungsvorschlags durch den Gesetzgeber: Zum einen hatte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) auf den Problembereich schon sehr früh hingewiesen. Diese Hinweise kumulierten 1929 in einer Empfehlung betreffend die Verantwortlichkeit für Schutzvorrichtungen an Maschinen mit mechanischem Kraftantrieb.8 Das Deutsche Reich wollte den Vorschlägen der ILO nachkommen und ein Maschinenschutzgesetz erlassen. Zum anderen hatte die Praxis seit 1922 gezeigt, dass im Wege freiwilliger Zusammenarbeit eine dem Arbeitsschutz ausreichend Rechnung tragende Problemlösung nicht erreicht werden konnte. Immer wieder war es zu Unfällen infolge unzureichend geschützter Maschinen gekommen.9 Der Entwurf des Jahres 1928 betraf nicht die Gerätesicherheit allein, er war in einen größeren Zusammenhang gestellt: in den eines Arbeitsschutzgesetzes. Der Entwurf verfolgte die Aufgaben „Verhütung von Betriebsgefahren durch den Arbeitgeber“ sowie den „Schutz von Jugendlichen und weiblichen Arbeitnehmern“ und enthielt deshalb Regelungen über den Maschinenschutz, die Arbeitszeit, den Mutterschutz, die Nachtarbeit, den Kinderschutz, die Sonntagsruhe, den Ladenschluss und das Nachtbackverbot. Der Entwurf suchte in seinem § 910 die Sicherheit von Personen durch Beschaffenheitsanforderungen an Geräte zu erreichen. rechts (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft – Abteilung Rechtswissenschaft), 2. Aufl. 2011, S. 406 ff. 5 s. RTag-Drs. 753/1928 – 30 vom 21. 1. 1929, S. 35. 6 s. ebd. 7 s. ebd., S. 36. 8 H. Schmatz/M. Nöthlichs, Sicherheitstechnik, Loseblattsammlung, 1969 ff., Kennz. 1105.1. 9 s. ebd., S. 35. 10 s. zu ihm ausführlich R. Lukes, RdA 1969, 220 f.

Vom „Gesetz über technische Arbeitsmittel“ zum „Produktsicherheitsgesetz“

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Das Arbeitsschutzgesetz wurde mit einer Reihe es betreffender Anträge auf den Sitzungen des Reichstags am 7./8. 2. 1929 in erster Lesung beraten.11 Der Entwurf wurde dem Ausschuss für soziale Angelegenheiten überwiesen. Er kam – soweit ersichtlich – nicht wieder im Plenum zur Sprache; hier wurden nur Einzelprobleme ohne Bezug auf den Gesetzentwurf als ganzen diskutiert.12 Damit war zum zweiten Mal der Versuch der Problemlösung gescheitert. c) 1963 erließ die ILO das Übereinkommen Nr. 119 über den Maschinenschutz mit ergänzender Empfehlung Nr. 118.13 Es sollte in den Mitgliedstaaten durch gesetzgeberische wie andere ebenso effektive Maßnahmen ein Schutz des Arbeitnehmers vor gefährlichen Maschinen erreicht werden.14 Um den Forderungen des Übereinkommens nachzukommen, leitete die Bundesregierung den Entwurf eines „Gesetz(es) über technische Arbeitsmittel (Maschinenschutzgesetz – GtA)“ den gesetzgebenden Körperschaften zu.15 Die gesetzgeberische Befassung mit ihm führte zu einer Reihe von Änderungen. Der Bundestag nahm den Gesetzentwurf in der Fassung, die er im zuständigen Ausschuss des Bundestags erhalten hatte, an, der Bundesrat stimmte zu, das Gesetz trat am 1. 12. 1968 in Kraft.16 Ca. 90 Jahre nach dem Erkennen eines Problems fand dieses eine gesetzliche Lösung. 3. Die Problemlösung Das Gesetz kennzeichnete, soweit hier von Interesse, vier wesentliche Aussagen: die Aussagen über den sachlichen, persönlichen und handlungsspezifischen Geltungsbereich sowie die Aussagen über den Sicherheitsstandard.17 a) Den sachlichen Anwendungsbereich legten die §§ 1, 2 GtA fest. Dem Gesetz unterfielen zunächst alle technischen Arbeitsmittel, unabhängig von ihrem Einsatzort: sei es im Betrieb, im Haushalt, in einer Dienststelle etc. Da es sprachlich schwierig ist, einfache Arbeitsmittel, für die Schutzvorschriften aufzustellen unnötig ist, von potentiell gefährlichen zu unterscheiden, beschritt der Gesetzgeber den Weg, Beispiele zu geben: verwendungsfähige Arbeitseinrichtungen, Werkzeuge, Arbeitsund Kraftmaschinen. Der Gesetzgeber erweiterte sodann den Anwendungsbereich über technische Arbeitsmittel hinaus um Schutzausrüstungen, die nicht Teil eines 11

Verh. RTag, Bd. 424, 1928 – 30, 41.–76. Sitzung, S. 1093 ff., 1108 ff. s. die Nachweise in Verh. RTag, Bd. 447, 1930 – 32, Register, S. 33 – 34. 13 Vgl. BArbBI. 1963, 542. 14 Verh. BTag, 5. Wahlperiode, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Bd. 106: Drs. V/834, S. 5. 15 Ebd. 16 G. v. 24. 6. 1968, BGBl. I, S. 717; zum Zeitpunkt des Inkrafttretens s. § 14. Die Kurzbezeichnung war Maschinenschutzgesetz. Die Kurzbezeichnung Gerätesicherheitsgesetz trug das Gesetz seit 1980, s. G. v. 13. 8. 1979, BGBl. I, S. 1432. 17 Der Text behandelt ausschließlich diese Gebiete. Andere Materien, die in den hier relevanten Gesetzen geregelt sind und die Veränderungen erfahren haben, bleiben ausgespart. 12

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technischen Arbeitsmittels sind; Einrichtungen, die zum Beleuchten, Beheizen, Kühlen sowie zum Be- oder Entlüften bestimmt sind; Haushaltsgeräte; Sport- und Bastelgeräte sowie Spielzeug. Er stellte also bestimmte „Geräte“ dem technischen Arbeitsmittel gleich. In der Festlegung des sachlichen Anwendungsbereichs gelangte zum Ausdruck, dass das Gesetz den Bereich des Schutzes der Arbeiter, die gefährliche Maschinen bedienen (Maschinenschutzgesetz), nicht allein regelte, sondern darüber hinaus durch die gerade herausgestellte Gleichstellung „Gegenstände“ erfasste, mit denen andere Personen als Maschinenarbeiter, nämlich „beliebige“ Personen „umgehen“: Verbraucher. In der Tat würdigte Rudolf Lukes das Gesetz unter dem Titel: „Vom Arbeitnehmerschutz zum Verbraucherschutz“.18 Der Verbraucherschutz war seinerzeit in Deutschland unterentwickelt. Das Gesetz erfüllte deshalb zwei Funktionen: Es schloss die Rechtslücke „Schutz des Arbeitnehmers vor gefährlichen Maschinen“ und bot einen ersten rechtlichen Ansatz zur Lösung des Problems „Schutz des Verbrauchers vor ,qualitativ schlechten Produkten’“. Jedoch war das Gesetz kein allgemeines Produktsicherheitsgesetz und damit kein allgemeines Verbraucherschutzgesetz.19 b) Das Gesetz galt hauptsächlich für Hersteller20 und Einführer21 technischer Arbeitsmittel, die diese gewerbsmäßig oder selbständig im Rahmen einer wirtschaftlichen Unternehmung in den Verkehr brachten. In der Folge war Adressat der Eingriffsmittel des Gesetzes niemals der Käufer/Verwender eines dem Gesetz unterfallenden Geräts, ebenso wie die Person, die ein Gerät rein privat weitergibt.22 Erweiterungen des persönlichen Anwendungsbereichs enthielten § 5 Abs. 1 Satz 2 GtA (Messefälle), § 5 Abs. 3 GtA (bestimmte Händler) und § 7 Abs. 1 GtA (Lagerer und Beförderer).23 c) Hinsichtlich des handlungsspezifischen Geltungsbereichs erfasste das Gesetz das Inverkehrbringen24 und das Ausstellen.25 Daraus ergab sich, dass das Gesetz weder die Herstellung der ihm unterfallenden Geräte, noch ihren Import, ihren Handel und ihr Gebrauchen regelte.26 d) Für den Sicherheitsstandard ist festzustellen: Die Geräte durften nach § 3 Abs. 1 GtA nur dann in den Verkehr gebracht oder ausgestellt werden, wenn sie

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R. Lukes, RdA 1969, 220 ff. s. dazu den Hinweis in Fn. 2. 20 Zum Begriffsverständnis s. Peine (Fn. 4), §§ 1, 1a, 2, Rdnr. 55 ff. 21 Ebd., Rdnr. 61 ff. 22 Ebd., Rdnr. 9. 23 Ebd. 24 Zum Begriffsverständnis ebd., Rdnr. 74 ff. 25 Zum Begriffsverständnis ebd., Rdnr. 86 ff. 26 Ebd., Rdnr. 73.

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nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik27 sowie den Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften28 so beschaffen waren, dass Benutzer oder Dritte bei ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung gegen Gefahren aller Art für Leben oder Gesundheit soweit geschützt waren, wie es die Art der bestimmungsgemäßen Verwendung gestattete; von den allgemein anerkannten Regeln der Technik sowie den Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften durfte abgewichen werden, soweit die gleiche Sicherheit auf andere Weise gewährleistet war. § 3 Abs. 1 GtA enthielt ein Handelshemmnis bzw. Verkehrsverbot.29 Dieses Verbot galt nicht, wenn das technische Arbeitsmittel den vorgeschriebenen Sicherheitsstandard erfüllte. Durch das Postulat eines Sicherheitsstandards war § 3 Abs. 1 Satz 1 GtA die Zentralnorm des Rechts des vorbeugenden Gefahren- und Verbraucherschutzes.30 Die Norm enthielt „technisches Sicherheitsrecht“. 4. Veränderungen der Problemlösung Veränderungen des Verkehrsverbots können alle vier Bereiche betreffen, die zuvor als wesentlich für das Gesetz bezeichnet worden sind. a) Eine Erweiterung brachte das Gesetz von 1979. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über technische Arbeitsmittel zeigten sich im Wesentlichen folgende Probleme: Die Gewerbeaufsichtsämter beklagten durchweg zwei Regelungslücken: für Händler und Teile von Arbeitseinrichtungen galt das Gesetz nicht. Ferner gab es mit medizinisch-technischen Geräten Probleme; für diese galt zwar das Gesetz über technische Arbeitsmittel, es fehlte aber eine gesetzliche Baumusterprüfungspflicht.31 Abgeordnete der CDU-Fraktion des Deutschen Bundestags ergriffen die Initiative und legten den Entwurf eines „Gesetz(es) über die Prüfungspflicht für medizinischtechnische Geräte“ vor.32 Es seien die medizinisch-technische Geräte und Anlagen aus dem Gesetz über technische Arbeitsmittel herauszunehmen und für sie sei ein Spezialgesetz zu schaffen, welches Hersteller, Einführer und zusätzlich Betreiber medizinisch-technischer Geräte und Anlagen in die Überwachung und Prüfung einbeziehe. Mit Blick auf den geschützten Personenkreis ist festzustellen, dass dieser Entwurf erstmalig den Schritt hin zum Patientenschutz vor technischen Geräten wagt. Mit Blick auf die Behandlung medizinisch-technischer Geräte bestand Übereinstimmung, dass ihre Sicherheit durch die Festlegung sicherheitstechnischer Anfor27

Ebd., § 3 Rdnr. 23 ff. Ebd., Rdnr. 56 ff., 69 ff. 29 Ebd., Rdnr. 5. 30 Ebd., Rdnr. 15. 31 s. dazu Peine (Fn. 4), Einführung, Rdnr. 59 ff. 32 Ebd., Rdnr. 75 ff. 28

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derungen, Prüfungen und Nachweispflichten sowie durch die Statuierung von Wartungs- und Unterweisungspflichten verbessert werden müsse. Dafür erschien hinreichend, die Einzelheiten in einer Verordnung zu regeln, deren Ermächtigungsgrundlage in das Gesetz über technische Arbeitsmittel aufzunehmen sei. In diesem Sinne wurde das Gesetz geändert.33 Auf der Grundlage des neuen § 8a GtA erließ der Verordnunggeber die „Verordnung über die Sicherheit medizinisch-technischer Geräte (Medizingeräteverordnung – MedGV) vom 14. 1. 1985“,34 die im Wesentlichen am 1. 1. 1986 in Kraft trat.35 Ferner wurde der Anwendungsbereich des Gesetzes auf die Händler ausgedehnt. Schließlich gelangten die überwachungsbedürftigen Anlagen i.S.d. § 24 GewO in den Anwendungsbereich des Gesetzes.36 Das Änderungsgesetz erweiterte den sachlichen und persönlichen Geltungsbereich des Gesetzes über technische Arbeitsmittel. Das Verkehrsverbot des Gesetzes und die auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen dienten nunmehr dem Arbeitnehmerschutz, einem beschränkten Verbraucherschutz und dem Patientenschutz. b) Die Novelle von 199237 führte zu einer weitgehenden inhaltlichen Umgestaltung des Gesetzes. Anlass der Novelle waren folgende Ausgangspunkte: Zur Vorbereitung des europäischen Binnenmarkts erlässt die (jetzige) EU Richtlinien. Diese sind nach Art. 288 Abs. 3 AEUV38 hinsichtlich ihres Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel zur Zielerreichung. Die Bundesrepublik ist verpflichtet, die Richtlinien in innerstaatliches Recht umzusetzen. Die EU erließ bis in die 1980er-Jahre eine Reihe einschlägiger Richtlinien; von großer praktischer Bedeutung war die Richtlinie 89/392/EWG, die sich mit der Sicherheit von Maschinen befasste.39 Die Normierung sicherheitsrechtlicher Vorschriften durch die Kommission zielte auf den Abbau technischer Handelshemmnisse ab. Dieser Weg erwies sich jedoch als ungeeignet, soweit das Mittel der Vollharmonisierung gewählt wurde; denn dieser Weg war extrem zeitraubend.40 Eine neue Konzeption sollte dem Problem Rechnung tragen: Sie sollte einerseits hinreichende Flexibilität sichern, andererseits verhindern, dass das Sicherheitsniveau auf den kleinsten ge33

G v. 17. 8. 1979, BGBl. I, S. 1432. BGBl. I, S. 93. 35 § 24 Abs. 1 MedGV. 36 Wie Fn. 32. 37 G. v. 26. 8. 1992, BGBl. I, S. 1564. Inkrafttreten teilweise am 2. 9. 1992, vollständig am 1. 1. 1993. 38 Bzw. nach den Vorläufervorschriften. 39 s. Peine (Fn. 4), Einführung, Rdnr. 94. Diese Richtlinie wurde abgelöst durch die Richtlinie 98/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22. 6. 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, ABlEG Nr. L 207 v. 23. 7. 1998, S. 1 – 46. 40 C. Tünnesen-Harmes, DVBl. 1994, 1136. 34

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meinsamen Nenner absinkt. Die Kommission entwickelte den „new approach“. Der Rat verabschiedete die Entschließung über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung.41 Diese sah Folgendes vor: Richtlinien mit einer kombinierten Strategie sollten das Problem lösen.42 Zwecks Erzielung eines hohen Sicherheitsniveaus wurden die grundlegenden Sicherheitsstandards durch Richtlinien verbindlich festgelegt, alle Mitgliedstaaten mussten ihr Recht dem von der EG vorgegebenen Niveau angleichen.43 Die europarechtlichen Anforderungen an die Geräte stellten nach dieser Strategie lediglich Grundanforderungen dar. Die Ausgestaltung einzelner Sicherheitsanforderungen blieb im Wege der Arbeitsteilung44 den dazu berufenen europäischen Normungsorganisationen CEN (Europäisches Komitee für Normung) und CENELEC (Europäisches Komitee für elektrotechnische Normung) überlassen.45 Diese beiden Einrichtungen wurden Anfang der 1960er-Jahre gegründet; im August 1982 schlossen sie sich zur „Gemeinsamen Europäischen Normungsinstitution“ zusammen. Mitglieder dieser internationalen Vereinigung mit Sitz in Brüssel sind die nationalen Normungsinstitute der EU-Mitgliedstaaten, für die Bundesrepublik also DIN und VDE (diese sind auch Mitglied in der ISO [International Organisation for Standardization] und der IEC [International Electrotechnical Commission]).46 Die Normen der „Gemeinsame(n) Europäische(n) Normungsinstitution“ ergehen als EN-Normen. Werden die EN-Vorgaben eingehalten, können die Überwachungsbehörden von der Unbedenklichkeit des Produkts ausgehen; umgekehrt bedeutet die Nichteinhaltung jedoch nicht Bedenklichkeit.47 Die Bundesregierung war der Auffassung, dass die geforderte Umsetzung mit Hilfe von Verordnungen allein nicht zu leisten sei. Sie meinte vielmehr, dass die zur Realisierung des freien Warenverkehrs im europäischen Binnenmarkt entwickelte Konzeption der technischen Harmonisierung im Bereich des Rechts der Gerätesicherheit Besonderheiten aufweise, denen mit den derzeitigen gesetzlichen Grundlagen nur unzulänglich entsprochen werden könne. – Die Bundesregierung schlug vor, den Anwendungsbereich des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und die Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen so zu erweitern, dass alle zum Schutz der Arbeitnehmer und Verbraucher in Übereinstimmung mit dem Gemein41 ABlEG 1985 Nr. C 136, S. 1. Weitere Einzelheiten bei Peine (Fn. 4), Einführung, Rdnr. 96 f. Zum Folgenden ebd. 42 Tünnesen-Harmes, DVBl. 1994, 1136. 43 Klindt, NVwZ 1999, 1178 f. 44 B. Krieger, UPR 1992, 401. 45 Klindt, NVwZ 1999, 1179. 46 s. H. Schiffer/W. Delbrück, GewArch 1991, 19. 47 Klindt, NVwZ 1999, 1179; D. Ehlers, NVwZ 1990, 814. Die begrenzte Wirkung des Konzepts „new approach“ liegt auf der Hand: EN-Normen erleichtern als Vermutungsregeln die behördliche Amtsermittlung, ersetzen sie aber nicht. Ferner beinhalten diese Normen für den Hersteller keine Vorgaben, die das Produkt erfüllen muss; er kann ohne weiteres auf andere Weise als normkonform den geforderten Sicherheitsstandard erzielen. Gesetzlich zwingend muss der Hersteller ausschließlich den durch unbestimmte Rechtsbegriffe beschriebenen Anforderungen an die Sicherheit eines Produkts nachkommen.

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schaftsrecht erforderlichen Maßnahmen für das Inverkehrbringen technischer Geräte geregelt werden können. Sie schlug ferner vor, die Vorschriften der Gewerbeordnung über überwachungsbedürftige Anlagen zur besseren Überschaubarkeit vollständig in das Gesetz über technische Arbeitsmittel zu übernehmen. Im Einzelnen strebte die Bundesregierung eine Neufassung des § 1, einen neuen § 1a, eine Neufassung der §§ 2, 3, einen neuen § 3a, eine Neufassung der §§ 4, 5, 7, 8, neue §§ 9 und 10, eine Ersetzung des bisherigen § 8a durch die neuen §§ 11 – 15, eine neue Nummerierung für die §§ 9, 12, 13 und 14 sowie deren teilweise Neufassung an. Von diesen vorgeschlagenen Änderungen waren die meisten bedingt durch die Übernahme des Rechts der überwachungsbedürftigen Anlagen aus der Gewerbeordnung in das Gesetz über technische Arbeitsmittel. – Die Vorschläge der Bundesregierung wurden nahezu durchgehend geltendes Recht. Die Neugestaltung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel war weitgehend Ausdruck europarechtlicher Vorgaben. Erstmalig zeigte diese Rechtsordnung ihre „Gestaltungshoheit“ im Recht der technischen Sicherheit. Das Änderungsgesetz erweiterte den Sicherheitsstandard des Gesetzes über technische Arbeitsmittel. c) Die Neuordnung des Medizinprodukterechts von 1994 reduzierte den Anwendungsbereich des Gesetzes über technische Arbeitsmittel. Eine außerordentlich praktische Bedeutung erlangte die Medizingeräteverordnung, deren Erlass im Jahre 1985 erfolgte und die im Wesentlichen am 1. 1. 1986 in Kraft trat.48 Die in ihr getroffenen Regelungstechniken bewährten sich in der Praxis derart, dass sie der Gesetzgeber zum Vorbild für die Regelungen über Medizinprodukte im „Gesetz über Medizinprodukte (Medizinproduktegesetz – MPG) vom 2. 8. 1994“49 nahm. Dieses Gesetz bezweckte, den Verkehr mit Medizinprodukten zu regeln und dadurch für die Sicherheit, Eignung und Leistung der Medizinprodukte sowie die Gesundheit und den erforderlichen Schutz der Patienten, Anwender und Dritter zu sorgen. Da die in der Medizingeräteverordnung erfassten medizinischtechnischen Geräte, die im Recht der allgemeinen Gerätesicherheit stets eine gewisse Sonderstellung innehatten, ihrer Zweckbestimmung nach eher dem Medizinproduktegesetz zuzuordnen waren, überführte der Gesetzgeber die Verordnungsermächtigung für die Medizingeräteverordnung in dieses Gesetz. Den Schutz der Patienten vor mangelhaften medizinisch-technischen Geräten nahm der Gesetzgeber damit aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes über technische Arbeitsmittel heraus und vertraute ihn einem eigenen Gesetz an. Insoweit reduzierte der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des Verkehrsverbots nach dem Gesetz über technische Arbeitsmittel um den Bereich „Patientenschutz“.

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s. Fn. 34. BGBl. I, S. 1963.

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II. Verbraucherschutzrecht 1. Das Produktsicherheitsgesetz von 1997 Durch den Erlass des „Gesetz(es) zur Regelung der Sicherheitsanforderungen an Produkte und zum Schutz der CE-Kennzeichnung (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) vom 22. 4. 1997“50 stellte der Gesetzgeber klar, dass im Allgemeinen „Produkte“ nicht dem Gesetz über technische Arbeitsmittel unterfallen. § 2 Abs. 1 ProdSG normierte, dass der Abschnitt „Produktsicherheit“ des Gesetzes Anwendung findet auf alle Produkte, die 1. zur privaten Nutzung durch den Verbraucher bestimmt sind oder die er nach allgemeiner Verkehrsanschauung benutzt und 2. gewerbs- oder geschäftsmäßig in den Verkehr gebracht werden. Jedoch fand nach § 2 Abs. 3 ProdSG der Abschnitt des Gesetzes „Produktsicherheit“ keine Anwendung auf Produkte, die dem Medizinproduktegesetz und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen (Nr. 1d) sowie dem Gerätesicherheitsgesetz und den auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen (Nr. 2 g) mit Ausnahme der Bestimmungen über Warnungen und den Rückruf (§§ 8, 9, 15 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3) unterlagen. Das Gerätsicherheitsgesetz und das Produktsicherheitsgesetz hatten, von der gerade erwähnten Ausnahme abgesehen, unterschiedliche Anwendungsbereiche. Beide Gesetze galten parallel. Damit unterfielen die in § 2 Abs. 2 GtA aufgezählten Produkte ausschließlich dem Gesetz über technische Arbeitsmittel. Das Produktsicherheitsgesetz ließ den Anwendungsbereich des Gesetzes über technische Arbeitsmittel unverändert. Mit dem Erlass des Produktsicherheitsgesetzes ist neben dem privatrechtlichen Produkthaftpflichtrecht ein nunmehr abgerundetes verwaltungsrechtliches Produktsicherheitsrecht entstanden.51 Es erfasste zunächst in Spezialgesetzen Produktgattungen wie Pharmazeutika, Lebensmittel und Bedarfsgegenstände, dann kamen die technischen Arbeitsmittel sowie ihnen gleichgestellte Produkte hinzu, jetzt erfasst dieser Rechtsbereich auch Produkte, die jedermann als Verbraucher täglich benutzt. Hervorzuheben ist, dass es seit dem Erlass des Produktsicherheitsgesetzes, von Spezialgesetzen abgesehen, zwei wesentliche Regelungen des Verkehrsverbots52 gab: § 3 Abs. 1 GtA und § 4 Abs. 1 ProdSG. Gesetzlich geregelte Produktsicherheit gab es seit jenem Zeitpunkt für den Maschinenarbeiter und den „allgemeinen“ Verbraucher.

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BGBl. I, S. 934; Kommentierung durch Klindt, ProdSG, 2001. Klindt, NJW 2004, 465. 52 Die Verkehrsverbote, die in speziellen Gesetzen, insbesondere denen, die neben dem Gesetz über technische Arbeitsmittel und dem Produktsicherheitsgesetz gelten, geregelt sind, sind in der Zählung natürlich nicht erfasst. 51

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Weil beide Gesetze mit einem einander stark ähnelnden Eingriffsrepertoire arbeiteten, stellte sich die Frage, warum der Gesetzgeber es unterließ, beide Materien in einem Gesetz zusammenzufassen. 2. Die Vereinigung von Geräte- und Produktsicherheitsgesetz 2004 Auf europäischer Ebene existierte seit 1992 die Produktsicherheitsrichtlinie.53 Diese erfuhr eine Erneuerung in Gestalt der zweiten Produktsicherheitsrichtlinie aus dem Jahre 2001.54 Sie war bis 2004 in nationales Recht umzusetzen. Die Umsetzung erfolgte in Deutschland durch die Zusammenlegung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und des Produktsicherheitsgesetzes zum „Gesetz über technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte (Geräte- und Produktsicherheitsgesetz – GPSG) vom 6. 1. 2004“.55 Es trat am 1. 5. 2004 in Kraft.56 a) Für den sachlichen Geltungsbereich des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes lässt sich zunächst feststellen, dass es nach § 1 Abs. 1 GPSG für Produkte galt, mit der Ausnahme technischer Arbeitsmittel für bauartbedingt ausschließlich militärische Zwecke. Bedeutungslos war, ob es sich um Massenprodukte, Einzelanfertigungen, Produkte im wissenschaftlichen Einsatz oder gar um Prototypen handelt. Das Gesetz regelte ferner in § 1 Abs. 2 die Errichtung und den Betrieb überwachungsbedürftiger Anlagen. Von Interesse ist der Begriff „Produkt“. Er war in § 2 Abs. 1 GPSG legaldefiniert als „technisches Arbeitsmittel und Verbraucherprodukt“. Diese Trennung war notwendig, weil die umzusetzende EG-Produktsicherheitslinie 2001/95/EG besondere, schärfere Bestimmungen für Verbraucherprodukte forderte, s. §§ 5, 10 Abs. 2 GPSG. Der Begriff „technisches Arbeitsmittel“ war wie im Gesetz über technische Arbeitsmittel zu verstehen, von geringen, hier nicht interessierenden Abweichungen abgesehen.57 Zu erwähnen ist jedoch, dass einige den technischen Arbeitsmitteln gleichgestellte Gegenstände nach diesem Gesetz dem Begriff „Verbraucherprodukt“ unterfallen. Unter dem Begriff „Verbraucherprodukt“ waren nach § 2 Abs. 3 GPSG zu verstehen „Gebrauchsgegenstände und sonstige Produkte, die für Verbraucher bestimmt sind oder unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen von Verbrauchern 53 Richtlinie 92/59/EWG des Rates v. 29. 6. 1992 über die allgemeine Produktsicherheit, ABlEG Nr. L 228 v. 11. 8. 1992, S. 24. 54 Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3. 12. 2001 über die allgemeine Produktsicherheit, ABlEG Nr. L 11 v. 15. 1. 2002, S. 4. 55 BGBl. I, S. 2. 56 Rechtspolitisch von Interesse ist, dass in der Literatur ein umfassendes „Sicherheitsgesetzbuch“ gefordert wurde, s. dazu K. Vieweg, in: TÜV Saarland Foundation (Hrsg.), World Congress Safety of Modern Technical Systems, 2001, S. 473. 57 s. dazu Klindt, NJW 2004, 466.

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benutzt werden können, selbst wenn sie nicht für diese bestimmt sind“. Die Verknüpfung sämtlicher durch „und“ getrennten Substantive des Hauptsatzes mit den durch „oder“ beschriebenen Attributen war gewollt. Sonstige Produkte waren „Erzeugnisse“, die sprachlich nicht mit „Gegenstand“ erfasst werden, beispielsweise ein Lebensmittel.58 Gebrauchsgegenstände und sonstige Produkte waren für Verbraucher bestimmt, wenn sie in der Lieferkette bestimmungsgemäß an private Endverbraucher abgegeben werden. Dies sind etwa Haushalts- und Sportartikel. Erfasst waren ferner diejenigen Verbraucherprodukte, die vorhersehbar aus dem gewerblichen Nutzungsbereich in die Hände privater Verbraucher gelangen – sog. „Migrationsprodukte“.59 Erfasst waren schließlich Gebrauchsgegenstände und sonstige Produkte, die einem Verbraucher im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung zur Verfügung gestellt werden – identisch damit ist nicht ein zur Dienstleistung benutztes Arbeitsmittel. Letztlich fielen in den Anwendungsbereich des Gesetzes gebrauchte Produkte, es sei denn, sie wurden als Antiquitäten überlassen oder sie mussten vor ihrer neuerlichen Verwendung in Stand gesetzt bzw. aufgearbeitet werden; der neue Besitzer musste hierüber ausreichend informiert werden. „Normaler“ gewerblicher Gebrauchtwarenhandel fiel unter das Gesetz. Soweit in produktbezogenen Spezialgesetzen – beispielsweise dem Medizinproduktegesetz,60 dem Bauproduktengesetz,61 dem Arzneimittelgesetz,62 der Straßenverkehrs-Zulassungsordnung,63 dem Gesetz über Funkanlagen und Telekommunikationsendeeinrichtungen,64 dem Chemikaliengesetz65 – entsprechende oder weiterge-

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Für sie gilt ein Spezialgesetz. Zum Begriff „Produkt-Migration“ s. Wirtschafts- und Sozialausschuss in seiner Stellungnahme zum Thema „Allgemeine Produktsicherheit“; ABIEG Nr. C 51 v. 23. 2. 2000, S. 67, Nr. 3.2.2.3. 60 s. Fn. 49. 61 Gesetz über das Inverkehrbringen von und den freien Warenverkehr mit Bauprodukten zur Umsetzung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates v. 21. 12. 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte und anderer Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften (Bauproduktengesetz – BauPG) i. d. F. der Bekanntmachung v. 28. 4. 1998, BGBl. I, S. 812, geändert durch Art. 1 G v. 5. 12. 2012, BGBl. I, S. 2449. 62 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) i. d. F. der Bekanntmachung v. 12. 12. 2005, BGBl. I, S. 3394, zuletzt geändert durch Art. 2 G v. 19. 10. 2012, BGBl. I, S. 2192. 63 Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) v. 26. 4. 2012, BGBl. I, S. 679, zuletzt geändert durch Art. 2 VO v. 19. 10. 2012, BGBl. I, S. 2232. 64 Gesetz über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen (FTEG) v. 31. 1. 2001, BGBl. I, S. 170, geändert durch Art. 2 G v. 20. 4. 2012, BGBl. I, S. 606. 65 Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz – ChemG) i. d. F. der Bekanntmachung v. 2. 7. 2008, BGBl. I, S. 1146, zuletzt geändert durch Art. 5 Abs. 39 G v. 24. 2. 2012, BGBl. I, S. 212. 59

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hende Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen existieren, galt das Gesetz nach § 1 Abs. 3 GPSG nicht. Es darf hervorgehoben werden, dass das Gesetz, von den Ausnahmen abgesehen, wohl umfassend die Produktsicherheit für den Non-Food-Bereich regelte. Der sachliche Geltungsbereich des alten Gerätesicherheitsgesetzes erfuhr durch die Novellierung eine enorme Ausweitung. b) Durch das Verkehrsverbot waren persönlich verpflichtet der Hersteller und der Quasi-Hersteller,66 sein Bevollmächtigter,67 der Einführer68 sowie der Händler69 eines Produkts. Die Novelle erweiterte diesen Geltungsbereich um den Quasi-Hersteller und den Bevollmächtigten. In der Inpflichtnahme des Quasi-Herstellers und des Bevollmächtigten lag eine Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs des Gesetzes. c) Handlungsspezifisch erfasste das Gesetz nach seinem § 1 Abs. 2 das Inverkehrbringen70 und Ausstellen71 eines Produkts. Ungeregelt blieb das Benutzen eines Produkts.72 Gegenüber den Vorgängerregelungen § 2 Abs. 3 GtA und § 3 Abs. 2 ProdSG veränderte sich dieser Geltungsbereich: § 2 Abs. 8 GPSG folgte Europarecht und explizierte „Inverkehrbringen“ als jedes Überlassen eines Produkts an einen anderen, unabhängig davon, ob das Produkt neu, gebraucht, wiederaufgearbeitet oder wesentlich verändert worden war. Ferner war ausschließlich ein Wechsel der Sachherrschaft und der mit ihm verbundene Risikoübergang relevant; ein Eigentumsübergang war nicht gefordert, so dass auch das Leasing ein Fall des Inverkehrbringens war. Eine Ausweitung des handlungsspezifischen Geltungsbereichs lag in zweifacher Hinsicht vor. d) Für den Sicherheitsmaßstab lässt sich festhalten: Existierte für das Produkt eine nach § 3 Abs. 1 GPSG erlassene Verordnung – dieses war insbesondere der Fall, wenn eine EG-Binnenmarktrichtlinie im Verordnungswege transformiert worden war – war nach § 4 Abs. 1 GPSG das Inverkehrbringen nur unter Einhaltung der dort festgelegten Anforderungen und nur dann zulässig, wenn Sicherheit und Gesundheit der Nutzer, Dritter sowie sonstiger verordnungsrechtlich geschützter Rechtsgüter weder bei bestimmungsgemäßer Verwendung73 noch bei vorhersehbarer Fehlanwendung74 gefährdet wurden. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 GPSG galt für bestimmte harmonisierte (technische) Normungen i.S.d. § 2 Abs. 16 GPSG das beweisrecht66

Legaldefinition in § 2 Abs. 10 GPSG. Legaldefinition in § 2 Abs. 11 GPSG. 68 Legaldefinition in § 2 Abs. 12 GPSG. 69 Legaldefinition in § 2 Abs. 13 GPSG. 70 Legaldefinition in § 2 Abs. 8 GPSG. 71 Legaldefinition in § 2 Abs. 9 GPSG. 72 Für spezielle Produkte, beispielsweise Medizinprodukte, gab es Sonderregelungen. 73 Legaldefinition in § 2 Abs. 5 GPSG. 74 Legaldefinition in § 2 Abs. 6 GPSG.

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liche System des „new approach“. Der „new approach“ fand durch die EG-Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG75 auch auf Produkte ohne bisherige Binnenmarktharmonisierung Anwendung. Das Schutzklauselverfahren zur (inhaltlichen) Überprüfung harmonisierter Normung findet sich – unverändert – in den einzelnen EG-Binnenmarktrichtlinien. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Sicherheitsbeurteilung war nach § 4 Abs. 3 Satz 1 GPSG das erstmalige Inverkehrbringen in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Existierte für das Produkt keine Verordnung nach § 4 Abs. 1 GPSG – dieses war insbesondere der Fall im europäisch nicht harmonisierten Bereich –, forderte § 4 Abs. 2 GPSG, dass die Sicherheit und Gesundheit der Verwender oder Dritter nicht gefährdet werde, die Forderung schloss die vorhersehbare Fehlanwendung ein und formulierte zur Beurteilung der Gefährdung in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 – 4 GPSG erwähnte spezielle Parameter. Bei deren Beurteilung können nach § 4 Abs. 2 Satz 3 GPSG Normen und andere technische Spezifikationen zugrunde gelegt werden. Der in § 3 Abs. 1 Satz 2 GtA enthaltene Verweis auf die allgemein anerkannten Regeln der Technik sowie die Unfallverhütungsvorschriften war entfallen. Ein im Entwurf des Gesetzes vorgesehener Verweis auf den „Stand der Technik“76 wurde im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unter Hinweis auf Art. 2 lit. b Satz 2 EG-Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG gestrichen: Produkte, von denen eine geringere Gefährdung ausgehe, könnten den Stand der Technik maßgeblich prägen, obwohl nach Art. 2 lit. b Satz 2 EG-Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG dieses nicht als ausreichender Grund angesehen werden dürfe, ein Produkt als gefährlich einzustufen. Die getroffene Regelung enthielt eine Verschärfung.77 Es fehlte ferner die Bagatellgrenze nach Art. 2 lit. b EG-Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG, die § 6 Abs. 2 ProdSG mit der Beschränkung auf „erhebliche, mit der Art der Verwendung nicht zu vereinbarende“ Gefahren noch gekannt hatte. Die Fassung des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes enthielt eine Verschärfung der Forderung der Richtlinie; in der Folge musste die Forderung richtlinienkonform interpretiert werden.78 § 4 Abs. 2 Satz 4 GPSG führte einen rein nationalen „new approach“ ein, weil auch bei technischen Normen oder Spezifikationen, die der Ausschuss für technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte ermittelte und im Bundesanzeiger bekannt gemacht hatte, eine rechtskonforme Sicherheitskonstruktion vermutet werden durfte. Das Gesetz verschärfte den Sicherheitsmaßstab erheblich. e) Alle hier relevanten vier Kriterien erfuhren eine Ausweitung/Verschärfung. Geschützte Personen waren mit dem Inkrafttreten des Gesetzes der Maschinenarbeiter

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s. Fn. 53. Also nicht: „allgemein anerkannte Regel der Technik“. 77 Ebenso Klindt, NJW 2004, 468 mit Fn. 34. 78 Klindt, NJW 2004, 467.

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und der „allgemeine“ Verbraucher. Der Begriff „Verbraucher“ erfuhr keine Legaldefinition; Verbraucher ist der Benutzer eines Verbraucherprodukts. 3. Das Produktsicherheitsgesetz von 2011 Der europäische Gesetzgeber veränderte im Jahr 2008 seinen Mitte der 80er-Jahre eingeführten „new approach“79 bei der Harmonisierung technischer Vorgaben für Produkte grundlegend.80 Die Veränderung trägt die Bezeichnung „new legislative framework“. Sie findet sich in der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 zur Akkreditierung und Marktüberwachung vom 9. 7. 200881 und im Beschluss Nr. 768/2008/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten.82 Mit der erwähnten Verordnung soll der Vollzug des europäischen Produktsicherheitsrechts durch die nationalen Marktüberwachungsbehörden vereinheitlicht und gleichzeitig effektiver gestaltet werden. Das Geräte- und Produktsicherheitsgesetz von 2004 musste an die neuen europarechtlichen Vorgaben angepasst werden. Der deutsche Gesetzgeber nutzte die Gelegenheit der Reform auch dazu, mit dem neuen Produktsicherheitsgesetz Schwachstellen des Geräte- und Produktsicherheitsgesetz von 2004 zu beseitigen.83 Dieses geschah durch den Erlass des „Gesetz(es) über das Bereitstellen von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) v. 8. 11. 2011“.84 a) Für den sachlichen Geltungsbereich des Produktsicherheitsgesetzes ist hervorzuheben, dass es elf produktbezogene EG-Binnenmarktrichtlinien in nationales Recht transformiert (harmonisierter Bereich); damit unterfallen die in den Richtlinien erfassten Produkte dem Gesetz. Dem Anwendungsbereich des Gesetzes unterfallen ferner die Produkte, für die bisher keine europäisch harmonisierten Vorgaben existieren (nicht harmonisierter Bereich). Schließlich setzt das Gesetz die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG85 um, die auf europäischer Ebene besondere Anforderungen an die Sicherheit von Verbraucherprodukten statuiert. Zur Zielerreichung definiert der Gesetzgeber die für den sachlichen Geltungsbereich des Produktsicherheitsgesetzes wesentlichen Begriffe um, führt ferner neue Begriffe ein und verzichtet auf den Begriff „technisches Arbeitsmittel“. „Produkte“ sind jetzt nach § 2 Nr. 22 ProdSG Waren, Stoffe oder Zubereitungen, die durch einen Fertigungsprozess hergestellt worden sind. Der Begriff „Verbraucherprodukt“ bleibt als einzige Unterkategorie zum neuen Produktbegriff mit inhaltlich unveränderter Legaldefinition erhalten, § 2 Nr. 26 ProdSG. 79

s. oben bei Fn. 41. s. dazu Kapoor/Klindt, EuZW 2008, 649 ff. und EuZW 2009, 134 ff. 81 ABlEU Nr. L 218 v. 13. 8. 2008, S. 30. 82 ABlEU Nr. L 218 v. 13. 8. 2008, S. 82. 83 Kapoor/Klindt, NVwZ 2012, 719. 84 s. Fn. 1. 85 s. Fn. 53.

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Der erweiterte Produktbegriff erfasst nicht nur die Produkte, die bisher als technische Arbeitsmittel oder Verbraucherprodukte galten, sondern erstmals insbesondere auch nicht verwendungsfertige Bauteile, Stoffe und Zubereitungen, die ausschließlich für die Weiterverarbeitung bestimmt sind.86 Den Anwendungsbereich des Produktsicherheitsgesetzes schränkt § 1 Abs. 3 ProdSG ein: Die umfassenden Spezialgesetzen unterliegenden Lebensmittel und Medizinprodukte sind aus dem Anwendungsbereich ebenso ausdrücklich ausgenommen wie etwa (erstmals) lebende Pflanzen und Tiere, Erzeugnisse menschlichen Ursprungs87 und Pflanzenschutzmittel. b) Durch das Verkehrsverbot sind persönlich verpflichtet jetzt „Wirtschaftsakteure“. Das sind nach § 2 Nr. 29 ProdSG Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer und Händler. Der neue Begriff „Wirtschaftsakteur“ lässt den Geltungsbereich des Gesetzes unverändert. c) Handlungsspezifisch ist der Geltungsbereich des Produktsicherheitsgesetzes durch den neuen Begriff „Bereitstellen“ nur scheinbar verändert. Im Anschluss an die europarechtliche Terminologie trennt das Gesetz zwischen der „Bereitstellung eines Produkts auf dem Markt“ und dessen „Inverkehrbringen“; letzteres ist in § 2 Nr. 15 ProdSG als „erstmaliges Bereitstellung auf dem Markt“ definiert. Damit ist der Begriffsinhalt identisch mit dem im Vorgängergesetz verwendeten Begriff „erstmaliges Inverkehrbringen“. Ferner ist der Begriff „Bereitstellung auf dem Markt“ nach § 2 Nr. 4 ProdSG nicht anders zu verstehen als der bisher geläufige Begriff „Inverkehrbringen“. Wichtig für den Anwendungsbereich des Verkehrsverbots nach § 3 Abs. 1 und 2 ProdSG ist, dass die Sicherheitsanforderungen an dem Begriff „Bereitstellen des Produkts auf dem Markt“ ansetzen; sie gelten deshalb für jede Überlassung des Produkts innerhalb der Vertriebskette.88 d) Die aus § 4 GPSG bekannten zentralen Sicherheitsanforderungen an die dem Gesetz unterfallenden Produkte finden sich inhaltlich weitestgehend unverändert in § 3 ProdSG. Das Gesetz unterscheidet wie das alte Recht zwischen europäisch harmonisierten (Abs. 1) und europäisch nicht harmonisierten Produkten (Abs. 2). Für die Erstgenannten gilt, dass sie nur auf dem Markt bereitgestellt werden dürfen, wenn sie die in den jeweiligen EG-Richtlinien statuierten Anforderungen erfüllen und darüber hinaus die Sicherheit und Gesundheit von Personen weder bei bestimmungsgemäßer noch bei vorhersehbarer Verwendung89 gefährden. Für die europäisch nicht harmonisierten Produkte bleibt es bei der aus § 4 Abs. 2 GPSG bekannten Forderung, dass diese bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährden dürfen. 86

Kapoor/Klindt, NVwZ 2012,720. Ebd. 88 Ebd. 89 Das GPSG verwendete in diesem Zusammenhang den Begriff „vorhersehbare Fehlanwendung“. Inhaltlich hat sich nichts verändert, s. die Begriffsdefinition in § 2 Nr. 28 ProdSG. 87

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Das bisher in § 4 Abs. 1 und 2 GPSG geregelte Recht der Konformitätsvermutung findet sich im Produktsicherheitsgesetz jetzt in zwei eigenständigen Vorschriften normiert. § 4 ProdSG stellt für sämtliche dem Gesetz unterfallenden Produkte klar, dass ihre Übereinstimmung mit den Anforderungen des Produktsicherheitsgesetzes anhand des Maßstabs „harmonisierte technische Normen“ erfolgt, deren Einhaltung unter bestimmten Voraussetzungen zur Konformitätsvermutung führt. Der erstmals im Jahr 2004 mit dem Vorgängergesetz eingeführte Ansatz, die Vermutungswirkung harmonisierter Normen auch auf allein national geregelte Produkte zu erweitern, findet sich jetzt in § 5 ProdSG. Danach können (nationale) Normen und andere (nationale) technische Spezifikationen zu Grunde gelegt werden, um zu beurteilen, ob ein Produkt den Anforderungen nach § 3 Abs. 2 ProdSG entspricht. Wenn der Ausschuss für Produktsicherheit (früher: Ausschuss für technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte) derartige nationale Normen und/oder Spezifikationen ermittelt und deren Fundstellen veröffentlicht hat, wird auch für nicht harmonisierte Produkte vermutet, dass diese den Anforderungen des § 3 Abs. 2 ProdSG entsprechen. e) Der sachliche Anwendungsbereich des Gesetzes hat eine Erweiterung erfahren. Mit Blick auf den persönlichen und handlungsspezifischen Geltungsbereich ist festzuhalten, dass zwar neue Begriffe Eingang in das Gesetz gefunden, diese aber seinen Geltungsbereich unverändert gelassen haben. Diese Feststellung gilt auch für den Sicherheitsmaßstab. III. Öffentliches Wirtschaftsrecht Die meisten Monographien und Lehrbücher zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht90 verzichten auf eine Systematisierung ihres Gegenstands: Eine durchgängige systematische Ordnung fehlt. Die Bücher sind in der Regel in folgender Weise aufgebaut: Ihre Autoren differenzieren nach Formen und Instrumenten, nach Rechtsquellen und einzelnen Gebieten des Wirtschaftsverwaltungsrechts, nach globalen und nichtglobalen Einwirkungen.91 Die Behandlung des öffentlichen Wirtschaftsrechts geschieht pragmatisch. Die letzte Großdarstellung des öffentlichen Wirtschaftsrechts erklärt diese pragmatische Behandlung des Rechtsgebiets für unausweichlich. Reiner Schmidt92 vertritt die These, angesichts der Jugend und der spezifischen Abgrenzungsprobleme des Rechtsgebiets sei eine andere als die vorgenommene pragmatische Behandlung unmöglich. Er hält es beim derzeitigen Entwicklungsstand auch für verfrüht, einen Allgemeinen Teil des öffentlichen Wirtschaftsrechts als gesichert anzusehen. Unab90 U. Schliesky, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2003; R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht – Allgemeiner Teil, 1990; ders. (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil, Band 1 und 2, 1995/1996; R. Schmidt/T. Vollmöller (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2007. 91 s. R. Schmidt, ebd. 92 Ebd., S. 37 f.

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hängig davon werden übereinstimmend folgende Bereiche des öffentlichen Wirtschaftsrechts als Gegenstände allgemeiner Art und als geeignet betrachtet, in einem Allgemeinen Teil des öffentlichen Wirtschaftsrechts zusammengefasst zu werden: Wirtschaftsverwaltung, Organisation der gewerblichen Wirtschaft, Berufsrecht, Kartellrecht, Auskunftspflicht der Wirtschaft, Leistungspflicht der Wirtschaft, EU-Durchführung, Wirtschaftsförderung und Wirtschaftsstatistik. Die Lehrbücher des Öffentlichen Wirtschaftsrechts behandeln folgende Themen als wesentliche Teile eines allgemeinen Öffentlichen Wirtschaftsrechts: – das Verhältnis der Verfassung zur Wirtschaft, vielfach als „Wirtschaftsverfassungsrecht“ bezeichnet; – Fragen der Kooperation von Staat and Wirtschaft; – internationale and supranationale wirtschaftsrechtliche Fragen; – Rechtsfragen der konjunkturpolitischen bzw. Globalsteuerung; – die Organisation der Wirtschaftsverwaltung einschließlich der Wirtschaftsverbände; – die Rechtsbindungen and Rechtsformen des Wirtschaftsverwaltungshandelns einschließlich der Rechtsschutzfragen; – die öffentlichen Unternehmen. Zum besonderen Öffentlichen Wirtschaftsrecht zählen folgende Sachgegenstände: – das Außenwirtschaftsrecht; – das Wirtschaftsüberwachungsrecht; – das Produktionsrecht. Der Begriff „Produktionsrecht“ ist neu.93 Ein Blick in die Lehrbücher des Öffentlichen Wirtschaftsrechts zeigt, dass herkömmlicherweise zwischen Außenwirtschaftsrecht und Wirtschaftsüberwachungsrecht differenziert wird; häufig wird anstelle des Begriffs „Wirtschaftsüberwachungsrecht“ auch der Begriff „Wirtschaftsverwaltungsrecht“ gebraucht. Diesen gleichsinnig verwandten Begriffen werden regelmäßig aber nicht Rechtsnormen zugeordnet, die folgende Fragen beantworten: Darf überhaupt ein bestimmtes Produkt hergestellt werden – Problem der Existenz von Produktionsverboten; darf ein Produkt in einem bestimmten technischen Verfahren hergestellt werden – Problem der Existenz von Produktionsverfahrensverboten; darf ein Produkt unabhängig von bestimmten Eigenschaften oder Qualitätsmerkmalen in den Verkehr gebracht werden – Problem der Existenz von Produktqualitätsnormen bis hin zu Verkehrsverboten. Diese drei Sachkomplexe: Produktionsverbots93 Verfasser hat diesen Begriff, soweit ersichtlich erstmalig, in seinem Beitrag „Öffentliches Wirtschaftsrecht“ in die Diskussion eingeführt, in: FS Thomas Prugberger = Ünnepi Tanulmányok Prugberger Támas, Miskolc 1997, S. 243 ff.

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recht, Produktionsverfahrensverbotsrecht und Produktqualitätsrecht seien in dem Begriff „Produktionsrecht“ zusammengefasst. Zum Produktionsrecht zählt zunächst das Recht der Produktionsverbote. Es lässt sich festhalten, dass es im Prinzip in der Bundesrepublik erlaubt ist, jede Ware oder Dienstleistung zu erzeugen. Produktionsverbote bilden die Ausnahme. Sie werden in jüngster Zeit aus Umweltschutzgründen erlassen. Genannt seien zwei Beispiele: Es ist, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, z. B. verboten, DDT sowie Pentachlorphenol zu erzeugen.94 Die Rechtsgrundlage für Produktionsverbote bildet die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Rechtsverordnungen in § 17 ChemG.95 – Produktionsverfahrensverbote enthält beispielsweise das Bundes-Immissionsschutzgesetz; jeder Anlagenbetrieb, der nicht mit den Vorgaben des Gesetzes übereinstimmt, ist nicht genehmigungsfähig.96 Ein – generell geltendes – Recht einer speziellen Produktqualität gibt es in der Bundesrepublik erst seit jüngerer Zeit in Gestalt der sog. Produktverantwortung. Sie ist enthalten in § 23 KrWG.97 Dieses Gesetz gebietet den Unternehmen, Abfälle so weit wie möglich zu vermeiden, und wenn die Vermeidung ausgeschlossen sein sollte, Menge und Schädlichkeit der Abfälle soweit wie möglich zu verringern. Gefordert ist für die industrielle Produktion, dass sie vom Abfall her denkt. Um das Problem „Abfallentsorgung“ zu entschärfen, gibt es die beiden genannten Pflichten für Unternehmen. Ferner sollen entstandene Abfälle in den Produktions-/Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden; Voraussetzung dafür ist, dass recyclingfähige Produkte hergestellt werden;98 darin besteht die spezielle Anforderung an die Produktqualität. Diese Anforderung des Kreislaufwirtschaftsrechts enthält für die Produzenten freilich keine unmittelbare Pflicht;99 sie wird erst dann aktuell, wenn Rechtsverordnungen nach §§ 24 und 25 KrWG existieren, die Einzelheiten der Abfallvermeidung, der Abfallverringerung und der Rückführung von Abfällen in den Wirtschaftskreislauf regeln. Einschlägig ist beispielsweise die Verpackungsverordnung.100 – Ver94 Chemikalienverbotsverordnung i. d. F. der Bekanntmachung v. 13. 6. 2003, BGBl. I, S. 867. 95 s. Fn. 65. 96 Infolge der Richtlinie 2010/75/EU des europäischen Parlaments und des Rates v. 24. 11. 2008 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABlEU Nr. L 334 v. 17. 12. 2010, S. 17 wird sich dieses Recht verschärfen, s. F.-J. Peine, UPR 2012, 8 ff. 97 Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen – Kreislaufwirtschaftsgesetz – KrWG v. 24. 2. 2012, BGBl. I, S. 212. Diese Verpflichtung fand sich bereits in der Vorgängernorm § 22 KrW-/AbfG. 98 Eine „erweiterte Herstellerverantwortung“ enthält auch Art. 8 Abfallrahmenrichtlinie 2008/98/EG. 99 P. Kunig u. a., KrW-/AbfG – Kommentar, 2. Aufl. 2003, § 22 Rdnr. 17. 100 Verordnung über die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen (Verpackungsverordnung – VerpackV) v. 21. 8. 1998, BGBl. I, S. 2379, zuletzt geändert durch die 5. Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung v. 2. 4. 2008, BGBl. I, S. 531.

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kehrsverbote für bestimmte Produkte gibt es in der Bundesrepublik in großer Zahl.101 Das wichtigste Verkehrsverbot normiert § 3 Abs. 1 und 2 ProdSG. Das Verkehrs-/Bereitstellungsverbot nach § 3 Abs. 1 und 2 ProdSG enthält Produktionsrecht und ist damit Öffentliches Wirtschaftsrecht. IV. Schlussbetrachtung Das Verkehrsverbot des Maschinenschutzgesetzes hat eine unvorhersehbare Karriere gemacht. Die Bedeutung des Verkehrsverbots hat gewaltig zugenommen.102 Hatte es ca. 90 Jahre gedauert, bis das Erkennen eines Problems in eine Problemlösung in Gestalt des Verkehrsverbots mündete, so dauerte es nur wenig mehr als 40 Jahre, bis der Schutz des Maschinenarbeiters vor gefährlichen technischen Arbeitsmitteln in einem nahezu allgemeinen Schutz des Verbrauchers vor gefährlichen Produkten im Non-Food-Bereich aufging. Wie der gegenständliche Anwendungsbereich sich enorm erweiterte, so erweiterten sich der persönliche und der handlungsspezifische. Vollkommen verändert hat sich ferner der Sicherheitsmaßstab. Den Verweis auf die anerkannten Regeln der Technik ersetzt heute die Verpflichtung zur Sicherheit und Gesundheit. Aber wenigstens partiell und in seinem Kern ist das Verkehrsverbot „technisches Sicherheitsrecht“ geblieben. Das dem öffentlichen Wirtschaftsrecht und dem Technikrecht zuzuordnende Verkehrsverbot steuert ein riesiges Produktionsvolumen. Im Gegensatz zu seiner wirtschaftlichen Bedeutung muss es ungläubiges Erstaunen hervorrufen, dass alle Fassungen des Verbots sich in einem Punkt gleichen: Sie sind nie Gegenstand einer be101 Sie finden sich zunächst für Produkte, für die das ProdSG in § 1 Abs. 3 und 4 feststellt, dass sie dem ProdSG nicht unterfallen und für sie spezielle Gesetze gelten: „(3) Dieses Gesetz gilt nicht für […] 4. Lebensmittel, Futtermittel, lebende Pflanzen und Tiere, Erzeugnisse menschlichen Ursprungs und Erzeugnisse von Pflanzen und Tieren, die unmittelbar mit ihrer künftigen Reproduktion zusammenhängen, [Einschub des Verf.: s. das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch] 5. Medizinprodukte im Sinne des § 3 des Medizinproduktegesetzes, soweit im Medizinproduktegesetz nichts anderes bestimmt ist, […] 7. Pflanzenschutzmittel im Sinne des § 2 Nummer 9 des Pflanzenschutzgesetzes oder des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/ EWG des Rates, ABlEU Nr. L 309 vom 24. 11. 2009, S. 1). […] (4) Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten nicht, soweit in anderen Rechtsvorschriften entsprechende oder weitergehende Vorschriften vorgesehen sind. […]“. Weitere einschlägige Gesetze sind z. B. das Arzneimittelgesetz, das Bauproduktengesetz, das Düngegesetz und die auf ihm basierenden Rechtsverordnungen, das Gentechnikgesetz, das Tierseuchengesetz, das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz. 102 Parallel dazu hat sich der Umfang des Gesetzes, welches das Verkehrsverbot enthält, von 14 auf 40 Paragraphen vergrößert. Hinzu kommen neun Verordnungen, die auf der Grundlage des ProdSG erlassen worden sind.

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kannt gewordenen Gerichtsentscheidung geworden.103 Die Ursachen dieses Faktums sollten Rechtssoziologen analysieren.

103 Das Verbot hat gelegentlich in zivilrechtlichen Zusammenhängen eine Rolle gespielt, s. die Nachweise bei Klindt, GPSG, 2007, § 4 Rdnr. 77 f.

Extraterritoriale Rechtsanwendung im Umweltrecht1 Von Eckard Rehbinder I. Einleitung Grenzüberschreitende Umweltbelastungen und Beeinträchtigungen gemeinsamer natürlicher Ressourcen sind ein klassisches Phänomen des Umweltrechts, das Wissenschaft und Praxis seit langem beschäftigt. Der Jubilar hat schon frühzeitig wichtige Beiträge zur Diskussion geleistet.2 Durch die wachsende internationale Vernetzung der Wirtschaft wird der hier auftretende Konflikt zwischen territorialer Souveränität des Verursacherstaates und territorialer Integrität des Opferstaates möglicherweise quantitativ verstärkt – man denke an die wiederkehrenden Schiffsunfälle in Küstennähe –, aber nicht in seiner Qualität verändert. Anders gelagert sind globale Umweltbelastungen. Diese erscheinen weitgehend als Folge des dynamischen Wachstums der nationalen Volkswirtschaften in neurer Zeit, das stark von der wachsenden Globalisierung der Wirtschaft angetrieben wird. Vor allem ist hier zum Teil, wie etwa bei der globalen Erwärmung, eine Zuordnung zu einzelnen Verursacherund Opferstaaten überhaupt problematisch. Lässt man die Bemühungen um eine Lösung für grenzüberschreitende und globale Umweltbelastungen Revue passieren, so ist festzustellen, dass – teilweise abgesehen von grenzüberschreitenden Umweltbelastungen, bei denen das internationale Privatrecht eine gewisse Rolle spielt – das Völkerrecht im Vordergrund steht. Die rechtlichen Konzepte, die die Staatengemeinschaft zur Problemlösung anzubieten hat, sind vor allem das Prinzip der nationalen Souveränität über die natürlichen Ressourcen, die Verantwortlichkeit des Verursacherstaates für die Zufügung von Umweltschäden, bei globalen Umweltbelastungen das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung und die internationale Kooperation durch völkerrechtliche Übereinkommen und Regimebildung. Trotz einer wachsenden Zahl an internationalen, regionalen und bilateralen Übereinkommen zum Umweltschutz und in deren Gefolge der Ausbreitung sie ausfüllender Kooperationsnetzwerke sowie einer Verfeinerung des Reglungsinstrumentariums müssen die realen Erfolge allerdings als mäßig bezeichnet werden. Gewiss gibt es 1

Dem Aufsatz liegt teilweise mein Beitrag „Extra-Territoriality of Pollution Control Laws from a European Perspective“, in: Günther Handl / Joachim Zekoll / Peer Zumbansen (Hrsg.), Beyond Territoriality – Transnational Legal Authority in an Age of Globalization, 2012, S. 127 ff., zugrunde. 2 Michael Kloepfer / Christian Kohler, Kernkraftwerke und Staatsgrenze, 1981; Michael Kloepfer, Grenzüberschreitende Umweltbelastungen als Rechtsproblem, DVBl. 1984, 245.

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partielle Verbesserungen der Umweltqualität, aber von einer Umkehr der Besorgnis erregenden globalen Negativtrends bei Umweltbelastungen und Ressourcenverbrauch ist die internationale Staatengemeinschaft weit entfernt.3 Bei dieser Sachlage liegt es nahe die Frage zu stellen, ob nicht die betreffenden Staaten, insbesondere auch die Opferstaaten, durch unilaterale Maßnahmen auf der Grundlage ihres internationalen Umweltverwaltungsrechts zu einer Verbesserung der Situation beitragen könnten. Damit ist die Thematik der extraterritorialen Anwendung des nationalen Umweltrechts angesprochen. Dieser Begriff ist vielschichtig.4 Von Extraterritorialität kann man insbesondere sprechen, wenn ein Staat bei der Ausübung seiner territorialen Regelungshoheit nachteilige Umweltwirkungen auf seinem Territorium erfasst, die durch Handlungen im Ausland verursacht worden sind. Das zugrunde liegende Regelungskonzept wird als Auswirkungsprinzip bezeichnet. Hierzu kann man auch schon Fallgestaltungen rechnen, in denen ein Staat Durchführungshandlungen im Inland regelt, deren Quelle aber im Ausland liegt. Extraterritorialität ganz anderer Art liegt vor, wenn der Verursacherstaat mit seinen Regelungen Personen im Ausland, die den grenzüberschreitenden Wirkungen von Inlandsaktivitäten ausgesetzt sind, schützt oder sonst wie begünstigt. Diese „extraterritoriale Schutzpflicht“ ist sozusagen die Kehrseite des Auswirkungsprinzips. In einem engeren Sinne bezeichnet Extraterritorialität den Vollzug nationalen Rechts auf fremdem Territorium, z. B. die Durchsetzung extraterritorial konzipierten nationalen Rechts im Ausland. Letzteres ist ohne Zustimmung des Staates, auf dessen Territorium die Vollzugshandlung vorgenommen wird, regelmäßig völkerrechtlich unzulässig und soll uns im Folgenden nicht weiter beschäftigen. II. Grundsätzliche Überlegungen zum Auswirkungsprinzip im internationalen Umweltverwaltungsrecht 1. Anwendungsfelder Extraterritoriale Anwendung des Umweltrechts ist im internationalen Umweltdeliktsrecht geläufig, soweit dieses, wie etwa Artikel 7 der Rom II-Verordnung, die Anwendung des Rechts des Erfolgsortes zulässt. Die Anknüpfung an den Erfolgsort kann man als eine zivilrechtliche Variante des Auswirkungsprinzips bezeichnen, 3

Vgl. nur die entsprechende Feststellung der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung, Deklaration „The Future we want“, A/CONF./216/L.1, Rio de Janeiro 22 July 2012, Ziff. 20. 4 Vgl. (mit zum Teil anderer Systematisierung) Werner Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, S. 74 f.; Matthias Rossi, Extraterritorial geschlossene Verwaltungsverträge, AVR 45 (2007), 115, 120 ff.; ders., Europäisierung des internationalen Umweltverwaltungsrechts, in: Christoph Möllers / Andreas Vosskuhle / Christian Walter, Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 166, 168 f.; Martin Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, S. 269 f.

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wenngleich die Begriffe „Extraterritorialität“ und „Auswirkungsprinzip“ im internationalen Deliktsrecht bisher nicht geläufig sind.5 Im Hinblick auf die angenommene weitgehende Vertretbarkeit des materiellen Privatrechts sieht man jedenfalls keine grundsätzlichen Probleme mit der Anwendung des Rechts des Erfolgsortes. Schwierigkeiten treten erst auf, wenn es um die Einwirkung von öffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen oder Genehmigungen des Handlungsorts auf den Haftungstatbestand des Erfolgsortrechts geht.6 Im Umweltverwaltungsrecht stellt die extraterritoriale Anwendung nationalen Rechts nach dem Auswirkungsprinzip dagegen eine eng begrenzte Ausnahme dar. Dies steht in starken Gegensatz zum internationalen Wirtschaftsrecht. Ausgehend von der Lotusentscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs7 ist das Auswirkungsprinzip im internationalen Wirtschaftsrecht, insbesondere im internationalen Kartellrecht, heute als Mittel des Schutzes der eigenen Wettbewerbsordnung allgemein anerkannt und wird weitgehend praktiziert.8 So bestimmt § 130 Abs. 2 GWB ausdrücklich, dass das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf alle Wettbewerbsbeschränkungen anwendbar ist, die sich im Inland auswirken, auch wenn sie im Ausland veranlasst worden sind. Auch das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV folgt aufgrund sachnormbezogener Auslegung grundsätzlich dem Auswirkungsprinzip.9 Vor Umwandlung der Ausnahmeregelung des Art. 81 Abs. 3 EG (jetzt Art. 101 Abs. 3 AEUV) in eine Legalausnahme war auch anerkannt, dass die Genehmigungsvorbehalte nach dieser Vorschrift auch für ausländische Exportkartelle gelten, sofern diese Verkäufe in der EU regeln.10 Die EU-Fusionskontrollverordnung ist mit ihren Vollzugsverboten und Genehmigungsvorbehalten auch auf transnationale Zusammenschlüsse anwendbar, die sich auf den Wettbewerb in der EU auswirken. Dies gilt selbst, wenn keines der beteiligten Unternehmen eine Tochtergesellschaft, Niederlassung oder Agentur in der EU besitzt und der räumlich relevante Markt der gesamte Weltmarkt ist.11 Im Normalfall werden hier mehrere Genehmigungsverfahren durchgeführt werden, so dass es auch zu gegenläufigen Entscheidungen kommen kann.12 5

Dazu Rehbinder, Fn. 1, S. 144 ff. Vgl. EuGH, Rs. C-115/08, Land Oberösterreich/Cˆ EZ as, Slg. 2009, I-10265 Tz. 110 – 136; Rehbinder, Fn. 1, S. 149 ff. 7 StIG, Serie A, Nr. 10 (1927). 8 EuGH, Rs. 89, 104, 114, 116 f., 125 – 129/85, Ahlström, Slg. 1988, 5193 Tz. 12 f. (Verkäufe in der EWG ausreichend); EuG, Rs. T-102/96, Gencor/Lonrho, Slg. 1999 II-753 Tz. 50 ff., 90, 92, 105; Meng, Fn. 4, S. 479 ff., 547 ff.; Eckard Rehbinder, in: Hans-Ulrich Immenga / Ernst-Joachim Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, Bd. I/1, 5. Aufl. 2012, Einl. IntWbR Rdnr. 6 ff.; allgemein Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, § 23 Rdnr. 88, 99. 9 EuGH, Ahlström, Fn. 8; Rehbinder, Fn. 8, Rdnr. 11 m.w.Nachw. 10 Kommission, ANSAC, ABl. 1991 Nr. L 152/ 54, 58. 11 EuG, Gencor/Lonrho, Fn. 8. 12 Vgl. Kommission, Aérospatiale/de Havilland, ABl. 1991 Nr. L 334/1; General Electric/ Honeywell, ABl. 2004 Nr. L 48/1. 6

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2. Grenzen Allerdings ist die Ausübung extraterritorialer Jurisdiktion im Kartellrecht nicht grenzenlos. Grundanforderung ist das Bestehen einer sinnvollen territorialen Anknüpfung. Daneben ergeben sich – auf umstrittener Rechtsgrundlage (als Ausfluss des Gebots einer sinnvollen Anknüpfung oder aufgrund des Verbots des Rechtsmissbrauchs, Einmischungsverbots oder Gebots der Comitas) – bewegliche Schranken, die mit den Konzepten der Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und Interessenabwägung umschrieben werden.13 Danach müssen die Inlandsauswirkungen unmittelbar, wesentlich und vorhersehbar sein. In Fällen echter Konflikte zwischen dem Verursacher- und dem Opferstaat wird Verhältnismäßigkeit zwischen dem (zu erwartenden) Schaden und dem Eingriff in die territoriale Souveränität des Verursacherstaates durch die extraterritoriale Regelung verlangt und eine Interessenabwägung kann erforderlich werden, sei es als Ausdruck einer Rechtspflicht, sei es aus Gründen der Comitas. 3. Übertragbarkeit auf das Umweltrecht Das Auswirkungsprinzip lässt sich grundsätzlich vom internationalen Wirtschaftsrecht auf das internationale Umweltrecht übertragen. Zwischen der Wirtschafts- und der Umweltregulierung gibt es keine signifikanten Unterschiede. Insbesondere ist das inländische Schutzbedürfnis vergleichbar. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Auswirkungsprinzips ist im Schrifttum14 weitgehend anerkannt, wird aber auch in einzelnen internationalen und EU-Entscheidungen15 bejaht. In 13

Meng, Fn. 4, S. 535 ff., 551 ff., 589 ff., 622 ff.; Rehbinder, Fn. 8, Rdnr. 13 ff. m.w.Nachw. Rehbinder, Fn. 1, S. 128 – 130; Austen L. Parrish, Trail Smelter Déjà Vu: Extraterritoriality, International Environmental Law, and the Search for Solutions to Canadian/US Transboundary Water Pollution Disputes, Boston Univ. L. Rev. 85 (2005), 363, 395 – 399; Jonathan Remy Nash, The Curious Legal Landscape of the Extra-territoriality of U.S. Environmental Laws, in: Handl/Zekoll/Zumbandsen (Hrsg.), Fn. 1, S. 163, 163 – 165, 168 f.; Francesco Francioni, Extraterritorial Application of Environmental Law, in: Karl Matthias Meessen (Hrsg.), Extraterritorial Jurisdiction in Theory and Practice, 1996, S. 122, 123; Juhanni M.V. Horn, Von „open skies“ und „green shipping“ – Zur Bedeutung des Urteils über die Einbeziehung des Luftverkehrs in den Emissionshandel für das europäische Emissionsreduzierungsvorhaben in der Hochseeschifffahrt, NuR 2012, 759, 760 f.; Bettina Enderle / NoraPhoebe Erler, Europe’s Air Becomes More and More Expensive: The Integration of Maritime Transport into the European Emission Trading System, EurUP 2012, 162, 169 f.; Erik Jaap Molenaar, Coastal State Jurisdiction over Vessel-Source Pollution, 1998, S. 80 – 86, 107 – 108; grundsätzlich ebenso, aber einschränkend Philippe Sands / Jacqueline Peel, Principles of International Environmental Law, 3. Aufl. 2012, S. 193, 195; Kment, Fn. 4, S. 186 ff.; Jörg Menzel, Internationales öffentliches Recht, 2011, S. 767 f., 782, 791. 15 Organisation of American States, Inter-American Juridical Committee, Response to Resolution AG/Doc. 3375/96, CJI/RES.II-14/96, B.8.e); WTO Appellate Body Report, United States – Import Prohibitions of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R, 6. November 1998, Tz. 121, 133 (US Shrimps II); WTO Appellate Body Report on Article 21.5, United States – Import Prohibitions of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/ AB/RW, 22. Oktober 2001, Tz. 138 (US Shrimps III); EuGH, Rs. 366/10, The Air Transport 14

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der Praxis des Umweltrechts wird das Auswirkungsprinzip jedoch nur in sehr begrenztem Umfang angewandt. Geht man vom Muster der kartellrechtlichen Regulierung aus, so müssten bei potentiellen grenzüberschreitenden Wirkungen einer Anlage eigentlich sowohl der Verursacher- als auch der Opferstaat parallele Genehmigungsverfahren durchführen um sicherzustellen, dass die Anlage den umweltrechtlichen Anforderungen all der Staaten entspricht, in denen Auswirkungen zu erwarten sind. Die Zuständigkeitsregeln schließen ein solches Vorgehen nicht aus. Nach herkömmlicher Auffassung ist im internationalen Verwaltungsrecht die internationale Zuständigkeit immer schon dann begründet, wenn es um die Klärung geht, ob ein bestimmter Sachverhalt dem inländischen materiellen Recht unterliegt („Gleichlauf“).16 Eine örtliche Zuständigkeit lässt sich nach deutschem Recht nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG begründen. Indessen hat die deutsche Rechtsprechung in den Flughafenfällen der Siebziger und Achtziger Jahre17 allen Forderungen der Betroffenen nach Durchführung eines inländischen Genehmigungsverfahrens bei bloßen Inlandswirkungen ausländischer Anlagen eine Absage erteilt. Später wurde die Unzulässigkeit von Parallelverfahren offenbar als so selbstverständlich angesehen, dass eine weitere Diskussion praktisch nicht erfolgt ist.18 Angesprochen und verneint wurde nur die Frage, ob deutsche Behörden zum Schutz Betroffener in einem ausländischen Opferstaat auch das betreffende ausländische Recht anzuwenden haben.19 Wenngleich der extraterritoriale Schutz von Ausländern eine andere Fragestellung betrifft, zeigt die Antwort doch, wie selbstverständlich im deutschen internationalen Umweltverwaltungsrecht das strikte Territorialitätsprinzip ist. Erst durch Versuche der EU, ihr Umweltrecht extraterritorial anzuwenden, scheint sich ein Wandel anzubahnen. Die Begründung der frühen Entscheidungen stellt recht unreflektiert auf das strenge Territorialitätsprinzip ab. Im Lichte der Entwicklungen im internationalen Wirtschaftsrecht kann dieses aber nicht mehr als Rechtsbegriff mit Steuerungskraft, sondern nur noch als Normalbefund gelten.20 Das inländische Schutzbedürfnis erscheint evident. Wie im Kartellrecht ist von der Schutzrichtung des Umweltrechts her nicht entscheidend, in welchem Staat die beeinträchtigende Handlung vorgenommen worden ist, sondern in welchem Staat die beeinträchtigenden Wirkungen zu spüren sind.

Association of America et al., NVwZ 2012, 226, Tz. 125 – 130; Rs. C-188/07, Commune de Mesquer/Total, Rs. C-188/07, Slg. 2008, I-4501 Tz. 72, 74, 78, 82, 89. 16 Anton Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990, S. 97 f.; Rehbinder, Fn. 8, Rdnr. 73 f.; Kment, Fn. 4, S. 150 ff.; Christoph Ohler, Die Kollisionsordnung des allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 355 ff. (der aber für bestimmte Einschränkungen plädiert). 17 BGH, DVBl. 1979, 226; VGH München, UPR 1984, 130. 18 Vgl. Menzel, Fn. 14, S. 791; Kment, Fn. 4, S. 186 ff. 19 BVerwGE 75, 285, 287; OVG Lüneburg, NVwZ 2007, 254, 255 f.; NVwZ 2011, 1073, 1074 f.; ebenso die h.L; Menzel, Fn. 14, S. 649 ff. m.w.Nachw. 20 Menzel, Fn. 14, S. 787 ff.

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Einseitiges Handeln nach dem Auswirkungsprinzip kann auch Motor für internationale kooperative Regelungen sein, wenngleich dies nicht immer der Fall sein muss.21 Allerdings gibt es gewichtige sachliche Argumente, die gegen Parallelverfahren im Verursacher- und Opferstaat sprechen.22 Im Gegensatz zu Wettbewerbsbeschränkungen sind grenzüberschreitende Umweltbelastungen und Risikoexpositionen regelmäßig nicht auf das Nachbarland gezielt (wenngleich dies auch nicht völlig ausgeschlossen ist). Schon dieser Unterschied zum Wirtschaftsrecht legt Zurückhaltung nahe. Vor allem setzen die Begrenzung der Vollzugshoheit auf das eigene Staatsgebiet und Gründe der Verwaltungsökonomie und Verfahrensgerechtigkeit der Durchführung von „extraterritorialen“ Genehmigungsverfahren im Opferstaat Grenzen. Die Verfahrensdurchführung gegenüber einer ausländischen Partei, die Sachverhaltsermittlung im Ausland, die ggf. nach materiellem Recht erforderliche Abwägung mit ausländischen Belangen und die Durchsetzung von Auflagen im Ausland stoßen hier regelmäßig auf erhebliche Schwierigkeiten. Schließlich vermeidet eine Selbstbeschränkung des Opferstaates auch mögliche Konflikte mit dem Verursacherstaat. Im Umweltrecht kann die Rolle als Opfer- und als Verursacherstaat je nach Konstellation wechseln. Durch die große Reichweite grenzüberschreitender und erst recht globaler Umweltbelastungen kann die extraterritoriale Anwendung des Umweltrechts uferlos werden und auch entsprechende Reaktionen ausländischer Staaten in reziproken Situationen hervorrufen. Immerhin begegnet uns eine vergleichbare Konstellation auch im Kartellrecht. Hatten zunächst die Vereinigten Staaten das Auswirkungsprinzip sozusagen für sich „gepachtet“, sind später Europa, Australien, Kanada und einige asiatische Staaten nachgezogen. Ein „Regulierungschaos“ ist hierdurch nicht entstanden. Insgesamt erscheint bei dieser Sachlage die Zurückhaltung der Verwaltungsbehörden und Gerichte, das Auswirkungsprinzip ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung aus dem Schutzzweck der umweltrechtlichen Sachnormen abzuleiten, berechtigt. Jedenfalls solange es Alternativen für einen effektiven Schutz inländischer Interessen gibt, spricht auch rechtspolitisch einiges dafür, auf den Eigenschutz durch extraterritoriale Anwendung des eigenen Umweltrechts nach dem Auswirkungsprinzip möglichst zu verzichten. Der Gesetzgeber mag im Einzelfall bei besonderem Regelungsbedarf anders entscheiden.23

21 Menzel, Fn. 14, S. 290; Shi-Ling Tsu / Austen L. Parrish, Litigating Canadian-US Transboundary Harm: International Environmental Lawmaking and the Threat of Extraterritorial Reciprocity, Virginia Journal of International Law 48 (2007), 1, 57; a.M. Parrish, Fn. 14, S. 871 ff. 22 Vgl. Menzel, Fn. 14, S. 767 f., 775 f.; Ohler, Fn. 16, S. 346 ff.; Parish, Fn. 14, S. 856 ff.; Nash, Fn. 14, S. 178 ff. 23 So auch Menzel, Fn. 14, S. 791 ff.

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III. Grenzüberschreitende Schutzpflichten als zentraler extraterritorialer Schutzmechanismus 1. Grundlagen Eine Alternative zum Auswirkungsprinzip stellen insbesondere grenzüberschreitende Schutzpflichten dar, die dem Verursacherstaat die Rolle zuweisen, sozusagen stellvertretend für den Opferstaat für den Schutz von Personen zu sorgen, die im Opferstaat von grenzüberschreitenden Umweltbelastungen betroffen sind. Grundlage solcher Schutzpflichten ist neben dem Verursacherprinzip vor allem die erstmals im Trail Smelter-Fall entwickelte völkerrechtliche Pflicht zur Schadensverhütung,24 die in der Folge in weiteren Entscheidungen und in zahlreichen, insbesondere regionalen, völkerrechtlichen Konventionen und Deklarationen zum Ausdruck gelangt ist. Auch eine Begründung über die Grundrechte ist denkbar.25 Im Unterschied zum völkerrechtlichen Nachbarrecht, das im Verhältnis zwischen den Staaten gilt und mit den Problemen zwischenstaatlicher Beziehungen beim Schadensausgleich behaftet ist, liegt das Besondere der grenzüberschreitenden Schutzpflicht darin, dass sie als Reflex der Pflicht des Verursacherstaates Rechte betroffener Bürger im Opferstaat begründet. Diese Herabzonung auf das Staat-Bürger-Verhältnis und das Verwaltungsrecht dürfte letztlich zu einer Effektivierung des Schutzes führen. Extraterritoriale Schutzpflichten werfen im Übrigen nicht die gleichen Wertungsprobleme auf wie die Anwendung des Auswirkungsprinzips. Bei abstrakter Betrachtung könnte man zwar davon sprechen, dass hier dem Opferstaat der Schutz des Verursacherstaates aufgedrängt wird. Durch die Verursachung im Inland wird aber ein hinreichender territorialer Bezug begründet, der es auch völkerrechtlich gestattet und vielfach sogar gebietet, Vorkehrungen für den Schutz des Opferstaates und seiner Bürger zu treffen.26 2. Anwendungsbeispiele In Europa sind grenzüberschreitende Schutzpflichten überwiegend im Völkervertragsrecht, im Unionsrecht und im dieses umsetzenden („europäisierten“) internationalen Umweltverwaltungsrecht der Mitgliedstaaten in Form einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung angelegt.27 Hinzuweisen ist insbe24 Trail Smelter Arbitration, 14. April 1938 und 11. März 1941, RIAA III (1949), 1905; International Court of Justice, Lake Lanoux Arbitration (France vs. Spain), 16. November 1957, RIAA XII (1963), 281 Tz. 22; International Court of Justice, Gabcˇikovo-Nagymaros Project (Hungary vs. Slovakia), ICJ Reports 1997, 7 Tz. 85; ders., Case concerning Pulp Mills on the river Uruguay (Argentina v. Uruguay), case 135/2006, 20. April 2010, Tz. 193; Third Restatement of the Foreign Relations Law of the United States, § 601 (1987); Astrid Epiney, Das „Verbot erheblich beeinträchtigender Umweltbelastungen“, AVR 33 (1995), 309; Ulrich Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 2000, Rdnr. 117. 25 Vgl. Kment, Fn. 4, S. 182 ff. 26 Vgl. BVerwGE 75, 285, 288. 27 Dazu insbesondere Kment, Fn. 4, S. 300 ff.; Menzel, Fn. 14, S. 749 ff.; Wolfgang Durner, Internationales Umweltverwaltungsrecht, in: Möllers/Vosskuhle/Walter, Fn. 4, S. 121, 156 ff.

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sondere auf die aufgrund der Aarhus-Konvention novellierte Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (RL 85/337, neu gefasst durch RL 2011/92) und die Richtlinie über die strategische Umweltprüfung (RL 2001/42), die in Deutschland in den §§ 8, 9a und 14j UVPG umgesetzt worden sind. Zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen, ergeben sich die materiellen Schutzpflichten aus dem Zusammenspiel zwischen der grenzüberschreitenden Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung und der materiellen Berücksichtigungspflicht hinsichtlich der Ergebnisse der betreffenden Beteiligung. Die Berücksichtigungspflicht knüpft ausdrücklich auch an die Ergebnisse der grenzüberschreitenden Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung an (§§ 11, 12, 14k UVPG). Hinzukommt die grenzüberschreitende Öffentlichkeitsund Behördenbeteiligung nach der Aarhus-Richtlinie (RL 2003/35) und dem deutschen Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz, die insbesondere für Anlagen gilt, die der IVU-Richtlinie (RL 2008/1) bzw. der neuen Industrieanlagen-Richtlinie (RL 2010/75) unterliegen (§ 11a der 9. BImSchV). Insoweit ist nach dem Sinn der Beteiligungsvorschriften ebenfalls eine implizite Berücksichtigungspflicht anzunehmen. Im Verhältnis zwischen der EU und Nachbarstaaten, die nicht der EU angehören, wie etwa der Schweiz, Norwegen und einzelnen ost- und südosteuropäischen Staaten, bestehen entsprechende völkerrechtliche Pflichten nach der Espoo-Konvention und dem (noch nicht in Kraft getretenen) Protokoll über die strategische Umweltprüfung, die ebenfalls durch die genannten innerstaatlichen Vorschriften umgesetzt worden sind. Praktische Probleme bei der Verfahrensdurchführung einschließlich der Ermittlung grenzüberschreitender Auswirkungen28 werden durch die vorgeschriebene grenzüberschreitende Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung, Amtshilfe nach § 8a Abs. 2 VwVfG sowie bilaterale Zusammenarbeit erheblich reduziert. Allerdings kann eine Berücksichtigung der Ergebnisse der Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung nur im Rahmen des materiellen Umweltrechts des Verursacherstaates erfolgen. Es bedarf also einer „Rezeption“ der grenzüberschreitenden Schutzpflicht durch das autonome nationale Recht. Nach herkömmlichem Verständnis, wie es unter anderen Vorzeichen auch den genannten Flughafenentscheidungen29 zugrunde liegt, würde man die in den deutschen Umweltgesetzen verwendeten, geographisch neutral formulierten Genehmigungs- und Einschreitensvoraussetzungen und Abwägungserfordernisse in dem Sinne auszulegen haben, dass nur inländische Interessen geschützt sind.30 Seit der Emsland-Entscheidung des BVerwG aus dem Jahre 198631 hat sich jedoch im Atom-, Immissionsschutz-, Gentechnik- und Infrastrukturanlagenrecht die Auffassung durchgesetzt, dass die betreffenden Gesetze Nachbarn im Ausland in gleicher Weise schützen wie inländische Nachbarn und dass die ausländischen Nachbarn in gleichem Umfang auch eine Klagebefugnis 28

Vgl. die Hinweise bei Durner, Fn. 27, S. 158. Fn. 17. 30 So noch Thomas Oppermann / Michael Kilian, Gleichstellung ausländischer Grenznachbarn im deutschen Umweltverfahren?, 1981, S. 95 ff., 102 ff.; Kloepfer, DVBl. 1984, 245, 248 f. (vgl. aber ders., Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 9 Rdnr. 158 f.). 31 BVerwGE 75, 285. 29

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vor den deutschen Verwaltungsgerichten besitzen.32 Auch die Verbandsklage ist nunmehr für ausländische Verbände eröffnet (§ 2 Abs. 1, 3 UmwRG). Es ist nicht ganz klar, ob mit der Entwicklung grenzüberschreitender Schutzpflichten lediglich gemäß Art. 25 GG völkerrechtlichen Pflichten Rechnung getragen wird.33 Dagegen spricht, dass die völkerrechtliche Pflicht zur Schadensverhütung unscharf ist, durch Erheblichkeits- und Sorgfaltsanforderungen relativiert wird und nicht ohne weiteres in den Vorsorgebereich hineinreicht. Man kann sich aber auf jeden Fall auf den Grundsatz der offenen Staatlichkeit und internationalen Zusammenarbeit nach Art. 24 GG (völkerrechtsfreundliche Auslegung) stützen. In ähnlicher Weise, wenngleich auf der Grundlage einer überwiegend objektiven Rechtsschutzkonzeption, stehen auch die französischen und niederländischen Verwaltungsgerichte34 auf dem Standpunkt, dass bei anlagenbezogenen Entscheidungen die Umweltauswirkungen im Ausland zu berücksichtigen sind und ausländische Nachbarn Klagerechte besitzen. Auch insoweit dienen die spätestens in Umsetzung der Aarhus-Richtlinie nach ausländischem Recht vorgeschriebene grenzüberschreitende Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung sowie die Unterstützungspflicht nach §§ 9b, 14j Abs. 3 UVPG, § 8a Abs. 1 VwVfG der Effektivierung der grenzüberschreitenden Schutzpflicht. 3. Offene Fragen Allerdings gibt es einige offene Fragen. Offen ist insbesondere, wie bei unterschiedlichen Schutzstandards im Verursacher- und Opferstaat zu verfahren ist. Es liegt nahe, dass man in solchen Situationen, ähnlich wie im nationalen Planungsund Immissionschutzrecht beim Aufeinandertreffen von Gebieten mit unterschiedlichem Schutzniveau, einen Zwischenstandard entwickeln muss, der die beiderseitigen Interessen zu einem Ausgleich bringt. Diese Lösung wird aber von den deutschen Gerichten abgelehnt.35 Danach werden höhere deutsche Schutzstandards auch zugunsten ausländischer Grenznachbarn angewandt, die so einen höheren Schutz erhalten, als ihnen bei einer inländischen Anlage zuteil würde. Andererseits wird schutzintensiveres ausländisches Recht im Opferstaat nicht berücksichtigt. Die Lösung steht zwar – aus der Perspektive des Verursacherstaates – im Einklang mit dem Dis32 Insbesondere BVerwGE 123, 322, 330 ff.; BVerwGE 132, 151 Rn. 16, 18; BVerwGE 136, 332 Rn. 23; OVG Saarlouis, NVwZ 1995, 97; OVG Münster, UPR 2007, 101; OVG Lüneburg, NVwZ 2007, 354; NVwZ 2011, 1073, 1074 f.; dazu Kment, Fn. 4, S. 279 ff., 369 ff.; Menzel, Fn. 14, S. 746 ff., 153 ff.; vgl. aber EuGH, Rs. C-205/08, Umweltanwalt von Kärnten/Kärntner Landesregierung, Slg. 2009, I-11525 Tz. 57. 33 So aber BVerwGE 132, 151 Rn. 20 f.; anders Menzel, Fn. 14, S. 287, 767, 775. 34 Conseil d’État, 23. Dezember 1981, Recueil des décisions du Conseil d’État 1981, 484; 27. Mai 1991, RJE 1991, 519; Tribunal administratif Strasbourg, 27. Juli 1983, RJE 1983, 344; 3. August 1989, RJE 1990, 125 (Frankreich); Vorzitter Afdeling Rechtssprak Raad van State, 20. Februar 1985, Milieu en Recht 1986, 19 (Niederlande). 35 BVerwGE 75, 285, 287; OVG Lüneburg, NVwZ 2007, 354, 355 f.; NVwZ 2011, 1073, 1074 f.

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kriminierungsverbot, führt aber zu Schutzlücken, wenn der Nachbarschutz im Verursacherstaat weniger entwickelt ist als im Opferstaat; aus der Sicht der dort Betroffenen ist sie dann diskriminierend.36 Hier offenbart sich, dass die transnationale Schutzpflicht nicht rein formal verstanden werden kann, sondern inhaltlich aufgeladen werden muss. Die Frage hat – als Vorfrage in einem zivilrechtlichen Rechtsstreit um Unterlassung des Betriebs eines ausländischen Atomkraftwerks – im TemelínFall des EuGH37 eine Rolle gespielt. Der EuGH ist den Vorstellungen der österreichischen Kläger, dass die deutschen Sicherheitsanforderungen als Zwischenstandards zwischen österreichischem Verbot der Kernenergie und tschechischen Sicherheitsanforderungen für die Anerkennungsfähigkeit der tschechischen Anlagenzulassung zugrunde zu legen seien, nicht gefolgt. Maßgeblich dafür war allerdings, dass der EuGH die Übereinstimmung des Kernkraftwerks mit den harmonisierten Anforderungen der EU feststellte. Nach Auffassung des Generalanwalts Poiares Maduro38 ist eine angemessene Berücksichtigung der Belange der ausländischen Grenznachbarn Voraussetzung für die Pflicht zur Anerkennung ausländischer Anlagenzulassungen. Dies bedeutet aber auch, dass bei einem Schutzgefälle vom Opferstaat zum Verursacherstaat eine materielle Anreicherung der grenzüberschreitenden Schutzpflicht erfolgen muss. Grobe Maßstäbe hierfür lassen sich insbesondere aus den wasserrechtlichen Konventionen ableiten.39 Realistischer Weise wird man einräumen müssen, dass der durch grenzüberschreitende Schutzpflichten vermittelte Schutz unvollkommen ist und der Konkretisierung bedarf. Darüber hinaus dürfte eine Reihe von Faktoren dazu führen, dass im Zweifel doch eher inländische Interessen bevorzugt werden. Zu nennen sind das übliche „Heimwärtsstreben“ von Behörden und Gerichten, die schwache materiellrechtliche Wirkkraft der UVP, die nach wie vor bestehenden Informationsdefizite und geringerer Druck durch ausländische Betroffene in grenzüberschreitenden Konstellationen. Dies bedeutet aber auch, dass es im Einzelfall einen Bedarf für Selbstschutz des Opferstaates nach dem Auswirkungsprinzip geben kann. IV. Auffangfunktion des Auswirkungsprinzips In neuerer Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass das Auswirkungsprinzip im internationalen Umweltrecht eine größere Bedeutung gewinnen könnte. Schrittmacher ist die EU, die, ähnlich wie früher die Vereinigten Staaten in der Wettbewerbspolitik, zunehmend darangeht, die Rolle eines Lehrmeisters für aktive Umweltpolitik hinsichtlich globaler Umweltprobleme zu übernehmen. Es gibt aber auch davon un-

36 Vgl. Thomas W. Merrill, Golden Rules for Transboundary Pollution, Duke L.J. 46 (1997), 931, 1007 ff. 37 EuGH, Fn. 6, Tz. 110 – 136. 38 Schlussanträge, Rs. C-115/08, Fn. 6, Tz. 17, 19, 23. 39 Ferner: ICJ, Pulp Mills-Fall, Fn. 24, Tz. 197, 204 f., 223.

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abhängige Anwendungsbeispiele, sozusagen die „kleine Münze“ des Auswirkungsprinzips. 1. Die „kleine Münze“ des Auswirkungsprinzips Als Beispiel für die „kleine Münze“ des Auswirkungsprinzips kommen insbesondere Einwirkungen auf den Betrieb ausländischer Flughäfen durch nationale Regelungen über die Routen, Zeiten und Höhen von Ab- und Anflügen von und zu den Flughäfen auf inländischem Territorium in Betracht.40 Diese Frage ist insbesondere im Fall des Flughafens Zürich aktuell geworden.41 Indem die Bundesrepublik Deutschland derartige Regelungen für Überflüge über das nationale Territorium trifft, regelt sie zwar vordergründig nur ein Verhalten im Inland und übt ihre Territorialhoheit im Sinne des strikten Territorialitätsprinzips aus. Jedoch haben diese Regelungen wegen der Untrennbarkeit der in- und ausländischen Segmente der Ab- und Anflüge und der wetterbedingten und topographischen Begrenzungen der Start- und Landeoperationen auf Flughäfen erhebliche Reflexwirkungen für den Betrieb des ausländischen Flughafens als Quelle der Umweltbelastungen. In der Sache kann man daher auch hier von einer Anwendung des Auswirkungsprinzips sprechen. Sieht man dies so, stellt sich dann auch die Frage nach den Schranken des Auswirkungsprinzips. Jedenfalls soweit dies, wie bei der Festlegung von Flugrouten und sonstigen Überflugbeschränkungen, materiellrechtlich möglich ist, dürfte eine Rücksichtnahme auf die ausländischen Interessen im Rahmen der Abwägung geboten sein.42 2. Auswirkungsprinzip und globale Umweltbelastungen Von weitaus größerer Tragweite ist die extraterritoriale Anwendung des EU-Umweltrechts auf globale Umweltprobleme, die in neuerer Zeit zunehmende Bedeutung gewinnt. Zum Teil handelt es sich dabei um Handelsregelungen, die in erster Linie nach WTO-Recht zu beurteilen sind und uns hier nicht näher beschäftigen sollen. Von Interesse im Rahmen der hier diskutierten Fragestellung sind jedoch die Versuche der EU, auf der Grundlage von Minimalkontakten zum EU-Inland bestimmte umweltbelastende Tätigkeiten im Ausland oder in staatsfreien Gebieten, die sich in der EU auswirken, ihrer Regulierung zu unterwerfen.

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Zur extraterritorialen Reichweite der Umwelthaftungsrichtlinie (RL 2004/35) s. Rehbinder, Fn. 1, S. 142 ff. 41 Vgl. Tobias Jaag, Der Flughafen Zürich im Spannungsfeld von lokalem, nationalem und internationalem Recht, in: Gérard Hertig / Urs Nef / Alexander Ruch (Hrsg.), Das Recht in Raum und Zeit, FS Martin Lendi, 1998, S. 203; Diemut Majer, Der deutsch-schweizerische Fluglärmstreit, EurUP 2004, 44; zum Flughafen Salzburg s. Fn. 17. 42 So grundsätzlich auch BVerwGE 123, 322, 330 f.; VGH Mannheim, UPR 2006, 312, 313; ferner EuG, Rs. T-319/05, Schweiz/Kommission, Slg. 2010, II-4265 Tz. 133 – 192; bestätigt durch EuGH, 7. 3. 2013, Rs. C-547/10 P, Schweiz/Kommission, Tz. 98 – 109, 120 – 124 (Beurteilung nach EU-Recht).

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a) Die Erstreckung des EU-Emissionshandels auf den internationalen Luftverkehr Paradigmatisch ist der Emissionshandel für Treibhausgase. Die Richtlinie 2008/ 10143 erstreckt das seit 2005 geltende Emissionshandelssystem für Treibhausgase aus Anlagen der Energieerzeugung und des produzierenden Gewerbes (ganz überwiegend CO2) auf den Luftverkehr. Ihr liegt das Ziel zugrunde, dass die Flugzeugbetreiber ihre nicht unbeträchtlichen Treibhausgasemissionen um 3 % und später um 5 % reduzieren sollen. Die Richtlinie ist auch auf internationale Flüge und die Treibhausgasemissionen, die auf diesen Flügen im Ausland oder in hoheitsfreien Gebieten verursacht worden sind, anwendbar. Voraussetzung ist, dass der Flug von einem Flughafen in einem EU-Mitgliedstaat startet oder dort landet. Die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem allgemeinen Völkerrecht ist umstritten.44 Die Regelung ist auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Kollision mit der Chicago-Konvention über die internationale Zivilluftfahrt sowie dem bilateralen „Open Skies“-Abkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten zu bewerten. In diesem Bereich liegen eigentlich die größeren Rechtsprobleme, die hier aber nicht diskutiert werden können.45 b) Hafenstaatsjurisdiktion und Auswirkungsprinzip Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass mit der Anknüpfung an den Start oder die Landung in der EU ein territorialer Bezug zur EU hergestellt wird. Die Richtlinie nutzt die traditionelle Hafenstaatsjurisdiktion, die im Kern territoriale Jurisdiktion darstellt, als Rechtsgrundlage für die Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt. 43 Zur Richtlinie vgl. Uwe M. Erling, Die Einbeziehung des Luftverkehrs in den EUEmissionshandel, UPR 2006, 5; Olaf Reidt, Die Einbeziehung des Luftverkehrs in das europäische Emissionshandelssystem, in: Jan Ziekow (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungs- und Umweltrechts, 2011, S. 113; Claus Pegatzky / Benjamin Nixdorf, Aktuelle Entwicklungen beim Emissionshandel für die Luftfahrt, NVwZ 2009, 1395. Zu dem Parallelvorhaben der Einbeziehung des internationalen Schiffsverkehrs in den Emissionshandel, das ähnliche Problem aufwirft, s. Horn, NuR 2012, 759, 762 ff.; Enderle / Erler, EurUP 2012, 162, jeweils m.w.Nachw. 44 Dazu Horn, NuR 2012, 759, 760 ff.; Gisbert Schwarze, Including Aviation into the European Union’s Emissions Trading Scheme, EELR 16 (2007), 10; Ruwantissa Abeyratne, The New Emissions Trading Scheme: Airlines – Is it Extraterritorial?, Envt’l Pol. & Law 38 (2008), 155; Ron C. N. Wit et al., Giving Wings to Emission Trading, CE Delft Report, DG Environment, No. ENV.C.2/ETU/2004/00747, 2004, S. 173 – 175; Eckhard Pache, Gutachten für das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, April 2008, zugänglich über www.bmu.de, Klimaschutz – Emissionshandel. 45 Dazu EuGH, Rs. 366/10, The Air Transport Association of America et al., NVwZ 2012, 226, Tz. 57 – 72, 79 – 100, 131 – 156; Pache, Fn. 44, S. 14 – 23, 29 – 31 (mit unterschiedlicher Begründung Verstoß ablehnend); Abeyratne, Fn. 44, S. 158 ff.; Erling, UPR 2006, 5, 7 (Verstoß bejahend).

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Man wird auch nicht in Abrede stellen können, dass die betreffenden Fluggesellschaften durch Starts und Landungen in der EU hier eine Geschäftstätigkeit entfalten. Der EuGH46 hat in einem Ende 2011 ergangenen Urteil, in dem es unter anderem um die Vereinbarkeit des Emissionshandels im internationalen Luftverkehr mit dem allgemeinen Völkerrecht ging, festgestellt, dass die EU mit der betreffenden Regelung lediglich in zulässiger Weise ihre territoriale Jurisdiktion ausübe. Jedoch erscheint es durchaus zweifelhaft, ob der allein durch Starts und Landungen in der EU hergestellte territoriale Bezug zur EU nicht zu schwach ist. Das Emissionshandelssystem erfasst auch Aktivitäten und Auswirkungen, die im Ausland erfolgen. Es erstreckt sich auf den gesamten internationalen Flug und damit auch auf die Abschnitte des Fluges, die nicht über dem nationalen Hoheitsgebiet eines EUMitgliedstaates, sondern über dem Territorium eines Drittstaates oder über hoheitsfreien Gebieten stattfinden. Der Umfang und die Grenzen der Hafenstaatsjurisdiktion sind alles andere als klar. Herkömmlicher Weise kann der Hafenstaat als Bedingung für die Zulassung von Schiffen zu seinen Häfen den Betreibern Sicherheits- und Umweltanforderungen auferlegen, die dem Schutz der internen Gewässer im Hafenbereich dienen. Ähnliche Befugnisse bestehen im Luftverkehr. Man kann mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass auch in anderen Fällen ein zusätzlicher territorialer Bezug zum Hafenstaat bestehen muss, bei einem Verhalten außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets etwa dahingehend, dass das Verhalten schädliche Wirkungen auf den Hafenstaat haben muss.47 Die Jurisdiktionsausübung dürfte daher zumindest dann legitim sein, wenn man sich zusätzlich auf das Auswirkungsprinzip stützen kann. Geht man hiervon aus, so ist festzustellen, dass die EU keineswegs eine Art globaler Hafenstaatsjurisdiktion für sich in Anspruch nimmt. Vielmehr begrenzt das Erfordernis eines Starts oder einer Landung in der EU die Regulierung auf solche vom Flugverkehr ausgehende Wirkungen auf das globale Klima, die einen Bezug zur Geschäftstätigkeit der Fluggesellschaften in und mit Europa besitzen. Allerdings erfasst das Auswirkungsprinzip im Kern nur grenzüberschreitende Umweltbelastungen. Eine Anwendung auf globale Umweltbelastungen stellt im Hinblick auf die entstehenden Abgrenzungs- und Zurechungsprobleme eine nicht unproblematische Ausdehnung dar. Globale Umweltbelastungen sind aber letztlich nur eine Sonderform grenzüberschreitender Umweltbelastungen. Ähnlich wie beim Schutz wandernder Arten48 erscheint die Anwendung des Auswirkungsprinzips grundsätzlich legitim, 46 EuGH, Air Transport Association, Fn. 45, Tz. 125 – 130; in Tz. 129 wird allerdings beiläufig auf das Auswirkungsprinzip hingewiesen. 47 So für das Seerecht, insbesondere Art. 211 Abs. 3 SRÜ: George Kasoulides, Port State Control and Jurisdiction. Evolution of the Port State Regime, 1993, S. 32 – 34; Robin Churchill/ Alan Lowe, The International Law of the Sea, 3. Aufl. 1999, S. 62, 348; im Ergebnis auch Molenaar, Fn. 14, S. 103 – 104, 107 – 108, 518; vgl. Bianca Dormuth, Befugnisse des Hafenstaates, in: Christian Tomuschat (Hrsg.), Schutz der Weltmeere gegen Ölunfälle, 2005, S. 93 f., 111. 48 So die US Shrimps-Fälle, Fn. 15.

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wenn und soweit Emissionen in einem Staat zu globalen Umweltbelastungen führen, die schädliche Auswirkungen auf das Territorium eines anderen Staates haben.49 Die Unteilbarkeit z. B. von Klimaänderungen und die Eigenschaft des Weltklimas als globales Gut bedeuten nicht, dass kein Staat befugt wäre, mangels internationalen Konsenses einseitige Maßnahmen zu seinem Eigenschutz zu treffen.50 Man muss daher zur Rechtfertigung solcher Maßnahmen nicht das paternalistische Konzept der Treuhandstellung jedes Staates und damit auch der EU für das globale Klima bemühen,51 wenngleich es der Verstärkung der Legitimationsbasis dienen mag. c) Grenzen des Auswirkungsprinzips Allerdings bedarf die Ausübung der Jurisdiktion unter Anknüpfung an das Auswirkungsprinzip bei globalen Umweltbelastungen einer Begrenzung, um eine uferlose Anwendung inländischen Rechts zu vermeiden. Ansonsten könnte jeder Opferstaat bei sich ubiquitär ausbreitenden Emissionen praktisch gegen jedweden Verursacher in der ganzen Welt vorgehen.52 Die im Kern allgemein anerkannten Grenzen des Auswirkungsprinzips53 dürften im Fall des EU-Emissionshandels in der internationalen Luftfahrt nicht überschritten sein. Die Treibhausgasemissionen, die durch internationale Flüge mit Start oder Landung in der EU außerhalb des europäischen Luftraums verursacht werden, sind für das globale Klima durchaus erheblich. Europa leidet unter den Folgen des Klimawandels wie jeder andere Staat außerhalb Europas. Die in Europa zu erwartenden schädlichen Wirkungen sind unmittelbar, wesentlich und nach wissenschaftlicher Erkenntnis vorhersehbar. Die Anknüpfung an den gesamten internationalen Flug mit Start oder Landung in der EU stellt eine vernünftige Anknüpfung dar, die die Regelung auf Wirkungen beschränkt, die durch Geschäftstätigkeit in und mit der EU bedingt sind und in deren Verantwortungsbereich liegen.54

49 Rehbinder, Fn.1, S. 128 – 130; Parrish, Fn. 14, S. 395 – 399; Francioni, Fn. 14, S. 122, 123; Pache, Fn. 44, S. 75 – 84; Schwarze, Fn. 44, S. 13; Marco Athen, „Hinterm Horizont geht’s weiter“, EuZW 2012, 337, 340; Enderle / Erler, EurUP 2012, 162, 169 f.; wohl auch Wolfgang Durner, Common Goods, 2001, S. 314; zweifelnd Sands/Peel, Fn. 14; Horn, NuR 2012, 759, 760 f., 763 f. 50 Pache, a.a.O.; Schwarze, a.a.O.; Enderle / Erler, EurUP 2012, 162, 169 f.; auch Abeyratne, Fn. 44, S. 158; a.M. Aexander Proelß, in: Wolfgang Graf Vitzthum, Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, Rdnr. 59 ff.; Nash, Fn. 14, S. 179; Horn, NuR 2012, 759, 760. 51 So Peter Sand, Public Trusteeship for the Oceans, in: Tarik Malick Ndiaye / Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Law of the Sea, Environment and Settlement of Disputes, FS. Thomas Mensah, 2007, S. 521 – 543. 52 Vgl. Nash, Fn. 14, S. 179. 53 s. näher oben II. 3. 54 Vgl. Appellate Body Report, US – Measures Concerning the Importation, Marketing and Sale of Tuna Products, WT/DS381/AB/R, 16. Mai 2012, Tz. 337, 342.

Extraterritoriale Rechtsanwendung im Umweltrecht

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Dass die EU-Regelung mit unverhältnismäßigen Belastungen für ausländische Staaten und deren Unternehmen verbunden sein könnte, ist unwahrscheinlich.55 Es gibt keine formale individuelle Verpflichtung der Betreiber zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen, vielmehr beruht lediglich die Zuteilung der Emissionsberechtigungen auf zwingenden Reduzierungszielen hinsichtlich der gesamten Emissionen. Es ist zu erwarten, dass aufgrund der überwiegend kostenlosen Zuteilungen, des technischen Fortschritts, der Breite des Marktes und der Verfügbarkeit von Berechtigungen aus den flexiblen Kyoto-Mechanismen eine ausreichende Zahl von Berechtigungen zur Verfügung stehen wird oder fehlende Berechtigungen auf dem Markt erworben werden können. Soweit die administrative Zuteilung von Berechtigungen nicht ausreicht, ähnelt das Emissionshandelssysten in der Wirkungsweise einem Abgabensystem,56 das zwar eine gewisse Zwangswirkung hat, aber regelmäßig weniger belastend ist als eine ordnungsrechtliche Verpflichtung. Eine Wachstumsreserve trägt den Belangen neuer Fluggesellschaften und bestehender Fluggesellschaften mit Expansionswünschen Rechung. Ferner sind kleine Fluggesellschaften ausgenommen, was den Entwicklungsstaaten zugute kommen dürfte. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Intervention in die Interessen von Drittstaaten durch die Öffnungsklausel des Art. 25a Abs. 1 der Emissionshandels-Richtlinie abgemildert wird. Die Regelung berücksichtigt die Möglichkeit, dass ein Drittland selbst Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgase durch die von der Richtlinie erfassten Flüge trifft. In diesem Fall soll die Kommission in Konsultationen mit dem betreffenden Staat eintreten und die Möglichkeit prüfen, ein optimales Zusammenspiel zwischen den europäischen und ausländischen Maßnahmen zu erreichen; dazu gehören auch mögliche Ausnahmeregelungen. Dadurch können Doppelbelastungen vermieden und es kann der primären Zuständigkeit des Staates der Registrierung Rechnung getragen werden. Insgesamt berücksichtigt die Richtlinie auf materieller Ebene die Interessen der Drittländer in ausreichender Weise.57 Soweit man dem Gebot der Interessenabwägung im Rahmen des Auswirkungsprinzips auch eine prozedurale Dimension zuschreibt,58 ist darauf hinzuweisen, dass nach Artikel 2 Abs. 2 der Klimarahmenkonvention die ICAO das Problem des Klimaschutzes in der internationalen Zivilluftfahrt angehen soll. Jedoch hat sich die ICAO trotz erheblicher Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten – die EU selbst ist nicht Mitglied – über 15 Jahre lang hierzu als unfähig erwiesen. Bei dieser Sachlage können einseitige Lösungen kaum als unvernünftig im Sinne des Abwägungsgebots im Rahmen des Auswirkungsprinzips angesehen werden.59 Erst unter dem Eindruck der Verabschiedung der Richtlinie 2008/101 hat in der ICAO ab 2010 55

s. die Folgenabschätzungen in KOM (2006) 818 endg., SEK (2006) 1684. Pache, Fn. 44, S. 14 ff., 64 ff.; auch Horn, NuR 2012, 759, 762 f.; a.M. EuGH, Air Transport Association, Fn. 45, Tz. 139 – 147 zu Art. 11 Abs. 1 des Open Skies Agreement zwischen der EU und den Vereinigten Staaten. 57 So auch Pache, Fn. 44, S. 78 – 84; a.M. Abeyratne, Fn. 44, S. 158. 58 Vgl. US Shrimps II, Fn. 15, Tz. 166 ff., 172 ff., 186; US Shrimps III, Fn. 15, Tz. 122 ff. 59 A.M. Abeyratne, Fn. 44, S. 158 – 160. 56

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Eckard Rehbinder

ein langsamer Umdenkungsprozess eingesetzt.60 Schließlich hat die Europäische Kommission – nicht zuletzt unter dem wirtschaftlichen Druck maßgeblicher Drittstaaten – Ende 2012 vorgeschlagen, das Inkrafttreten des EU-Emissionshandelssystems in der internationalen Zivilluftfahrt um ein Jahr auszusetzen, um doch noch eine Entscheidung der ICAO über ein die ganze Welt umfassendes Emissionshandelssystem im Jahre 2013 zu ermöglichen.61 So könnte die unilaterale Anwendung des Auswirkungsprinzips letztlich zum Motor eines Konsenses über eine internationale Regelung werden.62 V. Schlussfolgerungen Insgesamt erweist sich das Konzept extraterritorialer Schutzpflichten des Verursacherstaates als zentraler Mechanismus für die Bewältigung grenzüberschreitender Umweltbelastungen im Umweltverwaltungsrecht. Hier hat es in der jüngeren Vergangenheit erhebliche rechtliche und praktische Fortschritte gegeben. Das Konzept bedarf allerdings noch einer inhaltlichen Anreicherung und eines Belastungstests hinsichtlich seiner Effektivität. Dem Auswirkungsprinzip kommt eine Auffangfunktion für den Eigenschutz des Opferstaates zu. Seine Anwendung im Wege der Auslegung umweltrechtlicher Sachnormen ist allerdings nur ausnahmsweise zu erwägen. Im Übrigen wird es ähnlich wie ursprünglich im Kartellrecht künftig in erster Linie von mächtigen internationalen Akteuren wie der EU, insbesondere zur Bewältigung globaler Umweltprobleme, genutzt werden.

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Vgl. ICAO Resolution A37 – 19, Ziff. 18 (2010); ICAO Council Resolution vom 9. November 2012, www.icao.int