Befunde und Entwürfe: Zur Entwicklung der ungarischen marxistischen Literaturkritik und Literaturtheorie (1900–1945) [Reprint 2022 ed.] 9783112617687, 9783112617670


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German Pages 458 [479] Year 1985

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Befunde und Entwürfe: Zur Entwicklung der ungarischen marxistischen Literaturkritik und Literaturtheorie (1900–1945) [Reprint 2022 ed.]
 9783112617687, 9783112617670

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Befunde und Entwürfe

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Befunde und Entwürfe Zur Entwicklung der ungarischen marxistischen Literaturkritik und Literaturtheorie (1900-1945) Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von

Läszlo Illes, Farkas Jozsef, Miklös Szabolcsi Deutsche Gesamtredaktion: Georg Lück

Akademie-Verlag • Berlin

1984

Übersetzer : Älmos Csongär (Text:

5 6 8 10 13 14 19 21 22 25 26 27 29 30 40 46) Georg Lück

(Einleitung, Text:

12 20 28 39 49 Anmerkungen) Hans Skirecki

(Text: (Text:

1 2 4 7 9 11 17 32 34 37 38 41 43) Vera Thies 3 15 16 18 23 24 31 44 45 47 48)

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR - 1086 Berlin, Leipziger Straße 3 — 4 © Akademie-Verlag Berlin 1984 Lizenznummer: 202- 100/159/83 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen Lektor: Alfred Gessler LSV 8041 Bestellnummer: 754060 2 (2150/80) 01500

Inhalt

Sändor Petöfi Die Dichter des 19. Jahrhunderts

11

Einleitung

13 Sozialismus und Kunst

1. Ervin Szabö Ausstellung in der Kunsthalle (1902)

61

2. Sozialismus und Kunst (1905)

65

3. Dezsö Kosztoldnyi Proletarische Dichtung (1908)

68

4. Lajos Birö Abrechnung mit Ibsen (1908)

70

5. Ernö Garami Referat auf dem Kongreß der Sozialdemokratischen Partei Ungarns (1908)

80

6. Endre Ady Literarischer Aufruhr und Sozialismus (1908)

86

7. Jozsef Pogdny Literatur und Politik (1911)

89

8. Ervin Szabö „Proletarische Dichtung" (1914)

95

9. Ernö Bresztovszky Spielen wir mit den Worten (1914)

98

5

10. Lajos Kassäk In dem Glauben an das Schöne (1917)

105

11. Neunhundertsiebzehn (1917)

106

Die Inbesitznahme der Kultur im Jahre 1919 12. György Lukdcs Die tatsächliche Inbesitznahme der Kultur

113

13. Zsigmond Kunfi Proletarische Kultur - proletarische Kunst

115

14. Zsigmond Kunfi Revolutionärer Gottesdienst

119

15. Béla Baldzs Nehmt den Kindern nicht das Märchen

124

16. Béla Baldzs Das Theater des Volkes

128

17. Béla Uitz Her mit der Diktatur!

130

18. Lajos Nagy Weltanschauung in der Literatur

133

19. Lajos Kassäk Auf dem ersten Agitationsabend der „MA"

136

20. György Lukdcs Zur Klarstellung

142

21. Lajos Kassäk Brief an Béla Kun im Namen der Kunst

144

Proletkult und Avantgarde 22. Lajos Kassäk Aktivistische Kunst und Revolution (1922)

153

23. Aufruf an die ungarischsprachigen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter (1923)

156

6

24. Gesichtspunkte zur Schaffung einer internationalen proletarischen Kulturorganisation (Proletkult-Internationale) (1923)

159

25. Lajos Kassâk Arbeiterbewegung und Kunst (1925)

169

26. Andor Réz Der Entwicklungsweg der revolutionären Literatur in Ungarn und in der Emigration (1926)

175

27. Jdnos Mdcza Rolle und Weg der Literatur in der proletarischen Revolution (1926) .

181

28. Anna Csabay (Gyula Illyés) Eine angekommene Generation (1927)

194

Proletarische Literatur - sozialistische Literatur 29. La jos Kassâk Proletarische oder sozialistische Kunst? (1928)

201

30. Attila Jözsef 35 Gedichte von Lajos Kassâk (1931)

204

31. Lajos Nagy Ist das Theater eine Rednertribüne oder ein Brettl? (1928)

210

32. Gâbor Gaâl Über das Antlitz der neuen ungarischen Lyrik (1928) . .

213

33. Resolution zur Frage der proletarischen und revolutionären Literatur Ungarns (1930)

217

34. Plattformentwurf der ungarischen proletarischen Literatur (1931)

222

35. Georg Lukäcs Tendenz oder Parteilichkeit? (1932)

241

36. Bêla lllés Der Weg der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (1932)

254

37. Was lehrt uns das Plenum der Sowjetschriftsteller? (1933)

263

7

.Gebot der Zeit" 38. Zoltân Fâbry Gebot der Zeit (1934)

III

39. Miklós Radnóti Notizen über Form und Weltanschauung (1934) . . . .

283

40. Attila József Mitteilung der Redaktion (1936)

288

41. Béla M. Pogdny Der umbewertete Realismus (1936)

291

42. Georg Lukdcs Es geht um den Realismus (1938)

303

Die Verantwortung der Humanisten 43. Gâbor Gaal Die heutige ungarische Soziographie und die Literatur (1937)

337

44. Béla lllés Gyula Illyés: Pusztavolk (1936)

344

45. Sdndor Gergely Gyula Illyés: Pusztavolk (1937)

349

46. József Rêvai Volkstümler und Humanisten (1938)

354

47. György Bdlint Märtyrer des Verstandes (1939)

358

48. József Darvas Mit Feder und Werkzeug (1941)

361

49. György Lukdcs Die Verantwortung der Schriftkundigen (1944) . . . .

367

8

Anhang Abkürzungen

387

Anmerkungen

387

Verzeichnis der in den Texten genannten ungarischen Persönlichkeiten

438

Verzeichnis der in den Texten genannten Zeitungen und Zeitschriften

442

Biographische Erläuterungen zu den Autoren der Texte (Von Peter Agärdi)

444

Personenregister

451

SANDOR PETÖFI

Die Dichter des 19. Jahrhunderts Kein Sänger sollte in die Saiten Ohne Besinnen greifen heut, Denn hohe Pflichten zu erfüllen Hat der Poet in dieser Zeit. Wer nur von seiner eignen Freude, Vom eignen Schmerz sich fühlt bewegt, Ist nicht vonnöten und tut besser, Wenn er die Laute niederlegt. Wir irren heute in der Wüste Wie einst das Volk von Israel, Doch Moses, der der Feuersäule Jehovas folgte, ging nicht fehl. Uns hat der Schöpfer heut den Dichter Als Fackel für den Weg gesandt, Als Führer, der das Volk, geleite Ins heilige, gelobte Land. So führt das Volk voran, ihr Dichter, Durch Feuer, Flut und Wüstensand! Fluch dem, der sinken läßt die Fahne Und wegwirft gar mit feiger Hand! Fluch allen, die sich ferne halten Aus Trägheit und Bequemlichkeit, Im sichren Schatten ruhn, indessen Das Volk nur Mühe kennt und Leid. Falsche Propheten gibt's, die sagen: „Legt doch die Waffen aus der Hand! Was ihr ersehnt, ist längst errungen! Ihr lebt schon im gelobten Land!" Doch Lüge ist's! Seht die Millionen, Die tot sich schuften rings im Feld Und mühsam nur ihr Leben fristen, Von Durst und Hunger stets gequält! 11

Erst dann, wenn jeder gleichberechtigt Platz nehmen darf am Tisch der Welt, Erst dann, wenn jeder gleichermaßen Sein Teil vom Überfluß erhält, Wenn durch die Fenster aller Hütten Das Licht der Bildung Einzug fand, Erst dann ist's Zeit für uns zu rasten, Erreicht ist das gelobte Land. So lange darf's nicht Ruhe geben, Kein Ende unseres Gerichts 1 Lohnt unsre Opfer, unsre Mühe Die Welt dereinst uns auch durch nichts, Der Tod wird unsre Augen küssen, Selig sinkt unser Leib hinab Und schläft mit ruhigem Gewissen Im wohlverdienten, stillen Grab. (Deutsche Nachdichtung von Martin Remané)

Einleitung

Der vorliegende Band vermittelt einen Einblick in die Entwicklung der ungarischen marxistischen Literaturkritik und -theorie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Innerhalb der vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der AdW der DDR herausgegebenen Reihe „Literatur und Gesellschaft" schließt er an die vorausgegangenen Bände Von der Verantwortung der Kunst - Dokumente zur tschechischen marxistischen Literaturprogrammatik (1976) sowie Bulgarische marxistische Literaturtheorie und Literaturkritik (1978) an. Daneben sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Bereich der Germanistik, Slawistik und Romanistik zahlreiche Monographien und Studienbände erschienen, die sich mit der Entstehung einer marxistischen Literaturanschauung befassen und unsere Kenntnis über den komplizierten Prozeß der Entwicklung der marxistischen Literaturtheorie in internationalem Maßstab erweitern und vertiefen. An ihrer Geschichte wirkten in erster Linie die Literaturwissenschaft und die Literaturkritik der Sowjetunion mit. Doch auch Schriftsteller Mittelund Westeuropas, marxistische Denker anderer Kontinente trugen hierzu Wesentliches bei, im Einzelfall schon von der Jahrhundertwende an, vor allem jedoch seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus. Diese eröffnen in einer Reihe mitteleuropäischer Länder, darunter auch in Ungarn, einen neuen Abschnitt in der Entwicklung der Literatur und Theorie. Die Dokumente ungarischer Literaturkritik und Literaturtheorie lassen zum einen den Kontext und Bezug zur internationalen Entwicklung deutlich aufscheinen und umreißen andererseits jene spezifisch nationalen Züge, die - angefangen bei den historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten - eben durch die ungarischen Denker hauptsächlich auf theoretischem Gebiet eingebracht werden konnten. Die Sozialdemokratische Partei Ungarns hielt sich seit der Jahrhundertwende in vielerlei Hinsicht an die deutsche Sozialdemokratie. 13

Ein bedeutender Einfluß ging von den theoretischen Schriften Karl Kautskys aus; die politische Linie der Partei trug einen stark reformistischen Charakter. Zwischen den beiden Weltkriegen verfolgte die bis zuletzt legale Sozialdemokratische Partei Ungarns zunächst einen revisionistischen Kurs, vollzog später aber einen Ruck nach links. In der Zeit, da Ungarn dem ersten Weltkrieg zutrieb, und während dessen Verlauf, wurde die linke Opposition immer unüberhörbarer. Eine Gruppe antimilitaristischer Schriftsteller, die sich mit der Gründung der Kommunistischen Partei Ungarns im Jahre 1918 deren Ideologie zu eigen gemacht und sich auch organisatorisch auf eigene Füße gestellt hatte, zog gegen Anschauungen zu Felde, die eine klassengebundene Kunst in Abrede stellten. Mit der Ungarischen Räterepublik von 1919 kam im Vergleich zu anderen europäischen Ländern der Gedanke der parteilichen Literatur verstärkt auf die Tagesordnung. Die hier gewonnenen reichen Erfahrungen brachten die nach der Niederschlagung der Diktatur des Proletariats über die halbe Welt verstreuten ungarischen linken Emigranten in die neuen Klassenkampfbedingungen des jeweiligen Gastlandes ein. So traten die ungarischen Schriftsteller in zahlreichen Ländern, insbesondere im Weimarer Deutschland, aber auch in der Sowjetunion und in internationalen revolutionären Literaturorganisationen konsequent für die Idee der proletarischen Literatur ein. Gleiches gilt für Ungarn, wo sich für zweieinhalb Jahrzehnte ein konterrevolutionäres Regime mit faschistischem Charakter etabliert hatte und wo die in der Illegalität wirkende Kommunistische Partei nur unter schwierigsten Bedingungen ihre literaturkritische und -theoretische Arbeit entfalten konnte. Hier wie in der Emigration wurde die Rolle der Literatur und des Schriftstellers zeitweise durch die Kritiker allzu eng ausgelegt, kam es - eventuell mitbedingt durch die Erfahrung der einstigen Niederlage - zu sektiererischen Auffassungen. In diesem Zusammenhang sei nur auf den Standpunkt einzelner ungarischer Emigrationsschriftsteller verwiesen, wie er sich in den Diskussionen zu den Plattformentwürfen innerhalb des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands beziehungsweise in der Redaktion der Linkskurve oder in der sektiererischen Kursnahme der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller widerspiegelte. Doch zugleich erwarben sie sich durch Anwendung der Leninschen Parteilichkeit der Literatur unbestrittene Verdienste, waren sie um die Ausarbeitung von Prinzipien des literarisch-gesellschaftlichen Engagements in besonderer Weise bemüht. 14

Unter jene sowjetischen, deutschen und französischen Schriftsteller, die in der neuen historischen Phase zu Beginn der 30er Jahre an der sektiererischen Literaturanschauung der RAPP Kritik übten, gehörte ungarischerseits vor allem der namhafte Theoretiker György Lukacs. Seine in den 30er Jahren ausgearbeitete Realismus-Theorie stellte trotz ihrer Grenzen in der Entwicklung der internationalen marxistischen Literaturtheorie einen bedeutenden Schritt nach vorn dar, und zwar insbesondere im Kampf um die Eigenart der Literatur, die Verteidigung von Realismus und Volkstümlichkeit sowie um die Einschätzung des Klassikererbes. Diese auf einen Pol konzentrierte Theorie wertete jedoch gleichzeitig die neu errungenen ästhetischen Positionen, die Betrachtungsweise, Methoden und Genres der jungen proletarischen Literatur ab; sie drängte überdies die Bedeutung der Weltanschauung bei der Entstehung von Kunst in den Hintergrund und erwies sich gegenüber den künstlerischen Errungenschaften und Initiativen der linken Avantgarde des Jahrhunderts als begrenzt. Die Diskussionen mit und um Lukacs in den 20er und 30er Jahren befruchteten das ungarische, deutsche und sowjetische ästhetische Denken. Ihre Impulse dauern bis in unsere Tage. Der Dokumentenband belegt zudem, daß das ungarische literaturkritische und -theoretische Denken vor und neben Lukäcs auch von zahlreichen Vertretern anderer Strömungen, nicht zuletzt durch solche Künstler, Dichter und Schriftsteller wie Lajos Kassak, Attila Jözsef und Miklös Radnöti geprägt wurde. Sie und andere kamen auf unterschiedlichen Wegen, nach Irrtümern und vermittels oftmals heftiger Debatten zu einer zunehmend genaueren Kenntnis der spezifischen Gesetzmäßigkeiten der Literatur. Die vorliegenden Texte stellen für denjenigen Leser, der für die historischen wie prinzipiellen Fragen der marxistischen Literaturtheorie aufgeschlossenen ist, einen Gewinn dar: Mit ihren auf kritischem und theoretischem Gebiet wechselvollen Standpunkten, scharfen Konfrontationen, anschaulichen Beispielen und ihrer analytischen Stärke sind sie neben den sowjetischen, deutschen und japanischen Leistungen äußerst aufschlußreich. Die Anfänge der ungarischen sozialistischen Literatur reichen zurück bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts, als sich die demokratische und liberal gesinnte bürgerliche Literatur erstmals den „Unterdrückten", vom Kapital Ausgebeuteten zuwandte und naturalistische Schriftsteller alarmierende Bilder des Elends skizzierten sowie voller Anteilnahme vom aussichtslosen Leben der Armen in der Stadt wie auch bereits des Agrarproletariats berichteten und das 15

erschütternde Los jener Millionen festhielten, die gleichsam aus Ungarn über den Ozean „hinausgetaumelt" waren. Jahrzehnte vergingen, bis diese Literatur über das Stadium messianistischen Glaubens, naturalistischer Elendsdarstellung und romantischer Lebensferne hinausgekommen war; bis Endre Ady zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Dichtung das Proletariat in die „hohe Kunst" einbrachte und später in der avantgardistischen Sprache der modernen europäischen Kunst das Lied der „Handwerksleute" erklang. 1 Den Revolutionen von 1918/19 folgten Schriftsteller, die die kommunistische Parteilichkeit auf ihre Fahne geschrieben hatten und die sich als künstlerische Repräsentanten der ausgebeuteten Millionen verstanden. Diese Literatur, die die Kunstfeindlichkeit des Proletkults überwunden hatte, fand in der Lyrik Attila Jözsefs, ihres ersten Klassikers, zur vollen Wirksamkeit. Dieser Prozeß, der sich bis zur Befreiung über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckte, wurde seitens der marxistischen Kritik von dem Bemühen begleitet, ihrer gleichermaßen von den Lesern, der Bewegung und der Literatur erwarteten Aufgabe zu entsprechen: die Zusammengehörigkeit von Kunst und Arbeiterbewegung zu bestätigen und zu begründen, da die durch Heine formulierte bange Prophetie, 2 das Dilemma des „Gegensatzes" von Revolution und Kultur, jahrzehntelang unter der schöpferischen Intelligenz wirkte und diese Besorgnis nur durch die Praxis beseitigt werden konnte. Die Kritik hatte sich bereits sehr früh mit Anschauungen auseinanderzusetzen, die sich zum unmittelbaren Utilitarismus bekannten; sie mußte die Kunst aus dem Kreis der reinen Dienstfunktion emporheben und ihr das Recht erstreiten, mit ihrer Sprache und ihren Formen in das „Nicht-Wirkliche", hinüberwechseln zu können. Überdies waren von der Kritik Illusionen von einer „reinen Kunst" zu zerstreuen und die Positionen des Realismus wie die Prinzipien der Eigenart des Ästhetischen herauszubilden. Ihre Geltung erkämpfte sich die Kritik, indem sie bei der Orientierung und Interpretation der sozialistischen Literatur selbst komplizierte Stadien durchlief. Unser Band enthält eine Auswahl der bedeutendsten prinzipiellen Dokumente dieses Entwicklungsweges. Sie verdeutlichen die nacheinander folgenden Problemkreise, Diskussionen und kulturpolitischen Veröffentlichungen sowie Kritiken und ästhetischen Überlegungen zur Entfaltung ungarischer sozialistischer Literaturanschauung. Bei einem Rückblick auf den bewältigten Weg kann festgestellt werden, daß die Erkenntnisse durch komplizierte 16

innere Widersprüche erschwert und die Entwicklung durch heute bereits unnötig erscheinende Umwege verlangsamt wurde. Von daher ist ein analytisch-kritisches Studium dieser Dokumente geradezu angezeigt: In ihnen finden sich Abdrücke einer bestimmten Zeit, mit ihren tastenden Bestrebungen nach neuen Erkenntnissen ebenso wie mit ihren offenkundigen Irrtümern. Doch sollte dabei nicht vergessen werden, daß Literatur und Kritik dem Marxismus verpflichtet waren; die historischen Umwege resultierten notwendigerweise aus der Vorwärtsentwicklung der internationalen Arbeiterbewegung auf einem bislang von ihr unerschlossenen Terrain, so auch auf dem Gebiet literarischen Denkens. Die an den historischen Augenblick gebundene Aktualität bedeutet jedoch keineswegs, daß der Wert dieser Dokumente ganz und gar nur in ihrer Historizität begründet wäre. Die Spezifik einer von den Ideen der Arbeiterbewegung und des Sozialismus durchdrungenen Kunstbeziehung stellt nicht nur eine Frage der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart dar. Die Kritik wurde zwar vielfältiger und nuancierter, doch der Dialog mit den Fragestellungen und Lösungen früherer Phasen bleibt unverändert lehrreich. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige marxistische Literaturanschauung kann auch im Spiegel ihrer eigenen Vergangenheit den Prozeß ihres Wirksamwerdens wahrnehmen, wenngleich diese Wirksamkeit natürlich am untrüglichsten durch die Fähigkeit belegt wird, Antwort auf die Herausforderungen der Zeit und ihrer Kunst zu geben. Die Dokumente unseres Bandes sowie die als Leitfaden gedachte kurze Einleitung wollen diese Erkenntnisse dem Leser näherbringen.

Sozialismus und Kunst Bereits im Jahre 1902 wurde von Ervin Szabö die Problematik des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und den Künsten in Ungarn aufgeworfen, 3 und zwar in zweierlei Hinsicht: Er stellte fest, daß die Arbeiterbewegung Schriftsteller und Künstler davon überzeugen müsse, daß der Sozialismus keineswegs ein gesellschaftliches Bestreben darstellt, das gegen die Kultur wirke und lediglich materielle Ziele des ökonomischen Wohlstands auf seine Fahne geschrieben habe, sondern sehr wohl die Entfaltung der Künste als einen Wert fordere, der organisch mit der zu erringenden neuen Lebensform verbunden ist. Doch zugleich war sich Ervin Szabö auch darüber im 2

Befunde

17

klaren, daß die kulturellen Ansprüche der Massen nur dann entwickelt werden konnten, wenn zuvor die für ihren Lebensunterhalt notwendigen materiellen Güter gesichert sind. Daher mußte die Arbeiterbewegung gleichzeitig für beide Ziele politisch wie auch theoretisch wirksam werden. Auf diese doppelte Fragestellung des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und Kunst gab die Kulturpolitik der Räterepublik in der Praxis eine positive Antwort. Herangereift war diese bereits in gesellschaftlichen Prozessen, Werken und in den im geistigen Leben vollzogenen Neuanfängen in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts unter den Verhältnissen der Österreich-Ungarischen Monarchie. Sozialen Fragen gegenüber wurde man zunehmend aufgeschlossener, und man wandte sich gegen die Kräfte der konservativen Literatur. Endre Adys Veränderung ankündigende revolutionäre Dichtung, die radikalen Diskussionen Oszkär Jäszis und des Kreises um die Zeitschrift Huszadik Szazad sowie später der Jugendlichen des Galilei-Kreises, die sich um György Lukäcs gruppierenden Philosophen und Schriftsteller, die den sogenannten Sonntags-Kreis4 ins Leben riefen und das europäische Niveau wissenschaftlichen Denkens auch zu Haus heimisch zu machen gedachten, sowie die Jahrzehnte währenden Bestrebungen der sozialdemokratischen Zeitung Nepszava, die schöpferischen Beziehungen zu den fortschrittlichen bürgerlichen Schriftstellern auszubauen - alle diese Kräfte und Initiativen waren die Vorboten eines neuen Ungarn. Sie bildeten gleichsam den Hintergrund und waren zusammen mit der literarischen Revolution der progressiven Zeitschrift Nyugat und der Avantgarde ein Ansporn zu den Kämpfen, die auf gesellschaftliche Veränderung drangen und diese schließlich errangen. Daß es zu einer häufigen ideellen Berührung zwischen der um die 1908 ins Leben gerufenen Nyugat gescharten, modernen linken bürgerlichen Literatur und der Arbeiterbewegung einerseits und nach 1915 zwischen der avantgardistischen Literatur und der Arbeiterbewegung als auch der sozialdemokratischen Arbeiterliteratur andererseits kam, wirkte sich einesteils auf die Entwicklung der ungarischen Literatur befruchtend aus, löste aber auch heftige Debatten aus. Diese, am häufigsten in den Spalten der Nepszava ausgetragen, bereiteten die revolutionäre sozialistische Literatur vor. Der erste Zusammenstoß ereignete sich zwischen der veralteten tonangebenden Agitationslyrik der Dichter der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und der mit Endre Ady arrivierten modernen ungarischen Dichtung. 18

Schon auf d e m Jahreskongreß der Sozialdemokratischen Partei von 1908 tauchte der Wunsch auf, daß sich die sozialistische Literatur auf dem Bildungsniveau der Arbeitermassen äußern solle. In der Forderung nach „Allgemeinverständlichkeit" betonte man weniger den Anspruch des künstlerisch Schönen, den in der F o r m g e b u n g enthaltenen Wert und die Wirkkraft. Dieser Anschauung stellte sich der damalige Führer der Partei, E r n ö G a r a m i entgegen, indem er den zeitgenössischen Geschmack der Arbeitermassen als „zurückgeblieben" bewertete und E n d r e A d y und die moderne ungarische Literatur zu unterstützen suchte. A n d e r e Diskussionsredner forderten indessen, maßgebender Gesichtspunkt für die belletristische Spalte der Nepszava sollte sein, „ob der Schriftsteller G e n o s s e " ist. D i e Diskussion der auf d e m Kongreß aufgeworfenen prinzipiellen Fragen f a n d in den folgenden Jahren in den Spalten der Nepszava ihre Fortsetzung, und zwar in dem sich um die Dichtung A d y s und C s i z m a d i a s entfaltenden D i s p u t . Sandor C s i z m a d i a hatte in einer K r i tik über einen Gedichtband Gyagyovszkys E n d r e A d y und der modernen Richtung der Dichtung den K r i e g erklärt sowie der sozialdemokratischen Parteiführung vorgeworfen, daß sie „ K a f f e e h a u s Verbindungen" pflege (dies war auf die Freundschaft E n d r e A d y s und Z s i g m o n d K u n f i s gemünzt), zugleich aber die „eigenen D i c h t e r " nicht unterstütze. 5 E r n ö Bresztovszky wies Csizmadias Angriff zurück; das Hauptargument seiner Antwort, die ein Perspektivprogramm beinhaltete, lautete: „ D a s sozialistische B l a t t bringt die Annäherung der gärenden neuen Literatur an die sozialistische Ideologie dadurch voran, indem es ihr Publikationsraum gewährt." 6 A d y selbst beteiligte sich an der D e b a t t e und setzte sich in dem Artikel Literarischer Aufruhr und Sozialismus wie mit seinem Gedicht Ich schicke die Bundeslade 1 für ein Bündnis der neuen Dichtung und der sozialistischen Arbeiterbewegung ein. D i e s e D e b a t t e n belegten, daß es der sich zu Beginn unseres Jahrhunderts entfaltenden sozialistischen Dichtung nicht möglich war, die Ergebnisse der künstlerischen Revolution E n d r e A d y s und der Nywgtfi-Bewegung in die eigene sozialistische Dichtung einzuschmelzen. Z u d e m beschritt die Mehrheit der sozialistischen Schriftsteller nicht den herangereiften revolutionären W e g der ungarischen Arbeiterbewegung. Ideell wie künstlerisch blieben sie gleichermaßen auf einem früheren Entwicklungsabschnitt stehen; die F o l g e davon war, d a ß sie mit der auf unmittelbare Agitation zielenden Lyrik in heftigen Debatten mit den Vertretern der neuen Dichtung aneinander gerieten, die modern 2»

19

instrumentiert, doch auch den gesellschaftlichen Fragen gegenüber aufgeschlossen war. In seinem Artikel Proletarische Dichtung machte Ervin Szabö gegen eine vulgarisierende Kritik Front, die einzig und allein auf den Inhalt und die gesellschaftliche Aussage aus war und die ästhetischen Werte des Kunstwerkes außer acht ließ. In seinem berechtigten Feldzug ließ Szabö jedoch eine tatsächliche Grenzlinie unberücksichtigt. So war er der Meinung, daß „man den wirklichen Künstler in den Rahmen keines Parteiprogramms zwängen kann, auch in das radikalste nicht". Diese Ansicht entwickelte Lajos Kassak im Jahre 1919 im wesentlichen weiter. Mit Szabö, der die Möglichkeit der Klassenkunst in Abrede stellte, setzte sich Ernö Bresztovszky auseinander. Er legte dar, daß auch die Kunst - solange wir in einer Klassengesellschaft leben - durch die Existenz der Klassen bestimmt wird und Gedanken wie Gefühle der Klassen im Kunstwerk zum Ausdruck gebracht werden. Kompliziert war die Klärung der Probleme dadurch, daß sich selbst die innerhalb des sozialdemokratischen Lagers befindlichen Kräfte, die mit der Nyugat-Bcwegung sympathisierten, also die progressive bürgerliche Dichtung unterstützten, uneinig waren. Während Ernö Bresztovszky beispielsweise nicht nur für Endre Ady, sondern im Grunde genommen für die gesamte Bewegung eintrat, die die ungarische Literatur erneuerte, zog Jözsef Pogäny eine scharfe Zäsur zwischen der Dichtung Adys und dem Lager der Nyugat-Bewegung, war er ersterem verbunden und verwarf die übrigen. Diese Debatten endeten, ohne daß bestimmte prinzipielle Schlußfolgerungen gezogen worden waren, d. h., sie blieben in der Schwebe.8 Dennoch waren sie historisch gesehen äußerst bedeutsam, da im Verlaufe des offenen Zusammenpralls der Meinungen die wichtigsten prinzipiell-ästhetischen Fragen der zeitgenössischen sozialistischen Literatur auf die Tagesordnung gelangt waren. Infolge des Ausbruchs des ersten Weltkrieges gerieten die literarischen Debatten natürlich in den Hintergrund, erst in den Tagen der Räterepublik, des zeitlich begrenzten Versuchs, den Sozialismus praktisch zu realisieren, rückten sie erneut in den Vordergrund.

Die Inbesitznahme der Kultur im Jahre 1919 Die am 21. März 1919 ausgerufene Räterepublik schuf große Möglichkeiten für eine sozialistische Entwicklung der ungarischen Literatur. Unter der Diktatur des Proletariats waren die objektiven und subjek20

tiven Voraussetzungen dafür gegeben, daß sich die ungarische Nationalliteratur zu einer wirklich großen Literatur entwickelte. Befördert wurde dies durch die während des Weltkrieges in der ungarischen Literatur unmittelbar eingetretene revolutionäre Tendenzwende: Seit 1915 wurde die Nyugat als führende literarische Zeitschrift der Epoche zunehmend radikaler, sprachen sich deren Schriftsteller immer schärfer gegen den Krieg aus. Zur selben Zeit traten die als neue literarische Richtung debütierenden avantgardistischen Zeitschriften A Tett (1915-16) und die ihr seit 1916 folgende MA für den internationalistischen Zusammenschluß aller progressiven Dichter und Künstler der Welt ein. Ende 1917 schied aus dem Kreis der um Lajos Kassäk gescharten avantgardistischen Schriftsteller und Künstler bereits jene revolutionäre sozialistische Schriftstellergruppe aus, deren Mitglieder auch an der Gründung der Kommunistischen Partei Ungarns im November 1918 teilnahmen. 9 D a infolge dieser Entwicklung nach dem Sieg der Räterepublik die bedeutendsten ungarischen Schriftsteller - welcher literarischen Richtung sie auch angehörten - eine einheitliche, wenn auch nicht in jedem Falle von Vorbehalten freie Stellung zu dieser Revolution einnahmen und sich für deren Ziele einsetzten, wurde die stufenweise Entfaltung einer einheitlichen Nationalliteratur möglich, die perspektivisch auf der ideellen Grundlage des Sozialismus basierte. Viele fortschrittliche Schriftsteller unterstützten Programm und Kulturpolitik der Räterepublik, die sich zu den allgemeinen kulturellen Werten bekannte, auf eine Anhebung der Nationalkultur zielte und bereits in den ersten Tagen der Revolution das frühere falsche Dilemma der Konfrontation von Sozialismus und Kunst löste. Die in den Fragen der Arbeiterbewegung unbewanderten Schriftsteller und Kunstschaffenden ließen sich zudem durch die Aussage Zsigmond Kunfis, des Volkskommissars für Unterrichtswesen, beschwichtigen, daß „die revolutionäre Arbeiterbewegung, die nach Wahrheit strebende Wissenschaft und die Kunst, die die Idee des Schönen in Farbe, Form, Ton und Wort festhält, allezeit Geschwister" 10 sind. Den Leitungsorganen für Literatur, dem Schriftstellerdirektorium und -komitee gehörten Vertreter unterschiedlicher literarischer Richtungen an, so unter anderem Lajos Biro, Mihäly Babits, Zsigmond Móricz, Lajos Kassäk, Béla Révész, Aladär Komjät und György Lukäcs. Diese Organe, in denen die Besten der progressiven ungarischen Literatur vertreten waren, belegten in der Praxis jene prinzi21

pielle These, derzufolge die sozialistische Revolution unter Achtung der Werte und Begabungen die neue, sozialistische Literatur aufzubauen suchte - selbstverständlich in der Perspektive einer sozialistischen Entwicklung der Schriftsteller. Die politische Führung der Räterepublik rechnete mit allen fortschrittlichen literarischen Richtungen, ohne eine als „offizielle" Literatur anzuerkennen. Die natürliche Konsequenz des Lukäcsschen Programms war, daß das Zusammenwirken der unterschiedlichen literarischen Richtungen zur Schaffung einer neuen, sozialistischen Literatur zugleich Debatten prinzipieller Natur in sich barg. Zur Diskussion gestellt wurde zum Beispiel das Problem der Freiheit der Literatur, jene Sorge, wie man einerseits die politische und gesellschaftliche Rolle einer spezifisch schriftstellerischen Sichtweise beurteilen könne, 11 und andererseits, ob die Praxis der Kritik erlaubt, berechtigt und notwendig sei. Auf diese Fragen gibt Lajos Magyar in seiner Schrift Kritika (Kritik) eine bis heute gültige Antwort. 12 Ein zentrales Diskussionsthema war auch das Verhältnis von Literatur und politischer Führung, von Künstlerpersönlichkeit und sozialistischer Partei. So entstand beispielsweise zwischen Lajos Biro und Béla Kun eine Diskussion über das Verhältnis der Schriftstellerorganisationen zur politischen Führung, in deren Verlauf Béla Kun die These zurückwies, für die schriftstellerische Arbeit sei in der proletarischen Revolution die Mitgliedschaft in der sozialistischen Partei Voraussetzung. 13 Zugleich konnte Lajos Biro ganz im Sinne des durch György Lukäcs dargelegten Literaturprogramms auf der konstituierenden Sitzung der Gewerkschaft der Schriftsteller feststellen, daß „die Beschränkung der Literaturproduktion, jede Begrenzung und Einengung lediglich eine Zwangsläufigkeit des Augenblicks, die Notwendigkeit einer Übergangszeit ist . . . Niemand soll glauben, ein Gewerkschaftsmitglied und allgemein ein Schriftsteller, der auf die Herausgabe seines Werkes Anspruch erhebt, dürfe künftig lediglich Onkel Toms Hütte schreiben. Es soll keine Parteiliteratur, sondern Kultur geschaffen werden." 14 Bei der Verteidigung der Freiheit der schöpferischen Arbeit des Schriftstellers und Künstlers formulierte György Lukäcs eines der wichtigsten kulturpolitischen Grundprinzipien der Räterepublik, das mit zur Beseitigung jener Sturmwolken führte, 15 die sich im Verlaufe der „von links" erfolgten Angriffe auf die fortschrittliche bürgerliche Literatur gebildet hatten. Auf einen solchen Angriff gegen Àrpàd Tóth reagierte zum Beispiel die Zeitschrift Nyugat, indem sie voller 22

Entrüstung Mitte April feststellte, daß die Diktatur des Proletariats „nicht die Unterdrückung der Talente zugunsten der Halb- und Unbegabten bedeuten könne, wie ursprünglich auch immer deren kommunistische politische Überzeugung sei" 16 . Nachträglich stellte György Lukäcs 1969 in der Zeitschrift Tdrsadalmi Szetnle fest, daß „die sich auf die damaligen progressiven Kulturströmungen stützende sozialistische und demokratische" Kulturpolitik bis in unsere Tage als richtig zu beurteilen sei.17 Der dritte Diskussions-Komplex betraf die zwischen den avantgardistischen Schriftstellern und der politischen Führung (in erster Linie Béla Kun) entstandenen Meinungsverschiedenheiten, und zwar einerseits in der Frage der „Lenkung" der Literatur durch die Partei und andererseits bezüglich der Beurteilung der avantgardistischen Richtung. Diese Debatte knüpfte im wesentlichen an die früher von Seiten Ferenc Göndörs und anderer sozialdemokratischer Schriftsteller gegen die avantgardistischen Schriftsteller geführten Angriffe an, die Kassäk und die Aktivisten aus der sozialistischen Literatur hinauszukomplimentieren suchten, indem sie ihnen unter der Losung der proletarischen Literatur ankreideten, daß es ihnen an „Allgemeinverständlichkeit" mangele.18 Solchen Vorstellungen gegenüber legte György Lukäcs die bereits erwähnten Grundprinzipien der kommunistischen Literaturpolitik dar. Obgleich Lukäcs' Programm unmittelbar in der Auseinandersetzung mit den von sehen der Sozialdemokraten vorgebrachten Prinzipien formuliert worden war, bekämpfte es jede einengende Tendenz.19 Nach derartigen Ereignissen fand die Auseinandersetzung zwischen Béla Kun und Lajos Kassäk verständlicherweise einen großen Widerhall. Ausgelöst wurde diese Debatte durch Kuns Referat auf dem Parteitag, in dem er die gesamte Literatur der Zeitschrift MA als ein „Produkt der bourgeoisen Dekadenz" bezeichnet hatte. Diese Debatte knüpfte im Grunde genommen an den bedeutsamen Dialog zwischen Zsigmond Kunfi und Béla Kun am ersten Tag der Landesparteiversammlung an, in dem der kommunistische und der sozialdemokratische Standpunkt in der Frage der Stärkung oder „Milderung" der Diktatur des Proletariats aufeinanderprallten. Kunfi trat für letztere ein und argumentierte, daß „jene Menschen vom Schrecken gepackt seien, die produzieren müßten und es auch könnten"20. Demgegenüber führte Béla Kun ins Feld, daß die neue Kultur aus dem Proletariat selbst erstehen müsse, und stempelte - wie erwähnt - die avantgardistische Kassàksche Richtung ab. 21 23

Zu Recht kann man Béla Kuns einseitigem und hitzigem Urteil die „amtliche" Kulturpolitik der Räterepublik und insbesondere die umsichtigen wie maßvollen prinzipiellen Stellungnahmen György Lukäcs' gegenüberstellen. Bereits tags darauf antwortete Kassäk Béla Kun in seiner Zeitschrift in Form eines offenen Briefes. In ihm wies er die Anschuldigung der Dekadenz zurück und berief sich berechtigterweise auf solche politischen Verdienste der MA-Gruppe wie die Unterstützung der antimilitaristischen Bewegung während des Weltkrieges und vor allem ihre Aktivitäten für die sozialistische Revolution in den Tagen der bürgerlich-demokratischen Revolution. Gleichzeitig trennte er entschieden die aktivistische Dichtung, die sich der Revolution moralisch verpflichtet fühlte und bestrebt war, ihr Ausdruck zu verleihen, von anderen Richtungen, die die Form als Selbstzweck kultivierten. Sich auf weltliterarische Beispiele berufend, verwehrte sich Kassäk dagegen, auf Grund der ablehnenden Haltung in der Frage der Annäherung an den Massengeschmack der Dekadenz bezichtigt zu werden. Zu Recht stellte er fest, daß die Weigerung, sich „dem unentwickelten Kulturanspruch des Proletariats" anzupassen, noch kein Zeichen für bourgeoise Dekadenz sei. In dem Diskussionsartikel hielt er jedoch weiterhin an seinem früheren Standpunkt zum Verhältnis von Partei und Künstlerpersönlichkeit fest, stellte im wesentlichen die künstlerische Freiheit der Parteidisziplin gegenüber und lehnte prinzipiell die aktive Parteiarbeit des Künstlers ab, bejahte aber gleichzeitig eine Unterstützung der Politik der Kommunistischen Partei von außen. Auch später, während seiner ganzen Laufbahn, bekundete Kassäk gegenüber Bedeutung und Funktionen der politischen Partei der Arbeiterklasse im wesentlichen Unverständnis. Dieses Problem war unter den Künstlern und Schriftstellern, die sich der Arbeiterbewegung angeschlossen hatten, keineswegs neu. B e reits in dem Briefwechsel zwischen Marx und Freiligrath aus dem Jahre 1860 wurde die Frage der künstlerischen Freiheit und der Lenkung durch die Partei aufgeworfen. 2 2 Zu diesem Problem äußerte sich u. a. Anfang 1919 Käthe Kollwitz in einem Brief an M a x Barthel. 2 3 Beide Künstler ließen einen Standpunkt anklingen, der dem Kassàks und seiner Mitstreiter nahesteht. Wenn sich Béla Kun mit der Ansicht Kassäks über die Partei in der Diskussion auseinandergesetzt hätte, wäre es in dieser Frage zu einem interessanten Dialog gekommen, da sich der praktische Politiker und der schöpferische Künstler auf eine jeweils andere Weise diesem komplizierten ideellen Problem annä-

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herte. Doch Béla Kun verurteilte Lajos Kassäk wie die ungarische Avantgarde insgesamt, indem er sie zu Unrecht der Dekadenz beschuldigte. Gerade Ende 1918 nahm Lunatscharski Majakowski und seine Gefährten vor derartigen Angriffen in Schutz.24 Gleichzeitig kritisierte er aber auch ihre Haltung und Kunstauffassung, die der Kassäks ähnlich war, in zweifacher Hinsicht: daß sie sich den Traditionen gegenüber völlig ablehnend verhielten sowie danach strebten, ihre eigene künstlerische Schule zu einer zwar „revolutionären, aber doch von oben diktierten offiziellen Kunst" 25 zu erheben. Andererseits erachtete der Leiter der sowjetischen Kulturpolitik - im Gegensatz zu Béla Kun und Lajos Kassäk - die aus den Reihen des progressiven Bürgertums und Kleinbürgertums kommenden schöpferischtätigen Schriftsteller und Künstler, die sich mit den Kämpfen des Proletariats zu identifizieren vermochten, als eine bedeutende Kraft beim Aufbau der neuen Kultur und Literatur.2® Gemessen an den Äußerungen György Lukäcs', Béla Baläzs' und anderer Mitglieder des Schriftstellerdirektoriums, war die perspektivisch angelegte literaturpolitische Konzeption der Räterepublik durch das Bestreben gekennzeichnet, eine zeitgemäße sozialistische Literatur zu schaffen. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung der literaturimmanenten Entwicklungsgesetze sollten Literatur und Politik einander nähergebracht und unterschiedliche literarische Richtungen zusammengehalten werden. Zur Verwirklichung dieser Konzeption, die sich im Verlaufe der Debatten herausbildete, war die Zeit bedauerlicherweise kurz bemessen. Bei einem Weiterbestehen der Räterepublik hätte sich jedoch im Falle der Literatur der Avantgarde, die sich bewußt und aktiv für die Ziele der proletarischen Revolution einsetzte, ein weiterer Wandel in Richtung einer zeitgemäßen sozialistischen Literatur vollzogen. In Gang gekommen war ein solcher Prozeß ideell-künstlerischer Wandlung bereits bei Schriftstellern wie Zsigmond Móricz, Arpäd Tóth, Gyula Juhäsz, Lajos Barta und anderen, die vom Nyugat-Kreis herkamen. Unter diesen Voraussetzungen wäre bei Weiterbestehen der Proletariermacht eine weitverzweigte, vielfarbige und aus verschiedenen Form- und Stilbestrebungen bestehende neue Literatur und Kunst der sozialistischen Gesellschaft entstanden, die über eine höhere Massenkultur verfügt. In ihr hätten sich die N yugat-Bewegung wie die Literatur der Avantgarde, indem sie gleichsam ihre eigenen Mittel beibehielten oder weiterentwickelten, organisch eingefügt. Auch die spätere Entwicklung der sozialistischen Weltliteratur erbrachte den Beweis, daß die durch impressio25

nistische, symbolistische oder avantgardistische Bestrebungen hervorgebrachten neuen künstlerischen Mittel über den linken Flügel dieser Richtungen in die revolutionäre sozialistische Literatur eingingen und die Formensprache des sozialistischen Realismus, die Vielfalt seiner dichterischen Ausdrucksmittel bereicherten. Bestätigt werden unsere Überlegungen auch durch konzeptionelle Vorstellungen, wie sie zur Zeit der Räterepublik bei der Suche nach den Wesenszügen der neu zu schaffenden Literatur entwickelt wurden. Aus den revolutionären Veränderungen leiteten die Schriftsteller die Vorstellung ab, die neue Literatur müsse weitaus dynamischer als die frühere sein. Ganz allgemein, insbesondere im D r a m a strebte man nach Monumentalität, um so die Kraft der handelnden Massen sinnfällig zu machen. Als grundlegende Besonderheit bei der Herausformung der neuen Literatur erachtete man die Dynamik, als Ausdruck der revolutionären Bewegung, die Monumentalität, als Symbol für die K r a f t der Massen, sowie das gesteigerte Pathos. Ähnliche Bestrebungen waren auch in der bildenden Kunst anzutreffen, besonders in den Arbeiten von Bela Uitz aus dem Jahre 1919. Als „zentrales Erlebnis" der neuen Kunst verstand man das ungebrochene Lebensgefühl, das Verschmelzen von Ich und Welt, die völlige Einheit von Mensch und Natur. Dieses Einssein mit dem Universum verleihe dem Individuum das Gefühl der Totalität, es trage den Menschen über die Grenzen seines individuellen Seins hinaus. Mit anderen Worten: D a s Lebensziel des Menschen, der die klassenlose Gesellschaft verwirklicht - in einer gewissen Naivität vermeinten die Schriftsteller von 1919, daß diese Zeit bald käme - , sei bereits jetzt die Unterwerfung der Natur. Dieser Mensch ringe also nicht mehr mit den Problemen des kurzen menschlichen Daseins, sondern setze sich mit der Realität des Kosmos auseinander. Auf diese Vorstellungen gründete sich bei Schriftstellern unterschiedlichster Richtungen die nahezu einhellige Meinung, die Literatur verliere in der kommunistischen Gesellschaft allmählich bestimmte historisch entstandene Merkmale: Im Drama verschwinde die Tragödie, in der Lyrik und Epik das tragische Moment; die sozialistische Dramatik, Lyrik und Epik, die auf harmonischen Lebensverhältnissen der Menschen fußten, würden einerseits Konflikte zwischen Mensch und N a tur in den Mittelpunkt der Darstellung rücken und andererseits durch verfeinerte Seelenanalyse an Tiefe gewinnen. So überrascht es nicht, daß die Anschauungen des Aktivisten Sändor Barta, des Impressionisten Dezsö Kosztolänyi, des Kritikers Aladar 26

Schöpflin sowie die Béla Baläzs', der im literarischen Leben der Räterepublik eine führende Rolle spielte, verwandte Züge tragen. „Die gesellschaftliche Freiheit, der stürmische Lauf der Ereignisse, die ewige Dynamik", schreibt Sàndor Barta, „bedeuten zugleich den schönen Tod der gemimten Minutiosität und den Respekt vor Stein, Eisen, Mauern und Material. Das gleiche gilt für die Literatur: Anstatt eines auf der Stelle tretenden Aktivismus beginnt nun die Aktion im Großen, mit Menschen, die stets neue Wege einschlagen (denn dies ist die maximale Themenmöglichkeit). Dies bedeutet das Ende der Tragödie, denn die Starken beißen sich immer und durch alles hindurch, durch tausend Schrecken um des Besseren willen. Es verschwinden die ohrenbetäubenden, verstaubten Tragödien, denn die Tragödien sind heute nichts anderes als das Leben jener, die im Kampf mit den Starken unterliegen. Doch das Leben der Unterlegenen wird künftig kein Problem sein." 27 Auch Dezsö Kosztolànyi war der Ansicht, daß „der Weg der Dichtkunst im kommunistischen Staat schnurgerade ist. Die 'gesellschaftlichen Probleme', denen bisher das Gewissen der Dichter Rechnung trug, werden verschwinden, denn der Staat wird sich ihrer annehmen und sie mit ein paar Verordnungen radikal beseitigen." 28 Aladär Schöpflin erwartete ebenfalls eine Veränderung des Inhalts und der Funktion der Literatur: „Eine Unmenge von Motiven, gesellschaftlichen und seelischen Komplikationen, die heute eine dominierende Rolle spielen und dem Menschen durch Armut und Reichtum, Geschäft und Spekulation, Rang und Klassenunterschied beschert sind, werden ausbleiben, wenn es weder Arme noch Reiche, weder Geschäftemacher noch Spekulanten, Unterdrücker noch Unterdrückte gibt . . . Eine neue Literatur wird entstehen mit weniger aktuellen Elementen, mit weniger Bezügen zu den gegenwärtigen Verhältnissen, jedoch mit mehr humanistischem Inhalt: Die Menschen werden sich eher von der Außenwelt ihrem eigenen Innern zuwenden." 29 Ähnliche Vorstellungen entwickelte auch Béla Balàzs: „In der kommunistischen Gesellschaft hören nämlich die .äußeren Lebensumstände' auf, Dramenmotive zu sein. Das für alle gesicherte, menschenwürdige Leben wird nicht mehr Thema von ,Gesellschaftsdramen' sein, auf der Bühne wird das Innerste der miteinander verwurzelten Seelen aufblühen." 30 Die sich hier andeutende Übereinstimmung von Schriftstellern unterschiedlicher Richtungen war in starkem Maße durch die zeitgenössische revolutionäre Welle in 27

Europa motiviert worden. Sie wirkte letztlich - bei aller aus heutiger Sicht in ihr enthaltenen Naivität - für das Zustandekommen einer neuen, sozialistischen ungarischen Literatur. D i e Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik verhinderte indessen diese günstige Möglichkeit. D e r Beginn einer aktuellen sozialistischen Literatur wurde notgedrungen von der nationalen Ebene auf die Position eines „Brückenkopfes" zurückgedrängt. Dennoch können die in der Räterepublik ausgetragenen literarischen Debatten, die Ansichten über die neue Literatur und deren literaturpolitische Konzeption unter historischem und internationalem Aspekt auch heute als ein spezifisches Modell angesehen werden, das jede progressive Richtung der Nationalliteratur im Zeichen der sozialistischen Revolution zu integrieren suchte.

Proletkult und Avantgarde Bekanntlich wurden die Aufmarschlinien der gegen die Sowjetunion gerichteten Intervention durch die Existenz der Ungarischen Räterepublik im Jahre 1919 erheblich gefährdet, ging von letzterer ein bedeutender ideologischer Einfluß auf die Arbeiterschaft Mitteleuropas aus. Daher hatte die Große Entente beschlossen, Rot-Ungarn zu liquidieren. Diese traurige Rolle kam der königlichen rumänischen Armee zu, die auf Grund ihrer Übermacht der ungarischen Kommune am 1. August 1919 ein Ende setzte. Begünstigt wurde der Sturz der Räterepublik durch eine verräterische Politik rechter sozialdemokratischer Führer. Mit den von Szeged aufbrechenden Kommandos Horthys, die einen präfaschistisch Weißen Terror verbreiteten, etablierte sich in Ungarn für ein Vierteljahrhundert ein konterrevolutionäres Gesellschaftssystem. Trotz der schweren Niederlage der Arbeiterbewegung konnte der gesellschaftliche Fortschritt auf Dauer nicht verhindert werden; er bahnte sich unter den neuen, ungünstigen historischen Bedingungen seinen W e g und wirkte in neuer Gestalt weiter. 31 Halb geknebelt konnte die Sozialdemokratische Partei ihre Tätigkeit fortsetzen, die Kommunistische Partei Ungarns wurde in die Illegalität gedrängt, und erst zur Mitte des Jahrzehnts gelang es der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei für kurze Zeit ( 1 9 2 5 - 1 9 2 8 ) die Legalität zu erlangen. D i e progressiven Kräfte waren zum größten Teil gezwungen zu emigrieren. Seit der Zerschlagung der Revolution und des nationalen Befreiungskampfes von 1848/49 durch die

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Habsburger hatte es keine ungarische politische Emigration solchen Ausmaßes gegeben; zu den annähernd Einhunderttausend zählenden linksorientierten Ungarn, die ihre Heimat verlassen mußten und über die halbe Welt verstreut wurden, gehörten Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerliche Demokraten, Arbeiter und Intellektuelle. D i e bedeutendsten Emigrationszentren waren zu Beginn Österreich und Deutschland. In Wien erschienen Anfang der 20er Jahre annähernd vierzig ungarischsprachige politische und kulturelle Zeitungen und Zeitschriften. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts konzentrierten sich die ungarischen Emigranten auf die Weimarer Republik (hauptsächlich auf Sachsen, das Ruhrgebiet und Berlin), auf Frankreich, die U S A und später auf Mexiko und Südamerika. Das wichtigste E m i grationszentrum bildete sich indessen im Verlaufe der 20er und 30er Jahre in der Sowjetunion heraus. Hier hatte sich eingefunden, wer vor dem Weißen Terror geflohen war, die zu Gefängnis oder zum Tode Verurteilten, die von der Sowjetunion 1921/22 ausgetauscht worden waren, und schließlich jene in größerer Anzahl hier verbliebenen ungarischen Rotarmisten, die während des russischen Bürgerkrieges in den Reihen der Hunderttausende zählenden ungarischen Internationalisten gekämpft hatten. Zudem sollte nicht vergessen werden, daß zwei Drittel des Territoriums des Königreiches Ungarn im 1920 abgeschlossenen Friedensvertrag von Trianon abgetreten wurden und daß eine ungarische Bevölkerung von mehreren Millionen nunmehr den benachbarten Staaten angehörte. Diese Umstände erklären, daß sich die progressive ungarische Kultur fernerhin unter außergewöhnlichen Bedingungen, unter den komplizierten Verhältnissen der geographischen und ideologischen Trennung entfaltete. D a sich die unterschiedlich ausgeprägten bürgerlich-demokratischen Regierungen der Nachbarländer, besonders Österreichs und der Tschechoslowakei, dem irredentistischen und chauvinistischen Weißen Terror scharf entgegenstellten, duldeten sie (wie das zwar nicht demokratische, jedoch allgemein fortschrittlichere Rumänien und Jugoslawien) auch mehr oder weniger, daß ungarische Kommunisten in ihrem Land kulturell aktiv wurden. D i e durch die „zweite ungarische Reformzeit" 3 2 und von den ihr folgenden Revolutionen, der bürgerlichen von 1918 und der proletarischen von 1919, ausgearbeiteten Ideen lebten in ihrer Mannigfaltigkeit als Tradition weiter, teils im geistigen Leben Ungarns, teils in der über die halbe Welt verstreuten Emigration. 1919 begann sich ein Kulturmodell abzuzeichnen, das auch international Beachtung ver29

diente und im August 1919 durch die konterrevolutionäre Reaktion im Keim erstickt worden war. Linkes Gedankengut war im geistigen Leben Ungarns nahezu für ein halbes Jahrzehnt heimatlos geworden. Sieht man von den avantgardistischen Initiativen der Zeitschrift Magyar lrds bzw. den kulturellen Experimenten innerhalb der Gewerkschaftsbewegung einmal ab, so mangelte es auch an Organisationsformen. In der fortschrittlich motivierten Lyrik hinterließ der durch die Niederlage verursachte Schrecken seine Spuren und die humanistisch ausgerichtete Prosa suchte in historischen Analogien eine Erklärung auf Fragen, die sich mit den Erschütterungen eingestellt hatten. 33 Die Ansichten über die Funktion von Literatur und Kunst waren infolge der historischen Ereignisse - im Rahmen einer allgemeineren Kulturkonzeption - verständlicherweise überspitzt formuliert, da sich selbst die Prozesse, in denen die Ideen notwendigerweise ausgetragen und miteinander konfrontiert wurden, als außerordentlich kompliziert gestalteten. In der ersten Hälfte der 20er Jahre bildeten sich innerhalb der linken Intelligenz, vor allem in der Emigration, zwei bedeutende Kulturmodelle heraus, deren Wirkung auch auf das geistige Leben in Ungarn ausstrahlte. Die Idee von Kassäks Avantgardismus und der sich um Aladär Komjat organisierende Proletkult standen bereits seit ihren Anfängen in diametralem Gegensatz zueinander. Lediglich in bezug auf ihr Instrumentarium bewahrten sie eine Zeitlang das Kennzeichen ihres gemeinsamen Ursprungs, die Requisiten der expressionistisch-aktivistischen „Formen-Revolution". Lajos Kassäk, der in der Wiener Emigration erneut die Zeitschrift MA herausgab, hatte wiederum ein Lager um sich gebildet. Größtenteils handelte es sich dabei um eine Gruppe von Intellektuellen, die sich gegen den Geist der progressiven bürgerlichen Zeitschrift Nyugat wandten und deren Liberalismus als Antwort auf die Schicksalsfragen der Zeit für unzureichend erachteten. Indem sie sich von der kritischen Anschauung der Impressionisten abwandten, strebten sie danach, die Hektik der Zeit objektiver zu erfassen. Dieser avantgardistische Kreis stand in enger ideeller Verbindung mit holländischen, deutschen, russischen und italienischen aktivistischen und futuristischen Bestrebungen, hatte aber auch Kontakt zu avantgardistischen Kreisen in Kroatien und Rumänien. „Soviel ich weiß", schrieb Läszlö Dienes, marxistischer Redakteur der in Kolozsvär (Cluj) erscheinenden Zeitschrift Korunk und einer der Theoretiker der Avantgarde, 1925 in einem Brief an Kassäk, „sind wir jetzt erstmals mit jenen syn30

chron und in einer Reihe, die der Zukunft entgegenschreiten . . ." M Kassäks Avantgardismus kennzeichnete nicht die Dekadenz, er verwarf die Ideen von rart-pour-l'art. Als revoltierende Bewegung war er zugleich auf Konstruktivität aus und wandte sich gegen versteinerte und leere Konventionen. In seiner Poetik, in seinen dichterischen Mitteln lehnte er alle Traditionen ab und überraschte durch eine assoziative Fähigkeit, die Möglichkeiten der Sprache und des Ausdrucks zu erweitern. Das Interesse Kassaks und seines Kreises ging über die Literatur hinaus und erstreckte sich auch auf die Musik und Architektur (mehrere Theoretiker und Künstler gelangten zur Dessauer Bauhaus-Bewegung 35 ), insbesondere auf die bildende Kunst. Eine Reihe von Künstlern, die die Traditionen des N y o l c a k - K r e i s e s 36 fortsetzten, gruppierten sich um Kassäk, der auch selbst malte und parallel zu den Anfang der 20er Jahre entstandenen dadaistischen „numerierten" Versen konstruktivistische Bildarchitekturen schuf. Dabei schwebte den Avantgardisten eine zweckmäßige, funktionale Gestaltung der gegenständlichen Umwelt, eine Formenkultur von Denken und Sein vor. In ihrer Arbeit gab es auch mißglückte Versuche, ihre Errungenschaften wurden indessen in die sozialistische Kultur integriert. Zweifelsohne kam in der durchkomponierten Zerrissenheit der avantgardistischen Dichtung und bildenden Kunst eine Art Lebensgefühl zum Ausdruck, das eine Folge der gestürzten Revolutionen war. So in Kassaks großem Epos Mdglyäk enehelnek (Scheiterhaufen singen; Wien 1921) - einem Klagegesang auf die ungarische proletarische Revolution; doch er und seine Gruppe beschränkten sich nicht auf eine Bestandsaufnahme der Niederlage. In einer noch in Wien entstandenen Studie bekannte Kassäk: „In der Weltsicht und im Lebensgefühl ist der Mensch an einen Wendepunkt angekommen, an solch einer Wende ist auch das Kunstwerk angelangt." 37 Unbestritten ist, daß es in seiner Kunstanschauung auch irrationale Elemente gab. Die Niederlage von 1919 drängte die ungarische Avantgarde vorübergehend zum Dadaismus, und erst später - im Verlaufe der gesellschaftlichen Konsolidierung - ergaben sich in Ungarn innerhalb der Kulturbewegungen erneut Wirkungsmöglichkeiten. Zu dieser Zeit strahlte das soziale Engagement dieses Kreises auf die debütierenden Schriftstellergenerationen aus, wirkte es auf deren Bewußtsein ein. Doch in Wien spielte sich zunächst ein entgegengesetzter Prozeß ab: Kassäk, der der parteipolitischen Aktivität den Rücken zuge31

kehrt hatte, wurde nacheinander von seinen Anhängern (Sändor Barta, Mózes Kahàna, Jänos Mäcza und Béla Uitz) verlassen. Sie rechneten mit ihrem geistigen Vater in den Spalten der Zeitschriften Akasztott ember und ÉK ab und waren bemüht, eine Kulturkonzeption der proletarischen Partei auszuarbeiten. Das Ausscheiden der einstigen Anhänger beschleunigte unter Kassäks Avantgarde den Prozeß der Selbstbesinnung. Als Kassäk von der „Unerreichbarkeit unseres Zieles" sprach und feststellte, daß sich der „Horizont hinausschiebt" und es gilt, „mit uns selbst abzurechnen" sowie „in Richtung des befreiten Menschen" aufzubrechen, übte er auf seine Weise am Ideenkreis des „revolutionären Messianismus" ebenso Kritik, wie dies ein volles Jahrzehnt später György Lukäcs in der Ästhetik des Realismus tat. Bei Kassäk erstreckte sich das Umdenken nicht allein auf seine schöpferische Tätigkeit als Künstler, seine theoretischen Erkenntnisse verblieben indessen auf dem Niveau der Publizistik. Er und seine Anhänger entwickelten sich im Verlaufe des Jahrzehnts zu den wichtigsten Kontrahenten des Proletkults und der proletarischen Literatur. Negativ bewerteten ihre Arbeit nicht allein die konservativen sozialdemokratischen Schriftsteller, sondern auch Schriftsteller und Kritiker, die der politischen Linie der Kommunistischen Partei folgten. Zu Recht verwies Kassäk in der 1925 ausgebrochenen Debatte 38 mit Schriftstellern, die sich um das in Ungarn erscheinende sozialdemokratische Blatt Népszava gruppiert hatten, auf die bewegten Diskussionen der Jahre 1909 und 1914 zu Fragen eines künstlerisch anspruchsvollen Werkes. Kassäk geriet indessen auch zu den Kulturschaffenden der illegalen Kommunistischen Partei in Gegensatz, da er die führende Rolle der Partei bei der Gestaltung künstlerischer Prozesse in Zweifel zog, von einer politisch aktualisierten Kunst nichts wissen wollte und den Klassencharakter der Kunst der Übergangszeit, deren eigenständigen ideologischen Gehalt in Abrede stellte. Seiner Meinung nach war der Künstler souverän und unabhängig, stellte die Kunst eine Welt mit eigenen Gesetzen dar. Als militantester Kontrahent von Kassäks Avantgarde erwies sich die von Aladär Komjät in der Emigration herausgegebene Zeitschrift Egység (1922-1924; Wien - Berlin) mit ihrer ungarischen ProletkultWerkstatt. Hatte sich die ungarische Avantgarde von einer Tendenzkunst abgewandt, so war der Proletkult bestrebt, diese Tendenz wieder in ihre alten Rechte einzusetzen. Man wünschte entschieden, Kunst und Literatur in den unmittelbaren Dienst der Parteiarbeit und des 32

Klassenkampfes zu stellen. E i n Dichter und Theoretiker der Egyseg schrieb unter anderem: „Nicht der Kunst, sondern der Revolution wegen waren wir, was wir waren." 3 9 Und in der Nummer vom 10. Februar 1923 wurde unter dem Titel Gesichtspunkte zur Schaf-

fung

einer

internationalen

proletarischen

Kulturorganisation

-

Proletkult-Internationale40 in dieser Zeitschrift ein Artikel veröffentlicht, der die seitens des russischen Proletkults 1918 verfolgte Linie nun auch international verfocht. D e r Entwurf hielt als Aufgabe des Proletkults fest, daß „mit der Organisierung der am Klassenkampf teilnehmenden proletarischen Künstler eine Kunst zu schaffen (sei), die die proletarische Ideologie, die proletarische G e fühls- und Gedankenwelt zum Ausdruck bringt. E i n e Kunst, die wirklich aus dem Geist der Massen entstanden ist, um das zum B e wußtsein erwachte Kollektiv wahrnehmbar zu machen. E i n e proletarische Kunst." Ein zweiter Punkt des Entwurfs bezieht sich ebenfalls auf die Aufgabe der proletarischen Kunst: „Die proletarische Kunst drückt nicht nur das Leben und den Geist des Proletariats aus, sondern sie schafft damit auch zugleich ein Kampfmittel. Eine neue und reiche Agitationsmöglichkeit . . . Es ist nicht nur Aufgabe, eine solche Kunst zu schaffen, in der sich die Existenz des Proletariats spiegelt, sondern auch eine Kunst, die in den täglichen Verlauf des Klassenkampfes eingreift, als kommunistische Unterrichtsund Propagandaarbeit und als eine Form der politischen Agitation." Wie György Lukäcs später feststellte, vermochten weder die aktivsten Vertreter der Sozialdemokratie (so auch Mehring nicht) - und wir fügen hinzu - noch der Ungar Ervin Szabö jenes Dilemma zu lösen, das sich für sie aus der unbestritten klassengebundenen ideologischen Bewußtseinsform und dem gleichzeitigen Postulat der „reinen Kunst" ergab. Als künstlerisch-sensible Intellektuelle konnten sie sich nicht mit der utilitaristischen Rolle der Kunst abfinden und befürchteten - ähnlich wie Kassäk - die Vernichtung der Kunst. Auf den Proletkult-Entwurf reagierte Kassäk in seinem Wiener Blatt äußerst heftig: „Die Lebenssentenz der Kunst besteht darin . . . daß sie für nichts anderes als nur für sich selbst geboren wurde . . . E i n wahrhaft revolutionärer Künstler ist, wer als Mensch - als soziales W e sen . . . während des schöpferischen Prozesses weder an die Ketten des Proletariats noch an das teure Brot denkt, der für sein zu vollbringendes Werk schöpferisch tätig ist. E r hat nur einen Wunsch: sich selbst möglichst vollkommen zum Ausdruck zu bringen." 4 1 Man kann nicht behaupten, daß dieses Problem nicht auch für den 3

Befunde

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Kreis um die Zeitschrift Egyseg existiert hätte. Von dort wurde am entschiedensten gefordert, die Kunst in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen. In dieser Frage war man zu keinerlei Kompromiß bereit: Die einstigen Kassäk-Schüler brandmarkten ihren geistigen Vater geradewegs als Verräter. Doch zunächst waren sie der Meinung, die Avantgarde sei die letzte Errungenschaft der Kunst der bürgerlichen Epoche und die Sprache und Formenstrukturen der Ismen stellten ein „objektiviertes", entideologisierbares Produkt dar, das die Kultur der Vergangenheit mit der der Zukunft verbinde und das mit einem neuen Gehalt (dem proletarischen Inhalt) angereichert - in der Lage sei, eine zeitgemäße, auch in ihrer Form anspruchsvolle proletarische Kunst zu garantieren. Diese Theorie war zu Beginn und f ü r den späteren Verfall der einige Jahre umfassenden Geschichte dieser Proletkult-Werkstatt charakteristisch. Der Einsatz der Kunst als Kampfmittel setzte voraus, d a ß diese die breiten Massen ansprach. Dies schien mit der Formensprache der Avantgarde von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. D i e Anhänger des ungarischen Proletkults zogen in ihren Werken die Konsequenzen, fixierten ihre Erkenntnisse jedoch auch in ihren grundlegenden Schriften, wenn beispielsweise Mözes K a h ä n a schrieb: „Vor unseren Augen spielte sich der tragikomische Zusammenbruch der bisherigen Künste ab. Wir sahen in der neuen Kunst einen N e u beginn des universell Neuen, doch wer hätte damals gedacht, d a ß dies nur der Schlußpunkt, das E n d e der bürgerlichen Moral und der bürgerlichen Kultur war. Ein solches E n d e für immer hatte es bisher für nichts gegeben . . . U n d wir, anstatt, d a ß wir Künstler des N i c h t s geblieben wären, blieben Kommunisten und Revolutionäre." 4 2 Um der historischen Rolle des ungarischen Proletkults gerecht zu werden, ist unbedingt festzuhalten, d a ß sich dieser im Gegensatz zur abstrakten Modernität des frühen Avantgardismus zu den Prinzipien der p a r t e i l i c h e n sozialistischen Literatur vortastete. 43 E r trat für eine engagierte Kunst ein, in dem Wissen, d a ß keinerlei Bewußtseinsform die Erfordernisse des Klassenkampfes außer acht lassen könne, und war überdies der Überzeugung, d a ß sich das Proletariat im Verlaufe eines konsequenten Klassenkampfes von der Ausbeutung zu befreien vermag und als entscheidende Klasse des gesellschaftlichen Kampfes auch jede andere Klasse nach seinem Bild formen könne. Die theoretische Leistung des Proletkult-Kreises stellte jedoch bei 34

der Erarbeitung der Grundprinzipien der sozialistischen Kunst lediglich eine Übergangsstufe dar. Als Folge einer mechanistisch verstandenen Gesellschaftsentwicklung blieb der ausschlaggebende Tatbestand unberücksichtigt, daß mit dem Proletariat in der Geschichtc erstmals eine Klasse nach der Macht strebte, deren Ziel nicht die Unterdrückung der anderen Klassen ist, sondern die ein für allemal der Klassenunterdrückung ein E n d e setzt/' 4 Innerhalb dieses komplizierten Prozesses kann folglich die Kultur der gesamten Gesellschaft nicht proletarisch werden, da das Proletariat durch seine Befreiung selbst stufenweise seinen proletarischen Charakter verliert. Gleichzeitig wirken und kommen auch ideell beeinflußte Werke anderer progressiver Klassen und Schichten zur Geltung, die mit der durch die Arbeiterklasse ideologisch geprägten Kunst in Verbindung stehen (hier stellt sich die Frage der Bündnispartner!); eine nicht unbedeutendere Rolle spielt bei alledem das progressive E r b e der Vergangenheit. D e r ungarische Proletkult hatte weder Lenins Lehre verstanden noch sich diese bewußt gemacht: „Ohne die klare Einsicht, daß nur durch eine genaue Kenntnis der durch die gesamte Entwicklung der Menschheit geschaffenen Kultur, nur durch ihre Umarbeitung eine proletarische Kultur aufgebaut werden kann - ohne eine solche Einsicht werden wir diese Aufgabe nicht lösen." 4 5 (Zur historischen Wahrheit gehört, daß der Proletkult in der Arbeiterbewegung Mittelund teilweise Westeuropas in der Praxis eine positivere Rolle gespielt hat. So folgte beispielsweise die Kosicer Proletkult-Organisation, der Kreis um Jänos Mäcza und Antal Hidas, den Anregungen der tschechoslowakischen kommunistischen Partei, indem sie eine allgemeine Kultur der Arbeiterklasse anstrebten und auf die progressiven ungarischen Traditionen, so auf die Dichtung Endre Adys, zurückgriffen. 40 ) D a vom Proletkult jedoch im wesentlichen die Werte der allgemeinen Kunst verworfen wurden, erkannte er auch nicht die Gefahren, die sich für ihn aus der Abkapselung und Isolierung ergaben. Seine Anhänger setzten ihr Vertrauen nicht auf die Klassen t r e u e , sondern vielmehr auf die K l a s s e n h e r k u n f t . Einer ihrer Kritiker schrieb: „Ihre Klassenlage, ihre Erziehung und Ansprüche, die T a t sache, daß sie mit dem Formenkult einer Kultur geschwängert waren, die der Arbeiterschaft fremd ist, bewirkten ihr Unvermögen, die Ideologie nicht nur an der Oberfläche zu erfassen. Unsere Künstler bürgerlicher Herkunft begriffen die proletarische Ideologie nur von der Logik her, nicht aber in ihrer Lebendigkeit, wie sie wirklich existiert (oder sie bezeichneten das humanistische Wiedergekäue des Kleinbür3'

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gertums - indem sie von Nietzsche über Stirner, Jesus Christus und Lenin bis zu Dostojewski alles zusammenpanschten - als proletarische Ideologie)." 47 Bei der Bekämpfung des abstrakten Avantgardismus glaubten sie, die kaum über das theoretische Rüstzeug verfügten, um die Eigenarten der Kunst freizulegen, dem Realismus bedeutend nähergekommen zu sein (doch nicht einem von ihnen gelang dies in seiner schöpferischen Arbeit). Daher waren sie der Ansicht, allen Erfordernissen dadurch Genüge getan zu haben, indem sie die Alleinherrschaft der Agitationskunst proklamierten, eine die künstlerische Form betreffende Anspruchslosigkeit praktizierten, gegenüber den Bündnispartnern eine vom Mißtrauen geprägte Literaturpolitik betrieben und sich einigelten. Für diesen Irrtum hatte die p r o l e t a r i s c h e Liter a t u r einen hohen Preis zu zahlen, als sie sich - in vielem auf die ideelle Grundlage des Proletkults stützend - im folgenden Jahrzehnt auf den Weg machte.

Proletarische Literatur — sozialistische

Literatur

Den Anregungen des V. Kongresses der Komintern folgend, hatte sich das Internationale Büro Revolutionärer Literatur formal nicht die Schaffung des Proletkults, sondern der internationalen p r o l e t a r i s c h e n L i t e r a t u r zum Ziel gesetzt. Mit der Leitung des Büros wurde der in Moskau lebende ungarische Emigrationsschriftsteller Béla Illés betraut, der das Vertrauen Anatoli Lunatscharskis genoß/*8 Die ungarische Sektion der Moskauer Organisation der russischen proletarischen Schriftstellerbewegung wurde bereits im Oktober 1925 gegründet, der Verband der Ungarischen Revolutionären Schriftsteller und Künstler als Mitglied des Internationalen Büros Revolutionärer Literatur Anfang 1926 in Moskau ins Leben gerufen. Seine Organisationen erstreckten sich von Westeuropa bis Amerika: Die Pariser Sektion wurde von Gyula Illyés, die Berliner von Aladär Komjät geleitet und der amerikanischen stand Jänos Gyetvai vor. Annähernd ein Jahrzehnt lang wurde auch in der ungarischen Bewegung der Begriff p r o l e t a r i s c h e L i t e r a t u r auf jene Literatur angewandt, deren Autoren sich in erster Linie als Parteiarbeiter verstanden und an der Kulturfront mit dem Ziel wirkten, das Bewußtsein und die Gefühle des Proletariats im Interesse eines siegreichen Verlaufs des proletarischen Klassenkampfes zu „organisieren". Aus-

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gerüstet mit den Erfahrungen der Arbeiterbewegung zur Zeit der Ungarischen Räterepublik und in der Emigration, standen die ungarischen proletarischen Schriftsteller in der Sowjetunion wie in Westeuropa an vorderster Front. Sie waren in der Leitung des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller, in der Redaktion der Zeitschrift Die Linkskurve ebenso vertreten wie im Lehrkörper der Marxistischen Arbeiterschule bzw. wirkten unter jenen, die Literaturprogramme erarbeiteten. Sie sind auf der ersten internationalen Konferenz revolutionärer Schriftsteller 1927 in Moskau wie auf der zweiten im November 1930 in Charkow anwesend, auf der über achtzig Schriftsteller aus mehreren Kontinenten über die enorme Ausbreitung der Bewegung Rechenschaft ablegten und die Gründung der Roten Literatur-Internationale geplant wurde. Die wenigen aus den Reihen der Arbeiterklasse, überwiegend jedoch aus denen der kleinbürgerlichen Intelligenz stammenden Schriftsteller und Künstler, die sich der Partei angeschlossen hatten, sahen ihre Hauptaufgabe in folgendem: die Widersprüche der bourgeoisen Gesellschaft bloßzulegen, mit den Erfolgen der sozialistischen Aufbauarbeit in der Sowjetunion bekannt zu machen sowie gegen den aufkommenden kriegslüsternen Faschismus und den als Hilfstruppe der Bourgeoisie qualifizierten „Sozialfaschismus" zu kämpfen. An der Realisierung dieses Programms waren der Proletkult-Entwurf der Egyseg beteiligt wie Sarlo es Kalapäcs tivkönyv (Wien, 1926), das als Jahrbuch die ungarische proletarische Literatur in Europa zusammenzufassen suchte, und die in den Jahren 1929-1937 in Moskau erscheinende Zeitschrift Sarlö es Kalapäcs. Die Wiener Anthologie stellte nach den Fraktionskämpfen in der Emigration den ersten Versuch dar, die verschiedenen literarischen Gruppierungen auf einen grundlegenden Konsensus zu bringen.49 Ihre letzte Fassung, die theoretische Schriften und Belletristik enthält, erhielt nach Abstimmung der Standpunkte der Moskauer und Berliner Gruppe durch Andor Rez und Aladar Komjät ihre Einleitung. Diese Studie umfaßt die ars poetica der sich zum Bündnis zusammengefundenen Schriftsteller: In ihr wurde festgestellt, daß Kultur und Kunst Klassencharakter besitzen und eben deshalb die Werke des sozialistichen Künstlers M i t t e l im Klassenkampf sind und als solche die Funktion der „politischen Waffe", der „Agitation" wahrnehmen. Das Endziel des Bündnisses sei jedoch die Erringung der Hegemonie des Proletariats in der Politik wie in der Kunst. 50 Die Fortsetzung des Jahrbuches ließ indessen eine Zeitlang auf sich warten, weil sich die „reine" pro37

letarische Literatur in der Emigration nur unter enormen Schwierigkeiten durchzusetzen vermochte. So konnte die durch den konstruktivistischen Künstler Béla Uitz, den bedeutenden Vertreter der avantgardistischen Dichtung, Sändor Barta, die Dichterin Erzsi Ujvàri oder die durch den Kunsttheoretiker Jänos Mäcza vertretene „Linie" mit der „utilitaristischen" Konzeption nicht in volle Übereinstimmung gebracht werden. Sie hielten bei ihrer kommunistischen Einstellung die Forderung für übertrieben, die Parteilinie in der Kunst unmittelbar zur Geltung zu bringen, wandten sich gegen eine Vernachlässigung der Formfragen und suchten auf ihre Weise die Spezifik der Kunst in der proletarischen Literatur zum Ausdruck zu bringen. Besonderes Augenmerk verdienen hier die theoretischen Anstöße Jänos Mäczas. Der einstige Theatermann arbeitete in der Nähe Lunatscharskis und Fritsches, entwickelte sich als Mitarbeiter und Lehrer an der Kommunistischen Akademie zum Fachautor für Kunst- und Architekturgeschichte und spielte in den von der Kommunistischen Akademie veranstalteten Diskussionen eine gewichtige Rolle. In den 20er Jahren erschienen von ihm mehrere beachtenswerte Bücher über die westeuropäische progressive Kunst, überdies gab er auch ein Handbuch heraus, das über anderthalb Jahrzehnte sowjetischer Kunst einen Überblick gibt.51' Daher ist es verständlich, daß sich Mäcza mit jenen, die sich zum Prinzip des „proletarischen Purismus" bekannten, nicht auszusöhnen vermochte. Seine Schrift Rolle und Weg der Literatur in der proletarischen Revolution52 ist ein Versuch, für die sozialistische Literatur eine marxistische Ästhetik zu entwickeln, die zu jener Zeit noch in ihren Anfängen steckte. So stellte er in seinem Artikel fest: „Wir haben keine proletarische Ästhetik." Beachtung verdient in dieser Situation auch seine Erkenntnis, daß die Gesetzmäßigkeiten der Kunst nicht konstant sind, sich das Verhältnis und die Funktion von bewußtem und unbewußtem Element entsprechend den historischen Erfordernissen verändern können. Nach der mit dem Fachausdruck „Tektonik" bezeichneten Konzeption ist die Kunst Ausdruck der Suche nach einem psychologischen Gleichgewicht der gesellschaftlichen Beziehungen; in dieser Theorie läßt sich unschwer das Wissen von der Konsolidierung der Revolution ausmachen, das in gewissem Sinne bereits auf die spätere Theorie von Lukäcs weist. Wenn Mäcza auch nicht behauptete, daß die Elemente und die Komposition des Kunstwerks b e w u ß t geordnet sind, so legte er den Akzent doch auf das psychologische und ideologische Element; er lehnte in dieser Phase des sozialistischen Aufbaus entschieden das 38

Losungshafte ab. E t distanzierte sich vom Primat des Inhalts als entscheidendem Kriterium und übte in gewisser Weise schon früh an der „Schönfärberei" Kritik. In der Kategorie des ästhetisch „Schönen" suchte er nicht das Moment träumerischer Versunkenheit, sondern solch eine Lösung von Widersprüchen, die der Entwicklung des Bewußtseins und der Gefühle in sozialistischem Geist förderlich war. Für Jänos Mäcza, Sändor Barta und die mit ihnen in loser Verbindung stehende Gruppe Gleichgesinnter - im wesentlichen handelte es sich dabei um die kommunistischen Vertreter der ungarischen Avantgarde - war die Beschäftigung mit der Theorie der Kunst von grundlegender Bedeutung; daher widmeten sie den Formproblemen besondere Aufmerksamkeit. Letztlich verbargen sich hinter der parteilichen Literatur, die sich dem Realismus als einer ästhetischen Kategorie verpflichtet fühlte, und dem Engagement der avantgardistischen Kunst unterschiedliche ideelle und ideologische Absichten. D a ß der von beiden Seiten geführte Positionskampf dabei zumeist an der Oberfläche haften blieb und zu einer bloßen Formen-Debatte ausartete, war auf die Unreife der ästhetischen Theorie zurückzuführen. Bei dem Vergleich dieser Ansichten ist besonders seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre eine Betrachtungsweise von der Position des „tertium datur" zu beobachten, und zwar in erster Linie bei den Denkern i n n e r h a l b der proletarischen Literatur. Eine simple Variante dieser Annäherung bot die Studie Über die proletarische Literatur von Jenö Derkovits. Als Mitglied des K a s s a i - M u n k ä s - Kreises, der den Proletkult noch übertraf, beschrieb er die avantgardistische Kunst wie folgt: „Diese anarchischen Richtungen waren in Inhalt und Form vollkommen unverständlich. Ihr Wesen machte ein ewiges Tohuwabohu, eine hypertrophe Abstraktheit aus, was zu äußerst antisozialen .Ergebnissen' führte. Mit diesen Richtungen hatte die proletarische Literatur absolut nichts gemein." 53 Gegenüber diesem rigorosen Urteil ist auffallend, daß Derkovits das Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Literatur in ihrer Aufeinanderfolge und ihren Übergängen h i s t o r i s c h begründet, und was am wichtigsten ist: Er trennt die moderne Dichtung Endre Adys von der „tiefreichenden Verderbtheit" der Avantgarde und bekundet sein Verständnis für die Kunsttradition der radikalen Demokratie. 54 Ungleich fortgeschrittener war auf diesem Weg der Kreis der in Cluj erscheinenden Zeitschrift Korunk, obwohl sich auch hier nach positiven Anfängen an der Wende der 20er/30er Jahre eine Zeit sektiererischen Rückfalls abzeichnete. Gleiches galt auch für das zu Be39

ginn der 30er Jahre von Zoltän Fäbry in Bratislava herausgegebene Blatt Az Ut. Redakteur der Korunk war der literarisch außergewöhnlich gebildete Gabor Gaäl. Er ging mit einem ausgeprägten Gespür für das Wertvolle zu Werke, auch dann, als er sich bemühte, die puritanisch reduzierte marxistische kulturpolitische Linie zu verwirklichen. Seine über Tibor Dery, einen der begabtesten Dichter von Kassäks Avantgarde, verfaßte Kritik (aus dem Jahre 1928!) stellt selbst in ihrem bescheidenen Umfang ein Musterbeispiel für die Sensibilität gegenüber den Imponderabilien der Kunst dar. Indem Gaäl aus Derys Gedichten die organische Einheit von Inhalt und Form herausschälte, erkannte er die Errungenschaften dieser Dichtung an; zugleich brachte er seine Erwartungen alldem gegenüber zum Ausdruck, was ihn konzeptionell bzw. stilistisch nicht befriedigte. 55 Als Redakteure der Korunk waren Laszlo Dienes und Gabor Gaal gegenüber jeglichen produktiven künstlerischen und literarischen Impulsen der zeitgenössischen Weltliteratur empfänglich, insbesondere der sozialistischen Literatur, die sie in ihre Zeitschrift einfließen ließen. Da sie nicht auf spekulativem Wege zu literaturtheoretischen Doktrinen gelangt waren, pulsierte in dieser geistigen Werkstatt eine Lebensnähe, die auf das Ungarntum des ganzen damaligen Mitteleuropa ausstrahlte. Bereits in der zweiten Hälfte der 20er Jahre hatte die Korunk beispielhaft den Beweis angetreten, daß eine zeitgemäße, authentische sozialistische Literatur und die sie begleitende Kritik und Literaturanschauung nicht auf einem eingeengten, sektiererischen „proletarischen" Fundament gedeihen können, sondern tatsächlich nur auf einer s o z i a l i s t i s c h e n Grundlage, die in sich die gesamte kritisch angeeignete progressive Kultur der Menschheit vereint. 56 Jene linken bzw. direkt unter dem Einfluß der illegalen kommunistischen Partei in Ungarn stehenden kurzlebigen Zeitschriften (wie Forräs, 1929-1930; Front, 1931; Tärsadalmi Szemle, 1931-1933; Uj Harcos, 1933; Körusmüveszet, 1933 und Szabad Iräs, 1934) vermochten an das literaturtheoretische und -politische Niveau der Korunk nicht heranzureichen. In dieser äußerst schwierigen Zeit sah sich die illegale Kommunistische Partei, die mit dem Horthy-Regime einen Kampf auf Leben und Tod führte, außerstande, für die auf kulturellem Gebiet wirkenden Kräfte günstigere Bedingungen zu schaffen. Und dennoch überstieg der ideologische Einfluß der Partei ihre organisatorische Stärke, sammelte sie um sich einen breiten Kreis von Sympathisanten. Dies traf besonders für die Zeitschrift 100 % (1927 bis 1930) zu, die als legales Blatt der illegalen Kommunistischen 40

Partei von Aladár Tamás herausgegeben wurde. Tamás, der als Dichter aus dem Kreis um Kassák hervorgegangenen war und nach seiner Rückkehr aus der Wiener Emigration Mitglied der KPU wurde, verwirklichte mit diesem gesellschaftspolitischen, kulturellen und künstlerischen Organ die Linie der Partei. Es erschien in mehreren tausend Exemplaren und bildete ein Zentrum innerhalb der Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung (so der Chorbewegung, der Naturfreunde, Esperantisten usw.), um das eine in die Tausende gehende Garde vor allem junger Leute entstand. Ihrem Wesen nach war die 100 % ein Bruderorgan der Zeitschriften Die Linkskurve, DAV, Sentí., Westnik Inostrannoj Liter atury, Nova Literatura und der Kultura Mas. Diese Werkstatt wurde zur Wende der 20er und 30er Jahre durch den infolge der Weltwirtschaftskrise beförderten revolutionären Aufschwung belebt, von einem breiten weltliterarischen Interesse geprägt und war zugleich den benachbarten Künsten gegenüber aufgeschlossen: Die Spalten der Zeitschrift standen den Problemen der bildenden Kunst, der Architektur und modernen Formgestaltung wie der Theaterkunst offen. Während die Zeitschrift in politischen Fragen äußerst konsequent die Parteilinie vertrat, wich sie in ihren Kunst-Rubriken von den in der Moskauer Zeitschrift Sarló és Kalapács vertretenen Ansichten, die vom Geist der RAPP durchtränkt waren, merklich ab. Die avantgardistischen Formenbestrebungen auf dem Gebiet der Belletristik und die gesteigerte Aufmerksamkeit der Kultur der Weimarer Republik gegenüber belegen die Offenheit ihrer Orientierung. Den Hintergrund der Kunstanschauungen der 100 % bildeten Richtungen und Tendenzen der 20er Jahre, die sich nebeneinander bzw. einander bedingend durchsetzten, letztlich miteinander verwandt waren und in einem Konstruktivismus zum Ausdruck kamen, der den romantisch-gefühlvollen Expressionismus ablöste, oder die in der funktionalistischen Architektur, im Ideal der aktivistischen Dichtung, in der Montage, dem Vorstoß zur Sichtweise des Films sowie in einer neuen Sachlichkeit ihren Niederschlag fanden. Von der sowjetrussischen Filmkunst bis zur deutschen revolutionären Grafik (Heinrich Zille, Käthe Kollwitz, George Grosz) suchte der ungarische linke Kunstgedanke nach neuen Wegen, schloß er zur sozialistischen Weltkultur auf.57 Die heftige Debatte der 7 0 0 % mit der von Kassák nach seiner Wiener Emigration in Ungarn herausgegebenen Zeitschrift Munka (1928-1939) brach weniger auf Grund praktischer künstlerischer und literarischer Gegensätze aus, sondern hatte in erster Linie politische 41

Gründe. Der erneute Aufeinanderprall der beiden Strömungen der sozialistischen Arbeiterbewegung und Kultur gehört, was den Ton und die Argumentation anbelangt, keineswegs zu den Lichtseiten der Kulturgeschichte. In diese Kontroversen ist im Grunde auch die äußerst heftige ideologische Attacke Attila Józsefs gegen Kassák einzuordnen (Vgl. Text 30), in der marxistische Grundprinzipien starr gehandhabt, die ästhetische Analyse durch philosophische Argumentation ersetzt werden. Dabei führte die Auseinandersetzung zwischen der Zeitschrift 100 % , die sich zum aktiven Klassenengagement der proletarischen sozialistischen Kunst bekannte, und Kassáks Auffassung, die die Existenz der proletarischen Literatur in Abrede stellte und für eine autonome sozialistische Kunst eintrat, zu keiner Lösung. Dies um so weniger, da Kassák gleichzeitig von Seiten der Zeitschriften 100 %, die Linkskurve und Literatura mirowo) revoljucii zentral angegriffen wurde und erörterungswerte Elemente seines Standpunktes unberücksichtigt blieben. Daß Kassák in der Eröffnungsrede Béla Illés' auf der Charkower Konferenz attackiert wurde, verwundert kaum, da hier offenbar alle Ansichten, die die Existenz der proletarischen Literatur in Zweifel zogen, höchst augenscheinlich widerlegt wurden. Auf dieser Konferenz konnte zu Recht eine rasche Ausweitung der proletarischen Schriftstellerbewegung im Weltmaßstab konstatiert werden - eine Tatsache, die offensichtlich auf den verschärften Klassenkampf des internationalen Proletariats, auf den Glauben an die bevorstehende Weltrevolution hindeutete. Zu dieser Zeit vermochte noch niemand an die neue Situation zu denken, die mit dem Machtantritt des Faschismus in Deutschland begann, noch daran, daß die Bewegung zu ihren späteren Bündnispartnern ein neues Verhältnis aufzubauen hatte. Dazu bedurfte es von Seiten der ungarischen proletarischen Literaturbewegung noch ernsthafter Anstrengungen. Diesen begegnete man zum Teil in der Rubrik Proletarische Literatur der Moskauer Sarló és Kalapács und selbstverständlich innerhalb der RAPP und der IVRS, überall dort, wo Kader der ungarischen proletarischen Emigrationsliteratur zugegen waren. Die Theoretiker und Kritiker der Sarló és Kalapács führten eine heftige Diskussion mit jenen, die sich auf trotzkistische Positionen stützten und die Existenz der p r o l e t a r i s c h e n L i t e r a t u r überhaupt in Zweifel zogen sowie argumentierten, daß das kämpfende Proletariat zu einer eigenen niveauvollen Kultur und Kunst nicht fähig sei, das siegreiche Proletariat aber danach strebe, die Klassengesellschaft zu beseitigen und 42

somit nichts anderes verwirklichen könne als die universelle menschliche Kunst. Diesen Standpunkt vertraten im wesentlichen auch Kassàk und sein Kreis. Die Vertreter dieser Theorie ließen dabei offenbar außer acht, daß der Prozeß der Klassenaufhebung nur das Resultat langwieriger Kämpfe sein kann. Überdies war die internationale Arbeiterbewegung zur Zeit der kapitalistischen Weltkrise von dem Glauben erfüllt, der entscheidende letzte Kampf stehe bevor, zu dessen Sieg nur der fortschrittlichste Teil der Arbeiterklasse erforderlich sei. Die Folge war, daß man in Politik und Literaturpolitik auf eine Ablehnung der Sozialdemokraten und Mittelschichten, der Bündnispartner allgemein stieß und es keinen Platz für den Terminus „allgemein menschlich" gab. Die führende Garde der ungarischen proletarischen Literatur folgte treu den von Béla Kun konzipierten Prinzipien des politischen Kampfes. Wirtschaftskrise und revolutionäre Aktionen der ungarischen Arbeiterklasse 58 weckten die Hoffnung, daß die Zeit der zweiten Ungarischen Räterepublik herangereift sei. „Vor uns tut sich das totale Bild des zunehmenden Zerfalls der imperialistischen Wirtschaftsordnung auf . . . Entweder ein langsamer Hungertod - oder ein entschlossener, aufopferungsvoller Kampf für die Macht" - schrieb Béla Kun in einer Studie 59 , die in derselben Nummer der Sarló és Kalapäcs erschien wie der Plattform-Entwurf. In ähnlich scharfer Weise wandte sich Béla Kun gegen eine differenzierte Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, wenn er in einem anderen bedeutsamen Artikel ausführte: „Da es keinen Unterschied zwischen der bourgeoisen Demokratie und der faschistischen Diktatur der Bourgeoisie gibt, kann man auch nicht Faschismus und Sozialfaschismus voneinander trennen." 00 Diese Linie drückte dem Plattformentwurf der ungarischen proletarischen Literatur•61 den Stempel auf. Gestützt auf die Beschlüsse der Charkower Konferenz enthielt der Entwurf nichts zur künstlerischen Spezifik der Literatur, wurde in ihm „nur derjenige Schriftsteller, der in der Vorhut der Arbeiterklasse kämpft und sich den Marxismus-Leninismus aneignet", für fähig gehalten, „sich von den inneren Gegensätzen des heutigen Lebens ein objektives Bild machen und dieses ausdrücken zu können". Als Generalsekretär der IVRS gedachte Béla Illés die Kaderbasis der proletarischen Literatur „unmittelbar aus den Reihen der Arbeiterkorrespondenten" heraus zu verbreitern, wies er spöttisch „die Liebeswerbungen der kleinbürgerlichen Schriftsteller" 62 ab. György Lukäcs schloß sich anscheinend noch infolge der harten Kritik an den von ihm verfaßten Blum-The43

sen jenen an, die das ungarische literarische Erbe von der Warte eines engen Sektierertums aus beurteilten. 63 Die Abgrenzung gegenüber den Bündnispartnern und der literarischen Tradition und die sektiererische Abkapselung gingen mit einer vulgär-mechanistischen Handhabung spezifischer Literaturprobleme einher. Die letzte Fassung erhielt der Plattformentwurf vermutlich durch Janos Matheika, der als Theoretiker der ungarischen proletarischen Literaturbewegung wirkte. In einer vorbereitenden Studie legte er dar, daß der Realismus die Manifestation des dialektischen Materialismus, die literarische Erscheinung der proletarischen Weltanschauung sei; der Naturalismus die mechanisch-materialistische Weltanschauung literarisch zum Ausdruck bringe und die Romantik seiner Meinung nach „nichts anders als die literarische Offenbarung der idealistischen Philosophie" 64 darstelle. Diese „Theorie" vermischte in der embryonalen Phase literaturtheoretischen Denkens die Begriffe Anschauung, Stil und Methode und hatte eine „Literatur" zum Ideal, die inhaltlich auf die Tagesagitation orientierte und sprachlich verkümmerte. Zu den schwerwiegendsten Irrtümern des Plattform-Entwurfes gehörte, daß der bereits zu dieser Zeit herausragende Repräsentant der ungarischen sozialistischen Lyrik, Attila Jözsef, bezichtigt wurde, „er suche den Ausweg im Lager des Faschismus". In einem an Zoltdn Fäbry, dem Redakteur der Zeitschrift Az Ut gerichteten Brief wies Attila Jözsef diese Anschuldigung zurück und widerlegte die gesamte Konzeption des Plattformentwurfes. Es war dies zugleich einer der ersten Versuche einer zukunftsweisenden marxistischen Kunstinterpretation, die damals jedoch nicht veröffentlicht werden konnte. 65 Die praktische Kritik wurde an der proletarischen Literaturtheorie durch die Realität vollzogen. Der Machtantritt des Faschismus in Deutschland und die Niederlage der Arbeiterklasse warfen ein grelles Licht auf die historische Lehre, daß das Proletariat ohne breite Bündnisbasis, auf sich selbst gestellt, zum Sieg nicht fähig ist. Dieser Umstand konnte auch in bezug auf die proletarische Literatur nicht wirkungslos bleiben. Gleichzeitig strebte die sowjetische Gesellschaft mit ihren ersten Fünfjahrplänen und der Kollektivierung der Landwirtschaft dem Abbau der Klassenunterschiede und der Schaffung eines einheitlichen Volksstaates entgegen. Auf die Tagesordnung waren die Erschließung und Inbesitznahme des reichen demokratischen Kulturerbes gesetzt, in der Praxis war man zu einer breiten Bündnispolitik übergegangen. Dieser Prozeß wurde durch den Beschluß des Z K der KPdSU(B) vom 23. April 1932 über die Auflö-

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sung der Organisationen proletarischer Schriftsteller und Künstler sanktioniert. Es begann eine Periode, in deren Verlauf 1934 der I. Kongreß der Sowjetschriftsteller zusammengerufen wurde, auf dem man nach langen theoretischen Debatten den sozialistischen Realismus als schöpferische Methode der s o z i a l i s t i s c h e n L i t e r a t u r angenommen hatte. Zu diesen theoretischen Ergebnissen trug auch die Selbstprüfung der ungarischen sozialistischen Literaturbewegung bei. Die herausragendste Leistung wurde zweifelsohne von György Lukäcs erbracht, der gleichermaßen das ungarische, deutsche und sowjetische proletarischliterarische Geschehen kannte. In der Grundtendenz waren seine in der Moskauer Rundschau und in der Zeitschrift Die Linkskurve veröffentlichten Schriften eine Abrechnung mit dem Proletkult und mit theoretischen Irrtümern. In vielerlei Hinsicht trafen sich seine Bestrebungen mit den grundlegenden Schlußfolgerungen Johannes R. Bechers, als er nach der Charkower Konferenz der deutschen proletarischen Literatur weitere Bereiche erschließen wollte und durch den künstlerischen Anspruch ein breiteres Leserpublikum zu erreichen suchte.66 Nachdem Lukäcs selbst an der Ausarbeitung der Programmentwürfe des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands beteiligt gewesen war, übte er in den von ihm 1932 in der Zeitschrift Die Linkskurve publizierten Arbeiten an dem ungarischen Plattformentwurf wie an dem sogenannten Komjat-Birö-Programmentwurf, dessen sektiererische Konzeption eben auf die in Berlin wirkenden ungarischen Emigranten zurückging, eine tiefgründige Kritik. Wie bekannt, wurden diese Entwürfe nie verabschiedet, da sie einerseits nicht wesentlich von den Grundprinzipien der RAPP loskamen (dazu boten auch die Charkower Beschlüsse keine entscheidende Hilfe!), es andererseits infolge der sich überstürzenden historischen Ereignisse unmöglich wurde, die Entstehung des „großen proletarischen Kunstwerkes" von p r o l e t a r i s c h e r Basis her theoretisch zu untermauern. Nachdem Lukäcs erkannt hatte, daß eine unmittelbar auf die Diktatur des Proletariats ausgerichtete Politik (eine strategische Zielsetzung mehrerer mitteleuropäischer Parteien jener Zeit) auf kurze Sicht illusorisch war, versuchte er in den Blum-Thesen von 1928/29 eine politisch-theoretische Fundierung für die plebejischdemokratische Diktatur zu liefern.67 Auf Grund der einsetzenden heftigen Kritik mußte Lukäcs seine Thesen zurückziehen, die gewonnenen theoretischen Erkenntnisse waren ihm danach in literaturgeschichtlicher wie theoretischer Hinsicht von Nutzen. Seine unter 45

Pseudonym in der Zeitschrift 1 0 0 % veröffentlichten Studien sind ein Beweis für das Reifen seiner Kritik an der sektiererischen Literaturauffassung der R A P P und belegen, wie er sich zur ästhetischen Kategorie des Realismus vortastete. Auf diesem Wege markieren die in der Zeitschrift Die Linkskurve erschienene Studie Tendenz oder Parteilichkeit?m und jene Schriften einen Fortschritt, die Lukäcs in Verbindung mit Werken einzelner proletarischer Schriftsteller (Willi Bredel, Ernst Ottwalt), gleichsam als eine Umsetzung seiner Theorie in die Praxis verfaßte. Zugleich offenbaren sie jedoch auch Lukäcs' Unverständnis gegenüber den ästhetischen Problemen einer jungen proletarischen Literatur, die ihre eigene Identität suchte. Von der Praxis des Klassenkampfes losgelöst, untersuchte Lukäcs auf abstrakte Weise die Funktion der Literatur, vermochte er die Reportage, das Dokument, die Beschreibung und die Montage nicht als Methoden des Realismus zu akzeptieren. Dies brachte ihm zu jener Zeit und später viel Kritik ein. 6 9 Tendenz oder Parteilichkeit? ist eine Abrechnung mit dem theoretischen E r b e der II. Internationale. Lukäcs legt hier die bürgerlichen Wurzeln der Tendenz-Literatur frei, wendet sich gegen einen Voluntarismus, der sich in die Theorie eingeschlichen hatte, und strebt danach, die Literaturanschauung auf materialistische Grundlagen zu stellen. Mit der Einführung der Begriffe Gestaltung und Totalität bahnte er den weiteren W e g für die Akzeptierung des Künstlerischen. D a ß die deutsche Sektion der I V R S durch die Komintern mit dieser Frage betraut worden war, signalisierte, daß sich der Anspruch auf eine zeitgemäße ästhetische Wahrnehmung der neuen historischen Epoche in der Kulturpolitik der internationalen Arbeiterbewegung Bahn gebrochen hatte. D i e zu dieser Zeit entstandenen Studien von György Lukäcs waren in bezug auf die Entwicklung der Ästhetik des Realismus von entscheidender Bedeutung. Auch dann noch, als in seiner Auffassung von der Parteilichkeit die Rolle der Objektivität zu passiv ausfiel und er nicht in erforderlichem Maße die Tatsache anerkannte, daß sich die gegebene Objektivität über Handlungen und Bewußtsein lebender Subjekte realisiert, die am Klassenkampf teilnehmen. Eine andere Begrenztheit seiner Theorie offenbarte sich in seiner einseitigen Auffassung von Formenerrungenschaften. Daher rührte auch seine Antipathie gegenüber den mannigfaltigen Formexperimenten der frühen proletarischen Literatur und - mutatis mutandis - sogar gegenüber der avantgardistischen Literatur, selbst wenn diese ideell linksgerichtet war. In all diesen Formen vermutete

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er die zweckmäßige Funktionalität, ein Weiterbestehen der im alten Sinne verstandenen Tendenz; d. h., er lehnt es ab, etwas in die Wirklichkeit hereinzunehmen, was seiner Meinung nach in der objektiven Realität nicht vorhanden war. Es ist verständlich, wenn seine Kritiker ihm Kontemplation und Passivität vorwerfen. 70 Für Lukäcs' zuweilen übermäßig zugespitzte Formulierungen und für seine prinzipielle Unnachgiebigkeit gab es indessen auch zum Teil eine Begründung. So die Tatsache, daß sich entgegen dem Beschluß des Z K der KPdSU(B) von 1932 das Sektierertum der proletarischen Literatur nur schleppend auflöste sowie Theorien, Kader und Institutionen der vorangegangenen anderthalb Jahrzehnte um die weitere Sicherung ihrer Existenz bemüht waren. Ein charakteristisches Beispiel für das Nebeneinander von neuer Erkenntnis und zähem Festhalten am Alten liefert die Lageanalyse von Béla Illés, des Generalsekretärs der IVRS 7 1 bzw. noch augenfälliger die von der ungarischen Sektion der IVRS verfaßte Schrift Was lehrt uns das Plenum der Sowjetschriftsteller?12, die wie ein Schwanengesang anmutet. Trotz ihres trockenen Tons ist hier der Schauplatz des dramatischen Kampfes eine im Verschwinden begriffene Epoche, die man wie ihre Theorie kramphaft am Leben zu erhalten versucht; andererseits sind die Kader der einstigen proletarischen Literatur aufrichtig bemüht, die neuen kunstpolitischen Richtlinien zu verstehen und zu akzeptieren.

„Gebot

der

Zeit"

Um das Jahr 1932 änderte sich die ungarische marxistische wie die internationale Kritik merklich in Anschauung, Methode und im Ton. György Lukäcs summierte die Wende später unter dem Titel seines berühmt gewordenen, hier veröffentlichten Artikels. Es geht um den Realismus. Der Anspruch des Realismus ist jedoch gleichsam nur die ästhetische Formulierung eines politischen Anspruchs. Die Veränderung der marxistischen Kritik vollzog sich nämlich nicht allein aus inneren, ästhetischen Gründen. Anders ausgedrückt: Die Geschichte erzwang diese. Angesichts der Ereignisse von 1932/33 mußte die internationale Arbeiterbewegung ihre Politik und Lage neu einschätzen, und eine der wichtigsten Konsequenzen dieser langsamen, zuweilen qualvollen Überprüfung war, daß die Bündnispolitik der internationalen Arbeiterbewegung eine neue Gestalt annahm. Am vollständigsten wurde die antifaschistische Volksfrontpoli47

tik auf dem V I I . Kongreß der Komintern im Jahre 1935 ausgearbeitet. D i e neuere literaturgeschichtliche Forschung hat bereits des öfteren darauf hingewiesen, wie die Orientierung auf den Realismus mit der neuen Situation, den neuen Erfordernissen des antifaschistischen Kampfes und der Bündnispolitik zusammenhing. 73 Voraussetzung für die Wende war zunächst, daß die Bedeutung der „nichtproletarischen", der „kleinbürgerlichen" Schriftsteller erkannt und dann die Erfordernisse neu formuliert sowie gegen das verengende Sektierertum Schritte unternommen wurden. Dies war eine schmerzhafte, mitunter schwierige Revision: eine Abrechnung mit früheren Illusionen, so mit dem Glauben, die proletarische Revolution wäre rasch zu verwirklichen. Bedingung für ein Voranschreiten innerhalb der sozialistischen Literatur war der Bruch mit den einengenden, historisch überholten und entwicklungshemmenden Prinzipien der R A P P . Adäquater Ausdruck der neuen Bündnispolitik, der neuen Erfordernisse des antifaschistischen Kampfes und zugleich auch der herangereiften Bedürfnisse der Entwicklung in der Sowjetunion waren die Gründung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes und die Kursnahme auf den sozialistischen Realismus. 7 4 Parallel zu diesem Wandel, den György Lukäcs mit vorbereitet hatte, baute er sein theoretisches Schaffen aus, das zu dieser Zeit gegen den Expressionismus und die Avantgarde im allgemeinen gerichtet war und einer Konzeption folgte, die sich auf den Totalitätsanspruch gründete und auf den bürgerlichen Realismus stützte. 75 Heute ist es bereits offenkundig, welche neuen Perspektiven diese neue Plattform - die Theorie des Realismus beziehungsweise des sozialistischen Realismus - eröffnete, welche Möglichkeiten sie der marxistischen Kritik bot. Auch können wir bereits ausmachen, in welchen Punkten sie sich als unzulänglich erwies und welche Initiativen sie engherzig behinderte. Doch insgesamt spiegelte die neue Richtung der marxistischen Kritik die neuen charakteristischen Züge der Weltliteratur der 30er Jahre getreu wider, bewertete, formte und gestaltete sie diese gut. In diesen Jahren zwischen 1933 bis 1936 ging György Lukäcs vor allem von den Erfahrungen der deutschen Literatur und allgemeinen ästhetisch-philosophischen Überlegungen aus. Zur Ausbildung seines neuen Programms kam es durch die Spaltung des deutschen Expressionismus, des allgemeinen Funktionsverlustes der Avantgarde und der erfolglos gebliebenen Proletkult-Ästhetikern sowie auf Grund der

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Rekonstruierung der Leninschen und Marxschen Ästhetik 76 und der Tatsache, daß die Widerspiegelung der Wirklichkeit in den Vordergrund gerückt war. D i e entscheidende Grundlage für Lukäcs' theoretisches Schaffen bildete in den 30er Jahren auf dem Gebiet der Philosophie wie der Ästhetik die These, daß das Bürgertum in der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus nicht mehr in der Lage ist, seine früheren großen geistig-künstlerischen Werte zu bewahren und weiterzuentwickeln, und daß es solche Zerfallsstadien durchläuft, an deren Ende in der Philosophie der Irrationalismus bzw. die ideologische Vorbereitung des Faschismus, in der Kunst aber der Verzicht, Wirklichkeit darzustellen, die Dekadenz steht. 77 Die realistischen Traditionen der klassischen und der modernen bürgerlichen Kunst setzt der sozialistische Realismus fort; dabei lehnte Lukäcs den bürgerlichen Naturalismus ebenso ab wie die schematisch tendenziösen Werke, die didaktisch Parteilosungen illustrieren, verwarf er die im Zeichen des Aufruhrs entstandenen Arbeiten der linken Avantgarde in gleicher Weise wie jene Werke, die sich resignativ von der Wirklichkeit abgewendet hatten. Diese Prinzipien bestimmten die von ihm 1938 in der Zeitschrift Das Wort in der Expressionismus-Debatte eingenommene Position. 78 D i e philosophische Basis seiner Realismus-Konzeption bildet die Mimesis-Theorie. In der 1936 stattfindenden Debatte gegen den Formalismus und Naturalismus baute Lukäcs berechtigterweise auf die ästhetischen Konsequenzen dieser Theorie, auf Begriffe wie künstlerische Wahrheit, intensive Totalität, Besonderheit, Typisierung usw. Heute ist aber auch klar ersichtlich, worin Lukäcs' Intoleranz gegenüber der Avantgarde bestanden und wo er Fäden durchtrennt hatte, die die sich neu herausbildende Literatur mit der Literatur der 20er Jahre verknüpft hätten. 79 Doch zugleich wurde von ihm auch jene Veränderung, die seit langem heranreifte und sich in der Literatur bereits zeigte, formuliert, bewußt gemacht und theoretisch untermauert. E s zeichnete sich immer deutlicher ab, daß Formen und Inhalte der Avantgarde der 20er Jahre an das revolutionäre Hoch gebunden und geeignet waren, die Atmosphäre der unmittelbaren Revolutionserwartung zu spiegeln; doch mit der neuen Situation, die sich in der zweiten Hälfte der 20er Jahre, hauptsächlich seit 1932, eingestellt hatte, mußte man nach andersgearteten Mitteln der Darstellung suchen. Davon war im Grunde genommen auch die Rede, als Anfang der 30er Jahre der „Tod der Ismen" verkündet wurde. 80 Selbstver4

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ständlich hätte man die Ergebnisse und Errungenschaften, die Verfahren und Motive des früheren Zeitabschnitts in die neue Synthese einbeziehen können bzw. müssen. Dies geschah auch sehr oft in vielen Werken: so im Falle des sich herausbildenden „neuen" oder „modernen Realismus" als einer spezifischen Synthese der früheren avantgardistischen Errungenschaften der realistischen Schaffensmethoden. Beispiele für solch eine Synthese könnten in der ungarischen Literatur die reife Lyrik von Attila József, der Unvollendete Satz Tibor Dérys oder die Dichtung Miklós Radnótis sein. Einer der Irrtümer Lukäcs' war es eben, daß er diese Verknüpfung, diese Synthesemöglichkeit ablehnte. Bei der Verbreitung der „neuen Richtung", der Ausrichtung auf den Realismus wirkte freilich nicht nur Lukäcs auf die ungarische Kritik ein. Hinzu kamen - wenn auch auf Umwegen und versteckter — jene Deklarationen und Ergebnisse, die zur Ausarbeitung des Programms des sich konstituierenden Sowjetischen Schriftstellerverbandes geführt hatten. Und schließlich war das ungarische geistige Leben, insbesondere die Linke, traditionell französisch orientiert, erwartete man auch von dort einen geistigen Impuls. Als dann auf Anregung der Französischen Kommunistischen Partei auch dort der „neue Realismus" 81 verkündet wurde, handelte es sich im Grunde um ein Äquivalent des sozialistischen Realismus. Wie aus dem hier veröffentlichten Beitrag Béla M. Pogänys ersichtlich, wirkte auch dieser durch das Wort Aragons befruchtend auf die ungarische marxistische Kritik.

Die Verantwortung der Humanisten Nicht nur internationale Faktoren und Einflüsse bewirkten um 1930 einen Wandel in der ungarischen marxistischen Kritik. Dieser wurde auch infolge der inneren Entwicklung und des Anspruchs von Seiten der ungarischen Gesellschaft wie der ungarischen Kunst erforderlich. Auch in Ungarn erstarkten vor allem als Folge der Machtergreifung des Faschismus in Deutschland Bestrebungen, die auf ein total faschistisches politisches System ausgerichtet waren. 82 Der „revolutionäre Durchbruch" hatte nicht stattgefunden und im geistigen Leben gewannen Zaudern und Orientierungslosigkeit die Oberhand. Im Kampf gegen Faschismus und Rechte wurde es auch in Ungarn zunehmend dringlicher, den Kreis der Verbündeten zu erweitern und

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eine Neubewertung des Verhältnisses zum literarischen Erbe vorzunehmen. Man mußte sich auch den neuen Erscheinungen der Literatur, insbesondere dem Aufbruch der „Volkstümler-Bewegung"83 und damit der neuen Welle der Soziographie stellen, mittels derer die gesellschaftliche Wirklichkeit entdeckt und neu bewertet wurde. Aufs neue mußte die führende Schriftstellergarde, die den bürgerlichen Humanismus repräsentierte, bewertet und die stets neuen ideologischen Varianten und neuen Formen eines „dritten Weges" untersucht werden, die durch die Krisensituation hervorgebracht worden waren. 84 Doch all dies machte die Wiedergeburt der marxistischen Kritik notwendig. Nach der revolutionären Welle um 1930 folgten Jahre, in denen sich die marxistische Kritikergarde verbreiterte: Zu den früheren zum Kreis der Zeitschriften 100% und Tdrsadalmi Szemle gehörenden Kritikern (die der illegalen Kommunistischen Partei Ungarns angehörten) stießen Kräfte, die aus anderen Lagern kamen. In diesen Jahren, besonders als Illes Monus 1934 die Redaktion Szocializtnus übernahm,85 erstarkte beispielsweise auch die der Sozialdemokratischen Partei verbundene Kritik, erreichte sie ein höheres Niveau. Spezifische Farben und Schattierungen des ungarischen geistigen Lebens waren auch unter den marxistischen Kritikern auszumachen: Durch ihre Erziehung und Ausbildung bezeugten die einen für die bürgerlich-radikalen oder die linken liberalen Gruppen und Werke mehr Verständnis, während andere dieses wiederum dem plebejischen Radikalismus, den „Volkstümler"-Bewegungen entgegenbrachten, die sich für die Bestrebungen und Erwartungen des Bauerntums einsetzten und dies in ihren Arbeiten ausdrückten. Die bedeutenden marxistischen Kritiker waren über diesen Gegensatz erhaben. So war zur Mitte der 30er Jahre mit Ferenc Agärdi, Ferenc Erdei, Ferenc Fejtö, Sändor Gergely, Gyula Illyes und Pal Sändor eine marxistische Kritikergarde tätig, die vielfarbig, in ihrer Intention jedoch einheitlich war. Unter solchen Persönlichkeiten seien drei hervorgehoben, deren Entfaltung in diese Zeit fiel und die herausragende Vertreter der ungarischen marxistischen Theorie sind. Zur Größe wuchs der Schriftsteller Zoltän Fäbry als Repräsentant der ungarischen Literatur in der Tschechoslowakei im Kampf gegen Faschismus, Unmenschlichkeit und Barbarei heran. Er kam vom bürgerlichen Humanismus, war ein Schüler Adys und der deutschen Expressionisten und gelangte Anfang der 20er Jahre in einen zunehmend engeren Kontakt zur Arbeiterbewegung, schließlich arbeitete er 4*

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als Kritiker mit der Partei zusammen. An der Wende der 30er Jahre war auch er oftmals noch unduldsam und engherzig, doch sowie sich die Standpunkte entwickelten, fühlte er sich in seinem Element, wurde er einer der wirksamsten Publizisten sowie Theoretiker und Verfechter der ungarischen antifaschistischen Kritik und Publizistik. In Gebot der Zeit formuliert er die Notwendigkeit des persönlichen Standhaltens und der individuellen Parteinahme, der Veränderung der gesamten menschlichen Persönlichkeit und das Erfordernis des persönlichen Engagements. In Rumänien arbeitete zu dieser Zeit der aus Budapest stammende Gabor Gaal. E r war Redakteur, Lehrer und Kritiker. Als gebildeter Theoretiker war er, bereits seit Anfang der 30er Jahre Marxist, vom Expressionismus, aus der Richtung des bürgerlichen Radikalismus gekommen. Durch die von ihm mit großen Opfern redigierte und unterhaltene Zeitschrift Korunk (Cluj) entstand eines der Zentren der ungarischsprachigen marxistischen Kritik. Ein Teil der Kritikertätigkeit von Gabor Gaal verbirgt sich in den Briefen und Mitteilungen sowie der Korrektur der Artikel. 86 Für ihn waren Prinzipientreue, ein fester Standpunkt und eine nuancierte Analyse charakteristisch. Und da sein Wirken von den Prinzipien der Volksfrontpolitik durchdrungen war, erwies sich die fundierte Analyse der komplizierten Erscheinungen der ungarischen Literatur, der Werke der „Volkstümler-Richtung ebenso wie die der bürgerlichen Humanisten, als seine Stärke. 87 Doch wie heute bereits offensichtlich, war die bedeutendste marxistische Kritikerpersönlichkeit dieser Jahre Attila Jözsef, der nicht nur als Dichter, sondern auch als Theoretiker und Kritiker Gipfelleistungen der ungarischen sozialistischen Literatur erbrachte. 88 In den ersten Jahren seiner kritisch-theoretischen Tätigkeit, um 1928, bildete Jözsef seine Anschauungen in Konfrontation zur bürgerlichen Ästhetik, insbesondere zu Croce heraus und formulierte seinen marxistischen Standpunkt. In der Zeit um 1930 wurde auch sein Ton schärfer und unduldsamer, verfocht er den Gedanken der sofortigen Revolution; die sich daraus ergebenden theoretischen Konsequenzen führten zu einer intoleranten Anwendung der marxistischen Methode und Anschauung. Doch wie sich nach 1932 in seiner Dichtung eine Wende einstellte, entwickelte und bildete sich auch seine kritische und ästhetische Anschauung heraus. Bereits um 1932 verfaßte er sein ästhetisches Hauptwerk Irodalom es szocializmus89 (Literatur und Sozialismus), das unter Berücksichtigung der Eigenarten der Kunst 52

eine erkenntnistheoretische und zugleich ontologisch fundierte ästhetische Konzeption verkörpert, die neben der von Lukäcs in der Geschichte der ungarischen Kritik am einheitlichsten und zusammenhängendsten ist. Jözsefs Kritikertätigkeit nach 1935 ist das Werk des reifen und ausgeglichenen Dichters und Theoretikers: Die von ihm verfaßten Kritiken über Dezsö Kosztolänyi oder die „Volkstümler"Bewegung 90 berücksichtigen in einer nuancierten und geschmeidigen Sprache die inneren Eigenheiten des Kunstwerkes und bringen die Gesichtspunkte des dialektischen und historischen Materialismus differenziert zur Geltung. Niemand sah sich der Dialektik von dichterisch-menschlicher Subjektivität und objektiver Realität eindringlicher gegenüber und mit den sich verändernden dichterischen Fragen von Schein und Wirklichkeit so konfrontiert wie er. So schrieb er in einem Fragment: „Wenn eine Klasse nicht fähig ist, das ihr eigene Lebensgefühl gesellschaftlich, d. h. künstlerisch auszudrücken, dann fehlt ihr auch die Kraft dazu, im Namen der ganzen Menschheit auf die Bühne der Geschichte zu treten" 91 - und dies könnte gleichsam die Summierung seines Wirkens sein. Der kurze Zeitraum zwischen 1935 und 1938 war einer der fruchtbarsten Abschnitte der ungarischen marxistischen Kritik. Zu dieser Zeit kam die von György Lukäcs in der Sowjetunion im Zeichen des Realismus entwickelte Aktivität zur vollen Entfaltung, erschien in Ungarn die von Lajos Nemes-Nagel und später von György Vertes im Zeichen des Volksfrontgedankens herausgegebene Zeitschrift Gondolat, die die Kräfte für den neuen Realismus zusammenschloß. Um die neuen Erscheinungen und Leistungen der Literatur richtig bewerten zu können, mußte bei der Analyse des Weltbildes wie bei der formalen Bewertung der Werke und der Anerkennung ihrer politischen Bedeutung ein zeitgemäßes kritisch-marxistisches Wertsystem zur Geltung kommen. Charakteristisch für die besten Kritiker war, daß sie bereits über eine erweiterte Anschauung verfügten und die Werte sowie neuen Leistungen erkannten. Unter diesem Aspekt war die richtige Bewertung der Dichtung Attila Jözsefs gleichsam richtungweisend. Wenn auch verengende sektiererische und andererseits utopistischavantgardistische Tendenzen weiter bestanden, bestimmend wurde mehr und mehr die neue marxistische Kritik, die sich (wenn auch nicht ausgesprochen) auf die zeitgemäße Interpretierung des Realismus, der Volkstümlichkeit und Parteilichkeit gründete. Die marxistische Kritik wurde vielfarbiger und mannigfaltiger; zur theoretischen 53

Genauigkeit und prinzipiellen Konsequenz kamen bei deren besten Vertretern nunmehr noch eine frische Schreibweise, ein ausgeprägt essayistischer Schwung sowie beißender Witz hinzu. Neben dem „schweren Geschütz" des Lukâcsschen Typs erschienen der Kommentar, die Glosse und der Zeitungsartikel. Der herausragendste Repräsentant dieses Zeitabschnittes war György Bâlint. Seine Schriften sind von breitem Wissen und marxistischer Haltung gekennzeichnet, doch zugleich charakterisiert sie ein flüssiger, geistreicher und essayistischer Stil. Seine über die Bände des späten Attila Jözsef verfaßten Kritiken 9 2 sind Beispiele hilfreichen Einfühlens, doch bei allem Respekt vor der großen Begabung verschwieg Bâlint auch seine prinzipiellen Vorbehalte nicht. Der Kreis seines Interesses erstreckte sich auch auf die Werte der bürgerlich-humanistischen wie der „Volkstümler"-Literatur, die er im Zeichen der marxistischen Volksfrontpolitik, des Zusammenschlusses aller Kräfte, mit gleicher Grundsätzlichkeit und gleichem Verständnis bekannt machte. Zu dieser Zeit entfaltete auch Miklös Radnoti, der andere große Dichter dieser Periode, seine Kritikertätigkeit. Hatte György Bâlint die marxistische Kritik durch den Esprit der bürgerlich-radikalen Kritik, durch die Ironie und Leidenschaft der „Begriffsklärung" gestärkt, so brachte Radnoti den Schwung der avantgardistischen Ästhetik, insbesondere die Beobachtungen und Gesichtspunkte der französischen Kritik mit ein und bereicherte dadurch das Reservoir des sich damals herausbildenden „neuen Realismus". Wie Attila Jözsef sah auch Radnöti die literarischen Erscheinungen mit der Sensibilität und Einfühlung des großen Künstlers. Was György Lukâcs, ausgehend von allgemeinen theoretischen Überlegungen und der Kenntnis der deutschen Literatur, in dem Zeitraum zwischen 1932 und 1938 formuliert hatte, das erprobte später sein Schüler Jözsef Rêvai, indem er sich auf die Erscheinungen des ungarischen geistigen Lebens und der Kultur stützte. Der Journalist und spätere Parteifunktionär wandte bei der Beurteilung der ungarischen geistigen Entwicklung die Lehren des VII. Kongresses der Komintern an. 9 3 Seine politisch verdichtete Publizistik ist von großer Wirkung und weist klare Konturen a u f : D i e von ihm unter dem Aspekt des antifaschistischen Zusammenschlusses getroffene Charakterisierung der zwei großen Strömungen des ungarischen geistigen Lebens - der liberal-radikalen „Urbanisten" und der „Volkstümler" - 9 4 ist bis heute gültig. Seine kritische Tätigkeit begann Jözsef Rêvai in den Jahren nach 1935. In dieser Zeit entstanden seine großen

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Studien über die ungarische Literatur, so über Ferenc Kölcsey und Endre Ady; für sie ist eine kluge Argumentation, publizistischer Elan sowie die Fähigkeit zur Nuancierung charakteristisch.95 Die Jahre nach 1938 stellten alle fortschrittlichen Kräfte auf eine harte Probe; dies traf auch für die Vertreter der Linken und der Arbeiterbewegung in Ungarn zu. Angefangen vom Ausbruch des zweiten Weltkrieges bis zu dessen blutigem Ende war es die Tragödie einer Nation. Und eine Komponente der Tragödie bildeten die relative Schwäche der antifaschistischen und linken Kräfte, ihr Mangel an Einheit. In dieser Situation versuchte die ungarische marxistische Kritik zu retten, wozu sie imstande war: sich dem Faschismus zu widersetzen, Irrwege aufzuzeigen, die Aufmerksamkeit auf die Verantwortung zu lenken und gleichzeitig für die Einheit zu wirken. Die hervorstechendste neue Erscheinung war zu dieser Zeit der Vorstoß und die Polarisierung der „Volkstümler"-Bewegung mit der Gefahr der Faschisierung auf der einen und auf der anderen Seite die Entmutigung der bürgerlich-radikalen und humanistischen Strömungen, die sich von den revolutionären Perspektiven entfernten und verschlossen. Ein Teil der Ernte der ungarischen marxistischen Kritik erschien in den Jahren nach 1938 in der in Moskau herausgegebenen Zeitschrift Uj Hang. In ihren Spalten verfolgten György Lukàcs, József Révai, Andor Gabor, Béla Illés und andere die Ereignisse in Ungarn und trugen zur Herausbildung eines marxistischen Standpunktes bei. 96 József Révai verfaßte damals die Kritik der ungarischen „Volkstümler-Bewegung, die unter dem Titel Marxismus, Volkstümlichkeit, Ungarntum veröffentlichten Studien,97 während von György Lukàcs aus einer sehr großen Perspektive, die eine ganze historische Epoche umfaßt, die Erscheinungen der Nyugat und der „Volkstümler-Bewegung sowie der sozialistischen Literatur bewertet wurden.98 Das Problem der „ungarischen Demokratie" steht bei ihm dabei für die Gesamtheit der ungarischen Geschichte, wenn er nach der Ursache der Zerrissenheit der ungarischen Linken forschte - und dies war in den finsteren Kriegsjahren tatsächlich die schmerzhafteste und wichtigste Frage, auch für die Zukunft. Lukàcs' harte Abrechnung und zuweilen unbarmherzig scheinende Kritik gegenüber den Erscheinungen des ungarischen geistigen Lebens erfolgten eben im Interesse einer neuen, einer sozialistischen Entwicklung. Die Anzahl der in Ungarn tätigen Kritiker nahm ab: Attila József starb, György Bàlint und Miklós Radnóti konnten nur jeweils zwischen den Einberufungen in ein Arbeitslager schreiben. Doch im fol55

genden meldeten sich Arbeiter- und Bauerndichter zu Wort, die vom linken Flügel der „Volkstümler"-Bewegung bzw. von dem der sozialdemokratischen Bewegung herkamen; Schriftsteller, die ihren Platz, ihren Beruf und ihr Engagement auch theoretisch formulieren wollten. So der aus Cluj stammende Istvän Nagy, der sich - neben den vom linken Flügel der „Volkstümler"-Bewegung herkommenden bedeutendsten und wirksamsten Soziographen Ferenc Erdei und Jözsef Darvas, der sich in erster Linie mit Literaturkritik beschäftigte - auf seine Weise zum gesamten Entwicklungsverlauf der sozialistischen Literatur bekannte: indem er gleichsam die Bindung zur Wirklichkeit und zum Volk stark betonte und sich auf einen Mittelweg zwischen „Volkstümler"-Bewegung und sozialistischer Literatur einstellte. Und es konstituierte sich eine Gruppe von Arbeiterschriftstellern, 9 9 junge Arbeiter, die als Schriftsteller ihren Platz suchten und ihr Programm formulierten. D i e Überbetonung von Herkunft, Arbeitsplatz, ursprünglichem Beruf und Arbeitercharakter erscheint gleichsam übertrieben, und in ihren Vorstellungen mischen sich Züge, die in der neuen Situation an den starren Proletkult von einst erinnern. Dieser Standpunkt wurde durch den Druck des Faschismus, die unmenschlichen Umstände sowie durch den Widerstand und den Wunsch, sich zu unterscheiden, mit hervorgerufen. Doch sie wie auch Jözsef Darvas bekannten sich zu ihrem Vorgänger und Vorbild, zu Attila Jözsef, dessen Größe immer mehr gewürdigt wurde. So bekannte sich im Dezember 1945 auf einem Festakt im Hause der Ungarischen Kommunistischen Partei auch György Lukäcs im Namen der Partei zu ihm als einem der ihren. „Ohne eine ernsthafte Klärung des Wesens der Parteidichtung kann man Attila Jözsef als Dichter nicht verstehen. Wenn wir Kommunisten als eine Partei, die die ungarische Demokratie in blutigem Ernst und ohne Kompromiß fordert und aufbaut, erklären, daß Attila Jözsef einer der Unseren ist, so können und müssen wir dies aus zwei G e sichtspunkten heraus tun. Zum einen hat unsere Bewegung bisher die Spitze jener großen Linie erreicht, in die jede frühere Bewegung, die die Befreiung suchte, einmündet; von diesem Gipfel ist klar ersichtlich, was Petöfi und Ady wollten und was sie erreicht haben. - Und Attila Jözsef ist als wahrhafter Dichter der bislang letzte bedeutende E r b e dieser Entwicklungslinie. Zum anderen ist Attila Jözsef auch in einem unmittelbaren, spezielleren Sinne der Unsere, denn er liebte, was wir lieben, er haßte, was wir hassen, und ihn schmerzte, was uns schmerzt... In seinen Gedichten werden die aufrichtigsten und tief-

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sten Gefühle sowie die erhabensten Sehnsüchte der unter dem HorthySystem leidenden ungarischen Arbeiterschaft, der Bauernschaft und der fortschrittlichen Intelligenz zum Ausdruck gebracht. E r war der Unsere, als er lebte, und er bleibt dies auch in seiner Unsterblichkeit." 100 Mit dieser Botschaft begann gleichsam der Weg der ungarischen marxistischen Kritik nach 1945, in neuen historischen Jahrzehnten. Die Herausgeber

1 ERVIN SZABÖ

Ausstellung in der Kunstballe1 Wie kommt es, daß sich gerade bei den Schriftstellern, Philosophen und Künstlern, die die höchsten Stufen geistiger Bildung erreicht haben, hartnäckig der Glaube hält, der Sieg des Sozialismus werde der Tod der Kunst sein, während sie für die übrigen Zweige des Geisteslebens fast ausnahmslos die befruchtende und entwicklungsfördernde Wirkung des Sozialismus anerkennen? Erster Grund dieses Irrtums ist zweifellos ihre Unwissenheit. Sie glauben die erfundenen Märchen jener, die sich in die Gesellschaftsauffassung des Sozialismus nicht voll und ganz vertiefen wollten oder konnten. Sie glauben, die sozialistische Gesellschaft werde eine Art großes Zuchthaus sein, in dem jedem Bewohner jede Handlung vorgeschrieben und über jede seiner Minuten behördlich verfügt wird, in dem Kleidung, Wohnung und Speisen gleich sind. Wo aber freies schöpferisches Tun nicht möglich, der Ausdruck persönlicher Neigungen, Gefühle und Wünsche nach Gegenständen der Außenwelt verboten sei, dort könne es auch keine Kunst geben, denn deren Grundlage seien Freiheit und individuelles Schöpfertum. Wer das von der sozialistischen Gesellschaft annimmt, steht in der Erkenntnis des Sozialismus noch auf so einer Elementarstufe, daß es langwierig wäre, ihn aufzuklären. Wir stellen ihm lediglich unsere Grundthese entgegen: Die Sozialisten wollen sehr wohl Ordnung und Beständigkeit schaffen, doch nur in der wirtschaftlichen Produktion; sie sind überzeugt, daß allein die sichere und gleiche materielle Existenz die allseitige volle Entfaltung der geistigen Begabungen und den freien geistigen Wettbewerb ermöglicht, den sie auch als Hauptvoraussetzung der geistigen Kultur erachten. Die Sozialisten w ü n s c h e n und w o l l e n also, daß es eine Kunst gibt. Der zweite Grund des vermeintlichen Gegensatzes zwischen Sozialismus und Kunst ist, daß sich die sozialistische Literatur bis in die jüngste Zeit relativ wenig mit der Kunst befaßt hat; sie glauben deshalb, die Sozialisten seien der Kunst gegenüber gleichgültig. Wer aber so schnell diese Schlußfolgerung zieht, vergißt, daß die Sozialisten die Vertreter der Armen und Unterdrückten sind, derer, für die vorerst selbst das tägliche Brot noch ungewiß ist, die daher an 61

geistige Nahrung kaum denken können. Die geistigen Genüsse setzen voraus, daß wenigstens die zum Lebensunterhalt unabdingbaren materiellen Mittel vorhanden sind; wo der Kampf der Arbeiterschaft dies bereits erreicht hat, dort sind gerade die Sozialisten am eifrigsten bestrebt, den Wunsch nach Wissenschaft und Kunst zu wecken, zu pflegen und zu befriedigen. Doch die antisozialistische Tendenz der Künstler hat noch einen Grund, und dieser spielt die größte Rolle: Die Kunst selber ist mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verflochten, ist zu deren Requisit und ergänzendem Bestandteil geworden. Der Beweis hierfür muß vielleicht gar nicht im Charakter der modernen Kunst gesucht werden, da schon die historischen Analogien ausreichen. Die Kunst spiegelte zu jeder Zeit die Lebensauffassung der Epoche wider, bzw. zu jeder Zeit hielt man nur für Kunst, was die Auffassung der Zeitgenossen vom Leben ausdrückte, sie in spezifischer, künstlerischer Form äußerlich sichtbar oder hörbar machte. Die Griechen beispielsweise, die das irdische Glück, die Kraft und die Schönheit zum Inhalt und Zweck ihres Lebens erhoben, betrachteten das als Kunst, was Lebensfreude, Lebenskraft und körperliche Schönheit zum Ausdruck brachte. Die Kunst der Urchristen bestand nur aus Legenden und Gebeten, also aus etwas, das der Lobpreisung Christi diente und nicht irdische Lebensfreude ausdrückte, sondern den Verzicht auf die Freuden des irdischen Lebens, Demut und Frömmigkeit. Ähnlich geartet war die sogenannte präraffaelitische Malerei, die ihre Blüte gleichfalls in einer Periode des Christentums erlebte, als das christliche Religionsleben recht intensiv war. Hingegen entstand die wunderbare Kunst der Renaissance in einer Zeit, als die Werke der antiken griechischen Autoren erneut geistiges Gemeingut der Gebildeten wurden, die äußerlich zwar der christlichen Religion treu blieben und an deren äußeren Formen festhielten, zu ihrer inneren Überzeugung, ihrer Weltauffassung aber das Evangelium der Lebensfreude machten. Ebenso muß die Kunst der Gegenwart, wenn sie Anspruch darauf erhebt, von den Zeitgenossen als Kunst anerkannt zu werden, gerade die Weltauffassung dieser Zeitgenossen zum Ausdruck bringen. Das kann freilich nur die bürgerliche Weltauffassung sein, denn maßgebend sind nicht die Sozialisten - auch wenn sie bereits existieren und ebenfalls Zeitgenossen sind - , sondern diejenigen, die den Künstlern den Auftrag, das Brot geben, also die Reichen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Gegenwartskunst bringt zum Ausdruck, was diese 62

für gut und schön halten, und sie meidet Ideen und Themen, die in deren Augen schlecht oder häßlich sind. Beweise für diese allein auf historischer Ähnlichkeit basierende Behauptung jedoch liefert auch die heute herrschende Theorie der Kunst, von der man des Glaubens ist, sie sei gänzlich unabhängig von den führenden Ideen der heutigen Gesellschaft und stände in keinerlei Zusammenhang mit der heutigen Gesellschaftsordnung. Was verlangt die moderne Ästhetik vom Künstler? Man kann sagen: rein technisches Können. Er soll zeichnen oder die Naturfarben wiedergeben oder, besser noch, möglichst überraschende Farbeffekte erzielen können. D a ß das Werk nicht nur Formen, sondern auch einen Inhalt hat, daß die Farben, die er sorgsam zusammenstellt, nicht nur auf Wirkung spekulieren, sondern auch Stimmung und Ideen ausdrücken und mitteilen, verlangt sie nicht. So entwickelte sich in der Malerei und Bildhauerei sowie in der Musik jene Richtung, deren Leitprinzip l ' a r t p o u r l ' a r t (Kunst um der Kunst willen) und einziges eingestandenes Ziel es ist, das äußerlich, für Auge und Ohr Schöne zum Ausdruck zu bringen, das, solange wir das ehrbare Bemühen des Künstlers darin spüren und sehen, unsere Sinne erfreut und uns zudem an den Kampf des menschlichen Geistes erinnert, das aber, sobald wir dieses nicht mehr spüren, darin nichts anderes als nur das absolute, das bedingungslos technische Können sehen, das spielend jedes Hindernis überwindet, zur schlechtesten Art Kunst, zur gefährlichsten Degenerierung der Kunst wird: zu Virtuosität. Was anderes zeigt dies als die sonstige geistige Welt der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie, die gesiegt und - einmal mit Gewalt, dann mit List, dann wieder mit devoten Bücklingen - das Terrain erobert hat, auf dem sie ihre ökonomischen Kräfte entfalten kann und der als beatus possidenz (glücklicher Besitzer), die unbequemen, weil Hirn und körperliche Arbeitskraft in Anspruch nehmenden Ideen des Fortschritts und des Glücks der Menschheit, der Freiheit und der Kultur heute nichts anhaben können - diese Bourgeoisie wünscht eine Kunst, die nicht durch Ideen, Philosophie und Probleme ihre ruhigen Genüsse oder die Seelenruhe ihrer lauten Genüsse stört, sondern lediglich die schon vorhandenen Genüsse um neue bereichert, die Auge, Ohr und Nerven erregen. Deshalb braucht sie nur das Äußerliche: die Form, die Zeichnung, die Farben, überraschende Kompositionen - nicht aber Inhalt, Gedanke, Idee, Seele, das Suchen nach der Wahrheit. Das Virtuose: Das ist die siegreiche Kunst der siegreichen Bourgeoisie. 63

Doch niemand glaube, wir verlangten vom Künstler keine technische Vollkommenheit und Naturwahrheit. Wir tun das sehr wohl, und deshalb ist uns die späte, entwickelte bourgeoise Kunst noch hundertmal lieber als jene aus der naiven, primitiven Periode der Bourgeoisie, die in Ungarn beispielsweise bis in die neunziger Jahre dominierte und noch heute einige Vertreter zur Befriedigung der künstlerischen Bedürfnisse des Klein- und Mittelbürgertums hat. Das ist jene Kunst, die sich gewissermaßen n e q u i d n i m i s (nur nicht zu viel!) als ihre Losung gewählt hat, in einer Form, die der Darstellung des Netten, Angenehmen, Ruhigen, der alltäglichen Gefühle und Ereignisse entspricht: sanfte Farben, glatte, rundliche Figuren, schablonenhafte, schöne Gesichter, Hände, Beine, Tische, Früchte, Kaffee usw. usf., also sämtliche Requisiten des bornierten, soliden geistigen und physischen Kleinbürgerlebens. Ihre Typen sind das Genrebild, das Stilleben und die Herrscherportraits; unerbittlich verbreitet wird sie durch den Öldruck, der mit seinen verwaschenen oder hervorgehobenen Konturen und seinen variationsarmen hellen Farben bestens zu dieser ausdruckslosen „Kunst" paßt. Diese Kunst, in der scheinbar das gefühlsmäßige Element ebenso vorhanden ist wie das formale, ist widerwärtig, weil sie eine völlig unfertige, feige, kleinliche Weltauffassung zum Ausdruck bringt und dem entspricht auch ihre Technik. Wo bleibt da die Berufung der Kunst zu führen, einen Weg zu zeigen, Neues, dem gewöhnlichen Sterblichen Unbekanntes zu erschließen! Denn was sie darstellt, all das weiß und kennt dieses Publikum gründlicher und besser als der Künstler. Ist er deshalb also Künstler? Nein, viel mehr Wertschätzung als dieser Kunst zollen wir der entwickelten bourgeoisen Kunst, in der wenigstens das technische Können vollkommen, individuell und neu ist. Denn bei j e d e m Kunstwerk halten wir dies als Erfordernis des Natürlichen, des Wahren und der natürlichen Lebensfreude, dieser wesentlichen Elemente unserer sozialistischen Weltauffassung, für unabdingbar. Es scheint uns aber, daß zuviel des Guten getan wird. Selbst wenn wir das Streben nach rein kunsttechnischem Können als Verdienst vermerkten, ist es doch in Wirklichkeit auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit, so müssen wir heute sagen, daß die Weiterentwicklung des kunsttechnischen Könnens bereits so intensiviert worden ist und beinahe schon so sehr ein angeborenes Talent der Gegenwartskünstler darstellt, daß es endlich an der Zeit scheint, auch dem anderen, richtiger dem ersten Element der Kunst zur Geltung zu verhelfen: daß

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der Künstler ein fühlendes, denkendes Wesen ist, das sich über die Erscheinungen der Welt eine eigene Meinung bildet und diese seine Begabungen in seinen Werken zum Ausdruck bringen muß. Gerade darin besteht die Berufung der Kunst. Die Aufgabe des Künstlers ist es, die Gefühle und Ideale, die zwar auch bei anderen vorhanden sind, bei ihm aber infolge seines höheren Intellektes, seiner differenzierteren Psyche und größeren Intuition rascher entstehen und sich vollständig und klarer in seinem Bewußtsein herausformen, mit Hilfe seiner sonstigen angeborenen und angeeigneten Fähigkeiten für jedermann verständlich und exemplifizierbar zu machen und dadurch ihrer Verbreitung und ihrem künftigen Triumph den Weg zu ebnen. Für den wahren Künstler ist seine Kunst ein Mittel, über das er seine Weltauffassung, seine persönlichen und gesellschaftlichen Ideale den ebenso Fühlenden mitteilt und sie unter ihnen verbreitet. Ein Werk, in dem wir dieses Element, das unbewußte Tatsache und zugleich Wille ist, nicht vorfinden, ist keine künstlerische Arbeit. Aus dieser Sicht werden wir in unserer Samstagnummer die internationale Frühjahrsausstellung 2 besprechen. 102

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Sozialismus und, Kunst1 Großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen geht eine Revolution der Wissenschaft voraus. Gekrönt und auch äußerlich charakterisiert wird die entstandene Situation von der bildenden Kunst. Auch die Zeit konträrer Übergangsepochen sowie wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kämpfe hat ihre Kunst. Sie ist gleichfalls charakteristisch. Sie trägt den Charakter des Kampfes zwischen den Gegensätzen. Sie ist unruhig, gärend in Aufruhr und kämpferisch. Ihr reifes Zeitalter - ihren Stil - erreicht sie jedoch erst in der neuentstandenen sozialen Situation. Ihr Kampf ist unser Kampf. Sie soll ebenso schonungslos gegen den künstlerischen Sybaritismus 2 , für den Fortschritt kämpfen wie wir für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. In diesem Kampf ist sie unser Waffengefährte; beim Aufbau wird sie unser Arbeitsgefährte sein. 5

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der Künstler ein fühlendes, denkendes Wesen ist, das sich über die Erscheinungen der Welt eine eigene Meinung bildet und diese seine Begabungen in seinen Werken zum Ausdruck bringen muß. Gerade darin besteht die Berufung der Kunst. Die Aufgabe des Künstlers ist es, die Gefühle und Ideale, die zwar auch bei anderen vorhanden sind, bei ihm aber infolge seines höheren Intellektes, seiner differenzierteren Psyche und größeren Intuition rascher entstehen und sich vollständig und klarer in seinem Bewußtsein herausformen, mit Hilfe seiner sonstigen angeborenen und angeeigneten Fähigkeiten für jedermann verständlich und exemplifizierbar zu machen und dadurch ihrer Verbreitung und ihrem künftigen Triumph den Weg zu ebnen. Für den wahren Künstler ist seine Kunst ein Mittel, über das er seine Weltauffassung, seine persönlichen und gesellschaftlichen Ideale den ebenso Fühlenden mitteilt und sie unter ihnen verbreitet. Ein Werk, in dem wir dieses Element, das unbewußte Tatsache und zugleich Wille ist, nicht vorfinden, ist keine künstlerische Arbeit. Aus dieser Sicht werden wir in unserer Samstagnummer die internationale Frühjahrsausstellung 2 besprechen. 102

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Sozialismus und, Kunst1 Großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen geht eine Revolution der Wissenschaft voraus. Gekrönt und auch äußerlich charakterisiert wird die entstandene Situation von der bildenden Kunst. Auch die Zeit konträrer Übergangsepochen sowie wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kämpfe hat ihre Kunst. Sie ist gleichfalls charakteristisch. Sie trägt den Charakter des Kampfes zwischen den Gegensätzen. Sie ist unruhig, gärend in Aufruhr und kämpferisch. Ihr reifes Zeitalter - ihren Stil - erreicht sie jedoch erst in der neuentstandenen sozialen Situation. Ihr Kampf ist unser Kampf. Sie soll ebenso schonungslos gegen den künstlerischen Sybaritismus 2 , für den Fortschritt kämpfen wie wir für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. In diesem Kampf ist sie unser Waffengefährte; beim Aufbau wird sie unser Arbeitsgefährte sein. 5

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Sie soll mit allen Waffen kämpfen: mit Arbeiten, die in tausend und aber tausend Exemplaren von Hand zu Hand gehen, und mit Einzelarbeiten, die an Ausstellungen teilnehmen. Es tut nichts, wenn sie den Spießbürger in seiner friedsamen Ruhe ärgert und empört. Mit der Zeit wird sie ihn mitreißen, ihn für die wahre Kunst und den Fortschritt empfänglich machen. Individuell soll sie kühn Initiativen entwickeln, aber stets wahr und aufrichtig sein. Die Natur soll sie sich als Basis erhalten, denn nur aus ihr kann sich eine gewaltige Kunst entwickeln. Vergessen wir nicht, daß wir vor der Ankuft einer großen, allgemeinen Kultur stehen. Vor dem Gedanken und der Gewissen befreienden großen Zeit der proletariserten Massen, der solidarischen Arbeit. Wie jede gesellschaftlich konträre Zeit, so auch die unsere, wird sie eine andersartige Kunst haben. Wenn wir zurückblicken, sehen wir in der Geschichte diese große Harmonie zwischen dem sozialen Leben und seiner Kunst. Zur Zeit der Zentralherrschaft der Pharaonen wurden die Pyramiden auf Initiative eines Mannes von Millionen Arbeitern gebaut. Die Arbeit dieses einen sehen wir von fern als ein riesiges Bauwerk; aus der Nähe aber schwindet unser Frohsinn, wir spüren den Schweißgeruch und den Tod der Millionen Sklaven, ihre im Elend mechanische Arbeit. Die unabhängigen Bürger der griechischen Städte formten ihre Statuen zu ihrer eigenen Freude und zum Ruhm der Stadt, und jede bewahrt in sich den Gedanken ihres Schöpfers. Der soziale Unterschied zwischen den Feudalherren und dem städtischen Bürgertum, das sich gegen diese zusammengeschlossen hatte, zeigt sich am deutlichsten in der Kunst. Die Burg des räuberischen Zwingherrn, die Hütte des versklavten Leibeigenen - das ist die wunderbare Kunst des solidarischen Bürgertums des Mittelalters. Der zum Geldfälschen gezwungene Goldschmied - und Benvenuto Cellini 3 . Der Piktor, der einen Teufel an die Mauer der Burg malt - und Tizian aus Venedig. Die Minnesänger - und der Florentiner Bürger Dante. Schon diese Beispiele kennzeichnen lebendig die Parallelität von Kunst und Gesellschaft. Der Feudalismus kann nur die feudale Burg, die auf dem Berge lauert, als sein eigen bezeichnen, die Kunst der zu Städten zusammengeschlossenen freien Bürger und Zünfte hingegen sind meisterhafte Waffen, Portale, Dome, Münster und die Hunderte und Tausende der heute in diesen Rahmen hinein gestalteten Bilder und Statuen. 66

Auch die Kunst des hundertjährigen Kapitalfeudalismus konnte sich nicht zu etwas Großartigem entwickeln. Der Kapitalismus ist das Kind des Faustfeudalismus. Seine Kunst trat, wie er selbst verkündet, das Erbe der Renaissance an, genoß aber nur deren Zinsen und mehrte nicht das geistige Kapital des Nachlasses. Ihr ständiges Merkmal ist ohnmächtiges Epigonentum. Gedanken und Ideenfreiheit kennt sie nicht. Sie ahmt alles nach. Das Griechische, Romanische, Maurische, die Gotik, die Renaissance, den Barock; griechische Statuen, italienische, spanische, niederländische Malerei. Sie ist gefräßig wie eine Ente, sie erfindet die nicht aufgearbeiteten Epochen und Persönlichkeiten noch einmal, ohne sie zu verdauen oder zu ändern. Sie ist untauglich für die große, allgemeine künstlerische Entwicklung der Gesellschaft. Zerstückelt, abhängig von tausend Zwingherren, auf Gnade und Ungnade den Konsumenten und dem völlig korrupten Staat ausgeliefert, ist sie der ausgestoßene Bastard der bourgeoisen Kultur. Sie ist gezwungen, auf Kosten der künstlerischen Uberzeugung um ihr Auskommen zu kämpfen und sinkt dabei zunehmend von der Minderheit mit besserem Geschmack zur Masse der ungeduldigen Geschmacklosigkeit herab. Und wenn sich trotz der vielen verlorengegangenen Energien doch Künstler fanden und finden, die ihrer Begabung vertrauen und sich weder um Beifall noch Gelächter kümmernd, unerschütterlich auf ihrem Weg voranschreiten, dann sind das u n s e r e Leute, mit denen ihre Gesellschaft nichts gemein hat. Sie sind ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft zum Trotze schöpferisch tätig. Sie kehren zur Quelle jeglicher Kunst, zur Natur und zu deren wirklicher Beobachtung zurück: Sie achten die Initiativfähigkeit des einzelnen und sind unbewußte Vorkämpfer einer großartigen Kunst des entfalteten sozialen Lebens. Sie sind für uns Waffengefährten. Wir verfolgen ihre Bestrebungen mit Sympathie! In ihrem Kampf werden sie in uns stets wahre Waffengefährten finden. Wir reichen ihnen in Freundschaft die Rechte. Die Faust den Sybariten der Kunst. 1905



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3 DEZSÖ KOSZTOLANYI

Proletarische Dichtung1 Die Dichtung nimmt die Gegenwart wahr. Jener Berliner Poet, den die Deutschen - und auch ich - von allen proletarischen Dichtern am meisten lieben, schlendert an einem schmutzigen, häßlichen Morgen durch die Friedrichstadt nach Hause, auf einmal besinnt er sich, sieht nach der Uhr und entdeckt, daß es halb zwei ist. Diese Uhr, die Uhr von Arno Holz 2 , die selbst in den nichtmateriellen Regionen der Dichtung keck und trotzig halb zwei zeigt, charakterisiert jene neue Poesie, von der ich jetzt sprechen w i l l ; die Dichtung jener proletarisch Gesinnten, die das Neue wollen und sich nach dem Neuen sehnen. Nicht von ungefähr habe ich dieses Gedicht herausgegriffen, und nicht zufällig bestimme ich das prosaische, doch vom Menschengeist geschaffene Maschinchen, das die rasende Zeit, die tausendfach gegliederte Gegenwart auf Minuten und Sekunden zerkleinert, als Aushängeschild der neuen Dichtung. All dies bedeutet nur, d a ß wir ganz in der Gegenwart leben und der Uhrzeiger der Dichtung nicht mehr nur das Jahrhundert, das Jahr und den Tag anzeigt, sondern auch die Stunde, die halbe Stunde, die Minute und selbst die Sekunde. W i r sollen uns nicht der Gegenwart schämen, sondern sie lieben; und unsere Mühen, unser Elend, der Dreck und Schmutz des Alltagslebens, das großstädtische Gelärme und Geklirre der Boulevards gewinnen auch in den Gedichten Bürgerrecht. Warum nicht? Ein Mensch steht bei Tagesanbruch an der Straßenecke und bietet, auf eine Krücke gestützt, Wachskerzen, wetterbeständige, feine schwedische Streichhölzer feil. Dieser Mensch, dieser traurige Morgenvogel, ist unser Bekannter, der mit Tausenden und aber Tausenden von Häkchen in unser Seelenleben hineinhakt; diese im Morgennebel schlummernde Hauptstadt ist unser Zuhause; dies ist mit all dem Gipslaub, dem Blech-Geäst und den Eisen-Leitern der Stein-Wildnis unsere erbarmungslose, verfluchte und dennoch liebe Heimat. Warum besingen wir nicht diesen Steinwald und warum verdammen wir seinen singenden Vogel, die bimmelnde Straßenbahnglocke, zum Schweigen? Die Natur ist uns beinahe schon unbekannt, fast schon fremd. An Sonntagen schaukeln wir mit der Straßenbahn oder dem Autobus zu ihr und bekommen nur Staub, Lärm, Gedränge, ein Karussell, eine bil-

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lige, unechte, verlogene Kultur an ihrer Statt. Der Mensch rückt in den Vordergrund und hinterläßt auf allem die Spur seiner Hände. Was einstmals Poesie gewesen ist, mutet uns, die wir im Jahrhundert der Straßenbahn, der Eisenbahn und des Telefons leben und die wir nicht das Rauschen der Wälder, sondern das Getöse der Eisenhämmer und der rauchenden Fabriken hören, heute bereits als fremd, als primitiv an. Wie viele Kinder in der Hauptstadt haben noch nie den Gesang einer Lerche gehört, doch täglich den Lärm der Kultur, das Gerassel der Straßenbahnen, der Autos und der Telefone. Warum singen wir dann über die Lerche? Auf mich wirkt erhabener als alle Naturwunder, als alle Wasserfälle das Prestissimo einer Rotationsmaschine, die donnernd und zischend den über Zeit und Raum triumphierenden menschlichen Gedanken selbstbewußt vervielfacht. Dieser neuen Welt ist die proletarische Dichtung entwachsen. Die alte, primitive Skala der Poesie erweitert sich unglaublich und schließt in sich das ganze großartige und gnadenlose, schöne und gräßliche Leben ein. Der Kuß der Muse, wie der Schillers, gilt der ganzen Welt, einem jeden gleichermaßen, doch in erster Linie jenen, die niemand im Leben geküßt hat, den Elenden, den schweigsamen, mauerfarbenen Märtyrern der Fabriken, den hungrigen Sklaven der Kellerräume. Es kommt ein englischer Poet, der aus dem kläglichen Geklopfe der Tausend und aber Tausend Nähmaschinen den Rhythmus eines Gedichtes herausfühlt und das erste wirklich proletarische Gedicht schreibt. 3 Dann kommt Heine und gibt dem stummen Elend der Weber Stimme. Lauter h o m i n e s n o v i , lauter neue Menschen, stehen vor uns, eine neue Welt, wo die Trauer schwärzer, doch das Leben roter, lodernder, gesünder ist. In Italien singen zwei kühne Proletarierinnen, Ada Negri und Annie Vivanti, 4 in Deutschland jedoch schreibt Arno Holz sein Buch der Zeit, dieses wunderbare Gedichtbuch, in dem er sich mit bitterem Zorn und trotziger Liebe unter die kämpferischen Dichter stellt. Soll ich von den anderen sprechen, von Conradi, Henckel, Otto Ernst, Julius Hast, Jean Rictus, Morris Rosenfeld und Gorki, von der russischen proletarischen Lyrik? Überall entwickelt sich ein geheimes soziales Gefühl, und der Dichter gelangt, ob er es weiß oder nicht, in seinen Zauberkreis. Nicht nur die Liebe und das Verständnis, sondern auch die ewige Erneuerungssehnsucht der Kunst führen zu jenen Sujets, die zuvor niemand wahrgenommen hat. Der proletarische Dichter macht selbst den Bettler zum König und hebt in der Begeisterung der instinktiv vorausgeahnten sozialen Gerechtigkeit die Straßendirnen aus dem Schmutz.

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Vergebens rümpft die romantische Ästhetik die Nase, der Dichter rennt heute bereits ohne Hut, barhäuptig in den Sturm, manchmal auch barfuß, und jeder Versuch, ihn von der wunderschönen und traurigen Lebensfülle abzukapseln, ist ein Anschlag auf die Poesie selbst. Denn wer kann den Poeten vom Leben abkapseln? Ist die Poesie selbst nicht eine besondere Resultante wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Komponenten? Kommt nicht das Erzittern der allerfeinsten Gehirne an den Tischen der Banken und in den Akten der Geldleute zur Ruhe? Warum also soll der Dichter taub und blind im tobenden Sturm der Zeiten stehen, wenn die Gegenwart, die das Leben formt, sein ganzes Wesen mit Millionen und aber Millionen feinen Wurzeln umfaßt? Diese sonderbare Macht bereitet unseren Träumen ein Ende, setzt einen Punkt auf unsere Romane, Novellen und Gedichte. Weshalb fürchten wir uns also vor ihr, warum wagen wir es nicht, ihr in die Augen zu sehen? Der proletarische Dichter fürchtet sich auch nicht vor ihr, sondern setzt sie wagemutig auf seine Leier und erschafft aus ihr Poesie, die Dichtung des Lebens. Und diese Dichtung lebt und schreibt heute ein jeder, der ein großer und wahrer Mensch ist, auch wenn er sich nicht mit dem Wort zu unserem Glauben bekennt und scheinbar auch kein ureigenstes Kind der Revolution ist. Proletarier, Ausgestoßene, Getretene und Geohrfeigte der neuen, verfeinerten Gefühle und Gedanken sind wir alle, die heute eine Stimme suchen, um dieses besondere, tausendgesichtige, energielose, moderne Leben auszudrücken; und auch unser Wort hören nur die auf das Neue Hungrigen und Durstigen, in deren Seele die versteckte Energie der Zukunft schlummert. 1908

4 LAJOS BIRÖ

Abrechnung mit Ibsen Was ist das Maß literarischer Unsterblichkeit? Hundert, fünfhundert, tausend Jahre? Gibt es Niederschriften - außer dem Evangelium - , die seit tausend Jahren ständig beliebt und in ihrem Buchdasein ohne Unterbrechung lebendiger Besitz der Menschheit sind? Und welcher

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Vergebens rümpft die romantische Ästhetik die Nase, der Dichter rennt heute bereits ohne Hut, barhäuptig in den Sturm, manchmal auch barfuß, und jeder Versuch, ihn von der wunderschönen und traurigen Lebensfülle abzukapseln, ist ein Anschlag auf die Poesie selbst. Denn wer kann den Poeten vom Leben abkapseln? Ist die Poesie selbst nicht eine besondere Resultante wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Komponenten? Kommt nicht das Erzittern der allerfeinsten Gehirne an den Tischen der Banken und in den Akten der Geldleute zur Ruhe? Warum also soll der Dichter taub und blind im tobenden Sturm der Zeiten stehen, wenn die Gegenwart, die das Leben formt, sein ganzes Wesen mit Millionen und aber Millionen feinen Wurzeln umfaßt? Diese sonderbare Macht bereitet unseren Träumen ein Ende, setzt einen Punkt auf unsere Romane, Novellen und Gedichte. Weshalb fürchten wir uns also vor ihr, warum wagen wir es nicht, ihr in die Augen zu sehen? Der proletarische Dichter fürchtet sich auch nicht vor ihr, sondern setzt sie wagemutig auf seine Leier und erschafft aus ihr Poesie, die Dichtung des Lebens. Und diese Dichtung lebt und schreibt heute ein jeder, der ein großer und wahrer Mensch ist, auch wenn er sich nicht mit dem Wort zu unserem Glauben bekennt und scheinbar auch kein ureigenstes Kind der Revolution ist. Proletarier, Ausgestoßene, Getretene und Geohrfeigte der neuen, verfeinerten Gefühle und Gedanken sind wir alle, die heute eine Stimme suchen, um dieses besondere, tausendgesichtige, energielose, moderne Leben auszudrücken; und auch unser Wort hören nur die auf das Neue Hungrigen und Durstigen, in deren Seele die versteckte Energie der Zukunft schlummert. 1908

4 LAJOS BIRÖ

Abrechnung mit Ibsen Was ist das Maß literarischer Unsterblichkeit? Hundert, fünfhundert, tausend Jahre? Gibt es Niederschriften - außer dem Evangelium - , die seit tausend Jahren ständig beliebt und in ihrem Buchdasein ohne Unterbrechung lebendiger Besitz der Menschheit sind? Und welcher

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Kreis von Gelesenem und Verstandenem ist es, der Unsterblichkeit bedeutet? Der deutsche Bauer hat keine Ahnung von Goethe; auch Shakespeare vergaß man für zweihundert Jahre; in Rom verwendete man den antiken Marmor tausend Jahre lang nur zum Kalkbrennen. Und - Bücher haben ihr eigenes Schicksal - wieviel Bücher gibt es, die vor unseren Augen ihren Glanz verlieren, verblassen und vergehen; gestern waren wir uns noch sicher, sie würden die Jahrhunderte überleben, und heute fragen wir uns besorgt, ob sie nicht in zwanzig Jahren im grauen Papiermeer der vergessenen Bücher versinken werden. Nicht das Buch verändert sich. Die Veränderung vollzieht sich in uns; aber wenn wir uns so schnell verändern, wie darf man da mit dem Wort Unsterblichkeit um sich werfen, und wie tollkühn ist es da anzunehmen, der seelisch erneuerte Mensch dieser mit erstaunlicher Geschwindigkeit sich wandelnden Welt werde dereinst an dem Gefallen finden, was uns gefällt, werde nicht über das lächeln, was uns laut lachen ließ. Aus den kleinen Winkeln der Literatur und der Kritik, wo zumeist gallige Lehrer-Spinnen ihre kleinen Spinnetze webten oder wo idealistische Dichter-Fliegen ihre patriotischen Gesänge summten, wo sich d i e v o n d e r L i t e r a t u r g e s c h i c h t e d e s e w i g S c h ö n e n g e s p e i s t e Liebe des hartnäckigen kleinen Gehirns für keine Minute damit abfand, daß Ibsen König in der Literatur wurde, aus diesen dunklen kleinen Winkeln raschelt es jetzt triumphierend. Mit dem Ibsenismus ist es aus, das nebulös Nordische ist gestürzt, das Publikum kehrt zur wahren Dichtung zurück - die Spinnen sind glücklich, weil sie abgewartet haben, bis sie recht bekamen. Haben sie recht bekommen? . . . Vielleicht nicht ganz so, wie sie triumphierend behaupten. Aber wollte man ihnen zurufen, sie lögen, verspürte man den Mangel an Aufrichtigkeit in der eigenen Stimme. Sie sind Spinnen und Fliegen, aber in dem, was sie sagen, steckt etwas Wahres. D a ß das Publikum sich säuerlich und müde von Ibsen abzuwenden beginnt, besonders in Deutschland, das seine wirkliche dichterische Heimat war, würde nicht viel bedeuten. Aber auch diejenigen, für die Ibsen ein Prophet war, eine große lebendige Quelle und neue Welt, bleiben sorgenvoll vor ihm stehen und fühlen nicht oder kaum, daß in dem großartigen und für Jahrhunderte bestimmten Œuvre noch Leben pulsiert. Was gestern so viel war, ist heute wenig. Was gestern alles war, weckt heute Ärger und Unbefriedigtsein. D a s Ganze ist ja großartig; aber es genügt nicht; es müßte da noch etwas sein ; irgend etwas fehlt . . . 71

Das ist vielleicht nur eine flüchtige Ermüdung. Morgen kommt vielleicht der neue Mensch; wenn er hier ist und dieses ermüdende und nervenaufreibende Suchen endet, mit dem wir jetzt auf die Bühne starren, dann wird Ibsen vielleicht - wird er wahrscheinlich - wieder der Fels, jener große und erhabene Berg sein, wie wir ihn gestern sahen. Dieses Schwanken und Ermüden, dieses Betroffensein ist dazu gut, daß Schriftstellerchen, die für die Unsterblichkeit posieren, weil sie vom Wein eines kleinen Erfolgs angeheitert sind, und die nicht schreiben können, ohne krampfhaft in die Luft zu lauschen, ob nicht auch sie das Flügelrauschen über sich hören, von dem Heine irgendwo spricht, daß diese Schriftstellerchen in sich gehen . . -1 Und dazu, daß wir gierig die Hand nach einem solchen Buch ausstrecken, das in dieser Zeit des Zweifeins und der Besorgnis geradezu eine ganze Weltauffassung, eine eigene politische, historische und philosophische Richtung darstellt und gewissermaßen im Namen alles Künftigen mit Ibsen ins Gericht gehen will. Der Titel des Buches lautet: Henrik Ibsen. Sein Verfasser: G. Plechanow 2 ; ein hochgeschätzter Name in der sozialistischen Literatur, einer der geistigen Führer der russischen Sozialdemokratie. Das Buch - ein vierzig Seiten starkes Heft - erschien als Beilage zur Neuen Zeit, und die Neue Zeit ist die vornehme und gelehrte und offizielle Zeitschrift des deutschen Sozialismus. Das alles zusammen ist also eine interessante und aufregende Verheißung: Wir werden das Urteil des Sozialismus über Ibsen erhalten. Die Sozialdemokratie hat im allgemeinen so sehr recht, daß man sich immer wundert, wie intelligente Menschen - zumindest in der Überzeugung, innerlich und pro foro interno 3 - etwas anderes als Sozialisten sein können. In der Publizistik hat - wenigstens für den unvoreingenommenen Betrachter - immer die sozialistische Presse recht. Das Waffenarsenal des historischen Materialismus, das die bürgerliche Presse völlig dem Sozialismus überlassen muß, ist so reich, so hartgestählt, von so unwiderstehlicher Kraft, daß unter seinen Schlägen die gemästeten oder eleganten Phrasen, die sich ihm entgegenstellen wollen, in Fetzen fliegen. Allein die sozialistische Publizistik vermag den Dingen ein Relief von wissenschaftlichem Wert zu geben, nur sie kann die Dinge in eine große historische Perspektive stellen. Nur die sozialistische Publizistik hat Gesichtspunkte. Und nun kommt diese Publizistik, die ganze politische, philosophische und wirtschaftliche Richtung, das gesamte Waffenarsenal des historischen Materialismus sowie die sicheren und stets bewährten 72

Gesichtspunkte des Sozialismus, bereit, über Ibsen ein Urteil zu sprechen. Ein Urteil, das einerseits mit der Vergangenheit abrechnet und sagt, was warum geschehen ist, das andererseits den Wert einer großen schreibenden Arbeiterschaft an einem zuverlässigen Wertmesser mißt; das tut die sozialdemokratische Publizistik immer. Die Sache beginnt ziemlich bedenklich. Ibsen habe, sagt Plechanow, den Aufstand des menschlichen Geistes gepredigt; aber e r s e l b s t habe nicht gewußt, wohin uns diese Rebellion führen sollte; deshalb werde seine Sprache nebulös; in seine Werke ziehe ein abstraktes, ein schematisches Element ein. (Das liest man mit Besorgnis. Was stellt sich hier heraus? Lohnen wir es nicht, durch eine schonungslose und von sicherer Hand geführte wissenschaftliche Untersuchung davon überzeugt zu werden, daß das, was wir für tief und großartig hielten, seicht und niedrig ist?) Ibsen weiß es also selbst n i c h t . . . Beispiel dafür ist Brand..'1 Brand donnert gegen die schnöden Kompromisse, sagt aber nicht, was denn der Zweck dieses Aufbegehrens ist. Ibsens Moralgesetz ist ebenso leer wie Kants: eine bloße Formel. Wozu diente beispielsweise in Stützen der Gesellschaft5 der ganze große Aufwand? Dazu, daß Konsul Benick ein seichtes Geständnis ablegt und Fräulein Hessel ohne jede Klarheit wortkarg etwas über Freiheit und Gerechtigkeit wispert, die die wahren Stützen der Gesellschaft sind? Was haben diese Freiheit und diese Gerechtigkeit zum Inhalt? . . . Dann ist da der Volksfeind. D a ist der gute Doktor Stockmann. Wie den Anarchisten doch sein großer Ausbruch behagt! . . . Und was für Ungereimtheiten dieser gute Doktor zusammenredet! . . . Sieht denn dieser Mann nicht, selbst wenn er in seinem Ausbruch gegen die kompakte Mehrheit recht hätte - der wirkliche Grund des Übels ist nicht die Mehrheit, sondern deren Rückständigkeit? . . . Aber wodurch wird diese wiederum ausgelöst? Durch die Abhängigkeit von einer wirtschaftlich starken Minderheit! . . . So geht das über zehn Seiten. Plechanow belehrt Doktor Stockmann, klopft ihm auf die Schulter, spöttelt ein wenig über ihn, klärt ihn über den Kapitalismus auf. Manchmal ist sein Ton ein wenig gallig, dann redet er mit der Stimme provinzieller Zeitungspolemiken; manchmal ist er ruhig und erhaben, und das ist die Stimme, mit der meine sozialistischen Freunde bei Ausflügen aufs Land mit einem politisch interessierten Schmied oder Schuster reden, der nicht an den Kollektivismus glauben will. Hier nun gehen einem die Augen auf. Plechanow will mit dem 73

Waffenarsenal des historischen Materialismus keine ästhetische Wertbestimmungen vornehmen, sondern er fragt Ibsen im streng kontrollierenden Tonfall der sozialistischen Politik, ob er wisse, daß das Ziel die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Zukunft eine klassenlose Gesellschaft sei. Deshalb ist für ihn Brands Appell inhaltslos. Darum verlangt er von Fräulein Hessel, sie solle über Freiheit und Gerechtigkeit noch ein paar erklärende Worte sagen, möglichst im Sinn des Erfurter oder des Leipziger Programms.6 Daher verübelt er Stockmann, daß er das Kommunistische Manifest nicht kennt, und deshalb belehrt er ihn wie folgt: „In der kapitalistischen Gesellschaft häuft sich an der einen Ecke Reichtum an, an der anderen Armut, doch mit der Armut zusammen revolutionäre Unzufriedenheit und die Erkenntnis der Voraussetzungen ihrer Befreiung. Der n a i v e D o k t o r S t o c k m a n n h a t j e d o c h v o n a l l e d e m k e i n e b l a s s e A h n u n g."7 Als würde er sagen: Da gibt es den historischen Materialismus, und der naive Jesus Christus hatte keine Ahnung davon. Wer eine literarische Arbeit mit soviel Kleinlichkeit und Engherzigkeit, mit soviel Krämer-Beschränktheit und lümmelhafter Ungeduld untersucht, verdient es wahrhaftig nicht, einer der Führer der interessantesten und edelsten revolutionären Partei der Welt, der russischen Sozialdemokratie, zu sein. Dieser Mann redet mit Stockmann, als wäre er sein persönlicher Feind. Dieser Mann kann nicht nur nicht begreifen, daß Stockmann doch nicht ganz Ibsen ist, er begreift auch nicht, daß Stockmann der erstaunliche Held einer gewaltigen psychischen Revolution ist und dort, wo, und in der Art, wie er dasteht, unbestreitbar und vollkommen recht hat, daß Stockmann - dort in seiner erbärmlichen kleinen Stadt - ein leuchtendes Beispiel menschlicher Größe ist. Er kann, obwohl der historische Materialismus dies unmißverständlich erklärt, nicht begreifen, daß sich Stockmann dort, in der Umwelt, unter jenen wirtschaftlichen Kräften, nicht anders entwickeln konnte; er kann nicht begreifen . . . Ach, er vermag gar nichts zu begreifen. Mitunter entschuldigt er Ibsen: Er sei in einer kleinbürgerlichen Gesellschaft aufgewachsen, mit ihren Problemen beschäftigt gewesen, der arme Ibsen, er habe nicht Marxist werden können . . . Aber die langen Darlegungen, die eingehenden Analysen, die fünf- und zehnseitigen Ausdeutungen enden dennoch düster mit dem Einwand: Ibsen habe auch dies nicht mit einem sozialistischen Aufruf abgeschlossen, da;bei wäre hier ein hübscher Ausbruch gegen den Kapitalismus genau am Platze gewesen. 74

Doch es stimmt nicht, daß er am Platze gewesen wäre. Es ist nicht so, daß man sich als Sozialist ans Ende jedes literarischen Werkes sozialistische Leitartikel wünschen muß. Der abstrakte Abschluß, das Zum-Symbol-Werden, das Plechanow bei Ibsen nicht begreifen und nicht verzeihen kann, ist aus sozialistischer Sicht und auch einfach mit dem Maßstab des Praktischen gemessen gut und das einzig Gute: Weil der Leitartikel verblassen müßte, dümmlich würde und lächerlich wäre, während Abstraktion und Symbol zeitloser Rahmen einer revolutionären Leidenschaft, Beispiel eines Aufbegehrens, Modell eines moralischen Aufstands bleiben. Der moralische Aufstand . . . Das ist es, womit sich Plechanow nicht abfinden kann. Das ist ihm zu wenig. Das genügt ihm nicht. E r hätte m e h r von Ibsen gewollt: d a ß s e i n e M o r a l e i n e n W e g i n d i e P o l i t i k f i n d e t . Da muß man natürlich müde verstummen. Wem die politische Revolution - die heute letztlich aus dem Schreiben von Zeitungsartikeln und dem Halten von Volksreden besteht - mehr bedeutet als die moralische Revolution, mit dem ist schwer zu diskutieren. Wer schreibt: „Frau Alving - und mit ihr Ibsen - irrt jedoch gründlich, wenn sie glaubt, jedes Gesetz sei eine leere und schädliche Formsache. Ein Gesetz zum Beispiel, das die Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital beschränkt, ist durchaus nicht schädlich, sondern sehr nützlich" 8 , wer also nicht begreift, daß Frau Alving sagen m u ß , was sie sagt, daß sie, wenn sie es sagt, nicht an die Sozialgesetzgebung denken kann, daß ihre Angelegenheit ihr jetzt die wichtigste ist, wer schließlich Ibsen für Frau Alvings Äußerungen verantwortlich macht und ihn mit Bierhausargumenten widerlegen will, der hat wirklich jedes Recht verloren, in Literaturfragen ernst genommen zu werden. Aber man nimmt ihn ernst. Tausende und aber Tausende Menschen nehmen ihn ernst. Und was wir an ästhetischen Urteilen aus der sozialdemokratischen Partei hören, ähnelt gefährlich dem seinen. Hier, in der Arbeiterschaft, liegt die wahre Zukunft der Literatur. Hier gibt es für ihre Saaten ein riesiges, überaus fruchtbares Feld. Hier bestehen die besten Voraussetzungen dafür, daß sie zur Blüte kommen. Für Literatur und Kunst entwickelt sich hier ein Publikum, wie es ähnlich noch nie da war, das als Mäzen freigiebiger sein wird als die Medicis 9 und das nach neuen Schönheiten heftiger dürsten wird als Leo X. 10 ; hier unten, im Proletariat, entstehen die Voraussetzungen für eine strahlende Renaissance, und da traktiert man dieses Publikum der Zukunft, diesen künftigen gewaltigen Inspirator, Kon75

sument und Nutznießer der Literatur, diesen millionenköpfigen Mäzen mit den borniertesten ästhetischen Ansichten, will man ihm das beschränkteste und unkünstlerischste Urteil aufschwatzen, will man es nötigen, nicht nach dem Herzen, sondern nach dem Parteiprogramm zu genießen, für schön zu halten, was blasiert und langweilig ist, und sich abzuwenden von dem, was frisch und interessant ist, weil ersteres wie ein treuer Maulesel der Parteitaktik dient und letzteres sich nicht mit Politik befaßt. Plechanow kann nur unter einem Aspekt die Lektüre Ibsens empfehlen: sie liefere einen sehr wertvollen Beitrag zum Verständnis der Naturgeschichte des Kleinbürgertums. Das ist alles? Das ist alles. Der proletarische Leser soll nicht ergriffen sein, wenn er Stockmann in den Kampf stürzen sieht, er soll nicht vor den Gespenstern erschaudern, er soll nicht über die Stützen der Gesellschaft erstaunen, er soll nicht über Nora erschrekken, er soll nicht mit Solness schwindelnd taumeln . . . E r soll Beiträge zur kleinbürgerlichen Gesellschaft suchen. Hier ist Plechanows Weisheit am Ende. Er führt Ibsens große Wirkung nur darauf zurück, daß sich Europas sogenannte denkenden Kreise, also das alte revolutionäre Bürgertum, der Aristokratie angeschlossen hat, das Mehrheitsprinzip fürchtet und sich über den Feldzug gegen die Majorität freut. Diese Erklärung ist, einfach durch die Brille des historischen Materialismus betrachtet, eng, lächerlich, lückenhaft, leichtfertig und absurd. Wie kann der geistige Kampf gegen die Majorität hinreichend Erklärung für Ibsens großen Erfolg sein, wenn in seinen meisten Stücken diese - übrigens sogar laut Plechanow mißdeutete - Kampfeslosung generell fehlt? Was haben die Gespenster mit der kompakten Majorität zu tun? Oder die Wildente? Peer Gynt? Oder, um das schönste zu nennen, Hedda Gabler? Oder, um den dumpf summenden Schlußakkord zu erwähnen, Rubek? Darauf antwortet Plechanow nicht. Er erwähnt im allgemeinen nur vier Stücke: Brand, Stützen der Gesellschaft, Volksfeind und Gespenster-, aus ihnen - sowie aus einigen Briefen und Reden - will er das schriftstellerische Bild Ibsens formen. Das ist eine Fälschung. Und er spricht über nichts, was bei Ibsen schön und groß ist, was in seinem Lebensschaffen äußere und innere Revolution war; das ist Blindheit oder Ungeschicklichkeit, Verständnislosigkeit oder Böswilligkeit. Aber wieder läuft es darauf hinaus, daß dieses Plechanow-Buch zusammen mit der Neuen Zeit kam, was so wirkte, als wollte die Sozialdemokratie offiziell ihren eigenen Standpunkt zu Ibsen festle76

gen. Ist es also so, daß die Sozialdemokratie einen ganz eigenen Standpunkt zur Literatur benötigt? Ist es so, daß jede künstlerische Arbeit nicht nur nach ihren eigenen künstlerischen Gesetzen untersucht werden muß, bevor man sie als Sozialist akzeptiert und genießt, sondern auch nach besonderen, sozialistischen Gesichtspunkten? Es ist nicht so. Es ist ein Irrtum, eine Jugendkrankheit der sozialdemokratischen Publizistik, von der sie langsam genest, daß jeder literarischen Arbeit der Maßstab der Parteitreue angelegt werden müsse. Als Agitation hatte das einmal seine Berechtigung; auch als Schutz dagegen, daß das Salongeschwätz eines Ohnet oder einer Beniczky, 11 das den Proletarierstolz schwächt und den revolutionären Trotz lähmt, in Arbeiterhände gelangte. Doch diese Bedenken hat der Sozialismus überwunden. Er ist erwachsen geworden und differenziert sich; er kann nicht nur mit abgestempelter und bestätigter Lektüre versorgt werden, sondern es ist auch nicht zu verhindern, daß er die Hand nach Lektüre der frei außerhalb des Parteirahmens existierenden Literatur ausstreckt. Also ist es besser, in literarischem Ton mit ihm über Literatur zu sprechen. Andererseits kann es auch nicht für die Sozialdemokratie wünschenswert sein - und das zu fordern zeugt von unglaublicher Borniertheit - , daß sich die Dramen von Ibsen und anderen etwa mit Fragen des Marxismus beschäftigen. Denn der Sozialismus ist nicht mehr die Bewegung von evangeliumhafter Schlichtheit, die er einmal war. Denn wenn Schriftsteller anfingen, sich so mit dem Sozialismus zu befassen, wie Plechanow es wünscht, dann entstünden schon bald das revisionistische Drama, der orthodoxe Roman, die syndikalistische Novelle, und nicht nur die Kunst hätte zu leiden, sondern auch der Sozialismus. Die Literatur steht außerhalb - oberhalb, neben oder unter, mir ist's egal - der Partei und der Politik. Es ist frevelhafte Dummheit, wenn Plechanow von Ibsen, dem Schriftsteller, unaufhörlich das Politische einklagt. Die Literatur kann nur in ganz besonderen, gluterfüllten Perioden mit der Politik verschmelzen oder an ihre Spitze treten; ist eine solche Periode zu Ende, muß die Literatur sich selbst degradieren, denn nur so kann sie leben, nur so kann sie zu ihrem Eigenleben gelangen. Nur so, in Absonderung und Ergötzung, kann sie die Bedeutung erlangen, die sie in der Führungsrolle verlieren muß. Die Sozialdemokratie hat es überwunden, von der Literatur Prophetie, Predigten und Agitation zu verlangen. Die Sozialdemokratie kann die Literatur unbesorgt nach literarischen Gesichtspunkten beurteilen. 77

Sie kann dies um so ruhiger tun, da sich erwiesen hat, daß Literatur und Kunst nach anderen Gesichtspunkten gar nicht beurteilt werden können. Die stählerne Bewaffnung des historischen Materialismus hat sich in Politik, Philosophie und Ethik großartig bewährt. In der Literatur konnte sie sich nicht bewähren. Sie auf die Literatur anzuwenden und mit ihrer Hilfe ästhetische Urteile zu konstruieren, das war ein Irrtum. Der ganzen Tendenz verdanken wir einige interessante Versuche; aber die Art und Weise des künstlerischen Schaffens, die letztlich am wichtigsten ist, mit wirtschaftlichen Verhältnissen zu erklären ist unmöglich. Das Genie läßt sich nicht auf eine klare Formel zurückleiten. Manche Äußerlichkeiten erklärt die Umwelt - so weit, sogar noch weiter ist schon Taine 1 2 gegangen - , auch die Thematik wird durch die gesellschaftliche und ökonomische Situation des Schriftstellers verständlich gemacht, insofern ist die künstlerische Arbeit in der Tat das Ergebnis wirtschaftlicher Verhältnisse; aber die Art und Weise, das schöpferische Tun, die Technik, die Kunst - die am wichtigsten ist - sind das Geheimnis des Genies, nicht der Umwelt, sondern des Menschen; und der Mensch ist nicht das Produkt seiner Zeit, sondern das vergangener Zeiten, früherer Jahrhunderte und Jahrtausende. Ein hervorragender ungarischer Ästhetiker und hochgebildeter Sozialist 13 hat versucht, die Kunst Leonardo da Vincis eindeutig aus der wirtschaftlichen Situation der Frührenaissance zu erklären, für eine vollständige eindeutige Erklärung müßten jedoch hundert Vorfahren beiderlei Geschlechts völlig bekannt sein, und zwar physisch und psychisch, äußerlich und innerlich, mitsamt den wirtschaftlichen Verhältnissen, denn in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Frührenaissance hat Leonardo von ihnen die Erfahrungen einiger tausend Jahre eingebracht, ihre Geschicklichkeiten und erworbenen Eigenschaften, ihr Talent und ihre akkumulierte Energie: ihr Genie. Die vielen tausend oder hunderttausend Jahre, die Unmenge nicht erforschbarer und nicht feststellbarer Ursachen, die den einen Menschen schön, den anderen häßlich, den einen stark, den anderen schwach werden lassen, machen es unmöglich, daß wir literarisches Schaffen so einfach, eindeutig und leicht aus den wirtschaftlichen Verhältnissen heraus erklären, wie wir die Neigungen der reaktionären Großgrundbesitzer aus ihnen deuten; Plechanow sagt zu Ibsens Rechtfertigung - tatsächlich, er rechtfertigt ihn! - , er sei in kleinbürgerlichem Milieu aufgewachsen, und dieses Milieu habe sein Schaffen gesetzmäßig auch noch geprägt, als er sich schon aus ihm befreit 78

hätte. Das kleinbürgerliche M i l i e u . . . Nicht nur Marx, auch Zola, Anatole France und Bernard Shaw kamen aus kleinbürgerlichem Milieu. Trotzdem: Sie konnten nicht nur gute Sozialisten, sondern auch gute sozialistische Schriftsteller werden. Bei Plechanow aber wären auch sie nicht ungeschoren davongekommen. Weil in Nana kein Wort über den Kapitalismus fällt, weil Thals nichts über die Klassengliederung weiß und weil Caesar und Cleopatra nicht mit einem flammenden Appell über die Bedeutung der Gewerkschaften an das Proletariat enden. Ibsen sagte in einer Rede, die Gesellschaft müsse einen neuen Adel erhalten, den Adel des Charakters, des Willens und des Denkens; diesen Adel könne ihr vor allem die Arbeiterschaft verleihen... Armer Ibsen, auch das ist nicht Grund genug, in Plechanows Augen Gnade zu finden. Plechanow ist unzufrieden, überlegen und spöttisch. Er findet diesen Wunsch lächerlich; auf den ersten Platz hätte Ibsen die ökonomische Befreiung setzen müssen. Es gibt kein Pardon für Ibsen; er steht nicht auf der Plattform des Kommunistischen Manifests. Man wendet sich mit gelindem Brechreiz von soviel beschränkter Schroffheit, tölpelhafter Konsequenz und junkerhafter Ungeduld, von soviel Inquisitionswut, soviel talmudistischer Haarspalterei ab. Im Sozialismus stecken die größten Wahrheiten und die größten Kräfte; in ihm sind die redlichsten Emotionen, die herrlichsten Freiheitsbestrebungen, die wärmsten und freundlichsten Träume der Menschheit; in ihm steckt alles edel Revolutionäre. Und namens dieser herrlichen Wahrheiten und schwungvollen Freiheitssehnsüchte kommt ein engherziger, kleinlicher und seichter Buchstabenkrämer, ein spröder Scholastiker und fanatischer Talmudist daher und will uns glauben machen, der Buchstabe habe recht, nicht der Gedanke. Das ist ein grober Irrtum oder eine Krankheit oder Betrug. Die Sozialdemokratie kann nicht auf solche Weise einen Riegel zwischen sich und den gesamten Geistesschatz der Menschheit schieben, von Shakespeare bis Dostojewski. Der Sozialismus kann nicht die großen Revolutionäre des Geistes verleugnen, von Villon bis Ibsen, nur weil sich ihre Revolution ohne das Kommunistische Manifest vollzog. Sozialismus bedeutet Rezeption jeder Revolution und jeder Kunst; und gibt es heute Sozialisten, die das nicht anerkennen, wird der siegreiche Sozialismus in fünfzig oder in hundert Jahren über sie lächeln. Die proletarische Kunst ist nur eine Etappe; der Sozialismus selbst will sie überwinden, und er wird dies schon bald tun. Und Ibsen wird 79

in den Augen der Zukunft, des zukünftigen Sozialismus nicht herabgesetzt sein, weil er aus der Moral keinen Weg in die Politik gefunden hat, wie Plechanow es sich wünscht. Plechanow schätzt Ibsen gering, weil seine Gestalten und Handlungen Symbole geworden sind. Zum Symbol, sagt er, greife der Schriftsteller da, wo er konkrete Bestrebungen nicht vertreten könne oder wolle. Das stimmt nicht. Jede große schriftstellerische Arbeit wird Symbol und Abstraktion und deshalb unsterblich; bliebe sie den konkreten Forderungen verhaftet, die Plechanow wünscht, bliebe sie im Staub der Landstraße stecken. Der Sozialismus wäre der erste, der über sie hinwegschritte. Was Ibsen den künftigen Zeiten erhält, ist, daß seine Worte Perspektive haben, daß hinter seinen Menschen der Gedanke und hinter seinen Handlungen die Abstraktion steht, daß die Revolution des kleinen Helden der kleinen Stadt - des „braven guten Stockmann" - ein ewiges Beispiel der edelsten Leidenschaften im Menschen, ein ewiges Symbol eines Moralgesetzes ist. Dies wird nicht berührt vom Sturz des Ibsenismus und den Widerstand der literarischen Winkelhocker sowie die Buchstabenkrämerei der Talmudisten von Parteiprogrammen überleben; wenn eine kleinliche, querulierende Ästhetik dies in Zweifel ziehen will, dann ist das gerade recht, damit diese Überzeugung - nach säuerlichem Ermüden, flüchtigem Schwanken und kurzem Betroffensein - aufersteht und in uns erstarkt. 14 1908

5 ERNÖ GARAMI

Referat auf dem Kongreß der Sozialdemokratischen Ungarns

Partei

Jetzt möchte ich auf einen anderen Teil der Beschwerden eingehen, die sich auf die belletristischen Beiträge der Nepszava, auf die Feuilletons und auf die Leserkritiken 1 beziehen. Die Diskussionsbeiträge waren zu dieser Frage weitaus energischer, und es wurden auch mehr Klagen laut, worüber ich mich, aufrichtig 80

in den Augen der Zukunft, des zukünftigen Sozialismus nicht herabgesetzt sein, weil er aus der Moral keinen Weg in die Politik gefunden hat, wie Plechanow es sich wünscht. Plechanow schätzt Ibsen gering, weil seine Gestalten und Handlungen Symbole geworden sind. Zum Symbol, sagt er, greife der Schriftsteller da, wo er konkrete Bestrebungen nicht vertreten könne oder wolle. Das stimmt nicht. Jede große schriftstellerische Arbeit wird Symbol und Abstraktion und deshalb unsterblich; bliebe sie den konkreten Forderungen verhaftet, die Plechanow wünscht, bliebe sie im Staub der Landstraße stecken. Der Sozialismus wäre der erste, der über sie hinwegschritte. Was Ibsen den künftigen Zeiten erhält, ist, daß seine Worte Perspektive haben, daß hinter seinen Menschen der Gedanke und hinter seinen Handlungen die Abstraktion steht, daß die Revolution des kleinen Helden der kleinen Stadt - des „braven guten Stockmann" - ein ewiges Beispiel der edelsten Leidenschaften im Menschen, ein ewiges Symbol eines Moralgesetzes ist. Dies wird nicht berührt vom Sturz des Ibsenismus und den Widerstand der literarischen Winkelhocker sowie die Buchstabenkrämerei der Talmudisten von Parteiprogrammen überleben; wenn eine kleinliche, querulierende Ästhetik dies in Zweifel ziehen will, dann ist das gerade recht, damit diese Überzeugung - nach säuerlichem Ermüden, flüchtigem Schwanken und kurzem Betroffensein - aufersteht und in uns erstarkt. 14 1908

5 ERNÖ GARAMI

Referat auf dem Kongreß der Sozialdemokratischen Ungarns

Partei

Jetzt möchte ich auf einen anderen Teil der Beschwerden eingehen, die sich auf die belletristischen Beiträge der Nepszava, auf die Feuilletons und auf die Leserkritiken 1 beziehen. Die Diskussionsbeiträge waren zu dieser Frage weitaus energischer, und es wurden auch mehr Klagen laut, worüber ich mich, aufrichtig 80

gesagt, freue. Es ist immer noch besser, wenn die Genossen mit den politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Beiträgen der Nepszava einverstanden und mit dem belletristischen Teil weniger zufrieden sind als umgekehrt. Und zwar deshalb, weil es sich im ersten Fall um prinzipielle und taktische Standpunkte der Partei handelt und es ein großer Fehler wäre, wenn wir uns auf diesem Gebiet große Unterlassungen hätten zuschulden kommen lassen. Anders ist dies auf dem Gebiet der schöngeistigen Literatur. Hier geht es nicht um Fragen des Prinzips, der Taktik und des Parteiprogramms; die Belletristik ist eine Sache des persönlichen Geschmacks. Der eine hält dies, der andere jenes für schön und gut; der eine Sozialist wird sich hierfür begeistern, ein anderer, nicht minder guter und rechtschaffener Genosse für etwas anderes. So wird sich der eine Genosse - um nur ein Beispiel zu nennen - etwa für die Feuilletons Csizmadias oder für die Gedichte Endre Adys begeistern, während ein anderer von ihnen wenig angetan sein wird usw. Damit muß man aber rechnen, wenn die belletristische Tätigkeit der Redaktion der Nepszava kritisiert wird. Die Redaktion befindet sich in einer äußerst schwierigen Lage, da sie angesichts der Tatsache, daß der eine dies, der andere wieder jenes verlangt, zu entscheiden hat, dem Geschmack welcher Genossen sie Genüge tun soll. Zwischenruf von Jocsak: Aber die Beschwerde gegen die „Gipsjungs" bestand doch allgemein.. ? Garami: Keineswegs, vielmehr ist es so, daß jeder, der eine Beschwerde vorbringt, der Meinung ist, seine Beschwerde sei allgemein von Belang. Für die hier zu publizierenden literarischen Beiträge kann es nur ein Kriterium geben, und zwar, daß die Nepszava auch in ihrem belletristischen Teil dem Fortschritt dient. Nun erhebt sich die Frage, was denn der Fortschritt sei, dem wir zu dienen haben. (Zwischenrufe: Die Dekadenz!) Nun, einige Genossen sind der Meinung, die Zwischenrufe bestätigen das, wir dienten der Dekadenz. Ich will, verehrte Genossen, endlich sagen, was ich unter Fortschritt verstehe. Wer die schöngeistige ungarische Literatur verfolgt, der wird bemerken, daß sie in Geburtswehen liegt: Bislang unbekannte junge Menschen suchen nach neuen Themen und zu diesen nach neuen Formen. Sie ringen mit den neuen Themen und Formen und sind bemüht, sie zu meistern. Im Gegensatz zur alten Form, die auch ich persönlich für überholt und schlecht, ja, vom sozialistischen Standpunkt sogar für schädlich und verwerflich halte, wollen sie etwas Neues bringen. Ich bin der Meinung, daß diese neue junge literarische Bewegung, die 6

Befunde

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erst im Entstehen begriffen ist und nicht immer Einwandfreies schafft, jedoch stets Neues schaffen will, nach Möglichkeit \on der Nepszava zu unterstützen und ihr ein Forum zu geben ist. Meiner Ansicht nach handelt es sich da um eine junge Garde, der es ansteht, die ungarische Belletristik zu revolutionieren, die aber nicht immer den richtigen Weg fand und zu Übertreibungen neigt, wie dies eben für jede junge revolutionäre Bewegung zutrifft. Sie ist nicht frei von Fehlern, die zu beurteilen wiederum Sache des persönlichen Geschmacks ist. Obwohl ich als der zuständige Redakteur zu entscheiden habe, was in der Nepszava publiziert wird, wage ich es nicht, die eine oder andere Arbeit dieser aufstrebenden neuen Richtung zurückzuweisen, auch wenn ich sie selbst nicht für ganz geeignet halte. Ich wage es nicht und darf es auch nicht wagen, ja, würde es sogar für ein Vergehen halten, wenn ich beispielsweise ein Feuilleton des Genossen Csizmadia nicht in der Nepszava publizieren würde, weil es mir persönlich nicht gefällt. Denn Csizmadia schrieb meiner Meinung nach bislang sehr gute Feuilletons und auch weniger gute, doch ich muß sie alle veröffentlichen, da ich nur ein persönliches Urteil über sie fällen und nicht im voraus wissen kann, wie die Genossen darüber befinden werden. Wie wir jedoch beim Genossen Csizmadia angewiesen sind, alle seine Arbeiten zu publizieren, so ergeht es uns auch mit denen, die mühevoll darum ringen, eine neue Literatur zu schaffen. Ich habe mir mit meinem Urteil schon oft die Finger verbrannt. So gefiel mir zum Beispiel nicht jedes Gedicht von Endry Ady, doch als sie gedruckt erschienen, war die Mehrheit der Genossen davon begeistert. Oder ein anderes Beispiel meiner persönlichen Erfahrung: Das in der letzten Sonntagsnummer der Nepszava veröffentlichte Ady-Gedicht gefiel mir nicht allzusehr, ich habe es dennoch publiziert, denn das war eine literarische Pflicht unserer Zeitung. Gestern abend hörte ich das gleiche Gedicht in unserem Kabarett. Einer, der davon etwas versteht, las es vor, und ich lernte dieses Gedicht lieben. Wie es mir dort erging, kann es Ihnen allen ergehen. Glaubt etwa Jöcsäk, daß ihm, falls er jenes Gedicht von der Gipsstatue aus berufenem Munde vorgetragen bekäme, nicht das gleiche wie mir widerfahren könnte? Vielleicht vertraut er sich mehr als ich mir, aber allein diesem Umstand hat er es zu verdanken, daß er bei seiner entschiedenen Meinung verharrt; ich als Redakteur darf mich jedoch nicht wie Jöcsäk so stark auf mein Urteil verlassen, selbst dann nicht, wenn ich dazu allen Grund hätte. Denn in diesem Fall würde ich nur publizieren, was ich nach erster Lektüre sofort für gut halte, und dann würden

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solche Gedichte und Beiträge, die zwar sehr gut sein können, mich aber nicht gleich beeindrucken, nicht veröffentlicht werden. Werte Genossen, ich bin grundsätzlich der Auffassung, daß man Autoren der schöngeistigen Literatur nicht vom Parteistandpunkt aus klassifizieren darf. Ich kenne viele Genossen, die Autoren einer äußerst schlechten Belletristik sind, und mir sind sehr viele Nichtgenossen bekannt, die bei weitem bessere und dazu auch sozialistischere Feuilletons als jene schreiben. Wenn es um Prinzipien und um die Taktik, um den politischen oder wirtschaftlichen Kampf geht, dann ist eine Klassifizierung unbedingt erforderlich; aber auf dem Gebiet der schönen Literatur darf man diese nicht vornehmen. Nirgendwo verbannten die Genossen die Werke von bürgerlichen Literaten, wenn sie künstlerisch anspruchsvoll und von edler Gesinnung waren. Die Redaktion der Nepszava kann nur das künstlerische Niveau und die redliche Absicht vor Augen haben, wenn sie den belletristischen Publikationsteil zusammenstellt. Ob der Autor Genosse ist, darf nicht in Betracht gezogen werden, denn dann hätten viele äußerst wertvolle Beiträge in der Nepszava nicht erscheinen können. Wie der bloße Umstand, daß jemand Genosse ist, noch nicht dazu ermächtigt, schöngeistige Literatur zu schreiben, ebenso ist die Redaktion nicht berechtigt, jemanden aus der Parteipresse auszuschließen, wenn er kein Genosse ist.3 Jetzt muß ich auf einen merkwürdigen Einwand eingehen. Dazu zwingen mich die Genossen Forgäcs und Vagö. Sie waren es insbesondere, die sich, obwohl sie tüchtige und gesunde junge Menschen sind, so benahmen, daß ich für einen Augenblick annehmen mußte, sie seien alte Weiber. Es war doch ausgemachte Prüderie, wie sie die im belletristischen Teil der Nepszava erschienenen Feuilletons kritisierten. Und nur deshalb, weil deren Thematik bei gewissen Schichten, die sich in den Heimtücken der Prüderie gut auskennen, Mißfallen hervorgerufen hätte. Ich verstehe nicht, wieso sie die Prostitution als Thema beanstanden? Was ist dagegen einzuwenden, wenn die Schriftsteller das Leben eines Straßenmädchens beobachten und ihre Geschichte niederschreiben? Woher soll denn die sozialistische schöngeistige Literatur ihr Thema nehmen, wenn ihr nicht gestattet ist, in die Tiefen des Lebens hinabzusteigen? Unsere Autoren haben nicht nur die Freiheit, sondern auch die Pflicht, dies zu tun. (Zwischenrufe: - So ist es!). Sowie von dort zu holen, was künstlerisch wertvoll und vom Standpunkt der Agitation wichtig ist, und was man vom sozialen Gesichtspunkt aus nutzbar machen kann. (Zwi6*

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schenruf: Die Prostitution wird mit einem Glorienschein umgeben.) Der eine Genosse meint, die Prostitution werde mit einem Glorienschein versehen. Denkt er vielleicht an den Beitrag von Béla Révész? Das war ein langes Feuilleton, das sich von Anfang bis Ende ausschließlich mit einem Tag aus dem Leben eines Straßenmädchens befaßte, und das Ganze war künstlerisch so hervorragend, daß ich nur wenige Novellen von gleichem Niveau gelesen habe/' Und vergessen wir nicht, daß ein sehr großer Teil der bürgerlichen Gesellschaft auch in den Arbeiten von Zola und Maupassant Pornographie sah und heute noch sieht. Ich bin ebenfalls der Meinung, werte Genossen, daß, wenn ein literarischer Beitrag zu dieser Thematik ein bestimmtes Niveau erreicht - ohne daß dieses allzu hoch sein braucht - , es niemals vom Autor abhängt, ob dies Pornographie ist, sondern von dem, der das liest, und davon, mit welchen Augen er dies liest. (Applaus; Vagò und Garai diskutieren miteinander; der Vorsitzende ermahnt sie, die Polemik abzubrechen.) Deäk: Aber diese Dinge werden nicht nur von anspruchsvollen Arbeitern gelesen, sondern auch von weniger gebildeten Familien. Garami: Ich dachte mir schon, daß der Zwischenruf kommen wird; Zola und Maupassant seien Künstler mit hervorragender Feder gewesen, unser Autor aber, Béla Révész, reiche an sie nicht heran, und ferner, daß die Népszava auch andere Beiträge bringe, deren künstlerisches Niveau noch geringer wäre. Ich gebe es zu, doch ich kann keine Abhilfe schaffen, denn nicht nur wir haben weder einen Zola noch einen Maupassant, sondern sie gibt es auf der ganzen Welt nicht, und ich kann nur die Arbeiten von Autoren publizieren, die leben und für ein paar Filier, die ihnen die Népszava zu geben imstande ist, sowie für den Ruhm sie halten es dafür - , zu selbstbewußten Arbeitern reden zu können, ihre Beiträge hergeben. Ein wenig Bescheidenheit wäre bei den Wünschen gegenüber der Népszava durchaus am Platze, denn Zola und Maupassant als Maßstab für uns zu setzen, ist nicht angebracht, und, wenn wir zuweilen einen schwächeren Beitrag veröffentlichen, so versuchen Sie es mit ein wenig gutem Willen zu verstehen, daß dies nur geschah, weil wir nichts Besseres zur Auswahl hatten. Nirgends auf der Welt gibt es eine Redaktion, die so töricht wäre, Schwächeres zu publizieren und Besseres zur Seite zu schieben. Wir sind bemüht, den Genossen das Bestmögliche zu bieten, täten wir das Gegenteil, so wäre es eine Schande. Es gehört nicht viel guter Wille und Objektivität dazu, um einzusehen, daß mehr nicht verlangt werden darf. Nun möchte ich auf den Zwischenruf des Genossen Deäk einge84

hen, demzufolge nicht jeder Arbeiter so gebildet und anspruchsvoll sei, um für eine solche Lektüre reif zu sein. Ich weiß nur zu gut, daß der belletristische Geschmack der Arbeiter im großen und ganzen leider über das Niveau der Arbeiten in der Art der Lenke Bajza Beniczkyne5 nicht hinausreicht - allerdings mit dem Unterschied, daß sie nur den Stil dieser Lektüre mögen, nicht aber ihre Gestalten. Den Arbeitern, besonders den organisierten Arbeitern, gefallen solche Figuren nicht, aber der Stil findet ihr Gefallen. Gäbe es jemanden, der im leeren, wässerigen Stil der Beniczkyne über das Thema Arbeiter und deren Leben Romane schreiben könnte, dann wäre das ein vielbejubelter Autor der Arbeiterschaft. Daß dies so ist, werte Genossen, stimmt einen sehr traurig. Der Grund dafür ist, daß die Arbeiterschaft keine literarische Bildung hat, da sie keine Gelegenheit hatte, sich diese zu erwerben. Ihr fehlt es an Schulbildung, an Büchern und an Geld. Wie sollen daher die Arbeiter ihren Geschmack entwickeln? Es stimmt also, daß ihr Geschmack so ist, wie es Genosse Deäk geschildert hat, und es ist nur zu verständlich, daß sie die neue Richtung, die einen gehobenen Geschmack verlangt, nicht sogleich ohne Einwand akzeptieren. Aber wir dürfen uns damit nicht abfinden; Aufgabe der Nepszava ist es vielmehr, der großen Masse der Arbeiterschaft auch auf dem literarischen Gebiet entgegenzutreten, gegen ihre geistige Zurückgebliebenheit anzukämpfen sowie den Arbeitern anzugewöhnen, den Dingen gegenüber höhere Geschmacksansprüche geltend zu machen. Ich erlebte diesbezüglich Erstaunliches, was man mit einer Zeitung bewirken, wie man die Leser erziehen und ihre Ansprüche steigern kann. Ich erinnere mich, daß die Genossen vor vier oder fünf Jahren die Nepszava überall im Lande für gut hielten und es bei weitem nicht so viele kritische Einwände wie heute gab, obwohl das Niveau damals viel niedriger war als im vergangenen Jahr. Doch nun wird nicht einmal dieses höhere Niveau der Nepszava für ausreichend gehalten und auf deren Fehler verwiesen. Und warum? Das kommt daher, weil die Ansprüche größer geworden und schneller gewachsen sind, als daß ihnen die Redaktion hätte folgen können. Sie brauchen also nicht zu verzweifeln, wenn die belletristische Richtung der Nepszava momentan den Arbeitern nicht sehr gefällt. Es erfordert die Arbeit von zwei bis drei Jahren, und der Geschmack der Leser wird sich ändern und läutern. Seien Sie, werte Genossen, davon überzeugt, daß alle für die Literaturspalten Verantwortlichen mit bestem Willen ihre Arbeit verrichten und bemüht sind, der Sache des ganzen Proletariats wie auch 85

der Kultur 7u dienen. Verlangen Sie daher nicht, daß das Niveau unserer belletristischen Rubrik gesenkt wird, und sehen Sie auch davon ab, unseren Dienst an der emporkeimenden neuen Richtung zu behindern. Wir bitten Sie vielmehr darum, die Redaktion der Nepszava zu ermuntern, auch im Bereich der schönen Literatur das Banner des ständigen Fortschritts und des Strebens nach dem Neuen voranzutragen, wie sie es in der Politik tut. (Langanhaltender Beifall und Applaus).

1908 6 E N D R E ADY

Literarischer Aufruhr und Sozialismus Davon ließ sich die Räkosi-Döczy-Schriftstellergeneration mit ihrer Kaffeequelle (so nannte man dieses Schriftstellerdomizil!)1 nichts träumen. Potztausend, muß ich rufen, wenn ich sehe, wie sehr im schönen Ungarland die schöne Literatur in Mode gekommen ist, obgleich diejenigen, die die Literatur in Mode brachten, heutzutage schwerlich zu Wirklichen Geheimen Inneren Räten 2 , zu Magnaten oder Baronen avancieren. Dennoch ist es herrlich, daß derjenige, dem ganz Ungarn (um wieviel schöner ist zum Beispiel Bulgarien) gehört, sich damit nicht abfinden kann, die Literatur nicht unter seinem Einfluß zu wissen. Doch sie ist es nicht, und jedermann sollte endlich begreifen, daß das geradezu perverse Interesse, das Wort- und Federgefecht, das sich heute - zum Beispiel - um die ungarische Literatur herum auftut, das katastrophale Vorzeichen eines großen Umsturzes ist. Fürwahr, der Herr Schriftsteller Mikszdth, der Vielschreiber und Dauerabgeordnete, fuchtelt nicht ohne triftigen Grund mit dem langen Pfeifenstiel herum.3 Und auch Zsolt Beöthy erhält von Apponyi nicht umsonst eine überschwängliche Grußadresse zum Jubiläum, in der mit grimmigem Neid gegen schlecht gekleidete, bettelarme Jugendliche gewettert wird.4 Jenö Räkosi, der stets an geeigneter Stelle und bewußt zu verdrehen und zu verdummen sucht, tat es noch nie mit solch einer Vehemenz wie heute.5 Auch die schwäbische Verstellungskunst Ferenc Herczegs hatte niemals eine so enorm gefähr-

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der Kultur 7u dienen. Verlangen Sie daher nicht, daß das Niveau unserer belletristischen Rubrik gesenkt wird, und sehen Sie auch davon ab, unseren Dienst an der emporkeimenden neuen Richtung zu behindern. Wir bitten Sie vielmehr darum, die Redaktion der Nepszava zu ermuntern, auch im Bereich der schönen Literatur das Banner des ständigen Fortschritts und des Strebens nach dem Neuen voranzutragen, wie sie es in der Politik tut. (Langanhaltender Beifall und Applaus).

1908 6 E N D R E ADY

Literarischer Aufruhr und Sozialismus Davon ließ sich die Räkosi-Döczy-Schriftstellergeneration mit ihrer Kaffeequelle (so nannte man dieses Schriftstellerdomizil!)1 nichts träumen. Potztausend, muß ich rufen, wenn ich sehe, wie sehr im schönen Ungarland die schöne Literatur in Mode gekommen ist, obgleich diejenigen, die die Literatur in Mode brachten, heutzutage schwerlich zu Wirklichen Geheimen Inneren Räten 2 , zu Magnaten oder Baronen avancieren. Dennoch ist es herrlich, daß derjenige, dem ganz Ungarn (um wieviel schöner ist zum Beispiel Bulgarien) gehört, sich damit nicht abfinden kann, die Literatur nicht unter seinem Einfluß zu wissen. Doch sie ist es nicht, und jedermann sollte endlich begreifen, daß das geradezu perverse Interesse, das Wort- und Federgefecht, das sich heute - zum Beispiel - um die ungarische Literatur herum auftut, das katastrophale Vorzeichen eines großen Umsturzes ist. Fürwahr, der Herr Schriftsteller Mikszdth, der Vielschreiber und Dauerabgeordnete, fuchtelt nicht ohne triftigen Grund mit dem langen Pfeifenstiel herum.3 Und auch Zsolt Beöthy erhält von Apponyi nicht umsonst eine überschwängliche Grußadresse zum Jubiläum, in der mit grimmigem Neid gegen schlecht gekleidete, bettelarme Jugendliche gewettert wird.4 Jenö Räkosi, der stets an geeigneter Stelle und bewußt zu verdrehen und zu verdummen sucht, tat es noch nie mit solch einer Vehemenz wie heute.5 Auch die schwäbische Verstellungskunst Ferenc Herczegs hatte niemals eine so enorm gefähr-

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liehe Probe wie gerade jetzt zu bestehen, 6 obgleich in einer kurzen Zeitspanne große Zeiten passé sind, und in unseren Tagen ein Mann wie Herczeg schwerlich eine Karriere machen würde, 7 mochte er sogar zwanzigmal begabter sein. Seltsame Zeiten, seltsame Erscheinungen: Außer in Deutschland wagt man es heute bei uns, am häufigsten und äußerst billig von der Literatur zu reden. Es ist schon von Bedeutung, daß die Literatur in Ungarn sogar diejenigen (ausgenommen allerdings die Schakale und Hyänen) erregt, die sie nicht brauchen. Dies muß einen tieferen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, also auch menschlicheren Grund haben, als ihn die Herren, die Ästheten oder die Schweizer Söldner zu erfassen vermochten. Die neue, verwünschte (obendrein nicht einmal mit politischem Programm auftretende) ungarische Literatur ist allem Anschein nach ein Vorbote der verspäteten, doch nicht mehr lange aufschiebbaren sozialen Umwälzung Ungarns. Alle Voraussetzungen dafür waren und sind gegeben (wenn diese Wendung wider die ungarische Sprache verstößt, was machts schon!); betrüblich ist nur, daß man über den herrlichen, großen Fall nicht nach Herzenslust schreiben kann. Ein belastetes, hin- und hergerissenes Land, bettelarm, krank und schwärend, ein Herren-Land, abhängig und schlecht situiert - ist freilich ein kulturloses Land. In seinem Nationalitäten-Chaos fanden nahezu eine Million (ein wenig verdorbener) Juden ihren Platz, aber auch der sündhafte Wille von tausend Jahren vermochte nirgends und bei niemandem die spezifisch edlen ungarischen seelischen Werte auszurotten. Unter dem Einfluß des Westens mußte eine Neuauflage der Petöfi-Ära 8 eintreten. Das Gewissen des Menschen, des Kulturmenschen, mußte seine Stimme erheben, die Nerven aufpeitschen und uns in die Ohren tönen. Es ist möglich, daß (der skeptische Ton mag diesem Blatt vielleicht schlecht anstehen) die neue Renaissance der ungarischen Seele nur in dem Maße vollständig und westlich ist, wie es unsere, 1848 kopierte verlogene Demokratie gewesen ist. Aber möglich ist auch, daß diese neue Revolution, die sich einstweilen lediglich durch die literarischen Streitigkeiten unruhiger Köpfe und Nervenkostüme ankündigt, eine ernsthafte Revolution sein wird. Die Nationalisten (Pharisäer oder Idioten) mögen sich die Köpfe zerbrechen, sicher ist, daß bei uns in Ungarn große Dinge, großartige Dinge im Schwange sind. Nicht umsonst ist dieses Land an einem guten Ort, zwischen Ost und West gelegen (besiedelt von einem intellektuellen Menschenschlag mit asiatischer Moral). 87

Unsere traurige und schöne Primitivität wird durch nichts besser bescheinigt, als daß wir gezwungen sind, uns von der Literatur die Antwort auf die Frage von Leben und T o d zu holen. (Denn als Theorie mutet es höchst theoretisch und sehr dumm an, daß der majestätische ökonomische Zwang die Kunst bzw. die Literatur vorausschickt.) Gibt es denn jemanden, der es wagte, sich Petöfi (mochte der gezielte pädagogische Irrglaube was auch immer in ihn hineininterpretiert haben) ohne seine Zeitgenossen, ohne seine Epoche und ohne den ökonomischen Zwang vorzustellen? Ich freue mich, zufällig als erster und auf jeden Fall am unverblümtesten niederschreiben zu können, daß dieser ganze neue literarische Aufruhr unserer Tage niemals ohne das Heranreifen des Sozialismus in Ungarn entstanden wäre. Nicht einmal der klügste Gott weiß, wann uns der Sozialismus wirtschaftlich befreien wird, aber unsere Seelen beginnt er bereits frei zu machen, ja sogar unsere armen ungarischen Seelen. Diejenigen, deren Handwerk, Amt oder Berufung es ist, mögen ausfindig machen, inwieweit die neue Literatur der ungarischen Sprache und dem sogenannten ungarischen Genius nützt. Wahr ist, daß diese neue Literatur den Menschen hilft (ich schließe die schlauen Krämerseelen aus) sowie der Verbesserung der Zustände und jener gesellschaftlichen Entwicklung dient, die zwar mancherorts und zu manchen Zeiten auch verworren sein mag, die aber - und das ist gewiß, Jenö Räkosi auch dann nicht verstehen würde, wenn seine Seele und sein Leben nicht in Söldnerdiensten stünde. Dieser lebt nämlich so sehr in seiner eigenen Vergangenheit und ist seiner Manie derart verfallen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach niemals in der Gegenwart gelebt hat. Diese neue Literatur, mag sie aus der Ferne, mit feudalen oder bürgerlichen Augen gesehen, auch nicht sozialistisch erscheinen (wahrscheinlich ist sie es nicht), ist dank dem Sozialismus und durch den Sozialismus da. Sogar ihr Symbolismus, der Symbolismus ihrer vermeintlichen Unverständlichkeit, versinnbildlicht den Sozialismus, den diese nicht verstehen oder mehr noch nicht verstehen wollen. W e i ß der Teufel, was nicht alles mit diesem Land an Donau und Theiß geschehen oder auch nicht geschehen wird. W e i ß der Teufel, in welch komisches Nichts dieses Potemkin-Interesse für die Literatur in Ungarn versinkt. Eines ist sicher, und das fühlt und erlebt bereits der Verfasser dieser wenigen Zeilen: Dieser literarische Krieg ist ein Kind des sozialen Krieges - gerade deshalb wird er

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so gefürchtet (von so vielen und so bewegend und erheiternd, aber seinen Kämpfern und diesem traurigen Lande Schönes und Gutes versprechend) . 9 1908

7 JÖZSEF POGÄNY

Literatur und Politik Die Beiträge dieses Buches haben der Tag, die Woche, der Monat erschaffen, nie aber das Jahr. Sie entstanden aus puren Gelegenheiten und sind doch keine Gelegenheitsartikel. Solche Gelegenheiten waren Todesfälle, Jahrestage, das Erscheinen von Büchern und die Verlautbarung gegensätzlicher Meinungen. Doch dies waren keine schöpferischen Anlässe, sie lieferten nur einen Vorwand. Sie waren nur die Kuppler, nicht die Geliebten dieser Studien. Auch ihre Vielfalt ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit entsprangen sie dem Fieber einer einzigen Liebe, wurden sie alle von einer Weltanschauung ausgestrahlt. Dieser ihr innerer Zusammenhang überspannt als tragende Brücke ihre äußerliche Vielfalt, die Sicht der Dinge, der Ereignisse und der Menschen in einheitlicher Farbbewertung und unteilbarer Perspektive. Aber wenn ich solchermaßen die äußeren Anlässe meiner inneren Anschauung unterordne, bedeutet dies nicht, daß mich die Dinge der äußeren Welt nicht interessierten, und ich auf den Bauchnabel starrend, meine eigene Seele beobachtete. Diese Weltanschauung ist nicht die stille Kontemplation, sondern die Weltanschauung des schmetternden Kampfes: der Marxismus. Es geht hier also nicht darum, daß wir über diese Welt räsonnieren, sondern daß wir sie verändern. Nicht der Ästhet, sondern der Sozialist betrachtet hier Literatur, nicht vornehme Verschrobenheiten, seelische Delikatessen und philosophische Parfüms erwarten hier den Leser, sondern eine Vivisektion der Gesellschaft, die Untersuchung von Politik und Literatur der Klassen am lebendigen Leibe. Dieses Buch will ein Studium der Politik, vor allem aber der Schriftsteller sein, und zwar ohne einen Unterschied zu machen. Es betrachtet weder die Politik noch die Literatur als Dinge, die für 89

so gefürchtet (von so vielen und so bewegend und erheiternd, aber seinen Kämpfern und diesem traurigen Lande Schönes und Gutes versprechend) . 9 1908

7 JÖZSEF POGÄNY

Literatur und Politik Die Beiträge dieses Buches haben der Tag, die Woche, der Monat erschaffen, nie aber das Jahr. Sie entstanden aus puren Gelegenheiten und sind doch keine Gelegenheitsartikel. Solche Gelegenheiten waren Todesfälle, Jahrestage, das Erscheinen von Büchern und die Verlautbarung gegensätzlicher Meinungen. Doch dies waren keine schöpferischen Anlässe, sie lieferten nur einen Vorwand. Sie waren nur die Kuppler, nicht die Geliebten dieser Studien. Auch ihre Vielfalt ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit entsprangen sie dem Fieber einer einzigen Liebe, wurden sie alle von einer Weltanschauung ausgestrahlt. Dieser ihr innerer Zusammenhang überspannt als tragende Brücke ihre äußerliche Vielfalt, die Sicht der Dinge, der Ereignisse und der Menschen in einheitlicher Farbbewertung und unteilbarer Perspektive. Aber wenn ich solchermaßen die äußeren Anlässe meiner inneren Anschauung unterordne, bedeutet dies nicht, daß mich die Dinge der äußeren Welt nicht interessierten, und ich auf den Bauchnabel starrend, meine eigene Seele beobachtete. Diese Weltanschauung ist nicht die stille Kontemplation, sondern die Weltanschauung des schmetternden Kampfes: der Marxismus. Es geht hier also nicht darum, daß wir über diese Welt räsonnieren, sondern daß wir sie verändern. Nicht der Ästhet, sondern der Sozialist betrachtet hier Literatur, nicht vornehme Verschrobenheiten, seelische Delikatessen und philosophische Parfüms erwarten hier den Leser, sondern eine Vivisektion der Gesellschaft, die Untersuchung von Politik und Literatur der Klassen am lebendigen Leibe. Dieses Buch will ein Studium der Politik, vor allem aber der Schriftsteller sein, und zwar ohne einen Unterschied zu machen. Es betrachtet weder die Politik noch die Literatur als Dinge, die für 89

sich allein oder um ihrer selbst willen bestehen, doch es versucht, hinter sie zu blicken und hinter ihren durch Zufall ausgewählten Helden die Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaften und Klassen zu suchen. In der Politik will es sich stets dorthin vortasten, wo die Dinge und Ereignisse mit der Ökonomie zusammenhängen, und in der Literatur vermag es nichts anderes zu sehen, als letztlich doch nur Politik und Ökonomie: eine Waffe, die dem Menschen den großen Kampf seines Lebens erleichtert. Es hört aus dem Flötenspiel der sanftesten Pastorale das Waffengeklirr heraus, es will in der himmlisch-reinsten Dichtung den Erdgeschmack erspüren. Dieses Buch will Chronist, zugleich aber auch Kämpfer von Kämpfen sein. Seine auf die Gegenwart gerichtete Spitze ist die Kritik der modernen ungarischen Literatur. Die erste Revolution der ungarischen Literatur seit Petöfi begann in den achtziger Jahren mit den Arbeiten Brödys, Kabos' und später Köbors. Mit ihr traten das qualvolle, schmutzige Leben und das elendigliche Los der unteren Klassen an die Stelle der vornehmen Menschen der bisherigen Literatur. Das Elend wurde zur Losung dieser Literatur. Einige Zeilen aus Sandor Brödys Band Elend, lauten so: „Drunten qualmten die Schlote der Fabriken schon fleißig* Wolken unter den Wolken bildend. - Und dies sind die wahren Wolken, aus denen der rasendste Sturm geboren wird . . . Dort droben auf den Berggipfeln, am Horizont der Hänge ballen sich mit leerer Würde glühende Wölkchen, die unschuldiger Dampf sind und höchstens die Erdfeuchte, die Flüsse und Seen um ihren bunten Zierat bestohlen haben; aber die gelblichen Rauchwolken hier sind aus der verdampfenden Lebenskraft des bedrängten Arbeitsvolkes entstanden."1 Kabos schreibt in der Zueignung seines ersten Bandes Die Verkommenen: „Sie wissen, meine Dame, ich bin der Sohn eines armen Handwerkers, löste mich früh vom Elternhaus und wuchs in der Obhut lieblosen Elends heran . . . Ich war hineingeworfen in die lärmende, verwirrende Metropole . . . Um mich wimmelnde, ermattende, bedrängte Menschen, die der Hunger zu tierischer Arbeit treibt, notleidende, magere Gestalten, aus denen der allmächtige Arm des Schicksals Gutes wie Böses formen kann, kämpfend, keuchend, schwitzend und sie alle wie Galeerensklaven zusammenhaltend, die schwere Kette, ein unzerreißbares Seil und eine dornige Klammer: das Elend." 2 Die zweite, neueste ungarische Literaturrevolution, die vor einigen Jahren begonnen hat, sah aber nicht nur das Elend, sondern auch 90

den Protest dagegen. Ihre Palette enthielt eben nicht nur Schwarz und Grau, sondern auch Rot. War der Untergang des Kleinbürgertums die Grundlage der Revolution des Naturalismus, so hat die neue literarische Revolution die großen sozialen Kämpfe des Proletariats zum Hintergrund. Endre Ady schrieb: „Ich freue mich, zufällig als erster und auf jeden Fall am unverblümtesten niederschreiben zu können, daß dieser ganze neue literarische Aufruhr unserer Tage niemals ohne das Heranreifen des Sozialismus in Ungarn entstanden wäre . . . Diese neue Literatur, mag sie aus der Ferne, mit feudalen oder bürgerlichen Augen gesehen, auch nicht sozialistisch erscheinen (wahrscheinlich ist sie es nicht), ist dank dem Sozialismus und durch den Sozialismus da . . . Eines ist sicher, und das fühlt und erlebt bereits der Verfasser dieser wenigen Zeilen: Dieser literarische Krieg ist ein Kind des sozialen Krieges . . . " - gerade deshalb wird er so gefürchtet (von so vielen und so bewegend und erheiternd, aber seinen Kämpfern und diesem traurigen Lande Schönes und Gutes versprechend). 3 Die Bewegung „Neues Ungarn" wurde in Gedanken und Gefühlen von dieser literarischen Revolution begleitet. An ihrem Beginn war sie weder aristokratisch noch ästhetisch gefärbt, sondern demokratisch, sozial. Es ist kein Zufall, daß die für das Wahlrecht eintretende Zeitung der mit den Sozialisten paktierenden Trabantenregierung ihr erstes Asyl war, und nicht zufällig wurde die Zeitung der Arbeiterklasse ihr zweites, nachdem sie das erste verloren hatte. 4 Diese Revolution begann mit Endre Ady, dem Protest gegen die ungarische Misere, mit Ignotus und dem Sozialismus der Empfindsamkeit, mit Béla Révész und der Apotheose des proletarischen Wohlstands- und Kulturhungers sowie mit Lajos Biro und Ferenc Molnär, die als erste ein Abbild der jungen ungarischen Bourgeoisie schufen und mit Zsigmond Móricz, seiner neuen, wahren und unverfälschten Darstellung des Großbauern. 5 In ihr pulsierte das gesamte ungarische Leben, alle ungarische Qual und Hoffnung. In ihr vereinten sich alle Klassen, alle Schichten und alle neuen, frischen Erscheinungen, alles, was auf dieser Erde vorwärtsdrängt und Zukunft erwartet. So begann diese neue Literatur, um dann bei der Nyugat innezuhalten. Um die Nyugat wurde die Bewegung, die als Revolution begonnen hatte, binnen weniger Jahre versteinerte Reaktion. Wie sehr wollen doch die, die heute die Macht über die neue Literatur ausüben, die Herr über die Buch- und Meinüngsfabriken der neuen 91

Literatur sind, etwas anderes. Mit Gewalt und Geringschätzung drängen sie alle beiseite, die irgendwie das heutige Ungarn auch als ihre Sache ansehen. Auf Adys Platz versuchen sie Babits zu stellen, auf den Platz des Dichters des ungarischen Brachlands 6 den Dichter der in allen Zeiten und bei allen Autoren, in jedem Stil und bei jedem Herrengeschlecht heimischen, farbenfreudigen und durchgeistigten Gekünsteltheit. Ferenc Molnär und Lajos Birö wurden hinausgedrängt, an ihre Stelle traten Deszö Szomory, Ferenc Herczeg und Zoltän Ambrus, der Mitarbeiter der Zeitung Istvän Tiszas. An die Stelle des ungarischen Protestes und des ungarischen Brachlandes, der hungrigen Stadt und des ungarischen Bourgeois tritt die nach schlecht gepinseltem Pariser und Londoner Muster aufgesetzte Zeichnung des Herrengeschmeißes von Paris und London. Den Sozialismus der Empfindsamkeit vernichtete der erste Rauhreif, und siehe, in der Nyugat zeigen sich die Politik der Pluralität, die mit allem sich abfindende Skepsis, der Zynismus des „So geht's, und so ist's auch gut". Die Nyugat kam mit Revolution und Unversöhnlichkeit, und heute ist sie Reaktion und häßliches Paktieren. Sie kam, die schmerzende Stimmung und die blutenden Gefühle eines Landes zu verkünden, und wurde zum Abladeplatz der Launen einiger absonderlicher, grilliger, verdächtig krankhafter Menschen. Sie kam fruchtbar, als politische Literatur, und wirkt heute unfruchtbar, als ästhetische Literatur. 7 Welch langen Weg mußte diese Literatur zurücklegen, bis ein wahrhaftiger Dichter den Massen schreiben konnte: Ich sende euch die Bundeslade, 8 auch wenn ihr nichts von mir wissen wollt; und heute erklären die Talmi-Dichter, sie wollten nichts vom Volk wissen, sie verachteten die Massen und schätzen das Publikum gering. Die neue Literatur lebt immer stärker nur für die Literatur. Die Schriftsteller schreiben nur für sich selbst. Es ist wahrhaftig eine Onanie-Literatur. Wie kam es bei dieser Literatur nur zu dem, womit üble volkstümliche medizinische Bücher solche Kranke erschrecken, daß nämlich alle möglichen schauderhaften Krankheiten über sie herfallen werden. Auch sie verkünden bereits, ein echter Künstler, ein Genie könne nur ein kranker Mensch sein, nur die Schwindsucht, die Syphilis oder das Alkoholdelirium können den Schriftsteller zum Genie prägen. Und mondsüchtige Wortfresser und Kneipengenies putzen in großen Debatten diejenigen herunter, die zu verkünden wagen, daß das Genie gerade ein komprimiertes Exemplar des gesunden, natürlichen Menschen ist. Und andere Debatten gehen darum, ob Elend 92

und Armut dem Künstler bei der vollen Entfaltung seiner schöpferischen Kraft hilfreich oder aber hinderlich sind. Die neue ungarische Literatur beginnt die Kunst von Kranken und Selbstverstümmlern zu verkünden. Ihr muß die Kunst der Lebensverbundenheit, der Gesundheit entgegengestellt werden. Sie will die Krankenhaus- und Kneipenkunst Ohnmächtiger sein - stellen wir ihr die Kunst des Lebens, der Arbeit, der Fabriken und proletarischen Organisationen gegenüber. Sie wollen Ästheten, weitabgewandte Kunstpriester sein, begehren wir also mit beiden Händen zufassende Schriftsteller, die mit zornigem Wort anklagen und richten. Diese Literatur, die aus der ganzen Welt nur sich selbst sieht und nur der Leierkastenmann ihrer eigenen Stimme, der Stenograph ihrer eigenen Stimmungen ist, die keine Augen hat, die Großartigkeiten der wundersamen Zusammenhänge zwischen den Dingen zu sehen, muß befehdet werden. Mit Päzmänys streitbaren Worten: Wir müssen die Spitze der penna schärfen gegen eine Pseudokunst, die eingestandenermaßen nur ein Spiel mit Formen, ein scheinbar ernster Umgang mit Spielen ist. Wir müssen die Verbindung zwischen Schriftsteller und Welt, die Zusammengehörigkeit von Dichter und Gesellschaft wiederherstellen. Den Zustand der Zeit der großen Künste, als Künstler und Publikum gemeinsam schöpferisch tätig waren und gemeinsam genossen. Als der Künstler nicht allein dastand, ein verwaistes, flüchtiges Staubkorn, das jedes Lüftchen hinwegpusten kann. Wir müssen das Aushängeschild der heutigen Moderne, das der Allesist-egal-Ästhetik, herunterreißen und statt seiner den Künsten Ziele, mit den großen Dingen der Gesellschaft zusammenhängende Probleme vorsetzen. An die Stelle der Anarchie muß die kollektive Arbeit treten. Die Kunst soll nicht für sich selbst dasein, sie ist für uns da. Das Schicksal der Kunst soll sich nicht in Werkstatt und Atelier entscheiden, sondern draußen im Leben. Die Literatur ist keine Summierung von Büchern, kein mächtiger Berg guter und schlechter, kleiner und großer, dünner und dicker Bücher. Sie ist nicht irgendeine riesige Bibliothek, in der es am wichtigsten ist, daß stets zwei Ästhetendiener zum Abwischen der spinnwebigen Regale bereitstehen. Die Literatur ist Sache von Menschen. Von lebendigen menschlichen Kämpfen und nicht von vergilbten toten Büchern. Aber wie die Literatur keine Bibliothek voller verstaubter Regale ist, so ist sie auch kein eleganter Salon, in dem einige Auserwählte geziert schwatzen. Sie geht nicht nur die wenigen Schriftsteller an, sondern auch die Ge93

samtheit der Menschen. Sie ist nur so wichtig wie der Schriftsteller und sein Buch, wie die anderen Menschen neben, hinter und vor ihm, die ihn lesen, über die und für die er schreibt. Nur ein Literaturfetischismus, der die historischen Beziehungen mystifiziert, sieht in vollgedruckten Bögen oder im zufälligen Griff nach der Feder die Triebkraft der Literatur. Wie Marx in der Ökonomie hinter dem toten Fetisch der Ware die sozialen Klammern zwischen den lebenden Menschen sah, so müssen wir hinter dem toten Buchstaben und der kranken Laune die lebenskräftige gedanken- und gefühlsmäßige Verknüpfung von Klassen und Gesellschaften, von Tausenden und Millionen Menschen sehen. Die Geschichte der Literatur ist nicht die Geschichte von Schriftstellern und Büchern, sondern die des Publikums. Die Ziele, Interessen und Realitäten dieser Welt - sie beherrschen die Person und das Schaffen des Dichters. Zieht er sich von der Welt zurück oder bäumt er sich gegen sie auf, folgt er gleichfalls nur dem Befehl dieser Welt. Auch das Jenseits der Dichtung erschafft der Mensch nach dem Bilde dieser Welt, ganz so wie in der Religion. Wie die Religion eigentlich eine sehr weltliche Angelegenheit ist, so stammt auch die Dichtung aus dieser Welt und stammen auch die Dichter aller Zeiten stets aus ihrer Welt. Und die großen Dichter haben ihre Welt immer ernst genommen und ihre Dichtung viel zu sehr geachtet, als daß sie sie zum Spielzeug für sich oder einige Gleichgesinnte gemacht hätten. D i e Sache der Dichtung ist eine todernste Angelegenheit wie alle Dinge im Leben, und wer sie aus dem lebendigen Leben herausreißt, erhebt sie nicht zu etwas Himmlischem und Heiligem, sondern erniedrigt sie zur Formalität und zu leerem Klingklang. Wehe der Literatur, die nur das Rotwelsch einiger Eingeweihter, die nur die Kunst von Werkstatttricks ist. 1911

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8 ERVIN SZABÖ })

Proletarische Dichtung'

(Aus Anlaß eines Gedichtbandes von Zseni Värnai) 1 Es gab und gibt unter den Sozialisten, und insbesondere unter den soi-disant-Marxisten, 2 solche, die den künstlerischen Wert der gesamten neuen ungarischen Dichtung daran maßen und messen, was diese an Parteiprogramm enthält, oder inwieweit sie dagegen verstößt; demzufolge hieß es, der eine sei ein großer, der andere kein Dichter. Es gibt professionelle Literaturhistoriker und Kritiker - sie wird es auch künftig geben - , die imstande sind, ein Kunstwerk aus der Literatur zu verbannen, wenn ihnen sein Stoff, seine Gestalten oder seine Weltanschauung und Überzeugungen nicht zusagen. Es braucht nicht betont zu werden, daß das Urteil der Parteiprogramm-Ästheten wie das der offiziellen Ästheten gleichermaßen nichts mit der Kunst gemein hat. Beide begreifen und nehmen gleicherweise nicht das Wesen der künstlerischen Schöpfung wahr. Der künstlerische Wert einer Sache hängt nicht davon ab, woraus, aus welchem Stoff etwas entstanden ist, sondern davon, w a s und w i e es geworden ist. Ob wir es mit Können, mit Schöpfung und Gestaltung zu tun haben. Ob wir um Formen, Farben und Ausdrucksweisen bereichert worden sind. D a ß darüber hinaus - d. h. über die Voraussetzung der künstlerischen Fähigkeiten hinaus - der Stoff und der Gegenstand nicht gerade gleichgültig sind, wer wollte es leugnen? Eine andere Voraussetzung jedweden künstlerischen Schaffens ist die Aufrichtigkeit, die Ehrlichkeit der Gefühle und Gedanken. Es ist gewiß, daß nur das künstlerisch überzeugend gestaltet werden kann, was der Künstler innerlich erfahren und empfunden hat. Und zweifelsohne können wir bei einem Künstler, dessen Welt - sofern sie tatsächlich zu seinem Besitz geworden ist - die ganze Welt beinhaltet, auf ganz andere intellektuelle, emotionale und moralische Fähigkeiten schließen, als bei einem Künstler, der außer seinen vier Wänden nichts anderes sieht. Ein dummer bzw. ungebildeter Mensch (ein Banause) und Liederjan kann kein großer Künstler sein. Bei beiden die künstlerischen 95

Fähigkeiten vorausgesetzt, muß ein Goethe allein schon „deshalb" ein größerer Künstler sein als zum Beispiel Mihaly Szabolcska, 3 weil er klüger, gebildeter und ernsthafter ist, weil nicht einmal die winzigste Regung des Weltalls vergeht, ohne daß sie die Saiten der Goetheschen Seele nicht würde erzittern lassen. Denn indem Goethe mehr sieht, indem er mehr weiß und gewillt ist zu sehen, verfügt er über größere innere Erfahrungen, über eine größere Menge und Intensität der Empfindungen. Man könnte auch sagen: An der Kraft der Gestaltung läßt sich ermessen, was für ein Künstler jemand ist; an seinen Gegenständen, welch ein Mensch er ist. Und da wir der Meinung sind, daß auch der Begriff des Menschen der Entwicklung unterworfen und der Künstler aus der menschlichen Gemeinschaft herausgerissen, überhaupt nicht denkbar ist, so können wir aus der Wahl seines Stoffes und seiner Gegenstände darauf schließen, ob er jene Attribute des Menschlichen besitzt, ohne die es keinen großen Künstler geben kann: umfassenden Verstand, Liebe und Wertschätzung, emotionales Erfassen des Großen, das die Welt unentwegt bewegt. Gestaltungsvermögen und Nachempfinden der menschlichen Möglichkeiten, dies sind Eigenschaften, die das Genie ausmachen. Demnach kann niemand ein Künstler sein, in dem der Funke der Genialität nicht glimmt. Da dies so ist - das Nachempfinden von Möglichkeiten und die Natur des Genies den Begriff des Unmöglichen und des Unendlichen gleichermaßen in sich einschließen - , kann man einen wirklichen Künstler nicht in den Rahmen welchen Parteiprogramms auch immer zwängen. Auch den Radikalsten nicht. Jedes Parteiprogramm stellt einen Kompromiß von bestimmten Masseninteressen und von gewissen praktischen Möglichkeiten dar. Sollte etwa dieser Utilitarismus, diese mehr oder minder rationale Einsicht, dieser vorsichtige Kompromiß - kurz, all diese emotionale und willenmäßige Beschränkung der künstlerischen Phantasie und Gestaltung Grenzen setzen? Sicherlich ist der kein Künstler, der darin aufzugehen vermag. Es ist möglich, daß jemand hinsichtlich seiner Einstellung ein Sozialist oder Anarchist, ein Katholik oder ein Feudalist und dennoch ein großer Künstler ist, aber es kann niemand ein Künstler sein, dessen Werke man mit den einzelnen Punkten des Programmes der sozialdemokratischen, der Volks- und Verfassungspartei 4 mühelos identifizieren kann. E r kann es nicht sein, wenn seine Phantasie die Grenzen der nützlichen und praktischen Möglichkeiten niemals überschreitet, wenn er niemals ketzerische Gedanken hegt und diese nie 96

äußert. Er mag ein guter Gelegenheitsversemacher sein, ein guter Agitator und Journalist, aber mit der Kunst hat er wenig zu tun. Man kann also nicht von einer proletarischen Dichtung, von einer proletarischen Kunst sprechen. Ebensowenig, wie man von einer proletarischen Wissenschaft: von proletarischer Philosophie, proletarischer Soziologie oder von proletarischer Technik reden kann. Desgleichen kann nicht von einer bürgerlichen Dichtung, von einer feudalen Wissenschaft und von einer katholischen Mathematik die Rede sein. Niemand wird eine gewisse gesellschaftliche Bindung und Abhängigkeit der Kunst und der Wissenschaft in Abrede stellen. Weder eine künstlerische noch wissenschaftliche Produktion sind ohne einen bestimmten Überschuß an gesellschaftlicher Kraft und Vermögen denkbar; und auch die Füße des mächtigsten Genies sind noch durch gesellschaftliche Gegebenheiten an die Erde gebunden: so durch Weltanschauungen und Richtungen, durch die Grenzen des Erkennens, durch Erfolg und Lebenserwerb. Was aber soll da der Begriff der proletarischen Dichtung? Am häufigsten wird so eine Dichtung bezeichnet, die ihren Stoff aus dem Leben der armen Volksklassen schöpft. Doch wir sahen, daß die künstlerische Essenz vom Stoff allein nicht abhängt. Ferner wissen wir, daß das Leben armer Leute am ergreifendsten von Dickens oder Zola, Verhaeren oder Dehmel, nichteingetragenen Parteimitgliedern, gestaltet wurde, und daß die Verfechter der proletarischen Ästhetik diese am wenigsten als „proletarische Dichter" akzeptieren würden. Vielleicht spielt die proletarische Abstammung eine wichtige Rolle? Diese bedeutet jedoch für sich genommen weder Genialität noch Weltanschauung, ebensowenig Interesse oder Überzeugung. Die naiven Verse eines Arbeiters sind noch keine Kunst, und die Redaktion der Nepszava sendet dutzendweise die holprigen Reime an ihre gläubigen Autoren zurück. Die proletarische, oder richtiger sozialistische Weltanschauung wurde gerade von Nichtproletariern geschaffen. Die sozialistische Weltanschauung ist bei weitem nicht nur Niederschlag der proletarischen Lebensverhältnisse. Mit diesen Lebensverhältnissen kommen bislang finsterste Unwissenheit, absurdester Aberglaube, naivste Religiosität, treueste Unterwürfigkeit, Anspruchslosigkeit und Verzicht nicht schlecht aus, und man könnte vorerst dies mit viel mehr Recht als proletarischen Geist bezeichnen als die sozialistische Weltanschauung. Diese jedoch wurde von Menschen geprägt, die der Herkunft nach Bourgeois, also keine Proletarier sind, und zwar 7

Befunde

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aus den Bausteinen der „bürgerlichen" Philosophie, der „bürgerlichen" Wissenschaft und zweifelsohne auch der proletarischen Lebensverhältnisse ; denn auch sie bauten, wie alle w a h r h a f t e n Wissenschaftler und Philosophen, das Werk der Vorfahren organisch weiter. Oder ergeben vielleicht die Ideale eines Dichters den proletarischen Charakter? Was sind diese Ideale in ihrer allgemeinsten Formulierung? Freiheit, Glück für alle Menschen, Liebe, große Menschenversöhnung. Aber diese Ideale waren auch schon die Ideale der aufstrebenden bürgerlichen Klasise; Beranger und Schiller, Petöfi und Ady beschworen sie mit nicht geringerer Überzeugung als das die sozialistischen Sänger tun. Die realpolitischen Forderungen der Parteiprogramme wird bestimmt niemand für etwas anderes halten als ein Mittel und einen Weg zu diesen gemeinsamen Idealen. Es gibt also überhaupt keinerlei k ü n s t l e r i s c h e s Element, mittels dessen man zwischen Kunst und Kunst einen Unterschied machen könnte und irgendeine Kunst als das besondere Produkt irgendeiner Klasse qualifizieren dürfte. Es gibt nur eines: die Kunst. Und innerhalb dieser gibt es Abstufungen. Es gibt eine größere und eine kleinere Kunst, eine reichere und eine ärmere, eine universalere und eine beschränktere. Die Grundlage für diese Qualifizierung kann nichts anderes sein als die schöpferische Kraft, der Reichtum an Farben, Formen und Tönen und ihre Schönheit. Welche Qualifizierung die Gedichte von Zseni Varnai verdienen, das zu beurteilen sind die Ästheten berufen. Ich habe das Gefühl, daß sie einige Gedichte geschrieben hat, auf Grund derer es eine Geringschätzung wäre, sie der „proletarischen Dichtung" zuzuordnen. 5 1914

9 ERNÖ BRESZTOVSZKY

Spielen wir mit den Worten, das kann ein spaßiges Spiel sein. Schade nur, daß manchmal sehr viel Ernst darin- und dahintersteckt. Ervin Szabö hat in der Nyugat einen Artikel über etwas geschrieben, das es seiner Meinung nach nicht gibt: die proletarische Dichtung. 1 98

aus den Bausteinen der „bürgerlichen" Philosophie, der „bürgerlichen" Wissenschaft und zweifelsohne auch der proletarischen Lebensverhältnisse ; denn auch sie bauten, wie alle w a h r h a f t e n Wissenschaftler und Philosophen, das Werk der Vorfahren organisch weiter. Oder ergeben vielleicht die Ideale eines Dichters den proletarischen Charakter? Was sind diese Ideale in ihrer allgemeinsten Formulierung? Freiheit, Glück für alle Menschen, Liebe, große Menschenversöhnung. Aber diese Ideale waren auch schon die Ideale der aufstrebenden bürgerlichen Klasise; Beranger und Schiller, Petöfi und Ady beschworen sie mit nicht geringerer Überzeugung als das die sozialistischen Sänger tun. Die realpolitischen Forderungen der Parteiprogramme wird bestimmt niemand für etwas anderes halten als ein Mittel und einen Weg zu diesen gemeinsamen Idealen. Es gibt also überhaupt keinerlei k ü n s t l e r i s c h e s Element, mittels dessen man zwischen Kunst und Kunst einen Unterschied machen könnte und irgendeine Kunst als das besondere Produkt irgendeiner Klasse qualifizieren dürfte. Es gibt nur eines: die Kunst. Und innerhalb dieser gibt es Abstufungen. Es gibt eine größere und eine kleinere Kunst, eine reichere und eine ärmere, eine universalere und eine beschränktere. Die Grundlage für diese Qualifizierung kann nichts anderes sein als die schöpferische Kraft, der Reichtum an Farben, Formen und Tönen und ihre Schönheit. Welche Qualifizierung die Gedichte von Zseni Varnai verdienen, das zu beurteilen sind die Ästheten berufen. Ich habe das Gefühl, daß sie einige Gedichte geschrieben hat, auf Grund derer es eine Geringschätzung wäre, sie der „proletarischen Dichtung" zuzuordnen. 5 1914

9 ERNÖ BRESZTOVSZKY

Spielen wir mit den Worten, das kann ein spaßiges Spiel sein. Schade nur, daß manchmal sehr viel Ernst darin- und dahintersteckt. Ervin Szabö hat in der Nyugat einen Artikel über etwas geschrieben, das es seiner Meinung nach nicht gibt: die proletarische Dichtung. 1 98

Es gebe, sagt er, keine proletarische Dichtung, keine religiöse Dichtung, keine patriotische Dichtung, es gebe nur die Dichtung, eine einzige und einheitliche, heilige und über allem stehende Dichtung wie es auch keine proletarische Wissenschaft, sondern nur die Wissenschaft gebe, keine proletarische Philosophie, keine proletarische Soziologie, nur die Soziologie. Gut. Das stimmt. Und es stimmt auch, daß es keine proletarische Luft gibt, sondern nur die Luft, denn die chemische Zusammensetzung der Luft ist überall auf der Erde annähernd die gleiche. Es gibt keine proletarischen Krankheiten, sondern nur Krankheiten, deren Diagnose ein sozialistischer Arzt ebenso stellen kann wie ein klerikaler und deren Symptome beim Millionär dieselben sind wie beim Bettler. Es gibt keine proletarische Mortalität, nur eine menschliche Sterblichkeitsrate, die von der offiziellen Statistik unabhängig von der Klassenzugehörigkeit des einzelnen festgestellt wird. Man kann gesellschaftliche Symptome oder die Wirkungen gesellschaftlicher Ursachen wie die Sterblichkeitsrate, die Wissenschaft oder auch die Kunst von so hehren, weil über die Klassen sich erhebenden Gesichtspunkten aus betrachten. Das kann man. Obwohl es nicht notwendig ist - besonders nicht für einen Menschen wie Ervin Szabö, denn in diesem Lande gibt es kaum jemanden, der besser und klüger als er nachweisen könnte, daß die menschliche Kultur nicht etwas aus sich selbst heraus Gezeugtes ist und daß sie nicht von einheitlichen und gleichen gesellschaftlichen Zuständen hervorgebracht worden ist. Man kann sagen: Proletarische Dichtung, proletarische Luft, proletarische Sterblichkeit gibt es nicht. Doch die Luft, die der Proletarier in der Werkstatt und zu Hause atmet, ist ohne Zweifel bazillenreicher, staubiger und ungesunder als die, die der Kapitalist atmet. Zweifellos atmet der Proletarier schlechtere und der Kapitalist bessere Luft, weil beider Klassensituation verschieden ist. In den Augen des Arztes gibt es keine proletarische Krankheit, aber eine über den Klassen stehende, einheitliche Medizin hätte dennoch unter den Proletariern relativ mehr zu tun als in den gesellschaftlichen Klassen, die unter besseren Verhältnissen leben. Es gibt keine eigenständige proletarische Dichtung, doch gibt es eigenständige proletarische Gefühle, proletarische Ideale, proletarische Gedanken, deren Musik auf den Saiten erklingt, die aus der Klassensituation des Proletariers erwächst, auch wenn die Seele Endre Adys ihr Resonanzboden ist. Sagen wir, es gibt keine proletarische Dichtung, keine religiöse 7»

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Dichtung, keine patriotische Dichtung. Aber dann bitten wir um ein anderes Wort zur Bezeichnung des Teils der einheitlichen Dichtung, der den bereits sozialistischen Proletarier zutiefst anrührt, der sich an ihn wendet und seiner Seele entspringt. Was religiöse Menschen von ihrem Gefühl in Form von Dichtung den mit ihnen Fühlenden schenken, das ist nicht nur Dichtung, sondern ist auch religiös; was die dreifarbige Poesie 2 gibt, ist nicht nur Dichtung (sofern sie das überhaupt ist), sondern - einer weniger genauen, aber mangels Besserem anwendbaren Bezeichnung nach - auch patriotisch. Auf diese Detailbenennungen könnte ich ebensowenig verzichten, wie ich als internationalistisch gesinnter Mensch die Namen der Länder aus meinem Wörterbuch streichen könnte (internationalistisch gesinnt - wieder ein weiter, ungenauer, aber unentbehrlicher Ausdruck!). Die Dichtung hat eigene Bereiche, und diese müssen mit eigenen Namen benannt werden, obwohl noch niemand ihre Grenzen festgelegt hat und es zwischen ihnen keine dreifarbigen, weiß-gelben oder roten Schranken mit der entsprechenden Anzahl Zollbeamten, Grenzpolizisten und sonstiger Grenzwächter gibt. Ervin Szabö vermißt diese Schranken sehr, und ohne sie will er die Existenz verschiedener Bereiche nicht akzeptieren. Dabei gibt es solche Schranken auch zwischen den Klassen und zwischen den Weltanschauungen der Klassen nicht - dennoch gibt es Klassen, dennoch gibt es Unterschiede zwischen den Denkweisen der Klassen und sogar in der Interpretation der menschlichen Ideale. D i e Freiheit beispielsweise ist auch ein Ideal der emporstrebenden bürgerlichen Klassen, aber gerade von Ervin Szabö kann das Proletariat der Welt lernen, daß das proletarische Freiheitsideal nicht das bürgerliche Freiheitsideal ist. Ervin Szabö stellte fest: D i e F r e i h e i t i s t e i n k o n k r e t e r r e l a t i v e r Begriff, dessen jeweiligen Inhalt und j e w e i l i g e R i c h t u n g durch den j e w e i l i g e n Grad dermateriellenundgeistigenKulturderGesellschaft, unsere K l a s s e n s i t u a t i o n und unsere Verm ö g e n s v e r h ä l t n i s s e b e s t i m m t w e r d e n . Wenn wir versuchen, uns in die Seele der Menschen der verschiedenen Epochen zu versetzen, müssen wir zweifellos nicht nur Epochen und Bereiche, sondern innerhalb dieser auch die Stellung in der Gesellschaft, also Klassenzugehörigkeit und Bildungsgrad berücksichtigen und unterschiedliche Freiheitsideale konstruieren. Für den primitivsten Menschen war es in einer gewissen Zeit das Ideal der Freiheit, seinen schwächeren Mitmenschen ungehindert aufzufressen . . . U n d w a s

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h e u t e , in d e r a u f d e n f r e i e n W e t t b e w e r b g e g r ü n deten Wirtschaft, für die bürgerliche Klasse allerdings infolge der industriellen Konzentration und für einen immer kleiner werdenden Teil dieser Klasse Freiheit ist, das ist f ü r die A r b e i t e r k l a s s e , a l s o f ü r e i n e n immer größer werdenden Teil der Bevölkerung, K n e c h t s c h a f t , weil es ihr Armut und Unsicherheit bringt. Und so kann die sogenannte Despotie des Sozialismus schlimmstenfalls nur der Idee von der Freiheit widersprechen, nicht aber dem Freiheitsbegriff selbst. Und wenn Marx hundertmal als Bürger geboren ist und sich der Marxismus hundertmal auch auf Tatsachen stützt, die bürgerliche Gelehrte festgestellt haben: Beim Proletarier entstehen - bedingt durch seine Klassensituation - Ansichten und Gefühle, die oftmals in diametralem Gegensatz zu denen des Bourgeois stehen, die ihrerseits aus einer Situation erwachsen, die der des Proletariers entgegengesetzt ist. Auch wenn erst eine Minderheit des Proletariats das von der alten Umgebung bedingte, traditionelle Denken überwunden hat, ist der Marxismus doch die zukünftige Weltanschauung des ganzen Proletariats. Nicht aus dem gegebenen Zustand ist das Charakteristische zu entnehmen, sondern aus der Entwicklungsrichtung; so habe ich es irgendwann von Ervin Szabö gelernt. Innerhalb der einheitlichen Menschheit gibt es eine proletarische Klasse. Diese Klasse hat situationsbedingt eine eigene Lebensauffassung, auch wenn sich erst eine Minderheit zu dieser Auffassung durchgerungen hat. Und die Widerspiegelung dieser eigenen Weltanschauung ist ebenso „wahre" Wissenschaft, „wahre" Dichtung wie die „wahre" Dichtung und Wissenschaft der übrigen Klassen und Epochen. Aber was ist das überhaupt, „wahre" Wissenschaft, „wahre" Dichtung?! Wenn wir schon eine genaue Grenzlinie suchen, dann möchte ich auch hier die Schranken zwischen „Echtem" und „Unechtem" sehen! Ich möchte wissen, wo die absolute, die ewig gültige Wahrheiten verkündende Wissenschaft und die absolute, für jeden und für ewig verbindliche wahre Schönheit beginnt! Ich möchte die exakt ausgemessene Grenzlinie zwischen dem „guten Gelegenheitsdichter" und dem absoluten Dichter sehen. (Die beiden besten Gelegenheitsdichter der ungarischen Literatur sind letzten Endes nur Petöfi und Ady.) Ich wünsche Aufklärung darüber, warum der Wert des Künstlers durch den Enthusiasmus für sozialistische Ziele herabgesetzt 101

wird. Darüber, wo die „Parteiprogramm"-Dichtung beginnt und endet und warum nicht etwa ein Gedicht über das Recht auf freie Jagd und freien Fischfang vom Thema her „wahre" Dichtung sein könnte, wenn das Wie es dazu macht. Wenn wir schon eine genaue Beschreibung des Schubfachs proletarische Dichtung wünschen, dann auch für das Schubfach „wahre" Dichtung, die über der geringgeschätzten proletarischen Dichtung rangiert. Aus der Definition von Ervin Szabö erfahren wir jedoch nur Negatives, nur den Anschluß an die Auffassung, das W i e und nicht das W a s , die Art der Verarbeitung und nicht ihr Thema mache Literatur aus. Aus diesem Negativen folgt jedoch noch nicht, daß das Thema nicht bestimmend sein kann für die eigenen Bereiche der Dichtung, daß der mit religiösen Elementen erfüllte Teil - einer dem strengen Formmaßstab Ervin Szabös entsprechenden Dichtung beispielsweise nicht als religiöse Dichtung und das aus der Lebensauffassung der Proletarier erwachsende Stück nicht als proletarische Dichtung bezeichnet werden kann (nicht P a r t e i - , sondern p r o l e t a r i s c h e Dichtung). Daraus würde für uns - für mich und dich, für alle anderen Leser - nur das Verbot folgen, oberhalb eines bestimmten Form-Niveaus nach dem Thema zu suchen. Wenn das den Dichter ausmacht, daß er ein Mensch zwischen den Prinzipien oder ohne Prinzipien, also ein „Frevler" ist - dann ist es ein Verbrechen gegen die Dichtung und gegen die menschliche Kultur, wenn er der unbestreitbar allgemeinen Neigung des Lesers folgt, der lesen will, was seiner Seele, also seinen Gefühlen und sogar seinen Prinzipien nähersteht. Dann muß der Dichter den Leser degradieren, zu einem an die Krippe gebundenen Vieh, das in dem ihm vorgeworfenen Heu nicht wählen darf. Wenn es dem Genie u n a b d i n g b a r an Parteinahme und Überzeugung mangeln muß, dann sollte man ruhig und mutig erklären: Dichtung ist ein über Gesellschaft und Natur stehendes göttlich inspiriertes Schaffen, das so geringe Dinge wie die gesellschaftliche Umgestaltung nicht aufgreifen kann, ohne sich zu erniedrigen - das in sich und für sich existiert. Damit sind wir glücklich bei der Anbetung der Kultur als einer neuen, übergesellschaftlichen Gottheit und beim guten, bequemen l'art pour l'art angelangt dessen Liberalismus literarischer Manchesterianismus 3 ist, unter dessen Mantel mit dem Etikett „laissez faire, laissez passer" 4 heute hauptsächlich mittelmäßige Dichter oder verschrobene konservative Niemande ihre Konterbande tief in die emporstrebenden Klassen hineinmogeln. Die exzeptionellen großen 102

Talente brauchen die Rechtfertigung des l'art pour l'art nicht; diesen mildernden Umstand nutzen die Mittelmäßigen aus: Ady braucht ihn nicht - den wie Kletten friedlich dahinwuchernden trübseligen Babitsianern 5 „kommt er allerdings zupaß". Doch die Träger der neuen Ideen, deren Schreibtechnik mittelmäßig ist, kann man damit guillotinieren. Ich denke nicht im entferntesten daran, Ervin Szabö solche Absichten zu unterstellen. Ich glaube aber sehr wohl, daß eine so energische, theoretische Betonung der großen einheitlichen Dichtung durch einen Sozialisten eine W a f f e von praktischem W e r t in der Hand derer ist, die solche Absichten hegen. Über die Theorie von der „wahren" Dichtung und der „wahren" Wissenschaft kann man streiten, unbestreitbar aber ist, daß unter dem Deckmantel dieser Theorie die Gedankenwelt der Besitzenden propagiert und der dichterischen Selbstartikulation der Klasse ein Ende gesetzt wird, deren Mitglieder am schwersten zu der Formenfertigkeit vorzustoßen vermögen, die nach Szabö den Wert der Dichtung allein ausmacht. W o alles e r l a u b t ist, dort steht dem Starken - also dem Alten, dem Veralteten, dem, der das Neue haßt, dem Schädlichen - alles frei. W i e zum proletarischen Freiheitsbegriff das Verbot der Ausbeutung und die Möglichkeit der Selbstverteidigung gehören, so kann das Proletariat keiner Theorie zuliebe sein Recht aufgeben (keine Klasse und keine um ein Prinzip entstandene große Gruppe gab es in der Praxis auf), der sich ihm zuwendenden und für es eintretenden Literatur größere Wertschätzung entgegenzubringen als jener, die sich eventuell mit mehr Formenschönheit gemacht - gegen dieses wendet. „Schön ist, was ohne Interesse gefällt" 6 - das ist eine Lüge. Für mich, der ich mich als Teil einer bestimmten Klasse zu einer bestimmten Weltauffassung bekenne, kann das, was gegen die Interessen meiner Weltauffassung und meiner Klasse gerichtet ist, nur dann schön sein, wenn dadurch meine opponierende Reaktion ausgelöst wird, aber unter normalen Umständen ist für mich das schön, was das idealisierte Interesse der gesellschaftlichen Gruppe, der ich mich zugehörig fühle, ausdrückt. Wenn ich mich als Proletarier fühle, dann finde ich in einer mühselig aufgezeichneten Schrift des Tischlergesellen Jänos Kis, der der Werkstattgeruch anhaftet, schneller das „wahrhaft" Schöne als im Liebesjammer - selbst wenn er mit großartiger handwerklicher Fertigkeit dargeboten, mit reimjongliererischem T a lent dekoriert und in den Opiumrauch aus l'art pour-l'art-Pfeifen gehüllt ist, die Ervin Szabö selbst nicht raucht. Wenn die Gedichte

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des Jänos Kis dennoch zu Dutzenden in den Papierkorb wandern, bedeutet das in unseren Augen nur, daß Dichtung außer dem Stoff auch eine Angemessenheit der Verarbeitung zur Voraussetzung hat, nicht aber, daß Formschönheit a l l e i n i g e Voraussetzung der Dichtung ist; wir verwechseln nicht vorsätzlich die Weltanschauung der proletarischen Bewegung mit ihrem Organ, das für das praktische Ziel bestimmt ist, mit der Partei und ihrem Programm. Für mich ist schön, was mir gefällt, und wahr, was ich glaube, obwohl ich nicht fordere, aber dennoch fördere, daß auch andere wie ich das Schöne und Wahre empfinden. Und wie es mir als Individuum ergeht, so ergeht es auch den ihre Interessen kennenden, emporstrebenden Klassen. Sie suchen und sie finden für sich eine eigene Schönheit, eine eigene Wahrheit. Auch für sie ist immer das „wahr", was sie suchten und allmählich finden. Und wenn das Proletariat das ihm gemäße Schöne nicht in dem suchen sollte, das neue Formen bringt, sondern in dem, was neben Formschönheit auch dem seiner Auffassung nach Wahrem nähersteht, dann werde ich ob des Schicksals der Literatur auch nicht verzweifeln. Gewöhnlich werden neue Farben und neue Gedanken letztlich durch neue Weltanschauungen in die Literatur gebracht, und ein neues Thema verlangt eine „wahrhaft" neue Form (Petöfi, Ady) die rein formale Neuerung bleibt Plackerei ohne inneren Wert (das gilt für einen großen Teil der Futuristen). Schließlich: M a g sein, daß Zola spät zum Sozialismus stieß und Dickens dies überhaupt nicht konnte; das ist jedoch kein Argument dafür, die - meines Wissens - „eingetragenen Parteimitglieder" aus der „wahren" Literatur auszustoßen: Gorki, Heyermanns, Upton Sinclair, Shaw und Anatole France, der sosehr mit der Partei verbunden ist, daß er die Annahme des Mandats einer sozialistischen, doch offiziell außerhalb der internationalen Sozialdemokratie stehenden Partei nicht spöttisch als Sakrileg bezeichnet, sondern aufrichtig als ehrenrühriges Renegatentum bewertet. Ich weiß nicht, doch ich fühle es: Diese Menschen erachten die Bezeichnung proletarischer Schriftsteller nicht als degradierend. 7 1914

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10 LAJOS

KASSÄK

In dem Glauben an das Schöne1 In dem Glauben an das Schöne und mit der ersten Erntefreude der Jugend, die nach Neuem sucht, überreichen wir dieses Buch der Öffentlichkeit. Was wir dem Leser darin anbieten, ist - nach Verdruß und Langeweile der Vergangenheit - unserer Meinung nach der wertvollste Teil aus dem Ertrag eines knappen Jahres; unser Wille und unsere Begabung sind hier, herangereift für Kritik, in eine konkrete Form gebracht. Es ist dies Offenbarung und Stellungnahme. Die hier folgenden wenigen Zeilen wollen weder hellerleuchteter Weg zum „Verständnis" unserer Gedichte noch selbstkritische Rechtfertigung vor unseren Kritikern sein, die unseren Sinn nicht zu begreifen vermögen. Wir geben uns, wie wir sind, in der ersten Phase dessen, was wir werden wollen; als Schriftsteller nehmen wir im Bewußtsein unserer eigenen Kraft, doch ohne selbstgefällige Prahlerei und geringstes Gekränktsein die ästhetischen Beanstandungen unserer Schriftstellerkollegen an unseren Arbeiten zur Kenntnis. Wenn sie gegen uns agieren (wie sie dies seit dem ersten Erscheinen unserer Gedichte tun), dann haben sie sicherlich einen Grund dafür, der sie dazu berechtigt. Aber es ist zweifellos eine psychologische Wahrheit, daß der überhebliche Pfiff, mit dem sie uns auspfeifen, zugleich auch unsere erschlafften Kräfte zu neuem Tempo anspornt und vor den Augen des Betrachters nicht sosehr unsere Tragik als vielmehr ihre Komik deutlich zutage tritt. Sie sind die elegant Zuschlagenden und wir diejenigen, die ihre Schläge ungebrochen ertragen. Wer dieses Spiel länger durchhalten wird? Den der andere nicht einmal mit den Interessen seines Nachbarn totzuschlagen vermag! Und das sind wir. Die Kraft, der Wille und die Jugend! Mit unserer einst wohl herangewachsenen und nunmehr bereits schaffenden Jugend akzeptieren wir die alte Wahrheit, daß die Re105

volutionen (darunter verstehen wir auch die geistigen) nicht von einigen führenden Persönlichkeiten gemacht werden, sondern daß die führenden Individuen von den Revolutionen hervorgebracht werden, in denen sich dann die in Bewegung geratene Kraft der Massen und deren höherer Lebensanspruch ordnen und sich gleichsam in lebendigen Symbolen offenbaren. Jetzt gehört uns die allgemeine Aufmerksamkeit, und dies ist ein Beweis für die zeitgemäße Berechtigung unserer Schriften. Aus eitlem Konkurrenzneid sind die Schriftsteller unsere Gegner, doch voran treibt uns die gläubige Masse, die von der Literatur noch nicht infiziert ist. Nach der mondbegaffenden, von Todesstimmung gekennzeichneten Romantik wollen wir in der großen Weltordnung die schönste und wahrhaftigste Erscheinung des Lebens, die Bewegung, besingen: Und mit diesem bewußten Wollen sind wir bis an die Wurzel eins mit jenem Publikum, das in sein alltägliches von Fron ausgefülltes Leben die Kunst als ein sensationelles Erlebnis einschließen möchte. Die Stimme, in unseren Gedichten ungebrochen zu Versen geformt, kommt aus dem Herzen der Epoche, und nun reichen wir sie, durch uns gefiltert und zu einem einheitlichen Wert herauskristallisiert, der reinen Masse zurück, die das Leben der Epoche bedeutet. Denn sie ist wir, und wir sind sie! Jugendliche, die es auch wagen, sie zu sein. Außer unseren Erinnerungen, die uns vor unseren und vor den Fehlern anderer warnen, haben wir mit dem Gestern nichts gemein! Als Menschen und Dichter dient uns beim Genuß des Schönen die heute mit den Sinnen erfaßbare natura, und unser Ziel ist die Vision des Unendlichen! 1917

11 Neunhundertsieb^ebn1 In einer Zeit des „Zertretens", „Ausrottens" und „Niederwalzens", der finstersten Zensur und des schändlichsten Paktes Väzsonyis,2 im Dezember 1917, wollten wir diese Zeitschrift Aleunhmdertsiebzehn ins Leben rufen.

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volutionen (darunter verstehen wir auch die geistigen) nicht von einigen führenden Persönlichkeiten gemacht werden, sondern daß die führenden Individuen von den Revolutionen hervorgebracht werden, in denen sich dann die in Bewegung geratene Kraft der Massen und deren höherer Lebensanspruch ordnen und sich gleichsam in lebendigen Symbolen offenbaren. Jetzt gehört uns die allgemeine Aufmerksamkeit, und dies ist ein Beweis für die zeitgemäße Berechtigung unserer Schriften. Aus eitlem Konkurrenzneid sind die Schriftsteller unsere Gegner, doch voran treibt uns die gläubige Masse, die von der Literatur noch nicht infiziert ist. Nach der mondbegaffenden, von Todesstimmung gekennzeichneten Romantik wollen wir in der großen Weltordnung die schönste und wahrhaftigste Erscheinung des Lebens, die Bewegung, besingen: Und mit diesem bewußten Wollen sind wir bis an die Wurzel eins mit jenem Publikum, das in sein alltägliches von Fron ausgefülltes Leben die Kunst als ein sensationelles Erlebnis einschließen möchte. Die Stimme, in unseren Gedichten ungebrochen zu Versen geformt, kommt aus dem Herzen der Epoche, und nun reichen wir sie, durch uns gefiltert und zu einem einheitlichen Wert herauskristallisiert, der reinen Masse zurück, die das Leben der Epoche bedeutet. Denn sie ist wir, und wir sind sie! Jugendliche, die es auch wagen, sie zu sein. Außer unseren Erinnerungen, die uns vor unseren und vor den Fehlern anderer warnen, haben wir mit dem Gestern nichts gemein! Als Menschen und Dichter dient uns beim Genuß des Schönen die heute mit den Sinnen erfaßbare natura, und unser Ziel ist die Vision des Unendlichen! 1917

11 Neunhundertsieb^ebn1 In einer Zeit des „Zertretens", „Ausrottens" und „Niederwalzens", der finstersten Zensur und des schändlichsten Paktes Väzsonyis,2 im Dezember 1917, wollten wir diese Zeitschrift Aleunhmdertsiebzehn ins Leben rufen.

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Doch schon das Erscheinen der ersten Nummer scheiterte an der Zensur. Wir besaßen keine finanzielle Möglichkeit, die Zeitschrift unter Umgehung der Zensur herauszugeben, und waren außerstande, sie so zusammenzustellen, daß sie der Maßgabe der Zensur entsprach. Infolgedessen waren wir gezwungen, an den Möglichkeiten der illegalen Arbeit festzuhalten und von unserem Publikationsvorhaben Abstand zu nehmen. Wir veröffentlichten in der Zeitschrift nichts weiter als das im folgenden wortwörtlich zitierte Programm, mit dem wir unsere Abonnenten gesammelt hatten: , ,Neunhundertsiebzehn. 1917. Diese Zahl ist das historische Datum der russischen Revolution, der größte Gedanke der Menschheit. Aus diesem Gedanken entspringt und in diesen mündet das Programm unserer Zeitschrift. Für diesen Gedanken - das ist unser ganzes Programm. Wir wollen den Gedanken von 1917 nicht in die knurrenden Mägen und zerlumpten Leiber, nicht in den Fluß von Blut und Tränen, nicht in die Tagespolitik und nicht in die Alltagskämpfe um das materielle Sein hineintragen; diese Arbeit leisten ohnehin die Ereignisse. Wir wollen ihn hineintragen in das Denken und Fühlen der Menschen und uns dabei der Wissenschaft und der Literatur bedienen. Sie sollen in die Seele und die Logik der Massen eindringen. Wir wollen reine Wissenschaft und reine Literatur betreiben und die hierfür vorausgehende Klärungsarbeit verrichten. Die kapitalistische Gesellschaft hat die Wissenschaft und die ihr entspringende technische Kultur ihrer einzigen Berufung, Quelle des menschlichen Glücks und Wohlstands zu sein, beraubt, sie hat sie zu ihren Dienern und Machtmitteln gemacht. Gewalt und die Mittel der politischen und wirtschaftlichen Macht genügten ihr nicht zu dieser schrecklichen Enteignung. Sie mußte sich in die Seelen der Menschen drängen und sie in ihrer Entwicklung auf einen falschen Weg zwingen, um die Masse zu Vieh erziehen zu können, das mit der dummen Indolenz der Unvermögenheit zusieht, wie Wissenschaft und Technik nicht dem Glück und dem Wohlstand dienen, sondern die Gefängnismauern des Kapitalismus über seinen Köpfen überbrücken. Sie hat sich in die Wissenschaft eingenistet, die Kunst infiziert und sie zu ihrer Prostituierten, zum Narkotikum für die Massen erniedrigt. Auf diesem Gebiet wollen wir uns am Befreiungskampf von 1917 beteiligen. Wir wollen den Nebel der psychischen Depression des 107

Kapitalismus auseinandersprengen, indem wir die Soziologie, die Naturwissenschaft und die Kunst revolutionieren. Wir wollen vor allem die Kräfte untersuchen, die das gesellschaftliche Geschehen unserer Zeit vorantreiben, und ihre Gesetze ermitteln, um mögliche Voraussetzungen für ihre Lenkung zu erforschen. Wir unterziehen alle jene Theorien und wissenschaftlichen Systeme einer neuerlichen Revision, die Grundlage für eine praktische Politik der sozialen E r lösung sein könnten, und wir geben allen Bestrebungen Raum, die neue Richtungen suchen und bestimmen wollen. Wir wollen jeden Gedanken propagieren, fördern und ausbauen, der dem revolutionären Ziel dient und sich als wissenschaftlich richtig erwies; aber wir greifen auch schonungslos alle noch im Dienst der sozialen Erlösung verknöcherten Dogmen und Theorien an, wenn sie nicht der wissenschaftlichen Kritik standhalten, die auf der naturgeschichtlich wahren Beobachtung der gesellschaftlichen Tatsachen beruhen muß. - Wir dulden auch im eigenen Lager keine Fetische, und hier wollen wir die falschen Wahrheiten sogar zuerst ausmerzen. Wir wollen die Naturwissenschaft an den Gedanken der sozialen Revolution, als der größten und dringlichsten Notwendigkeit des praktischen Lebens heranführen. Wir wollen nicht nur die Disziplinen der Naturwissenschaften pflegen, die auf höherer Stufe unmittelbar in den Dienst der sozialen Veränderung gestellt werden können, sondern wollen in erster Linie der Idee zum Ausdruck verhelfen, daß der naturwissenschaftliche Fortschritt auch zu seiner eigenen ethischen Rehabilitierung in seiner gesamten Komplexität für eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung kämpfen muß. Auch die Literatur wollen wir im Geiste von 1917. Dabei sollen die Gesichtspunkte der reinen Kunst nicht den sozialen Tendenzen untergeordnet werden, sondern wir wollen sie in ihrem Wesen sozialisieren, mit sozialem Inhalt erfüllen, in ihrem Gegenstand und ihren Formen auch ästhetisch revolutionieren. Die neue Literatur soll nicht soziales Narkotikum für die Menschen sein, sondern Weckruf zur sozialen Revolution. Wir wollen alles niederreißen, was in Wissenschaft und Literatur dem Gedanken von 1917 im Wege steht. Wir werden das begonnene Werk von 1917 fördern, erweitern und weiter bauen, und es kümmert uns nicht, wo wir sind und was mit uns sein wird, wenn das Richtfest stattfindet. Bei der Arbeit des Niederreißens räumen wir jedem einen Platz ein; jedem neuen Gedanken, jeder neuen Bestrebung, auch Experi-

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menten, allem, was redlich dem Ziel der geistigen, ethischen und materiellen Befreiung der Menschheit dienen will." Seither hat sich viel ereignet und verändert, dieses Programm ist von der Zeit noch immer nicht überholt worden. Zu ihm bekennen wir uns auch heute! Aber natürlich werden wir in der Internationale die Freiheit der Handlungsmöglichkeiten nutzen und mit dem erforderlichen Handeln rechnen, was im notgedrungen gemäßigten Programm von Neunhundertsiebzehn noch nicht zum Ausdruck kommen konnte. 1917

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Die tatsächliche Inbesitznahme der Kultur1 Jede revolutionäre Bewegung wird vor allem durch zwei Phasen charakterisiert, die sich am deutlichsten durch den Unterschied zwischen den Begriffen Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmen lassen. Die einzelnen Aktionen ordnen sich zwischen den verschiedenen Phasen jedoch unterschiedlich ein, indem das, was in der einen Phase und für die eine Aktionsweise Wirklichkeit ist, zur bloßen Möglichkeit wird, wenn es um die andere geht. Solch ein Verhältnis stellte in der Vergangenheit (zwischen den beiden Phasen) 2 die Ergreifung der politischen Macht dar, und die Beherrschung der Gesellschaft bedeutete die Möglichkeit der wirtschaftlichen Umorganisierung; die tatsächliche Inbesitznahme, die Wirklichkeit tritt aber erst dann ein, wenn diese wirtschaftliche Umorganisierung, die Sozialisierung real stattfindet. Die Kultur verhält sich zur wirtschaftlichen Umgestaltung wie diese sich zur politischen verhielt. Das Ziel der kommunistischen Gesellschaft ist die Aufhebung der Klassenunterschiede und die Schaffung einer Gesellschaft, die solche Unterschiede weder zwischen Institutionen noch zwischen den Menschen weiterhin kennt. Die Beseitigung der Klassenunterschiede ist eine Frage der wirtschaftlichen Ordnung und der Umwandlung der Produktion; bildet doch die Stellung des Menschen im Produktionsprozeß die Grundlage seiner Klassenzugehörigkeit. Aber mit der Schaffung dieser neuen Produktionsordnung, an der das Proletariat gegenwärtig arbeitet, ist dieser Prozeß noch nicht vollendet und abgeschlossen. Die inneren, Bildung und Kultur betreffenden sowie sonstigen Privilegien sind nicht dadurch beseitigt, daß sich die Produktionsordnung verändert hat. Diese Veränderung schafft gleichsam auch nur eine Möglichkeit: die der inneren Gleichheit, deren Verwirklichung einer anderen, der erzieherischen Arbeit obliegt. Heute ist alle Macht in den Händen des Proletariats. Und diese Macht wird von ihm überall wahrgenommen, auch auf dem Gebiet der Kultur. Das Proletariat nahm alle Mittel in Besitz, die institutionellen Charakter tragen und für die Verbreitung der Kultur erfor8

Befunde

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derlich sind, es bemächtigte sich aller Produkte der Kultur, durch die die Menschen mit der Kultur in Berührung kommen können. Und doch stellt all dies nur eine Möglichkeit dar. D a s Gemälde, das Buch, die Schule gehören nicht jenen, deren tatsächliches oder rechtmäßiges Eigentum sie sind, sondern vielmehr denen, die aus ihnen den größten inneren Nutzen, die höchste Wonne und Erbauung zu schöpfen imstande sind. D i e Tatsache, daß sich die Kunstschätze, Theater, Schulen usw. in den Händen des Proletariats befinden, schafft lediglich die Möglichkeit der neuen Kultur, der tatsächlichen Inbesitznahme, jener Zeit, in der sämtliche Werke der Kultur zum i n n e r e n Besitz aller Werktätigen geworden sind. Diese tatsächliche Inbesitznahme muß die Erziehung verwirklichen. Mit provisorischen und raschen Maßnahmen dort, wo es darum geht, die bereits Erwachsenen in einen inneren, engen Kontakt zu den höchsten Werten der Kultur zu bringen und die in ihnen bislang unterdrückten, infolge kapitalistischer Ausbeutung verkrüppelten schöpferischen geistigen Kräfte freizusetzen sowie ihnen deren wahren und fördernden Genuß zu ermöglichen. Dagegen sind behutsame und systematische Maßnahmen überall dort erforderlich, wo es darum geht, daß die noch junge Generation so heranwächst, daß die Verbindung mit der Kultur in ihr nicht nur lebendig wird, sondern sich auf eine Weise vollzieht, indem Kultur und Bildung die Menschen miteinander verbinden und nicht wie zur Zeit des Kapitalismus als Prinzip der Trennung und Aufspaltung in Kasten fungieren. Die Möglichkeiten dafür werden ebenfalls durch die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen geschaffen. Die Räteverfassung setzt der Klasse der Berufspolitiker und Beamten dadurch ein Ende, indem jedes Mandat jederzeit rückgängig gemacht werden kann. Der überwiegende Teil der Spezialisten der alten Ordnung verliert seine Daseinsberechtigung und es verbleiben nur jene, deren besondere Ausbildung (Ärzte, Ingenieure) tatsächlich den Interessen der Gemeinschaft dient. Doch die Arbeit der Umerziehung darf auch vor ihnen nicht haltmachen. Auch hier muß das Kastenwesen - der Unterschied zwischen physischer [und] geistiger Arbeit - beseitigt werden. Die Aufgabe besteht hier darin, es jedem jederzeit je nach der äußeren und inneren Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen, in der Gesellschaft als physischer oder geistiger Arbeiter tätig zu sein. Erst wenn diese Umgestaltung stattgefunden hat und mit ihr die Möglichkeit einer inneren Trennung in Klassen aufgehoben ist und 114

dadurch das Kulturniveau nicht sank, sondern anstieg - erst dann erfolgte die tatsächliche Inbesitznahme der Kultur durch das Proletariat. 1919

13 ZSIGMOND KUNFI

Proletarische Kultur — proletarische Kunst1 Ich werde mich mit einigen Dingen befassen, die mit der Schule zwar nicht eng zusammenhängen, jedoch mit Fragen der allgemeinen Bildung zu tun haben. Es ist selbstverständlich, daß die Schule allein nicht jene Bildungsarbeit leisten kann, die von uns zu bewältigen ist, wenn wir die Massen auch seelisch emporheben wollen. Ich neige zu der Behauptung, d a ß e s l e t z t e s u n d w a h r e s m e n s c h liches Ziel dieser ganzen großen sozialen Rev o l u t i o n ist, die Massen seelisch emporzuheb e n u n d z u a d e l n . Alles andere, was wir vorhaben, die Umgestaltung des wirtschaftlichen Lebens, die neue Politik sind lediglich ein Mittel, damit die Menschen seelisch freier, unabhängiger, edler und besser werden. Die Tatsache, daß man besser ißt, eine bessere Wohnung oder Bekleidung hat, kann für sich genommen nicht alleiniges Ziel sein, für das man sich allzusehr begeistern könnte. Wenn wir all dies jedoch lediglich als Mittel betrachten, um den Menschen von der schrecklichen Sklaverei zu befreien, in die ihn schlechte Ernährung, die viele Arbeit usw. warfen, als ein Mittel also, um den Menschen von diesen Ketten loszumachen und dadurch seine Seele zu öffnen, damit jedermann frei, moralisch geadelt und in der Lage ist, sich für das Schöne und Edle zu interessieren dann haben wir einZiel vor uns,das jeder ideal d e n k e n d e Mensch als etwas b e t r a c h t e n kann, w o f ü r es zu s t r e i t e n u n d k ä m p f e n l o h n t . Der lediglich um das bessere Futter geführte Kampf taugt nicht dazu, den Menschen zu begeistern. Wenn wir jedoch wissen, daß ohne eine geeignete Wohnung und Ernährung auch das seelische Leben der Menschen verkümmert, dann sind auch diese Dinge sehr wichtig 8»

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dadurch das Kulturniveau nicht sank, sondern anstieg - erst dann erfolgte die tatsächliche Inbesitznahme der Kultur durch das Proletariat. 1919

13 ZSIGMOND KUNFI

Proletarische Kultur — proletarische Kunst1 Ich werde mich mit einigen Dingen befassen, die mit der Schule zwar nicht eng zusammenhängen, jedoch mit Fragen der allgemeinen Bildung zu tun haben. Es ist selbstverständlich, daß die Schule allein nicht jene Bildungsarbeit leisten kann, die von uns zu bewältigen ist, wenn wir die Massen auch seelisch emporheben wollen. Ich neige zu der Behauptung, d a ß e s l e t z t e s u n d w a h r e s m e n s c h liches Ziel dieser ganzen großen sozialen Rev o l u t i o n ist, die Massen seelisch emporzuheb e n u n d z u a d e l n . Alles andere, was wir vorhaben, die Umgestaltung des wirtschaftlichen Lebens, die neue Politik sind lediglich ein Mittel, damit die Menschen seelisch freier, unabhängiger, edler und besser werden. Die Tatsache, daß man besser ißt, eine bessere Wohnung oder Bekleidung hat, kann für sich genommen nicht alleiniges Ziel sein, für das man sich allzusehr begeistern könnte. Wenn wir all dies jedoch lediglich als Mittel betrachten, um den Menschen von der schrecklichen Sklaverei zu befreien, in die ihn schlechte Ernährung, die viele Arbeit usw. warfen, als ein Mittel also, um den Menschen von diesen Ketten loszumachen und dadurch seine Seele zu öffnen, damit jedermann frei, moralisch geadelt und in der Lage ist, sich für das Schöne und Edle zu interessieren dann haben wir einZiel vor uns,das jeder ideal d e n k e n d e Mensch als etwas b e t r a c h t e n kann, w o f ü r es zu s t r e i t e n u n d k ä m p f e n l o h n t . Der lediglich um das bessere Futter geführte Kampf taugt nicht dazu, den Menschen zu begeistern. Wenn wir jedoch wissen, daß ohne eine geeignete Wohnung und Ernährung auch das seelische Leben der Menschen verkümmert, dann sind auch diese Dinge sehr wichtig 8»

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grundsätzliches Ziel bleibt jedoch die Schaffung eines neuen Menschen, eines entwickelteren, edleren und vollkommeneren Menschen. Diese Arbeit vermag die Schule allein selbstverständlich nicht zu bewältigen. Dazu bedarf es jener geistigen Kräfte, die in der Gesellschaft auch bisher vorhanden waren: der Wissenschaft, Kunst und Literatur, kurz jener höherwertigen geistigen Aktivitäten, die die eigentliche Würze des Lebens ausmachen. Vielleicht wird es auch Sie interessieren, welche Rolle Wissenschaft, Kunst und Literatur - und damit gleichbedeutend, Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller - in der Gesellschaft des Sozialismus spielen werden. Bestimmte Verordnungen, die wir unverzüglich zu realisieren suchten, zeigen, daß auch wir die Notwendigkeit, dem Proletariat diese Quellen geistigen Genusses zu eröffnen, empfanden. Gerade weil wir ihm eines der Rauschmittel, den Alkohol, wegnehmen möchten und die andere Illusion, die Religion, durch die Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung beseitigt wird, ist es von umso größerer Bedeutung, daß wir das Proletariat mit gewissen Idealen versehen. Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß sie irgendeines Ideals bedarf, irgendeiner Sache, die sie über die unmittelbare Realität des Lebens erhebt. D a d i e m o d e r n e Entwicklung e b e n d i e s e b e i d e n I l l u s i o n e n in d e n Hinterg r u n d d r ä n g t , von denen- die e i n e , die R e l i g i o n , durch den F e u d a l i s m u s , die a n d e r e , der A l k o h o l , d u r c h den K a p i t a l i s m u s g e s c h a f f e n wurd e n , ist es um so wichtiger, den Menschen andere Illusionsquellen zu erschließen, und dazu gehören in erster Linie die Kunst, die Wissenschaft und die Literatur. Deshalb haben wir gleich in den ersten Tagen der Diktatur des Proletariats die Theater verstaatlicht, die bislang ausschließlich oder wenigstens zum Teil - für die besitzenden Klassen eine Quelle des Genusses, sehr oft des frivolen Genusses waren. Bei diesen Institutionen will der proletarische Staat auch im Falle hoher Unkosten den Zustand beseitigen, lediglich für die besitzende Klasse eine Quelle der Illusion und des Genusses zu sein; wir wollen erreichen, daß die Theater auch dem Proletariat zugänglich sind. Die gleiche Überlegung gebietet uns, dem Dorf und der Bauernschaft zu diesen Quellen des edleren Genusses zu verhelfen, von denen sie bislang völlig abgeschnitten war, und Theater und Kino gleichsam als Konkurrenten der Kirche an die Seite zu stellen und so die Bauernschaft 116

von der einseitigen Zwangswirkung der religiösen Illusionen zu befreien. Einem ähnlichen Ziel diente die Verordnung, mit der wir die im Privatbesitz befindlichen Kunstschätze verstaatlichten. Einzelne Menschen haben ebensowenig das Recht, die Kunstschätze für sich zu beschlagnahmen, wie sie nicht berechtigt sind, die Produktionsmittel, den Boden, die Luft oder das Wasser in Besitz zu nehmen. Wir wollen diese Kunstschätze erwerben, die dazu bestimmt sind, nicht nur einzelnen Menschen, sondern den arbeitenden Massen zugänglich zu sein. Wir wollen dem Zustand ein Ende setzen, daß in den Räumen eines Kapitalisten die schönsten Gemälde vorhanden sind, sie jedoch niemand zu Gesicht bekommt, während an Orten, wo große Massen verkehren, nur die miserabelsten und gröbsten Öldrucke oder überhaupt nichts zu sehen ist. D i e w i r k l i c h w e r tvo l l e n K u n s t s c h ä t z e , die Q u e l l e n des S c h ö n e n , w o l l e n wir d o r t h i n b r i n g e n , wo d i e M a s s e n Z u t r i t t h a b e n , damit sie sie sehen und ihr G e s c h m a c k g e b i l d e t w i r d , d a m i t sie sich von jenen grobschlächtigen J a h r m a r k t s w a r e n a b w e n d e n , an deren A n blick sich ihr Auge bislang gewöhnt h a t t e , u n d sie d i e s e Q u e l l e n des w a h r e n G e n u s s e s k e n n e n lernen. Es gibt noch ein interessantes Problem, worüber ich zum Schluß einiges sagen möchte. Es geht um folgendes: Wie lebten bisher die Bildhauer, Maler oder Schriftsteller und wie konnten sie schaffen? Einige Menschen hatten viel Geld, sie häuften aus einem Einkommen, wofür sie keinen Finger rührten, ein großes Kapital an und kauften Gemälde, Skulpturen, Erzeugnisse des Kunsthandwerks usw. auf. Der Schriftsteller hingegen trug seine Arbeit zum Verleger, der ihm dafür etwas Geld gab; der Verleger verdiente an dem Buch eine Menge Geld, während der Autor meistens in Armut lebte. Auch bei den Wissenschaftlern sah die Lage im großen und ganzen so aus. Wenn wir erreichen wollen, daß sich die wahre Wissenschaft entwickeln kann - und von dieser Entwicklung hängt zu einem guten Teil auch die Vervollkommnung der Produktion ab - , dann darf der proletarische Staat diese Aufgaben nicht nur nicht vernachlässigen, sondern er muß sie in einem viel größeren Ausmaß fördern, als es bislang der kapitalistische Staat tat. Außerdem muß sich der proletarische Staat auch gegenüber der Kunst und Literatur auf den Standpunkt stellen, d a ß d i e j e n i g e n , d i e w i r k l i c h K ü n s t l e r 117

sind und tatsächlich wertvolle Dinge produz i e r e n , v o m S t a a t z u u n t e r h a l t e n s i n d . Von einem ernsthaften Maler kann man nicht verlangen, daß er zum Beispiel täglich sechs Stunden lang zu malen habe, da er ansonsten kein Gehalt bekommt und verhungert. Wir können nicht vorschreiben, daß ein Schriftsteller sechs Stunden lang an einem Roman, einem Drama oder einem wissenschaftlichen Werk arbeiten muß, weil er sonst von uns keine Existenzmöglichkeit bekommt. Dies könnten nur barbarische Menschen verlangen - und diejenigen, die den Wunsch haben, daß im proletarischen Staat all das ausstirbt, was in Wissenschaft, Kunst und Literatur einen echten Wert darstellt. Ich stelle mir die Lösung dieser Frage so vor: N a c h g r o ß z ü g i g e r F e s t s t e l lung, wer t a t s ä c h l i c h ein s c h ö p f e r i s c h e r , W e r t e schaffender Künstler oder Wissenschaftler ist, m u ß d i e s e n im p r o l e t a r i s c h e n S t a a t absolute Freiheit eingeräumt und ihnen eine völlig sorgenfreie Existenz gesichert werden, wogegen all d a s , was sie p r o d u z i e r e n , s c h r e i b e n , m a l e n o d e r als W i s s e n s c h a f t l e r e r f i n d e n bzw. ausd e n k e n in den B e s i t z des p r o l e t a r i s c h e n S t a a t e s ü b e r g e h t . Der eine Maler wird in einem Jahr zehn Bilder malen, ein anderer vielleicht nur eines, doch wenn sie wirklich talentiert sind, dann muß man ihnen gleichermaßen dieselben Existenzbedingungen zugestehen, die in der sozialistischen Gesellschaft der meistentwickelten und meistqualifizierten Arbeit zukommen. Nur wenn wir den wirklichen Begabungen auf diese Weise ermöglichen, sorgenfrei, ohne Kontrolle und Zwang arbeiten zu können, sind wir in der Lage, jene großen Quellen der Illusion zu retten, die notwendig sind, um das Leben schöner und besser zu machen. Im großen und ganzen war es dies, was ich Ihnen über unsere allgemeine Kulturpolitik, über die neue sozialistische bzw. kommunistische Kultur sagen wollte. V i e l l e i c h t i s t e s m i r g e l u n gen k l a r z u m a c h e n , d a ß wir h i e r n i c h t eine b a r barische Welt schaffen wollen, keine Welt der Unwissenheit und menschlichen Verrohung, s o n d e r n d a ß w i r im G e g e n t e i l d a s a l l g e m e i n e moralische und geistige N i v e a u der breiten Massen b e d e u t e n d a n h e b e n und d a r u n t e r den w i r k lichen i n t e l l e k t u e l l e n B e g a b u n g e n , dem wahr e n G e n i e d i e B a h n e b n e n w o l l e n . Dies sind freilich 118

keine Aufgaben, die man von heute auf morgen lösen kann. Aber auf diesem Gebiet kann schon jetzt sehr viel erreicht werden, indem wir wenigstens die Weitervermittlung der alten Weltauffassung in der Schule unterbinden und die Beibehaltung der alten Lehrbücher und des alten Unterrichtsstoffes verhindern; darüber hinaus wollen wir uns dafür einsetzen, daß die Generation, die jetzt in die Schule kommt, schon von Beginn an im Geiste dieser neuen K u l t u r aufwächst. Bis das möglich wird, haben wir eine andere wichtige Aufgabe im Unterricht und in der Erziehungsarbeit zu erfüllen, und diese hängt eng mit den politischen Aufgaben zusammen. W e n n wir nämlich erreichen wollen, d a ß das Proletariat wirklich selbst die politische und staatliche Macht in die H a n d nimmt, daß es tatsächlich selbst imstande ist, zur herrschenden K l a s s e zu werden, die den Staatsapparat verändert und in Händen hält, d a n n m ü s s e n wir dafür sorgen, daß durch sorgfältigen Unterr i c h t und e n t s p r e c h e n d e E r z i e h u n g aus der Arbeiterklasse solche Menschen herangebildet w e r d e n , die sich für die L e i t u n g s - und Regierungsarbeit eignen. Dieses Ziel will die Arb e i t e r - U n i v e r s i t ä t e r r e i c h e n , d i e w i r , so h o f f e i c h , b e r e i t s am 1. M a i in den Räumlichkeiten der juristischen Fakultät der alten Wissens c h a f t s - U n i v e r s i t ä t e r ö f f n e n k ö n n e n . An dieser Universität werden wir Arbeiter, Proletarier ausbilden, damit sie jene Kenntnisse erwerben, die erforderlich sind, um diese wichtige politische Aufgabe, die in der Übernahme der Staatsmacht besteht, erfüllen zu können. 2 1919 14 ZSIGMOND

KUNFI

Revolutionärer Gottesdienst1 D e n schöpferischen Genius aus dem Zwinger von Besitz, M a c h t und Wirtschaft zu befreien, den Arbeiter aus dem K e r k e r von Armut, Unterdrückung, Unwissenheit und Freudlosigkeit herauszuholen 119

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keine Aufgaben, die man von heute auf morgen lösen kann. Aber auf diesem Gebiet kann schon jetzt sehr viel erreicht werden, indem wir wenigstens die Weitervermittlung der alten Weltauffassung in der Schule unterbinden und die Beibehaltung der alten Lehrbücher und des alten Unterrichtsstoffes verhindern; darüber hinaus wollen wir uns dafür einsetzen, daß die Generation, die jetzt in die Schule kommt, schon von Beginn an im Geiste dieser neuen K u l t u r aufwächst. Bis das möglich wird, haben wir eine andere wichtige Aufgabe im Unterricht und in der Erziehungsarbeit zu erfüllen, und diese hängt eng mit den politischen Aufgaben zusammen. W e n n wir nämlich erreichen wollen, d a ß das Proletariat wirklich selbst die politische und staatliche Macht in die H a n d nimmt, daß es tatsächlich selbst imstande ist, zur herrschenden K l a s s e zu werden, die den Staatsapparat verändert und in Händen hält, d a n n m ü s s e n wir dafür sorgen, daß durch sorgfältigen Unterr i c h t und e n t s p r e c h e n d e E r z i e h u n g aus der Arbeiterklasse solche Menschen herangebildet w e r d e n , die sich für die L e i t u n g s - und Regierungsarbeit eignen. Dieses Ziel will die Arb e i t e r - U n i v e r s i t ä t e r r e i c h e n , d i e w i r , so h o f f e i c h , b e r e i t s am 1. M a i in den Räumlichkeiten der juristischen Fakultät der alten Wissens c h a f t s - U n i v e r s i t ä t e r ö f f n e n k ö n n e n . An dieser Universität werden wir Arbeiter, Proletarier ausbilden, damit sie jene Kenntnisse erwerben, die erforderlich sind, um diese wichtige politische Aufgabe, die in der Übernahme der Staatsmacht besteht, erfüllen zu können. 2 1919 14 ZSIGMOND

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Revolutionärer Gottesdienst1 D e n schöpferischen Genius aus dem Zwinger von Besitz, M a c h t und Wirtschaft zu befreien, den Arbeiter aus dem K e r k e r von Armut, Unterdrückung, Unwissenheit und Freudlosigkeit herauszuholen 119

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das ist der zutiefst geistige und kulturelle Inhalt der proletarischen Revolution. Und wenn der ungarische Proletarier an diesem Abend dem Geist Beethovens begegnet, wenn sich auf halbem Wege Arbeiter und edelste Kunst treffen, so ist dies Symbol einer Arbeit, die die neue Kultur schafft und eine der herrlichsten Aufgaben der Arbeiterrevolution darstellt. Eine echte revolutionäre Arbeit und wahrhaft sozialistische Pflicht ist es, jene majestätisch klingende Tondichtung, aus der uns unvergängliche Schönheit und Wahrheit grüßen werden, nicht nur zu vorübergehendem, sondern zu einem neuen wahrhaftigeren Leben zu erwecken, indem wir ihre veredelnden Schönheiten zum schöpferischen Bestandteil der Existenz der Massen machen. Inmitten von Blut und Leid, von Not und Zähneknirschen, unter schrecklichen Erschütterungen und Zuckungen stürzt jetzt vor unseren Augen das einstige elendige Gefängnis der Menschen unter der Last seiner eigenen Verbrechen und den Schlägen unserer Rammhammer zusammen. Es ist unendlich viel zu vernichten und niederzureißen: Diese Arbeit ist so gründlich zu verrichten, daß die Hammerschläge auch überall dort wirksam werden, wo jene Institutionen verankert waren, die dem einen Menschen das Recht gaben, die Arbeit, Kraft und Gesundheit, die Gedanken, das Leben, die Jugend und die Schönheit eines anderen Menschen als Sprungbrett für seinen Aufstieg zu benutzen, als bequeme Ruhestatt und Obdach, das ihn vor Sturmgewitter und Unbilden schützt. Es ist ungeheuer viel, was zugrunde gehen muß, und im rasanten Tempo, im großen Weltfieber von Vernichtung und Schöpfung, von dem wir heute besessen sind, tut es der Seele wohl, irgendwo Rast zu halten und dem schlagbereiten Rammhammer zu sagen: D i e s h i e r müssen wir verteidigen, und wenn die Hand in die Höhe schnellt, so nicht zum Schlag, sondern zum Gruß. Dieser heutige Abend ist ein Anlaß dazu. Was in Kunst und Wissenschaft wahrhaft groß ist, wurde noch nie von einer so sicheren, dankbaren und opferbereiten Macht wie der des zutiefst revolutionären Proletariats bewacht, das gleichsam ein schützendes Zelt über die wirklichen Schätze der Kultur errichtete. Es verteidigt in ihnen nichts, was ihm fremd ist, nicht Dinge, die äußeren Schmuck und Bequemlichkeit des Lebens vermehren, sondern den innersten Kern seines Wesens, und angesichts dieser seelischen Verwandtschaft fühlt es sich zu diesen Schätzen eben mit einer solch unbezwingbaren Leidenschaft hingezogen, deshalb dürstet

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es nach den Wahrheiten der Wissenschaft und schmachtet nach den Schönheiten der Kunst. Das Proletariat, dessen Klassenlos Leid und Vernichtung bleibt, solange es nicht die alte Welt umkrempelt, ist infolge des fundamentalen Gesetzes seiner moralischen Existenz eine revolutionäre, aufrührerische und protestierende Kraft; angespornt von den geheimnisvollen Kräften chemischer Verwandtschaft, hält es eine jede Macht, auf der der Hauch der Revolution, der Rebellion und des Protestes liegt, für seine Schwester. Deshalb waren revolutionäre Arbeiterbewegung, die nach Wahrheit strebende Wissenschaft und die Kunst, die die Idee des Schönen in Farbe, Form, Ton und Wort festhält, allezeit Geschwister. Die Wissenschaft ist die Revolution unseres nach Wahrheit suchenden Verstandes, sie ist die Rebellion unseres Denkens, das eine neue ideologische Ordnung schaffen will und den Protest gegen das wirre Durcheinander, gegen die Unverständlichkeit und Verworrenheit der Dinge und Erscheinungen reguliert. Was anderes ist die Kunst als der leidenschaftliche Protest der Seele gegen das uns von der Natur vorgesetzte Häßliche, gegen die Disharmonie und Unvollkommenheit, der Protest eines Willens, der nach Unvergänglichkeit schmachtet und sich dagegen richtet, daß das Schöne, das zuweilen von der Natur hervorgebracht wird, mit dem Augenblick entflieht. Die Revolution, die die Ordnung und Wahrheit der Wissenschaft sowie die Schönheit und Harmonie der Kunst in das Verhältnis der Menschen zueinander hineintragen möchte, erweist sich an diesem Punkt als eine Kraft, die mit der Wissenschaft und Kunst verwandt ist. Daher kommt es, daß die Revolution einen wahren Gottesdienst zelebriert, wenn wir uns den Lehren der Wissenschaft und den Freuden der Kunst überlassen, unseren Blick zu den Gipfeln der Wahrheit erheben und unsere Gefühle wie Phantasie gegenüber den Quellen des Schönen und der hochfliegenden Inspiration, vor der Musik Beethovens öffnen können. In seiner IX. Sinfonie sind wir Zeugen des titanischen Ringens der edelsten Seele um die Wahrheit, Schönheit und Harmonie, ein Meisterwerk, das von der Erhabenheit und Notwendigkeit der Sozialisierung der menschlichen Seele kündet. Die Schmerzen, an die Einsamkeit gekettet zu sein, Qualen der Isolierung und des Ausgeschlossenseins aus der menschlichen Gemeinschaft, der körperlich trennende Faktor der Taubheit, der Kummer, abgesondert und ausgestoßen zu sein - das ist der Ausgangspunkt der IX. Sinfonie, die dann zu einer alles mitreißenden, majestätischen Hymne wird, deren Grundgedanke der Zusammenschluß der Menschen, die Brü121

derlichkeit und das Verschmelzen der Menschheit zu einer Familie ist. Sie ist die edelste, schönste und wertvollste Sache, die die Menschheit aus sich heraus zu schaffen vermag: Hier verneigt sich der Genius, der mit dem Volk verschmolzen ist, sich eins mit ihm fühlt und nur in ihm, im Zusammenleben mit diesem zu sich fand, und überantwortet ihm seine empfindsame, teure und glühende Seele. Es ist der hervorragende schöpferische Geist, der um seine Existenz für die Millionen weiß und sich ehrfürchtig vor dem Volk verbeugt, ein edler Mensch, der mit seiner ganzen Unruhe und Sehnsucht die Welt umarmen möchte - dies ist das menschliche, politische und soziale Glaubensbekenntnis Beethovens in seiner IX. Sinfonie. Wenn uns seine erschütternden, jubelnde Solidarität, Brüderlichkeit und Internationalismus verkündenden Worte: Seid umschlungen Millionen Diesen Kuß der ganzen Welt explosionsartig überfallen, dann wollen wir das Bild dieser Klänge unauslöschlich in unsere Seele meißeln, denn hier bietet der bewundernswerteste Genius seine Hilfe zu einer Arbeit an, deren Verfechter wir auf Leben und Tod sein müssen. Die Einheit der Welt, von der der Genius Beethovens träumte und kündete, die er mit der Empfindsamkeit und Phantasie des Künstlers auf wunderbare Weise ersehnte und voraussah, diese Einheit beginnt jetzt aus einem Traum zur Tat zu werden, von der Phantasie zur Wirklichkeit heranzureifen. Die internationale und menschliche Einheit des Weltproletariats, dem der „Kuß" Beethovens und Schillers galt, nimmt jetzt inmitten von Kampf und Leid und einer Unmenge von großartigen und kleinlichen, erhabenen und seltsamen Ereignissen konkrete Gestalt an: Es ist die Menschheit, das Proletariat, das aus der Isolierung zum internationalen Zusammenschluß aufbrach, das den Weg aus engen nationalen Grenzen zum W e l t s o w j e t , aus den Zwistigkeiten geringfügiger Vorteile wegen zur s o z i a l e n W e l t r e v o l u t i o n betrat. Dies ist die großartigste, vollkommenste und interessanteste künstlerische Schöpfung und wissenschaftliche Wahrheit der Welt sowie der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit. Über die unerbittliche Macht und Diktatur des Proletariats zur Welt des Sozialismus zu gelangen, d. h. zu einer Welt der freien und harmonischen Entwicklung des menschlichen Individuums sowie einer Welt universaler, enger internationaler Brüderlichkeit, einer 122

Welt, die von den Alltagssorgen freimacht, also menschlich befreit - , das ist der w e l t g e s c h i c h t l i c h e Inhalt der IX. Beethovenschen Sinfonie, auch ein Bekenntnis zu dem sich seiner Selbst bewußt gewordenen internationalen revolutionären Proletariat. Und wie sich die Beethovensche Sinfonie nach hartem Ringen gegen die Einsamkeit und Selbstzerfleischung, gegen Eitelkeit und sinnlichen Genuß zu jenem großen, alles umfassenden Gefühl der reinen Freude emporschwingt, die von der Solidarität mit allem Lebendigen kündet sowie davon, daß alle Menschen zur Freude geboren sind und jedermann das Recht auf Freude hat, so wird sich aus der großen weltgeschichtlichen Sinfonie des Proletariats das glückliche, freie und harmonische Leben der gesamten arbeitenden und befreiten Menschheit entfalten. D i e in e d l e r F r e u d e e n t s t e h e n d e G e m e i n s c h a f t d e r M e n s c h h e i t , diese Beethovensche Internationale menschlicher Heiterkeit und Lauterkeit, ertönt mit ewig gültigen Klängen aus der von einem großen Künstler geschaffenen IX. Sinfonie, aus jener Sinfonie des Lebens, für die heute die Arbeiter der Welt mit schweißnassem Haar und angespannten Muskeln, mit blitzenden Augen und fester Entschlossenheit auf Leben und Tod ringen. So begegnen sich am heutigen Abend der Heros der Kunst und der Held der Geschichte, das innerste Wesen Beethovens und das der proletarischen Revolution; möge diese Tatsache in uns allen die Bereitschaft schmieden, für die sich in unseren Tagen ereignende großartigste Sache auf der Welt, für die völlige und endgültige Befreiung der Menschheit alles zu geben und aufzuopfern. Und nun verneigen wir uns ehrfurchtsvoll vor Beethoven, dem großen Rebellen und trotzigen Revolutionär, vor dem großen Künstlerpropheten des Weltsowjets und der Internationale, und seien wir glücklich, daß unsere proletarische Revolution, unsere weltgeschichtliche Sinfonie jetzt bereits, da sie sich zunächst im ersten Satz entfaltet, den Weg zu Beethoven fand und wir dank seines Genius die Welt der Zukunft genießen, wo dereinst die allgemeine Beethovensche Freude einen jeden, der wie ein menschenwürdiges Wesen hier auf dieser Erde lebt, wie ein Purpurmantel umhüllen wird. 1919

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Nehmt den Kindern nicht das Märchen1 V o r allen das K i n d ! Dies ist die kommunistische Losung. In R u ß land, wo die B l o c k a d e 2 den Hungernden vier unterschiedliche Essenkategorien aufgezwungen hat, bekommt jedes K i n d die K o s t der ersten Stufe, unabhängig davon, ob sein Vater Bourgeois oder Proletarier war. U n d auch dann, wenn seine E l t e r n die kleinste Ration der Stufe vier bekommen, ißt das K i n d , was der Schwerarbeiter, der R o t e Soldat, der Wissenschaftler und der Künstler bekommen: das meiste und das Beste, was dem Menschen heute in R u ß l a n d zukommt. W e n n wir vorerst auch die Kultur noch rationieren müssen, ist es das K i n d , dem eine erstklassige, allererstklassige kulturelle V e r sorgung gebührt. D i e K i n d e r sind das Unterpfand für die Verwirklichung des Kommunismus. W i r Erwachsenen können die kommunistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung schaffen und die Bourgeoisie auf eine für sie schmerzhafte Weise in diese hineinzwingen, wir können sie aber auch übernehmen wie eine glücklich angenommene Aufgabe. D o c h all das ist nur ein Rahmen. Sein G e h a l t , die realisierte Wirklichkeit der neuen W e l t , wird erst der seelisch neue Menschenschlag sein, der nicht nur kommunistische Gesetze, sondern auch kommunistische G e f ü h l e u n d I n s t i n k t e haben wird. D i e neue Wirtschaftsordnung ist nur ein Mittel dazu. E n d z i e l ist der neue Mensch, der heute noch ein K i n d ist. W i r Erwachsenen jedoch sind jener kommunistische Moses, der unsere K i n d e r an die Grenze des Gelobten Landes führt und ihnen das G e l o b t e Land zeigt, in das wir nicht mehr eintreten können. Zuallererst geben wir den Proletarierkindern Freude und Schönheit. D i e entsetzlichste N o t der Entbehrung von Schönheit und Freude hat ihre Seelen und ihren Geist so zugerichtet, wie das lange Hungern den Magen zugrunde richtet, so daß er später die gute N a h rung bereits erbricht. Aus dem ausgebeuteten Erwachsenen könnte noch ein Mensch werden, aber in dem ausgebeuteten K i n d hat man die Seele getötet. Schönheit und Freude den Proletarierkindern! E r zählen wir ihnen und spielen wir für sie Märchen. Für die K i n d e r ist in nichts so viel Schönheit und so viele Freude konzentriert wie im Märchen. Heutzutage hören bereits 120 0 0 0 Proletarierkinder

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wöchentlich einmal Märchen, und die armen, in den Kinderkrankenhäusern abgesonderten Waisen und die blinden Kinder, sie alle lauschen mit glücklicher Ungeduld dem Märchenerzähler, und die gesunden wollen nicht aus dem Krankenhaus hinaus, weil sie fürchten, daß es dort draußen kein Märchen geben wird. Indessen hören wir von seiten der Erwachsenen viel strenge Kritik. Der Fehler kann in der Organisation und in der Art des Erzählens liegen. Ist doch die Aktion auch nur zweiwöchentlich. Doch es gibt auch solche, die das Märchen selbst beanstanden: Sie sagen, die Kinder müßten in der nüchternen Wirklichkeit, in der „Kenntnis der Gesellschaft" unterwiesen werden, das Märchen mache sie zu abergläubischen Phantasten, es sei nicht belehrend und erzähle ohnehin von Königen und Prinzessinnen, und das sei ein typisches Überbleibsel der kapitalistischen Ideologie. Wenn wir schon erzählen, sollen wir die Wirklichkeit erzählen, mit sozialem Gehalt. Das heißt, wir sollen den Kindern Tausendundeine Nacht, Grimm und Andersen nehmen; wir sollen ihnen das Märchen nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich mit einigen Argumenten für das Märchen, für die Kinder Partei ergreife. 1. In den Kindern formen nicht unsere Märchen die Märchenvision. Das Kind sieht um sich herum Märchen, für das Kind ist jeder Gegenstand lebendig, auch wenn wir ihm Marx vorlesen. Wenn seine Erziehung zum nüchternen Realismus also auch wünschenswert wäre, damit, daß wir ihm das Märchen nehmen, erreichen wir es nicht. Im Gegenteil, wir lenken die den Kindern gegebene Märchenphantasie höchstens über Berg und Tal; wir sammeln sie in den erzählten dichterischen Märchen wie in schönen, edlen Kelchen, ohne die sie in ihrem täglichen kleinen Leben zerfließt und wirklich zu einem abschreckenden Aberglauben wird. Wie auch die Religionen früher soviel Nutzen hatten, indem sie den Aberglaubeninstinkt der Menschen kanalisierten. Die sexuelle Aufklärung - sagen die Pädagogen - ist deshalb notwendig, weil man die ganze Sache doch nicht vor den Kindern geheimhalten kann, dann ist es schon besser, sie lernen sie in entsprechender Form kennen. So halten wir es auch mit dem Märchen. Die Märchenphantasie der Kinder kann man auch nicht ausmerzen, so veredeln wir sie halt. Gießen wir sie in die beruhigenden, weisen, schönen Formen der klassischen Märchen. 2. Denn diese Märchen sind schön. Sie sind funkelnde Perlen, die sich seit fünftausend Jahren in der Schatzkammer der menschlichen Dichtung angehäuft haben. Und wer so aufwächst, daß er nie Schnee125

wittchen, Dornröschen, Aschenbrödel oder Aladins Wunderlampe gehört hat, der wird ein armer, seelisch und geistig ausgeraubter Proletarier sein, ebenso ungebildet, als hätte er nie ein Drama von Shakespeare gesehen. Bis jetzt hat man den Proletarier aus dem Freudengarten der Schönheit ausgesperrt. Und jetzt, wo er vor ihm geöffnet ist, soll er nicht eintreten? Soll er aus Trotz nicht eintreten, soll er nicht eintreten, weil er bis jetzt der Bourgeoisie gehört hat? Nicht wahr, Genossen, das wäre ein kranke Logik? Was jedoch die soziale Tendenz betrifft, wollt ihr sie auch in die Mozart-Sonate hineinnehmen? Wenn der Proletarier von der ganzen Kunst nur immer hören soll, daß er ein R e c h t a u f d i e S c h ö n h e i t h a t , wann gelangt er dahin, daß er die reine Schönheit selbst bekommt? Mit den ständigen Forderungen verhindern wir, daß das, was wir fordern, zu Wort kommt. 3. Man sagt, die Märchen seien aus der kapitalistischen Ideologie entstanden und enthalten diese. Aber die Volksmärchen sind doch viel älter als der Kapitalismus, sie sind sogar noch älteren Ursprungs als der Feudalismus. Sie datieren aus der Zeit v o r der vergangenen Gesellschaft wie der Kommunismus ü b e r d i e s e hinaus reicht. Es stimmt, daß von Prinzessinnen die Rede ist, doch diese gingen aus Hirtenmärchen hervor. Es stimmt, daß von den Schätzen der Reichen die Rede ist, doch diese erhalten die Armen. D i e a l ten V o l k s m ä r c h e n s i n d d i e e i n z i g e G a t t u n g in derLiteratur.inderdieKlassenunterschiedenur d e k o r a t i v e M o t i v e s i n d . Aber sie beeinflussen das Schicksal der Gestalten auch deshalb nicht, weil diese von Kräften außerhalb der Gesellschaft, von Feen und Kobolden gelenkt werden. Eine Welt, in der aus jedem alles werden kann, seinem inneren Wert entsprechend, wo die Figuren nicht nur die Klasse, sondern auch die Gestalt und das Leben vertauschen, das ist kommunistischer als unser Kommunismus. Wir haben nur den Unterschied zwischen den menschlichen Klassen aufgehoben, das Märchen hat durch die Möglichkeit des Verzauberns die Grenze zwischen Tier, Pflanze, Mensch, allen existierenden und nicht existierenden Wesen aufgehoben. Die kommunistische Weltanschauung der Märchen ist sogar in ihren naivsten Formen viel tiefer als die der bewußten sozialistischen Dichtung. Wahrlich, vor den Märchen sollen wir nicht um die kommunistische Moral der Kinder fürchten! 4. Denken wir daran, daß jedes Märchen symbolisch ist, auch wenn sein Symbol nicht in einer begrifflichen Erklärung auflösbar 126

ist. Der Wert des Symbols besteht jedoch darin, daß es mehr als den eben dargestellten kleinen Lebensausschnitt bedeutet, und K r a f t der Kunst den Sinn der G e s a m t h e i t d e s m e n s c h l i c h e n L e b e n s in sich verdichtet. D a s heißt, wollen wir den Kindern die Wirklichkeit erzählen, so können wir immer nur herausgerissene Bruchstücke darbieten, denn ein Kind kann ein perspektivisches, breites Bild der Realität nicht erfassen. Auf diese Weise kann das Kind niemals ein Erlebnis vom „Leben" als von einem einheitlichen Ganzen haben. Doch im Gleichnis des Märchens bekommt es s y m b o l i s c h e G e s c h i c h t e n u n d S c h i c k s a l e , aus deren einfacher, doch ernsthafter Lebensweisheit auch im Kind eine Weltanschauung entspringt. Erschrecken wir nicht vor dem gewichtigen Wort. D a s Kind kann, es kann und soll auch eine Weltanschauung haben, die ihm jedoch auf seiner Verständnisstufe nur das Märchen geben kann. 5. Abschließend (lediglich des Platzmangels wegen „abschließend", denn für jede Wahrheit gibt es zahlreiche Beweise), abschließend möchte ich noch jene Genossen auf einen winzigen pädagogischen Widerspruch aufmerksam machen, die das Märchen dadurch ausmerzen wollen, indem sie es abschaffen, oder dadurch, indem sie „eine soziale Tendenz" hineinzwingen. Der pädagogische Widerspruch besteht in folgendem: Sie wollen in der Jugend das Gefühl für die moderne Lyrik, sagen wir für die Gedichte von Endre A d y wecken, damit auch die neue Generation diese unsterblichen Meisterwerke nicht als „lächerliche Sinnlosigkeit" verspottet; damit sie nicht über solche Vergleiche und Bilder lacht wie: Herzog Schweigen, Pferde des Todes, Gespann der schwarzen Schmetterlinge, Botschaft der Fata Morgana. Doch sind dies Bilder der „nüchternen Realität"?! Sind nicht a l l e Vergleiche Märchenvisionen?! Gehen wir nicht bis zu Endre A d y : D a s einfachste und schlichteste dichterische Bild wird für den eine lächerliche Sinnlosigkeit sein, der aus seiner Kinderzeit keine Märchenphantasie mitgebracht hat. „Blutender Stern" und „seufzende Blume", dies sind solche Metaphern, wenn nicht verkürzte Märchen. Auf keinen Fall naturwissenschaftliche Feststellungen. Geben wir acht, Genossen! Wenn wir den Kindern das Märchen nehmen, nehmen wir ihnen die Möglichkeit, sich an welcher Dichtung auch immer erfreuen zu können. D a s aber, nicht wahr, das wollen wir nicht? Geben wir acht, Genossen: Wenn wir das Kindermärchen anrühren, schneiden wir jeder Dichtung, sogar jeder Kunst die Wurzeln ab. 3 1919 127

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Das Theater des Volkes Wenn wir dem Volk das Theater geben, dann geben wir ihm nur sein eigenes Kind zurück. 1 Denn das Theaterspiel war nicht die Erfindung einzelner Künstlerpersönlichkeiten. Das Theaterspiel entstand als Äußerung der Massenseele und unterscheidet sich deshalb von allen anderen Künsten wie die individuelle Aktion von der Revolution. Es ist das intime Erlebnis der von allen anderen Künsten isolierten Seelen (obwohl jene Seelen auch sie vielfältig determiniert haben), und die Quelle jeder anderen Kunst ist der e i n e Mensch, der zu den vielen spricht. An der Quelle der griechischen Tragödie finden wir jedoch nicht den einen Dichter. Die erste Form der attischen Tragödie ist, wie wir wissen, der Chor; der Chor, der identisch ist mit dem Publikum, mit dem Volk. Dieses Volk hörte der ersten Tragödie nicht passiv zu, es war selbst Dichter und auch Schauspieler. Zuerst gab es das Publikum und erst danach das Theater! Wir wissen, daß auch die Chöre der späten griechischen Tragödien Symbole des an ihnen teilnehmenden Publikums sind. Ja, das Theaterspiel wurde von der Massenseele hervorgebracht, von einer Masse, die nicht eine Unzahl isolierter Atome zusammengeballter Individuen darstellt, sondern die in der dionysischen Begeisterung wahrhaftig zu einem einheitlichen Selbstbewußtsein, zu einer Seele verschmilzt. Das so entstandene Theaterspiel war wirklich ein heiliges Fest des Volkes. Eine feierliche, zeremonielle, tönende Offenbarung der Massenseele. Und was ist aus ihm geworden? Aus dem Fest der Massen wurde ein raffiniertes Laboratorium intimer Stimmungen. Die heutige Bühnentechnik beabsichtigt, trotz notgedrungener Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, „als wären wir allein" im verdunkalten Zuschauerraum und die Vision des Theaterspiels schwebe als einsamer Traum vor uns dahin. Die Bühne heute will uns vergessen machen, daß wir in der Masse sind, obwohl diese Masse Seele und Sinn des Theaterspiels ist. Es gibt wahrhaftig feine Genießer, die da glauben, es wäre besser, auch im Theater allein zu sitzen, und die Öffentlichkeit des Theaters habe nur materielle und technische Gründe. Doch wer jemals ein 128

Stück in der Arena gesehen hat, der weiß, daß das nicht stimmt. Der enormen Wirkung, die von Reinhardts Zirkusvorstellungen 2 ausging, konnten sich auch die Vornehmsten nicht entziehen. Dabei war die Vorstellung selbst mit der Aufführung des Deutschen Theaters identisch. Dasselbe Stück, dieselben Schauspieler, bis auf wenige Veränderungen sogar dieselbe Regie. Was bewirkte diesen ungeheuren Unterschied? Gewiß nicht die Schauspieler, sondern das Publikum: d a d u r c h , d a ß e s s i c h t b a r w a r . Auch dadurch, daß es sich gegenüber saß, im Licht, voneinander wissend, und nicht in der Lage, auch nur für eine Minute vergessen zu können, daß es sich miteinander unter derselben Wirkung fühlte und dasselbe Gefühl auf den Gesichtern der anderen wahrnahm, zugleich und gemeinsam! Und siehe, aus der gemeinsamen Erschütterung erhob sich unter Schmerzen 'eine gemeinsame Seele, die aus einer Unzahl von Menschen ein Volk macht. Das Geheimnis für die Wirkung der Arena ist die gemeinsame Erschütterung; das Gefühl, ein gemeinsames Schicksal wendet sich plötzlich an uns alle. Das ist es, was die Bühne von allen anderen künstlerischen Erschütterungen unterscheidet und was von Anfang an ihre innerste Natur ist: Die Öffentlichkeit des Theaters ist gegeben. Es ist folglich ein künstlerisches Absurdum, dies tarnen zu wollen und auf Intimwirkungen hin zu arbeiten, liegt doch gerade die hervorragendste Wirkungsmöglichkeit des Theaterspiels in der feierlichen Öffentlichkeit. Doch über alle artistischen Erwägungen hinaus ist es klar, daß das Theater der kommunistischen Kultur erneut ein Theater des Volkes sein muß und sein soll. Nicht nur in dem Sinne, daß die Arbeiter billige Eintrittskarten bekommen, sondern daß es das Theaterspiel erneut zu einem Fest der in eins verschmolzenen Volksseele macht. Die erste Voraussetzung dafür ist, daß an die Stelle der Intimität die Monumentalität, an die Stelle des Illusionismus die symbolische Realität gelangt. Doch es werden auch andere Dramen sein, die man dem eins gewordenen Volk auf dem Fest der Arenen zeigt. In einem Spiel, das sich zugleich an uns alle wendet, kann es nur um etwas gehen, was über das Individuell-Subjektive hinaus im Zentrum einer gemeinsamen Wurzel schmerzt. Deshalb kann es nicht die Kopie des empirischen Lebens, „naturalistisch", sein. Denn das Zentrum ist an der Peripherie des Alltags nirgendwo sichtbar. Eine Wurzel kann man nur ausgraben, aber nicht „beobachten" und ihr etwas „ablauschen". Doch die großen Probleme der großen Dramen werden aus den Komplikationen jener gemeinsamen Wahrheit 9

Befunde

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und seelischen Gesetze geboren, die jeden betreffen und für jeden verbindlich sind. Denn was ist das „Problem"? Ein Konflikt, der n i c h t a n d e r O b e r f l ä c h e h a f t e t , der nicht durch eine Veränderung der äußeren Lebensumstände zu lösen ist, weil es in den tieferen Schichten der Seele schmerzt. In der kommunistischen Gesellschaft hören nämlich die „äußeren Lebensumstände" auf, Dramenmotive zu sein. Das für alle gesicherte, menschenwürdige Leben wird nicht mehr Thema von „GesellschaftsDramen" sein, auf der Bühne wird das Innerste der miteinander verwurzelten Seelen aufblühen. Die Leiden, die in der kapitalistischen Gesellschaft von der Klassenunterdrückung ausgingen, waren physischen Schmerzen vergleichbar, die verhindern sollten, daß der Mensch an den Schmerz seines Herzens denkt. Es waren gemeine Schmerzen, die uns nur gegen tiefere, ernsthaftere Schmerzen abgestumpft haben. Die Tragödien der kommunistischen Bühne werden nicht mehr Tragödien des hungernden Magens, sondern der nach ewigen Geheimnissen hungrigen Seele sein. 1919

17 BÉLA UITZ

Her mit der Diktaturl Bemerkung zu dem Artikel des Genossen József Rêvai : „Reine proletarische Politik!" 1 In der Malkunst muß die Diktatur ebenso her wie in unserem heutigen Gesellschaftssystem. In der Malkunst stehen die revolutionären Künstler ebenso den reaktionären und die Künstler mit sozialer revolutionärer Weltanschauung der zusammengestückelten bürgerlichhumanistischen Weltanschauung gegenüber. Die Vertreter der letzteren sind schlimmer als die reaktionärsten Künstler, denn mit ihrem Hin und Her, mit ihren Reformen geben sie der durch die Revolution bereits niedérgeschlagenen, geschwächten reaktionären Kunst und Weltbetrachtung Zeit, wieder zu erstarken. Die Diktatur des Proletariats kann nur die Kunst mit sozialer, revolutionärer Weltanschauung 130

und seelischen Gesetze geboren, die jeden betreffen und für jeden verbindlich sind. Denn was ist das „Problem"? Ein Konflikt, der n i c h t a n d e r O b e r f l ä c h e h a f t e t , der nicht durch eine Veränderung der äußeren Lebensumstände zu lösen ist, weil es in den tieferen Schichten der Seele schmerzt. In der kommunistischen Gesellschaft hören nämlich die „äußeren Lebensumstände" auf, Dramenmotive zu sein. Das für alle gesicherte, menschenwürdige Leben wird nicht mehr Thema von „GesellschaftsDramen" sein, auf der Bühne wird das Innerste der miteinander verwurzelten Seelen aufblühen. Die Leiden, die in der kapitalistischen Gesellschaft von der Klassenunterdrückung ausgingen, waren physischen Schmerzen vergleichbar, die verhindern sollten, daß der Mensch an den Schmerz seines Herzens denkt. Es waren gemeine Schmerzen, die uns nur gegen tiefere, ernsthaftere Schmerzen abgestumpft haben. Die Tragödien der kommunistischen Bühne werden nicht mehr Tragödien des hungernden Magens, sondern der nach ewigen Geheimnissen hungrigen Seele sein. 1919

17 BÉLA UITZ

Her mit der Diktaturl Bemerkung zu dem Artikel des Genossen József Rêvai : „Reine proletarische Politik!" 1 In der Malkunst muß die Diktatur ebenso her wie in unserem heutigen Gesellschaftssystem. In der Malkunst stehen die revolutionären Künstler ebenso den reaktionären und die Künstler mit sozialer revolutionärer Weltanschauung der zusammengestückelten bürgerlichhumanistischen Weltanschauung gegenüber. Die Vertreter der letzteren sind schlimmer als die reaktionärsten Künstler, denn mit ihrem Hin und Her, mit ihren Reformen geben sie der durch die Revolution bereits niedérgeschlagenen, geschwächten reaktionären Kunst und Weltbetrachtung Zeit, wieder zu erstarken. Die Diktatur des Proletariats kann nur die Kunst mit sozialer, revolutionärer Weltanschauung 130

gebrauchen. Die anderen müssen unter der Diktatur beiseite treten, selbst wenn sie aufrichtig helfen wollen, können sie der Diktatur des Proletariats und damit der reinen Kunst nur schaden. Eine Weltanschauung haben sie nicht - oder wenn doch, dann ist sie kapitalistisch. Wenn sie helfen und sich einschleichen, betäuben, behindern und schwächen sie nur die revolutionäre Kunst und Weltbetrachtung. Weltanschuungistnotwendig.undRevolutionist n o t w e n d i g - d e n n n u r in d e r z e h r e n d e n F l a m m e dieserbeidenwerdenOpportunismus.Rückgratl o s i g k e i t und I m m o r a l i t ä t zunichte. Die Diktatur des Proletariats beendete die Immoralität des Kapitalismus - die Ausbeutung. In der Malkunst müssen Opportunismus und Immoralität gleichfalls ausgemerzt werden. Man führe nicht als Rechtfertigung an, der Hunger, die Magenfrage, habe zum Opportunismus gezwungen (denn das trifft nicht immer zu, da meistens Habgier und bourgeoiser Egoismus der Kunst ein E n d e setzten). Hier liegt der krasse Unterschied zwischen der revolutionären und der bourgeoisen Weltanschauung. Der begabte Künstler mit bourgeoiser Weltanschauung sagt: „Jetzt mache ich noch ein paar Kompromisse, weil ich Geld benötige, und danach werde ich Revolutionär." Der Künstler mit revolutionärer Weltanschauung kann das schon wegen seiner Moral nicht tun, und wie zahllose Fälle zeigten und zeigen, tut er es auch nicht. E r spuckte der bourgeoisen Geschmacksauffassung ins Gesicht, hungerte lieber und wurde tuberkulös, aber er verleugnete seine. Prinzipien nicht. Beim Künstler mit bourgeoiser Weltanschauung ist die Kunst l'art pour l'art und zugleich Broterwerb - beim Künstler mit sozialer revolutionärer Weltanschauung ist die Kunst G l a u b e . Beim ersteren prostituiert sie sich jederzeit - beim letzteren ist allein ein solcher Gedanke unmöglich, denn er setzt sein Leben für sie ein. D i e Kunst muß parallel zum Geist der entstehenden Gesellschaftsordnung geistig voranschreiten. Schon hier erheben wir protestierend unsere Stimme gegen die „Stellungs"-Buhlerei von Elementen, die gestern noch die erbittertsten Gegner der Revolution waren und heut die kämpferischsten Revolutionäre sind. Gestern hielten sie Reden gegen den Kommunismus - und heute sind sie die lautstarkesten Kommunisten. Dies sind die schädlichsten und zersetzendsten Elemente, denn wie sie heute den E i d auf die Revolution leisten, so schwören sie ihn morgen - wenn ihr Interesse es verlangt - auf die Konterrevolution. Die Revolution ist ebensowenig ihre Ü b e r z e u 9»

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g u n g wie die reine Kunst. Wenn nötig, sind sie heut Impressionisten, morgen Postimpressionisten und übermorgen Klassizisten wie es die Konjunktur mit sich bringt. (Man denke an das ErnstMuseum.) 2 Opportunismus ist bei ihnen normal, und es kann anders auch nicht sein. Eine Weltanschauung haben sie nicht, so erschöpft sich ihre Kultur bestenfalls im Formalisieren. Im vorliegenden Fall also, wo es um Weltanschauung und Revolution geht, üben sie auf den nach Kultur suchenden Menschen einen schädlichen, störenden Einfluß aus. - S i e h a b e n k e i n e s o z i a l e revolutionäre W e11anschauung,sie haben keine Zugehör i g k e i t - wie k ö n n t e n sie d a n n M e n s c h e n s o z i a l e Weltanschauung anerziehen? Im b e s t e n Fall h a b e n sie die e n t g e g e n g e s e t z t e Weltanschauu n g , so v e r k ü n d e n s i e d a n n d i e k a p i t a l i s t i s c h e Weltanschauung. Der Einwand, jemand könne ein guter Künstler und zugleich Royalist oder Bourgeois sein, ist unhaltbar. Für den ersteren Fall ist die Schlachtenbildmalerei bezeichnend, für den letzteren sind es Prüderie und Bordellkunst. Das sind zwar formalisierende Beispiele, also Äußerlichkeiten, gegen die man sich auf die „sogenannten ewigen Werte" beruft, doch wurden diese „ewigen Werte" von den bourgeoisen Ästheten aufgestellt, die nicht den wahren Wert der Kunst, das Revolutionäre und die s c h ö p f e r i s c h e K r a f t i n i h r kannten. Wenn die Kunst revolutionäres Glaubensbekenntnis ist, dann ist das naturgemäß keine Gefälligkeit gegenüber dem Mitmenschen, der Nichtkünstler ist, also kein H e r a b s t e i g e n von der Kunst, sondern im Gegenteil dessen Formung zum Künstler für die Dauer der Kunstbetrachtung oder länger. Mit anderen Worten, mein Mitmensch wird vorangebracht - er wird e m p o r g e h o b e n . Die sozialistische Weltanschauung ist von höherer Ordnung als die kapitalistische. Mit der Materialisierung der sozialistischen revolutionären Weltanschauung wird die kapitalistische überwunden und ausgeschlossen. Letztere ist materiell, erstere geistig. Die kapitalistische Weltanschauung drückt ihrer Kunst ihren Stempel auf. Der Kapitalismus fußt auf der Klassenausbeutung, also auf der I m m o r a 1 i t ä t. Für Speisezimmer gemalte Schlachtenbilder oder für Schlafzimmer gemalte Bilder, die die bourgeoisen Geschlechtsorgane aufreizen - das alles sind Kompromisse, sind Pendants des Kapitalismus, der I m m o r a l i t à t . Die Gesellschaft bringt ihre Kunst hervor 132

u n d d e t e r m i n i e r t sie, w i e a l s o s o l l t e e i n K ü n s t ler mit kapitalistischer Weltanschauung die R ichtung e iner sozialen revolutionären Kunst bestimmen? Wir f o r d e r n , d a ß die Kunst der k o m m u n i s t i schen Gesellschaft nur von Menschen geführt w i r d , d i e in i h r e r K u n s t w i e in i h r e r p o l i t i s c h e n Vergangenheit keinerlei Kompromiß aufweisen, deren Moral und revolutionäre Kunst mak e l l o s i s t . Wir kämpfen nicht gegen M e n s c h e n , sondern gegen die b e s u d e l t e Kunst ohne Weltanschauung. Wir wollen nicht weiter den Künstler in uns herunterputzen, weil wir sicher sind, d a ß auch (die) Kunst kein Selbstzweck ist, sondern für den Künstler die einzige Möglichkeit seines Lebens, sich zu äußern, für den Betrachter aber höchstes Bedürfnis. Bei der Lösung der ökonomischen Lage der Menschheit haben wir die erste Station erreicht, deren Mittel die Diktatur ist. Wir Künstler mit sozialer revolutionärer Weltanschauung bekennen, d a ß e i n z i g e s M i t t e l z u r E n t w i c k lung neuer Kulturanspräche gleichfalls die D i k t a t u r i s t : die geistige Diktatur. P r o l e t a r i e r , b e s c h ü t z t die reine soziale revolutionäre Kunst, denn damit verteidigt ihr das Heiligste, was euch zusteht! 1919

18 LAJOS NAGY

Weltanschauung in der Literatur „Was ist das, Weltanschauung?" fragen mich Schriftsteller, die keine Weltanschauung haben, also auch keine Schriftsteller sind, oder die eine Weltanschauung haben, aber eine schlechte, also schlechte Schriftsteller sind. Kunst sei nur - sagen viele - eine gute und eine weniger gute Kunst, oder etwas Wertloses, was im Namen der Kunst erscheint. Sie halten mir Shakespeare und Goethe entgegen, wenn ich die agi133

u n d d e t e r m i n i e r t sie, w i e a l s o s o l l t e e i n K ü n s t ler mit kapitalistischer Weltanschauung die R ichtung e iner sozialen revolutionären Kunst bestimmen? Wir f o r d e r n , d a ß die Kunst der k o m m u n i s t i schen Gesellschaft nur von Menschen geführt w i r d , d i e in i h r e r K u n s t w i e in i h r e r p o l i t i s c h e n Vergangenheit keinerlei Kompromiß aufweisen, deren Moral und revolutionäre Kunst mak e l l o s i s t . Wir kämpfen nicht gegen M e n s c h e n , sondern gegen die b e s u d e l t e Kunst ohne Weltanschauung. Wir wollen nicht weiter den Künstler in uns herunterputzen, weil wir sicher sind, d a ß auch (die) Kunst kein Selbstzweck ist, sondern für den Künstler die einzige Möglichkeit seines Lebens, sich zu äußern, für den Betrachter aber höchstes Bedürfnis. Bei der Lösung der ökonomischen Lage der Menschheit haben wir die erste Station erreicht, deren Mittel die Diktatur ist. Wir Künstler mit sozialer revolutionärer Weltanschauung bekennen, d a ß e i n z i g e s M i t t e l z u r E n t w i c k lung neuer Kulturanspräche gleichfalls die D i k t a t u r i s t : die geistige Diktatur. P r o l e t a r i e r , b e s c h ü t z t die reine soziale revolutionäre Kunst, denn damit verteidigt ihr das Heiligste, was euch zusteht! 1919

18 LAJOS NAGY

Weltanschauung in der Literatur „Was ist das, Weltanschauung?" fragen mich Schriftsteller, die keine Weltanschauung haben, also auch keine Schriftsteller sind, oder die eine Weltanschauung haben, aber eine schlechte, also schlechte Schriftsteller sind. Kunst sei nur - sagen viele - eine gute und eine weniger gute Kunst, oder etwas Wertloses, was im Namen der Kunst erscheint. Sie halten mir Shakespeare und Goethe entgegen, wenn ich die agi133

tative Kraft vom Schriftsteller fordere, und sagen, Shakespeare und Goethe seien nur Künstler gewesen und hätten fern von allem W o l len bestanden, das mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden war. (Sie sagen es nicht so präzise, da sie von jener Auffassung der Kunst, gegen die sie kämpfen, auch nichts wissen, sie ist ihnen neu; wenn sie sie hören, verstehen sie, daß sie für sie ungünstig ist, also stellen sie sie sofort in Abrede und wollen sich gar nicht mit ihr bekanntmachen; ihr natürlicher Abwehrtrieb ist; sich vor der Erfahrung ihrer eigenen Minderwertigkeit zu verschließen; im übrigen sind sie auch unfähig zum Erkennen, denn zur Aufnahme der Wahrheit ist Disposition und Indisposition nötig!) Doch gegen alles Ableugnen schreie ich laut: Nur der ist ein wirklicher Schriftsteller, der eine festgefügte Weltanschauung hat; unter allen existierenden und möglichen Weltanschauungen ist jedoch nur eine einzige die richtige. D i e Wahrheit dieser These kann man nicht in einem Artikel beweisen, doch auch Bände schmettern es vergebens in die Ohren derjenigen, die für diese Wahrheit indisponiert, folglich an dieser Wahrheit uninteressiert sind. D i e These habe ich deshalb niedergeschrieben, weil wir die Wahrheit nicht oft genug in die Welt hinausschreien können, und wenn ich einige Argumente in ihren Dienst stelle, dann tue ich dies den lediglich Zweifelnden (soweit für das Gute noch Fähigen), den Ahnenden und den Wohlgesonnenen zuliebe, die von der Wahrheit jedoch noch nichts wissen, außer diesen noch für jene, die ich dadurch vielleicht in ihrem Glauben noch bestärken kann. Ich untersuche nicht das Kunstwerk und seine Rolle im Leben des Individuums und der Gesellschaft, nicht seine Daseinsberechtigung und sein objektives Ziel, sondern den Autor, jene Ziele, die sich der Autor setzen kann (für die es sich zu arbeiten lohnt, für die der Schriftsteller den Anspruch erheben kann, daß man ihn anhört), in allererster Linie jedoch jene Ursachen, derentwegen der Schriftsteller schreibt, die Kraft, die das Wollen vorwärtstreibt, d. h.: den Motor, den Heizstoff für den Motor - denn für alles gibt es zuerst eine Ursache, erst danach ein Ziel, ein Ziel ist es eigentlich auch nicht, sondern eine Richtung. D e r Schriftsteller schreibt, weil er Empfindungen und Gedanken hat, die ihn beschäftigen und beunruhigen, die aus ihm hinauswollen, ihn mit befehlsmäßiger Forderung von innen her angreifen, sich so vielen wie möglich mitteilen wollen. Jene naive ästhetische Feststel-

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lung ist nicht wahr, daß der Gegenstand der Kunst das Schöne ist und der Künstler „uns das Schöne vorstellt", doch wahr ist, daß das Leben die Seele des Künstlers anrührt, der Künstler die Natur, die Gesellschaft (mit allen ihren Erscheinungen) und den Menschen wahrnimmt. Der Künstler ist, wie jeder intakte (oder: wirkliche) Mensch, ein moralisches Wesen, er reagiert auf jede Empfindung mit Billigung oder Mißbilligung; die Gedankenfülle, die diesen Prozeß begleitet, ist eine Reihe von Urteilen. Es ist nicht möglich, über den Menschen zu schreiben, ohne daß sich die Moral des Künstlers nicht auch in seiner Arbeit offenbart, man kann nicht ohne Urteil über den Menschen und die Gesellschaft schreiben; also verdammt oder sehnt sich der Schriftsteller beim Schreiben immer nach etwas. Die Wahrheit verläuft jedoch nur in eine Richtung, der wirkliche Schriftsteller will das Wahre, der schlechte Schriftsteller bewahrt und verteidigt, liebedienerisch oder dumm, das Verdammungswürdige, der Indifferente jedoch legt nur Zeugnis über seine moralische Gleichgültigkeit ab - obwohl ich den Indifferenten nicht glaube (auf Grund des oben Gesagten ist auch eine indifferente Seele unmöglich), die Indifferenz ist eine duckmäuserische Ausflucht vor dem unverhohlenen Wollen der Wahrheit, also eine Billigung des Bestehenden mitsamt dem Schlechten. (Urteil und Wollen der als objektiv bezeichneten Schriftsteller sind verborgen, gleichsam unbeabsichtigt, doch das ist nur scheinbar so, ihr Wollen ist die in den Werken gegenwärtige lebendige Wirklichkeit.) Es ist keine l'art pour l'art, eine Kunst um der Kunst willen, denn auch wenn sie es wäre und einen Wert hätte, dem Kunst-fürdie-Kunst-Produkt würde diese andere - also die agitative, die wirkliche Kunst - einen Wert geben, für die sie es wirklich wäre. Den Wert der schriftstellerischen Schöpfung macht die von ihr ausstrahlende agitative Kraft aus, die die Seele des Lesers durchwärmt, also hat die schriftstellerische Schöpfung Tendenzen. Sie hat sie, denn die agitative Kraft strebt v o n e t w a s w e g und z u e t w a s h i n. Diese Tendenzen sind gleichsam verborgen und zugleich unbeabsichtigt, denn die Kunst ist nicht Erfinden, sondern Intention dennoch sind sich die wirklichen Schriftsteller dessen oft bewußt. Selbstverständlich denken diejenigen, die Einwände haben, hier an die tendenziösen, künstlerisch wertlosen Schriften und berufen sich darauf, daß man zum Beispiel kein Drama gegen das Duell schreiben kann. Ein solcher Einwand kann jedoch nur von jenen 135

stammen, die in dieser Frage die Wahrheit nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Denn gegen sie behaupte ich, daß sich zum Beispiel aus dem Œuvre des wirklichen Künstlers nie ergeben kann, daß der, der die eheliche Treue bricht, eine Sünde begeht, hingegen stellt sich unbedingt heraus, oder regt sich wenigstens als Mutmaßung in ihm - ohne daß es als These veröffentlicht würde - , daß die E h e nicht die vollkommenste Form des Sexuallebens ist, sie vergehen und an ihre Stelle etwas anderes, etwas Besseres kommen muß. 1

1919

19 LAJOS KASSAK

Auf dem ersten Agitationsabend der

MA"l

n

M i t einer klingenden, freudig erfüllten Stimme müßte ich Ihnen jetzt zurufen, was ich zu sagen habe, und doch werden es lediglich einfache und vielleicht sogar strenge Worte sein, die in das heraufdämmernde Morgen weisen und für den seiner selbst bewußt gewordenen Menschen eintreten. W i r durchleben die heißesten Minuten einer Zeit, die vor Erregung rote Wangen hat; rings um die aufgeschreckten Drohnen hat sich die W e l t von heute auf morgen in ihr Gegenteil verkehrt. Dies ist für uns nicht das abschreckende Gebaren eines Antichristen und auch kein himmlisches Wunder. D i e revoltierenden Arbeitssklaven, die in bezug auf das allgemeine Lebensniveau seit Jahrhunderten einen geringeren persönlichen W e r t hatten als die teuren Schoßhunde der Arbeitgeber, sind vor unseren Augen und gemeinsam mit uns rechtgläubigen Revolutionären aufgebrochen, den Menschen in uns zu erlösen. Sie haben kraft des proletarischen Selbstbewußtseins eine Welt zum Einstürzen gebracht, um eine neue, ihre eigene Welt errichten zu können. Ihre erste revolutionäre Station ist die Diktatur des Proletariats, durch diese politische Form wurde die erste Phase des ökonomischen Kommunismus geschaffen. Viele meinen nun, das Ziel des Proletariats sei damit erreicht. E s wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler, das Ziel des menschlichen Lebens auf diese Weise starr an das wirtschaftliche Fundament zu binden Mit den neuen Tagen beginnen neue Kämpfe.

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stammen, die in dieser Frage die Wahrheit nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Denn gegen sie behaupte ich, daß sich zum Beispiel aus dem Œuvre des wirklichen Künstlers nie ergeben kann, daß der, der die eheliche Treue bricht, eine Sünde begeht, hingegen stellt sich unbedingt heraus, oder regt sich wenigstens als Mutmaßung in ihm - ohne daß es als These veröffentlicht würde - , daß die E h e nicht die vollkommenste Form des Sexuallebens ist, sie vergehen und an ihre Stelle etwas anderes, etwas Besseres kommen muß. 1

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19 LAJOS KASSAK

Auf dem ersten Agitationsabend der

MA"l

n

M i t einer klingenden, freudig erfüllten Stimme müßte ich Ihnen jetzt zurufen, was ich zu sagen habe, und doch werden es lediglich einfache und vielleicht sogar strenge Worte sein, die in das heraufdämmernde Morgen weisen und für den seiner selbst bewußt gewordenen Menschen eintreten. W i r durchleben die heißesten Minuten einer Zeit, die vor Erregung rote Wangen hat; rings um die aufgeschreckten Drohnen hat sich die W e l t von heute auf morgen in ihr Gegenteil verkehrt. Dies ist für uns nicht das abschreckende Gebaren eines Antichristen und auch kein himmlisches Wunder. D i e revoltierenden Arbeitssklaven, die in bezug auf das allgemeine Lebensniveau seit Jahrhunderten einen geringeren persönlichen W e r t hatten als die teuren Schoßhunde der Arbeitgeber, sind vor unseren Augen und gemeinsam mit uns rechtgläubigen Revolutionären aufgebrochen, den Menschen in uns zu erlösen. Sie haben kraft des proletarischen Selbstbewußtseins eine Welt zum Einstürzen gebracht, um eine neue, ihre eigene Welt errichten zu können. Ihre erste revolutionäre Station ist die Diktatur des Proletariats, durch diese politische Form wurde die erste Phase des ökonomischen Kommunismus geschaffen. Viele meinen nun, das Ziel des Proletariats sei damit erreicht. E s wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler, das Ziel des menschlichen Lebens auf diese Weise starr an das wirtschaftliche Fundament zu binden Mit den neuen Tagen beginnen neue Kämpfe.

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Wir zu Bewußtsein gelangten Menschen wollen nicht nur unser Auskommen, sondern das Leben selbst gestalten. Die Revolution des ökonomischen Zwanges soll bis in unsere verschüttete Seele vordringen, durch deren Bewußtwerdung der neue Mensch in diese Welt tritt. Doch diese Arbeit erfordert mehr Kraft als die Losungen des Parteiagitators, die wie eine Injektion wirken. Seine Methode dringt nur in die Ohren und Augen der Masse bzw. des Individuums, die er agitiert, sie belebt den Körper und sorgt für den Magen. Das Ergebnis seiner Arbeit ist unmittelbar zu sehen, da es sich zu 90 Prozent in der Veränderung des äußeren Weltbildes kundtut. Es genügt aber nicht, darum zu kämpfen, den Körper vom Joch zu befreien, gleichzeitig hat der Kampf auch um die Befreiung der genauso unterjochten Seele zu beginnen. Wie man die heutige ökonomische Lage jedoch nur durch die völlige Zerstörung der bourgeoisen kapitalistischen Gesellschaftsordnung in eine sozialistische Ordnung umwandeln kann, die auf dem Prinzip der Arbeitspflicht und der gleichen Verteilung der Güter basiert, so kann der ökonomisch befreite Mensch ebenfalls nur durch die völlige Zerstörung der heutigen bourgeoisen Moral und durch die Schaffung einer Antibourgeois-Moral zur völligen Befreiung seiner selbst gelangen. In Erkenntnis dieser Wahrheit unterzogen wir die Geschichte einer Analyse, und es wurde offenbar, daß mit dem Anspruch auf ein geradezu vollkommenes Leben auch eine tiefer schürfende Agitationskraft vonnöten ist. An diesem Punkt beanspruchen die forschende Wissenschaft wie die Literatur, die bildende Kunst und die Musik für sich allein sowie gemeinsam als Träger einer Weltanschauung einen Platz, und zwar in der Rolle des Wegbereiters der menschlichen Revolution. Viele könnten diese meine Formulierung tendenziös finden oder einfach mißdeuten, weil sie die Wirkungskraft der Kunst nicht erkennen. Und diesen Herren dürfte es, um die revolutionierende Kraft der Kunst und ihre Berufung zu leugnen, den neuen Menschen zu schaffen, nicht schwerfallen, ein Lager um sich zu scharen. Aber wir rufen ihnen von historischer Grundlage aus entgegen, daß eine der stärksten Stützen der bourgeoisen Gesellschaftsordnung die rückgratlose, korrupte Kunst gewesen ist. Sie hatte die unmenschliche Moral der Unterdrückerklasse in die Psyche der modernen Sklaven hineingeschmuggelt, und zu einem großen Teil war sie es, die dem Militarismus Vorschub geleistet hatte. Das ist die Wahrheit, von der 137

Praxis uns immer wieder bestätigt: Millionen gebrauchten diese Kunst wie ein Narkotikum gegen ihre Leiden. Wenn es jedoch zutrifft, daß die bourgeoise Ideologie kraft ihrer Kunst die ökonomische Revolution zu verzögern vermag, dann muß es auch wahr sein, daß die anschauliche Kunst der neuen Welt revolutionierende K r a f t besitzt. Sollte es zum Beweis eines schlagenden Beispiels bedürfen, so blicke man nach Rußland. Gegenüber unseren Gegnern können wir mit Recht die Frage aufwerfen: Warum kam es inmittea der allgemeinen Verelendung des Menschen gerade in Rußland zur proletarischen Revolution? E s ist uns bekannt, daß es um die Lage der Arbeiter in Rußland im Verhältnis zur Situation der Arbeiterschaft in den anderen kriegsteilnehmenden Staaten keineswegs schlimmer bestellt war. Man muß also die Triebfedern des angespannten Willens, der sich gegen den Todesbefehl richtete, über den realen ökonomischen Zwang hinaus anderswo suchen. Wir erblicken in der russischen Revolution jene Flamme, die aus dem Funken, dem Inneren eines Teils des leidenden Volkes, schlug. Diese Revolution ist ein Zeugnis dafür, daß der Mensch seiner selbst bewußt wird. Die Geburt dieser Revolution bedeutete nur mehr den explosiven Umschlag der in den Seelen vollzogenen moralischen Revolution in eine materielle Form. D a ß dies auch in einem anderen Land hätte geschehen können (denn dem Augenschein nach ist ja jeder Staat im Westen kultivierter als Rußland), dagegen braucht man nicht in einem Wortgefecht zu argumentieren, denn Tatsache ist, daß dies nicht geschehen ist. Und Lenin wie Trotzki wären zu uns auch vergeblich gekommen. Denn machen kann man nur eine Rebellion; die Revolution wird von tiefreichenden Wurzeln gespeist. Was aus der Revolution ohne Lenin und Trotzki geworden wäre, die ja sicherlich auch ohne sie ausgebrochen wäre? E s ist sehr wahrscheinlich, daß diese nichts anderes als einen tragischen Ausgang genommen hätte. Denn sie waren das Hirn dieses Verlangens nach Leben und hatten mit der Zerstörung der Anarchie die aufbauenden Kräfte freigesetzt. 2 Sie bedeuten nicht den Beginn der Revolution, sondern ihre letzte Form. Schon vor ihnen wurde ein gewaltiges Arbeitspensum bewältigt, und die fleißigsten Arbeiter, die über Jahrzehnte die Grundlagen der Revolution schufen, waren die russischen Künstler. Wenn wir uns das Schaffen einer ganzen Reihe von Schriftstellern vor Augen führen, angefangen vom Nihilismus Turgenjews bis zum sozialistischen Humanismus Gorkis, dann erblicken wir als greifbares 138

Ergebnis durch individuellen Terror und die vielen verzweifelten Selbstmorde hindurch, wie fanatische Studenten und unter dem unerträglichen Joch stöhnende städtische Arbeiter in die Revolution ziehen, und dies, da sie durch die weltanschaulichen Schriften dieser Schriftsteller der „Ordnung" der bourgeoisen Gesellschaft entrissen wurden. Eine solche Wandlung des moralischen Lebens können wir bislang bei keinem Volk eines westlichen Staates entdecken. Die westliche Kultur ist eine der Welt gegenüber verantwortungslose Klassenkultur. Während im Westen die in Mode gekommene Formenerneuerung zum Hauptziel der Kunst wurde, strebten im Osten alle Begabungen von Bedeutung eine Vertiefung der Aussage durch völlige Vernachlässigung des Formenzierats und unter Aufgabe der Stilistik wie Ästhetik an. Das Ergebnis liegt auf der Hand. Auf der einen Seite waren die durch die sogenannte Kunst Verseuchten den Täuschungen der tendenziösen Bourgeoisie erlegen und wurden zunehmend in die Hilflosigkeit abgedrängt, auf der anderen Seite war es eben gerade die Kunst, die die unter kapitalistischer Unterdrückung leidenden Menschen zu wahren Revolutionären werden ließ. Wenn also die Revolution des Proletariats ihren Siegeszug im Osten anstatt im Westen antrat und sich mit Triumph behauptet, der die ganze Welt in Aufruhr versetzt, so ist das in erster Linie psychologisch zu erklären. Die Ursache ihres Ausbruchs sowie die Grundlage für die völlige Entfaltung ihrer bewahrenden Kraft sehen wir nicht allein in dem wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse, sondern wir messen der sich in der russischen Seele vollzogenen moralischen Revolution entschieden mehr Bedeutung bei. Und gerade deshalb hegen wir hinsichtlich der Festigung der russischen Revolution keinen Zweifel. Denn wir wissen, daß sich diejenigen Kräfte, die sich zwecks wirtschaftlicher und politischer Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung in der Revolution konzentriert hatten, nach Erreichung dieses Zieles dezentralisieren und eine Revolution für das kollektive Individuum anstreben werden, das sich jedweder S t a a t s o r d n u n g entledigen möchte. Ganz anders sieht unseres Erachtens die Zukunft der nahezu ausschließlich ökonomischen Revolutionen der übrigen Länder aus, die durch die Erfolge der russischen Revolution entfacht wurden. Diese Revolutionen haben einen rein wirtschaftlichen und politischen Charakter und sind gleichsam ein Nachläufer des großen russichen Schwunges. Sie sind in ihrem Verlauf chaotisch und können

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viel leichter ins Gleichgewicht zurückgebracht werden als die überwiegend psychisch motivierte russische Revolution. Auch dafür gibt es beredte Beispiele. Und vergeblich behauptet Kautsky scheinheilig, daß der Bolschewismus keine ethische Existenzberechtigung habe, da er ja nur die Minderheit des Proletariats repräsentiere und nicht als Klasse, sondern lediglich als eine ihrer Parteien die führende Macht für sich erzwungen habe. Tatsache ist, daß er diese Macht erzwang und damit bewies, daß er im Besitz der Stärke ist: einer Kraft, die sich nicht immer aus der Anzahl der Seelen, sondern zuweilen, wie auch diesmal, aus der qualitativen Summe des Willens und des Selbstbewußtseins zusammensetzt. Dieser Wille und dieses Selbstbewußtsein vermochten in einer Zeit, als der Weltkrieg auf furchtbarste Weise tobte, völlig auf sich gestellt, eine seit Jahrhunderten zusammengeschmiedete absolutistische Macht zu Fall zu bringen und sie in ihr Gegenteil zu verkehren, zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Macht zu machen. In welchem kriegführenden Staat hatte sich - von einigen entschlossenen und fanatischen Predigern abgesehen - diese Kraft offenbart, die doch zweifellos auf der ganzen Welt physisch latent vorhanden war? Wir sehen also, daß zur Umgestaltung der Welt nicht nur ökonomische Beweggründe vonnöten sind. Diese sorgen zwar dafür, daß das Feuer genährt wird und daß es in jener Zeit zu brauchbaren Ergebnissen kommt, doch darüber hinaus gibt es noch ein moralisches Plus, den revolutionären Menschen. Diejenigen, die sich für Wissenschaft und Kunst abplagten. Diejenigen, die aus allem Bisherigen herausgerissen sind und ihre Identität suchen. Die kollektiven Individuen. Und heute besteht kein Zweifel, daß sich in der in Gang gekommenen unaufhaltsamen Weltrevolution jene Volksgruppen praktisch am weitesten durchsetzen werden, die über die größte innere revolutionäre Kraft verfügen. Bei uns in Ungarn sind die Aussichten auf solche Revolutionäre, die die Lokomotive der Geschichte anheizen, äußerst gering. Der historische Hintergrund dieser Hoffnungslosigkeit ist uns wohl bekannt. Gerade deshalb kann es denkenden Menschen nicht unverständlich sein, daß wir, die wir von marxistischer Grundlage aus das Unerreichbare für unser Endziel halten und den Kommunismus als das wichtigste unter allen realen Ergebnissen fordern, zugleich aber auch den Kampf für das kollektive Individuum beginnen, in dem wir den Garanten der permanenten Revolution er-

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blicken. Wir sind keine Wissenschaftler, sondern mit dem Leben eng verbundene Künstler, die ihren Verstand und ihre Gefühle in der Kunst zum Ausdruck bringen. Auf Grund der praktischen Arbeitsteilung, die der Revolution dient, halten wir unsere Kunst in dem großen Kampf für das wichtigste Hilfsmittel und glauben fest daran, daß diese neue Kunst den neuen Menschen zu schaffen vermag, wie wir auch an die revolutionierende Kraft der an eine Weltanschauung gebundenen russischen Kunst glauben, die heute eine Tatsache ist. Und wir sind nicht allein. Über den gutgemeinten Pazifismus eines Henri Barbusse und Romain Rolland sind wir hinaus. Ihre guten Absichten zu bezweifeln, haben wir keinen Grund, wir wollen lediglich die Passivität jener brandmarken, die in einem Humanismus versackt sind, der die Weltveränderung nicht erfaßt, also den überholten Standpunkt einer Passivität, die für die Revolution überaus schädlich ist, und verfolgen mit Interesse, daß unter den Schriftstellern in Frankreich der zum Tode verurteilte, jedoch rechtzeitig in die Schweiz geflohene Henri Guilbeaux und in Deutschland der während der ersten SpartakusBewegungen eingekerkerte Franz Pfemfert ebenfalls die Bewegung der sogenannten aktivistischen Künstler ins Leben gerufen haben. Ist es zu früh oder bereits zu spät? E s gibt Leute, die hinter einer wichtigtuerischen Maske dieses oder jenes gegen uns ins Feld führen. Und beide haben recht, die einen vom Standpunkt der Konterrevolution, die anderen von dem der Revolution aus. Unsere Kritiker wollen lediglich nicht wahrhaben, daß bereits vor uns und der sich jetzt bewußt organisierenden Revolution mit dem Auftreten der verschiedenen Kunstschulen wie Futurismus, Kubismus, Expressionismus und Simultanismus eine noch unbewußte, anarchische Revolution im Gange war. Diese zerstörten nur vermittels ihrer Gefühle, wir dagegen legen mit unserer Zerstörung zugleich auch die ersten möglichen Fundamente des Aufbaus. Sie wußten lediglich das „Warum", wir kennen bereits auch das „Wohin". Sie empfanden die Verelendung im Morast der bourgeoisen Gesellschaft als schlimm und hielten diese nicht mehr aus, wir dagegen sind uns unser bewußt geworden und erkannten auch die Wege, die zum Leben führen. Allein die diktatorische Klassenrevolution des Proletariats vermag die heruntergekommene Welt auf ein neues Lebensgleis zu stoßen. Die zusammenbrechende bourgeois-kapitalistische Produktionsord141

nung kann nur vom Kommunismus abgelöst werden. Auf das unverantwortliche Klassenparlament kann nur die Räterepublik der Werktätigen folgen - gleichsam als die erste Station einer Gemeinschaft von selbstbewußt gewordenen Menschen, eines kollektiven Individuums, das jegliche Staatsform negiert und sich in der permanenten Revolution auslebt. Denn das vollkommenste Leben ist die Aktion. Die aktivistischen Künstler, die sich um die Zeitschrift MA gruppieren, betonen es frank und frei als ihr Ziel, dieses Individuum mit revolutionärer Bewußtheit auszustatten und für seine dynamische moralische Entwicklung zu sorgen. Unseres Erachtens sind die forschende Wissenschaft und die neue weltanschaulich ausgerichtete Kunst das wirksamste Agitationsmittel, um dieses Ziel zu erreichen. Jene Wissenschaft und jene Kunst, die - falls irgendeine Partei in ihrem eigenen Interesse die Revolution abgewürgt hat - als erste ausgerufen hat: Es lebe die Revolution. 3 1919

20 GYÖRGY LUKÄCS

Zur Klarstellung1 Ausschließlich zur Aufklärung der gutgläubigen, infolge böswilliger Faktenentstellung jedoch desorientierten Leser, nicht aber zur Verteidigung meiner Politik bzw. des unter meiner Leitung stehenden Volkskommissariats2 gebe ich folgendes bekannt: 1. Die Zeitschrift MA ist und wird auch kein offizielles Organ des Volkskommissariats für Unterrichtswesen. Mit den um die Zeitschrift MA gruppierten Schriftstellern und deren künstlerischer Richtung hat das Volkskommissariat für Unterrichtswesen nicht mehr und nicht weniger gemein als mit jedem anderen a c h t b a r e n und a u f r i c h t i g e n künstlerischen Bestreben. (Janos Mäcza wurde als Volontair zum Regiestudium an das Nationaltheater geschickt.) Bisher erfolgte keine einzige offizielle Erklärung oder Maßnahme, die eine besondere Unterstützung der MA belegen kann. Wer daher auf dieser Grundlage zum Angriff übergeht, der ist e n t w e d e r e i n 142

nung kann nur vom Kommunismus abgelöst werden. Auf das unverantwortliche Klassenparlament kann nur die Räterepublik der Werktätigen folgen - gleichsam als die erste Station einer Gemeinschaft von selbstbewußt gewordenen Menschen, eines kollektiven Individuums, das jegliche Staatsform negiert und sich in der permanenten Revolution auslebt. Denn das vollkommenste Leben ist die Aktion. Die aktivistischen Künstler, die sich um die Zeitschrift MA gruppieren, betonen es frank und frei als ihr Ziel, dieses Individuum mit revolutionärer Bewußtheit auszustatten und für seine dynamische moralische Entwicklung zu sorgen. Unseres Erachtens sind die forschende Wissenschaft und die neue weltanschaulich ausgerichtete Kunst das wirksamste Agitationsmittel, um dieses Ziel zu erreichen. Jene Wissenschaft und jene Kunst, die - falls irgendeine Partei in ihrem eigenen Interesse die Revolution abgewürgt hat - als erste ausgerufen hat: Es lebe die Revolution. 3 1919

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Zur Klarstellung1 Ausschließlich zur Aufklärung der gutgläubigen, infolge böswilliger Faktenentstellung jedoch desorientierten Leser, nicht aber zur Verteidigung meiner Politik bzw. des unter meiner Leitung stehenden Volkskommissariats2 gebe ich folgendes bekannt: 1. Die Zeitschrift MA ist und wird auch kein offizielles Organ des Volkskommissariats für Unterrichtswesen. Mit den um die Zeitschrift MA gruppierten Schriftstellern und deren künstlerischer Richtung hat das Volkskommissariat für Unterrichtswesen nicht mehr und nicht weniger gemein als mit jedem anderen a c h t b a r e n und a u f r i c h t i g e n künstlerischen Bestreben. (Janos Mäcza wurde als Volontair zum Regiestudium an das Nationaltheater geschickt.) Bisher erfolgte keine einzige offizielle Erklärung oder Maßnahme, die eine besondere Unterstützung der MA belegen kann. Wer daher auf dieser Grundlage zum Angriff übergeht, der ist e n t w e d e r e i n 142

Dummkopf oder böswillig und wirft eine polit i s c h e B o m b e in l i t e r a r i s c h e r V e r p a c k u n g . 2. Béla Baläzs hatte niemals etwas mit der MA zu tun. Seit zehn Jahren ist er Mitarbeiter der Zeitschrift Nyugat. Im übrigen hat das Volkskommissariat für Unterrichtswesen n i c h t D i c h t e r , s o n d e r n B e a m t e a n g e s t e l l t , deren amtliche Tätigkeit Gegenstand freier Kritik ist. Auch deren literarische Tätigkeit ist Gegenstand freier Kritik. Wer aber an den offiziellen Maßnahmen eines Beamten in der Weise Kritik übt, indem er dessen Gedichte und Dramen heruntermacht, der ist entweder ein Dummkopf oder böswillig und wirft eine politische Bombe in literarischer Verpackung. 3. Der Volkskommissar für Unterrichtswesen wird die Literatur keiner Richtung oder Partei von Amts wegen unterstützen. Das k o m m u n i s t i s c h e Kulturprogramm unterscheidet nur zwischen guter und schlechter Literatur und ist nicht gewillt, Shakespeare oder Goethe deshalb zu verwerfen, weil sie keine sozialistischen Schriftsteller waren. Es ist aber auch nicht bereit, Dilettantismus als Sozialismus für die Kunst auszugeben. Das k o m m u n i s t i s c h e Kulturprogramm hat dem Proletariat die höchste und reinste Kunst zukommen zu lassen, und es wird nicht erlauben, daß dessen Geschmack durch eine zu politischen Mitteln degradierte Leitartikel-Poesie verdorben wird. Die Politik ist lediglich Mittel, die Kultur das Ziel. Was von echtem literarischen Wert ist, wird der Volkskommissar für Unterrichtswesen unterstützen, woher es auch kommt, doch ist es nur natürlich, daß in erster Linie die auf dem Boden des Proletariats gewachsene Kunst - soweit es sich um Kunst handelt - Unterstützung finden wird. Im übrigen ist es das literaturpolitische Programm des Volkskommissariats für Unterrichtswesen, d a s S c h i c k s a l u n d d i e Lenkung der L i t e r a t u r indie H ä n d e der Schrifts t e l l e r z u l e g e n . (In die Hände der Schriftsteller, nicht aber in die von Zeitschriften- und PseudoZeitschriften-Autoren!) Das Volkskommissariat für Unterrichtswesen will wedereine Kunst von Amts wegen noch die Diktatur der Parteikunst. Der politische Gesichtspunkt bleibt noch lange ein A u s w a h 1-Aspekt, er kann aber nicht die Richtung der literarischen Produktion diktieren. Er soll lediglich Filter, nicht aber alleiniger Qüell sein! Bisher hat das Volkskommissariat für Unterrichtswesen noch nicht ins literarische Leben eingegriffen: Letztlich vertraut es die Lenkung doch der Schriftstellerorganisation an. Wer daher hier verleumderisch angreift, 143

der ist entweder ein Dummkopf oder böswillig und wirft - sehr wohl - eine politische Bombe in literarischer Verpackung. Was aber meinen Sozialismus und den der anderen anbelangt, so unterwarf ich mich stets dem allgemeinen Willen des Proletariats und hielt mich niemals für etwas anderes als einen, der diesen Willen ausführte. Hinsichtlich des Marxismus und der marxistischen Politik bin ich jedoch weder geneigt, eine Belehrung noch Ratschläge entgegenzunehmen. Am allerwenigsten aber von jenen ( o b s i e o f fen oder hinter anderen versteckt auftreten), deren „alte" marxistische Vergangenheit nichts anderes als eine kleinbürgerliche Verwässerung des Sozialismus und eine Verschleierung des proletarischen Klassenbewußtseins jener gezeitigt hatte, deren sozialistisches Gewissen es belastet, daß das Weltproletariat auseinanderbrach und sein Blut im Dienste des Imperialismus im Bruderkrieg vergoß. M i t s o l c h e n s o g e n a n n t e n Sympathisanten der k o m m u n i s t i s c h e n B e w e g u n g , d i e unseren Kampf lediglich für aufsehenerregende R e p o r t a g e n und zur B e f r i e d i g u n g des Sensat i o n s h u n g e r s der Bourgeoisie v e r w e r t e n , gebe i c h m i c h n i c h t ab.3 1919

21 LA JOS KASSÀK

Brief an Béla Kun im Namen der Kunst1 Lieber Genosse Kun! Erlauben Sie mir, der ich Ihr realpolitisches Wissen und Ihre fachliche Eignung aus eigener Liebe zur Politik und zum Wissen hochschätze, mit einigen Worten auf Ihre, wie ich meine, auf der Parteiversammlung der Sozialisten oberflächlich hingeworfenen Äußerungen über die Kunst, 2 besser gesagt, über unsere Kunst, zu antworten. Dies sage ich deshalb so, weil ich von vornherein zwischen dem passiven Schmachten nach dem Schönen, das man bislang als „vernünftige" Kunst bezeichnet hat, und dem Auftauchen unserer Aktiven einen Unterschied machen will. Gestatten Sie mir hier den Versuch, Sie mit der bisherigen Existenz 144

der ist entweder ein Dummkopf oder böswillig und wirft - sehr wohl - eine politische Bombe in literarischer Verpackung. Was aber meinen Sozialismus und den der anderen anbelangt, so unterwarf ich mich stets dem allgemeinen Willen des Proletariats und hielt mich niemals für etwas anderes als einen, der diesen Willen ausführte. Hinsichtlich des Marxismus und der marxistischen Politik bin ich jedoch weder geneigt, eine Belehrung noch Ratschläge entgegenzunehmen. Am allerwenigsten aber von jenen ( o b s i e o f fen oder hinter anderen versteckt auftreten), deren „alte" marxistische Vergangenheit nichts anderes als eine kleinbürgerliche Verwässerung des Sozialismus und eine Verschleierung des proletarischen Klassenbewußtseins jener gezeitigt hatte, deren sozialistisches Gewissen es belastet, daß das Weltproletariat auseinanderbrach und sein Blut im Dienste des Imperialismus im Bruderkrieg vergoß. M i t s o l c h e n s o g e n a n n t e n Sympathisanten der k o m m u n i s t i s c h e n B e w e g u n g , d i e unseren Kampf lediglich für aufsehenerregende R e p o r t a g e n und zur B e f r i e d i g u n g des Sensat i o n s h u n g e r s der Bourgeoisie v e r w e r t e n , gebe i c h m i c h n i c h t ab.3 1919

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Brief an Béla Kun im Namen der Kunst1 Lieber Genosse Kun! Erlauben Sie mir, der ich Ihr realpolitisches Wissen und Ihre fachliche Eignung aus eigener Liebe zur Politik und zum Wissen hochschätze, mit einigen Worten auf Ihre, wie ich meine, auf der Parteiversammlung der Sozialisten oberflächlich hingeworfenen Äußerungen über die Kunst, 2 besser gesagt, über unsere Kunst, zu antworten. Dies sage ich deshalb so, weil ich von vornherein zwischen dem passiven Schmachten nach dem Schönen, das man bislang als „vernünftige" Kunst bezeichnet hat, und dem Auftauchen unserer Aktiven einen Unterschied machen will. Gestatten Sie mir hier den Versuch, Sie mit der bisherigen Existenz 144

unseres Blattes bekanntzumachen, von dem Sie sicherlich bereits das eine oder andere entweder von unseren Gegnern oder unseren Freunden gehört haben. Der heutigen MA ging ein anderes Blatt mit gleicher Tendenz unter dem Titel Tett voraus, das unter drückendster materieller Not ebenfalls von mir und anderen Mitarbeitern, 3 die sich inzwischen „schlau" zurückgezogen haben, bestritten wurde. Im imperialistischen Weltkrieg war Tett das einzige Blatt in Ungarn (zu einer Zeit, da Ferenc Göndör, Pester Lloyd und andere verantwortungslose Kläffer Oden auf den Erzherzog Josef* schrieben), das den aktiven Antimilitarismus verkündete, wissenschaftlich fundierte Artikel gegen die versöhnlerische Sozialdemokratie publizierte und die bourgeoisen Schriststeller, die sich für das Menschengemetzel begeisterten, ins Rampenlicht zerrte. Über dieses Blatt fiel damals der Zensor der bürgerlichen Ideologie mit Feuer und Schwert wie über eine gefährliche Infektion her: Man schleifte uns wegen antireligiöser Aufwiegelung und wegen Tendenzen, die die Kriegsinteressen gefährdeten, vor den Richter, man schikanierte unsere Drucker und verbot die Zeitschrift nach zweimaliger Konfiszierung schließlich für immer. Aber Sie, Genosse Kun, wissen ja, daß man die Idee nicht töten kann. Die Lokomotive der Revolution hat sich mit der Geburt des Menschen in Bewegung gesetzt und bleibt vor der Ankunft nicht stehen. Nach zweimonatiger Pause startete ich meine neue Zeitschrift MA. Ich betone, daß ich dies mit der gleichen Zielsetzung tat, doch gewachsen an Kraft, an Wissen und Glauben. Unser Weg in der bourgeoisen Gesellschaft glich bis zum 21. März dem der Tett. Jene, die uns wirtschaftlich überlegen waren, versuchten uns mit ihrem Geld auseinanderzubringen, während diejenigen, die kulturell unter uns dahinvegetierten, uns ständig mit dem Zynismus der Aasgeier ihre Dummheit entgegenwieherten. Doch wir blieben nicht stehen, denn wie Sie wissen, Genosse Kun, in der Revolution gibt es keinen Stillstand. All dies, was ich hier vorbringe, sage ich nicht in erster Linie in unserem, sondern im Interesse der Revolution, denen lebensstarker Teil wir unbedingt sind. Als die ganze ungarische „Intelligenz" im blutigen Kriegstaumel gierig nach Geld lechzte, erfüllte unser ganzes Leben der Schmerz um den geschändeten und gemordeten Menschen, und als sich die gesamte ungarische Intelligenz mit all ihrer Raffinesse der nahenden proletarischen Revolution entgegenstemmte, öffneten wir uns ihr ganz, gegen die Mächtigen und Gauner. War all dies nichts anderes als eine ekstatische Zuckung unserer 10

Befunde

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bourgeoisen Dekadenz? Sollten Sie es vielleicht nicht wissen, lieber Genosse Kun, so sehe ich mich gezwungen, Ihnen zu sagen, daß wir zu der Zeit, als Sie Ihre Kräfte dem Kampf der russischen Brüder widmeten, bereits in Wort und Schrift für den Kommunismus in Ungarn agitierten. Als Sie noch in Rußland waren und hier ein jeder dem individuellen Vorteil der faulen Kompromiß-Politik 5 frönte, gaben wir am ersten Tag der Karolyi-Revolution 6 eine Sondernummer der MA heraus, in der wir einen Aufruf für die kommunistische Sowjetrepublik veröffentlichten, strenge Kritik an der Asternrevolution übten und Deklarationen für die Befreiung der revolutionären Künste publizierten. In ebendiesen Tagen waren wir die ersten, die in dem damals ziemlich nationalistisch gefärbten Galilei-Kreis 7 unter Drohungen und empörendem Geschrei eine Versammlung im Interesse des Kommunismus veranstalteten und allabendlich in den versteckten Nebenräumen unserer Redaktion mit einigen unserer heutigen Rotarmisten begannen, eine kommunistische Gruppe zu organisieren. Diejenigen Genossen, die Sie bei ihrem ersten Erscheinen in der Visegrader Straße begrüßten, 8 waren von uns zu Ihnen gekommen und hatten Ihnen die Wärme und die Aufrichtigkeit unseres Glaubens entgegengebracht. Warum wir dort nicht anwesend waren? Nun, wir waren es tatsächlich nicht. Der Sinn unseres Fernbleibens erklärt sich aus der Dynamik unserer Weltanschauung, die an keine Partei-Interessen gebunden ist. Denn jenseits aller Parteipolitik, nationaler und rassistischer Ideologie haben wir unseren Kampf für den Menschen, in dem sich die Welt spiegelt, auf ein niemals zu erreichendes Ziel ausgerichtet. Und all dies geschah weder aus bourgeoiser Dekadenz noch aus verbohrter Selbstbesessenheit heraus, sondern in dem gleichen Glauben an den Kampf um den Frieden, mit dem die russischen Bolschewiken ausgezogen waren, ebendiesen in der Politik zu erringen. Wer nun heute die Bolschewiken in seinem Glauben und Wollen im Stich läßt, ist vom Standpunkt der unbedingt zu Ende zu führenden Revolution nicht wichtig, wie es ebenfalls unwichtig ist, wer uns seinen Glauben und Willen entzogen hat und versucht, uns heute zu erschlagen. Wir haben Brüder in allen vier Himmelsrichtungen der Welt. Das sind neue Künstler, Menschen mit neuem Glauben, denn für uns ist die Kunst kein bloßes Spiel von l'art pour l'art; für uns ist schön, was gut ist, für uns ist das Ziel des Lebens nicht der Klassenkampf, denn dieser ist lediglich ein Mittel, um zum absoluten Menschen zu gelangen, dessen einzige Lebensform die revolutionäre Aktion ist. 146

Um zu belegen, wie sehr unsere Kunst der bourgeoisen Dekadenz entwachsen ist, möchte ich mich unter den vielen auf einige Namen berufen, die mit uns die gleiche Kunst machen und über deren politisches Leben Sie vielleicht schon etwas gehört haben. Von den Daten, die sich uns plötzlich aufdrängen, vorerst nur so viel: Lieber Genosse Kun! Ihnen ist der Name des französischen „Kommunisten" Henri Guilbeaux gewiß nicht unbekannt, über dessen Verurteilung zum Tode die Vörös Ujsäg erst vor ein paar Wochen in einem Leitartikel berichtete. Wir sind glücklich, Ihnen gegenüber jetzt den Namen dieses Mannes anführen zu können, da dieser in seiner Weltanschauung wie in seiner Kunst - als ein revolutionärer Dichter, der dem französischen Proletariat voranschreitet und nicht wie dieses vom Siegesrausch der imperialistischen Entente benommen - weder ein parteilich gebundener Sozialist noch Kommunist, sondern ein Revolutionär mit aktiver Weltanschauung ist, der im Innersten und seiner Art, sich mitzuteilen, unser Bruder ist. Ich nehme an, daß Sie keine Zweifel daran haben, daß Guilbeaux ein Revolutionär ist. Trifft dies aber zu, so bitten wir Sie, sich trotz Ihrer enormen politischen Inanspruchnahme das in unserer heutigen Nummer veröffentlichte Guilbeaux-Gedicht anzuschauen. Sie werden darin ein Argument für uns, besser gesagt, für die neue Kunst finden, die das Innerste des Menschen zum Ertönen bringt und eine Synthese der Weltdynamik darstellt. Sicherlich werden Sie Franz Pfemfert, den Redakteur des Berliner Blattes Die Aktion, und seine Mitarbeiter, unter ihnen auch Ludwig Rubiner und Iwan Göll, kennen. Wie bekannt, kämpfen diese Menschen seit Beginn der Berliner Spartakus-Bewegung in vorderster Reihe für den Kommunismus, gehören sie zu den vehementesten Verfechtern dieser Idee. Dort, wo sich Liebknecht, Luxemburg und Radek aufhielten,9 waren auch die Mitarbeiter der Aktion zugegen als Verfasser militanter Schriften, als Referenten und über Monate als gefährliche Elemente von der deutschen Bourgeoisie eingekerkert. Heute ist ihr Blatt Die Aktion das offizielle Organ der SpartacusAnhänger. Soviel über die politische Tätigkeit dieser Menschen. Wir können aber nicht verschweigen, lieber Genosse Kun, daß diese Leute auch Schriftsteller sind. Und noch mehr. Da ich doch annehme, daß Sie hinsichtlich ihrer revolutionären Haltung keine Zweifel hegen und wir nachdrücklich betonen, daß sich die revolutionäre Überzeugung dieser Schriftsteller - ebenso wie bei Guilbeaux - in ihren Schriften offenbart, bitten wir Sie, sich das in unserer heutigen Num10»

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mer publizierte Gedicht von Iwan Göll anzuschauen. Sie werden darin ein Argument für uns, besser gesagt, für die neue Kunst finden, die das Innerste des Menschen zum Ertönen bringt und 'eine Synthese der Weltdynamik darstellt. Gewiß kennen Sie auch Ottokar Brezina, einen der exponierten Vertreter der tschechischen kommunistischen Bewegung. E r hat sich nicht in dem Tempo, wie manche ungarische Schriftsteller plötzlich zu Kommunisten wurden, dem aufrührerischen tschechischen Proletariat in die Arme geworfen, sondern war wie Guilbeaux, Iwan Göll und deren Gefährten seit Beginn des Krieges der Bourgeoisie ein Kämpfer gegen den Militarismus; und während das tschechische Proletariat noch völlig von den Siegen der Bourgeoisie benommen war, läutete Brezina bereits den Kommunismus ein. Wir möchten betonen, daß er dies nicht innerhalb des Parteirahmens tat. Wie wir hält auch er den Kommunismus lediglich für die ökonomische Basis, während sein Lebensziel gleich dem unseren - und dies formuliert er in allen seinen Schriften, da auch er ein Schriftsteller ist - , jener neue Mensch ist, der durch die Kultur revolutioniert wird. Wir bitten Sie, sich das in unserer heutigen Nummer veröffentlichte Gedicht von Brezina anzuschauen. Sie werden darin ein Argument für uns, besser gesagt, für die neue Kunst finden, die das Innerste des Menschen zum Ertönen bringt und eine Synthese der Weltdynamik darstellt. Und sicher kennen Sie Alexej Remisow, 10 einer der sogenannten russischen futuristischen Schriftsteller. Ich glaube, daß ich diesen Schriftsteller und seine Kollegen, die „futuristischen" neuen Künstler, nicht eingehend vorzustellen brauche. Sie, der Sie die russische Revolution jahrelang miterlebt und mitgestaltet haben, sind gewiß darüber informiert, ja, wir glauben sogar, daß Sie in der russischen proletarischen Revolution diesen von der bourgeoisen Gesellschaft ausgestoßenen und auf Grund ihrer Weltanschauung als Verrückte gebrandmarkten Künstlern begegnet sind, und zwar als aktiven Kämpfern der Revolution. Der Beitrag, den wir in unserer heutigen Nummer von Remisow bringen, islt - so meinen wir als die wohl diesbezüglich Sachkundigsten - keineswegs „vernünftiger", klassenbetonter und in den Sätzen agitativer als die Beiträge ähnlichen Genres aus der Feder der Autoren, die der MA angehören. Ist es ohne jeden Kompromiß nicht vielmehr so, daß dieser Beitrag zusammen mit den Werken von Guilbeaux, Göll, Brezina und denen der Schriftsteller der MA mit wenigstens 50 Prozent der in ihnen enthaltenen Lebenswahrheit, Weltanschauung und Ausdrucks148

form dem unentwickelten Kulturanspruch des Proletariats zugute kommen? Oder handelt es sich hierbei tatsächlich um ein Anzeichen des Auswuchses bourgeoiser Dekadenz? Wir meinen dies nicht. Im Gegenteil, an diesem Punkt können wir uns auf drei Männer berufen, die - so glauben wir - auch von Genossen Kun hochgeschätzt werden : auf Romain Rolland, den guten Menschen, auf Franz Mehring, den Revolutionär bis ins hohe Alter, und auf Lunatscharski, den russischen Kulturapostel. Diese drei Männer waren es, die der internationalen neuen Kunst zum Durchbruch verhalfen und gelernt hatten, mit den vom tiefen Glauben beseelten Zwanzigjährigen das Leben neu zu durchmessen. Sie schrieben Vorworte zu ihren Büchern und publizierten ihre Arbeiten in jenen Blättern, die diese jungen Künstler im imperialistischen Pressedschungel mit ihren paar Fillern im Interesse des Menschen und gegen die Unmenschlichkeit ins Leben gerufen hatten. (Die neue Kunst bekennt sich zum Plakat. Vielleicht ist es nicht uninteressant zu erwähnen - da auch von dieser Seite unserer Kunst die Rede war - , daß die Plakate der als verrückt titulierten „Futuristen" von den Wänden des kommunistischen Moskau die reinen Seelen der Proletarier „vergiften". Doch diese „Vergiftung" erfolgt gerade von Seiten Lunatscharskis, den man vielleicht doch nicht zu einem dekadenten Bourgeois degradieren kann.) Tollkühn wagen wir zu behaupten, daß Lunatscharksis Propagierung der neuen Kunst nicht nur für Rußland gilt. Seine Arbeit bestätigt auch uns. Sie rechtfertigt die neue Kunst, die in Charakter und Stärke international ist und genausowenig eine unverantwortliche Schlangenbeschwörung von einzelnen wie der Kampf des russischen Proletariats einen Gewaltakt Lenins darstellt, sondern die herangereifte Revolution ist. Eine Gesetzmäßigkeit also. Der kulturrevolutionäre Aufschwung einer Ideologie, der im Grunde weder von irgendeiner Partei noch von irgendeiner individuellen Autorität zunichte gemacht werden kann. Jedwedes Widersetzen dagegen kann lediglich eine minimale zeitliche Verzögerung bedeuten. In welchem Maße dies zutrifft, will ich beispielhaft am Fall Adys und Béla Révész' in der ungarischen Kunst und im sozialdemokratischen Milieu darlegen. Wir erinnern uns noch genau daran, wie die heutzutage gegen uns wetternden Genossen jenen Ady von sich stießen, der mit all seinem menschlichen Leid und seiner ganzen Leidenschaft zu universeller Größe aufstieg, und wie man Béla Révész, ebenfalls auf einem Parteitag, 11 wegen seines schönsten, auch international äußerst wertvol-

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len Werkes Ringende Dörfer terrorisieren wollte.12 Ich stelle fest, daß es den werten Genössen nicht gelang, diese Künstler zu oberflächlichen Demagogen zu machen, aber zweifelsohne schmälerten sie deren schöpferische Lust auf sträfliche Weise. Doch wir fürchten uns bei dieser Gelegenheit auch vor derartigem noch nicht. Denn daß Kompromiß und Mittelmäßigkeit in der Politik wie in der Kunst emporwuchern, kann nicht länger zum Heute und noch weniger zum Morgen gehören. Entschuldigen Sie, daß ich in meinem Brief noch einen Beweggrund erwähnen muß, der sich nun nicht mehr auf unsere Literatur und auf die neue Kunst bezieht, sondern auf jene, die diese wie verrückt lautstark bekläffen und sich rückgratlos jedweder Situation der ungarischen Journalistik und Literatur anpassen. Doch lassen wir das lieber, da ich annehme, Ihnen damit nichts Neues zu sagen, daß jene Menschen und Zeitungen (Ferenc Göndör, Pester Lloyd usw.), die uns heute kreuzigen möchten, vor ihrer Erfahrung mit dem Wesen der heutigen Diktatur des Proletariats, uns aufgesucht und von mir Beiträge erbeten hatten sowie mit mir all das verdecken wollten, was sie über Jahre gegen das Proletariat unternommen hatten.13 Lieber Genosse Kun! Indem ich Ihnen all dies überaus ruhig und sachlich berichte, frage ich Sie, ob Sie auch heute, wenn Sie all dies ebenso ruhig und sachlich durchdenken, in uns bzw. in unserer Kunst - in der neuen Kunst, die jetzt wie ein einziger heller Aufschrei zur Befreiung des Menschen durch die Welt geht - nichts anderes sehen als ein übriggebliebenes Relikt der bourgeoisen Dekadenz? Ich schließe meinen Brief, wie ich ihn begonnen habe. Ich verehre Sie als einen der größten Politiker; gestatten Sie mir jedoch, daß ich Zweifel gegenüber Ihrer künstlerischen Qualifikation hege. In diesem Punkt sind doch wir, gegen deren politische Ansichten, richtiger, gegen deren Weltanschauung vom Standpunkt der Befreiung des Proletariats, keinerlei Anklage erhoben werden kann, mit allen Fasern unseres Lebens die Künstler und von daher in erster Linie dazu berufen, Kritik an unserem Handwerk zu üben. In diesem festen Glauben bitten wir Sie, sich im Interesse des anwiderruflichen Aufschwungs der Revolution zur Kunst von einer objektiver Grundlage aus zu äußern, da wir für keinen Augenblick vergessen dürfen, daß eine oberflächliche Kritik nicht uns, den Personen, sondern der vollen Entfaltung der Revolution schadet. Ich verbleibe Ihr Sie hochachtender Genosse Budapest, den 14. Juni 1919

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22 LAJOS KASSÄK

Aktivistiscbe Kunst und Revolution In dem heillosen Durcheinander, das uns der Weltkrieg und die nicht in Erfüllung gegangenen Revolutionen hinterließen, fragt der heutige Mensch nicht ohne begründete Furcht oder beherzte Verbitterung: Wie soll es weitergehen? Die stürmischen Wogen hatten sich zu einer Talfahrt geglättet, und der unendliche Marschzug wurde nach einem kämpferischen Aufwärtsstreben nahezu von heute auf morgen entzweigerissen, und ohne daß man daran momentan etwas mittels Politik oder wirtschaftlicher Umgestaltung ändern könnte, haben sich bei uns zwei Menschentypen herausgebildet. Der eine, der die Revolution mit sentimentalem Sichdreinfügen verschlafen hat, und der andere, der diese mit allen Fasern seines Herzens herbeisehnte, sie durchlebte und zum Nutzen der Menschheit vollenden wollte. Doch die durch den Weltkrieg geschaffene augenblickliche Situation ist über uns hinweggestürmt, so daß heute ein jeder, der auf politischem wie kulturellem Gebiet weiterkommen möchte, nicht nur mit seiner heutigen abgestumpften Umgebung, sondern auch mit sich selbst, mit seinem gestrigen Ich abrechnen muß. Für uns Menschen von heute können also nur diejenigen als Revolutionäre gelten, die mit ihrer Vergangenheit abgerechnet haben und es wagen, ein aktives Leben von vorne zu beginnen. Wir aktivistischen Künstler bekennen, daß wir zu diesem Menschenschlag gehören. Wir besitzen fürderhin weder von der großen Allgemeinheit erhaltene Losungen, noch verfügen wir weiterhin über ein Pathos, das als politisches Gängelband zu gebrauchen wäre. Nahezu von gestern auf heute entledigten wir uns der Vergangenheit wie eines abgetragenen Kleidungsstückes und beginnen auf einem weit höheren Niveau als früher erneut unseren Weg dem Menschen entgegen, der in seiner Umgebung und in seinem Innern frei wurde. Denn wer aus natürlichem Bedürfnis heraus Politik oder Kunst machen möchte, muß die Freuden, aber auch die Schmerzen von gestern aus sich herausreißen. W i r s i n d g e k o m m e n , u m d i e T o t a l i t ä t d e s L e b e n s zu e r f a h r e n u n d a u f z u z e i g e n , o h n e d a r ü b e r b e s t ü r z t zu s e i n , d a ß s i c h d e r Horizont bei einem jeden u n s e r e r Schritte nach v o r n w e i 153

t e r v o r u n s v e r s c h i e b t . Und was uns rigorose Kritiker und politische Krämerseelen unverbesserlich zur Last legen, nämlich die Unerreichbarkeit unseres Zieles - d a s i s t e s , w a s d e n b e sonder enCharakterunsereszumLebenundSchaff e n b e s t i m m t e n W e s e n s a u s m a c h t . Wir sind stolz d a r a u f , daß wir u n m i t t e l b a r nach der reinen r e v o l u t i o n ä r e n P e r i o d e an der z w e i t e n S t a t i o n u n s e r e r E n t w i c k l u n g a n g e l a n g t s i n d . 1 Ich muß jedoch betonen, daß es sich dabei nicht um eine wesenhafte Veränderung, nicht einmal um die Verschiebung unserer Zielsetzung handelt, sondern um die Aufladung eines agitativen Willens mit neuen Kräften, eben um die Weiterentwicklung unserer Kunst, die aus unseren weltanschaulichen Wurzeln Nahrung erhält. Nach jedem Sturmgewitter bleibt der Baum am Leben und treibt neue Blüten. Denn es gibt weder Zufälligkeiten noch Irrtümer. E s gibt nur Kräfteunterschiede. Und ewige, zwangsläufige Bewegungen. Die Wellen des Lebens gehen stets auf und nieder. Der erste Schritt unserer Generation vor sieben Jahren 2 fällt in das Hoch dieses Wellenschlages. Die uns vorausgingen, sind mit ihrer eingepaukten Philosophie und ihrer blutarmen künstlerischen Doktrin zurückgeblieben, wir dagegen verkündeten den Willen des sich bewußt werdenden Menschen zu leben und zu schaffen. 3 Wir fühlten uns als eine kollektive K r a f t ; als Künstler setzten wir uns für den Menschen ein, um uns selbst darstellen zu können, und doch gerieten wir zunächst gerade mit der sogenannten sozialistischen Kunst in Widerspruch. Mit allen unseren Fasern gehörten wir den Massen, aber sie verstanden uns nicht, da ihre Wortführer in einem ganz anderen Sinne und in einer ganz anderen Form zu ihnen redeten. Für die sozialistische Literatur war bisher das sentimentale Gejammer über die N o t charakteristisch bzw. bei Künstlern, die nur ihre Kunst sahen, die Ausschmückung dieses stinkenden, viehischen Zustandes mit rührseligen Vorstellung und Worttiraden. Wir jedoch widersetzten uns diesem aus künstlichen Tränen oder kleinbürgerlicher Gutgläubigkeit zusammengeklatschten Morast und verkündeten : Der Sinn des Lebens offenbart sich nicht in einer ohnmächtigen Schwäche, sondern in der K r a f t . Deshalb brachten wir in unseren Arbeiten statt des sozialen Elends die bislang unbemerkte und kaum betonte K r a f t der Massen zum Ausdruck, die durch die als Narkotikum gebrauchte Kunst noch mehr geschwächt war. Iii der ungarischen Literatur stammen die mit neuem Gehält erfüllte Ode und das erste

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Massenepos 4 aus unserem Munde. Aus dem großen unbekannten Lager kamen Jugendliche zu uns, die sich ihrer Kraft bewußt waren und uns verstanden hatten, sie waren es, die unseren Kämpfen den nahezu einzigen realen und ethischen Schwung verliehen. 5 Doch all das war zu wenig, denn die Masse war von ihrer hoffnungslosen Vergangenheit erfüllt, und die Zeit war über uns hinweggegangen, ohne daß der neue Mensch uns sein fröhliches, rotwangiges Gesicht gezeigt hätte. Und heute stehen wir hier vor einer neuen Kraftprobe. Wir stehen am allerersten Anfang. Die größte Tat ist heute, einen realen Beginn zu setzen. Und wir aktivistischen Künstler sind bereit, mit unserer entblößten Seele, ohne Vergangenheit und nahezu ohne Gefährten erneut aufzubrechen. Es wundert mich nicht, daß diejenigen, die gestern bereits an unserer Seite schritten, heute bereit sind, uns zu verleugnen, da sie uns erneut nicht verstehen. 6 Die Zeit hat über uns die flatternden Segel gewendet, sie aber suchen in uns die Unbeweglichkeit des Gestern, unsere und ihre eigenen schönen Traditionen. Wie vor Jahren den Vorbetern des Elends so schreit unsere schrille Stimme heute ihnen ins Ohr, das von brüderlichen Rufen vollgestopft ist, und aus unseren Augen leuchten gottlose Feuerzangen, und in unserer Brust hämmert anstelle eines guten Herzens irgendein ruheloser Teufel. Und wenn dies so ist, uns niemand versteht und ein jeder uns auch für verrückt hält, stellt dennoch die Beschimpfung darüber, daß wir in großartiger Weise frei geworden sind, das größte Lob für uns dar. Denn wir haben es vermocht, einzig um unsertwillen, um unser Leben willen uns selbst in einer Form dort neuzuschaffen, wo sich alles anschickt, auf den Lorbeeren seiner Ohnmacht auszuruhen. 1922

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Aufruf an die ungariscbspracbigen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter Der Moskauer Proletkult hat im Einverständnis mit der III. Internationale bereits im Laufe des Jahres 1921 die Notwendigkeit der Schaffung einer internationalen Proletkult-Internationale aufgeworfen.1 Dieser Plan kam jedoch infolge verschiedener Schwierigkeiten nicht zur Ausführung. Auf Anregung des deutschen proletarischen Kulturkartells,2 des tschechischen Proletkults und der Egyseg wurde erneut eine Bewegung in Gang gesetzt, um die Schaffung dieser internationalen proletarischen Kulturorganisation vorzubereiten. Die diesbezüglichen Arbeiten haben bereits begonnen. Was ist der P r o l e t k u l t ? E i n e K a m p f - und eine A u f b a u o r g a n i s a t i o n . Eine Kampforganisation insofern, als von der Wissenschaft bis zur Kunst alle kulturellen Äußerungen, a l l e M i t t e l in d e n D i e n s t d e r p o l i t i s c h e n A g i t a t i o n s - u n d B i l d u n g s a r b e i t g e s t e l l t w e r d e n . Sie kämpft also mit den Mitteln der Kultur im Klassenkampf. Eine Aufbauorganisation, da sie alle kulturellen Werte ihres eigenständigen Wertes zwar beraubt, sie zu einem Kampfmittel „degradiert", z u g l e i c h j e n e s neue s c h ö p f e r i s c h e P r i n z i p und jenen s c h ö p f e r i s c h e n I n h a l t f i n d e t , mit demsie i n n e r h a l b der D i k t a t u r eine auch über den kämpferischen Abschnitt hinaus gültige proletarischeWissenschaftundKunstaufbauenkann. SolangedasProletariateineunterdrückteKlasse i s t , l i e g t der S c h w e r p u n k t d e r T ä t i g k e i t d e s P r o l e t k u l t s nicht auf der A u f b a u a r b e i t , s o n d e r n auf der k ä m p f e r i s c h e n , der A g i t a t i o n s a r b e i t . Der Proletkult stützt sich in erster Linie auf die kulturschaffenden Arbeiter. Und diese müssen verstehen - dies zu begreifen, ist bei uns in der sterilen Luft der Emigration, von ein paar Ausnahmen abgesehen, besonders schwer - d a ß j e d e r e r n s t h a f t e K o m m u n i s t in e r s t e r L i n i e K o m m u n i s t u n d e r s t d a n n Wissenschaftler, Künstler oder ein anderes 156

Handwerk Ausführender ist. D a ß ihre gesamten ihnen von der N a t u r g e g e b e n e n e n und erworbenen Fähigkeiten heute nichts anderesbedeuten können als W e r k z e u g e mit p o t e n z i e r t e r K r a f t für den K l a s s e n k a m p f . Im folgenden erhebt sich die Frage, worin die Rolle der in der Emigration lebenden ungarischen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter im Zusammenhang mit dieser internationalen Organisationstätigkeit und in Verbindung mit der Entwicklung der ungarischsprachigen politischen Agitation und proletarischen Kultur besteht. Der Vorschlag der Egyseg dazu ist: 1. Ein Proletkult kann nur innerhalb des Rahmens der Kommunistischen Partei, nur unter ihrer Leitung und Kontrolle zustande kommen. Eine ungarische Kommunistische Partei in der Emigration gibt es jedoch nicht,3 bzw. die ungarische kommunistische Emigration ist als solche aufgehoben worden. Infolge des Beschlusses der III. Internationale soll jeder Kommunist in die entsprechende Kommunistische Partei seines Aufenthaltsortes eintreten. Im Hinblick darauf, daß es keine Kommunistische Partei der ungarischen Emigranten gibt, kann auch der Proletkult in der Emigration nicht gebildet werden. 2. Die in der Emigration lebenden ungarischen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter sind verpflichet, im Proletkult jenes Landes zu arbeiten, dessen Kommunistischer Partei sie angehören. Insofern die betreffende Kommunistische Partei ihren Proletkult noch nicht geschaffen hat, ist es ihre Aufgabe, einen solchen zu organisieren bzw. ihn anzuregen. 3. Die bewußte Vorbereitung des Proletkults in Ungarn, die Sprachschwierigkeiten bei der in der Emigration geleisteten Arbeit und die ungarische Sprachgemeinschaft erfordern außer der Zugehörigkeit zu den bestehenden Proletkult-Organisationen die Schaffung einer speziellen Organisation, die die ungarischen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter zusammenfaßt. Diese Organisation würde einstweilen nicht als offizieller ungarischer Proletkult arbeiten, hingegen würde jede ihrer Tätigkeiten prinzipiell vom Arbeitsprogramm des Proletkults gelenkt werden. Von den dem Proletkult obliegenden Aufgaben würde sie soviel wahrnehmen, wie es die durch die Emigration auferlegten Schranken erlauben. Die Organisation soll die Gesamtheit der in der Emigration lebenden ungarischsprachigen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter umfassen 157

(Theoretiker, Künstler usw.) und würde das aus ihnen gewählte E x e kutivkomitee leiten. D i e Organisation baut auf der strengen Einhaltung der politischen und organisatorischen Prinzipien der I I I . Internationale auf. Die so gebildete Organisation der kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter würde den Keim des künftigen und sich in der ungarischen Arbeiterbewegung weiterentwickelnden ungarischen Proletkults bilden. 4 4. Für die Bildung der „Organisation der ungarischen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter" müssen die vorbereitenden Arbeiten unverzüglich in Angriff genommen werden. Zu diesem Ziel ist in Berlin zu einem später festzusetzenden Zeitpunkt eine Konferenz einzuberufen, die die Schaffung der Organisation vorbereitet. 5 5. Als Tagesordnung der Konferenz schlagen wir vor: a) Kultur und Klassenkampf (Klärung prinzipieller Fragen). b) D i e Aufgaben der ungarischen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter in der Emigration und die bewußte Vorbereitung auf den Proletkult in Ungarn. c) Organisatorische Angelegenheiten. d) Presse. e) D i e kollektive Ausarbeitung eines Thesen-Planes, der für die Organisierung der Proletkult-Internationale notwendig und an die I I I . Internationale einzureichen ist. 6. W i r rufen alle wo auch immer in der Emigration lebenden ungarischen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter oder Gruppen (Rußland, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Tschechoslowakei, Italien usw.) und alle jene ungarischen Genossen auf, die in den Proletkulten der verschiedenen Länder oder in anderen Arbeiter-Kultur-Organisationen Erfahrungen gesammelt haben, sich auf dieser Konferenz, ob durch einen Delegierten oder (im Hinblick auf die großen Reisekosten) schriftlich, in Form einer prinzipiellen Erklärung, vertreten zu lassen. Stimmrecht erhalten auf der Konferenz nur die tatsächlich in die Kommunistischen Parteien aufgenommenen Mitglieder. Dieselben Genossen bitten wir auch, uns unverzüglich ihre Adressen mitzuteilen. 7. Solange die Organisation der ungarischsprachigen kommunistischen kulturschaffenden Arbeiter noch nicht gebildet und der endgültige Thesen-Plan noch nicht ausgearbeitet worden ist, der ihre eigene Arbeit regelt und auch für die Proletkult-Internationale zu erstellen ist, solange empfehlen wir als einstweilige Grundlage der Organisation das auf der folgenden Seite veröffentlichte Grundsatz- und Ar158

beitsprogramm: Gesichtspunkte zur Schaffung einer internationalen proletarischen Kulturorganisation.6 8. Wir rufen alle interessierten Genossen auf, sich noch vor Durchführung der Konferenz zu dem obigen Vorschlag als Ganzes oder zu einzelnen Teilen brieflich oder im Rahmen eines Artikels zu äußern. Redaktionsausschuß der Egyseg 1923

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Gesichtspunkte %ur Schaffung einer internationalen proletarischen Kulturorganisation (

Proletkult-InternationaleJ1 I. Teil

1. Unmittelbare Aufgabe des Proletariats ist es: sich selbst zur herrschenden Klasse zu erheben; nach Eroberung und Zerschlagung des bürgerlichen Staates seinen eigenen Klassenstaat zu errichten, die kapitalistische Produktionsordnung jedoch mit der Enteignung der Ausbeuter abzuschaffen. Seine Aufgabe ist es: mit der Schaffung der Diktatur des Proletariats und ihrer richtigen Lenkung den Weg zum Übergang in die kommunistische Gesellschaft zu sichern. Die gesellschaftsbildende Rolle des Proletariats erschöpft sich jedoch nicht allein in der Errichtung einer neuen Wirtschaftsordnung. Auf dieser neuen wirtschaftlichen Grundlage schafft es zugleich eine neue Kultur. Diese neue Kultur wird, wie alle bisherigen, letztendlich das Gefüge der wirtschaftlichen Grundlage bestimmen. Wie über der Wirtschaftsordnung des Feudalismus eine feudalistische Klassenkultur entstand, so entsprach der kapitalistischen Warenproduktionsweise eben eine bürgerliche Klassenkultur: Ebenso ist die Kultur des Proletariats, das sich zur herrschenden Klasse erhoben hat, in der Diktatur des Proletariats eine Klassenkultur, eine proletarische Kultur. Diese verliert ihren Klassencharakter erst entsprechend den Etappen des Übergangs in die kommunistische Gesellschaft und bildet sich zu einer wirklich klassenfreien kollektiven Kultur um. 159

beitsprogramm: Gesichtspunkte zur Schaffung einer internationalen proletarischen Kulturorganisation.6 8. Wir rufen alle interessierten Genossen auf, sich noch vor Durchführung der Konferenz zu dem obigen Vorschlag als Ganzes oder zu einzelnen Teilen brieflich oder im Rahmen eines Artikels zu äußern. Redaktionsausschuß der Egyseg 1923

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Gesichtspunkte %ur Schaffung einer internationalen proletarischen Kulturorganisation (

Proletkult-InternationaleJ1 I. Teil

1. Unmittelbare Aufgabe des Proletariats ist es: sich selbst zur herrschenden Klasse zu erheben; nach Eroberung und Zerschlagung des bürgerlichen Staates seinen eigenen Klassenstaat zu errichten, die kapitalistische Produktionsordnung jedoch mit der Enteignung der Ausbeuter abzuschaffen. Seine Aufgabe ist es: mit der Schaffung der Diktatur des Proletariats und ihrer richtigen Lenkung den Weg zum Übergang in die kommunistische Gesellschaft zu sichern. Die gesellschaftsbildende Rolle des Proletariats erschöpft sich jedoch nicht allein in der Errichtung einer neuen Wirtschaftsordnung. Auf dieser neuen wirtschaftlichen Grundlage schafft es zugleich eine neue Kultur. Diese neue Kultur wird, wie alle bisherigen, letztendlich das Gefüge der wirtschaftlichen Grundlage bestimmen. Wie über der Wirtschaftsordnung des Feudalismus eine feudalistische Klassenkultur entstand, so entsprach der kapitalistischen Warenproduktionsweise eben eine bürgerliche Klassenkultur: Ebenso ist die Kultur des Proletariats, das sich zur herrschenden Klasse erhoben hat, in der Diktatur des Proletariats eine Klassenkultur, eine proletarische Kultur. Diese verliert ihren Klassencharakter erst entsprechend den Etappen des Übergangs in die kommunistische Gesellschaft und bildet sich zu einer wirklich klassenfreien kollektiven Kultur um. 159

2. Die Kultur des Proletariats ist also eine Klassenkultur. Diese Klassenkultur fällt dem Proletariat nach den Lehren der wissenschaftlichen kommunistischen Bewegung und den sowjetrussischen Erfahrungen nicht von selbst als fertiges Produkt in den Schoß, sondern sie entwickelt sich als Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses. Dieselben Erfahrungen beweisen auch, daß der Beginn der Herausbildung dieser Klassenkultur nicht mit der Schaffung der Diktatur des Proletariats angesetzt wird, sondern in die Vergangenheit des Proletariats und des Kapitalismus zurückreicht.2 Die heute bereits anzutreffenden und sich auch in unseren Tagen weiterentwickelnden Elemente der Klassenkultur des Proletariats sind: I. a) Der Marxismus, der historische Materialismus, so, wie ihn Marx uns überließ; b) die von Luxemburg, Lenin, Bucharin usw. auf den verschiedensten Gebieten ausgearbeiteten Teile des Marxismus. II. Die rein sachlichen, nicht ideologisierten und noch nicht zur bürgerlichen Ideologie geformten Elemente der bürgerlichen Kultur; a) der Wissenschaftsbestand der technischen Produktion (technologische Wissenschaften, Wissenschaft der Arbeitsorganisation); b) die Naturwissenschaften.3 III. Das im Klassenkampf erworbene und im Klassenmaßstab angehäufte, so bereits systematisierte wie noch nicht systematisierte gemeinsame Erfahrungsmaterial des Proletariats. Die gesamten theoretischen und praktischen Äußerungen des aktiven Klassenbewußtsein. Systematisiert: a) Die Erfahrungen des täglichen Kampfes gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und die politische Unterdrückung, die Methode des Kampfes und seine sich ständig verändernden Mittel und seine Taktik; b) die sich im Klassenkampf bereits herausgebildeten und so festzustellenden Merkmale der Klassenideologie, zum Beispiel: die Verachtung des Privateigentums, der Haß gegenüber der bürgerlichen Ordnung, Organisiertheit und Disziplin im Kampf und im Produktionsprozeß, der Klassenmensch gegenüber der bürgerlichen Persönlichkeit; c) jene zahlenmäßig geringe, wenn auch noch so schwache und junge, aber dennoch lebende proletarische Kunst, die den gegebenen Entwicklungsstand der Klassenideologie widerspiegelt: zum Beispiel das Büxensteinlied,4 ein Gedicht, des zu fünfzehn Jahren verurteilten Terroristen I. G. über Otto Korvin, 5 der Proletarische Trauermarsch, Sprech-Chöre, Agitationszeichnungen und -plakate usw. Nicht systematisierte Klassenerfahrungen als Elemente der prole160

tarischen Kultur: die in der gemeinsamen wirtschaftlichen Situation, in der gemeinsamen Unterdrückung und im gemeinsamen Kampf herausgebildeten spezifischen proletarischen menschlichen Verhältnisse und Gewohnheiten, der Klassencharakter des Proletariers, seine Sympathie und Antipathie, seine Freude und sein Leid, sein Verhältnis zur Familie und zur Natur, sein kollektiv geprägtes Verhalten zu den Dingen, die ganze Gefühls- und Gedankenwelt des proletarischen Klassenmenschen, kurz, die aktive Geistigkeit der Klasse. D i e auch heute bereits anzutreffenden Elemente der proletarischen Kultur sind also: I. D i e wissenschaftlich-marxistische Tätigkeit bedeutender, führender Theoretiker und Praktiker des Proletariats. Hier sind die Autoren Individuen, „Theoretiker", ihre Tätigkeit ist theoretisch, abstrakt, auch wenn sie sich auf Klassenerfahrungen stützen. I I . D i e rein sachlichen, sich auf Produktionsprozesse und Naturerscheinungen beziehenden Teile der bürgerlichen Kultur. Hier sind die Autoren Individuen und verkörpern die kapitalistische Produktionsweise. I I I . D i e gesamten theoretischen und praktischen Äußerungen des sich im Klassenkampf herausgebildeten, aktiven Klassenbewußtseins. Hier ist der Autor die Klasse selbst, die mit ihrem kämpferischen Leben und mit der Systematisierung der hier erworbenen Erfahrungen, mit der Gefühls- und Gedankenwelt kollektiver Autor ihrer eigenen Massenkultur ist. D i e proletarische Klassenkultur kann endgültig nur ein Werk des sich zur herrschenden Klasse erhebenden Proletariats sein. D a s Proletariat organisiert sich im Klassenkampf zur Klasse, und hier reift es zur Erfüllung seiner Klassenaufgabe. In diesem Kampf schafft es seine besten Kampforganisationen, hier entwickelt es sein Klassenbewußtsein und jene Wissenschaft, die es befähigt, seinen Kampf zu lenken. Doch ebenso wie die vom Proletariat, als der unterdrückten Klasse, geschaffenen Kampforganisationen (Partei, Betriebsräte, G e werkschaft) die Keime für die konstitutionelle Ordnung des künftigen proletarischen Staates bilden, ebenso ist jene Kultur, die es als unterdrückte Klasse schafft, der Kern, die embryonale Form und die Grundlage für die künftige proletarische Kultur. 3. Das Proletariat schafft sich also seine eigene Klassenkultur bereits als unterdrückte Klasse. Dieser Aufbau wirkt sich jedoch nicht nur positiv, sondern auch negativ aus. E s schafft sich nicht nur seine eigene Kultur, sondern zerstört auch gleichzeitig die bürgerliche Kultur.

11 Befunde

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In dem heutigen Abschnitt der bürgerlichen Gesellschaft hat der Klassenkampf alle Äußerungsformen aufgesogen. Der Klassenkampf, der auf dem wirtschaftlichen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat basiert, hat sich vertieft und ausgeweitet. Er ist vom tagespolitischen und wirtschaftlichen Kampf der Massen in einen Kampf der Ideen - in dem die Interessen der beiden Klassen zum Ausdruck kommen - , in den Kampf der Methoden, der wissenschaftlichen Stellungnahmen und Strömungen umgeschlagen. Der Klassenkampf wird mit ganzer Schärfe geführt, auf dem Gebiet der Kultur ebenso wie mit den Mitteln der Kultur. Ein Ergebnis davon ist, daß er den Zerfallsprozeß der ohnehin schon locker gefügten Kultur der bankrott gegangenen kapitalistischen Produktionsweise beschleunigt; zum anderen die durch Schule und Presse in das Proletariat eingeimpften Elemente bürgerlicher Ideologie schwächt und daß er jene rückwirkende Kraft der bürgerlichen Ideologie vernichtet, die die sich in einer entgegengesetzten Klassenlage befindenden Massen daran hindern kann, ihre eigenen Interessen zu erkennen. Ein drittes Ergebnis ist indessen, daß in diesem Kampf die revolutionäre Kritik an der bürgerlichen Kultur geschaffen wird. In diesem Prozeß scheiden aus der in Stücke zerfallenden bürgerlichen Kultur jene Werte aus, die frei vom Klassengehalt und unter dem Gesichtspunkt der weiteren Entwicklung der Produktionskräfte und der Produktionsordnung des Proletariats wichtig sind und somit auch in die proletarische Kultur hinübergerettet werden. 4. Das Proletariat nimmt organisiert am Klassenkampf teil. Es schafft, den verschiedenen Gebieten des Klassenkampfes entsprechend, Organisationen, um ihn durch sie zu einem Massenkampf zu entwickeln und ihn bewußt zu lenken. Wie die Gewerkschaften Kampforganisationen gegen die wirtschaftliche Ausbeutung sind und Konsumgenossenschaften zum Schutz gegen den kapitalistischen Wucher geschaffen wurden, wünscht sich auch die proletarische Kultur eine ebensolche Organisation. Diese ist der Proletkult. Die erste historische Form des Proletkults ist zur Zeit der bolschewistischen Oktoberrevolution 1917 in Rußland entstanden. 6 Seine Aufgabe und sein Programm ist es, alle spontanen Aktivitäten des Proletariats, die den Aufbau einer proletarischen Kultur betreffen, seine Kunst und Literatur zusammenzufassen, zu organisieren und weiterzuentwickeln. Sein Haupttätigkeitsgebiet sind: a) die künstlerischen Werkstätten, wo alle über eine künstlerische Neigung verfügenden Proletarier eine Ausbildung erhalten können, b) die Klubs, wo die Proletarier nach 162

der Arbeit zusammenkommen, wo sie improvisieren, Dramen und Konzerte arrangieren, und wo sich eine neue, menschlichere Form der gesellschaftlichen Kontakte entfaltet. 7 Zwischen der Situation des Proletariats in und außerhalb Rußlands besteht ein großer Unterschied. Das eine führt seinen Klassenkampf von oben, das andere von unten. Diesem grundlegenden Unterschied zufolge stellt sich die Aufgabe des Proletkults des Proletariats außerhalb Rußlands zum Teil anders dar als die des Proletkults in Rußland, und so verfolgen beide auch zum Teil ein unterschiedliches Programm. Infolge der mächtigen, alle Stufen umfassenden Kulturund Schulorganisation des Volkskommissariats für Unterrichtswesen kann dem Proletkult in Rußland nur eine Teilrolle zukommen. In jenen Ländern hingegen, wo das Proletariat noch eine unterdrückte Klasse ist - dort ist der Proletkult das einzige Organ der proletarischen Kultur. In solchen Ländern ist der Proletkult nicht nur eine Organisation des Proletariats, sondern er umfaßt alle kulturellen Aktivitäten. Während der Proletkult in Rußland organisatorisch dem Volkskommissariat für Unterrichtswesen zugeordnet und der Abteilung „Außerschulische Bildung" unterstellt ist, gehört er in den anderen Ländern zur Avantgarde der Klasse, zur Kommunistischen Partei, und folgt ihren Richtlinien. 5. In den Ländern, wo das Proletariat noch als unterdrückte Klasse seinen eigenen Klassenkampf führt, ergeben sich Rolle und Aufgabe des Proletkults aus den vorherigen prinzipiellen Erörterungen: a) Er ist die Organisation der proletarischen Kulturschaffenden. Die Organisation jener, deren Tätigkeit - sei es durch originale Schöpfungen, sei es durch die Verbreitung vorhandener Werke - in die Richtung der Entwicklung der proletarischen Kultur fällt. Zu der ersten Gruppe gehören die Marxisten, Theoretiker, schöpferischen Künstler (Schriftsteller, Musiker, Maler usw.) und die Erfinder. Zur letzteren gehören die Vortragskünstler und die Mitglieder der Sprechchöre und Musikkapellen. b) Er vereint alle jene locker gefügten Organisationen, die Kraft einer spontanen Initiative des Proletariats zur Befriedigung seiner kulturellen Ansprüche entstanden sind wie zum Beispiel Sprechchöre, proletarische Musik- und Sängervereinigungen sowie Freie Schulen und Arbeiteruniversitäten, die dem wissenschaftlichen Unterricht dienen. Ziel des Proletkults ist es, durch die Unifizierung der proletarischen Kulturschaffenden und kulturellen Organisationen die organische 163

Entwicklung der proletarischen Kultur zu gewährleisten und diese methodisch bewußt zu lenken, des weiteren die in den Kulturschaffenden wie in den Organisationen vorhandene lebendige Kraft durch die Lenkung der Kommunistischen Partei in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen. 6. Seine Aufgaben sind im einzelnen: Gruppe I.: Die theoretische Tätigkeit: 1. Lehre und Verbreitung des Marxismus in seiner ursprünglichen wie ausgebauten Form. Die Ausübung der wissenschaftlichen kommunistischen Propaganda durch Seminare und planmäßige Vortragsreihen. 2. Mit der Organisierung und Arbeitsteilung der kommunistischen wissenschaftlichen schöpferischen Kräfte ist der Ausbau des Marxismus auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Erscheinungen zu gewährleisten; unter besonderer Berücksichtigung anderer Erscheinungen der Kultur und des Überbaus. 3. Das im Klassenkampf angehäufte Erfahrungsmaterial des Proletariats ist durch die wissenschaftliche Methode des Marxismus im Interesse der Herausgestaltung einer dem Proletariat entsprechenden Weltanschauung zu systematisieren. 4. Durch Organisation und methodische Arbeitsteilung der proletarischen Kulturschaffenden ist eine proletarische Enzyklopädie zu erstellen. Die Zusammenfassung aller Wissensgebiete hat auf der heutigen Stufe der „Objektivität" in ein einheitliches Wissenschaftssystem zu erfolgen. 5. Unterstützung der Tätigkeit der proletarischen Erfinder dergestalt, daß das Nutzungsrecht für die Erfindungen allein Sowjetrußland zukommt. 6. Mit der aktiven Teilnahme am Klassenkampf vertritt der Proletkult die Klasseninteressen auf dem Gebiet der Kultur, auch in dem mit den Mitteln der Kultur geführten Klassenkampf. 7. Entlarvung des Klassengehalts der bürgerlichen Wissenschaft und Kunst. 8. Schaffung der Kritik der bürgerlichen Kultur: die Aussonderung der „objektiven" Werte der bürgerlichen Kultur. 9. Ausarbeitung der Richtlinien der proletarischen Kultur und Schulpolitik. Gruppe II: Auf dem Gebiet der Kunst: 1. Mit der Organisierung der am Klassenkampf teilnehmenden proletarischen Künstler ist eine Kunst zu schaffen, die die proletarische 164

Ideologie, die proletarische Gefühls- und Gedankenwelt zum Ausdruck bringt. Eine Kunst, die wirklich aus dem Geist der Massen entstanden ist, um das zum Bewußtsein erwachte Kollektiv wahrnehmbar zu machen. Eine proletarische Kunst. 8 2. Die proletarische Kunst drückt nicht nur das Leben und die Massengeistigkeit des Proletariats aus, sondern sie schafft damit auch zugleich ein Kampfmittel. Eine neue und reiche Agitationsmöglichkeit: eine demonstrative, sinnfällige Form der Klassenbestrebungen, Erfahrungen und Losungen. So wird die proletarische Kunst nicht nur eine wichtige Manifestation des feiernden, sondern auch des kämpferischen Proletariats. Es ist nicht nur die Aufgabe, eine solche Kunst zu schaffen, in der das Proletariat seinen dauerhaften Bestand betrachtet, sondern auch eine Kunst, die in den täglichen Verlauf des Klassenkampfes eingreift, als kommunistische Unterrichts- und Propagandaarbeit und als eine Form der politischen Agitation. 3. Auch sind jene Künstler in den Proletkult einzubeziehen und zu unterstützen, die mit dem Bürgertum gebrochen und sich dem Proletariat angeschlossen haben. Ein Teil von ihnen hat sich dadurch, daß er am Klassenkampf tatsächlich teilgenommen und alle politischen Konsequenzen gezogen hat, auch innerlich gewandelt. So sind ihre Werke in der Anfangsphase der proletarischen Kunst von positivem Wert. Ihre Kunst ist keine rein proletarische, sie ist nur eine Agitationskunst. Sie bildet den Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Kunst. 4. Der andere Teil der Künstler, die mit dem Bürgertum gebrochen und sich an die Seite des Proletariats gestellt haben, waren jedoch, obwohl sie sich danach sehnten, an der proletarischen Revolution teilzunehmen, nicht fähig, ihre aus der Klassensituation resultierenden anarchischen Eigenschaften abzulegen. Ihre Tätigkeit erschöpft sich nicht im Aufbau der proletarischen Ideologie, sondern eher in der Zerstörung der bürgerlichen Ideologie und der bürgerlichen Kunstformen. Ihre Kunst ist eine Kunst, die die bürgerliche Ideologie zersetzt. Infolge ihrer kämpferischen Bedeutung ist es Aufgabe des Proletkults, auch diese zu organisieren. 9 5. Desweiteren sind auch jene proletarischen Künstler (Konstruktivisten) zu organisieren, deren Werke nicht in einem so unmittelbaren Verhältnis zum Proletariat stehen wie ein Bild, Gedicht oder Drama, die die proletarische Ideologie thematisch zum Ausdruck bringen; dennoch bauen sie mit ihrer abstrakten Arbeit einen Teil der proletarischen Kunst auf. Die abstrakten Färb-, Form-, Material- und

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Verhältnisprobleme In ihrem Handwerk stellen den Weg zum neuen ordnenden Prinzip der bildenden Kunst dar, zu deren neuer Konstruktion, die mit der inneren Struktur der proletarischen Gesellschaft übereinstimmt, zu einem neuen Stil. Ihre Tätigkeit führt über die rein formelle, konstruktionelle Analyse der bildenden Kunst zu einer neuen Architektur. 10 6. Aufgabe des Proletkults ist es, mit der Organisierung der oben bezeichneten künstlerischen Richtungen und ihrer Werke die Entwicklung der proletarischen Kunst zu lenken. Seine Aufgabe ist es, die zu jeder Zeit gegebene proletarische Kunst dem Proletariat durch Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen, Kino und Massenaufführungen lebendig und natürlich nahezubringen. D i e proletarische Kunst ist organisch in die Gestaltung der proletarischen Feiertage (1. Mai) mit einzubeziehen, das Proletariat aktiv an der Schaffung seiner eigenen Kunst zu beteiligen und in ihm durch künstlerische Veranstaltungen im Massenmaßstab die kollektive Kritik zu entwickeln. 11 Gruppe III: Presse: 1. Aufgabe des Proletkults ist es, landesweise eine zentrale Zeitung und später Fachzeitungen herauszugeben, die sich um das Zentralorgan gruppieren und den einzelnen Arbeitsgebieten des Proletkults entsprechen. 2. Zu verlegen sind literarische, künstlerische und wissenschaftliche Bücher, die in das Arbeitsgebiet des Proletkults fallen. 3. Seine Aufgabe ist es, die offiziellen Tages- oder Wochenzeitungen der Kommunistischen Partei mit wissenschaftlichem, polemischem oder literarischem Material zu versehen, das sich auf die proletarische Kultur bezieht, und so jene Anarchie einzustellen, daß in den offiziellen Zeitungen der Partei solche Mitteilungen zur proletarischen Kultur erscheinen, die den Interessen des Proletariats entgegengesetzt sind. 4. Die Partei ist der Kopf der Klasse. Ihre Mission ist es, die Klasse nicht nur zur Machtergreifung zu organisieren, sondern auch auf die vielseitigen Aufgaben des Aufbaus des proletarischen Staates vorzubereiten. Pflicht der Partei ist es bereits jetzt, die im Proletariat schlummernden schöpferischen Kräfte zutage zu fördern, sie bewußt zu machen und aus ihnen die für den Aufbau des proletarischen Staates notwendigen führenden Arbeiter heranzubilden. Aufgabe der Partei ist es, das Proletariat bereits als unterdrückte Klasse auf allen Gebieten zur Selbständigkeit zu erziehen. Und hier kann man nicht

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die Erziehung zur politischen Selbständigkeit von der bewußten Lenkung in der eigenen Kultur trennen, da der Klassenkampf die Einheit von Aktion und Theorie ist. Das Proletariat zur politischen Machtergreifung durch Tagesteilaktionen zu organisieren, ist das Wichtigste und Vorrangigste. Im Vergleich dazu ist die Frage der proletarischen Kultur heute wirklich von geringerer Bedeutung. Unabhängig davon, wie niedrig die proletarische Kultur auch immer auf der Wertskala des Wichtigen eingestuft wird, sie stellt dennoch eine notwendige, nicht zu unterdrückende Aktivität des Proletariats dar und bedarf als solche einer größeren Fürsorge als bisher. Die Erfahrungen der russischen und besonders der ungarischen Räterepublik beweisen, daß dann, wenn eine einheitliche Organisation der proletarischen Kulturschaffenden fehlt, die Sabotage der bürgerlichen Erfinder und bürgerlichen Wissenschaftler oder, was noch schlimmer ist, der sich mit diesen einnistende bürgerliche Geist den proletarischen Staat in Krisen stürzen kann. Eine andere große Bedeutung des Proletkults ist, daß mit der Organisierung der proletarischen Kulturschaffenden und mit ihrer Teilnahme am Klassenkampf - innerhalb der Organisation - der Gegensatz zwischen den geistigen und physischen Arbeitern aufgehoben werden kann. Die Bedeutung des Proletkults ist nicht nur so fernliegend. Sein Wert ist vom Gesichtspunkt der Kommunistischen Partei sogar ganz unmittelbar. Der Proletkult bedeutet eine neue und vielfältige Form der kommunistischen Propaganda, eine neue Methode, sich den Massen anzunähern, die außerhalb des Einflusses der Partei stehen, er stellt die Bereicherung des kommunistischen Kampfes durch ein neues Terrain dar. Letzten Endes bedeutet er durch die Beeinflussung und Lenkung größerer Proletariermassen einen neuen Sieg und eine neue Stärkung der Kommunistischen Partei. II. Teil Internationale V e r b i n d u n g 1. Die proletarische Kultur ist eine internationale Kultur, und als solche kann sie nicht das Werk des Proletariats eines Landes, sondern nur das des internationalen Proletariats sein. 2. Die Internationale Organisation des Proletkults der einzelnen Länder ist die „Proletkult-Internationale". 167

3. Wie der Proletkult eines Landes organisatorisch zu der Kommunistischen Partei des betreffenden Landes gehört, ihr untergeordnet ist und unter ihrer Aufsicht und Lenkung steht, so gehört die „Proletkult-Internationale" im internationalen Maßstab zur I I I . Internationale und verfügt als deren Sektion wie zum Beispiel die Profintern 1 2 und die Jugend-Internationale über eine verhältnismäßige Autonomie. 4. D i e Aufgaben der Proletkult-Internationale" sind: a) Das Produktionsmaterial der proletarischen Kultur im internationalen Maßstab zu organisieren, zu verbreiten und die Entwicklung im internationalen Maßstab zu regeln. b) Die Schaffung eines internationalen Büros zwecks Sammlung von Materialien, die sich auf die proletarische Kultur beziehen (wissenschaftliche und literarische Bücher, Plakate, Reproduktionen usw.). c) D e r Aufbau des Marxismus insgesamt wie auf Teilgebieten der Kultur auf der Grundlage der gesammelten internationalen Produktion der proletarischen Kultur. d) Die Herausgabe eines internationalen Zentralorgans zur systematischen Aufarbeitung der Probleme der proletarischen Kultur. e) D i e Publikation einer internationalen Zeitung, die das tägliche und aktuelle Produktionsmaterial der sich ständig entwickelnden proletarischen Kultur allen kommunistischen Tageszeitungen der Welt vermittelt. f) D i e Organisierung internationaler Ausstellungen bzw. Wanderausstellungen. g) Spezielle Pflichten der „Proletkult-Internationale" bestehen gegenüber Rußland. Das russische Proletariat ist das erste, das sich zur herrschenden Klasse erhoben hat, und als solches wußte es fünf Jahre hindurch seine Herrschaft zu sichern. Hier eröffnete sich dem Proletariat erstmals die Gelegenheit, neben der Unterstützung des proletarischen Staates seine eigene Kultur auszubauen. Hier erfolgte der erste historische Versuch, eine proletarische Schule und eine proletarische Kulturpolitik zu verwirklichen. Aufgabe der „ProletkultInternationale" ist es: erstens, die auf diesem Gebiet in Rußland gemachten Erfahrungen zu sammeln und aufzuarbeiten, zweitens, die Ergebnisse der in russischer Sprache bereits entwickelten proletarischen Kultur unter dem internationalen Proletariat zu nutzen. 1923

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25 LAJOS KASSÄK

Arbeiterbewegung und Kunst Wenn wir die gesellschaftliche Rolle der Kunst und die Notwendigkeit, sie in die moderne Arbeiterbewegung einzubeziehen, erkannt haben, folgt daraus etwa, daß die Absicht jener Politiker, die anstelle der neuen künstlerischen Bestrebungen die klassische Kunst unter die Arbeiter tragen wollen, richtig sei? Die klassische Kunst ist das Produkt einer weltanschaulich einheitlichen Epoche, und so drängt sich leicht der Gedanke auf, daß sie ohne weiteres für das Proletariat mit Beschlag belegt werden könne, das heute ebenfalls die Schaffung einer kollektiven Lebensform vorbereitet. Aber lassen wir das Spiel mit Worten. Die Entwicklung des sozialistischen Gedankens von der Utopie zur Wissenschaft erbrachte uns den Beweis, daß sich das Ideal der sozialistischen Gemeinschaft in seinem Wesen unverwechselbar von dem Urkommunismus des Christentums unterscheidet. Die christliche Weltanschauung symbolisierte den Dienst Gottes und die Sehnsucht des Menschen, der das irdische Leben verachtet, nach dem himmlischen Paradies, während die sozialistische Weltanschauung auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen des rationalen Geistes basiert und bestrebt ist, den Menschen, der den Dingen der Welt ausgeliefert ist, mit Hilfe der Wissenschaft, der Kunst und Politik zum Beherrscher der Erde zu machen. Sie verkündet also keine im Unendlichen angesiedelten Utopien, sondern praktische, vernünftige und zielstrebige Lebensmöglichkeiten, die bereits heute verwirklicht werden können. Es ist also schier unmöglich, daß die geistigen Bedürfnisse, die aus diesem Lebensanspruch und dieser Weltsicht resultieren, in der Kunst der utopischen christlichen Weltanschauung befriedigt werden können. Die Kunst ist nicht nur ein Anhängsel, sondern zugleich auch Repräsentant ihrer Zeit. In der Kunst nehmen die geistigen Kräfte der Menschheit plastische Gestalt an, als eine strenggenommen gesellschaftliche Erscheinung hat sie auf die Form der ganzen Gesellschaft Einfluß. Jene Individuen also, die ernsthaft daran denken, die klassische Kunst in die proletarische Bewegung hinüber zu verpflanzen, mögen den Sozialismus mit dem Verstand begriffen haben und nütz169

liehe wie rechtschaffene Aivninistratoren der Idee sein - in ihrer Gefühls- und Vorstellungswelt sind sie jedoch nicht mehr als humanistische Kleinbürger, die sich als Arbeiter dem Bürgertum angepaßt haben oder vom Bürgertum kommend, zur Arbeiterschaft tendieren: Sie besitzen zwar das einsichtige Streben, etwas Gutes zu tun, aber ihnen mangelt es an der für höherwertige Lebensformen erforderlichen fundamentalen Grundlage. Ein Sozialist, der unser irdisches Alltagsleben verändern will, kann seine künstlerische bzw. Gefühlswelt nicht im Dunstkreis gestriger Schönheitsideale befriedigen. Kunst ist Schöpfung, und unsere Kunst kann wie jede wirkliche Kunst nur so beschaffen sein, daß sie gemäß unseren Ansprüchen qualitativ Neues schafft. 1 Die klassische Kunst kann man heute nur noch nachempfinden und nachbilden; wenn wir jedoch auf dem Gebiet der Kunst nicht mehr zu schaffen vermögen, dann sind wir zweifellos Dilettanten und Epigonen und bleiben es auch in den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gesellschaft. Doch wir sehen, daß unsere neuen Dampfund Elektroeisenbahnen wie Agrarmaschinen, unsere Flugzeuge und Unterseeboote ganz anders geartet, nämlich besser und vollkommener als die früheren Wagen, Holzpflüge und Fähren sind. Wir sind also dazu fähig, praktischere und vollkommenere Schöpfungen zu vollbringen als unsere Vorfahren. Wie ist es dennoch möglich, daß derjenige, der die unterschiedlichen technischen Errungenschaften verschiedener Epochen erkennt, nicht auch die Notwendigkeit einsieht, daß verschiedene Epochen, d. h. verschiedene Geister, unterschiedliche künstlerische Produkte schaffen müssen. Wir Künstler sind als Spezialisten unseres Fachs verpflichtet, ein Wort für die neue Kunst einzulegen, und zwar hinsichtlich ihres universellen Kulturcharakters als auch für eine Bewegung, die mit den wirtschaftlichen und politischen Kämpfen des Proletariats zusammenfällt und das gleiche Ziel verfolgt. Aber aufgepaßt, denn diese sich als revolutionär bezeichnende künstlerische Bewegung schließt Auffassungen in mehrere Richtungen und mehrfache Möglichkeiten in sich ein. Abgesehen von jenem Teil der heutigen Künstlergeneration, der die Kunst lediglich unter dem Aspekt des Ästhetischen faßt, sich mit äußerer Formenverzierung begnügt und thematisch dabei verharrt, die von ihm gelesenen Bücher und bereits vorhandenen Kunstwerke inhaltlich zu variieren bzw. auszutauschen - können wir drei kämpferische Gruppen unterscheiden. Die Losungen dieser Gruppen lauten: 170

1. Proletarische Kunst! 2. D i e Kunst den Proletariern! 3. D i e Proletarier der Kunst! Das Ziel der drei Gruppen ist ein und dasselbe, doch sie unterscheiden sich grundsätzlich voneinander in der Wahl der Mittel, die zu diesem Ziel hinführen, und somit auch in ihren Arbeitsergebnissen. Ich bekenne mich zur dritten Gruppe. Denn ich halte die Kunst für den Ausdruck eines kollektiven Gedankens und einer kollektiven Gefühlswelt und möchte, daß sie ein Kulturgut von universeller B e deutung wird. D a ich das allgemeine geistige Niveau der breiten Massen kenne, halte ich es für unbestreitbar, daß diesen universellen Kulturwert ausschließlich die entwickeltsten Geister der Epoche aus sich heraus schaffen können. W e r diese Leistung mit der großen Masse realisieren will, der spekuliert entweder auf eine nahe Konjunktur oder ist ein unheilbarer, romantischer Verehrer des heiligen und göttlichen Volkes und somit kein Revolutionär im wissenschaftlichen Sinne des Wortes, sondern ein hysterischer Schwärmer. Bedenken wir, vom Proletariat Kunst zu verlangen, bedeutet dies mehr als nur eine billige Phrase oder gar böswillige Demagogie? Ich will damit nicht sagen, daß das Proletariat nicht Schöpfer von Kulturprodukten sein kann, sondern behaupte, daß das Proletariat als unterdrückte und ausgebeutete Klasse, als eine viele Millionen umfassende Masse von Individuen, die aus Erziehung, Schule und öffentlichem Leben verdrängt waren, gerade infolge ihrer mangelhaften Vorbildung und Kultur heute noch nicht in der Lage ist, den in ihr zum Selbstbewußtsein erwachten menschlichen Geist zu offenbaren. E i n Mensch, der gezwungen ist, täglich acht bis zehn Stunden am Waschtrog, an der automatischen Maschine oder in stickigen Büros mit körperlicher und geistiger Fronarbeit zu verbringen, ist müde und erschöpft und nicht in der Lage, neue Dinge zu schaffen. 2 Jede ernsthafte Arbeit, auch die Kunst, verlangt vom Menschen eine gewisse Vorbildung und aufopfernde Hingabe. Und wir wollen nicht vergessen, daß auch die Kunst Arbeit und keine Gabe von Gottesgnaden ist, nicht das Ergebnis dämonischer Besessenheit, sondern daß sie Gefühle und Gedanken von universeller Geltung aus unserem eigenen Geist zutage fördert und diese in vermittelnden Formen realisiert. Auch aus dem Proletariat gehen Begabungen hervor, die zur schöpferischen, künstlerischen Arbeit fähig sind und neue Wege eröffnen, doch ihre Kunst wäre von da an keine proletarische mehr, sondern eine universelle Kunst. E i n e Klasse kann in sich abgeschlossen, nur für sich allein 171

genausowenig Kunst schaffen, wie sie Wissenschaft und Technik zu schaffen vermag. So komisch es zum Beipiel wäre, von einer proletarischen Astronomie oder von einem proletarischen Pflug zu reden, ebenso seltsam ist es, von einer proletarischen Kunst zu sprechen. Es gibt keine Klassenkultur, davon legte die bürgerliche Klasse vor uns Zeugnis ab, und das Proletariat kann die Forderung nach einer Klassenstruktur nicht aufstellen, da es gerade gegen die Klasseneinteilung der Welt einen Kampf auf Leben und Tod führt. 3 Einen sentimentalen Dilettantismus aber brauchen wir auf keinen Fall. Würden wir die vom Proletariat bislang in der Kunst geleistete Arbeit überprüfen, so fänden sich darin nicht mehr als sentimentale Anklagen des Elends, einige politische Phrasen bzw. in klassischen Formen schlecht verfaßte Fronlieder. 4 Ihr Thema schöpfte diese Dichtung aus dem Alltag der armen Leute, ihre Form übernahm sie jedoch ohne weiteres von den sogenannten Kunstdichtern, und das Ergebnis ist nicht mehr als eine literarische Verwässerung des Lebens. Um aus der Sentimentalität des armen und unterdrückten Menschen herauszukommen, muß diese Masse in ihren Individuen und in ihrer Gesamtheit selbstbewußt und klassenbewußt werden. Der klassenbewußte Teil des Proletariats ist indessen nicht mehr darauf aus, sich in gedrechselt klingenden Reimen und vorsichtigen Jamben zu erproben. Er erkannte bereits die Bedeutung der Kultur und sucht, in anderen Lebensbereichen, auch in der Kunst einen allgemeinen menschlichen Wert. Jene Gruppe, die die Losung „Die Kunst den Proletariern!" herausgab, unterscheidet sich im Grunde kaum von der vorhergehenden. Wenn diese erkannt hatten, daß die Arbeiterschaft auf ihrem heutigen Kulturniveau und in ihrer großen Masse nicht in der Lage ist, Kunst zu produzieren, warum verstehen sie dann nicht, daß die gleiche Masse im allgemeinen auch außerstande ist, die Kunst zu rezipieren. Wenn also diese Künstler - vorausgesetzt daß sie es sind - den Massen tatsächlich etwas geben wollen, dann müssen sie ihre eigenen Möglichkeiten verleugnen sowie Inhalt und Form ihrer Aussage dem künstlich niedergehaltenen geistigen Niveau der Massen anpassen. Doch jedes Ding repräsentiert nur in der ausgereiften, durch keinerlei Sonderlösungen beschnittenen Gesamtheit seiner selbst einen schätzbaren Wert. Es leuchtet also ein, daß derjenige ein Höchstmaß an sozialer Arbeit leistet, der die in ihm vorhandenen kosmischen 172

Möglichkeiten in ihrer Fülle der Gesellschaft zur Verfügung stellt. 5 Wenn es sich um Kunst handelt, dann bedeutet die in Form und Inhalt vollkommenste Kunst eine zutiefst soziale Tat. Und dabei reden wir nicht von politischer Agitation und nicht von Pädagogik. Wir behaupten, daß diejenigen Künstler, die sich dem unentwickelten Geschmack und der Denkweise des Publikums anpassen, auf ihre eigene Leistungsfähigkeit verzichten und auf dem Gebiet der Kunst ihre soziale Bedeutung eingebüßt haben. Die von ihnen erstellten Arbeiten mögen augenblickliche Ergebnisse zeitigen und bei den Massen die für den Beginn einer Aktion erforderliche Stimmung auslösen, doch im Grunde wirken sie nicht an der generellen Umformung des Menschen, sondern lediglich an seiner momentanen Beeinflussung mit. Wir räumen ein, daß man vom Standpunkt der Entwicklung auch auf diesem Wege Nützliches verrichten kann, aber wir halten dies nicht für eine künstlerische, sondern für eine politische Tätigkeit. Und wir fügen hinzu: für eine nicht ganz ernsthafte politische Tätigkeit. Wir sind der Meinung, daß die Politik von Politikern gemacht werden soll, da wir weder einen Redner im Parlament noch einen Diskussionspartner am Verhandlungstisch oder auch nur einen Volksbeglücker auf dem Rednerfaß sahen, der seine politische Agitation oder Debatte in Reimen bzw. nach poetischen Rhythmen vorgetragen hätte. Falls sich jemand von ihnen in der Agitation versuchte, so würde ihn sein Auftraggeber - sei es die Masse oder eine bestimmte Parteileitung - als eine Figur, die ihre Mission aus den Augen verloren hat, bald aus seinem Vertrauen ausschließen. D a ß so etwas nicht vorkommt, zeugt von der Bewußtheit der politischen Bewegung. Doch gegenüber ihrer relativen Gradlinigkeit herrscht bei den Künstlern, die sich der Bewegung des Proletariats angeschlossen haben, ein völliges Durcheinander. Sie können nicht begreifen, daß ebenso wie in der Politik nicht die Anhäufung von Phrasen, sondern die vollzogenen Taten von Wert sind, gleichermaßen auch in der Kunst nur das Wert hat, was auf eigenem Gebiet zu Buche schlägt. In der Kunst gilt als Tat, was eine abgeschlossene und ausgeglichene Einheit darstellt sowie eine reale Form unserer Gefühls- und Gedankenwelt annimmt. Alles andere vermag nur eine gute oder weniger gute Propagierung einer von außen aufgegriffenen Sache, eines im voraus erteilten Themas zu sein, genauso wie die im Handelsbereich häufig vorkommenden Reklameverse oder -Zeichnungen. Wer aber denkt bei diesen Arbeiten an Kunst? Warum wollen also bestimmte Versemacher und Leute, die des Zeichnens kundig sind, ihre gelegentlichen 173

Aufrufe, die dem politischen oder wirtschaftlichen Programm dienen, den Massen als Kunst präsentieren? Das Räsonieren, die Massen würden nur dies verstehen, bedeutet vom Standpunkt der Kunst und1 als Bestätigung des eigenen Künstlertums rein gar nichts. Das Kapital von Marx wurde von der großen Masse ebenfalls nicht verstanden, und sie versteht es in Wirklichkeit heute noch nicht, doch verringert diese Tatsache keinesfalls den wissenschaftlichen Wert seiner Arbeit, und kein denkender Mensch zieht deshalb den sozialistischen Charakter von Marx in Zweifel. Als Marx seine Arbeit schrieb, hielt er nicht das Kulturniveau des Proletariats, sondern das Bild der bestehenden Welt für wichtig. Im Kampf gegen die herrschenden Kräfte des Feindes mobilisierte er die bestentwickelten Kräfte. Nur so konnte er die allgemeine Wahrheit der arbeitenden Menschheit gegenüber der Klassenwahrheit der Ausbeuter beweisen. E r begann und setzte den Kampf gegen die auf Zahlen und ideologischen Grundlagen basierenden Einrichtungen des Feindes fort, und zwar nicht mit ornamentaler Romantik, sondern mit unwiderlegbaren Zahlen und wissenschaftlichen Feststellungen. Oder hat jemand je einen Heerführer gesehen, der Kanonen durch Beschwören zum Böllern oder zum Schweigen hätte bringen wollen? Einen solchen Wunderkäfer hat noch niemand gesehen. Diesen gibt es lediglich unter den Künstlern, die zwischen den Klassen der heutigen Zeit hin- und herpendeln und ihre Berufung nicht erkennen. Ob sie Narren oder Heilige sind, scheint unwichtig. Tatsache ist, daß vom Standpunkt der Arbeiterbewegung diejenigen nicht ernst genommen werden können, die mit Pinsel und Feder wie mit Kanonen und Maschinengewehren gegen tatsächliche Kanonen und Maschinengewehre kämpfen wollen. Diese Menschen haben ihre eigenen Möglichkeiten aufgegeben und die von ihnen zu erwartenden sozialen Taten nicht vollbracht, sie haben so im Endergebnis, obwohl sie dies nicht wollten, das fälschlicherweise vergötterte Volk betrogen. 1925

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26 ANDOR RfiZ

Der Entwicklungsweg der revolutionären Literatur in Ungarn und in der Emigration W i e eng sich das Verhältnis zwischen untergehender bzw. aufsteigender Klasse und ihrer künstlerischen Produktion gestaltet, das ist heute nicht mehr nur eine theoretische, sondern zum großen T e i l auch eine Frage der Erfahrung. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verlief und verläuft vor unseren Augen - parallel zum historischen Untergang der Bourgeoisie - der Niedergang der bürgerlichen Literatur, während sich zur gleichen Zeit die proletarische Literatur langsam entwickelte bzw. sich von der bürgerlichen nach und nach trennte. Mit dem Bankrott der bürgerlichen Produktionsordnung ging auch das persönliche Leben des Bürgertums bankrott. Im übrigen war das ohnehin niemals einheitliche persönliche Leben des Bürgertums durch tausende und abertausende tatsächlicher und eingebildeter K o n f l i k t e zerrissen. E b e n s o verhält es sich mit seiner Literatur, die die auf die bürgerlichen Produktionsverhältnisse aufgebaute Klassenlage des B ü r gertums, dessen persönliches Leben und Probleme zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig mit dem Verfall der bürgerlichen Literatur entwickelt sich die Literatur des Proletariats. W e g und Tempo der Entwicklung sind in den einzelnen Ländern und in ihren Details verschieden. D o c h die Richtung des Weges ist zweifelsohne die gleiche: die Herausbildung einer selbständigen proletarischen Literatur. E s ist lehrreich, auf den bislang bewältigten W e g ungarischerseits vor allem auch jetzt zurückzublicken, da wir an einer wichtigen Station dieser E n t wicklung angelangt sind: D i e ungarischsprachigen revolutionären Schriftsteller und Künstler haben nach der allmählich entstandenen politisch-ideologischen Einheit als deren Krönung nun auch eine organisatorische E i n h e i t geschaffen. 1 D i e bürgerliche Revolution war die leibliche Mutter des K a p i t a lismus und so auch des Proletariats. Dementsprechend waren die Vorfahren der proletarischen Literatur zum T e i l in einer Person auch die Dichter der bürgerlichen Revolution. E i n e Linie führt von Freiligrath und Herwegh bis zu D e h m e l in Deutschland, von Petöfi über Csizmadia bis zu Zseni Värnai in Ungarn, und diese Linie markiert

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einen frühen Entwicklungsabschnitt der proletarischen Literatur: den kleinbürgerlichen Humanismus. 2 In Ungarn reicht diese erste Phase bis zu den Anfängen der ungarischen Arbeiterbewegung zurück. Sie fällt in eine Zeitspanne, da auch in der ungarischen Arbeiterbewegung - ebenso wie in den Arbeiterbewegungen anderer Länder - bis zu einem gewissen Grad eine ideologische Diskrepanz herrschte. Das im engeren Sinne politische Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft wurde durch den zwanghaften Verlauf des Klassenkampfes mehr oder minder klassenbewußt geformt. Kunst und Literatur hingegen, die die Psychologie und Ideologie der Arbeiterklasse zum Ausdruck brachten, lebten demgegenüber immer noch vom Erbe des kleinbürgerlichen Humanismus und überschritten nur selten dessen Grenzen. Die Ursache dieser ideologischen Diskrepanz lag darin, daß der Prozeß der Klassengegensätze und des organischen Zusammenschlusses zu einer Klasse noch nicht den Grad erreicht hatte, wo auch der Klassencharakter der Dinge, die mit dem Leben der Arbeiter in scheinbar entferntester Beziehung stehen, hätte hervorleuchten können. Die wichtigsten Vertreter der Phase des kleinbürgerlichen Humanismus in Ungarn waren: Béla Révész, Zseni Värnai, Sändor Csizmadia, und auch Endre Ady gehört zu ihnen mit einigen seiner Gedichte. 3 Der zweite Entwicklungsabschnitt der revolutionären Literatur ist die Phase des kleinbürgerlichen Anarchismus. Ungarn ist das klassische Heimatland des Großgrundbesitzes. Die Großgrundbesitzer ließen ihre Klassenherrschaft nicht nur das Proletariat, sondern auch das städtische Kleinbürgertum spüren. Deshalb fühlte sich das städtische Kleinbürgertum notgedrungen zum Proletariat hingezogen, ja, ein Teil von ihm betrachtete die Arbeiterklasse geradezu als Verbündeten. Gegenüber der Unterdrückung durch Großgrundbesitzer und dem sich später mit diesen verbündenden Finanz- und Industriekapital entwickelte sich bei einem Teil der kleinbürgerlichen Intellektuellen eine antikapitalistische und staatsfeindliche Ideologie. Entsprechend ihrer in der Produktion eingenommenen Stellung vermochten sie jedoch über das allgemeine Negieren bürgerlicher Lebensformen nicht hinauszugehen. Es ist charakteristisch für sie, daß sich ihre Kritik völlig im Kampf gegen bürgerliche Lebensformen und die oberflächlichen Bekundungen der bürgerlichen Ideologie (im Kampf gegen Familie, Liebe und gegen die frühere Kunst usw.) erschöpft, ohne daß sie deren tiefere ökonomischen und politischen und somit Klassenwurzeln tatsächlich erkannt hätten. Die literarischen und künstle176

rischen Vertreter dieser Schicht gruppierten sich um die Zeitschrift MA.!i Das unbewußte Gespür für die Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung rief in ihnen den sogenannten „Aktivismus", den Kult der Aktivität, hervor. Aber gerade infolge ihrer Unbewußtheit wurde diese Aktivität zum Selbstzweck und ließ jedweden ernsthaften Inhalt vermissen. Soweit sie in der proletarischen Bewegung lediglich eine Manifestation der Aktivität sowie eine Möglichkeit dafür sahen, ihre anarchischen Neigungen ausleben zu können, solange sympathisierten sie mit der kommunistischen Bewegung. Sobald sie jedoch gezwungen waren, die konkreten Zielsetzungen der kommunistischen Bewegung und jene Organisationsstrukturen (wie Partei, Gewerkschaft, Sowjets, Disziplin usw.), die vom Proletariat an die Stelle der bürgerlichen gesetzt worden waren, zur Kenntnis zu nehmen, wandten sie sich sofort - bereits während der Diktatur des Proletariats - , wenn auch nicht offen, so doch verdeckt gegen die kommunistische Bewegung. 5 Diese Gruppe durchschritt als Epigone der westlichen bürgerlich-künstlerischen Bewegungen alle Entwicklungsphasen der verfallenden bürgerlichen Kunst und verlor sich schließlich vollends in der Ästhetik der verschiedenen „Ismen". D e r hervorragendste Vertreter dieser Gruppe ist Lajos Kassäk. E r hat zweifellos große Verdienste bei der Herausbildung der ungarischen revolutionären Literatur. Seine vor acht bis neun Jahren erschienenen Gedichte wirkten - mit ihrem zwar oberflächlichen aber dennoch sozialen Inhalt - in der damaligen Fäulnis des ungarischen literarischen Lebens befreiend. Neben Dezsö Szabö 6 war es der Stil von Kassäk, der den Stil der revolutionären Literatur entscheidend beeinflußt hat. Nach der Diktatur des Proletariats entfernte sich Kassäk in der Emigration immer mehr von der revolutionären Arbeiterbewegung. Dieser „absolute Revolutionär" verstieg sich sogar 1925 dazu, in einer in der Nepszava erschienenen Artikelserie die proletarische Revolution zu verleugnen. 7 Damit wollte er Verzeihung und Schutz seitens der Sozialdemokraten erhaschen und einen Reisepaß von der konterrevolutionären Regierung. 8 Trotz seiner früheren Bedeutung und seiner Arbeiterherkunft ist Kassäk heute ein typischer literarischer Vertreter der Lumpenbourgeoisie. E r wurde ein gebrochener, „enttäuschter" Mensch, der keinen sozialen Glauben mehr besitzt. Als Entwurzelter ließ er sich schließlich bekehren und landete über die Spalten der bürgerlichen Presse im Elfenbeinturm von l'art pour l'art (Kunst um der Kunst willen), die er in jüngeren Jahren so heftig attackiert hatte. Die obenerwähnte kleinbürgerlich-humanistische und kleinbürger12

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lich-anarchistische Phase der proletarischen Revolution können wir als die „Vorzeit" der proletarischen Literatur betrachten. Die repräsentativen Vertreter beider Richtungen stehen nur mit einem Bein in der Arbeiterbewegung oder haben noch weniger Kontakt zu ihr. Beide Richtungen gründeten sich auf Diskrepanzen zwischen persönlichem und Gefühlsleben der Arbeiter und ihrer objektiven wirtschaftlichen Lage. Beide Entwicklungsphasen drücken jenen Zustand aus, da der Prozeß der Klassenwerdung Leben und Kampf der Arbeiterschaft noch nicht zu einer völligen Einheit verschmolz: in der Fabrik und auf der Straße ebenso wie in den Organisationen und im Bereich des persönlichen Lebens. Wie scharf auch unser Kampf gegen die beiden Richtungen und ihre Vertreter sein mag, wir können nicht umhin, ihre historische Bedeutung anzuerkennen. Um dies in einer Formel der politischen Sprache auszudrücken: Sie waren die „Sozialdemokraten" bzw. die „Syndikalisten" der Literatur. Ihre Bedeutung wird am besten durch die Tatsache belegt, daß heute die Mehrheit der zur revolutionären Arbeiterbewegung gehörenden Schriftsteller und Künstler in einer früheren Phase ihrer Entwicklung einer der beiden genannten Richtungen angehörten und zu unterschiedlichen Zeiten auf verschiedenen Wegen aus ihnen ausgeschieden waren, um sich dann in der Atmosphäre der revolutionären Arbeiterbewegung weiterzuentwickeln und eine neue Entwicklungsphase der proletarischen Literatur einzuleiten. Vom Einfluß der beiden Richtungen zeugt auch der Umstand, daß ein großer Teil der ausgeschiedenen Schriftsteller nicht nur herüberrettete, was ihnen wertvoll war, sondern sich auch von den charakteristischen Schattenseiten der beiden Richtungen nicht ganz zu befreien vermochte. Das literarische „Muttermal" ist mehr oder weniger noch heute in ihren Arbeiten zu erkennen. Die Oktoberrevolution von 1917, die revolutionären Massenbewegungen in Ungarn gegen Ende des Krieges (Januarstreik 1918), die Kärolyi-Revolution9 und vor allem der Beginn der kommunistischen Bewegung, die Gründung der Partei10 und ihr Kampf um die Macht, lösten auch im Lager der revolutionären Schriftsteller einen Differenzierungsprozeß aus. Dieser Prozeß offenbarte sich ideologisch darin, daß die literarischen Werke einen konkreteren proletarischrevolutionären Inhalt aufwiesen, und in organisatorischer Hinsicht, daß die ideologisch klarsehenden Persönlichkeiten (Aladâr Komjât, Jôzsef Rêvai, Jözsef Lengyel und andere) aus der Gruppe um die Zeitschrift MA ausschieden.11 Diese gruppierten sich um die im De178

zember 1918 von Aladär Komjat und Gyula Hevesi gegründete und redigierte Internationale, die erste ungarische kommunistische Zeitschrift. Diese Gruppe stellte ihr Wirken und ihre literarische Produktion ohne jeden Vorbehalt in den Dienst der kommunistischen Agitation und bildet als solche eine Brücke zur Entwicklung der revolutionären Literatur nach der Diktatur des Proletariats. Der Schauplatz der Entwicklung der proletarischen Literatur verlagerte sich nach dem Sturz der Diktatur des Proletariats von Ungarn in die Emigration. Erst nach dem Sturz der Diktatur hatte die ungarische Arbeiterschaft voll erkannt, was die Macht in den Händen des Proletariats eigentlich bedeutet. Die Verfolgungen während des weißen Terrors und die Unbillen der Emigration erfüllten diese Erkenntnis mit zunehmend konkreterem Inhalt. Diese politisch-ideologische Entwicklung blieb auch auf die Entwicklung der revolutionären Schriftsteller nicht ohne Einfluß, die als Schicksalsgefährten der ungarischen Arbeiterklasse mit mehr oder weniger Verspätung und Verirrung selbst diesen Entwicklungsweg gingen. Das Ergebnis dieser Entwicklung zeitigte auf dem Gebiet der Literaturproduktion einen neuen Entwicklungsabschnitt der proletarischen Literatur. Inhalt dieser Literatur war nicht mehr jener sentimentale Humanismus des „Menschen", der, anstatt Klassengegensätze aufzuzeigen und sie zuzuspitzen, bemüht ist, diese mit wohlklingenden Phrasen zu bemänteln. Sie beinhaltet jedoch auch nicht jenen abstrakten lautstarken Romantizismus der „Aktion", der „Maschine" oder der „Revolution", der nämlich sogleich zum Gejammer und anarchisch wird, sobald die proletarische Revolution tatsächlich zum Siege gelangt, bzw. wenn sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Diese Kunst ist aus dem konkreten holprigen Boden des Klassenkampfes erwachsen. Sie ist in anderem Sinne humanistisch, wie es auch die kommunistische Bewegung ist, sie ist nicht im obigen Sinne romantisch, weil ihr Inhalt real ist und stets von den bereits gegebenen Verhältnissen ausgeht. Ihre Symbole sind wirklich Symbole, die sich in der Arbeiterbewegung herauskristallisierten. Ihre Gestalten sind wirkliche Menschen und Menschentypen des Klassenkampfes, ihre Erlebnisse sind die persönlichen und Massenerlebnisse an der Front des Klassenkampfes, ihre Probleme erfassen das Verhältnis des unterschiedlichen Typs von Proletarier zum Klassenkampf und die sich aus diesem ergebenden Konflikte. Diese Kunst ist bereits ein wirklicher Beginn der proletarischen Literatur und nicht mehr ihre Vorzeit. Der Künstler ist kein Wesen, das aus seiner Klasse herausgerissen ist oder über 12*

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dieser schwebt, sondern er gehört der Arbeiterklasse an bzw. ist mit ihr eng verschmolzen und zählt als solcher zu den Aktivsten und Selbstbewußtesten seiner Klasse. Er ist kein „Spezialist", bei dem der Akzent auf dem „ich bin Künstler" 12 liegt, sondern er ist neben seiner „anderweitigen" revolutionären Inanspruchnahme ein begeisterter Chronist der Wirklichkeit, der den Klassenkampf mit den Augen eines kommunistischen Arbeiters sieht. Zu diesem Entwicklungsabschnitt der revolutionären Literatur gelangten die revolutionären Schriftsteller über mehrere Übergangsstufen. Dies bezeugen jene literarischen und künstlerischen Gruppen, die sich um je eine Zeitschrift gruppierten und diesen Entwicklungsprozeß bewußt machten und ihn beschleunigten. So die von Aladär Komjàt und Andor Réz redigierte Egység und die von Sändor Barta, Jänos Mäcza und Béla Uitz herausgegebene Ék.i3 Die Gruppe um die Zeitschrift Egység war die erste, die den Standpunkt der Einheit von revolutionärer Arbeiterbewegung und Kunst vertrat. Sie bekannte ohne Vorbehalte, daß jede Kunst Klassenkunst ist und stets die Ideologie und Psychologie einer bestimmten Klasse zum Ausdruck bringt. Die Kunst, die die Gefühls- und Gedankenwelt des Proletariats und damit sein Klassenleben sowie den Kampf um seine Befreiung ausdrückt, ist eine proletarische Kunst. Zugleich betonte die Gruppe die objektiven Bedingungen der Entwicklung dieser Kunst und deren dialektischen Verlauf. Sie kämpfte im Interesse der Herausbildung einer Schriftstellergarde, die mit der revolutionären Arbeiterbewegung eng verschmolzen ist, gegen die literarischen Richtungen des kleinbürgerlichen Humanismus ebenso wie gegen die des kleinbürgerlichen Anarchismus. Die Autoren der Egység-Gcuppe betrachteten ihre künstlerische Produktion in der Tat als Waffe des Klassenkampfes und schätzten sie dementsprechend ein. Somit verrichteten sie noch vor Gründung des „Verbandes der Ungarischen Revolutionären Schriftsteller und Künstler" 14 eine ideologische Pionierarbeit. Die Zeitschrift Ék stand zunächst in ideologischer Hinsicht zwischen der Egység und der MA. Sie signalisierte wirklichkeitsgetreu den weiteren Zerfall der kleinbürgerlich-anarchistischen literarischen Richtung ( M A ) und die Tatsache, daß alle wahrhaft revolutionären Werte früher oder später den Weg zur revolutionären Arbeiterbewegung finden müssen. Die Schriftsteller der Ék hatten dies bald eingesehen und aus dieser Erkenntnis nicht nur auf politischem Gebiet, sondern auch im Bereich des literarischen Schaffens die Konsequen180

zen gezogen. Die logische Folge dieser Entwicklung war die spätere Vereinigung der beiden Gruppen von Egyseg und &k. Ein Teil der revolutionären Schriftsteller legte diese Entwicklung außerhalb der besagten zwei Gruppen zurück. Dazu zählte insbesondere eine große Anzahl von Schriftstellern, die früher ideologisch zur Richtung des „kleinbürgerlichen Humanismus" gehörten oder unmittelbar von der bürgerlichen Literatur her kamen. So entwickelte sich allmählich die heutige Garde der „Ungarischen revolutionären Schriftsteller und Künstler", die zu verschiedener Zeit und in unterschiedlichem Tempo durch die großen Interessen der revolutionären Arbeiterbewegung zu einer Einheit geschmiedet wurde. Die Emigration, die Isolierung von den ungarischen Arbeitermassen behindert sie darin, auch auf dem Gebiet der revolutionären Literatur eine gesteigerte Tätigkeit zu entfalten. Aber in dem Maße, wie diese politischen Hindernisse ausgeräumt sind, werden sich auch die Entwicklung der ungarischen revolutionären Literatur wie auch die Entfaltung der neuen jungen Schriftstellergarde beschleunigen. Das Auftauchen einiger neuer Talente in letzter Zeit läßt uns bereits die Entwicklung ahnen, vor der die ungarische revolutionäre Literatur steht. Das wichtigste Merkmal dieser Entwicklung ist, daß die Arbeiterbewegung und die revolutionäre Literatur zu einer immer fester werdenden Einheit zusammengeschmiedet werden. 1926

27 JÄNOS MÄCZA

Rolle und Weg der Literatur in der proletarischen Revolution I Seit die Revolution des Proletariats auf der Tagesordnung steht, sind über die Rolle der Literatur in der proletarischen Revolution nicht wenig Worte gefallen. Angefangen von jenen „linken Künstlern", die sich auf Grund falsch verstandener ethischer Erkenntnisse und Empfindungen als Sympathisanten der revolutionären Bewegung des Proletariats deklarierten, bis hinein in Kreise der Partei hatte sich bei 181

zen gezogen. Die logische Folge dieser Entwicklung war die spätere Vereinigung der beiden Gruppen von Egyseg und &k. Ein Teil der revolutionären Schriftsteller legte diese Entwicklung außerhalb der besagten zwei Gruppen zurück. Dazu zählte insbesondere eine große Anzahl von Schriftstellern, die früher ideologisch zur Richtung des „kleinbürgerlichen Humanismus" gehörten oder unmittelbar von der bürgerlichen Literatur her kamen. So entwickelte sich allmählich die heutige Garde der „Ungarischen revolutionären Schriftsteller und Künstler", die zu verschiedener Zeit und in unterschiedlichem Tempo durch die großen Interessen der revolutionären Arbeiterbewegung zu einer Einheit geschmiedet wurde. Die Emigration, die Isolierung von den ungarischen Arbeitermassen behindert sie darin, auch auf dem Gebiet der revolutionären Literatur eine gesteigerte Tätigkeit zu entfalten. Aber in dem Maße, wie diese politischen Hindernisse ausgeräumt sind, werden sich auch die Entwicklung der ungarischen revolutionären Literatur wie auch die Entfaltung der neuen jungen Schriftstellergarde beschleunigen. Das Auftauchen einiger neuer Talente in letzter Zeit läßt uns bereits die Entwicklung ahnen, vor der die ungarische revolutionäre Literatur steht. Das wichtigste Merkmal dieser Entwicklung ist, daß die Arbeiterbewegung und die revolutionäre Literatur zu einer immer fester werdenden Einheit zusammengeschmiedet werden. 1926

27 JÄNOS MÄCZA

Rolle und Weg der Literatur in der proletarischen Revolution I Seit die Revolution des Proletariats auf der Tagesordnung steht, sind über die Rolle der Literatur in der proletarischen Revolution nicht wenig Worte gefallen. Angefangen von jenen „linken Künstlern", die sich auf Grund falsch verstandener ethischer Erkenntnisse und Empfindungen als Sympathisanten der revolutionären Bewegung des Proletariats deklarierten, bis hinein in Kreise der Partei hatte sich bei 181

jeder einzelnen Gruppe eine eigene Meinung über diese Frage herausgebildet, die auch jeweils offen vertreten wurde. Es ist bekannt, daß die „linken Künstler" den Künsten eine führende Rolle zusprachen, weil sie in ihrer idealistischen Grundeinstellung glaubten, daß die Revolution nur von „Menschen" gemacht werden könne, die auf einer bestimmten ideellen „ethischen Höhe" angelangt seien - nämlich von „Menschen, die in ihrer Ideologie revolutioniert sind". Und es gibt eine andere Gruppe, die zwar das Primat der ökonomischen und politischen Revolution anerkennt, in der Kunst aber immer noch etwas „Höherwertiges" erblickt und dementsprechend meint, daß die Entwicklung der Literatur n e b e n den - für sie äußeren - Erscheinungen der proletarischen Revolution selbständig ihren eigenen Weg gehen könne. Der offensichtlich antimarxistische Charakter dieser Vorstellungen berechtigt uns, hierauf weder weiter einzugehen noch diese ernsthaft zu diskutieren. 1 Wir wollen uns auch nicht mit jenem anderen extremen Standpunkt befassen, der allgemein in Abrede stellt, daß der Literatur auch nur irgendeine positive Rolle in der proletarischen Revolution zukommen könne bzw. demzufolge die Literatur in Zeiten großer historischer Kämpfe einen überflüssigen Luxus und die Beschäftigung mit ihr eine schädliche Zeitverschwendung darstellen. 2 Die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes wird sich ohnehin erweisen, wenn wir im folgenden die objektive, historische Rolle der Literatur erläutern werden. Nebenbei sei lediglich vermerkt, daß die ernsthafte literarische Arbeit in den Sowjetstaaten von den Parteimitgliedern zur Parteiarbeit gerechnet wird. Als Ausgangspunkt können wir jene Ansichten akzeptieren, die sich in den Gruppen der kommunistischen Schriftsteller des Proletariats wie in denen der proletarischen Schriftsteller herausgebildet haben. Nach der allgemeinen Kunstbestimmung Bucharins, derzufolge die Kunst die Aufgabe hat, die Gefühle und Empfindungen zu organisieren, definieren die russischen proletarischen Schriftsteller den Begriff der proletarischen Literatur wie folgt: „Als proletarische Literatur kann jene Literatur bezeichnet werden, die das Psychische und das Bewußtsein der Arbeiterklasse und der breiten werktätigen Massen im Interesse der Endziele des Proletariats als Veränderer der Welt und als Schöpfer der kommunistischen Gesellschaft umorganisiert." 3 Diese Definition antwortet äußerst präzise auf die Frage, welches 182

die Rolle der Literatur in der proletarischen Revolution i m a l l g e m e i n e n und im Leben des Proletariats ist. So hat die Literatur eine propagandistische Funktion, bildet sie die Psyche heran und macht Gefühlskomplexe bewußt, trägt sie zum Verständnis der Ereignisse der Revolution bei - und dies nicht nur durch die Logik, sondern auch vermittels der Emotionen usw. Insofern ist sie ein unentbehrlicher Waffengefährte der Partei, die an der Spitze der Revolution steht. Unter den Anhängern dieser allgemeinen Auffassung gibt es eine Gruppe, die in der Literatur lediglich ein politisches Hilfsmittel, einen zusätzlichen Waffengefährten zu sehen gewillt ist und die Rolle der Literatur dahingehend interpretiert, daß diese in einer leicht verständlichen sprachlichen Form die aktuellen und Tagesaufgaben des politischen und wirtschaftlichen Kampfes zu propagieren hat. Die Rolle der Literatur ist demzufolge mit der des Agitators identisch, ihre Aufgabe gleicht der der Tagespresse. D i e Literatur unterscheidet sich nur durch ihre sprachliche Form von jenen. Zusammenfassend ist zu sagen, daß all dies i m a l l g e m e i n e n richtig ist. Insofern nämlich, wie es zum Beispiel richtig ist, daß das Maschinengewehr ein unentbehrliches Mittel der Revolution darstellt. Sowohl dies wie auch jenes ist h i s t o r i s c h wahr. Die Notwendigkeit wird in beiden Fällen von z w e i Elementen bestimmt. D a s eine ist der durch die gegebene historische Lage bestimmte B e d a r f , das andere die durch den materiellen Charakter des jeweiligen benötigten Gegenstandes bestimmte M ö g l i c h k e i t . Noch deutlicher: Notwendigkeit und Rolle eines Maschinengewehrs werden nicht allein durch den Bedarf bestimmt (also nicht nur die Tatsache, ob das auf der Barrikade knatternde oder im Keller versteckte Maschinengewehr in der gegebenen Situation für die Revolution von Nutzen ist), sondern auch durch den C h a r a k t e r des Maschinengewehrs (d. h., daß mit ihm nicht Buchstaben gesetzt oder Gräben ausgehoben werden, sondern daß mit ihm geschossen wird), wobei dieser Charakter von dem gesamten Stand der Produktion, der Technik und Mechanik, der Mathematik und Chemie usw. abhängt. D a s gleiche gilt - bzw. müßte auch in bezug auf die Literatur gelten. D a ß dies nicht so ist, hat ebenfalls seinen Grund. Der Charakter eines Maschinengewehrs ist so eindeutig, daß tatsächlich niemandem unter normalen Verhältnissen einfallen würde, einen Graben damit auszuheben. Weniger klar ist jedoch der Charakter der Literatur und dies ist zum Teil der Grund dafür, daß man sie für Zwecke be183

nutzt und ihr eine solche Rolle zumutet, für die sie nicht geschaffen bzw. der sie nicht gewachsen ist. Bevor wir also feststellen können, welches die objektive Rolle der Literatur in der proletarischen Revolution ist, müssen wir uns über zwei Dinge klar werden. Erstens, v o n w e l c h e r E t a p p e der proletarischen Revolution die Rede ist, und zweitens, was Literatur als s p e z i f i s c h g e s e l l s c h a f t l i c h e s P r o d u k t ist, dessen Rolle wir in einer bestimmten Etappe untersuchen wollen. Solange wir diese beiden Fragen nicht geklärt haben, können wir bestenfalls nur zu gültigen pauschalen Verallgemeinerungen gelangen, deren praktischer Wert allzu subjektiv ist und deren praktische Anwendung auch derart individuell sein kann, daß das literarische Produkt in einen scharfen Gegensatz zum Wesen der im allgemeinen richtigen Thesen gerät. II D i e oben zitierte Literatur-Definition gibt keine Antwort auf die Frage (und wahrscheinlich wollte sie das auch nicht), was Literatur ist. Sie erklärt genau und richtig, welches im allgemeinen die Rolle der (proletarischen) Literatur ist, doch sie geht nicht darüber hinaus. Wenn wir nun wissen wollen, was Literatur ist, dürfen wir nicht von der Frage ausgehen, wie sie auf die Leser wirkt und welche Rolle sie in der Gesellschaft wahrnimmt, denn all dies ist nur eine gesetzmäßige Folge des Zusammenspiels von tieferliegenden, objektiven Wirkungskräften; wir müssen vielmehr jene Wirkungswerte untersuchen, aus denen sich die literarische Arbeit zusammensetzt. Auf diese Weise erhalten wir erstens die allgemeine soziologische Bestimmung der Literatur und zweitens eine spezielle Definition dieses gesellschaftlich bestimmten ideologischen Spezifikums. D a s heißt, wir erfahren etwas über Literatur als Überbau (über ihr Verhältnis zur Gesamtheit der Gesellschaft) und erkennen, welchen Platz Literatur im gesamten Überbau einnimmt und worin sie sich von den anderen Formen des Überbaus (ihr Verhältnis zum ideologischen Überbau) unterscheidet. Die methodologische Notwendigkeit dieser Untersuchungsweise können wir hier aus Platzmangel leider nicht ausführlich darlegen; aus dem gleichen Grund kann auch nicht der Weg näher skizziert werden, auf dem wir zu unseren Ergebnissen gelangt sind. 4 Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Methode und der Ergebnisse werden sich

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später ohnehin erweisen, wenn wir sie anwenden. Nehmen wir daher die Ergebnisse unserer Methode als weiteren Ausgangspunkt. Zunächst einmal: Was ist Literatur als Überbau? D i e Literatur (und die Kunst im allgemeinen) ist künstlerische Widerspiegelung jener Bestrebungen der Gesellschaft oder einzelner gesellschaftlicher Klassen, deren Ziel es ist, sämtliche Elemente der gesellschaftlichen (oder Klassen-) Ideologie und Psychologie der betreffenden Epoche in ein möglichst vollständiges Gleichgewicht zu bringen. In Anbetracht dessen, daß Ideologie wie Psychologie die Dialektik der in der jeweiligen historischen Phase wirksamen Produktions- und ökonomischen Kräfte widerspiegeln, ist deren künstlerische Widerspiegelung von der Zuspitzung der gesellschaftlichen (Klassen-) Gegensätze abhängig - entweder bewußt (aktiv, revolutionär, „aufbauend") oder unbewußt, rein emotional (passiv, spielerisch, „rein") bzw. in Gefühl und Bewußtsein ausgeglichen (synthetisch, klassisch, „erkennend"). Konkret, mit historischen Beispielen belegt: Die Literatur (und die Kunst) widerspiegeln zu dem Zeitpunkt das Streben nach einem Gleichgewicht zwischen den Elementen der kämpferischen Ideologie der aufstrebenden Gesellschaftsklasse und der überkommenen (in der vorherigen Gesellschaftsordnung entstandenen) Psychologie, da sich die Klassengegensätze derart zugespitzt haben, daß sie zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft, zur Revolution, führen. In dieser Phase überwiegt auch in der Literatur das Element des Bewußten. Als Beispiel können wir in der Literatur auf die Anfänge des bürgerlichen Dramas aus der Zeit der Französischen Revolution sowie auf den realistischen Roman in seinen Anfängen und auf das Chanson verweisen, in der Malerei auf den klassizistischen Realismus der Schule von D a v i d 5 und in der Ästhetik auf di'e Kunsttheorie von Proudhon. 6 Und ein jüngeres Beispiel bietet die Literatur der letzten Jahre, die im internationalen Maßstab an die proletarische Revolution anknüpft. D a s Streben nach Gleichgewicht zwischen den Elementen der Ideologie und der Psychologie einer am Ende ihrer Entwicklung angelangten Klasse wird von der Literatur in der Weise widergespiegelt, daß der Nachdruck auf das Spiel der Emotionen, auf das „Schöne an sich" zu einer Zeit verlegt wird, da die betreffende Klasse infolge des von ihr in der Produktion eingenommenen Platzes und ihrer historischen Rolle nicht mehr imstande ist, auf dem Gebiet der Ideologie ohne Verletzung der eigenen Klasseninteressen etwas p o s i t i v Neues zu schaffen, wenn es mit der Klasse abwärts geht. Ein Bei185

spiel liefert dafür die bürgerliche Kunst der letzten Jahre in ihrer Gesamtheit. Schließlich: Das Gleichgewicht ist naheliegend und äußert sich in großzügigen Synthesen, wenn die einstmals revolutionäre Klasse politisch und wirtschaftlich ihre Ziele erreicht hat und sie die in der Gesellschaft auftauchenden Widersprüche noch um den Preis geringfügiger Reformen und Zugeständnisse ausbalancieren kann. Die Rolle der Literatur ist in solchen Fällen konservierend, ihr Charakter (trotz eventueller reformistischer Bestrebungen) konservativ. Das augenfälligste Beispiel dafür ist W a l t Whitman, der eine klassische Synthese der ideologischen und psychologischen Elemente seiner Klasse (Freidenkertum und bürgerliche Demokratie einerseits und die kleinen Lebens- und Todesprobleme des Individuums andererseits) zu schaffen vermochte. Ein aufschlußreiches Beispiel liefert auch Strindberg, der bei der Suche nach einem absoluten bürgerlichen Ideal die Überbrückung der Gegensätze zwischen den realen bürgerlichen Formen und den aus dem Feudalismus überkommenen Emotionsformen suchte - aber nicht fand. Für die Literatur solcher Epochen ist vor allem kennzeichnend, daß sie das Wesen der Klasse, von der sie hervorgebracht wurde, am reinsten wiedergibt. Von den drei Perioden interessiert uns die erste und innerhalb dieser auch nur ein kleiner Abschnitt. Bevor wir diesen jedoch untersuchen, müssen wir uns der Bedeutung klar werden, daß die Literatur das Bestreben der Klasse nach Gleichgewicht zwischen den ideologischen und psychologischen Elementen in „künstlerischer Form widerspiegelt". Worin unterscheidet sie sich von der Wissenschaft, der Politik usw., die ebenfalls das Streben nach einem gesellschaftlichen Gleichgewicht ausdrücken oder Ergebnis dieser Bemühungen sind? Das Mittel der literarischen Arbeit ist die Sprache, ihr Ziel ist die Mitteilung. Der Sprache wie der Mitteilung bedienen sich auf gleiche Weise das philosophische Traktat, der politische Leitartikel und das alltägliche Gespräch. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen ihnen. Und zwar nicht nur formal und in der Art der Ausdrucksweise; nein, dieser Unterschied ist mehr - er ist prinzipieller und wesentlicher Natur. Nicht der Gebrauch von Reimen und Alliterationen unterscheidet die Dichtung von der Prosa, nicht, daß „schöne Epitheta" und „geschmeidige" Redewendungen verwendet werden, nicht die geschliffene Sprache scheidet die Prosaliteratur von der Publizistik. Heute schreiben bereits alle Journalisten, die etwas auf sich halten, „schön" und „literarisch"; auch die politischen Reden sind mit frap186

panten und ergreifenden Redewendungen gewürzt - dennoch können wir weder das eine noch das andere als Literatur bezeichnen. Warum? Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Jemand sagt zu mir: „Péter ist auf die Straße gegangen." Dieser Satz ist eine einfache Mitteilung, die ich ohne weiteres verstehe und zur Kenntnis nehme. Ich kenne ja Péter. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was eine Straße ist und was Gehen heißt. In dem Satz hat jedes Wort eine konkrete Bedeutung. Außer der l o g i s c h e n Verbindung der Wörter, die konkrete Dinge und eine konkrete Handlung bezeichnen, benötige ich nichts, um diesen Satz zu verstehen. Anders ist es jedoch, wenn jemand sagt: „Péter ging pfeifend auf die sonnige Straße." In diesem Satz muß ich nicht nur die logisch miteinander verknüpften Tatsachen zur Kenntnis nehmen, sondern es entstehen in mir eine ganze Reihe von Gedanken und Gefühlen, von denen im zuerst genannten Satz keine Rede war: Das „Pfeifen" läßt mich wissen, daß Péter guter Laune ist, was wiederum - je nachdem, was für ein Verhältnis ich zu Péter habe - entweder angenehme oder unangenehme Gefühle in mir weckt. Die „sonnige" Straße löst ebenfalls ein Bündel von Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen in meinem Gedächtnis und in meinem Unterbewußtsein aus. Dieser Satz evoziert in mir Gedanken und Gefühle, zu denen ich nicht vermittels der einfachen logischen Klammer gelange, sondern infolge entfernterer und k o m p l i z i e r t e r e r A s s o z i a t i o n e n . Das ist der eine wichtige Unterschied. Aber es gibt noch ein weiteres sehr wichtiges Moment. Der erste Satz sagt nur für denjenigen etwas aus, der Péter kennt und sich für ihn interessiert . . . Der zweite Satz sagt jedoch auch demjenigen etwas, der Péter nicht kennt. Und zwar (und das ist wichtig) sagt er etwas aus, was n i c h t durch logische Folge, sondern durch Assoziationen mitgeteilt wird. Das Pfeifen und der Sonnenschein assoziieren in u n s a l l e n irgendeinen Gedanken, irgendein Gefühl. Diese Wörter ergeben und vermitteln infolge der Assoziationen f ü r Menschen, die unter gleichen Lebensverhältn i s s e n l e b e n , e i n e n g e m e i n s a m e n I n h a l t . Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu dem, was wir Literatur nennen. Als Literatur bezeichnen wir eine solche Widerspiegelung des Strebens nach dem obengenannten Gleichgewicht, bei der die psychologischen und ideologischen Elemente b e w u ß t kombiniert sind, und zwar derart, daß sie durch A s s o z i a t i o n e n gesellschaftlich (oder klassenmäßig) g e m e i n s a m e r E m p f i n d u n g e n , i n e r s t e r Linie vermittels der emotionalen Beziehungen 187

u n d d e r P s y c h o l o g i e w i r k e n . Je mehr assoziative und emotionale Elemente in einer Aussage enthalten sind, desto näher sind wir jenem Genre der Literatur, das wir als Dichtung bezeichnen. Selbstverständlich hat auch diese allgemeine These ihre eigene historische Wertung. Bereits an anderer Stelle, als eine soziologische Definition der Literatur gegeben wurde, sahen wir, d a ß es in der revolutionären Literatur revolutionärer Epochen mehr Bewußtseinsund weniger emotionale Elemente gibt als in der Literatur anderer Zeiten. Dagegen arbeitet die Literatur der niedergehenden Klassen vornehmlich mit rein emotionalen Motiven und sehr weit hergeholten Assoziationen. Daher die Vorliebe des Symbolisten für das Mystische, daher ihre Unverständlichkeit, und deshalb kommt es auch, daß man zum Beispiel in der expressionistischen Literatur die Prosa kaum von d'er Dichtung zu trennen vermag. Alle übrigen Merkmale des literarischen Schaffens - Komposition, innerer und äußerer Aufbau, Reim und Rhythmus, Konzentration usw. - , also all das, was man als „Form" bezeichnet, sind kein Prinzip der Literatur, sondern lediglich eine Folge der oben dargelegten zwei prinzipiellen Postulate. Das gleichzeitige Einwirken all dieser gesellschaftlich determinierten Elemente - des Wesens, des „Inhalts" und der „Form" - auf den gesellschaftlich geprägten Leser kenndeichnet die objektive Möglichkeiten der Rolle der Literatur in den einzelnen historischen Epochen. (Die Wörter Inhalt und Form setzten wir in Anführungszeichen, da ihre Verwendung ohne vorherige marxistische Analyse ihrer Bedeutung zu gefährlichen Mißverständnissen Anlaß bieten kann.) III Welches ist nun die Rolle der so definierten Literatur in der proletarischen Revolution bzw. in ihren ersten beiden Etappen? Kehren wir zum Beispiel mit dem Maschinengewehr zurück. W i r sagten: Unter normalen Umständen wird niemand das Maschinengewehr zum Ausheben von Gräben benutzen, nur weil es aus einem ähnlichen Material wie der Spaten gefertigt ist. Literatur wird jedoch für die Durchführung von Aufgaben bemüht, zu der andere Formen des ideologischen Überbaus berufen sind, die mit ähnlichem Stoff arbeiten. Bei einem Maschinengewehr (und bei allen anderen Dingen) wird das „Spezifische" anerkannt - bei der Literatur aber sehr häufig nicht. W o liegt der Grund dafür und ist er zu rechtfertigen? 188

D i e Revolution ist kein „normaler Zustand", und es kann freilich vorkommen, daß man das Maschinengewehr auch zum Einschlagen einer Tür oder anderweitig benutzt. Ebenso kann auch der Literatur eine andere Rolle zukommen. Doch erstens ist dies ein Ausnahmefall, der keineswegs v e r a l l g e m e i n e r t werden darf, und zweitens geht infolge der falschen Verwendung ein für andere Zwecke geeignetes Mittel entzwei - und drittens wurde schließlich die mit der Bestimmung und dem „Charakter" des Mittels unvereinbare Verwendung durch den Mangel an anderen, geeigneteren Mitteln hervorgerufen. Auf die Literatur bezogen, besitzen die ersten beiden Fälle volle Gültigkeit, während der dritte mehr oder weniger zutrifft. Mittel der Literatur ist die Sprache, ihr Ziel die Mitteilung. Wenn es die historische Situation erfordert, kann man in bestimmten Fällen die Formen der Literatur dazu benutzen, um mit ihrer Hilfe auf eine eingängigere Art dasselbe mitzuteilen, was gleichzeitig ein politischer Leitartikel aussagt. In diesem Fall - bzw. in einer solchen Phase - kommt die Rolle der Literatur der der Publizistik gleich. Sie spricht u n m i t t e l b a r d a s B e w u ß t s e i n a n : Sie überredet, führt Beweise an, agitiert und propagiert. Die Gefühlsmotive, derer sie sich bedient (und die in geringem Maße auch von der Publizistik verwendet werden), v e r m i t t e l n nicht die ideologische Aussage, sondern unterstreichen diese lediglich, malen sie aus und machen sie eventuell leichter verständlich, doch sie sind zweitrangig. D e r Unterschied zwischen Publizistik und Literatur besteht hier nur darin, daß diese Literatur die Propaganda auch solchen Schichten (verwässert) vermittelt, die von der Publizistik aus verschiedenen, doch stets konkreten Gründen, nicht erreicht werden. Dieser wichtige Unterschied spricht für die Berechtigung einer reinen Agitationsliteratur und rechtfertigt die Bevorzugung dieser Art Literatur in bestimmten Phasen der Revolution. Und zwar zunächst in der ersten, der Anfangsphase, jener Etappe, die die Revolution vorbereitet, und zweitens während der bewaffneten Kämpfe der Revolution. E s ist selbstverständlich, daß auch diese Feststellung nicht als ein starrer Kanon, sondern als historische Wahrheit aufzufassen ist. Denn es steht außer Zweifel, daß die reine Agitationsliteratur auch zu anderen Zeiten ihre Berechtigung hat, allerdings nicht allgemein, sondern für einzelne gesellschaftliche Schichten, die mit ihrem Anspruch von der Allgemeinheit abweichen. Eine solche Schicht stellen zum Beispiel jene Bauern und Arbeiter dar, die gegenüber der Revo189

lution neutral geblieben sind. In dem Maße, wie das Selbstbewußtsein dieser Schichten wächst, hört die Notwendigkeit einer reinen Agitationsliteratur auf, und dann verschmilzt auch diese mit der bereits in der Entwicklung begriffenen Literatur, die weniger publizistisch, vielmehr künstlerisch, aber auch propagandistisch ist. (Aus unserer Literaturdefinition geht klar hervor, daß jedwede Literatur in allen Epochen stets tendenziös ist und immer etwas propagiert. So hoffen wir, daß der Leser die Verwendung der Formel „Agitationsliteratur" nicht mißversteht: Sie bedeutet keineswegs eine Trennung, sondern vielmehr einen graduellen Unterschied.) In der Etappe der Vorbereitung der Revolution, in deren erwähnter erster Phase, ist es erforderlich, daß die an der Spitze der Revolution stehende revolutionäre Partei (die kommunistische Partei) die breiten Massen des Proletariats von der Notwendigkeit der Revolution und deren Kampfmethoden überzeugt. Die Literatur bzw. die Schriftsteller, die sich in den Dienst dieses einzigartigen Zieles gestellt haben, verrichten mit Hilfe der Formen der Literatursprache die gleiche Aufgabe. Diese erste, sich äußerst einfacher Mittel bedienende Phase währt meist nur eine kurze Zeit. Schnell stellt sich dann die zweite Phase der vorbereitenden Etappe der Revolution ein, die neben dem a l l g e m e i n e n Bemühen, die Notwendigkeit der Revolution unter Beweis zu stellen, zur k o n k r e t e n A g i t a t i o n übergeht: Sie fundiert anhand kleiner, konkreter Fälle die allgemeine Wahrheit und leistet durch die Erledigung detaillierter, konkreter Aufgaben gleichsam die Vorarbeit. Jetzt ist es nicht mehr erforderlich, am Ende eines jeden Artikels zu vermerken, daß die Weltrevolution nahe sei und „es bald anders sein wird", wenn das Proletariat die Macht übernimmt - dies weiß der Leser schon, er hat bereits gelernt, die k l e i nen E r e i g n i s s e in d i e G e s a m t k o n z e p t i o n der R e v o l u t i o n e i n z u b a u e n . Ebenso muß sich auch die Literatur in dieser zweiten Phase a u s w e i t e n u n d k o n k r e t i s i e r e n . Die in Reime gefaßten allgemeinen politischen Losungen, die Romantik der Revolution und die pathetischen Gesten werden durch konkrete Bilder und konkrete emotionale Bezüge abgelöst, die in die Gesamtkonzeption der Revolution eingebaut und nicht nur wahr (etwa in naturalistischem Sinne, vielmehr objektiv vom Gesichtspunkt der gesamten Konzeption synthetisch wahr) - sondern auch „literarisch" und „schön" sind. Dies sind also Bilder, die nicht vermittels einer einfachen logischen Reihe, sondern über die mehr oder 190

weniger komplizierte Skala von Empfindungsassoziationen wirken. Der Leser will vom Dichter nicht mehr hören, daß die Revolution gewiß kommt und das Bourgeoisiegesindel hinwegfegt und daß rote Fahnen im Winde wehen werden - sondern er erwartet vielmehr, daß ihm die Literatur etwas gibt, das von seinem Klassenstandpunkt aus wahr, doch darüber hinaus auch „schön", „angenehm" und suggestiv ist und ihm ein Gleichgewicht vermittelt. Er will sich selbst, s e i n a l l t ä g l i c h e s I c h sehen, das in die Gesamtheit der Revolution eingeschaltet ist. Die Rolle der Literatur in dieser Phase besteht darin, dieses Bedürfnis einerseits zu befriedigen, es andererseits bewußt zu machen und schließlich zu lenken. Diese Aufgabe ist sehr kompliziert und verantwortungsvoll. Sollte der Schriftsteller den Ansprüchen des proletarischen Lesers dergestalt nachkommen wollen, wie diese zutage treten, also die Elemente des Gleichgewichts, das „Schöne" und „Angenehme", so darzustellen, wie sie das Bewußtsein des Lesers verlangt - dann wird er ihm das kleinbürgerliche Schöne und Angenehme, das kleinbürgerliche Gleichgewicht bieten. In solchen literarischen Arbeiten wird anstelle der notwendigen Dialektik der Möglichkeiten ein t i e f e r und s c h ä d l i c h e r W i d e r s p r u c h e n t s t e h e n : jener zwischen dem ideologischen „Inhalt" und den psychologischen „Formen" - ein Widerspruch zwischen den auf das Bewußtsein einwirkenden geistigen und den emotionalen Elementen, die über die unterbewußten Assoziationen wirken. So entstehen die Chansons mit revolutionärer Thematik, die sentimental geprägten, revolutionären Helden, die bis zum Extrem idealisierten Arbeitertypen, die romantisch aufbrausenden, revolutionären Gesten usw. Und dies ist aus zwei Gründen ein sehr großer Fehler . . . Einmal unter dem Aspekt der Rolle der Literatur in der Revolution, da eine solche Literatur die Psyche der Massen nicht läutert und nicht voranbringt, sondern im Gegenteil von den Widersprüchen der Revolution ablenkt, diese entschärft und zudem das Bewußtsein schwächt. Zum zweiten ist es auch vom Standpunkt der Entwicklung der Literatur ein Fehler, weil eine solche Literatur in Zeiten, die auch für die Literatur voller Probleme sind, problemlose, für uns fremde ä s t h e t i s c h e Verabsolutier u n g e n einbürgert und in der Literatur T r a d i t i o n e n s a n k t i o n i e r t , die nicht konservieren, sondern voranbringen will, die sich nicht konservieren, sondern vorwärtsbewegen soll, und deren eine Aufgabe gerade darin besteht, gegen das absolute Wesen der Traditionen anzukämpfen. 191

Gegen diese Gefahr wehren sich unsere Schriftsteller im allgemeinen mit zwei Methoden. Die einen steigern die Elemente der bürgerlichen Ästhetik bis zum Grotesken, um diese Gefahr lächerlich zu machen; die anderen wiederum halten sich an die Losung, die im Kampf gegen den bürgerlichen Ästhetizismus einen äußerst undefinierbaren proletarischen Puritanismus fordert. Beide umgehen im Grunde das eigentliche Problem. Das Groteske ist unbedingt erforderlich - doch damit ist das Problem der Literatur der proletarischen Revolution keineswegs gelöst. Und der äußerliche „Puritanismus" führt zu einem derart trockenen und flachen Stil, daß er nicht geeignet ist, die literarischen Bedürfnisse der proletarischen Massen zu befriedigen. Der Leser sucht in der Literatur eben Literarisches (das Spezifische) - und dies mit Recht. Allerdings hat er von der Literatur bürgerliche Vorstellungen - doch diese vermag nur die neue, proletarisch-revolutionäre L i t e r a t u r zu verändern. Wenn der Schriftsteller nur anbietet, was auch die Publizistik liefert, dann bedarf es seiner Arbeit nicht. Wenn er dagegen schreibt, was der Leser (mit seinen notgedrungen bürgerlichen Vorstellungen von Literatur) verlangt, und dies in der Art, wie dieser es haben möchte, dann kommt sein Werk zwar an, aber es entspricht nicht den objektiven Erfordernissen. Welches also ist der richtige Weg? Wir haben keine „proletarische Ästhetik". Wonach soll sich der Schriftsteller nun richten, wenn er in der Vorbereitungsphase der Revolution die literarischen Bedürfnisse der arbeitenden Massen nicht vom subjektiven Standpunkt, sondern objektiv (nicht vom Standpunkt der momentanen Bedürfnisse und nicht n u r unter Berücksichtigung des Tagesprogramms, sondern b e i d e s eingeschlossen und die G e s a m t h e i t des revolutionären Weges der Klasse stets im Auge behaltend) befriedigen soll? Auf diese Frage können wir vorerst lediglich eine einzige, aber entscheidende Antwort geben: Als „schön" und in unserer Literatur verwendbar können wir jene im Laufe der historischen Entwicklung entstandenen und uns geschichtlich am nächsten stehenden Formen akzeptieren, die zu der vom G e s i c h t s p u n k t d e s T a g e s p r o gramms der Revolution und ihres Endziels r i c h t i g e n E n t w i c k l u n g der Klassenpsychologie des Proletariats nicht im Widerspruch stehen. In dieser Formulierung gibt es zwei wichtige Faktoren. Der eine ist, daß der Schriftsteller jede noch so unscheinbare Form und Möglichkeit kritisch, und zwar mit einer scharfen revolutionären Klassen192

kritik angeht und sie daraufhin überprüft, ob die aufgegriffenen Traditionen in seiner Arbeit lediglich ein Mittel des Übergangs bleiben und nicht zum ästhetischen Selbstzweck werden usw. Der andere Faktor besteht darin, daß alle Möglichkeiten nur einen Übergangscharakter tragen, lediglich sich selbst und keinesfalls ihre eigene Wiederholung bestätigen, daß sie also keineswegs als absolut, noch dazu als „proletarisch"-absolut betrachtet werden dürfen. Deshalb halten wir es für falsch, wenn man den dialektisch richtigen Begriff der „proletarischen Literatur" in einen Literaturkanon verwandelt. Unter ungarischen Verhältnissen sind heute in der zweiten Phase der Vorbereitungsetappe der proletarischen Revolution alle Werte auch in sich relativ. Heute darf man die einzelnen Phasen der Entwicklung nicht konservieren und die Entwicklung selbst nicht aufhalten, sondern man muß sie vielmehr - von Problem zu Problem schreitend ständig in Bewegung halten. Heutzutage ist nicht das „schön", was in den Schlaf wiegt, auch dann nicht, wenn die Wiege mit einer roten Decke ausgekleidet ist, sondern „schön" ist, was uns - wenn auch n u r zu e i n e m g e r i n g e n P r o z e n t s a t z - v o n u n s e ren alten e m o t i o n a l e n G e w o h n h e i t e n läutert. Heute erlangen wir das Gleichgewicht nicht dadurch, daß wir die in unserer Psyche vorhandenen alten Elemente den Elementen unserer revolutionären Ideologie anpassen, sondern vielmehr dadurch, indem wir unser Seelenleben derart beschneiden, läutern und uns bewußt machen, d a ß e s u n s b e i d e r V e r v o l l kommnung unseres revolutionären Bewußts e i n s in d e r p r a k t i s c h e n a l l t ä g l i c h e n Arbeit der Revolution möglichst wenig im Wege steht. Und dies ist die wichtigste Aufgabe, die objektive Rolle der Literatur in der zweiten Phase der Vorbereitungsetappe der Revolution in unseren Tagen. Die Publizistik und die politische Wissenschaft erziehen und verändern unser Bewußtsein - die Literatur erzieht und verwandelt unser Unterbewußtsein, sie trennt von ihm die für die Revolution schädlichen Elemente ab und ersetzt diese soweit wie möglich mit neuen, und all dies geschieht nicht von oben und von außen, mit Hilfe der Formen der Logik, sondern von innen, unmittelbar und über die emotionalen Assoziationen. Deshalb muß die Literatur Literatur sein. Deshalb hat ein proletarischer Schriftsteller keinen Grund, sich zu genieren, wenn der Leser das von ihm i n d i e s e m S i n n e „schön" Gestaltete als schön empfindet. Denn dieses „Schöne" 13

Befunde

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ist kein Selbstzweck und kein Spiel der Emotionen mehr, sondern ein ernst zu nehmender und notwendiger Faktor, der unsere Psyche, unser Unterbewußtsein umgestaltet. Dieses ist notwendig, da wir wissen, daß es in den großen Stunden der ausgebrochenen Revolution unsere im Alltagsleben vielleicht nicht so offensichtlichen unterbewußten Konzeptionen entscheidend beeinflussen kann, so daß wir den Befehl unserer erkannten historischen Mission auch in seinen winzigen Details erfüllen. Soviel einstweilen über diese äußerst wichtige, aber bislang noch wenig geklärte Frage. Man könnte und müßte noch vieles sagen, und wir glauben, daß es eine unserer wichtigen Aufgaben sein wird, zu dieser Frage - nunmehr konkret und kontinuierlich - anhand einzelner literarischer Arbeiten Stellung zu beziehen, um auf dem sich abzeichnenden Weg der Literatur und Kunst des revolutionären Proletariats unaufhörlich geläutert und bewußter zu werden.

1926 28 ANNA CSABAY (GYULA ILLYßS)

Eine angekommene

Generation

Eine gewisse dialektische, ja sogar geographische Kurzsichtigkeit charakterisiert die heutzutage wieder in Mode gekommenen Diskussionen über die Schwäche der neuesten ungarischen Literatur wie das Gejammer über die Kraftlosigkeit der nach der Nyugat1 auftretenden Generation, beziehungsweise darüber, daß auf die Nyugat keine Generation mit eigener Weltanschauung gefolgt wäre. In der Tat kann es für jene gesellschaftliche Periode, deren geistigen und künstlerischen Ideale - die individualistischen des stürzenden Kapitalismus - die Nyugat vertrat und noch heute mit einem bedrückenden Anachronismus vertritt, weder eine Entwicklung noch Fortsetzung geben, literarisch ebensowenig wie in gesellschaftlicher Hinsicht. An ihre Stelle kann nur etwas treten, über dessen Beschaffenheit wir uns aus Raummangel leider nicht weiter auslassen können, das aber über eine Kunst ebenso verfügt wie über eine eigene Weltanschauung, und einstweilen fern von Ungarn, über Europa und Ame194

ist kein Selbstzweck und kein Spiel der Emotionen mehr, sondern ein ernst zu nehmender und notwendiger Faktor, der unsere Psyche, unser Unterbewußtsein umgestaltet. Dieses ist notwendig, da wir wissen, daß es in den großen Stunden der ausgebrochenen Revolution unsere im Alltagsleben vielleicht nicht so offensichtlichen unterbewußten Konzeptionen entscheidend beeinflussen kann, so daß wir den Befehl unserer erkannten historischen Mission auch in seinen winzigen Details erfüllen. Soviel einstweilen über diese äußerst wichtige, aber bislang noch wenig geklärte Frage. Man könnte und müßte noch vieles sagen, und wir glauben, daß es eine unserer wichtigen Aufgaben sein wird, zu dieser Frage - nunmehr konkret und kontinuierlich - anhand einzelner literarischer Arbeiten Stellung zu beziehen, um auf dem sich abzeichnenden Weg der Literatur und Kunst des revolutionären Proletariats unaufhörlich geläutert und bewußter zu werden.

1926 28 ANNA CSABAY (GYULA ILLYßS)

Eine angekommene

Generation

Eine gewisse dialektische, ja sogar geographische Kurzsichtigkeit charakterisiert die heutzutage wieder in Mode gekommenen Diskussionen über die Schwäche der neuesten ungarischen Literatur wie das Gejammer über die Kraftlosigkeit der nach der Nyugat1 auftretenden Generation, beziehungsweise darüber, daß auf die Nyugat keine Generation mit eigener Weltanschauung gefolgt wäre. In der Tat kann es für jene gesellschaftliche Periode, deren geistigen und künstlerischen Ideale - die individualistischen des stürzenden Kapitalismus - die Nyugat vertrat und noch heute mit einem bedrückenden Anachronismus vertritt, weder eine Entwicklung noch Fortsetzung geben, literarisch ebensowenig wie in gesellschaftlicher Hinsicht. An ihre Stelle kann nur etwas treten, über dessen Beschaffenheit wir uns aus Raummangel leider nicht weiter auslassen können, das aber über eine Kunst ebenso verfügt wie über eine eigene Weltanschauung, und einstweilen fern von Ungarn, über Europa und Ame194

rika, ja sogar in den verschiedenen Ländern Asiens verstreut, dennoch ungarisch ist. 2 Diese Generation, die jene soziale Anschauung bewahrte, die das auslösende Moment der während des Krieges debütierenden neuen ungarischen Literatur war und auch heute deren alleinige Existenzberechtigung darstellt, ist von dem heutigen l i t e r a r i s c h e n Publikum nicht nur auf Grund der territorialen Entfernungen getrennt. Indem diese Generation mit dem bürgerlichen Geschmack, um nicht zu sagen, mit Bequemlichkeit reflektierenden ästhetischen Auffassungen brach, bezog sie gegen unsere jahrhundertealte Kultur offen Stellung und trat für die Kultur einer Gesellschaftsordnung ein, die ihre ersten Entwicklungsphasen bereits erfolgreich überwunden hat. 3 Von daher sind ihre Schöpfungen weder klassisch noch modern, bestehen sie aber auch noch nicht vor der Kritik der „neuen" Ästhetik 4 doch sie wollen dies auch gar nicht! So hermetisch isoliert, können wir in der Atmosphäre der Leiden und Erwartungen einer Klasse gestehen, daß der Ton dieser Generation für den bürgerlichen Leser ebenso fremd und beleidigend ist wie sonst eine Manifestation der erwähnten Klasse. Das Revolutionäre dieser Generation ist zuallererst nicht literarischer Natur; denn da sie in erster Linie auf einem anderen Gebiet eine Neuerung bringen wollen, bestimmt dieses Bestreben auch ihre Kunst. Deshalb ist auch ihre Ausdrucksweise nur insofern anders und neuartig, als die Gedankenwelt und der Ton des durch sie repräsentierten Menschentyps anders sind. Bei der Erwähnung der „Klassenkunst" sehen wir jene, die geringschätzig lächeln. E i n e dialektische Kurzsichtigkeit in Anbetracht der Tatsache, daß wir schon die selbstgefälligsten Lächler sahen und auf jeden Fall ausschlaggebend ist, wer zuletzt lachen wird. E s ist indessen unbestreitbar, daß diese Generation - von einzelnen noch so geringgeschätzt - ein Problem der gesamten künstlerischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte gelöst hat: die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt aufzuheben. In den neuesten Arbeiten von A l a d ä r K o m j ä t oder S ä n d o r B a r t a werden dem Leser die individuellen Gefühle des Dichters, die so oft zitierte Aussage nicht mittels ausgesucht dichterischer Schönheit untergeschmuggelt. Inhalt und Form des Gedichtes sind so aufeinander abgestimmt, daß nicht das eine zu Lasten des anderen geht. W e r imstande ist, das Darzustellende mitzuempfinden, der versteht auch sogleich den neuen notwendigen Ausdruck. Das szenisch Neuartige der Theater13»

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stücke von B a i i n t K a p o s i und A n t a l H i d a s dient nicht der Unterhaltung eines enervierten Publikums, das auf Überraschungen aus ist. Die Konstruktionen von B é l a U i t z lassen es nicht beim Ergötzen bewenden. Unter der Oberfläche der Werke pulsiert das unerbittliche Leben, die durch den kleinbürgerlichen Empirismus nicht faßbare Wirklichkeit. Der Film Fürst Potemkiifi - die Arbeit des Proletkults 6 - beweist, in welche Richtung diese Kunst voranschreiten kann, wenn sie ihren geläuterten Formen auch einen Inhalt zu geben vermag. Diese Erkenntnis bewog auch einen Teil der nach dem Krieg debütierenden jungen ungarischen Künstler dazu, sich einen festen Boden zu suchen. Diese Auffassung vertrat zuerst die in Berlin erscheinende Egység, dann die Wiener Akasztott Ember und danach die aus der Vereinigung dieser beiden Zeitschriften hervorgegangen Ék7. So fanden im Verlaufe der Jahre alle bedeutenden Repräsentanten dieser Richtung zueinander. Außer den bereits Erwähnten: Jänos Mäcza, Imre Forbàth, Gyula Illyés, Erzsi Ujväri, Làszló Ney, Mózes Kahàna, Andräs Szilägyi, Istvän Hangoss und Gyula Zilzer, um nur die Bekanntesten aus diesem sich bewußt absondernden Kreis zu nennen. Es wäre interessant, sich mit einem jeden der Aufgeführten gesondert zu beschäftigen, doch ein viel aufschlußreicheres Bild vermittelt eine Analyse der Tätigkeit jedes einzelnen unter dem Aspekt: Was bewirkte, daß sich diese dem Charakter und der künstlerischen Auffassung nach so unterschiedlichen Menschen an einem Punkt treffen konnten? Es tauchte die Frage auf, was Modernität, Zeitgemäßheit eher bedeutet: eine Neuartigkeit der Ausdrucksmittel oder die vollständige Vergegenwärtigung der Triebkräfte der Epoche und des damit verbundenen menschlichen Inhalts? Es genügt vielleicht, wenn wir auf ein einzelnes Beispiel, besonders der westlich „Modernen" verweisen, bei denen die chaotische Sehnsucht, aus der heutigen Gesellschaft zu fliehen, nach und nach zur Mystifikation, zum Mythos und schließlich zur Religiosität tendiert - zu einer Frömmigkeit, die überholter und anachronistischer ist als die des heiligen Ignac und der heiligen Theresia. 8 Unwillkürlich fragt man sich auch: Warum ist es notwendig, diese alte Aussage, die in der ihrem Wesen gemäßen Ausdrucksform nicht nur verständlicher sondern auch gefälliger war, in s o l c h e i n Gewand zu kleiden? Das ist eine Hypertrophie des Stils, eine ziellose Geste, das feine, aber leere Spiel, ähnlich der barocken Fensterornamentik, die den Mietskasernen aufgesetzt ist.9 Demgegenüber stellt die Modernität der Künstler des Proletkults 196

nicht den neuesten Trend der Literaturentwicklung dar. Sie gaben weder dem Vorhandenen einen neuen Namen noch kennzeichneten sie das bisher noch nicht zum Ausdruck Gebrachte mit einer alten Bezeichnung: Das gemeinsame Bestreben aller war, einen Weg zu finden, die von ihnen aufgespürten Kräfte und Erscheinungen adäquat veranschaulichen zu können. Ihre Modernität resultiert dahet vor allem aus dem Bild vom neuen Menschen. Deshalb traten sie allesamt an die Quelle dieses neuen Menschen, in die aktive epocheprägende Bewegung; diese ist für sie der Beweis, daß ihre Arbeit durch keinerlei Mode zunichte gemacht werden kann und sie durch diese zu Erben einer Kultur werden, die von ihnen zwar keine Notiz nimmt, von der jedoch auch sie am liebsten nur deren Todesnachricht zur Kenntnis nehmen würden. 1927

29 LAJOS KASSÄK

Proletarische oder sozialistische Kunst? Die Redaktion der Monde (Barbusse, Gorki, Sinclair usw.) wandte sich mit folgenden Fragen an mehrere französische und ausländische Schriftsteller: 1. Glauben Sie, daß die künstlerische und literarische Produktion eine rein individuelle Erscheinung sei? Meinen Sie nicht, daß sie das Spiegelbild jener großen Strömungen sein könnte oder müßte, die die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit bestimmen? 2. Glauben Sie an die Existenz einer Kunst und Literatur, die das Streben und die Erwartungen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen? Wer sind Ihrer Meinung nach ihre wichtigsten Vertreter? Die Fragen, die auch mir zugeschickt wurden, beantworte ich mit nachfolgendem Artikel, der gleichzeitig auch in der Monde in französischer Sprache erscheint:1 Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, d. h., er ist ein organischer Teil einer größeren Gemeinschaft, letztlich des Weltuniversums. Es ist also unsinnig, sich den einzelnen Menschen ohne Beziehungen - befreit von den Gesetzen der Determinationen - als ein absolutes Individuum vorzustellen. Auf verschiedener Ebene und in unterschiedlicher Positur ist ein jeder von uns Teil des großen Ganzen; über uns alle herrschen die gleichen Gesetze, und lediglich die Situationen und Zufälligkeiten unterscheiden uns voneinander. Doch diese Unterschiede können niemals dergestalt sein, daß dadurch einzelne eine völlig individuelle Form und einen rein individuellen schöpferischen Charakter aufweisen könnten. Ich sehe das Verhältnis des einzelnen Menschen zur ganzen Welt als so eng geknüpft, daß ich für keinen Augenblick annehmen kann, das literarische und künstlerische Schaffen könnte eine rein individuelle Erscheinung sein. Da die Welt nicht konstruiert ist, sondern ein organisches Ganzes bildet, befinden sich natürlich die einzelnen Teile zum Ganzen nicht in einem solchen Verhältnis wie zum Beispiel die Schraube zur Maschine, sondern wie das Auge, das Ohr oder die Glieder zum Menschen. Mittels oberflächlicher Definition wurden die „besonderen (genauer: dekadenten) künstlerischen Werke" gewöhnlich als rein individuelle Ein201

zelprodukte bezeichnet. Als wären diese Werke Erscheinungen, die die Unabhängigkeit unabhängiger Individuen repräsentieren. Obwohl doch diese ebenso wie die sogenannten kollektiven Erscheinungen von den Mitgliedern der Gesellschaft, also den Partizipienten der Welt, hervorgebracht wurden. D e r Unterschied zwischen ihnen besteht lediglich darin, daß das eine Werk im Zeichen gesunder Zusammengehörigkeit, das andere jedoch aus dem Willen heraus entsteht, um jeden Preis aufzulösen. Kein Werk ist individueller als das andere, das eine offenbart eben eine konstruktive, das andere eine destruktive Kraft, das eine ist absonderlicher, das andere ursprünglicher und gewaltiger. J e vollkommener das schöpferische Individuum mit der Gemeinschaft zusammenlebt, je intensiver es mit ihr mitfühlt, umso ursprünglicher und gewaltiger sind seine Werke. Diese schrumpfen niemals zu bloßen Kuriositäten zusammen, mag sich die Epoche von den individuellen Eigenheiten des jeweiligen Schöpfers in wirtschaftlicher und geistiger Hinsicht noch so weit fortentwickeln, während man sich der anderen Werke jedoch bestenfalls als Kuriositäten erinnert. Beethoven, oder noch weiter Giotto 2 bringen das Gemeinschaftsgefühl und den Zustand des inneren Gleichgewichts zum Ausdruck, ihrem Einfluß kann sich keiner völlig entziehen, so wie sich niemand ganz von seiner Vergangenheit befreien kann; und auch die sprunghaft voranschreitenden Epochen profitieren von ihnen. Auf Grund dieser Auffassung glaube ich an die Existenz einer Kunst, die das Streben und die Erwartungen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringt. D e n überwiegenden Teil der Menschheit bildet die Arbeiterklasse, vom Gesichtspunkt der Entwicklung ist sie der kommende Faktor, der'die Geschichte macht, und durch ihre Aktivitäten wird die Entfaltung des Lebens horizontal wie vertikal vorangebracht. E s ist also ausgeschlossen, daß dieses Bestreben in der Kunst inhaltlich wie auch formal nicht gegenwärtig sein sollte. Rückwirkend ließe sich leicht beweisen, wie ökonomische und politische B e wegungen einzelner Epochen die religiöse, ästhetische und moralische Ideologie der Gesellschaft verändert haben, wie diese Ideologie von der Kunst aufgesogen wurde und eine sich in ihrem Wesen gewandelte Kunst als ideologische Machtkomponente neuen wirtschaftlichen und politischen Bewegungen die Bahn ebnete. Ich denke dabei nicht an eine besondere handwerkliche Kunst oder an eine Kunst, die der herrschenden Klasse als Unterhaltung dient, sondern an eine Kunst, die die hoch nicht realisierten Gedanken und Sehnsüchte der unterdrückten Massen ausdrückt:

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Gibt es also eine proletarische Kunst? Nein, sie gibt es nicht. Das Proletariat lebt im allgemeinen auf einem derart niedrigen kulturellen Niveau, daß es ihm mit eigenem geistigen Rüstzeug unmöglich ist, sein eigenes Leben auf der Ebene der Kunst zum Ausdruck zu bringen. Kann die Zeit kommen, da es eine proletarische Kunst geben wird? Nein. Wenn sich das Proletariat wirtschaftlich, politisch und ideologisch aus seiner ihm heute aufgezwungenen Klassenlage befreit haben wird, dann kann von der Schaffung der proletarischen Kunst keine Rede mehr sein. Unter der Klasse der Proletarier verstehen wir die aus den Sklaven des Altertums und aus den Leibeigenen hervorgegangenen Lohnarbeiter, die dem imperialistischen Kapitalismus ausgeliefert sind. Das Bestreben dieser Klasse ist die Abschaffung der gegenwärtigen Klassengliederung und die Schaffung einer neuen, klassenlosen Gesellschaftsordnung. Für die Vorkämpfer dieser Klasse ist nicht ihre proletarische Herkunft charakteristisch, sondern ihre sozialistische Einstellung. In Verbindung mit der Klasse des Proletariats können wir also von der Entstehung einer neuen Klassenkunst nicht reden (die Schaffung einer solchen Kunst widerspricht deren Lebenstendenz); die moderne Arbeiterbewegung kämpft für die Verwirklichung des Sozialismus, eine Kunst, die sich dieses Bestreben zueigen macht, kann heute nur eine klassenlose und sozialistische, eine kollektive Kunst sein. Zweifelsohne ist die Gestaltung der Kunst von den wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Bewegungen der jeweiligen Epoche nicht unabhängig. Doch die tatsächlich zeitgemäße Kunst repräsentiert niemals die verwirklichten Ergebnisse der Epoche, sondern den fortschrittlichen Geist der Zeit, die noch nicht realisierten Sehnsüchte und Vorhaben und verkündet diese auf der Ebene der Kunst. In Rußland wollten zum Beispiel L u n a t s c h a r s k i und B o g d a n o w unmittelbar nach dem Ausbruch der Revolution künstlich und mit staatlicher Unterstützung den sogenannten P r o l e t k u l t schaffen - doch sie konnten keinerlei beachtenswerte Erfolge aufweisen. 3 T r o t z k i und G o r k i widersetzten sich schon damals dieser im Grunde genommen reaktionären Bewegung, und ihre Auffassung hat sich auf der ganzen Linie bestätigt. 4 Die neu geschaffene russische Malerei, Architektur, Musik und zuletzt auch Literatur, die keinen „proletarischen Charakter" tragen, jedoch von der sozialistischen Ideologie geprägt sind, hatten und haben auch heute noch in Ruß203

land wie in der ganzen Kulturwelt einen unleugbaren Einfluß auf die neue Kunst, die in ihrer Entwicklung auf den Geist des Sozialismus orientiert ist. Also handelt es sich nicht um eine proletarische Kunst, sondern um eine sozialistische, menschliche Kunst, die keine Klassengliederung duldet. Allein davon kann die Rede sein. Ein Vertreter dieser Kunst war Z o l a , und ihr größter Repräsentant ist heute G o r k i. Beide sind tendenziöse Schriftsteller. Doch ihre Tendenz erschöpft sich nicht im Variieren parteipolitischer Losungen, sie ist eine kollektive, also gesunde Lebenstendenz, die den kämpferischen und einen jeglichen Wert der Entwicklung zusammenzufassen sucht. Die „proletarische Kunst" ist nichts anderes als eine mit künstlerischen Mitteln betriebene politische Propaganda; die s o z i a l i s t i s c h e K u n s t ist ein geistiger Repräsentant der Massen und somit eines der Grundelemente bei der Schaffung der neuen Gesellschaftsordnung. Solch eine Kunst gibt es, und nur eine solche kann es geben, leuchtet doch jede bisherige Kunst neben allen sonstigen Erscheinungen die wirtschaftlichen, politischen und moralischen Beweggründe vergangener Epochen am klarsten aus. Die wahre Kunst ist die Lyrik, sie ist unmittelbare Offenbarung. Bei einem Volkswirtschaftler und einem Politiker ist das Eingreifen des subjektiven Ichs jedesmal geschichtsfälschend - die lyrische Entblößung und Aufrichtigkeit zeigt den Menschen in der Kunst dagegen ganz, inmitten von Leid und Freud seiner Zeit, von Revolution und Konterrevolution. 1928

30 ATTILA JÖZSEF

35 Gedichte von Lajos Kassäk Schöpfer eines geistigen Werkes ist der Mensch. Der Mensch ist erstens ein werteschaffendes Wesen; zweitens ein gesellschaftliches Wesen und drittens bis zu einem gewissen Grade eine Persönlichkeit, d. h. irgendein Vertreter der Gemeinschaft. Demzufolge können 204

land wie in der ganzen Kulturwelt einen unleugbaren Einfluß auf die neue Kunst, die in ihrer Entwicklung auf den Geist des Sozialismus orientiert ist. Also handelt es sich nicht um eine proletarische Kunst, sondern um eine sozialistische, menschliche Kunst, die keine Klassengliederung duldet. Allein davon kann die Rede sein. Ein Vertreter dieser Kunst war Z o l a , und ihr größter Repräsentant ist heute G o r k i. Beide sind tendenziöse Schriftsteller. Doch ihre Tendenz erschöpft sich nicht im Variieren parteipolitischer Losungen, sie ist eine kollektive, also gesunde Lebenstendenz, die den kämpferischen und einen jeglichen Wert der Entwicklung zusammenzufassen sucht. Die „proletarische Kunst" ist nichts anderes als eine mit künstlerischen Mitteln betriebene politische Propaganda; die s o z i a l i s t i s c h e K u n s t ist ein geistiger Repräsentant der Massen und somit eines der Grundelemente bei der Schaffung der neuen Gesellschaftsordnung. Solch eine Kunst gibt es, und nur eine solche kann es geben, leuchtet doch jede bisherige Kunst neben allen sonstigen Erscheinungen die wirtschaftlichen, politischen und moralischen Beweggründe vergangener Epochen am klarsten aus. Die wahre Kunst ist die Lyrik, sie ist unmittelbare Offenbarung. Bei einem Volkswirtschaftler und einem Politiker ist das Eingreifen des subjektiven Ichs jedesmal geschichtsfälschend - die lyrische Entblößung und Aufrichtigkeit zeigt den Menschen in der Kunst dagegen ganz, inmitten von Leid und Freud seiner Zeit, von Revolution und Konterrevolution. 1928

30 ATTILA JÖZSEF

35 Gedichte von Lajos Kassäk Schöpfer eines geistigen Werkes ist der Mensch. Der Mensch ist erstens ein werteschaffendes Wesen; zweitens ein gesellschaftliches Wesen und drittens bis zu einem gewissen Grade eine Persönlichkeit, d. h. irgendein Vertreter der Gemeinschaft. Demzufolge können 204

wir jedes geistige Werk, so auch ein Gedicht, von drei einander berührenden Gesichtspunkten aus untersuchen: 1. ob es Gültigkeit besitzt (also richtig ist, ob es einen Eigenwert, einen theoretischen Wert hat); 2. welche Rolle es in den gegebenen Klassenkämpfen einer bestimmten Gesellschaft spielt (ob es von gesellschaftlichem Wert ist) und schließlich 3. welch menschlicher Geist sich darin offenbart. D e m letzten Gesichtspunkt wird nur selten eine Bedeutung beigemessen, so daß ich der Auffassung bin, daß die bürgerlichen Kritiker gerade deshalb diese Seite der Frage in den Vordergrund schieben. Von Bedeutung wird er dann, wenn er zugleich mit Nachdruck auch die Frage beinhaltet, in welch einer Art von Verhältnis das sich in einem Geisteswerk offenbarende Individuum zur Gemeinschaft steht. Ist doch jedes Individuum lediglich ein besonderer Träger des Gesellschaftlichen. Diese drei Fragen gehören untrennbar zusammen und kennzeichnen im Falle reiner Kunstwerke lediglich die drei Formen des künstlerischen Wertes. Versuchen wir, diese auf die neuen Gedichte von Lajos Kassäk anzuwenden. 1 1. Vor allem wollen wir feststellen, daß die Gedichte Kassäks zwar Produkte einer geistigen Arbeit, jedoch keineswegs Geisteswerke sind. Sie enthalten nichts, was für ein geistiges Werk auch nur in irgendeiner Weise kennzeichnend wäre. E r produziert Schriften, in denen die Merkmale des Schreibens fehlen. E r fabriziert Sätze, die der syntaktischen Bezüge entbehren. E r hält Bilder fest, die die anschauliche Kontinuität vermissen lassen. E r bringt Gedanken hervor, die keinen Sinn in sich tragen. E r stellt Wortzusammensetzungen her, ohne daß sie eine Bedeutung hätten. Welche Zeichen hat denn eine solche Schrift, welchen Zusammenhang findet man zwischen derartigen Sätzen, was für eine Art von Kontinuität ist durch solche Bilder, welche Bedeutung in solchen Gedanken zu entdecken, kann man denn solche zusammengefügten Satzteile als eine Einheit betrachten, und haben derartige Dinge und Zusammenfügungen wie der folgende Satz: „Die Blume wirft Schatten, die Wolke hat eine Krone aus Gold/alles hängt von deinen Augen ab und von jenem Stahlzylinder, der auf dem Hügelhang/tickt", 2 überhaupt eine Bedeutung? D a s ist lediglich eine einzige Zeile, der Beginn eines einzigen Gedichts. Aber weder dessen Fortsetzung noch die restlichen 34 Gedichte fallen anders aus. Sie sind nicht unverständlich, wohl aber unsinnig. Sie haben weder in noch außer sich einen Sinn. Sie haben weder einen Sinn im Besonderen noch im Allgemeinen. Und vor allem haben sie keinen Sinn in gesellschaftlicher Hinsicht. Ist denn ein Gedicht ein geistiges

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Werk? Ist es erforderlich, daß ein Kunstwerk verständlich ist? Hat nicht Kassäk selbst, allerdings schon vor längerer Zeit, lauthals das dümmste Prinzip verkündet, wonach „die Wörter nicht dazu da sind, um sich mit einem Sinn abzuschleppen, wie ein Sackträger!" 3 Nun, das Wort ist vielleicht die einzige Sache, die einen unmittelbaren Sinn hat. Andererseits ist der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen, und Gedichte werden vom Menschen geschaffen. Geschaffen? E r gibt ihnen die Gestalt. Im Leben des Menschen fällt die Rolle der Formgestaltung dem Intellekt zu. Die Intuition schafft keine Form, sondern sie richtet sich auf die Form vorhandener Zusammenhänge. Der Verstand verleiht auch der Wahrheit nur die Form, damit sie eingesehen, erfaßt und greifbar werden kann; es ist nicht der Verstand, der die Wahrheit hervorbringt. Uns ist auch bekannt, daß die Kunst ihre Bilder aus der Tiefe des menschlichen Bewußtseins und der Seele, oder wenn man will, des Unterbewußtseins, auf jeden Fall aber aus der Vergangenheit des menschlichen Lebens heraufholt, die zur Gegenwart verdichtet ist. Dies geschieht jedoch im Traum ebenso wie in den Träumereien des Wachseins. Doch die Kunst unterscheidet sich dadurch von jeglichem Traum und jedweden Ausschweifungen der Phantasie, daß sie die aus der Tiefe des Bewußtseins und der Seele auftauchenden Bilder vernunftgemäß ordnet, ihnen eine unmittelbare Bedeutung eingibt und diese Bedeutungen in einer unmittelbaren geistigen Beziehung zusammenfaßt. Ich rede deshalb von einer unmittelbaren Bedeutung und von einer unmittelbaren geistigen Beziehung, weil sogar die Traumbilder eine nicht unmittelbare, aber immerhin verständliche Bedeutung besitzen. - All dies zusammengenommen, sind die Gedichte von Kassäk Illustrationen zu einer äußerst gedankenlosen und unsinnigen Ästhetik. 2. Infolgedessen ist es offenkundig, daß in Verbindung mit diesen Schriften Kassäks von einem gesellschaftlichen Wert nicht im entferntesten die Rede sein kann. Dennoch spielen sie im Klassenkampf wie jede gedruckte, rezitierte, vorgetragene usw. Mitteilung nolens volens eine Rolle. Haben diese Mitteilungen auch nur den geringsten Nutzen für die Arbeiterschaft? Zwei Möglichkeiten gibt es: Entweder sie wirken, oder sie wirken nicht. Wenn sie nicht wirken, dann haben sie auch keinen Wert. Dies wäre der wünschenswertere Fall. Kann denn ihre Wirkung (betrachtet man die uns bisher bekannten) eine andere sein, als daß sie die jungen Köpfe irritiert, das wachsende proletarische Selbstbewußtsein hemmt und die im Lichte des Sozialismus erscheinende Welt in die Dunkelheit zurückstößt? Wir 206

leben im Zeitalter des Imperialismus. Kann denn der Jungarbeiter ein guter Kämpfer seiner Klasse und seiner historischen Aufgabe sein, der auf solche Zeilen baut: „Im Windfang wohnt unser altes Mütterchen, laßt sie heraus, sie wird schon irgendeinen Rat geben/aber bis dahin ist es ratsam, wenn ihr euch täglich zweimal im kalten Wasser wascht/die öffentlichen Klosetts meidet und euch am Abend nicht/ zur Lektüre von Bernard Shaw versteigt"?'* Kann denn ein Jungarbeiter selbstbewußt werden und unsere Hoffnungen erfüllen, wenn sein kaum infizierter Verstand über die folgenden Zeilen Kassäks grübelt: „glaubt ihr, daß ihr zwischen zwei traurigen Lampen mit künstlichen Armen und Beinen aufwachst/aber jedermann weiß, ihr treibt euch herum auf öffentlichen Plätzen/und prahlt mit den Pickeln die um eure Nasen blühen"? 5 3. Aus dem Bisherigen ergibt sich von selbst die Frage, was für eine Persönlichkeit denn Kassäk sei. Bei welcher Philosophie sucht er Zuflucht, wenn er bereits die Wirklichkeit aus seinen Händen gleiten läßt wie ein zerstreuter Fischer den schlüpfrigen Fisch. „Alles hängt von deinen Augen ab" - das ist der Brennpunkt der Kassäkschen Auffassung. Demzufolge ist er ein Subjektivist und Relativist, was ihn schon in den feinsten Fasern der Theorie vom Sozialismus, vom Marxismus trennt, der ja bekanntlich objektiv und dialektisch ist und den Auffassungen ä la Kassäk feindlich gegenübersteht. Doch Kassäk geht noch weiter: „. . . alles hängt von deinen Augen und von jenem Stahlzylinder ab, der auf dem Hügelhang tickt." Nun, falls wir dem Relativismus entnehmen konnten, daß er sich ein wenig auf die Dinge der Außenwelt bezieht, dann verblüfft uns der Stahlzylinder des Hügelhangs nicht nur, sondern er widerlegt uns auch. Dieser Stahlzylinder am Hügelhang und sein Ticken sind zweifelsohne das Produkt der Kassäkschen Vorstellung, die mit der Wirklichkeit nur insofern zu tun haben, als sie im Kopf des Autors entstanden sind. D i e Welt hängt also auch von diesem eingebildeten Gegenstand a b ; nicht nur von Kassäks Anschauung, sondern auch von den eingebildeten Gegenständen seiner Anschauung. Wir stehen hier der letzten Stufe des subjektiven Idealismus gegenüber, die von der Geschichte der Philosophie als Solipsismus bezeichnet wird. Für ihn gibt es in der Welt nichts außer solus ipse, außer ihm selbst, Lajos Kassäk, dem Autor dieser numerierten Verse, dem solipsistischen Erzieher der Jungarbeiter. Lenin sagt über den Solipsismus, daß er eine Weltanschauung ohne Welt ist, und laut Schopenhauer findet man konsequente Solipsisten nur in den Irrenhäusern. Nun, Kassäk protestiert 207

gegen die Bezichtigung dieser Konsequenz nicht nur mit seiner Teilnahme in der Arbeiterbewegung, sondern auch durch einzelne Zeilen dieser Mitteilungen. Denn es gibt in diesen numerierten gegenständlichen Dingen auch sinnvolle Zeilen, die sich allerdings auf Kassäk selbst beziehen, was wiederum von einer anderen Seite her von seinem Subjektivismus zeugt: „Wenn ich merke, daß der Boden, in den ich meine Wurzeln versenkte, aus Papier ist, wird mir schwindlig"; „ich spüre, daß die Winde mich über die Barrieren der Finsternis herüberheben o meine Brüder die ich auch vielleicht mit meinen schmutzigen Händen geschlagen und in meiner Eitelkeit verraten habe, verzeiht mir in dieser Stunde"; „siehe ich bin ein einfältiger Mensch, der durch die schlechten Jahre wild und durch die Enttäuschungen unsicher geworden ist"; „laut frage ich wann trat ich nach links als ich nach rechts hätte treten sollen, oder umgekehrt, so daß ich jetzt hier an der Schwelle stehe ohne zu wissen, welches der Weg ist, den ich betreten sollte und welches das Tor ist, hinter dem das Gebäude der befreiten Arbeit steht"; „ein Waisenkind bin ich, das man in einem einzigen Hemd inmitten der Stadt vergessen hat" 6 , und anderes mehr. Ich gestehe, diese kleinbürgerliche Traurigkeit wäre rührend, wenn sie einen Sinn hätte. Denn diese Zeilen, die hier zusammenzuhängen scheinen, gehören keinesfalls zusammen - die eine stammt aus dieser, die andere aus jener Mitteilung, und sie alle bewegen sich in einem solchen Kontext, der Lesen unmöglich macht. Ich glaube, daß diese Zeilen aufrichtig sind und in der Tat den Menschen charakterisieren, der hinter ihnen steht. Doch was hätten wir mit ihm zu tun, würde er für sich nicht eine gesellschaftliche Rolle beanspruchen? Was hätten wir an seiner traurigen und gebrochenen Persönlichkeit auszusetzen, wenn er nicht behauptete, er sei Sozialist? Sein Kummer und seine krankhafte Empfindsamkeit sind so sehr an seine hinfällige Person gebunden, daß schon die leiseste sozialistische Selbstkritik ihn daran hindern würde, diese Zeilen zu publizieren sowie sie ihn erst recht davor bewahren würde, hinauszuposaunen, daß diese Ideologie Sozialismus und diese Haltung sozialistisch sei und daß man die Arbeiterjugend in dieser Ideologie erziehen müsse. Doch hier ist noch etwas, was die Aufmerksamkeit lohnt, weil es sich auf einen Verlust bezieht, der mit den Ketten nichts zu tun hat. Der Titel des Buches lautet: 35 Gedichte; von 66 bis 100 sind alle numeriert. Aber es stellt sich heraus, daß es auch eine 36. Mitteilung gibt, und zwar die einzige, die auch einen Titel hat und ohne Bruch einen zusammenhängenden Sinn ergibt, die Kassäk vielleicht gerade 208

deshalb nicht für ein Gedicht hält. Vielmehr wird sie für eine gewichtigere Mitteilung gehalten, denn, wie bereits erwähnt, spricht Kassäk darin vernünftig, ja, er setzt sie sogar an den Schluß seines Buches, gleichsam als Ausklang. Ihr Titel heißt: Gedenkt seiner. Ja, wessen denn? Nun, man höre: „Die Menschen kommen und gehen/ und ich rede jetzt von einem solchen Menschen/und Freund, der sich vor 53 Jahren zu uns auf den Weg gemacht hatte/vor 53 Jahren, als wir noch nicht lebten, machte er sich auf den Weg/um mit uns zusammenzutreffen/und nun ist er mit schrecklichem Kummer und einem Stückchen Blei im Herzen für immer/von uns gegangen"; „wenn du ein Dichter bist, sag ich zu mir, dann rede jetzt/aber ich vermag mich lediglich unbeholfen zu erinnern/- sein Name ist: E r n o O s v ä t h " - /„welch ein gütig harter Mensch war er/und wir stehen jetzt hier alle verwaist eingehüllt in das schwarze Tuch der Trauer/ und haben kein Licht, das wir ihm zum Lob anzünden könnten/und wir haben keine Truhe, in der wir seine Geschenke anhäufen könnten". 7 Also gedenken wir des E r n ö O s v ä t h ! Wir gedenken seiner. Den bürgerlichen Gedanken hat dieser „gütig harte Mensch" rücksichtslos nach links hin vertreten. Hatte er sich denn vor 53 Jahren auf den Weg zu uns gemacht, als wir noch nicht lebten (wir lebten noch nicht? oder wer lebte noch nicht? die Vierzigjährigen oder die Sozialisten lebten noch nicht?) - war er zu uns oder zu wem aufgebrochen? Nun, Ernö Osvath ist jemand, den Kassäk außer seinen Ketten zu verlieren hatte. 8 Und die heutigen Ernö Osväths, die sich mit der veränderten Konterrevolution geändert haben, sind diejenigen, die Kassäk - außer seinen Ketten - zu verlieren hat. Wir erinnern uns. Und auch Kassäk wird sich noch erinnern. So an Aurel Stromfeld, 9 allerdings nur mit Plattheiten und verschwommen. Weniger gut als an seinen Osväth. Und dessen Name schreibt er nicht mehr wie den von Osväth - mit lauter großen Buchstaben. 1931

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Befunde

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31 LAJOS NAGY

Ist das Theater eine Rednertribüne oder ein Brettl? Ferenc Molnär hielt an der Columbia-Universität von New York eine Vorlesung über die ungarische Theaterliteratur. 1 Charakteristisch für die Gesellschaftsanschauung des von allgemein menschlicher Anhöhe auf die Niederungen des kleinbürgerlichen Niveaus hinabgeglittenen Schriftstellers und für seine „Ästhetik" ist jener kleine Gedankenflug, mit dem seine Vorlesung endet: die Erörterung jener alten Frage, ob „das Theater mehr als eine angenehme Abendunterhaltung kultivierter Menschen" ist. Molnärs Antwort lautet: „Ich glaube, ja. Ich glaube daran, daß das Theater das schönste und ewige Spiel des menschlichen Gehirns ist, unsterblich und mannigfaltig, wie das sich immer erneuernde Leben. Ich bin kein Anhänger jener Auffassung, daß das Theater eine Rednertribüne ist: eine Institution für die Propaganda moralischer Richtungen oder politischer Strömungen. Als längst bewiesen sehe ich den kühnen Satz von Dumas: 'Das Theater hat nie jemanden verändert und wird auch nie jemanden verändern.' 2 Ich halte jede Ansprache auf einer Volksversammlung für eine wirkungsvollere Propaganda als eine jede noch so aufregende Theateraufführung. Der Vorhang, der sich am Ende des Spiels zwischen den Schauspieler und den Zuschauer senkt, ist die dickste Wand der Welt. Er zeigt gnadenlos an, daß die Illusionen zu Ende sind und draußen das Leben weitergeht. Dieser gnadenlose Vorhang ist aber das Wesentliche des Theaters. Alles, was sich hinter ihm befindet, ist eine Traumwelt: schöner oder häßlicher als die Wirklichkeit, aber ein Traum, also unwirklich. Und Unwirkliches wiegelt weder zum Guten noch zum Bösen auf." 3 Diese Theaterauffassung ist falsch. Vor allem jedoch enthält sie auch einen Widerspruch, also werde ich zuerst den Widerspruch beseitigen. Die Frage lautet: „Ist das Theater mehr als eine angenehme Abendunterhaltung kultivierter Menschen?" Darauf Molnärs Antwort: „Ich glaube, ja." Doch sofort stellt sich nach Molnär heraus, daß es nicht mehr ist. Denn: „Ich glaube daran, daß das Theater das schönste und ewige Spiel des menschlichen Gehirns ist, unsterblich und mannigfaltig, wie das sich immer erneuernde Leben. Ich bin kein Anhänger jener Auffassung, daß das Theater eine Rednertribüne ist." 210

Also ist das Theater doch nicht mehr als Unterhaltung, doch mehr wäre es insofern, daß es „das schönste ewige Spiel des menschlichen Gehirns ist". Dies bedeutet jedoch keinerlei Plus gegenüber jener Auffassung, daß das Theater Unterhaltung ist. Molnär spielt mit Worten, an die Stelle des Wortes „Unterhaltung" setzt er „schönstes ewiges Spiel"; das gibt Molnär nicht das Recht, auf die unsprüngliche Frage zu antworten: „Ich glaube, ja." Er müßte antworten: „Ich glaube, nein." Wenn das Theater mehr wäre als Unterhaltung, dann wäre es durchaus eine „Rednertribüne". Selbstverständlich nicht im Sinne der Rednertribüne einer Volksversammlung, denn auf der Bühne geht es nicht um aktuelle, tagespolitische Fragen, sondern um tiefere, weniger an Ort und Tag gebundene Probleme, doch um Probleme. Selbstverständlich braucht Molnär, der heutige Molnär, von der Bourgeoisie international hochgeschätzt, die kämpferische Auffassung nicht, daß die Bühne eine Rednertribüne ist. Um eine solche Qualität der Bühne zu diskreditieren, spricht er von der Ansprache auf einer Volksversammlung, die er für die Zwecke der „Propaganda" für geeigneter hält als die Theateraufführung. Er vergißt, daß es vielerlei Propaganda gibt, eine zum Beispiel war die Propaganda der Stücke in der Art von Beaumarchais,4 was nichts anderes ist, als die französische Gesellschaft mit neuen Augen sehen und sehen lassen, an die Stelle der feudalen, die bürgerliche Anschauung in ihre Rechte einsetzen - das ist die eine; die andere jedoch ist die Ansprache an das Volk, damit wir die Bastille stürmen. Um letzteres zu erreichen, ist die Ansprache auf einer Volksversammlung in der Tat zweckdienlich, doch dem ersten Ziel entsprachen durchaus die Stücke von Beaumarchais, wie die Folgen gezeigt haben, bis zum Sieg des Bürgertums, bis zur Universitätsvorlesung in der Art von Molnär. Nun, Molnär glaubt aber, die Welt habe ihre endgültige Form angenommen, sie bleibt dabei stehen und geht nicht weiter, bewegt sich nicht, auch wenn man gleich Feuer unter ihrem Bauch wie bei einem störrischen Pferd anzünden würde. Molnär und seine Klassengefährten wollen kein Fortschreiten, also ist die Bühne keine Tribüne, nur Spiel. Es stimmt, sie haben sie auch auf das Niveau des „nur Spiels" demoralisiert, auf die Niederung des Brettl. Doch ist auch das Theater Piscators5 nur Spiel? Ist auch das Hoppla, wir lebend nur „das schönste und ewige Spiel des menschlichen Gehirns"? Ich glaube, Molnär verwechselt das Theaterspiel mit dem Kalabrias-Kartenspiel. 14»

211

Im Unterbewußtsein weiß er dies sehr gut, auch daß er nicht recht hat. Sagt er doch, was hinter dem Bühnenvorhang ist, das ist eine Traumwelt. Nun, was ist der Traum? Wer sich auch nur ein wenig in der Psychoanalyse auskennt, der weiß, daß der Traum die wichtigste Äußerung der menschlichen Seele ist.7 Im Traum, durch ihn werden solche Instinkte und Wünsche wach, die wir lange verdrängt haben, von denen wir nichts mehr wissen. Soll doch das, was auf der Bühne geschieht, ein Traum sein. Auch dann ist das Bühnen-„Spiel" ein großartiger Prozeß des sich seiner selbst bewußt werdenden Publikums. Denn es stimmt nicht, daß, sobald sich der Vorhang gesenkt hat, alles vorbei ist und draußen das Leben weitergeht. Das stimmt nicht. Nach den Webern oder dem Anathemtfi geht draußen das Leben nicht mehr so weiter wie bisher, denn auch wir nehmen an diesem Leben teil, auch wir sind aktiv Beteiligte, und wir sind bereits mit neuen Erkenntnissen belastet. Was auf der Bühne geschieht, das ist nicht zu Ende. Es lebt weiter und wird Teil unseres seelischen Erlebens. Wir tragen es in uns, es wirkt in uns. Molnär tut so, als wüßte er nicht, daß die Menschen nach dem Bühnen-„Spiel" über das, was auf der Bühne vor sich gegangen ist, noch nachdenken, sprechen und Kritiken, Studien, Bücher, manchmal ganze Bibliotheken schreiben, zum Beispiel über Hamlet. Mit anderen Worten, die Analyse des „Traums" dauert an: Aus der unbewußten Welt des Publikums, der Gesellschaft, wurde etwas auf der Bühne gezeigt, und diese Erkenntnis versuchen wir uns bewußt zu machen, wodurch sich bereits unser Verhalten im Leben verändert, auch unbeabsichtigt, und wir uns zu lebensfähigeren, sozialeren Wesen erheben. Als hätte Molnär nie von der Katharsis gehört, von der Läuterung der Seele, die durch ein Miterleben der griechischen Tragödie eintritt, als hätte er nie von der Sublimierung der Instinkte gehört, zum Beispiel von der Verschärfung des Sadismus durch Kunstwerke, mithin milder als der rohe Mord; als wüßte er nichts vom Ödipus-Komplex, der nach Ansicht der Psychoanalyse ein solch mächtiger Faktor für unsere ganze Denkungsart ist, was die Menschheit durch das Drama Sophokles' vorausahnte.9 Ja, so ist es, „spielt"10 man Nachtasyl oder Hamlet, dann ist die Bühne eine Rednertribüne, obwohl das Wort „Rednertribüne" lediglich eine Bedeutung, ein Gewicht hat und nur insofern glücklich ist, weil es auch etwas von jener agitativen Kraft ahnen läßt, die dem literarischen Werk unbewußt entströmt; wenn man jedoch den Wolf, den Schwan11 oder die anderen internationalen ungarischen Herrlich212

keiten spielt, dann ist die Bühne ein Vergnügungsort. Sogar schlimmer: ebenfalls eine Rednertribüne, doch es gibt zweierlei Rednertribünen, solche, von denen die Wahrheit gesagt, und solche, von denen Lug und Trug verbreitet wird. Vergnügungsort, Brettl, Sprungbrett, alles eins. Also nur Eicheln für das Schwein? „Nur ein Spiel" für die internationale Bourgeoisie - sie itur ad astra, so kommt der Mensch bis zu den Sternen, wie zu dem sich im blauen Feld wärmenden neunundvierziger Stern der rotweißen Fahne, bis hin zu den New Yorker Banketts und der öffentlichen Verleugnung der Koblendieben und anderer bedeutender Werke. 1928

32 GABOR GAAL

Über das Antlit% der neuen ungarischen Lyrik In unserer jüngsten Lyrik ist zweifelsohne ein Ruhezustand eingetreten. Kassäk und seine Kameraden sind, an den heftigen Kämpfen um Formenexperimente der Vorjahre (aber nur an den Kämpfen) gemessen, stehengeblieben. Im weiteren Sinne auch Kassäk. (Auf einen Wink der Zeit und der ungarischen Literatursituation hat er sich der Prosa zugewandt.) In der Dichtung hat er sozusagen heimgefunden. Zwar las ich keine Arbeit solchen Inhalts von ihm, habe aber trotzdem das Gefühl, daß er auch in bezug auf seine Intentionen jetzt im Gedicht zurückblickt und von den einstigen plötzlichen Zielen und emphatischen Absichten vermeint, sie seien nur Mittel zur Erreichung der heutigen klaren Situation gewesen. Und ebenso meint er, sie hätten zwischen den aufreizenden Ideen ruhelosen Gestaltens während des letzten Jahrzehnts, zwischen den revolutionären Erschütterungen der Zeit und den Ufern künstlerischer Formauflösung und Formsynthese gleichfalls einen Ruhepunkt erreicht. Die Inspiration der Tage, unsere Tage1 ist zum Stillstand gekommen. Sinn, Schicksal und Inhalt der Zeit sind in dieser Beziehung klar. Und klar sind auch die Aufgaben und Pflichten, mit denen der Künstler heute auf erstere zu reagieren hat. Kassäk, meine ich, weiß bereits - gewissermaßen akademisch - , wie das Gedicht nach so vielen schönen Jahren 213

keiten spielt, dann ist die Bühne ein Vergnügungsort. Sogar schlimmer: ebenfalls eine Rednertribüne, doch es gibt zweierlei Rednertribünen, solche, von denen die Wahrheit gesagt, und solche, von denen Lug und Trug verbreitet wird. Vergnügungsort, Brettl, Sprungbrett, alles eins. Also nur Eicheln für das Schwein? „Nur ein Spiel" für die internationale Bourgeoisie - sie itur ad astra, so kommt der Mensch bis zu den Sternen, wie zu dem sich im blauen Feld wärmenden neunundvierziger Stern der rotweißen Fahne, bis hin zu den New Yorker Banketts und der öffentlichen Verleugnung der Koblendieben und anderer bedeutender Werke. 1928

32 GABOR GAAL

Über das Antlit% der neuen ungarischen Lyrik In unserer jüngsten Lyrik ist zweifelsohne ein Ruhezustand eingetreten. Kassäk und seine Kameraden sind, an den heftigen Kämpfen um Formenexperimente der Vorjahre (aber nur an den Kämpfen) gemessen, stehengeblieben. Im weiteren Sinne auch Kassäk. (Auf einen Wink der Zeit und der ungarischen Literatursituation hat er sich der Prosa zugewandt.) In der Dichtung hat er sozusagen heimgefunden. Zwar las ich keine Arbeit solchen Inhalts von ihm, habe aber trotzdem das Gefühl, daß er auch in bezug auf seine Intentionen jetzt im Gedicht zurückblickt und von den einstigen plötzlichen Zielen und emphatischen Absichten vermeint, sie seien nur Mittel zur Erreichung der heutigen klaren Situation gewesen. Und ebenso meint er, sie hätten zwischen den aufreizenden Ideen ruhelosen Gestaltens während des letzten Jahrzehnts, zwischen den revolutionären Erschütterungen der Zeit und den Ufern künstlerischer Formauflösung und Formsynthese gleichfalls einen Ruhepunkt erreicht. Die Inspiration der Tage, unsere Tage1 ist zum Stillstand gekommen. Sinn, Schicksal und Inhalt der Zeit sind in dieser Beziehung klar. Und klar sind auch die Aufgaben und Pflichten, mit denen der Künstler heute auf erstere zu reagieren hat. Kassäk, meine ich, weiß bereits - gewissermaßen akademisch - , wie das Gedicht nach so vielen schönen Jahren 213

künstlerischen Aufbegehrens sein kann, bzw. welches die aufbauenden und Ordnung bringenden Kräfte sind, die im wirklichen heutigen Formenklang enthalten sind. Kassäk sei „abgeklärt", sagen jene, die seine Vergangenheit als Experiment betrachten; er macht in Mittel und Repräsentation die Tage, unsere Tage bewußt, sage ich, der ich das stetige Wachsen während seiner experimentellen Jahre beobachtet habe. Das um die Identifikation von Zeit und Form bemühte Experimentieren hat aufgehört. Zeit und Form sind sich begegnet, in der Realität wie in der Theorie. Das Resultat liegt vor . . . Nach diesem Resultat, das auf dem Gebiet der Lyrik heute die Pester Unabhängigen2 repräsentieren, gehört weder der Kassäksche Gedichttyp noch der seiner nächsten Kameraden zum Dichtstil einer Losungsgruppe, die in jüngster Zeit häufig hervorgehoben wurde. 3 Zum Gedichttyp der formauflösenden Ismen aber gehörte diese ungarische Bestrebung selbst während des zehnjährigen Experimentierens nicht. So steht diese Dichtung auch außerhalb der synthetischen Schulen, wie sie etwa der Kubismus oder der Konstruktivismus waren. Dieser Gedichttyp ließe sich in kurzen Worten so charakterisieren: Er bedeutet in seiner gesamten Repräsentation einen absoluten und modernen Purismus. Diese Gedichte wollen „einfach" und „klar" sein, aber so, daß sie alle heute noch modernen, formalen wie sonstigen Ergebnisse der weltliterarischen Vergangenheit und der europäischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts in sich aufnehmen. Das bedeutet ein existentes, lebendiges Plus für das freie schöpferische Tun ebenso wie für seine formalen Bindungen: eine Synthese der Spitzenergebnisse. In diesem Sinn ist er sicherlich akademisch geworden. Er sucht das Beste, Zweckmäßigste und Beispielloseste, das beim synthetischen Komponieren zu Wort kommen kann. Wenn er gestern noch experimentierte, so purifiziert er heute. An den gestrigen Erregungen des Aufbegehrens gemessen, ist er akademisch. Natürlich ist er auch so noch revolutionär genug, nicht nur auf Grund seiner weiterhin progressiven Intention, sondern auch, weil die Kräfte und Intentionen, deren Garten diese Lyrik ist, mitsamt seinen Motivationen für die Gestaltung des ungarischen Lebens wie der ungarischen Literatur revolutionär sind. Von Akademischem kann daher nur mit der Einschränkung gesprochen werden, daß sich die Dichtung der Unabhängigen im Rahmen eigener Überlegungen stabilisiert hat. Kassäk, der in bezug auf das Experiment wie die Ergebnisse die führende Gestalt ist, konzentriert seine Kraft jetzt anderweitig. Seine Lyrik hat sich, was das Experiment betrifft, erfüllt . . . 214

Doch nicht alle Mitglieder der Gruppe haben sich stabilisiert. Noch immer gibt es einige, in denen der Geist des Experimentes auch heute noch so kraftvoll über so viele Etappen lebt wie in Kassäk. Einer von ihnen meldete sich jetzt zu Wort. Tibor Dery mit seinem Band Sie singen und sterben.4 Ein gewichtiges und beunruhigendes Buch. Gewichtiger und beunruhigender als alle Bände, die - außer den Bänden Kassäks - in den bewegten Jahren der ungarischen Avantgarde erschienen sind. Gewichtig und beunruhigend wird es durch die offenkundigen heterogenen Gedichttypen und Derys originelle lyrische Individualität, aus der in einer spezifischen Vermengung von Traum, Abstraktion, naturalistischer und impressionistischer Sicht eher surrealistische als irgendwie sonst geartete Poeme einer Dichtung entspringen, die nach universeller Symbolik strebt. Die fünf oder sechs Gedichte, die bei Dery am ehesten Wert und Kraft signalisieren, sind die fünf bzw. sechs besten Gedichte der jüngsten ungarischen Literatur. Sie sind die architektonische Einheit künstlerisch ziselierter, geradezu ineinandergebrochener Worte, die in einer intellektuellen und metaphysischen Stimme erklingen: eine Anhäufung überraschender Verbindungen, lyrischer Bedeutungen und Hinweise um ein zentrales (psychologisches oder begriffliches) Feuer herum, und über einem tiefen, stählernen Rhythmus, der immer brennendheiße Härten und über diesen schöne, zu Träumereien verlockende lyrische Weichheiten mit sich führt. Diese fünf oder sechs Gedichte ragen auch insofern heraus, als ihre gefühlsmäßige Harmonisierung im lyrischen Inhalt eine lyrische Welt unvergleichlicher Art darstellt: Sie geben Einblick in eine originelle und daneben reale Welt der Darstellung von Weltschmerz, Weltqual und Lebenssinn, die auf Ungarisch nicht einmal unter den Bruderklängen der Avantgarde zu beobachten war. Diese fünf oder sechs Gedichte sind auch insofern ein bemerkenswertes Resultat, als sie weder Schönheit, Stimmung, Ausdruck oder identifikation mit der Welt beabsichtigen, weder mit diesem noch mit jenem, sondern mit fünf oder sechs darüber hinweg und hinausreichenden Sätzen das kürzeste und präziseste Bild sind, das nicht lyrischer Zustand, nicht psychische Bewegung oder psychologische Lähmung (die Vereisung dieses oder jenes Gefühls zu einem Gedicht) ist, sondern (es gibt kein besseres Wort) weltbildliche bzw. weltanschauliche Privatrealität. Das ist wohl die neue Realität, die Dery so oft evoziert, wenn er über Gedichte schreibt. Und weil er diese besondere Realität so oft apostrophiert und in diesen fünf oder sechs Gedichten etwas mit limine 5 er215

kennbar wird, markieren diese Gedichte über ihren Wert hinaus auch einen der Flügel der heutigen ungarischen avantgardistischen Lyrik. Kein Extrem, wohl aber ein eigenes Profil, eine eigene Stimme, die auch von Kassäk nicht zitiert wurde. Das eine oder andere von diesen fünf oder sechs Gedichten wirkt wie eine Erfindung; mit ihnen erscheint ein lebendiges und existierendes Stück Realität, das darüber hinaus, daß es sprachliche Magie ist, wie eine besondere Energiequelle wirkt, die „im Dunkeln summt und leuchtet" und unter der hervor „der Sturm ausbrechen wird". Über diesen fünf oder sechs Gedichten „hängt eine unsichtbare Welt", und in ihr „steht starr ein langer Engel und schöpft Blut in ihr Herz". In diesen Gedichten kommt natürlich die unwägbare menschliche Natur des Dichters zu Wort, gleichzeitig aber auch die Theorie und die experimentelle Meditation und Lehre. Vor allem eine wichtige Meditation über neue Franzosen, 6 von denen er konzipieren und lyrisches Komponieren lernte, und hinter sehr vielen Gedichten Derys höre ich eine deutsche Stimme wispern, die Hölderlins, und ein Lechzen, das Trakls. Letzten Endes jedoch ist es Dery ganz allein, der im ungewöhnlichen Mantel des absoluten Symbolismus spricht, wie beispielsweise hier im Gedicht Letztes Wort-. „Ich verdecke mein Gesicht. Schwach ist das Feuer, das unter roter irdener Schüssel in der blinden Ecke lodert. In der Schüssel kocht und donnert grau wie das Meer der Saft meiner Früchte. Wer wühlte mit seinem Löffel diese tobenden Wellen auf in meinem Hausgefäß, dessen Ufer so zerbrechlich sind und schwach? Ich lausche dem Sturm, der hinfegt über niederfallenden Rauch. Auf dem Grund ein eintöniges Muschelrauschen: als kochte der Apfel der Sünde und Verzweiflung. Schon sickert die unerträgliche Finsternis der Erde aus der Schüssel. Das Meer wird sich öffnen. Auch mein Weg kann vor der Zeit ein Ende nehmen." In dem Band gibt es vielleicht Gedichte, die besser und klarer und - für den Durchschnittsleser - einleuchtender sind als dieses. Doch für die Derysche Landschaft ist dies am typischsten: dieser Ton und diese Abstraktion, dieses Pathos und diese Schönheit. Hier kommen auch die Relationen ausgeprägter zum Vorschein: die bei einigen neuen Franzosen übliche Form der Konstruktion und die versteckte Hölderlinsche Melodie. Dieses und weitere fünf oder sechs Gedichte verkörpern aber nur die eine Linie in dem Band, ich möchte sagen: die konstruktive, denn die beiden anderen Linien werden einerseits durch noch immer schöne 216

Beispiele des hierher gehörenden Übergangs bzw. Experimentierens, andererseits durch Versuchsergebnisse durch einen ganz anderen Gedichttyp vertreten. Für diesen anderen Typ gibt es in dem Band ohne Zweifel schöne Ansätze. Schöne impressionistische Gedichte auf dem Niveau eines dem Surrealismus zuneigenden Trakl. Was aber nach dem Impressionismus aus Experiment und Theorie noch zustande kam, wie zum Beispiel das Gedicht Selbstporträt, das in dem Band der zweiten Experimentallinie angehört, das ist weit davon entfernt, mehr zu geben als das Experiment . . . So weist der Band auch einen Zug auf, der nachdenklich stimmt. Nicht nur wegen der vielen Experimente, sondern auch, weil sich auf den Seiten des Bandes keine innere Ordnung einstellt, was infolge der sich einander ausschließenden Arten unterschiedlicher Experimente auch gar nicht möglich war. Deshalb besteht kein Gleichgewicht von Bandauswahl und Dichter, doch ein Ergebnis, auf das Tibor Déry allerdings wirklich stolz sein kann. 1928

33

Resolution %ur Frage der proletarischen und. revolutionären Literatur Ungarns1 Die in den neunziger Jahren einsetzende sozialdemokratische Bewegung wählte, unter Einfluß ihrer reformistischen Führer, als einziges politisches Ziel den Kampf für demokratische Reformen und wurde so im wesentlichen zur Partei des kleinbürgerlichen Demokratismus. 2 Dementsprechend bestand die Kultur- und Literaturpolitik der Sozialdemokratie fast ausschließlich aus der Kultivierung einer, dem Inhalt und der künstlerischen Form nach blutarmen, kleinbürgerlichhumanistischen Literatur, was der ideologischen Beeinflussung der Arbeiterschaft durch bürgerliche Kultur- und Literaturprodukte die breitesten Möglichkeiten einräumte. Zur selben Zeit versandete der überwiegende Teil der klassischen, einst für die nationale Befreiung kämpfenden, bürgerlichen Literatur im Epigonentum, spiegelte den immer reaktionärer werdenden Geist der Bourgeoisie wider. Nur aus den engen Kreisen des radikalen, intellektuellen städtischen Kleinbürgertums konnte eine neue literarische Bewegung entstehen, die an217

Beispiele des hierher gehörenden Übergangs bzw. Experimentierens, andererseits durch Versuchsergebnisse durch einen ganz anderen Gedichttyp vertreten. Für diesen anderen Typ gibt es in dem Band ohne Zweifel schöne Ansätze. Schöne impressionistische Gedichte auf dem Niveau eines dem Surrealismus zuneigenden Trakl. Was aber nach dem Impressionismus aus Experiment und Theorie noch zustande kam, wie zum Beispiel das Gedicht Selbstporträt, das in dem Band der zweiten Experimentallinie angehört, das ist weit davon entfernt, mehr zu geben als das Experiment . . . So weist der Band auch einen Zug auf, der nachdenklich stimmt. Nicht nur wegen der vielen Experimente, sondern auch, weil sich auf den Seiten des Bandes keine innere Ordnung einstellt, was infolge der sich einander ausschließenden Arten unterschiedlicher Experimente auch gar nicht möglich war. Deshalb besteht kein Gleichgewicht von Bandauswahl und Dichter, doch ein Ergebnis, auf das Tibor Déry allerdings wirklich stolz sein kann. 1928

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Resolution %ur Frage der proletarischen und. revolutionären Literatur Ungarns1 Die in den neunziger Jahren einsetzende sozialdemokratische Bewegung wählte, unter Einfluß ihrer reformistischen Führer, als einziges politisches Ziel den Kampf für demokratische Reformen und wurde so im wesentlichen zur Partei des kleinbürgerlichen Demokratismus. 2 Dementsprechend bestand die Kultur- und Literaturpolitik der Sozialdemokratie fast ausschließlich aus der Kultivierung einer, dem Inhalt und der künstlerischen Form nach blutarmen, kleinbürgerlichhumanistischen Literatur, was der ideologischen Beeinflussung der Arbeiterschaft durch bürgerliche Kultur- und Literaturprodukte die breitesten Möglichkeiten einräumte. Zur selben Zeit versandete der überwiegende Teil der klassischen, einst für die nationale Befreiung kämpfenden, bürgerlichen Literatur im Epigonentum, spiegelte den immer reaktionärer werdenden Geist der Bourgeoisie wider. Nur aus den engen Kreisen des radikalen, intellektuellen städtischen Kleinbürgertums konnte eine neue literarische Bewegung entstehen, die an217

fangs mutig gegen die reaktionäre Herrschaft des Finanzkapitals und der halbfeudalen Aristokratie auftrat, später die demokratische Revolution verkündete, einen neuen Inhalt und neue künstlerische Formen mit sich brachte, aber nichts gemeinsames mit dem Seelenleben der Arbeiterklasse hatte. Die kleinbürgerliche, anarchistische Literatur Ungarns, die während des Weltkrieges zur Entwicklung gelangte ( M A , Tett), ist außerordentlich typisch für jene Periode, in der die breiten Schichten der Kleinbourgeoisie bereits beginnen, ihren Glauben an das Unwandelbare der herrschenden gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Prinzipien zu verlieren und - bald nach dieser, bald nach jener Seite hin schwankend - sich allen möglichen pseudo-revolutionären, sich anarchistisch gebärdenden Strömungen in die Arme werfen. Anfangs spielte diese Literatur eine revolutionäre gesellschaftliche Rolle, bald jedoch verfiel sie in einen einfachen dekadenten Formalismus. Historisch stellt sie das letzte Glied der letzten (dekadenten) Periode der ungarischen bürgerlichen Literatur dar. Diejenigen Schriftsteller, die mit der lebendigen Arbeiterbewegung eng verbunden waren, traten sehr bald aus der Gruppe MA aus und spielten in der Begründung der ersten ungarischen theoretischen und belletristischen Zeitschrift kommunistischer Richtung {Internationale, November 1918) ' eine führende Rolle. Die Werke dieser Schriftsteller waren die ersten bedeutenden Erscheinungen der proletarischen Literatur, sie verschwendeten jedoch zuviel Zeit mit dem Suchen nach Form, und aus diesem Grunde waren ihre Werke nicht imstande, ihre sozialen Aufgaben in den breiten Schichten der werktätigen Massen, an die sie sich wandten, zu erfüllen. Die Literaturpolitik der ersten ungarischen Diktatur des Proletariats hatte die notwendige Basis zur Weiterentwicklung der ungarischen proletarischen Literatur nicht geschaffen. Die Hauptgründe dafür bildeten die zu kurze Dauer der ungarischen proletarischen Diktatur, das Fehlen von proletarischen Literaturkadern und schließlich die unveränderte Beibehaltung des früheren kulturellen Bildungsapparates sowie der Umstand, daß die kleinbürgerlich-humanistische Richtung durch die sozialdemokratische Erziehung organisatorisch wie ideologisch tiefe Wurzeln in der Arbeiterbewegung hatte. Die betreffenden Organe des Volkskommissariats für Bildungswesen sahen ihre Hauptaufgabe nur in der Propaganda für die „Klassiker der Weltliteratur". Sie suchten den proletarischen Inhalt ihrer Arbeit dadurch 218

zu beweisen, daß sie jene Massen, denen bis dahin überhaupt jede Kultur vorenthalten wurde, in ganz kritikloser Weise der bürgerlichen Kultur überließen/* In der ersten Zeit nach dem Sturz standen die kleinbürgerlichen Sympathisierenden an erster Stelle (Ludwig Barta, Maria Szusics, Charlotte Ldnyi, Andor Gabor u. a.). Sie waren nur imstande, gegen einzelne Momente des Faschismus zu kämpfen (Weißer Terror usw.). Doch sie vermochten nicht, gegen das ganze, blutig unterdrükkende, ausbeuterische System der bürgerlichen Gegenrevolution ideologisch, rein konkret vom proletarischen Standpunkt aus zu kämpfen. D i e bürgerliche Literatur des gegenrevolutionären Ungarn erlebt jetzt eine Degradation, die durch billigen Romantizismus, schlechtestes Epigonentum und primitive faschistische ideologische Experimente ihre charakteristischen Wesenszüge erhält. Kaum ein-zwei Vertreter der radikalen Intellektuellenschicht des städtischen Kleinbürgertums sind übriggeblieben, die zudem in ihrer völligen ideologischen Haltlosigkeit vom kleinbürgerlichen Humanismus bis zu den reaktionären Utopien hin und her schwanken. Einige derselben wurden heute durch den Sozialfaschismus als offizielle Schriftsteller anerkannt, während sich andere mehr oder weniger der proletarischrevolutionären Literatur nähern. Zum Erben jener proletarischen Literatur, die sich noch vor der Revolution herauszukristallisieren begonnen hatte, wurde die Zeitschrift Egyseg, die 1922 erstmalig erschien. D i e ersten Hefte weisen noch Überreste des Formalismus auf, jedoch schon 1924 brachte diese Zeitschrift so konkretes, mit der politischen Bewegung eng zusammenhängendes Material, daß es die einzelnen Kulturorganisationen der Partei faktisch für ihre Arbeit ausnutzen konnten. Innerhalb der kleinbürgerlich-anarchistischen Gruppe MA führte die Belebung der literarisch-politischen Tätigkeit zu einer Spaltung. E i n Teil der Gruppe (Alexander Barta, Elisabeth Ujvari, später auch I. Mäcza) trat aus der Organisation aus. Nachdem diese Gruppe verschiedene Etappen hinter sich hatte, gründete sie die Zeitschrift £ k (1923), die sich zwar der proletarisch-revolutionären Literatur näherte, doch deren teilweise noch kleinbürgerlich-anarchistische Einstellung und dementsprechend stark expressionistische Sprache auch weiterhin hemmend auf die proletarisch-ideologische Klärung der Gruppe wirkte. Seit dem Sturz der ungarischen proletarischen Diktatur wurde die proletarische Literatur durch neue mächtige Kader bereichert. Diese

219

Kader stammen aus den folgenden drei Hauptquellen: aus den Kreisen der aktiven Teilnehmer der Arbeiterbewegung der Diktaturperiode wie auch aus früherer Zeit; aus ehemaligen, aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Soldaten, die bei der proletarischen Revolution in Rußland aktiv mitgearbeitet hatten, und schließlich aus frischen Kräften, die in der ungarischen illegalen Bewegung herangewachsen waren. Diese Elemente haben sich in der ungarischen Sektion der Moskauer Vereinigung Proletarischer Schriftsteller zusammengeschlossen (1925), die sich die Aufgabe stellte, eine ungarische proletarische Massenliteratur zu schaffen, die vom politischen Inhalt erfüllt und mit der Methode der dialektischen Darstellung der Wirklichkeit gewappnet sein soll. Gleichzeitig hat die Sektion eine Verbindung mit denjenigen revolutionären ungarischen Schriftstellern hergestellt, die sich damals in anderen Ländern aufhielten. Auf diese Weise vollzog sich in kurzer Zeit die Gründung der Vereinigung der ungarischen revolutionären Schriftsteller und Künstler. 5 In dieser Vereinigung traten natürlich scharfe Gegensätze zwischen den mit der Arbeiterbewegung eng verwachsenen proletarisch-revolutionären Schriftstellern und den noch mit kleinbürgerlicher Ideologie belasteten revolutionären Schriftstellern zutage. Die Lage erfuhr eine besondere Verschärfung nach dem Erscheinen des Jahrbuchs des Verbandes Sarlö es Kalapdcs.6 Die Hauptmängel dieser Zeitschrift waren folgende: Dem theoretischen Teil fehlte das Einheitliche, es gab nur wenige aktuelle literarische Werke, der agitatorische Wert des Materials war nur sehr gering, und die Zeitschrift trug keinen Massencharakter. Gestützt auf die Erfahrungen der Vergangenheit begannen die proletarischen Schriftsteller einen Kampf für eine aktuelle, mit den politischen Kampagnen eng verbundene, ideologisch konsequente und billige Massenzeitschrift. Nach der Liquidierung der inneren Kämpfe erlangten innerhalb des Bundes die ausgesprochen proletarischen Schriftsteller den Sieg, der in der weiteren Entwicklung des Verbandes in erster Linie in einem gesteigerten ideologischen Bewußtsein der Mitglieder zutage trat. Dann ging die Vereinigung an die Herausgabe einer neuen Massenzeitschrift. So entstand das neue Sarlö es Kalapdcs (November 1929), dessen literarischer Teil das offizielle Organ der ungarischen Sektion der Internationalen Vereinigung 7 darstellt. Folgende Hauptaufgaben umfassen die Tätigkeit des Verbandes: 220

1. D a der Vereinigung hauptsächlich Schriftsteller angehören, die sich in der Emigration befinden, ist jedes seiner Mitglieder in erster Linie verpflichtet, aktiven Anteil an der literarischen Bewegung desjenigen Landes zu nehmen, in dem es lebt, sowie seine Erfahrungen mit den Werktätigen Ungarns zu teilen und dadurch ihre internationale Erziehung zu fördern. 2. Die Hauptaufgabe der Mitglieder des Verbandes besteht in der Unterstützung der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung durch aktuelles literarisches Material. Falls ein Genosse ein unmittelbar unaktuelles Material bearbeitet, ist er verpflichtet, seine konkreten Erfahrungen in die Arbeit aufzunehmen und sie mit den laufenden Tagesfragen in Zusammenhang zu bringen. 3. In ihrer Eigenschaft als Waffe der ideologischen Einwirkung auf die Massen und als ein Mittel zu ihrer Erziehung muß die proletarische Literatur sich einer allgemein verständlichen Massensprache bedienen. Um den Inhalt den Massen so nahe wie möglich zu bringen, müssen alle Formen benutzt werden, die die unmittelbare Einwirkung läutern und verstärken, und es sind im Gegenteil alle Formexperimente zu verwerfen, die einer Vertiefung dieser Einwirkung hinderlich sind. 4. Die proletarische Literatur steht auf der Plattform der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und bedient sich der Methode des dialektischen Materialismus. 8 Als Aufgabe der ungarischen proletarischen Schriftsteller, wie überhaupt der proletarischen Schriftsteller der ganzen Welt gilt die Bestimmung, Ausarbeitung und Anwendung einzelner konkreter Formen dieser Methode. Eine dynamische Darstellung der Wirklichkeit, die ihre Gegensätze aufdeckt, das ist die Methode, die die proletarische Literatur von allen anderen literarischen Richtungen der Vergangenheit und Zukunft kraß unterscheidet. 5. D a die Frage der Kader für jede Emigrantenliteratur besonders kritisch ist, muß die Vereinigung diesem Problem erhöhte Aufmerksamkeit schenken. Wir müssen eine noch engere Verbindung mit den Arbeiterkorrespondenten-Organisationen9 unterhalten, als wir es bisher getan haben, wir müssen diese noch intensiver ausbauen und die ideologische und künstlerische Schulung energischer betreiben. 6. Auf organisatorischem Gebiete obliegen der Vereinigung folgende Aufgaben: erstens, Schaffung einer proletarischen Literatur in Ungarn, zweitens, Vereinigung der revolutionär-proletarischen literarischen Kräfte in allen Ländern, die aus der früheren österreichi221

sehen Monarchie hervorgegangen sind und drittens, Stärkung der bereits vorhandenen lokalen Gruppen. 1930

34

Plattformentwurf der ungarischen proletarischen

Uteratur

vorgelegt im Auftrag der Ungarischen Gruppe des Moskauer Verbandes Proletarischer Schriftsteller (MAPP) von Sândor Barta, Antal Hidas, Béla Illés, Lajos Kiss, Emil Madarâsz, Jânos Matheika und Mâté Zalka, grundsätzlich bestätigt von der Mitgliederversammlung der Ungarischen Gruppe der Moskauer Proletarischen Schriftsteller am 8. April 1931.* I. Die sich in den kapitalistischen Staaten entwickelnde proletarische Literaturbewegung erzielt in bezug auf ihre künstlerischen Werte wie auf ihr ideologisches Rüstzeug immer größere Erfolge. Bereits heute hat sie in einer Reihe von Ländern ihre Organisationen ausgebaut und ist zu einer breiten, ernst zu nehmenden Massenbewegung geworden. Die Hauptursache für diese Erfolge haben wir darin zu sehen, daß sich in der vergangenen Periode die internationale wirt* Zum P l a t t f o r m e n t w u r f v e r a n s t a l t e t d i e ungarische Sektion der Organisation Moskauer

Sarlô

Proletarischer

és Kalapdcs

Schriftsteller

in

bis zum 1. N o v e m b e r 1 9 3 1

alle ungarischsprachigen

ihrer

offiziellen

Zeitschrift

eine Diskussion. W i r rufen

proletarischen und revolutionären

Kulturorganisa-

tionen und Schriftsteller, f e r n e r a l l e Interessenten a u f , sich an der Diskussion mit

Diskussionsartikeln

behalten sich

alle

oder

Stellungnahmen

M i t g l i e d e r

zu beteiligen.

Ebenso

d e r Ungarischen G r u p p e der Organi-

sation der M o s k a u e r Proletarischen Schriftsteller das Recht zur Diskussionsteilnahme v o r . Nach A b s c h l u ß der Diskussion w i r d das gesamte M a t e r i a l in der Belletristischen Reihe v o n Sarlô Der

Plattformentwurf

wurde

és Kalapdcs

nach den

Organisation v o n Jânos M a t h e i k a

222

erscheinen.

Direktiven

erarbeitet.

der

Leitung

der

sehen Monarchie hervorgegangen sind und drittens, Stärkung der bereits vorhandenen lokalen Gruppen. 1930

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Plattformentwurf der ungarischen proletarischen

Uteratur

vorgelegt im Auftrag der Ungarischen Gruppe des Moskauer Verbandes Proletarischer Schriftsteller (MAPP) von Sândor Barta, Antal Hidas, Béla Illés, Lajos Kiss, Emil Madarâsz, Jânos Matheika und Mâté Zalka, grundsätzlich bestätigt von der Mitgliederversammlung der Ungarischen Gruppe der Moskauer Proletarischen Schriftsteller am 8. April 1931.* I. Die sich in den kapitalistischen Staaten entwickelnde proletarische Literaturbewegung erzielt in bezug auf ihre künstlerischen Werte wie auf ihr ideologisches Rüstzeug immer größere Erfolge. Bereits heute hat sie in einer Reihe von Ländern ihre Organisationen ausgebaut und ist zu einer breiten, ernst zu nehmenden Massenbewegung geworden. Die Hauptursache für diese Erfolge haben wir darin zu sehen, daß sich in der vergangenen Periode die internationale wirt* Zum P l a t t f o r m e n t w u r f v e r a n s t a l t e t d i e ungarische Sektion der Organisation Moskauer

Sarlô

Proletarischer

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Schriftsteller

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bis zum 1. N o v e m b e r 1 9 3 1

alle ungarischsprachigen

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sation der M o s k a u e r Proletarischen Schriftsteller das Recht zur Diskussionsteilnahme v o r . Nach A b s c h l u ß der Diskussion w i r d das gesamte M a t e r i a l in der Belletristischen Reihe v o n Sarlô Der

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schaftliche und politische Lage, die letzten Endes das Kräfteverhältnis der ideologischen Front und somit auch der Literatur bestimmt, wesentlich verändert hat. Die charakteristischsten Züge der d r i t t e n P e r i o d e des Nachkriegskapitalismus sind folgende: die in eine allgemeine Krise des Kapitalismus umschlagende Weltwirtschaftskrise, unerhörtes Anwachsen der Arbeitslosigkeit, Verschärfung der Gegensätze zwischen den einzelnen imperialistischen Mächten und Gruppierungen, Verstärkung der Ausbeutung, konsequente Durchführung der kapitalistischen Rationalisierung, Faschisierung des Staatsapparates, Vorbereitung eines Interventionskrieges gegen die Sowjetunion. Auf der anderen Seite steht die Sowjetunion, die in die Periode des Sozialismus mit ihrem gewaltigen Fünfjahrplan eingetreten ist, mit dem wachsenden Tempo der Kollektivierung der Landwirtschaft, neuen Formen der sozialistischen Arbeit, dem Siebenstundentag, 1 der völligen Liquidierung der Arbeitslosigkeit und mit dem bisher beispiellosen Wachstum der Konsumfähigkeit der werktätigen Massen. Diese beiden Weltfaktoren bewirken zusammen, daß sich der Klassenkampf verschärft und polarisiert, daß Zahl und Bedeutung der wirtschaftlichen Kämpfe, die in politische umschlagen, zunehmen und daß sich die äußeren und inneren Gegensätze vertiefen. Eine sehr wichtige Begleiterscheinung und ein Gradmesser der Verfallsperiode des Kapitalismus ist die in Tiefe, Ausmaß und Auswirkungen bislang beispiellose a l l g e m e i n e K r i s e der bürgerlichen Kultur. Die Reservearmee der kleinbürgerlichen werktätigen Intelligenz ist enorm angewachsen. Die Zahl der auf die „B"-Liste 2 gesetzten Beamten und arbeitslosen Ingenieure, der von der Heiltätigkeit ausgesperrten Ärzte, von der Lehrtätigkeit ausgeschlossenen Lehrer, mit einem Maulkorb zum Verstummen gebrachten Schriftsteller und untätig ihr Leben fristenden Künstler und Schauspieler geht in die Hunderttausende. Krassestes und entscheidendstes Symptom der Kulturkrise ist die trost- und aussichtslose Degeneration des ideologischen Überbaus und damit der bürgerlichen Literatur und Künste. Die allgemeinsten Merkmale der bürgerlichen Literatur der gegenwärtigen historischen Periode sind: ideelle Leere, die krankhafte Abscheu davor, brennende soziale Probleme der Gegenwart zu berühren, ein Pessimismus erzeugendes Nichterkennen von Auswegen, eine in die Erotik, Vergangenheit oder romantische Einbildungen flüchtende Realitätsangst sowie die ideologische Vorherrschaft verschiedener metaphysischer, 223

mystischer, antisozialer und reaktionärer Strömungen und, was die Form betrifft, mechanisches Wiederkäuen alter Ergebnisse. Weder die nationalchauvinistische Ideologie des Faschismus, der die konterrevolutionäre Vorhut des Imperialismus bildet, noch die mit ihm - im wesentlichen - verbündete Sozialdemokratie noch der zahnlückige kleinbürgerliche Liberalismus sind fähig, dem kranken Körper neues Blut zuzuführen. D i e Bourgeoisie hat ihre historische Mission erfüllt, und jenes Kapitel in der Entwicklung der Menschheit, in dem sie eine positive Rolle spielte, ist endgültig abgeschlossen. D e m gegenüber stehen die allmähliche Befreiung der Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder von dem feindlichen ideologischen Einfluß, das ständige Erstarken der proletarischen Literatur, die immer bewußtere Annäherung der kleinbürgerlichen revolutionären Intelligenz an die Ideologie der Arbeiterklasse und die K u l t u r r e v o l u t i o n der Sowjetunion, die Millionen und aber Millionen umformt. D i e Sicherung der sozialistischen Wirtschaftsbasis ermöglichte die beschleunigte Liquidierung des dunklen Kulturerbes der Zarenzeit. Die Zahl der Schüler und Studenten an den verschiedenen Elementar- und Mittelschulen, den organisierten Lehrgängen und vielfältigen Kursen zur Beseitigung des Analphabetentums und der in den Dienst der Industrialisierung gestellten polytechnischen Hochschulen übersteigt in diesem Jahr f ü n f z i g M i l l i o n e n . In der Buchproduktion hat die Sowjetunion die entwickeltsten kapitalistischen Staaten n i c h t n u r e i n g e h o l t , sondern sogar ü b e r f l ü g e l t und den ihr zustehenden e r s t e n Platz eingenommen. D i e Zahl der ständigen A r b e i t e r - u n d B a u e r n k o r r e s p o n d e n t e n , die eine unerschöpfliche Reservearmee der proletarischen Literatur bilden, übersteigt z w e i M i l l i o n e n . D i e Literatur ist im Hinblick auf die Zahl der von ihr erreichten Leser wie auch der Arbeiterschriftsteller zu einer gewaltigen M a s s e n b e w e g u n g angewachsen und zu einem überaus wichtigen Hebel der sozialistischen Aufbauarbeit geworden. Fünf Jahre harter Kampf haben die H e g e m o n i e d e r p r o l e t a r i s c h e n S c h r i f t s t e l l e r in der Sowjetliteratur nicht nur quantitativ, sondern auch in der Q u a l i t ä t der literarischen Werke gezeitigt. D i e konsequente Durchführung der Leninschen Nationalitätenpolitik beseitigt auch unter den N a t i o n a l i t ä t e n , die bisher in völliger Rückständigkeit lebten, den Analphabetismus und schuf die Grundlagen für die Herausbildung einer breiten, „ i h r e r F o r m n a c h n a t i o n a l e n u n d i h r e m I n h a l t n a c h s o z i a l i s t i s c h e n " 3 Massenkultur.

224

I n U n g a r n kommt zu den genannten allgemeinen Symptomen der Krise, die b i s a n d i e W u r z e l n der zeitweiligen kapitalistischen Stabilisierung vordringt, gleichzeitig noch eine Reihe spezifischer Erscheinungen. Die monopolistische Macht des Finanzkapitals erstreckt sich auf das gesamte wirtschaftliche Leben des Landes. Ungarn gestaltete seine im wesentlichen dem Agrartyp zuzurechnende Wirtschaftsstruktur so um, daß sie jetzt zum Agrarindustrietyp zu rechnen ist. Es monopolisiert völlig den Binnenmarkt der Industrie und beherrscht den Absatz des überwiegenden Teils der landwirtschaftlichen Warenproduktion. Das alles zog den Zusammenbruch von Zehntausenden Handwerksbetrieben, Kleinhändlern und armen Bauernwirtschaften sowie eine unerhörte Verschlechterung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Situation der werktätigen Schichten nach sich. Hauptmerkmale der erweiterten und verschärften Krise des ungarischen Kapitalismus sind die Kredit- und allgemeine Landwirtschaftskrise, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und bestürzender Rückgang der Konsumfähigkeit der Massen und in Zusammenhang damit ein zunehmender Verfall der Produktion sowie die Einschränkung der Befriedigung kultureller Bedürfnisse auf ein Minimum. Durch die kapitalistische Rationalisierung in Industrie und Landwirtschaft sowie die zunehmende räuberische Ausbeutung wurde die Krise des Kapitalismus letztlich nur noch v e r s t ä r k t . Dies alles beschleunigt den Beginn einer Krise der faschistischen Diktatur. Wie überall, ist auch hier die V e r s c h ä r f u n g d e s K l a s s e n k a m p f e s eine natürliche Begleiterscheinung. Davon zeugt der heldenhafte Kampf der nun bereits seit mehr als zehn Jahren in die Illegalität gedrängten kommunistischen Partei um die Eroberung der entscheidenden Massen des Proletariats und der mit ihr verbündeten armen Bauernschaft, das beweisen die klassenkämpferischen Massenbewegungen, die in letzter Zeit zugenommen haben. Alle diese Erscheinungen übten natürlich einen sehr starken Einfluß auf die u n g a r i s c h s p r a c h i g e p r o l e t a r i s c h e L i t e r a t u r aus, die die revolutionären Traditionen und Lehren der ersten Ungarischen Räterepublik mit den gewaltigen Lehren der Jahre des weißen Terrors, der Emigration und der aktiven Teilnahme an der Aufbauarbeit der Sowjetunion vereinte und deren noch in der Emigration befindlicher Teil die lebendige Verbindung zum Klassenkampf in Ungarn niemals verloren hat. Selbstverständlich haben alle diese Erscheinungen einen nicht geringen Anteil daran, daß die ungarischsprachige proletarische Literatur in jene Entwicklungsphase eingetre15 Befunde

225

ten ist, in der sie ihr Arbeitsprogramm auf einer breiteren Basis erneut bewußt macht, die bisherigen Ergebnisse zusammenfaßt und auf der Grundlage der gezogenen Lehren das Tempo der -weiteren gesunden Entwicklung steigert. 4 II. Innerhalb der internationalen proletarischen Literaturbewegung hatte sich die ungarischsprachige proletarische Literatur als eine d'er ersten in den kapitalistischen Ländern organisiert. 5 Mit ihrer praktischen Arbeit gehörte sie zu den ersten Gruppen, die die antimarxistische, vom Trotzkismus ausgehende Kapitulationstheorie widerlegten, daß das Proletariat seine eigene Kultur erst nach der Machtübernahme und dem Aufbau des Sozialismus erschaffen könne. Tatsächlich bietet erst der Sieg der sozialistischen Revolution der proletarischen Kultur die Möglichkeit, sich voll zu entwickeln, doch schon die Periode der sozialen Revolutionen zeitigt die proletarische Literatur als eine Waffe des revolutionären Klassenkampfes. Im heutigen entscheidenden Kampf zwischen Arbeit und Kapital ist parallel zur allgemeinen Verschärfung des Klassenkampfes auch die gesamte Kulturfront zum Schauplatz von scharfen R a s s e n k o n f l i k t e n geworden. Dem Kampf für die revolutionäre Weltanschauung des Proletariats und die Reinheit der marxistisch-leninistischen Lehren kommt eine e n t s c h e i d e n d e Bedeutung zu. Die religiöse Verdummung und die verschiedenen Strömungen der idealistischen Schulen, das gesamte Erziehungssystem, die der Arbeiterklasse hingeworfenen Kulturbrosamen und die liquidatorische, pazifistische, humanistische oder individualistische Pseudowissenschaft, die den Klassenfrieden predigt, Presse, Theater, Kino und Rundfunk, Kunst und Literatur - dies alles dient dem Ziel, die soziale Wirklichkeit zu bemänteln und zu verfälschen, die werktätigen Massen mit der Ausbeutung auszusöhnen und sie vom e i n z i g möglichen Weg ihrer Befreiung, dem revolutionären Klassenkampf, abzulenken. Diese proletariatsfeindlichen Ideologien haben auch einen großen Einfluß darauf, daß es zu verschiedenen Abweichungen von der marxistisch-leninistischen Linie, zu mechanischen und idealistischen Entstellungen des dialektischen Materialismus, kommt. Die Literatur spielt im Kampf um die Massen eine sehr bedeutende Rolle. D i e p r o l e t a r i s c h e L i t e r a t u r i s t e i n aktiver F a k t o r bei der i d e o l o g i s c h e n U m e r z i e h u n g 226

der M a s s e n , eine W a f f e des revolutionären Klassenkampfes. Ihre Aufgabe besteht darin, d i e G e f ü h l s - u n d G e d a n k e n w e l t d e s L e s e r s in R i c h t u n g auf die p r o l e t a r i s c h e R e v o l u t i o n und d a s E n d z i e l d e s K o m m u n i s m u s zu b e e i n f l u s s e n u n d z u o r g a n i s i e r e n . Die proletarische Literatur erschließt mit künstlerischen Mitteln die Realität und drückt deren ganze Kompliziertheit und in Widersprüchen verlaufende Entwicklung aus. Naturgemäß wird die Erkenntnis der Realität von der W e l t a n s c h a u u n g des Schriftstellers bestimmt. N u r e i n S c h r i f t s t e l l e r , der in der V o r h u t der A r b e i t e r k l a s s e k ä m p f t und sich die m a r x i s t i s c h - l e n i n i s t i s c h e T h e o r i e a n e i g n e t , i s t in d e r L a g e , d i e k o m p l i z i e r t e n Formen des K l a s s e n k a m p f e s und das o b j e k t i v e Bild der inneren G e g e n s ä t z e des heut i g e n L e b e n s zu e r k e n n e n u n d auszudrücken. Und zwar nicht durch bloßes Beobachten und in vier Wände eingeschlossen, sondern d u r c h a k t i v e T e i l n a h m e a n d e n A 111agskämpfen des r e v o l u t i o n ä r e n Klassenk a m p f e s . Das ist eine e n t s c h e i d e n d e Voraussetzung dafür, daß jemand p r o l e t a r i s c h e r S c h r i f t s t e l l e r sein kann. Die w i c h t i g s t e A u f g a b e der proletarischen L i t e r a t u r ist d e r K a m p f um d i e A n e i g n u n g d e r d i a l e k t i s c h - m a t e r i a l i s t i s c h e n M e t h o d e . Diese Methode deckt die Realität am konsequentesten und entschiedensten auf. Stets von den gegenwärtigen, lebendigen praktischen Problemen des Klassenkampfes ausgehend, gibt sie uns die Möglichkeit, den Prozeß der revolutionären Veränderung der breiten werktätigen Massen aufzuzeigen, d e n e i n z e l n e n M e n s c h e n a l s P r o d u k t d e r P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e , der sozialen Umgeb u n g darzustellen. Sie ermöglicht dem proletarischen Schriftsteller, die Prozesse, die sich in der Gefühls- und Gedankenwelt des einzelnen abspielen, als W i d e r s p i e g e l u n g b r e i t e r g e s e l l s c h a f t l i c h e r P r o z e s s e sichtbar zu machen. „D a s A l l g e m e i n e e x i s t i e r t n u r im E i n z e l n e n , d u r c h d a s E i n z e l n e . J e d e s E i n z e l n e i s t (auf d i e e i n e o d e r a n d e r e A r t ) A l l g e m e i n e s." (Lenin) 6 Aufgabe des proletarischen Schriftstellers ist es nicht, nur einzelne, isolierte Erscheinungen zu demonstrieren, sondern er muß d u r c h die e i n z e l n e n E r s c h e i n u n g e n auf das Allge15*

227

m e i n e h i n w e i s e n u n d im A l l g e m e i n e n d a s I n d i v i d u u m f i n d e n . Nur das gibt ihm die Möglichkeit, die komplizierte Vielseitigkeit der sozialen Realität aufzudecken. Die dialektisch-materialistische Weltanschauung und Methode verlangen zudem, daß der proletarische Schriftsteller die Realität i n i h r e r t a t s ä c h l i c h e n B e s c h a f f e n h e i t , a l s o in i h r e r s t ä n digen Veränderung, Entwicklung, Kontinuität u n d W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t , kurz, in ihrer vollen proletarischen Objektivität zeigt. Mit dieser p r o l e t a r i s c h e n O b j e k t i v i t ä t gibt er auch eine r i c h t i g e K l a s s e n b e w e r t u n g der Erscheinungen. Die proletarische Objektivität ist nichts anderes als die richtige Aufdekkung der Entwicklungsgesetze der Realität. D e r k o n s e q u e n t e Kampf für das E n d z i e l der p r o l e t a r i s c h e n Revolution und die dialektische E r k e n n t n i s der R e a l i t ä t rufen l e t z t e n d l i c h die Kunst der Arbeit e r k l a s s e i n s L e b e n . Schon auf ihrem h e u t i g e n Entwicklungsstand unterscheidet sich die proletarische als k o n s e q u e n t e m a t e r i a l i s t i s c h e L i t e r a t u r grundlegend von sämtlichen bisherigen literarischen Richtungen. Sie ist ein Feind a) des S u b j e k t i v i s m u s , der nicht die Einheit der Widersprüche erkennt, b) des n a t u r a l i s t i s c h e n Abfotografierens der Realität und schließlich c) des R o m a n t i z i s m u s , der das Wirkliche beschönigen und korrigieren will, sowie der kleinbürgerlichen Furcht vor den Widersprüchen der Realität, die sich in Schematismus, Lebensferne und Abstraktheit äußert. Die materialistische Kunstauffassung anerkennt die reale Existenz einer vom Bewußtsein der Menschen unabhängigen materiellen Realität und ist bestrebt, den Menschen als soziales Wesen, als Komponente der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse darzustellen. Die proletarische Literatur muß d i a l e k t i s c h - m a t e r i a l i s t i s c h sein, d. h., sie erkennt die materialistische Realität nicht nur an, sondern zeigt die Realität und deren Entwicklung i n i h r e m Fluß und durch ihre d i a l e k t i s c h e n Widersprüc h e . Sie ist sich auch über ihre R ü c k w i r k u n g auf die ideologische Realität im klaren, die „zur materiellen Gewalt (wird), sobald sie die Massen ergreift" (Marx). 7 Die Ausarbeitung und Anwendung der dia'lektisch-materialistischen Methode ist die w i c h t i g s t e Aufgabe der Schriftsteller und Theoretiker. Der dialektische Materialismus ist Bedingung und zugleich L ö 228

s u n g aller anderen Fragen. Er bestimmt die Frage des S t i l s und das Problem des T h e m a s ebenso wie das Wechselverhältnis zwischen F o r m u n d I n h a l t . Gegenstand der proletarischen Literatur ist die existierende Realität in ihrer ganzen Vollständigkeit, die Darstellung der politischen Kämpfe, der gesellschaftlichen Bewegungen und des privaten Lebens. Aus welcher historischen Epoche der Schriftsteller seinen Gegenstand auch nehmen mag, ausschlaggebend ist, daß er von jenen Grundproblemen ausgeht, die die Klasse im g e g e n w ä r t i g e n historischen Augenblick stellt, und daß er den Gegenstand auf der Grundlage h e u t i g e r Klassenerfahrungen und Klassenpraxis sowie im Interesse der h e u t i g e n Klassenaufgabe aufgreift. Von besonderer Bedeutung ist die Aufarbeitung von Themen aus dem Arbeiterleben, die Widerspiegelung des Produktionsprozesses, der Roman der Klassenerfahrungen, die proletarisch-kritische Darstellung von Bourgeoisie und Kleinbürgertum sowie die politische Dichtung, die an den praktischen Klassenkampf anknüpft. Daneben kommt der Literatur, die sich im Sinn der Bolschewiki auf die unmittelbaren Tagesereignisse bezieht, den sogenannten k l e i n e n F o r m e n (Agitationsszenen, Spottgedichte, Lieder usw.), große Bedeutung zu. Ihre ideologische und künstlerische Vervollkommnung ist eine der wichtigsten Aufgaben des proletarischen Schriftstellers. Die Frage der kleinbürgerlichen revolutionären Schriftsteller muß u n t e r d e m Aspekt der Gewinnung der revolutionären kleinbürgerlichen I n t e l l i g e n z als B ü n d n i s p a r t n e r und der Hegemonie der proletarischen Literatur unters u c h t w e r d e n . Das bewahrt uns einerseits vor sektiererischen Abweichungen und andererseits davor, sie zu überschätzen und durch Übernahme des reformistischen Standpunktes des Klassenfriedens die scharfe Klassenlinie zwischen ihnen und den proletarischen Schriftstellern zu verwischen. Unsere höchste Aufgabe ihnen gegenüber besteht darin, ihre kleinbürgerlichen Ideologien scharf zu bekämpfen und sie taktisch zur proletarischen Ideologie hinzuführen und umzuerziehen. An die Nutzung der Werte vorangegangener Kulturen, die Frage des sogenannten Kulturerbes, ist vom dialektisch-materialistischen Kunstprinzip aus heranzugehen. Wir müssen uns zueigen machen, von den bürgerlichen Klassikern d i a l e k t i s c h zu lernen. Außer den bisherigen Ergebnissen der russischen und deutschen proletarischen 229

Literatur sowie den Schriftstellern und der Volksdichtung der bürgerlichen Revolution ist uns in erster Linie die Arbeitsmethode der französischen und russischen realistischen Schriftsteller nahe. In ungarischer Beziehung können wir derart von Katona, Eötvös, Petöfi und, unter den späteren Autoren, von Mikszäth, Möricz usw. lernen. III. Den relativ hohen Entwicklungsgrad der ungarischen proletarischen Literatur bestimmt die G e s c h i c h t e i h r e r E n t w i c k l u n g . Die proletarischen Schriftsteller setzen die besten Traditionen der bürgerlichen revolut i o n ä r e n L i t e r a t u r f o r t und e n t w i c k e l n sie dial e k t i s c h w e i t e r (politische Dichtung, Hinwendung zu den Massen, Auffrischung der Literatur mit Elementen der Volksdichtung usw.). Gemäß dem politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand des damaligen Ungarns kam natürlich das Proletariat in der ungarischen bürgerlichen revolutionären Literatur noch viel weniger zu Wort als im Westen (Johnson, Shelley, Heine, Freiligrath, Herwegh usw.). Am weitesten entwickelt war P e t ö f i , der mutige Kämpfer für die nationale Revolution, die Befreiung von der Leibeigenschaft und die „Weltfreiheit" 8 und Übersetzer der Ideen des französischen utopischen Sozialismus. Die Romane und Gedichte von Mihdly T ä n c s i c s , 9 einer der besten Gestalten der ungarischen revolutionären Bewegung, des von revolutionärer Glut durchtränkten ungarischen Blanqui, sind die ersten erwähnenswerten Beispiele einer Arbeiterliteratur Ungarns. Die Reaktion und später die bürgerlichen Schriftsteller der Jahre nach dem Ausgleich 10 leugneten die revolutionären Traditionen und die Vergangenheit ihrer eigenen Klasse und waren Epigonen der volkstümlich- nationalen Form. Diese ihres revolutionären Inhalts beraubte Form degenerierte schon bald zu Volkstümelei. Die ungarische Literatur verkümmerte über Jahrzehnte zu einer blut- und talentlosen Epigonenliteratur. Die reformistische Literatur der organisierten Arbeiterbewegung lieferte selbst in ihren ideologisch reifsten Arbeiten (A b e t , M 6 n u s , frühe Gedichte von C s i z m a d i a , Volkslieder, damalige Gedichte von M a d a r ä s z usw.) nur den Keim für eine Arbeiterdichtung in Ungarn. Die Literatur der Sozialdemokratie v o r d e m i m p e r i a l i s t i s c h e n W e l t k r i e g geriet infolge der reformistischen Politik der Partei, insbesondere der Literaturpolitik, in 230

den Sumpf des k l e i n b ü r g e r l i c h e n H u m a n i s m u s . Dies wurde durch den Umstand gefördert, daß die Ideologie und Psyche der breiten Arbeitermassen trotz ihrer relativ vorangeschrittenen politischen Reife noch völlig unter dem Einfluß der k l e i n b ü r g e r l i c h e n E r z i e h u n g standen. Die sozialdemokratische Literatur der Zeit vor dem Weltkrieg vermochte selbst auf höherem Entwicklungsstand nur die p r i m i t i v s t e n Anforderungen der werktätigen Massen zu befriedigen. Sie ist eine abstrakte Literatur voller a l l g e m e i n e r revolutionärer Phrasen, die sich nicht gegen das kapitalistische Ausbeutungssystem, sondern eher gegen die F a b r i k richtet, weniger zum Klassenkampf anfeuert, als vielmehr die Greuel des E l e n d s darstellt und der Form nach rein e p i g o n a l ist. Für uns besteht ihr Wert darin, daß ihre Schriftsteller enge Verbindungen zur Arbeiterbewegung unterhielten. Ihr größter Fehler ist, daß dieselben Schriftsteller, die aktiv an der praktischen Arbeiterbewegung teilnahmen, t h e o r e t i s c h v ö l l i g u n g e b i l d e t w a r e n . Jene sozialdemokratischen Belletristen, die sich politisch wandelten und K o m m u n i s t e n wurden, hatten den Vorteil, in Form und Ausdrucksweise gleich b r e i t e Massen ansprechen zu können ( z . B . M a d a r a s z ) . Stark beeinflußt wurde die sozialdemokratische Literatur von den radikalen kleinbürgerlichen Schriftstellern um die Zeitschrift Nyugat. Die Parteileitung gab die belletristische Spalte der Parteipresse völlig dieser kleinbürgerlichen Intelligenz 11 preis, die von dem mit starken f e u d a l e n Überbleibseln durchsetzten reaktionären Staatsapparat in die Opposition gedrängt worden war. Dies entsprach völlig der politischen Einstellung der Partei, der reformistischen Verwässerung des Marxismus, der Vernachlässigung theoretischer Fragen und der engen Verbindung zum radikalen Kleinbürgertum um die „Gesellschaftswissenschaftliche Gesellschaft", 12 die die Arbeiterbewegung über das radikale Kleinbürgertum gänzlich ins S c h l e p p t a u d e s B ü r g e r t u m s brachte. Einer der revolutionärsten Vertreter der Nyugat, der Schriftsteller Endre Ady, vereinigte in seiner Ideologie die bissige Verbitterung des heruntergekommenen Kleinadels mit dem Aufbegehren des radikalen Kleinbürgertums, das mit dem Proletariat als der einzigen revolutionären Kraft sympathisiert. In seiner Kunst übernimmt er einerseits symbolistische, dekadente poetische Formen des Westens, zum anderen erneuert er, wenn auch historisch verspätet, alte nationale 231

Formen und erfüllt sie mit ehrlichem revolutionärem Inhalt. Ein bezeichnendes Dokument hierfür ist die Literaturdiskussion, die 1909 zwischen C s i z m a d i a und der N epszava-'R.edsk.tion über Endre A d y stattfand. 13 Csizmadia stößt mit seinem Angriff, der in vielem persönlicher Verletztheit entspringt und von einer wirren, unentwikkelten Ideologie zeugt, dort, wo er gegen die für den Arbeiterleser zu schwere und unverständliche Formensprache zu Felde zieht, instinktiv richtig auf die Wahrheit. So schreibt er beispielsweise: „Ich muß die außerordentlich charakteristische Tatsache betonen, daß ich mit meiner Auffassung, das Zentralorgan der Partei müsse sich in jeder Hinsicht um das Volk kümmern und müsse für das Volk, in einer diesem verständlichen Sprache und künstlerischen Form schreiben, mit der Nepszava in Konflikt geraten bin." 14 Die Parteileitung befaßte sich in einem besonderen Beschluß vom 3. Februar 1909 mit dieser Frage und sprach sich hundertprozentig gegen Csizmadia aus. D e r W e l t k r i e g legte die v e r r ä t e r i s c h e Politik d e r s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n P a r t e i gänzlich bloß. Diese drückte auch der s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n L i t e r a t u r ihren Stempel auf. Es sei nur erwähnt, daß zum Beispiel die in der Nyugat erschienenen kämpferisch-pazifistischen Gedichte A d y s weit ausgereifter sind als die damaligen Arbeiten der sozialdemokratischen Dichter. Nicht nur, daß die Sozialdemokratie keinerlei Einfluß auf die weitere Entwicklung der ungarischen proletarischen Dichtung besaß, auch mußte diese, wollte sie sich fortentwickeln, vor allem die Sozialdemokratie und deren Literatur und Ideologie ablehnen. Die jungen Schriftsteller, die sich 1915 um die Zeitschriften Tett und später MA sammelten, brachten anarchistische Empörung der revolutionären kleinbürgerlichen Intelligenz gegen den Krieg zum Ausdruck. Ihrer wirren Ideologie (neben der Übersetzung von LeninAufsätzen und der Verfassung der Russischen Sowjetrepublik die Proklamierung des u n i v e r s e l l e n M e n s c h e n ) 1 5 entsprach vollauf ihre r e v o l u t i o n ä r e künstlerische Methode. Ihre gefällige Losung täuschte lange sogar die Intellektuellen, die sich um die kommunistische Partei geschart hatten, aber nicht die dialektische Wechselwirkung von Inhalt und Form erkannten („Es gibt keinen revolutionären Inhalt ohne revolutionäre Form"). 1 6 D a sie von den Massen isoliert waren, konnten sie ihnen nicht einmal diesen verworrenen Inhalt nahebringen. Um MA sammelte sich ein Teil der kleinbürgerlichen literarischen Kräfte, die gegen den Krieg aufbegehrten. Hier-

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her gehörten einzelne, die später zu Kommunisten und revolutionären Schriftstellern wurden, ebenso wie halt- und richtungslose Kleinbürger, die sich später, während der relativen Stabilisierung des Kapitalismus, in die K o n t e r r e v o l u t i o n integrierten. Die Schriftsteller, die engere Verbindung zur revolutionären Arbeiterbewegung fanden, schieden unter Führung von Aladàr K o m j ä t schon bald aus dem MA-Kreis aus und schlössen sich über die linke sozialdemokratische Bewegung dem Banner der kommunistischen Partei an. 17 Doch auch nach ihrem Ausscheiden standen sie auf einer Entwicklungsstufe, die nur unwesentlich über die der im MAKreis verbliebenen Schriftsteller hinausging. Die R ä t e r e p u b l i k war schon wegen ihres kurzen Bestehens und des Kadermangels außerstande, eine B e w e g u n g d e r p r o l e t a r i s c h e n L i t e r a t u r ins Leben zu rufen. Ein Hauptgrund dafür, daß die Entwicklung der ungarischen proletarischen Literatur unter der Diktatur des Proletariats keinen stärkeren Aufschwung nahm, bestand darin, daß es keine P a r t e i d e r B o l se h e w i k i mit reichen revolutionären Traditionen gab und die marxistisch-leninistische Theorie fehlte. An der Spitze des Volkskommissariats für Unterrichtswesen standen die Genossen György L u k à c s , der damals noch gänzlich der Hegeischen idealistischen Philosophie anhing, und K u n f i , ein typischer Zentrist, der mit linken Phrasen jonglierte. Die falsche Literaturpolitik des Volkskommissariats, die sehr oft proletarischer Gesichtspunkte entbehrte, erschöpfte sich im wahllosen Propagieren e w i g e r W e r t e . Ein typisches Produkt der mißlichen Literaturpolitik war der S c h r i f t s t e l l e r k a t a s t e r , 1 8 der die Autoren utopisch nach dem künstlerischen Wert ihrer Arbeiten in drei Kategorien einteilen wollte. Die gesamte Literatur der Diktatur des Proletariats war von dem Hegemoniestreben des AM-Kreises geprägt. Dies löste eine scharfe Diskussion zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten aus, da der Angriff der Sozialdemokraten gegen MA („konterrevolutionäre Bombe in Kulturverpackung")19 nur ein Mittel zur Erreichung ihrer konterrevolutionären Ziele war. Andererseits untersuchten die Kommunisten den Klasseninhalt des „MAismus" und stellten fest, er sei „bourgeoise Dekadenz" und werde, falls er sich nicht entwickle, in die K o n t e r r e v o l u t i o n münden (Béla Kun). 20 Die ersten Jahre der E m i g r a t i o n und das Ausbleiben eines schnellen Sieges, die allmähliche kapitalistische Stabilisierung und der Zusammenbruch der russischen Offensive im russisch-polnischen

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Krieg stürzten fast alle Mitglieder des AfA-Kreises in eine starke Krise. Ein Teil von ihnen gelangte über den Dadaismus geradewegs zur K o n t e r r e v o l u t i o n in Ungarn (Kassäk), 21 ein anderer Teil (Sändor B a r t a , K a h ä n a , später M ä c z a) schaltete sich über verschiedene Entwicklungsstufen in die klassenkämpferische Kulturfront ein. K o m j ä t setzte in der von ihm begründeten Zeitschrift Egyseg den vor der Diktatur eingeschlagenen Kurs fort. Egyseg (Komjät, Rez, Kahäna) war ein erster ernsthafter Schritt, dem Klassenkampf mit literarischen Mitteln zu d i e n e n . Die theoretischen Aufsätze von R e z (1922) sind ein erster Versuch, die prinzipiellen Grundlagen der proletarischen Literatur zu legen. Die Tätigkeit der Egyseg wirkte zersetzend und fermentierend auf den MAKreis und beschleunigte bei manchen Mitgliedern die Überwindung der Krise. Mit dem Erscheinen von E k begann für Sändor B a r t a der stufenweise Weg zum Proletariat. Die ideologisch abgeklärteste Gestalt der anarchistischen, verworrenen, mit Formenübertreibungen belasteten Literatur dieser Zeit ist Aladär K o m j ä t , einer der ältesten Kämpfer der ungarischsprachigen proletarischen Literatur, obgleich seine Gedichte aus dieser Zeit zu allgemein und wegen ihrer formenmäßigen Überladenheit für die Massen zu schwcr sind. Seine Dichtung entspricht der frühen Periode der ungarischsprachigen proletarischen Literatur. Das Beispiel K o m j ä t s und der übrigen proletarischen Schriftsteller, die aus dem AfA-Kreis hervorgingen, zeigt, daß sie sich s o w e i t u n d in d e m M a ß e zu p r o l e t a r i s c h e n S c h r i f t s t e l l e r n entwickeln konnten, die den heutigen Zeitanforderungen gerecht werden, w i e sie die aus dem MA-Kreis mitgebrachten kleinbürgerlichen Rückstände überwanden und negierten, ihre romantische und abstrakte Weltanschauung durch einen marxistisch-leninistischen Inhalt ersetzten und sich die literarische Methode des dialektischen Materialismus aneigneten. IV. Die ungarischsprachige proletarische Literatur im Leninschen Sinn, also die p r o l e t a r i s c h e L i t e r a t u r , die als ein M i t t e l des K a m p f e s zur V e r ä n d e r u n g der kapitalistischen P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e die Ged a n k e n - und G e f ü h l s w e l t der L e s e r auf der AuB a s i s d e r im g e g e n w ä r t i g e n h i s t o r i s c h e n 234

genblick bestehenden K1 a s s e n p r o b 1 e m e und K1 a s s e n p r ax i s sowie über die praktischen K1 a s s e n a u f g a b e n in R i c h t u n g a u f d a s Endziel d e s K o m m u n i s m u s o r g a n i s i e r t , entstand in den ersten Jahren nach dem Scheitern der Diktatur. Diesem Ziel dienten die G e f ä n g n i s g e d i c h t e Qtn Zuchthaus am Margit-Ring, Latinka-Ballade usw.), 22 die in jenen proletarischen Massen, die den Klauen des weißen Terrors ausgeliefert waren, das kämpferische Selbstbewußtsein bewahren helfen wollten. Dieser sozialen Mission entsprangen die Agitationsgedichte von Andor G a b o r , die die aktive Aufmerksamkeit der Werktätigen auf den weißen Terror lenkten. Politische Zweckdienlichkeit veranlaßte Béla 111 é s, die in dem Band Die Beerdigung des Petra Ruszin23 gesammelten Novellen - die erste proletarisch-realistische Prosa in ungarischer Sprache - zu schreiben. Das ermöglichte ihm, trotz der sehr scharfen tschechoslowakischen Zensur die unmenschliche Ausbeutung und Verelendung der Bauern von Rusinko zu enthüllen. Ein praktisches politisches Ziel leitete Jänos L é k a i , als er in der Sowjetunion das blutrünstige Tob'en des weißen Terrors in Ungarn schilderte, um den russischen Proletaricrmassen, die an den Fronten des Bürgerkriegs kämpften, die Folgen einer Niederlage vor Augen zu halten. Eine politische Notwendigkeit diktierte Antal H i d a s , seine Kinderlieder und Agitationsgedichte zu schreiben, mit denen er neue Massen für die ungarische kommunistische Kinderbewegung in der Tschechoslowakei warb. Eine Waffe in der Massenagitation war das Gedicht Csepel von Emil M a d a r à s z , die erste literarische Aufarbeitung der Traditionen der Diktatur. Agitationswaffen waren der Roman von Jànos G y e t v a i sowie die Werke von Aladär K o n i i ä t und Mózes K a h ä n a , der in der rumänischen illegalen Bewegung eine aktive Rolle spielte. Sie waren die ersten, die die Literatur in den k o n k r e t e n D i e n s t d e s a k t u e l l e n K l a s s e n k a m p f e s stellten und mit ihrem praktischen Schaffen zeigten, daß ein w a h r e r p r o l e t a r i s c h e r S c h r i f t s t e l l e r nur sein k a n n , wer sich auf das a k t i v s t e am B e f r e i u n g s k a m p f des P r o l e t a r i a t s b e t e i l i g t , und daß nur die Literatur wirklich proletarisch ist, die aktiv die revolutionäre Veränderung der Realität anvisiert und die Arbeiterleser für den Klassenkampf organisiert. In der gleichen Zeit entstand eine Sympathisantenliteratur gegen den weißen Terror, vertreten durch einen Roman und Erzählungen von 235

Lajos B a r t a sowie durch Bücher von Andor N a g y , Maria S z u c s i c h , Sandor K e m e r i und anderen. Gewaltige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete die Gründung der Ungarischen Gruppe des MAPP (1925) und wenig später des V e r bandesderUngarischenRevolutionärenSchrifts t e l l e r u n d K ü n s t l e r (1926), wodurch endgültig die organisatorischen Grundlagen gegeben waren. 24 Zum einen vereinigten die beiden Organisationen die auf der Plattform der russischen proletarischen Schriftsteller stehenden ungarischsprachigen proletarischen Schriftsteller, zum anderen gaben sie die Richtschnur und führten die in den einzelnen Ländern und in der Emigration lebenden ungarischsprachigen revolutionären literarischen Kräfte. Diese Ergebnisse wurden möglich, da sich ein Teil der ungarischsprachigen proletarischen Schriftsteller am sozialistischen Aufbau i n d e r S o w j e t u n i o n und insbesondere an den Alltagskämpfen der russischen proletarischen Literaturbewegung beteiligte und sich die hier gesammelten, sehr wertvollen Erfahrungen zueigen machte. Die Tendenz, in eine Isolation zur Bewegung in Ungarn zu geraten, wurde für eine gewisse Zeit von H i d a s der an Traditionen der illegalen Arbeit in Ungarn festhielt, und jenen Genossen abgewehrt und verringert, die schon damals den Kampf gegen Abweichungen aufgenommen hatten. Die ungarischsprachige proletarische Literatur trat mit dem Sarlöes-Kalapdcs-]ahrbuch (1926) erstmals o r g a n i s i e r t in Erscheinung. Darin besteht seine lebendige Bedeutung, trotz des unterschiedlichen Reifegrades der in ihm gesammelten Materialien und der vertretenen Autoren. Es war ein erster ernsthafter Versuch, die p r i n z i p i e 11 e n Grundlagen der ungarischen proletarischen Literatur zu schaffen. Der heftige Kampf, der sich im Zusammenhang mit dem Jahrbuch entzündete und Fraktionscharakter annahm, 26 spaltete die ideologisch weniger und stärker entwickelten ungarischen proletarischen Schriftsteller in Sowjetrußland in z w e i G r u p p e n ; darüber hinaus aber klärte er eine Reihe von Grundfragen, beschleunigte er den Entwicklungsgang einzelner Schriftsteller und trug dadurch zur Zusammenarbeit aller Kräfte auf der Grundlage der praktischen Arbeit bei. Eine entscheidende Möglichkeit zur raschen Entwicklung bot die seit 1929 in Moskau erscheinende Monatszeitschrift Sarlö es Kalapacs, deren Rubrik P r o l e t a r i s c h e L i t e r a t u r das offizielle Mitteilungsblatt der „Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schrift236

steller" und der ungarischen Sektion der „Organisation Moskauer Proletarischer Schriftsteller" ist. Sie und die belletristische Buchreihe der Bibliothek Sarlö es Kalapdcs bilden heute die s t ä r k s t e W a f f e der ungarischen p r o l e t a r i s c h e n S c h r i f t s t e l l e r . Die Hauptfehler der Rubrik, in der einige ideologisch und auch künstlerisch erstklassige Werke der ungarischen und der internationalen proletarischen Literatur veröffentlicht wurden, stellen die planlose Zusammenstellung des in ihr publizierten, literarischen Materials und die beinahe völlig fehlende kritische Lenkung dar. Die ungarischen proletarischen Schriftsteller spielen eine bedeutende Rolle bei der O r g a n i s i e r u n g d e r i n t e r n a t i o n a l e n p r o l e t a r i s c h e n L i t e r a t u r . Sie beteiligen sich in verantwortlichen Funktionen an der Tätigkeit der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller, des Verbandes der Schriftsteller der Roten Armee und Flotte, der Zeitschrift Literatur der Weltrevolution, der Auslandsabteilung des Staatlichen Buchverlags und der Auslandsabteilung des Verlags „Junge Garde". 27 I n U n g a r n wurde die Entwicklung einer wirklich breiten und ideologisch wirklich reinen proletarischen Literatur eine Zeitlang durch den weißen Terror sowie die politische und ideologische Unterdrückung behindert. In der illegalen Bewegung entfaltete sich in den letzten Jahren eine breite, sogenannte „namenlose" Literatur (Agitationslieder, Agitationsstücke, Gedichte, Massenrezitationen, Märsche, Satiren). Dieses literarische Material belegt klar Ausmaß und Bedeutung der heranreifenden Kader in der Heimat und deren unerschütterliche proletarische Ideologie. 28 Der am weitesten entwickelte, in Ungarn lebende proletarische Schriftsteller ist Sändor G e r g e 1 y. Seine drei letzten Romane Hidat vernek (Sie schlagen eine Brücke), Szu (Der Holzwurm), Etnberväsär (Menschenmarkt) gehören mit ihrer Darstellung des lebenden Menschen und der Massen sowie mit ihrem realistischen Stil zu den f ü h r e n d e n W e r k e n der ungarischen proletarischen Literatur. Ihr Mangel äußert sich darin, daß Gergely die Rolle der Partei und der entscheidenden Schicht des Proletariats innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung nur u n g e n ü g e n d sieht. T o t a l e Vernachlässigung der Rolle der Partei und v ö l l i g e s Fehlen der führenden Rolle des Proletariats paaren sich in dem Roman von Andräs Szilägyi Uj pdsztor (Neuer Hirt) mit formrevolutionären Überresten. Trotzdem ist Szilägyi einer unserer fähigsten r e v o l u t i o n ä r e n S c h r i f t s t e l l e r ; wenn er sich ideologisch 237

konsequent weiterentwickelt und engen Kontakt zur Arbeiterbewegung finden kann, wird er die ungarische proletarische Literatur um bedeutende Werke bereichern. Der größte Wert der in der Tschechoslowakei erscheinenden kulturpolitischen Zeitschrift Az üt besteht vor allem darin, daß sie die Literatur mit den praktischen Problemen organisch verbindet. Bei einem Teil der Schriftsteller, die sich um die Zeitschrift gesammelt haben, kommen neben f o r m r e v o l u t i o n ä r e n Überresten auch i d e o l o g i s c h e A b w e i c h u n g e n vor. Die in Paris in der Monde erschienenen ungarischen Bücher verbreiten die „Mitläufer"-Literatur und l a s s e n d i e p r o l e t a r i s c h e L i t e r a t u r v ö l l i g a u ß e r a c h t . Der Fehler wird dadurch verstärkt, daß die ungarische Sektion des Monde diese Bücher zu einem Zeitpunkt erscheinen läßt, da der K a m p f u m d i e H e g e m o n i e d e r p r o l e t a r i s c h e n L i t e r a t u r in der revolutionären Literatur international begonnen hat und in den wichtigsten Ländern (Sowjetunion, Deutschland) bereits e n t s c h i e d e n i s t. Noch schwerwiegender sind die Fehler des Verlagsunternehmens Szikraj29 das zum Beispiel in der gewaltige Erfolge aufweisenden gegenwärtigen revolutionären Etappe sozialistischer Aufbauarbeit und Umgestaltung von Industrie und Landwirtschaft keine veröffentlichungswerteren und wichtigeren Bücher findet als einen Roman der Hungerjahre (Newerow: Taschkent, die Stadt des Überflusses) oder einen ideologisch schwachen, auf dem Niveau des Revolutionsbeginns stehenden Roman Schokolade.30 Die starke linke Kulturbewegung der Jahre 1927 bis 1930 und die in den Hand,Leitungen" usw. erscheinende illegale Literatur zeigen, daß die ungarischsprachige proletarische Literatur trotz aller Hindernisse u n a u f h a l t s a m d e r V e r w i r k l i c h u n g i h r e r h i storischen Mission entgegenstrebt. Die Wirtschaftskrise hat in Ungarn eine n e u e , b r e i t e K r i s e d e r k l e i n b ü r g e r l i c h e n I n t e l l i g e n z ausgelöst. Die in die Krise geratene kleinbürgerliche Intelligenz hat völlig den Glauben daran verloren, daß sie in der bürgerlichen Gesellschaft ihren Platz finden könnte. Das Kleinbürgertum vermag keine selbständige Politik zu betreiben und hängt sich entweder an das Proletariat oder an die Bourgeoisie. Gyula H ä y , K o d o l a n y i und Gyula 111 y e s sind die Schriftsteller der von der Krise betroffenen kleinbürgerlichen Intelligenz, die gelegentlich mit dem Proletariat liebäugeln. Andere suchen den Ausweg im Lager des Sozialfaschismus 238

(K a s s ä k) 3 1 und des Faschismus (Attila J 6 z s e f ,32 Andor S i m o n). Ein Teil stammelt noch immer die Ohnmacht und Blutarmut des kleinbürgerlichen Humanismus (Antal F a r k a s , Zseni V ä r n a i , Arpäd S z a k a s i c s , Arpäd S z e l p ä l ) , ein anderer Teil käut expressionistische Wortblüten, abstrakte Allgemeinheiten und Religiöse Mysterien (Ervin E m b e r u. a.) wieder. Sozusagen keinerlei Bedeutung besitzen die jungen kleinbürgerlichen Schriftsteller, die die Epigonengarde der ausgedienten Nyugat bilden. V. Was den heutigen Entwicklungsstand der ungarischsprachigen proletarischen Literatur betrifft, so ist sie eine der stärksten Gruppen der proletarischen Literatur, ideologisch klar und künstlerisch entwickelt. Lebendige Beweise dieses Entwicklungsstandes liefern die schneidende politische Dichtung von H i d a s , die mit dem Alltagskampf der Arbeiterklasse verwachsen ist, Ellenforradalom földjeu (Im Land der Konterrevolution), Folyik a pör (Der Prozeß ist im Gange); der realistische Roman von 111 e s Bg a Tisza (Brennende Theiß), der die Klassenerfahrungen summiert; die realistischen Romane über die revolutionären Bewegungen im heutigen Ungarn von G e r g e 1 y Szü (Der Holzwurm), Etnberväsär (Menschenmarkt) ; die Entwicklung von B a r t a Misa (Mischa), 35 000 und K a h ä n a Tarackos (Haubitzen) zu konkretem Inhalt und realistischer Form; die ideologisch klaren Gedichte von K o m j ä t Mindern akarunkl (Wir wollen alles!), die in der Form den Massen immer näher kommen ; die Fähigkeit von Z al ka A hadjärat vege (Das Ende des Feldzuges), Ivanov (Iwanow), genau das Alltagsleben und die Gestalten des russischen Bürgerkriegs und des Aufbaus zu schildern sowie die stark agitatorischen Gedichte von M a d a r ä s z Csepel; Vörös csuda (Rotes Wunder), Magyar Kubikusok (Ungarische Erdarbeiter), obwohl er alte Formen mechanisch übernimmt, und Lajos K i s s ' Vörös vdros (Rote Stadt), des ersten bedeutenden Vertreters der Arbeiterkader. Die ernsthafteste Gefahr in der proletarischen Literatur resultiert gegenwärtig aus der ungenügenden Erkenntnis über die führende Rolle von Partei und Arbeiterklasse; bei den emigrierten Schriftstellern ist es einerseits die Tendenz zur Loslösung von der Bewegung in Ungarn und andererseits die unzureichende Mitarbeit an aktuellen Aufgaben im Dienst der konkreten Bewegung des Landes, in dem sie leben. 239

Neben der starken und unbestreitbaren ideologischen und künstlerischen Aufwärtsentwicklung müssen wir auf folgende wichtige F e h l e r hinweisen: a) auf die Vernachlässigung organisatorischer Fragen, b) auf die Vernachlässigung der Kaderfrage und c) auf ein Zurückbleiben der marxistisch-leninistischen Literaturtheorie und -kritik. Aus all dem ergeben sich die wichtigsten und unmittelbarsten A u f g a b e n der ungarischsprachigen proletarischen Literatur wie folgt: a) Herstellung engster Verbindungen zur revolutionären Arbeiterbewegung in Ungarn; für die emigrierten Schriftsteller gleichzeitig Unterhaltung engster Verbindungen zur revolutionären Arbeiter- und proletarischen Literaturbewegung des Landes, in dem sie leben; b) Kampf für die aktive Verteidigung der Sowjetunion und die Propagierung der Ergebnisse des sozialen Aufbaus; c) Kampf gegen die verschiedenen feindlichen ideologischen Einflüsse und Rudimente, im Hinblick auf die Formen, vor allem gegen eine mechanische Übernahme alter Formen und gegen formale revolutionäre Überreste; d) Wirkungssteigerung der ungarischsprachigen proletarischen Literatur in eine breite Massenbewegung; e) Anwendung und Studium der dialektisch-materialistischen Methode; f) Kampf für die Hegemonie der proletarischen Literatur innerhalb der revolutionären Literatur; g) Ausbau der Arbeiterkader und Umerziehung der kleinbürgerlichen revolutionären Schriftsteller; h) Kampf für künstlerische Qualität; i) unerbittlicher Kampf gegen sozialchauvinistische, pazifistische, pseudoproletarische und sonstige feindliche Ideologien; j) Übernahme und Anwendung der Erfahrungen der internationalen und hauptsächlich der sowjetischen proletarischen Literaturbewegung; k) Verstärkung des ideologischen Einflusses auf die übrigen Disziplinen der proletarischen Kunst. 1931

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35 GEORG LUKÄCS

Tenden^ oder Parteilichkeit? D i e Frage, ob unsere Literatur tendenziös ist, ist keineswegs eine terminologische Angelegenheit. W e n n wir zur Bezeichnung eines der wesentlichsten Kennzeichen unserer Literatur das W o r t „Parteilichk e i t " (statt „Tendenz") vorschlagen, so ist es klar, daß hierin eine neue theoretische Erkenntnis über das Wesen unserer Literatur enthalten ist. W i r wollen damit einen K o m p l e x von theoretischen Schiefheiten und Halbheiten aus unserer Literaturauffassung ausscheiden; wir wollen das Eigenartige unserer Literatur klarer und unmißverständlicher als bisher formulieren.* 1. W a s bedeutet nun der Ausdruck „Tendenz"? U n d wie kam er in unsere Literaturterminologie hinein? Vorerst: D a s W o r t Tendenz ist sehr vieldeutig. E s bedeutet vor allem „ein Gesetz, dessen absolute Durchführung durch gegenwirkende Ursachen aufgehalten, verlangsamt, abgeschwächt wird" (Kapital. I I I . I . 2 1 5 ) ; 1 eine Bedeutung, die hier für uns vorerst nicht in Frage kommt, die aber erwähnt werden mußte, weil gerade sie aus unserer Terminologie nicht verschwinden darf. Wichtiger, und unserer Frage näherliegender ist die Bedeutung, wonach T e n d e n z : Streben, Bestrebung heißt. Sie ist in der Regierungs- und Polizeisprache bereits in der ersten Hälfte des 19. J a h r hunderts allgemein verbreitet; aufwieglerische Tendenz usw. finden wir in den Zensurinstruktionen und Bücherverboten dieser Zeit massenweise. D a b e i ist für uns wesentlich, d a ß die Tendenz dabei eine s u b j e k t i v e Bedeutung erhält. In seiner Kritik über die neueste preußische Zensurinstruktion brandmarkt der junge M a r x gerade diese Seite als Kennzeichen der Willkür, der „Jurisdiktion des V e r * Die Artikel der Genossen Richter und Becher (Nr. 3, 4, 5 der Linkskurve) haben diese Frage bereits gestreift. Diese Andeutungen haben unter den Bundesmitgliedern - sehr richtigerweise - eine Diskussion hervorgerufen. Da es sich hier keineswegs um eine bloße Angelegenheit der Terminologie handelt, hält es die Redaktion für notwendig dieser Frage einen eigenen Artikel zu widmen. 16

Befunde

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dachtes"; denn sie sind Gesetze, „die nicht d i e H a n d l u n g a l s s o l c h e , sondern die G e s i n n u n g des Handelnden zu ihrem Hauptkriterium machen" (aus den „Anekdota" 1843. Werke I. I. 161 ff). 2 Die genaue Geschichte nun, wie - offenbar - aus dieser juristisch-polizeilichen Terminologie eine ästhetische geworden ist, konnte ich leider nicht verfolgen. (Soweit mir bekannt, handelt es sich hier, vorwiegend, um eine deutsche Entwicklung; die französischen Tendenzdramen der Mitte des 19. Jahrhunderts nennen sich z. B. „drames ä these"). Sicher beginnt sich die Bezeichnung bereits in den vierziger Jahren durchzusetzen. Engels spricht z. B. 1841, zur Zeit, als er noch unter dem Einfluß des „Jungen Deutschland" stand, in diesem Sinne über die „Tendenz" bei Arndt (Kritik aus dem Telegraph, Werke II. 96) 3 . Auch unter den „Zeitgedichten" von Heine finden wir ein Tendenz betiteltes, dessen letzte Strophe folgendermaßen lautet: „Blase, schmettre, donnre täglich, Bis der letzte Dränger flieht Singe nur in dieser Richtung, Aber halte diese Dichtung Nur so allgemein als möglich." Dieser spöttische Schluß Heines, der gerade in dieser Periode von der „reinen Kunst", von der „Tendenzlosigkeit" weiter entfernt war als je früher oder später, zeigt, daß Heine - mit richtigem dichterischem Instinkt - starke Bedenken gegen das Wesen der damaligen „Tendenzkunst" und eben deshalb gegen den Ausdruck „Tendenz" gehabt hat. Und zwar bekämpfte er hier ( wie mit anderen Ausdrücken in seinen gleichzeitigen Schriften) das Subjektivistische, Gesinnungshafte und e b e n d a r u m Abstrakt-Allgemeine der „Tendenz"-Literatur. Wir werden auf die gesellschaftlichen Gründe dieser Abstraktheit sogleich zu sprechen kommen. Hier wollen wir bloß mit einem Beispiel die Berechtigung dieser spöttischen Bedenken, von der Seite eines anderen Dichters, der die Poesie ebenfalls als Mittel des Kampfes auffaßte, bekräftigen. In dem literaturgeschichtlich sehr wichtigen Zweikampf Herwegh-Freiligrath über die Parteilichkeit oder Überparteilichkeit des Dichters (1843), schreibt Herwegh: „ . . . Ein Schwert in eurer Hand sei das Gedicht, O wählt ein Banner, und ich bin zufrieden, Ob's auch ein andres, denn das meine sei . . ." 4 242

E r kämpft also bloß für Parteilichkeit ü b e r h a u p t , gegen die damalige Freiligrathsche Auffassung: „Der Dichter steht auf einer höheren Warte, als auf den Zinnen der Partei." 5 Dabei sind zwei Züge bemerkenswert. Erstens, daß nach Herwegh die Frage von Parteilichkeit oder Überparteilichkeit (also nach der späteren Terminologie: „Tendenzkunst" oder „reine Kunst") die des s u b j e k t i v e n E n t s c h l u s s e s sei, nicht eine unentrinnbare Gesetzlichkeit einer jeden Literatur, als Produkt und Waffe des Klassenkampfes. Zweitens, daß er j e d e Parteilichkeit - also auch die gegnerische - als einen Fortschritt der Entwicklung begrüßt; er faßt also die Frage der Parteilichkeit (der „Tendenz") f o r m a l auf. Es erübrigt sich, ausführlich darzulegen, wie sehr diese ganze Anschauung Herweghs auf I l l u s i o n beruht. Sie mußte aber angeführt und kurz analysiert werden, denn solche Illusionen liegen mehr oder weniger einer jeden bürgerlichen Theorie für oder gegen „Tendenzkunst" zugrunde, und es kommt für uns weniger darauf an, diese Illusionen als Illusionen zu entlarven, als darauf, ihre W u r z e l n i m b ü r g e r l i c h e n K l a s s e n s e i n a u f z u d e c k e n . Dies ist für uns schon darum wichtig, weil die für die proletarisch-revolutionäre Literaturbewegung entscheidenden Formulierungen dieses Fragenkomplexes, bei Franz Mehring sehr stark unter der Einwirkung der bürgerlichen „Tendenzkunst" entstanden, und trotz aller Bemühungen Mehrings, nicht über die unaufgehobenen Widersprüche der bürgerlichen Fragestellung hinausgekommen sind. Es ist verständlich, ja selbstverständlich, daß die beginnende proletarische Literatur an die „Tendenzliteratur" der spärlichen Überreste des fortschrittlichen Bürgertums anknüpfte und damit Theorie und Praxis der „Tendenz" übernahm. Um so mehr, als sie bereits bei ihren ersten Anfängen im gesteigerten Maße in jene Kampfposition geraten mußte, in der sich diese bürgerliche Literatur stets befand. „Tendenz" ist nämlich etwas sehr Relatives. Das heißt in der bürgerlichen Literaturtheorie, was heute sogar offiziell anerkannt wird, erscheint als „tendenzmäßig" jenes Schriftwerk, dessen Klassengrundlage und Klassenziel der herrschenden Richtung - klassenmäßig feindlich ist; die „eigene Tendenz" ist also keine „Tendenz", nur die gegnerische. Diese Kampfstellungen, die die einzelnen literarischen Fraktionen der Bourgeoisie gegeneinander einnehmen, wobei natürlicherweise zumeist der politisch-sozial fortschrittlicheren Richtung mehr „Tendenz" vorgeworfen wurde als der reaktionären, wurde den ersten Ansätzen der proletarischen Literatur gegenüber mit verdop16»

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pelter Schärfe eingenommen. Jede Darstellung der Gesellschaft, sei es des Proletariats selbst, sei es der Bourgeoisie, wenn sie nur vom Klassenstandpunkt des Proletariats oder bloß von seiner Nähe aus geschah, galt als „tendenziös", und es wurden ihr gegenüber alle Argumente über das „Unkünstlerische", „Kunstfeindliche" der „Tendenzkunst" aufgefahren. Unter solchen Umständen, insbesondere, wenn man noch hinzunimmt, daß die bürgerliche „reine Kunst" einerseits immer inhaltsärmer und wirklichkeitsferner, andererseits eben deshalb - immer tendenziöser geworden ist, so daß das Verurteilen der proletarischen „Tendenzkunst" immer verlogener wurde, ist es nur allzu begreiflich, daß die junge proletarische Literatur den ihr vom Klassenfeind entgegengeschleuderten Schimpfnamen als Ehrenbezeichnung aufnahm, so wie dies im 16. bis 17. Jahrhundert die niederländischen „Gueusen" (Bettler) oder in den französischen Revolutionen die „Sansculotten" taten. So nannten wir lange Zeit mit polemischem Stolz - unsere Literatur eine „Tendenzliteratur". 2.

Aber die Verständlichkeit der Einnahme dieser theoretischen Position beweist noch längst nicht, daß sie theoretisch richtig sei. Im Gegenteil. Sie übernimmt mit der bürgerlichen Formulierung des Problems, mit der bürgerlichen Terminologie unbesehen den ganzen bürgerlichen Eklektizismus der Problemstellung, ihre bürgerlich-eklektischen, nicht aufgehobenen, sondern teils verschmierten, teils starr polarisierten Widersprüche. Wir meinen damit den Gegensatz von „reiner Kunst" und „Tendenz". Darauf gibt es auf diesem Boden zweierlei Antworten. Erstens: Wir pfeifen auf die „reine Kunst", auf die „Formvollendung"; die Literatur hat eine gesellschaftliche Funktion im Klassenkampf, die ihren Inhalt bestimmt; wir 'erfüllen bewußt diese Funktion und kümmern uns nicht um die verkommenbürgerlichen Formfragen (Verengung der Literatur auf Tagesagitation; Standpunkt eines mechanischen Materialismus in der Literaturtheorie). Zweitens: Anerkennung einer „Ästhetik" und Versuch, die - aus dem Gebiet des „Sozialen", des „Politischen", als aus einem „kunstfremden" Gebiet - entnommene „Tendenz" mit ihr zu versöhnen. Das heißt, es wird - eklektisch - die unlösbare Aufgabe gestellt, in das Kunstwerk einen „kunstfremden" Bestandteil hineinzuarbeiten. Es wird also einerseits (stillschweigend) die ästhetische Immanenz, die „rein" künstlerische Geschlossenheit des Kunstwerks 244

anerkannt, d. h. die Vorherrschaft der Form vor dem Inhalt; andererseits wird aber gefordert, daß ein - nach dieser Auffassung - außerkünstlerischer Inhalt (die „Tendenz") doch zur Geltung komme. Es entsteht ein eklektischer Idealismus. Diese unaufgehobenen - und auf diesem Boden unaufhebbaren Widersprüche bestimmen die Unsicherheit Franz Mehrings in dieser Frage. Bekanntlich betrachtet Mehring die für die Kunsttheorie des niedergehenden Bürgertums ausschlaggebende Ästhetik Kants ebenfalls als theoretisches Fundament. Die darin ausgesprochene Grundanschauung, die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", den Ausschluß jedes „Interesses" aus der Kunstbetrachtung, ist offenbar eine Theorie der „reinen Kunst". Die Weiterbildung dieser Theorie durch Schiller, die Mehring sich zu eigen macht, die „Vertilgung des Stoffes durch die Form", verstärkt nur diese subjektiv-idealistische Tendenz. Es ist also ganz konsequent, daß die Kunsttheorie des niedergehenden Bürgertums diese Anschauungen als Waffen für den Kampf gegen die „Tendenz" ausnützt. Sie konnte dies um so erfolgreicher tun, als die Gegner dieser Praxis, die Anhänger der „Tendenz" (soweit sie nicht einen vulgarisierten mechanischen Materialismus vertraten) selbst auf dem Boden dieser Theorie standen und darum die notwendigen und unabweisbaren Folgerungen, die aus dieser Theorie gezogen wurden, nur sehr inkonsequent und eklektisch abzuwehren imstande waren. Dies ist am krassesten bei Mehring, dem bedeutendsten deutschen Literaturtheoretiker der Jahrhundertwende, der seine bürgerlichen Zeitgenossen weit überragte, sichtbar. Der Eklektizismus Mehrings kommt ganz klar darin zum Ausdruck, daß er für die zentrale Frage von Inhalt-Form nur eine „Einerseits-Andererseits"-Lösung finden konnte. Mehring fühlt, daß die bedingungslose Anerkennung der (subjektiv-idealistischen) Problemlösung von Kant-Schiller zu der Anerkennung der „Zeitlosigkeit", der „Überzeitlichkeit" der Kunst führt und damit zum Primat der Form und zum Verwerfen jeder Tendenz. Indem er sich gegen diese Konsequenz wehrt (ohne ihre Voraussetzungen zu kritisieren) schreibt er: „ . . . hängt der Geschmack also a u c h vom Inhalt und n i c h t b l o ß von der Form ab" (Werke II. 264. Sperrung von uns). 6 Dieser Eklektizismus, der gerade in der entscheidenden Frage eine absolut nichtssagende Antwort gibt, zeigt deutlich, wie wenig Mehring über die grundlegende Problemstellung Kant-Schillers und damit über die bürgerliche Ästhetik überhaupt hinausgekommen ist. Die Schranke dieser Auffassung zeigt sich nämlich darin, daß die Frage der „Tendenz" als Frage der Beziehung

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von K u n s t u n d M o r a l gestellt wird, d. h., daß der subjektive idealistische Charakter der „Tendenz" klar hervortritt: „Tendenz" ist eine F o r d e r u n g , ein S o l l e n , ein I d e a l , das der Schriftsteller der Wirklichkeit g e g e n ü b e r s t e l l t ; sie ist keine vom Dichter (im Sinne von Marx) nur bewußt gemachte Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung selbst, sondern ein (subjektiv ersonnenes) Gebot, dessen Erfüllung von der Wirklichkeit g e f o r d e r t wird. Hinter dieser Fragestellung steht folgendes: erstens die starre, abgezirkelte Trennung der einzelnen Gebiete der menschlichen Tätigkeit voneinander, also die ideologische Spiegelung der kapitalistischen Arbeitsteilung, die jedoch nicht als Tatsache, als Konsequenz dieser Arbeitsteilung marxistisch analysiert und kritisiert, sondern im Gegenteil rein ideologisch als „ewiges" Gesetz der Trennung von „Wesenheiten" aufgefaßt und unhistorisch zum Ausgangspunkt aller weiteren Analysen gemacht wird; zweitens, daß die menschliche Tätigkeit, die Praxis, nicht in ihren wirklichen, objektiven, der materiellen Produktion und der Veränderung der Gesellschaft zugewandten Gestalt, sondern in ihrer verzerrten, auf den Kopf gestellten ideologischen Widerspiegelung (als „Moral") gefaßt wird, weshalb - wiederum ünhistorisch - das verzerrte ideologische Resultat zum theoretischen Ausgangspunkt gemacht werden muß; drittens steckt in dieser Gegenüberstellung von Kunst und Moral die unkritisch-ideologische Illusion vom Einzelmenschen als „Atom" der Gesellschaft (vgl. über diese Illusion die Heilige Familie, Werke III. 296) und zugleich die fetischistische Auffassung der Gesellschaft als etwas „Dinghaftes", als etwas dem Menschen als „fremde" Wirklichkeit Umgebendes (Milieutheorie), als etwas, das nicht die Summe und das System, das (freilich im Kapitalismus nicht bewußte und nicht gewollte) Resultat der menschlichen Tätigkeit ist; viertens dieser starren, mechanistischen Gegenüberstellung von (Einzel-) Menschen und Gesellschaft, die der ganzen bürgerlichen Konzeption von „Moral" zugrunde liegt, entspricht die Isolierung des Kunstwerks von der gesellschaftlichen Praxis, von der materiellen Produktion und vom Klassenkampf, die Auffassung der Aufgabe der Kunst als Verwirklichung eines „ästhetischen Ideals"; fünftens sind Kunst und Moral für diese Auffassung nicht Resultate d e r s e l b e n gesellschaftlichen Praxis, sondern Verwirklichungen v e r s c h i e d e n e r , divergenter, einander starr entgegengesetzter Ideale (bei Kant: „Interesse" und „Interessenlosigkeit"). Für ihr Verhältnis, für die Lösung des Problems von Literatur und „Tendenz" („Moral") gilt also, was Hegel über die undialektische

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Auffassung von Körper und Seele gesagt hat: „Denn in der Tat, wenn beide als a b s o l u t s e l b s t ä n d i g gegeneinander vorausgesetzt werden, sind sie einander ebenso undurchdringlich, als jede Materie gegen eine andere undurchdringlich . . . angenommen wird." (Enzyclopaedie Paragr. 389). 7 Man denke an beliebige Schriftwerke und Literaturtheorien des 19. Jahrhunderts, und man wird sehen, daß keine von ihnen den notwendigen Konsequenzen dieser Fragestellung, die aus dem gesellschaftlichen Sein der bürgerlichen Klasse und insbesondere der Schriftsteller notwendig entstand (Fetischismus usw.), entgehen konnte. Es gab nur die Wahl, entweder bewußt (aber eben deshalb: nur scheinbar) auf die „Tendenz" zu verzichten und „reine Kunst" zu schaffen, wodurch eine t e n d e n z i ö s zurechtgemachte Wirklichkeitsschilderung entstand, also „Tendenzliteratur" im schlechtesten Sinne des Wortes). Oder die „Tendenz" subjektivistisch, moralisierend, predigthaft der gestalteten Wirklichkeit gegenüberzustellen, wodurch sie ein fremdes Element in der Gestaltung wurde.** Auch Mehring kann - in nunmehr verständlicher Weise - aus diesem Fangnetz der Widersprüche keinen Ausweg finden. Wenn er etwa bei Wilhelm Teil von Schiller (Werke I. 258/9) „unkünstlerische Tendenz", 8 bei Heinrich von Kleist „unkünstlerische Mittel" (I. 276, usw.)9 tadelt, so sind diese Antworten nur eklektische Lösungen, denn er ist nicht imstande und k a n n bei seinen Voraussetzungen nicht imstande sein, konkret aufzuzeigen, was denn eine „künstlerische Tendenz" theoretisch wie praktisch sei. Er kann dazu nicht imstande sein, denn aus der bürgerlichen Kunstauffassung, deren Boden er nicht konsequent verlassen konnte, folgt, daß das „Ideal" der Kunst eben die „Tendenzlosigkeit" sei, daß nur die für die Kunstentwicklung ungünstigen Umstände (also: Verschärfung der Klassengegensätze) der Kunst die „Tendenz" aufzwingen. Als ehrlicher Revolutionär bemüht sich Mehring, die richtigen, klassenmäßigen Konsequenzen zu ziehen, d. h., er bejaht die „Tendenz". Aber * * Dieses tendenziöse Zurechtrücken der Wirklichkeit, um die nicht aus dem Wirklichkeitsstoff organisch entspringende „Tendenz" künstlerisch-organisch zu verarbeiten, findet sich nicht bloß in der schlechten Literatur der niedergehenden Bourgeoisie. Um nur einige Beispiele anzuführen, wir finden sie in der zweiten Hälfte von Goethes

Wahlverwandtschaften,

in den

Dra-

men Hebbels, bei Dostojewsky, von dem Gorki richtig sagt, daß er seine Gestalten verleumdet.

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seine politisch-klassenmäßige Stellungnahme steht in unlösbarem Widerspruch zu seinen künstlerischen Einsichten. Er spricht auch diesen Zusammenhang, freilich ohne seine Tragweite zu übersehen, in klaren Worten aus: „In allen revolutionären Zeiten, in allen um ihre Befreiung kämpfenden Klassen wird der Geschmack immer reichlich durch Logik und Moral getrübt sein, was ins Philosophische übersetzt, nur heißt, daß, wo Erkenntnis und Begehrungsvermögen stark angespannt sind, die ästhetische Urteilskraft immer ins Gedränge kommen wird." (Werke II. 263.) 10 Hier haben wir im Keime bereits die L i t e r a t u r t h e o r i e des T r o t z k i s m u s . Denn es ist klar, daß, wenn nach Trotzki „die Diktatur des Proletariats keine kulturell-produktive Organisation einer neuen Gesellschaft, sondern eine revolutionäre Kampfesordnung zu deren Erkämpfung" ist (Literatur und Revolution 119 bis 120), 11 wenn er später Sozialismus und Klassenkampf einander starr entgegensetzt (ebd. 150),12 so nimmt bei ihm, der Verschärfung des Klassenkampfes und der Konkretisierung aller Probleme in ihm entsprechend, K u l t u r ü b e r h a u p t d i e s e l b e Stelle ein, die bei M e h r i n g die (Kantische) „ r e i n e " K u n s t " e i n n a h m . „Die revolutionäre Literatur muß vom Geiste des sozialen Hasses durchdrungen sein . . . (ist also bloß eine „Tendenzkunst" - G. L.). Im Sozialismus bildet die Grundlage der Gesellschaft die Solidarität" (also ist eine „reine Kunst", eine „wirkliche Kultur" möglich - G. L.). 13 Es ist also kein Zufall, daß das unkritisch übernommene Mehringsche Erbe in unserer Literaturund Kulturtheorie den Trotzkismus gefördert hat. Ebensowenig, wie jede mechanistische Herunterzerrung unserer Literaturziele - bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt - in ein trotzkistisches Fahrwasser geraten muß. 3. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, sämtliche theoretischen Fehler dieser Auffassungen zu analysieren; dies ist ja auch weitgehend im Kampf gegen den Trotzkismus bereits getan worden. Wir haben hier bloß auf den für unsere gegenwärtige Frage entscheidenden Fehler in diesem ganzen Fragenkomplex hinzuweisen: auf die falsche, undialektische Auffassung des s u b j e k t i v e n F a k t o r s . Marx und Engels sprechen über die Dialektik des subjektiven und objektiven Faktors in der gesellschaftlichen Entwicklung wiederholt in ganz

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unmißverständlicher Weise die richtigen dialektischen Formulierungen aus. Ich führe hier nur einige an, die für die Klärung unserer Fragen besonders wichtig sind. „Die Arbeiterklasse . . . hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß um ihre eigene Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben" (Bürgerkrieg in Frankreich).1'1 Oder noch allgemeiner: „Er (der dialektische Materialist) begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern stellt klar, welche gesellschaftlich-ökonomische Formation gerade diesem Prozeß seinen Inhalt gibt, w e l c h e K l a s s e g e r a d e d i e s e Notwendigkeit bestimmt. Im gegebenen Fall z. B. würde sich der Materialist nicht mit dem Feststellen von 'unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen* zufrieden geben, sondern auf das Vorhandensein gewisser Klassen aufmerksam machen, die den Inhalt der gegebenen Ordnung bestimmen und eine andere Möglichkeit eines Auswegs als die Aktion der Produzenten selbst ausschließen. A n d e r e r s e i t s s c h l i e ß t der M a t e r i a l i s m u s s o z u s a g e n das E l e m e n t der P a r t e i in s i c h e i n , i n d e m er s i c h v e r p f l i c h t e t , bei jeder Bewertung eines E r e i g n i s s e s direkt und o f f e n auf den S t a n d p u n k t e i n e r gewissen g e s e l l s c h a f t l i c h e n G r u p p e z u t r e t e n . " (Lenin: Über den historischen Materialismus S. 74. 15 Der letzte Satz von mir gesperrt.) Es ist also gerade die Erkenntnis der gesellschaftlichen Notwendigkeit, die - entgegen sowohl der mechanistischen wie der idealistischen Auffassung - die richtige (und wichtige) Stelle des subjektiven Faktors in der Entwicklung bestimmt. Und zwar bestimmt sie sie für das Proletariat anders als für die anderen Klassen. Der Satz: „die Arbeiterschaft hat keine Ideale zu verwirklichen", gilt n u r für das Proletariat. Für die anderen Klassen (auch für die revolutionäre Periode der Bourgeoisie) gilt das Wort von Engels: „Die Ideologie 249

ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein" (Brief an Mehring vom 14. Juli 1893). 16 Dieses „falsche Bewußtsein" hat dann zur Folge, daß der bewußten menschlichen Tätigkeit im Geschichtsprozeß entweder überhaupt keine aktive Bedeutung, oder eine aufgebauschte Selbständigkeit oder Führerrolle zugesprochen wird; was sich auch darin zeigt, daß der subjektive Faktor in der Form der „Moral" erscheint und seine Zielsetzungen die Form des „Ideals" aufnehmen. Selbst jene bürgerlichen Schriftsteller und Denker, die verhältnismäßig tief in die Dialektik der Geschichte eingedrungen sind, verlieren sich dabei ins Nebelhaft-Mystische oder bleiben in für sie unlösbaren Widersprüchen befangen. (Zum Beispiel Hegel, bei dem Marx sowohl einen „unkritischen Idealismus", wie einen ebenso „unkritischen Positivismus" feststellt.) Selbst wenn sie dabei zu der Erkenntnis der objektiven, wirklichen treibenden Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung kommen, so kommen sie dazu mit „falschem Bewußtsein", ohne klare Absicht, oft sogar wider Willen, Bewußtsein und Absicht. So hebt Engels über Balzac CLinkskurve, Märznummer 1932) hervor, daß seine bewußte Absicht eine Verherrlichung der untergehenden Klasse des französischen ancien régime gewesen ist, daß er aber „gezwungen war, gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile" ein richtiges und erschöpfendes Bild der Gesellschaft seiner Zeit zu geben. Seine „Tendenz" steht also im Widerspruch zu seiner Gestaltung, seine Gestaltung ist t r o t z ihrer „Tendenz", nicht infolge ihrer „Tendenz" bedeutend". (Ähnlich steht es um Tolstoj und eine Reihe von bedeutenden Schriftstellern des Bürgertums.) Diese ideologische Schranke ist für das Proletariat nicht vorhanden. Das heißt sein gesellschaftliches Sein macht es für das Proletariat (und damit für den proletarisch-revolutionären Schriftsteller) möglich, über diese Schranke hinwegzugehen, hinter den fetischistischen Formen der kapitalistischen Gesellschaft die Klassenbeziehungen, die Entwicklung des Klassenkampfes klar zu erblicken. Die Klarheit über diese Zusammenhänge, die Klarheit über ihre Entwicklungsgesetze bedeutet zugleich die Klarheit über die geschichtliche Wirksamkeit des Proletariats selbst, über die Rolle des subjektiven Faktors an dieser Entwicklung. Sowohl „über die Bestimmtheit dieses subjektiven Faktors durch die objektive, ökonomisch-historische Entwicklung wie über die aktive Funktion dieses subjektiven Faktors auf die Umgestaltung der objektiven Umstände. Diese Erkenntnis ist kein mecha250

nisch-unmittelbares Produkt des gesellschaftlichen Seins. Sie muß erarbeitet werden. Der Prozeß dieses Erarbeitens ist jedoch ebenfalls zugleich Produkt der inneren (materiellen und ideologischen) Schichtung des Proletariats, wie zugleich Förderer der Entwicklung des Proletariats, von der „Klasse an sich" zur „Klasse für sich" (Marx: Elend, der Philosophie); Förderer ihrer inneren Organisation zur Erfüllung ihrer weltgeschichtlichen Aufgabe. (Entstehung von Gewerkschaft, Partei, ihre Weiterentwicklung usw.) Wird der subjektive Faktor in der Geschichte so gefaßt - und so muß ihn der proletarisch-revolutionäre Schriftsteller, der den dialektischen Materialismus beherrscht, fassen - dann hören für ihn alle Probleme, die wir weiter oben im Zusammenhang mit der „Tendenz" behandelt haben, auf, Probleme zu sein. E r verwirft das Dilemma der „reinen Kunst" und „Tendenzkunst". Denn in seiner Darstellung, die eine Darstellung der objektiven Wirklichkeit mit ihren wirklichen treibenden Kräften, mit ihren wirklichen Entwicklungstendenzen ist, ist kein Raum für ein „Ideal", weder für ein moralisches, noch für ein ästhetisches. Er bringt keine Forderungen „von außen" an seine Wirklichkeitsgestaltung heran, denn seine Wirklichkeitsgestaltung selbst muß das Schicksal jener Forderungen, die konkret und real aus dem Klassenkampf herauswachsen, als integrierende Momente der objektiven Wirklichkeit, in ihrer Entstehung aus ihr, in ihrer Wirkung auf sie, mitenthalten, wenn er die Wirklichkeit richtig, - dialektisch - abbilden will. Er verwirft aber zugleich damit das andere Dilemma von „tendenziöser" Einarbeitung der „Tendenz" in die Gestaltung der nackt-unvermittelten Gegenüberstellung von „Tendenz" und Wirklichkeitsabbild. Er braucht die Wirklichkeit nicht zu entstellen, nicht zurechtrücken, nicht „tendenziös" umzufärben, denn seine Darstellung - wenn sie eine richtige, dialektische ist ist gerade auf die Erkenntnis jener Tendenzen (im berechtigten Marxschen Sinne des Wortes) aufgebaut, die sich in der objektiven Entwicklung durchsetzen. Und keine „Tendenz" kann und muß dieser objektiven Wirklichkeit als „Forderung" gegenübergestellt werden, denn die Forderungen, die der Schriftsteller vertritt, sind integrale Teile der Selbstbewegung dieser Wirklichkeit selbst, zugleich Folgen und Voraussetzungen ihrer Selbstbewegung. Aus alledem geht ebenfalls deutlich hervor, daß die Verwerfung der „Tendenz" unter keinen Umständen jene Freiligrathsche „höhere Warte" des Schriftstellers bedeutet, die höher wäre „als die Zinnen der Partei". (Wozu Mehring trotz eklektischer Verteidigung der 251

„Tendenz" ab und zu neigt. Vgl. Werke II. 107). 17 Ganz im Gegenteil, d i e r i c h t i g e dialektische Abildung und schriftstellerische Gestaltung der Wirklichkeit setzt die P a r t e i l i c h k e i t des Schriftstell e r s v o r a u s . Freilich wiederum nicht eine Herweghsche, abstrakte, subjektivistische beliebige „Parteilichkeit überhaupt", sondern Parteilichkeit für jene Klasse, die Trägerin des geschichtlichen Fortschritts in unserer Periode ist: für das Proletariat; Parteilichkeit für jenen „Teil der Klasse, jene Partei, deren Mitglieder sich von den anderen Proletariern nur darin unterscheiden", daß sie „einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten". {Kommunistisches Manifest, II. Proletarier und Kommunisten). 18 Diese Parteilichkeit steht nicht - wie „Tendenz" wie „tendenziöse" Darstellung - im Widerspruch zur Objektivität in der Wiedergabe und Gestaltung der Wirklichkeit. Sie ist im Gegenteil die V o r a u s se t z u n g z u r w a h r e n - d i a 1 e k t i sch e n O b j e k t i v i t ä t . Im Gegensatz zur „Tendenz", wo die Stellungnahme für etwas seine idealistische Verhimmelung, die gegen etwas seine Verzerrung bedeutet, im Gegensatz zur „Überparteilichkeit", deren (in Praxis nie durchgeführtes) Motto: „Alles verstehen ist alles verzeihen" heißt, die eine unbewußte und darum fast immer verlogene Stellungnahme beinhaltet, wird in dieser Parteilichkeit gerade jene Stellungnahme erfochten, die die Erkenntnis und die Gestaltung des G e s a m t p r o z e s s e s als zusammengefaßte Totalität seiner wahren treibenden Kräfte, als ständige, erhöhte Reproduktion der ihm Zugrunde liegenden dialektischen Widersprüche möglich macht. Diese Objektivität beruht aber auf der richtigen - dialektischen - Bestimmung des Verhältnisses der Subjektivität zur Objektivität, des subjektiven Faktors zur objektiven Entwicklung; auf der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis. Die Analysen von Marx, Engels und Lenin geben uns die Vorbilder dafür, wie diese dialektische Einheit aufzufassen ist. Ich führe nur ein Beispiel an: „Es ist die Sache der Bourgeoisie, Trusts zu entfalten, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu ruinieren und zu schinden und sie zur äußersten Not zu verurteilen. Wir ,fordern' eine sol252

che Entwicklung nicht, wir ,unterstützen' sie nicht, sondern wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir wissen, daß Trusts und Fabrikarbeit der Frauen ein Fortschritt ist. Wir wollen nicht rückwärts schreiten zum Handwerk, zum Kapitalismus ohne Monopolstellung, zur Heimarbeit der Frauen zurück. Vorwärts durch die Trusts und anderes und über sie hinaus zum Sozialismus!" (Gegen den Strom). 19 Parteilichkeit in diesem Sinn ist also keine neue Bezeichnung für eine alte Sache. Es handelt sich also nicht darum, daß wir an Stelle des Wortes „Tendenz" nunmehr das Wort „Parteilichkeit" setzen - und sonst alles so bleibt wie es war. Nein. Terminologie ist nie zufällig. D a ß wir das Wort „Tendenz" aus der Literaturtheorie und -praxis des oppositionellen Bürgertums übernahmen (nicht einmal aus der Glanzzeit seiner revolutionären Entwicklung), war, wie gezeigt wurde, ein Zeichen dafür, daß wir auch auf diesem Gebiet mit diesem Wort zugleich ein nicht unbeträchtliches ideologisches Gepäck mit übernahmen. Heute, wo wir an allen Punkten das ideologische Erbe der II. Internationale in unserer eigenen Theorie und Praxis einer gründlichen Revision unterwerfen, müssen wir auch in unserer Literaturtheorie und -praxis scharf darauf achten, daß wir nicht ein durch die II. Internationale übermitteltes bürgerliches Gepäck weiter mit uns schleppen, das unser Weiterschreiten behindert. Was die Theorie der „Tendenz" bedeutet, haben wir kurz anzudeuten versucht. Zum Schluß wollen wir nur noch die Frage stellen: ist diese Theorie ohne Einfluß auf unsere Praxis gewesen? Selbstverständlich nicht ohne Einfluß. Wir denken dabei nicht bloß an die literarische Praxis des Trotzkismus in allen seinen - bewußten wie unbewußten - Abarten, sondern meinen auch u n s e r e b i s h e r b e s t e L i t e r a t u r . Ist in ihr wirklich jener Durchbruch zur Parteilichkeit gelungen, der eine dialektisch-objektive Gestaltung des Gesamtprozesses unserer Epoche möglich macht? Die Frage klar zu stellen, ist gleichbedeutend mit ihrer Verneinung. Unsere Literatur, auch in ihren besten Produkten, ist noch voll von „Tendenz". Denn es gelingt ihr bei weitem nicht immer, das, was der klassenbewußte Teil des Proletariats aus Einsicht in die treibenden Kräfte des Gesamtprozesses, als Vertreter der großen welthistorischen Interessen der Arbeiterklasse will und tut, als einen Willen und eine Tat zu gestalten, die dialektisch aus diesem Gesamtprozeß selbst entsprungen, die unerläßlichen Momente dieses objektiven Wirklichkeitsprozesses selbst sind. An die Stelle der G e s t a l t u n g d e s s u b 253

j e k t i v e n F a k t o r s der revolutionären Entwicklung tritt nur allzu häufig ein bloß subjektiver (weil ungestalteter) „Wunsch" des Verfassers: eine „Tendenz". Und wenn der Verfasser diesen Wunsch als objektiv und erfüllt hinstellt, statt den subjektiven Faktor mit seinem Wollen und Tun wahrheitsgemäß, dialektisch zu gestalten, so wird die Darstellung „tendenziös". W i r haben keinen Grund, diese Fehler und Mängel abzuleugnen. Noch weniger sie auf das Gebiet der „technischen Fehler", der „technischen Unbeholfenheit" abzuschieben. Die Methode, die unsere Fehler entlarvt, die ihre Wurzel - das unliquidierte E r b e der I I . Internationale - aufdeckt, ist zugleich die Methode, die uns zur Überwindung dieser Fehler verhilft: die materialistische Dialektik, der Marxismus-Leninismus. Parteilichkeit an der Stelle von „Tendenz" ist ein - wichtiger Punkt, wo wir diesen Durchbruch zur Auswertung des MarxismusLeninismus für unsere schöpferische Methode vollziehen können und müssen. 1932

36 BÉLA ILLÉS

Der Weg der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller Vorbemerkung der Redaktion: D e r Genosse Béla Illés schickte uns auf unsere Bitte einen Brief, in dem er seine Stellungnahme zu der Entwicklungsgeschichte der I V R S 1 behandelte. W i r veröffentlichen den Brief nachstehend (unter Weglassung der Briefform) als Artikel. Der große Feiertag des Weltproletariats, der 15. Jahrestag des Sieges der Oktoberrevolution, fällt mit zwei wichtigen Daten der Entwicklung der internationalen revolutionären Literatur zusammen. Im November 1927 hielten wir die erste Konferenz des Internationalen Büros der Revolutionären Schriftsteller in Moskau ab, im November

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j e k t i v e n F a k t o r s der revolutionären Entwicklung tritt nur allzu häufig ein bloß subjektiver (weil ungestalteter) „Wunsch" des Verfassers: eine „Tendenz". Und wenn der Verfasser diesen Wunsch als objektiv und erfüllt hinstellt, statt den subjektiven Faktor mit seinem Wollen und Tun wahrheitsgemäß, dialektisch zu gestalten, so wird die Darstellung „tendenziös". W i r haben keinen Grund, diese Fehler und Mängel abzuleugnen. Noch weniger sie auf das Gebiet der „technischen Fehler", der „technischen Unbeholfenheit" abzuschieben. Die Methode, die unsere Fehler entlarvt, die ihre Wurzel - das unliquidierte E r b e der I I . Internationale - aufdeckt, ist zugleich die Methode, die uns zur Überwindung dieser Fehler verhilft: die materialistische Dialektik, der Marxismus-Leninismus. Parteilichkeit an der Stelle von „Tendenz" ist ein - wichtiger Punkt, wo wir diesen Durchbruch zur Auswertung des MarxismusLeninismus für unsere schöpferische Methode vollziehen können und müssen. 1932

36 BÉLA ILLÉS

Der Weg der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller Vorbemerkung der Redaktion: D e r Genosse Béla Illés schickte uns auf unsere Bitte einen Brief, in dem er seine Stellungnahme zu der Entwicklungsgeschichte der I V R S 1 behandelte. W i r veröffentlichen den Brief nachstehend (unter Weglassung der Briefform) als Artikel. Der große Feiertag des Weltproletariats, der 15. Jahrestag des Sieges der Oktoberrevolution, fällt mit zwei wichtigen Daten der Entwicklung der internationalen revolutionären Literatur zusammen. Im November 1927 hielten wir die erste Konferenz des Internationalen Büros der Revolutionären Schriftsteller in Moskau ab, im November

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1930 die zweite Konferenz in Charkow, wo die IVRS in der heutigen Form gegründet wurde. Dieses Zusammentreffen ist selbstverständlich kein Zufall. Nicht nur, daß wir uns stets dessen bewußt waren, daß die Entwicklung der internationalen revolutionären Bewegung auch die Entwicklung der revolutionären Literatur ausschlaggebend bestimmt, sondern auch, weil die Feste des Sieges der proletarischen Revolution uns eben die Möglichkeit gaben, die revolutionären Schriftsteller der Welt in der Sowjetunion zu sammeln. Noch mehr: An unserer ersten Konferenz nahmen nicht Delegierte teil, die in den Ländern zu diesem Zweck gewählt wurden, sondern Gäste, die den 10. Jahrestag der proletarischen Revolution zu feiern nach Moskau kamen. Es ist kein Zufall, daß diese Genossen nach Moskau kamen, es ist aber mehr oder weniger Zufall, daß eben sie an der Begründung der internationalen revolutionären Schriftstellerorganisation teilnahmen. 2 Es war die Zeit, wo die relative Stabilisierung des Kapitalismus sich ihrem Ende näherte. Die allumfassende, gegenwärtige zyklische Krise des Kapitalismus, die sich auf der Grundlage der allgemeinen Krise des Kapitalismus abspielt, bereitete sich damals gerade erst vor, und so war es möglich, daß einer der politischen Ratgeber 3 unserer Konferenz uns vor der „Illusion" warnte, uns auf große politische Änderungen vorzubereiten, und ferner mit einer ansehnlichen Anzahl von Angaben zu beweisen suchte, daß das mächtigste kapitalistische Land, die USA, den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise, die zur Krise führen, nicht unterstehe. Wenn wir auch nicht behaupten können, daß diese Auffassung die Grundlage unserer Beschlüsse bildete, so muß doch zugegeben werden, daß eine derartige Auffassung auf unsere Stellungnahme einen gewissen Einfluß ausübte. Die einzige organisierte Bewegung, auf die wir uns stützen konnten, war die der RAPP - Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller - , die eben zu jener Zeit mit den extremsten sektiererischen Fehlern in der russischen Literatur - Lelewitsch, Rodow - Abrechnung hielt. 4 Die Tatsache, daß zu jener Zeit die RAPP die einzige organisierte Kraft in der Literaturbewegung darstellte, führte uns zu Schlußfolgerungen, die schwere Fehler in sich bargen. Aus dem Umstand, daß die einzige vorhandene Organisation die RAPP war, kamen wir zu der fehlerhaften Ansicht, daß dies so sein und während der ganzen Periode der proletarischen Diktatur auch so bleiben müsse. Die übrige Sowjetliteratur, die nicht der RAPP angehörte, hatten wir mit Einsetzung aller unserer Kräfte und mit groben administrativen 255

Maßnahmen von unserer neugegründeten Organisation ferngehalten. Zum Beispiel ist es eine charakteristische Episode, daß wir Wladimir Majakowski den Zutritt zu unserer Konferenz verweigerten. Das Organisationsprinzip - dessen Vertreter Verfasser dieser Zeilen war - lautete, in einem Satz zusammengefaßt, folgendermaßen: Die Organisation gründet sich innerhalb der Sowjetunion auf die RAPP u n d ihre ukrainische Schwesterorganisation, in den kapitalistischen Ländern aber soll sie ihre Tore öffnen für die breitesten Massen der proletarischen und sympathisierenden Schriftsteller. Die politische Begründung für dieses Prinzip war, daß in der Sowjetunion die charakteristischste, gewichtigste und auf die Massen die größte Anziehungskraft ausübende Literaturproduktion von der RAPP entfaltet wurde, während in den kapitalistischen Ländern die internationale Bewegung sich auf zwei Strömungen stützen mußte: auf die proletarischen Schriftsteller einerseits, auf die kleinbürgerlich-revolutionären, mit der Sache der Arbeiterschaft sympathisierenden Schriftsteller andererseits. Neben der unrichtigen Einschätzung des Entwicklungsganges in der Sowjetunion führten uns zu dieser Einstellung auch gefühlsmäßige Gründe, nämlich eine verachtende und abwartende Haltung gegenüber beinahe der gesamten Gegnerschaft der RAPP, gegenüber der proletarischen Literatur in den kapitalitsischen Ländern überhaupt. Zum Beispiel hat Genosse Bespalow5 die Rezension eines nicht eben bedeutenden Kritikers lanciert, wo klipp und klar behauptet wurde, daß die primitiven Versuche der proletarischen Schriftsteller der kapitalistischen Länder die Sowjetunion nicht interessieren. So hat auch die literarische Zeitschrift Leser und Schriftsteller mir in einer kaum verhüllten Form vorgeworfen, daß ich die proletarische Literatur der kapitalistischen Länder in die Sowjetunion einzuschmuggeln versuche. Unter diesen Umständen kamen die ersten Resolutionen und Maßnahmen zustande, die einerseits tatsächlich die revolutionäre literarische Bewegung im internationalen Maßstabe eröffneten, auf der anderen Seite aber ihrer vollen Entwicklung Hindernisse in den Weg legten. Ein unmittelbares Ergebnis unserer ersten Konferenz war um nur das wichtigste zu nennen - die Gründung des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands. Jedoch führte unsere ultra-„linke" Einstellung in bezug auf die Sowjetliteratur in den kapitalistischen Ländern zu ultra-„linken" Fehlern, sogar im gesteigerten Maße, wofür ebenfalls der deutsche Bund reich an Beispielen 256

ist. So wollte z. B. - um eines der krassesten Beispiele zu nennen das offizielle Organ des deutschen Bundes, die Linkskurvt, in einem Aufsatz unseren Genossen Henri Barbusse zum Agenten der Bourgeoisie stempeln.7 Ein Theoretiker des Bundes propagierte den Gedanken, daß der aus der Intelligenz kommende Schriftsteller, der sich der proletarischen Bewegung anschließt, eine einzige Pflicht hat: auf die schriftstellerische Tätigkeit ein für alle Mal zu verzichten und ausschließlich als organisatorischer und theoretischer Helfer bei der Geburt der proletarischen Literatur mitzuwirken.8 Das Internationale Büro trat diesen schlimmen Entartungen energisch entgegen. Die Ausrottung derartiger Entartungen konnte aber nicht zu einer endgültigen Gesundung der Bewegung führen, da die strikt ablehnende Haltung gegenüber der schriftstellerischen Sowjet-Intelligenz kein besonderes Vertrauen zu unserer Bewegung bei den linksorientierten Schriftstellern und Intellektuellen der kapitalistischen Länder aufkommen lassen konnte. Die Ursache, die den dauernden Erfolg unserer Organisation ausbleiben ließ, haben wir nicht erkannt; wir wollten den Erfolg erzwingen nicht durch Änderung unseres Organisationsprinzips, sondern mit der starken Hand gegenüber Exponenten abweichender Auffassungen - mochten sie sich nun in der Linkskurve von links oder in Monde von rechts zeigen.9 Selbstverständlich hat diese Politik der „starken Hand" die gewünschten Erfolge nicht gezeigt, wohl aber machten wir immerhin mit dieser Politik die ersten Schritte auf einem Wege, bei dem die ideologische Führung der internationalen revolutionären Schriftstellerbewegung durch administrative Methoden zu ersetzen versucht wurde. Unsere zweite Konferenz in der Hauptstadt der Roten Ukraine fand im Jahre 1930 statt: Allumfassende Krise in der ganzen kapitalistischen Welt! Arbeitslosigkeit in einem bisher noch nie dagewesenen Maße in allen kapitalistischen Ländern und ihren Kolonien und Halbkolonien! Liquidierung der Arbeitslosigkeit in der Sowjetunion! Rückgang der kapitalistischen Produktion um 25 Prozent, Vorsprung der Sowjetproduktion um 25 ProzentI Dnjeprostroj, Magnitogorsk und ihre mächtigen Brüder sind im Entstehen. Der Trotzkismus10 ist in einer schon offensichtlichen Form der vorgeschobene Posten der Konterrevolution, die zweite Internationale der Wegbereiter des Interventionskrieges gegen die Sowjetunion. Die Ereignisse des literarischen Lebens kann man mit folgenden 17

Befunde

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Beispielen charakterisieren. In der Sowjetunion löst sich die sogenannte „Literaturfront" 11 auf, die mit ihrer vulgarisierenden „linken" Politik die internationale Vereinigung, wenn auch in verhüllter Form, beschuldigt hatte, durch ihre Werbung unter der linken Schriftstellerintelligenz der kapitalistischen Länder rechte Tendenzen gezeigt zu haben. Die Rundfrage des Internationalen Büros an sympathisierende Schriftsteller, welche Stellung sie einnehmen würden, wenn die Sowjetunion von den imperialistischen Mächten angegriffen würde, beantworteten Romain Rolland, Bernard Shaw, Theodore Dreiser, Martin Andersen Nexö usw. mit einer eindeutigen Stellungnahme für die Sowjetunion, für die Friedenspolitik der Sowjetunion. 12 In Deutschland unterzeichneten Ernst Gläser und Oskar Maria Graf (den ersten beschuldigte einige Monate vorher der schon zitierte Theoretiker der Linkskurve, daß er zum Faschismus neige) 13 den Wahlaufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands. Neben diesen Ereignissen sei auch einer sehr zweifelhaften Erscheinung gedacht: Panait Istrati verkaufte sich der französischen politischen Polizei, weil es ihm nicht gelungen war, für seine politische „Unterstützung" von uns eine finanzielle Hilfe zu erpressen. 1 '' Die Charkower Konferenz war schon keine Zusammenkunft zufällig anwesender Schriftsteller mehr. Die proletarische Literatur der Sowjetunion vertraten neben den Delegierten der RAPP ukrainische, weißrussische, armenische und andere proletarische Schriftsteller der Sowjetrepubliken. Neben der Delegation des deutschen Bundes sahen wir die proletarischen Schriftsteller der USA, die Vertreter Japans, die tschechische, österreichische Delegation und eine ganze Reihe Vertreter kleinerer literarischer Bewegungen. 15 Die Konferenz baut nunmehr auf einer richtigen politischen Grundlage literaturpolitische Richtlinien auf, stellt das richtige Verhältnis zwischen den beiden Quellen der revolutionären Literatur fest, korrigiert die theoretischen und organisatorischen Fehler einzelner Sektionen, schafft die Grundlage zur Gründung neuer Sektionen (Frankreich), baut die organisatorische Verbindung mit einzelnen Schriftstellerorganisationen aus, die bisher nur in loser Verbindung miteinander und dem Internationalen Büro standen. (Japan, USA) Wenn wir heute die Beschlüsse der Charkower Konferenz 16 durchblättern, so finden wir - obwohl sich seither in bezug auf die Literatur in und außerhalb der Sowjetunion so manches ereignete - kaum etwas, das wesentlicher Korrekturen bedürfte; eher machen sich Ergänzungen und eine konsequente Weiterentfaltung notwendig: Öb258

zwar diese Resolutionen nur in ungenügendem Maße, oft allzu mechanisch und meistens nur teilweise durchgeführt wurden, übte diese Konferenz auf die Entwicklung der revolutionären Literatur eine tiefe und sicherlich bleibende Wirkung aus. Obwohl die neu eingesetzte Leitung mit ungenügendem Nachdruck und unzulänglichem Tempo die Charkower Beschlüsse propagierte (in Tokio erschienen die Beschlüsse in japanischer Sprache früher als in Moskau in Russisch), übte die Konferenz rasch ihre Wirkung aus. Schon Anfang 1931 entstand in den USA die Kulturföderation, die auf der breitesten Grundlage die revolutionäre Kulturarbeit aller in den USA lebenden Nationalitäten führt und leitet. In Japan enthüllt unsere Sektion mit Erfolg die vulgarisierende Literaturtheorie der „Literarischen Front", welche Ultra-Linke und -Rechte vereinigte, und eroberte im Kampf gegen die „Literarische Front" die Mehrheit der Arbeiterschriftsteller, Arbeiterkorrespondenten und Arbeiterkulturorganisationen. Der deutsche Bund entfaltete eine erfolgreiche Politik unter den sympathisierenden Schriftstellern, die auch der Vorstoß einer ultra„linken" Gruppe, welche die Theorie der proletarischen Literatur vulgarisierte, auf die Dauer nicht aufhalten konnte. Die IVRS nahm mit einer Reihe weltbekannter, linksorientierter Schriftsteller enge, unmittelbare Verbindungen auf. Es wurden eine Reihe von Aktionen gegen die drohende Kriegsgefahr durchgeführt, darunter vor allem die mustergültige, klassenbewußte, heldenhafte Aktion der japanischen revolutionären Schriftsteller. Bevor wir zur Feststellung der begangenen Fehler und ihrer Gründe übergehen, sind einige Worte über das schöpferische Antlitz der Organisation notwendig. An der ersten Konferenz nimmt - abgesehen von einigen sowjetrussischen proletarischen Schriftstellern wie Serafimowitsch, Libedinsky und Fadejew und mit Ausnahme von Henri Barbusse und Johannes R. Becher - kein Schriftsteller teil, der im internationalen Maßstab eine nennenswerte Bedeutung gehabt hätte. Jedoch in der Zwischenzeit von drei Jahren, die seit der ersten Konferenz vergangen sind, verstärkte sich die internationale Bedeutung der sowjetischen proletarischen Literatur sprunghaft durch die internationalen Erfolge von Panferow, Scholochow usw.; andererseits eroberten die ausländischen proletarischen Schriftsteller einen ehrenhaften Platz auch in der öffentlichen Meinung der Sowjetunion. Mit dieser Armee wäre es schon leichter gewesen, eine richtige, erfolgreiche Politik durchzuführen. Daß uns dies nicht gelang, daran ist vor allem schuld, daß wir unser fehlerhaftes organisatorisches Prin17*

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zip beibehielten (innerhalb der Sowjetunion nur WOAPP 1 7 - außerhalb der Sowjetunion breiteste revolutionäre literarische Organisation), weiter, daß die Leitung der IVRS keine wahre Vertretung der russischen Literaturorganisation war, sondern im wesentlichen ein Apparat, zusammengestellt aus den in Moskau lebenden ausländischen revolutionären Schriftstellern. Wenn wir über die hindernde Wirkung der Tatsache sprechen, daß eine Organisation in der IVRS die ausschlaggebende Rolle spielte, welche das Mitwirken der Schriftsteller-Intellektuellen-Kreise der Sowjetunion ablehnte, so müssen wir die gesamte Rolle der RAPP und WUSP, (Ukrainische Assoziation proletarischer Schriftsteller) bzw. W O A P P (Gesamtverband der proletarischen Schriftsteller der Sowjetunion), die sie bei uns spielten, beleuchten. Die proletarischen Schriftstellerorganisationen der Sowjetunion spielten die Rolle der Pioniere in der internationalen revolutionären Schriftstellerbewegung. Sie nahmen sich der Sache der proletarischen Schriftsteller der kapitalistischen Länder in einer Zeit an, wo das noch keineswegs eine dankbare Arbeit war, und bewiesen in jeder Beziehung einen wahrhaften Internationalismus gegenüber den proletarischen Schriftstellern des Auslandes. Sie waren immer bereit, mit theoretischer, organisatorischer und moralischer Kraft den proletarischen Schriftstellern der kapitalistischen Länder zu helfen. Alle diese positiven Seiten ihres Mitwirkens konnten jedoch nicht die schlechte Wirkung des organisatorischen Prinzips der W O A P P verhindern, welches von der IVRS die Schriftsteller der sowjetischen Intelligenz fernhielt. Wie die W O A P P nach Erfüllung ihrer historischen Rolle in der Sowjetunion von einer Triebkraft der Literatur zu einem Hemmschuh wurde, so wurde sie auch in der internationalen revolutionären Bewegung der Literatur immer mehr zu einem Hindernis des breiten Ausbaues unserer Bewegung. Und das in einer Zeit, wo infolge der allerschärfsten Krise innerhalb des Kapitalismus in den kleinbürgerlichen Schriftstellern der kapitalistischen Länder die Bereitschaft zur Annäherung an unsere Organisation in bedeutendem Maße vorhanden war! Wenn jemand für diese hindernde Wirkung der W O A P P persönlich verantwortlich sein kann, so ist es in allererster Linie der Schreiber dieser Zeilen. Ich war gleichzeitig Generalsekretär der IVRS und einer der Leiter der RAPP. Anstatt konsequent als Generalsekretär der IVRS für eine grundlegende Änderung der Politik gegenüber der sowjetischen Schriftstellerintelligenz innerhalb der RAPP aufzutreten, betrachtete ich mich innerhalb der IVRS 260

als Vertreter der RAPP. Hierbei spielten wieder eine ausschlaggebende Rolle die Erfolge der RAPP, vor allem auf schöpferischem Gebiet, aber auch die theoretischen Leistungen der RAPP (im Kampf gegen den rechten Pereversew und gegen die ultra-linke „Litfront") 18 welche mich zu der falschen Überzeugung brachten, daß ein anderer Weg als der der RAPP für die proletarische Literatur unvorstellbar sei. Ich habe konsequent, bis zur Liquidierung der WOAPP, die proletarische Literatur der Sowjetunion in ihren Schöpfungen - die ich bewunderte und bewundere - mit der Assoziation der proletarischen Schriftsteller und ihren literaturpolitischen Prinzipien identifiziert, und dieser Irrtum war die Hauptquelle meiner Fehler. Der einzige Versuch zu einer Kursänderung war die im März 1932 unternommene Aktion unter der Losung „Die Welt will die Helden des sozialistischen Aufbaues kennen". Eine Reihe der besten Vertreter der Intelligenz der Sowjetunion folgte dieser Aufforderung und schrieb Artikel und Feuilletons. (Ognew, Wsewolod Iwanow, Leonow, Seifullina usw.) Das zweite (schon erwähnte) Hindernis für die volle Entfaltung der IVRS war, daß die Leitung nicht aus den Vertretern der wichtigsten Sektionen bestand. Die Probleme, mit denen sich unsere Sektionen jeweils auseinandersetzen mußten, wurden von uns nie tiefgehend genug untersucht. So haben wir die faschistische und sozialfaschistische Literatur in ihrer Wirkung nicht richtig eingeschätzt; die zur Kritik dieser Literatur nötigen theoretischen Kräfte waren in einem ganz unzulänglichem Maße vorhanden. Unter solchen Umständen war eine Führung im wahren Sinne des Wortes nicht möglich; wir begingen eine Reihe von ernsten Fehlern. Zum Beispiel: Die französische Zeitschrift Monde kritisierend, traten wir beinahe ebenso ultra-„links" auf, wie die von uns mit Recht kritisierte Linkskurve-19 Bei der Kritik der französischen Gruppe Poulaille (die sogenannten proletarischen Schriftsteller) verstanden wir es nicht, zu differenzieren und die besten Elemente der Gruppe für unsere Bewegung zu gewinnen. Als im deutschen Bund die schon erwähnten vulgarisierenden ultra-„linken" Tendenzen auftraten, halfen wir zwar mit Einsetzung unserer ganzen Kraft dieses ultralinke Tohuwabohu zu liquidieren, unterließen es jedoch, die Gegenangriffe, die rechte Fehler mit sich brachten, einer Kritik zu unterziehen. Überhaupt wurden alle unsere Aktionen nicht systematisch vorbereitet und kontinuierlich durchgeführt. Sogar die Antikriegskampagne war mehr sporadisch als planmäßig. Da sich die IVRS vornehmlich auf die Mitwirkung von Emi261

granten ¡stützte, bildete sich auch in ihrem Sekretariat ein Gruppenwesen heraus, das keinesfalls besser war als das in der RAPP. - Dies war die Lage, als die Liquidierung der RAPP 2 0 kraß zeigte, daß auch in der Arbeit der IVRS eine grundlegende Änderung der Arbeitsmethoden unbedingt vonnöten war. Es folgte eine gründliche Diskussion über unsere Arbeit, über unsere Erfolge, Mängel und Fehler, die notwendige Kursänderung wurde beschlossen und die Leitung dementsprechend erneuert. Einige Tage vor dem 15. Jahrestag der Oktoberrevolution trat das Plenum des Organisationskomitees der Sowjetschriftsteller 21 zusammen - die erste literarische Konferenz, die sämtliche Schriftsteller der Sowjetunion, welche die Sowjetmacht bejahen, vereinigte. Diese Konferenz räumte endgültig mit den Fehlern der Vergangenheit auf. Die Schriftsteller der Sowjetunion bekamen den ihnen gebührenden Platz innerhalb der Sowjetliteratur und nahmen begeistert Stellung für das sozialistische Vaterland, für den sozialistischen Aufbau. Die Leiter der liquidierten RAPP traten auf und verurteilten mehr oder minder vollständig die Fehler, die sie in der vergangenen Periode begangen hatten. Der Leiter des Organisationskomitees, Gen. Gronski, wog mit richtigem Maß und hob nach einer strengen Kritik an der RAPP auch alle ihre positiven Seiten aus der Vergangenheit hervor. Jetzt ist in der Sowjetliteratur der Weg für jede positive Kraft offen. Die hier geschaffene neue Organisation nimmt innerhalb der IVRS nunmehr jenen Platz ein, den früher dort die W O A P P innehatte. Diese Änderung, dazu die schon durchgeführte Selbstkritik und die bereits im Gang befindliche Heranziehung von Vertretern der ausschlaggebenden revolutionären Literaturorganisationen zur Arbeit der IVRS räumen mit den begangenen Fehlern auf und machen den Weg frei für eine breitere, tiefere, planmäßigere und richtigere Arbeit. Als Wegweiser werden uns neben den Resultaten des Plenums der Sowjetschriftsteller die Lehren des Amsterdamer Antikriegskongresses dienen. 22 Es gelang in Amsterdam, nicht nur die proletarischen Schriftsteller, sondern auch die linksgerichtete Intelligenz gegen den drohenden imperialistischen Krieg zu mobilisieren. Es steht dem nichts, aber gar nichts im Wege, daß wir diese linksgerichteten Intellektuellenkreise auch für unsere regelmäßige Arbeit heranziehen. Hindernisse könnte es nur dann geben, wenn man - wie früher die Beschlüsse der RAPP - so jetzt die Beschlüsse des Organisationskomitees 262

der Sowjetschriftsteller mechanisch auf die Literaturbewegung der kapitalistischen Länder übertragen würde. Es wäre überflüssig, noch weitere Worte über die Änderung des organisatorischen Grundprinzips der IVRS zu verlieren; es ist auch überflüssig zu betonen, daß die proletarisch-revolutionären Organisationen der kapitalistischen Länder von nun an die ihnen entsprechende Rolle in der IVRS spielen werden. Was die Bedeutung und das spezifische Gewicht der proletarischen Literatur und ihrer Bewegung in den einzelnen Ländern ist, kann mit allgemeinen Redensarten nicht gesagt werden. Dazu ist eine gründliche und konkrete Untersuchung nötig! („Konkrete Analyse der konkreten Lage", Lenin.) 23 Das heißt: Die IVRS muß ihre Arbeit auf einer systematischen, wissenschaftlichen Untersuchung der Literatur aufbauen. Organisatorisch soll das so geschehen, daß das Hauptgewicht der Arbeit des Sekretariats in die Länderkommissionen verlegt wird. Die politische Leitung ist von den Emigrantenkreisen übergegangen auf die wichtigsten Schriftstellerorganisationen der kapitalistischen Länder und bekommt dadurch einen engen und inneren Kontakt mit den Bewegungen in diesen Ländern. Diese Art von Umbau ist mit dem Umbau unseres Zentralorgans, 2/1 der von Grund auf geschehen muß, aufs engste verbunden. Weder Inhalt noch Ausstattung entsprachen den Anforderungen. Die Tatsache, daß die Zeitschrift in vier Sprachen erscheint, ermöglicht eine Anpassung an die Bewegung in den betreffenden Ländern. Die ganze Arbeit aber soll so vor sich gehen, daß sie die Haupttätigkeit der Schriftsteller, die s c h ö p f e r i s c h e Arbeit, mit allen Mitteln fördern wird. 25 1932

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Was lehrt uns das Plenum der Sowjetschriftsteiler?1 Die Sowjetliteratur hat seit dem fünfzehnjährigen Bestehen des Proletarierstaätes einen gewaltigen Schritt nach vorn getan. Zur Zeit der Oktoberrevolution hatten fast ausschließlich die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schriftsteller das Wort. Nur sehr wenige von ihnen empfanden die in der Revolution enthaltene historische Gerechtigkeit 263

der Sowjetschriftsteller mechanisch auf die Literaturbewegung der kapitalistischen Länder übertragen würde. Es wäre überflüssig, noch weitere Worte über die Änderung des organisatorischen Grundprinzips der IVRS zu verlieren; es ist auch überflüssig zu betonen, daß die proletarisch-revolutionären Organisationen der kapitalistischen Länder von nun an die ihnen entsprechende Rolle in der IVRS spielen werden. Was die Bedeutung und das spezifische Gewicht der proletarischen Literatur und ihrer Bewegung in den einzelnen Ländern ist, kann mit allgemeinen Redensarten nicht gesagt werden. Dazu ist eine gründliche und konkrete Untersuchung nötig! („Konkrete Analyse der konkreten Lage", Lenin.) 23 Das heißt: Die IVRS muß ihre Arbeit auf einer systematischen, wissenschaftlichen Untersuchung der Literatur aufbauen. Organisatorisch soll das so geschehen, daß das Hauptgewicht der Arbeit des Sekretariats in die Länderkommissionen verlegt wird. Die politische Leitung ist von den Emigrantenkreisen übergegangen auf die wichtigsten Schriftstellerorganisationen der kapitalistischen Länder und bekommt dadurch einen engen und inneren Kontakt mit den Bewegungen in diesen Ländern. Diese Art von Umbau ist mit dem Umbau unseres Zentralorgans, 2/1 der von Grund auf geschehen muß, aufs engste verbunden. Weder Inhalt noch Ausstattung entsprachen den Anforderungen. Die Tatsache, daß die Zeitschrift in vier Sprachen erscheint, ermöglicht eine Anpassung an die Bewegung in den betreffenden Ländern. Die ganze Arbeit aber soll so vor sich gehen, daß sie die Haupttätigkeit der Schriftsteller, die s c h ö p f e r i s c h e Arbeit, mit allen Mitteln fördern wird. 25 1932

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Was lehrt uns das Plenum der Sowjetschriftsteiler?1 Die Sowjetliteratur hat seit dem fünfzehnjährigen Bestehen des Proletarierstaätes einen gewaltigen Schritt nach vorn getan. Zur Zeit der Oktoberrevolution hatten fast ausschließlich die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schriftsteller das Wort. Nur sehr wenige von ihnen empfanden die in der Revolution enthaltene historische Gerechtigkeit 263

und bekannten sich zur Revolution. Der romantische Mcssianismus von Bloks Die Zwölf zeugte von Nichtverstehen und Abneigung gegenüber der realen Gerechtigkeit der Revolution. Brjussow, der sein Leben als Kommunist beendete, war stark vom Erbe der bürgerlichen Kultur belastet, das nicht kritisch umbewertet worden war. Zur Zeit des Kriegskommunismus, in den ersten Jahren der N Ö P , machte die proletarische Literatur ihre Kinderkrankheiten durch: Sektierertum, linken Radikalismus, kommunistische Selbstgefälligkeit. D e r Futurismus, der während des Kriegskommunismus in der Dichtung auf den ersten Platz vordrang, war allzu anarcho-individualistisch und in seinem linken Radikalismus zu kleinbürgerlich, wenngleich sich Majakowski schon damals scharf von diesem Hintergrund distanzierte. In den Zentren, um die sich die parteilosen Sowjetdichter sammelten, wurden offen die unpolitische Kunst und die Kunst um ihrer selbst willen proklamiert. Trotzki, der die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande bestritt, verbreitete eine damit verwandte Theorie, als er die proletarische Kultur und Literatur negierte. Diese These bildete die Voraussetzung für die Woronskische Kritik von rechts. 2 Seither hat die Sowjetliteratur einen gewaltigen Weg zurückgelegt. Wie das Z K der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in seinem Beschluß feststellt, ist die Sowjetliteratur sowohl quantitativ als auch qualitativ enorm angewachsen. Heute können wir ohne weiteres bereits sagen, daß die Sowjetliteratur Weltgeltung besitzt. Infolge ihres ideologischen und künstlerischen Wertes hat sie sich zur rangersten Literatur der Welt emporgekämpft, und alles, was in West oder Ost lebensfähig oder gesund ist - alle Keime der proletarisch-revolutionären Literatur - , streben ihr entgegen. In jüngster Zeit haben sich innerhalb der Sowjctliteratur große qualitative und organisatorische Veränderungen vollzogen. 3 Die E r folge des sozialistischen Aufbaus sowie die sich zunehmend vertiefende allgemeine Krise des Kapitalismus haben die entscheidenden Massen der alten Intelligenz und unter ihnen der Schriftsteller endgültig auf die Seite der Sowjetmacht geführt. Die Reorganisierung der Literaturorganisationen ist eine Auswirkung der sich in der Literatur vollziehenden tiefgreifenden, äußerst bedeutsamen Prozesse, die ihrerseits durch tiefgreifende, wesentliche Prozesse in Wirtschaft und Politik ausgelöst wurden. D e r Prozeß, der sich heute in der Literatur vollzieht, wäre ohne die Entwicklung vieler Schriftsteller, die aus der Arbeiterklasse und teil264

weise aus den bäuerlichen Kollektivwirtschaften hervorgingen, und ohne die ideologische Führungsrolle der proletarischen Literatur nicht möglich gewesen. D i e Organisation der proletarischen Schriftsteller, die R A P P , 4 hat in dieser historischen Etappe eine gewaltige Arbeit geleistet; sie hat die Sowjetliteratur mit neuen Arbeiterschriftstellerkadern aufgefrischt, die ganze Zusammensetzung dieser Literatur verändert und der proletarischen Literatur die führende Rolle erkämpft. 5 Vor anderthalb bis zwei Jahren zeigten sich jedoch in der Tätigkeit der Organisation der proletarischen Schriftsteller gefährliche Anzeichen einer Loslösung von den politischen Aufgaben; es kam zur Isolierung gegenüber den Hauptmassen der Sowjetschriftsteller und zur Herausbildung eines Gruppengeistes, der sich besonders stark in der Kritik bemerkbar machte. D e r ZK-Beschluß vom 23. April 1932 bereitete diesem Zustand ein Ende und eröffnete der Sowjetliteratur eine neue Epoche. D i e seit dem Plenum der Sowjetschriftsteller vergangenen sechs Monate und besonders das Plenum selbst bestätigen dies in jeder Hinsicht. Aus diesem Wandel sind für uns vor allem die Lehren wichtig, die wir - natürlich unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Lage in den kapitalistischen Ländern ganz anders ist - in der revolutionären und proletarisch-literarischen Bewegung unseres eigenen Landes nutzen können. Für die revolutionäre und proletarische Literatur Ungarns, die vor allem aus dem Kampf gegen die faschistische Diktatur und für die I I . Räterepublik erwächst, sind jene Lehren des Plenums der Sowjetschriftsteller am bedeutsamsten, die die Fragen der Gewinnung von Schriftstellern, die mit dem Proletariat sympathisieren und vorwärtsschreiten sowie Fragen ihrer organischen Einbeziehung in die Kampffront des Proletariats beleuchten. 6 Während in der Sowjetunion die Erfolge der fünfzehnjährigen Sowjetmacht und besonders des sozialistischen Aufbaus die breiten Massen der alten Intelligenz zu einer entscheidenden Wende bewegten, können wir in Ungarn, wo sich die Krise des Kapitalismus mit dem blutigen Terror der faschistischen Diktatur paart und die revolutionäre Partei des Proletariats gezwungen ist, aus der Illegalität für den Sturz des Kapitalismus und die Organisierung der Macht zu kämpfen, von einer Wende bei der Intelligenz natürlich nicht sprechen. 7 D e r größte Teil der kleinbürgerlichen Intelligenz stützt und fördert heute in Ungarn offen oder stillschweigend die bourgeoise faschistische Diktatur. Die kleinbürgerlichen Schriftsteller sind im großen und

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ganzen bewußt oder unbewußt auf Grund der Ideen, die sie in ihren Arbeiten vertreten, Stützen der bourgeoisen Gesellschaftsordnung, und selbst dort, wo sie kritisch gegen einzelne Erscheinungen des Kapitalismus auftreten, unterstützen sie letzten Endes den Kapitalismus, weil sie sich nicht gegen diesen als Ganzes, sondern nur gegen einzelne seiner „Auswüchse" wenden. Hierher gehören auch jene kleinbürgerlichen Schriftsteller, die unter dem Deckmantel pazifistischer, humanistischer und reformistischer Ideologien auftreten, was oft viel gefährlicher ist als die offen faschistische oder sozialfaschistische Ideologie. 8 Von einer „Wende" der Intelligenz in Ungarn können wir nicht sprechen. Jedoch davon, daß die Verbitterung vieler gegenüber dem Kapitalismus und der faschistischen Diktatur so groß ist, daß sie allmählich die breitesten werktätigen Massen umfaßt und besonders die sich in den Reihen der Intelligenz offenbarende Unruhe und Linksorientierung beschleunigt. Wir können davon sprechen, daß sich im Kreis der kleinbürgerlichen Schriftsteller bereits merkliche, auf jeden Fall sehr charakteristische Anzeichen dieser Unruhe zeigen. Das äußert sich bei einem Teil der aus dem Kleinbürgertum hervorgegangenen Schriftsteller in einer allgemeinen Desillusionierung, in Abscheu, in der Negierung des Ideals der bürgerlichen Gesellschaft, in einem erschütterten Glauben an die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft sowie in der eher instinktiven als bewußten Aufdeckung, Entlarvung und Kritik der Widersprüche der kapitalistischen Ordnung. Bei einzelnen kommt dies auch bereits in einer romantischen Sympathie mit der proletarischen Revolution und einer verschwommenen Vorahnung von der Verwirklichung des Sozialismus auf revolutionärem Wege zum Ausdruck. Die Zahl letzterer ist heute natürlich noch nicht groß. Die ideologische Gärung in den Reihen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schriftsteller wird durch eine ganze Reihe von Erscheinungen belegt. Es ist kein Zufall, daß Dezsö Szabö, der einstige Kursus-Apostel, 9 heute nur noch dort in seinen Arbeiten einige Kraft aufzuweisen vermag, wo er gezwungen ist, seine zehn oder zwölf Jahre' zurückliegenden Ideen in den Schmutz zu treten, zu entlarven und lächerlich zu machen. Nicht zufällig läßt sich ein anderer großer Schriftsteller des Kursus Lajos Zilahy 10 - wenngleich er dazu erst nach Amerika reisen mußte - zu bitteren Ausbrüchen gegen den Kapitalismus hinreißen, geht er in einer Erklärung soweit, die Möglichkeiten zur weiteren Menschheitsentwicklung im Rahmen des Kapitalismus 266

anzuzweifeln. Es ist kein Zufall, daß der Faschist József Erdélyi 1 1 demagogisch auf die Straße geht, um die unmittelbare Verbindung zum „Volk" über Pfennighefte zu suchen, die auch einige Gedichte enthalten, aus denen unbewußt und ungewollt das Grollen der revolutionären Kräfte herauszuhören ist. Nicht von ungefähr spuckt Béla Zsolt, der Hauptmitarbeiter der liberalen Leib- und Magenzeitung der Konterrevolution, 12 in seinen letzten Arbeiten dem Kleinbürgertum, aus dem er selbst kommt und das ihm in den letzten „dunklen" Jahren des Kapitalismus den einzigen Lichtblick bedeutete, ins Gesicht. Es ist kein Zufall, daß Zsigmond Möricz, der der Nyugat einen unsichtbaren faschistischen Rahmen gegeben - und ein sichtbares Programm dazu geliefert - hat, 13 zunehmend genötigt ist, in seiner Zeitschrift gelegentlich Romane und Novellen, die die Wirklichkeit wenn auch auf naturalistische Weise - niederschmetternd widerspiegeln, und selbst einige Gedichte mit revolutionärem Ausklang abzudrucken. Aus den Reihen der kleinbürgerlichen linken Schriftsteller, die seit Jahrzehnten der städtischen Literatur ihre Prägung geben und ohne die in Budapest eine belletristische Zeitschrift sozusagen undenkbar ist, gehen infolge der Wirtschafts- und Kulturkrise der letzten Jahre immer mehr talentierte Autoren hervor, die sich gegen die kapitalistische Wirklichkeit stellen. Nicht zufällig wendet sich eine Reihe junger linker kleinbürgerlicher Schriftsteller, die während der „Glanzzeit" der relativen Stabilisierung des Kapitalismus in die herrschende bürgerliche, faschistische und sozialfaschistische Ideologie zurückgefallen waren, heute mit dem Ende der relativen Stabilisierung erneut dem Proletariat und seiner revolutionären Ideologie zu, wenn auch oftmals kompromißlerisch, so aber doch unter der Wirkung des Massendrucks. Es ist kein Zufall, daß die linken kleinbürgerlichen Schriftsteller ein eigenes Flugblatt gegen die gemeine Ermordung unserer Genossen Sallai und Fürst herausgaben 1 * und daß viele Tausende Intellektuelle das Protestschreiben gegen die Todesstrafe unterzeichneten. Selbst Lajos Kassäk, dieser schädliche und gefährliche Pirat der linken literarischen Bewegungen, sah sich gezwungen, ein Gedicht (für das Ausland) zu schreiben, das Sallai und Fürst gewidmet ist, um mit diesem Manövrieren nach links seine oft übermalte, doch noch nicht oft genug entlarvte sozialfaschistische Giftmischerei über Wasser halten zu können. 15 Jene großen Ideen, die der Kampf des Proletariats verkörpert und die durch die proletarische Revolution Wirklichkeit werden, sowie jene für Gegenwart und Zukunft der gesamten Menschheit hochbe267

deutsamen Ereignisse, die sich in der Sowjetunion abspielen, können nur zu den werktätigen Massen und der werktätigen Intelligenz im Schatten des Galgens durchdringen, der das ganze hungernde und darbende Land bedeckt. Dennoch können wir heute bereits von linken und revolutionären Schriftstellern sprechen, die aus den gärenden kleinbürgerlichen Massen hervorgegangen sind und in ihren Arbeiten den Kampf gegen Kapitalismus, Faschismus und Sozialfaschismus sowie für die Popularisierung der Sowjetunion mehr oder weniger richtig, sogar konsequent vertreten. E s ist kein Zufall, daß sich die besten unter den linken kleinbürgerlichen Schriftstellern zu revolutionären und p r o l e t a r i s c h e n Schriftstellern entwickeln. All diese herausgegriffenen Beispiele, die den Gärungsprozeß in den Reihen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schriftsteller zeigen, bezeugen, daß die Ideologie der herrschenden Klasse und ihrer sozialfaschistischen Agenten- wenngleich sich das auf die letzteren in viel geringerem M a ß bezieht - infolge der Wirtschaftskrise nicht mehr mit solcher K r a f t wie vor Jahren auf diese Schichten einwirkt. Sie beweisen, daß die Ideen des revolutionären Proletariats trotz Terror und geistiger Unterdrückung zu einem Teil der werktätigen Intelligenz durchdringen, wenn auch mit Schwierigkeiten und lückenhaft. Unter den gegebenen Umständen besteht eine zentrale Aufgabe der ungarischen Sektion der Internationalen Vereinigung der Revolutionären Schriftsteller darin, den aus der linksorientierten kleinbürgerlichen Intelligenz rekrutierten linken Schriftstellern ganz die Augen zu öffnen und sie für den Kampf gegen Kapitalismus, Faschismus, imperialistischen Krieg und Sozialfaschismus, für die Popularisierung der Sowjetunion unter Einsatz sämtlicher Möglichkeiten ihrer legalen literarischen Tätigkeit zu gewinnen; sie mit gutwilliger Kritik bei der Uberwindung ihrer Schwankungen zu unterstützen und aus ihren Werken die Elemente auszuwählen, durch deren konsequente Weiterentwicklung sie zu Vertretern der Ideologie des Proletariats, der einzigen revolutionären Ideologie, werden können; sowie gleichzeitig auf die kleinbürgerlichen, anarchistischen und oft noch faschistischen und sozialfaschistischen Elemente - die sich in ihren Werken häufig parallel zu den revolutionären Elementen finden - hinzuweisen und durch Kritik an diesen die Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit zu fördern. In dieser Hinsicht ist es für uns sehr wichtig, daß wir aus den Fehlern der aufgelösten russischen proletarischen Schriftstellerorganisation lernen. W i r dürfen die linken Schriftsteller, die sich uns annähern,

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nicht mit starren, dogmatischen Losungen und Kritiken vor den Kopf stoßen und keine chinesische Mauer zwischen der revolutionären und proletarischen Literatur errichten. Das alles bedeutet selbstverständlich nicht, daß wir irgendwelche Zugeständnisse in bezug auf die Reinheit der proletarischen Ideologie machen oder aus der Tatsache, daß für die kleinbürgerlichen linken Schriftsteller im allgemeinen Schwankungen kennzeichnend sind, liberale Schlußfolgerungen gegenüber denen ableiten, die prinzipienlos hin und her tanzen, die mangels moralischen Mutes ein Zwitterverhalten an den Tag legen, manövrieren und karrieristisch den Mantel in den Wind hängen, die sich verstecken, hinterrücks angreifen oder zu Verrätern geworden sind. Unser Bestreben muß darauf gerichtet sein, daß die proletarische Literatur infolge der Überlegenheit und konsequenteren Reinheit der in ihr vertretenen Ideen sowie auf Grund ihrer künstlerischen Qualität zur führenden Kraft der gesamten antikapitalistischen Literatur wird. Deshalb müssen wir über die ideologische Gediegenheit unserer Arbeiten hinaus der Erhöhung der Qualität der belletristischen Produktion besondere Aufmerksamkeit widmen. Gutes Ungarisch, Ausgegorenheit, durchdachter künstlerischer Aufbau des Stils, der Konstruktion und der Handlung; realistische, differenzierte und unschematische Menschendarstellung; unsere Ideen nicht als Losungen oder in oberflächlicher Form hingeworfen, sondern ihre vertiefte, das ganze Werk durchdringende Vergegenwärtigung - das und vieles Ähnliches markiert den Weg, der zur Qualitätsverbesserung führte. Auf diesem Gebiet kann die kameradschaftliche Kritik, die Fehler und Erfolge überzeugend nachweist und frei von jedem Gruppengeist, von Dogmatismus und Kommandiererei ist, eine gewaltige Arbeit leisten. Unsere revolutionäre und proletarische Literatur muß die Stufe erreichen, die heute notwendig ist, um die Ideologie des Proletariats auszudrücken und zu verbreiten. Oft stoßen wir auf ideologisch richtige Arbelten, die jedoch literarisch nichts vergegenwärtigen, nicht erlebt sind und kein künstlerisches Niveau haben; Arbeiten, die ermüdend und langweilig sind, die mit ihrem leeren Pathos, ihrer Rhetorik, ihrem politischen Zeitungsstil, ihrer eintönigen Sprache und mangels einer Handlung oder infolge einer uninteressanten Handlung bzw. des falschen, uninteressanten Aufbaus einer interessanten Handlung nicht die Aufmerksamkeit der Leser fesseln. Obwohl gegen diese Arbeiten ideologisch oft nichts einzuwenden ist, können sie gerade ihrer wichtigsten Aufgabe

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nicht gerecht werden: Sie beeindrucken den Leser nicht, sie übertragen die in ihnen enthaltenen richtigen Ideen nicht auf den Leser. Oft gelingt das einfach deshalb nicht, weil der Leser sie gar nicht liest. Andererseits ist für einen großen Teil der bürgerlichen und kleinbürgerlichen faschistischen oder sozialdemokratischen Schriftsteller, die feindliche Ideologien vertreten, geradezu charakteristisch - und historisch ist das auch verständlich - , daß sie schreiben können, meisterhaft mit der Feder umgehen, ihr Publikum ausgezeichnet kennen, mit ihrem handwerklichen Können in die Reihen der unterdrückten Klasse, des Proletariats und der ausgebeuteten Bauernschaft, einzudringen vermögen und mit diesem gefälligen trojanischen Pferd gleichzeitig auch die Ideologie der herrschenden Klasse in ihr verbreiten, die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den beiden Hauptklassen verschleiern und die groß- und kleinbürgerlichen Ideale der Bourgeoisie in die Gedanken- und Gefühlswelt des Proletariats verpflanzen. So kann oftmals die minderwertige Ideologie durch ihr handwerkliches Können auf viel breitere Massen wirken als die höherwertige ohne handwerkliches Können. So wird das handwerkliche Können zugleich zur ideologischen, zur politischen Frage, zu einer Frage des intensiveren Kampfmittels. Die schöpferischen Methoden bildeten eine zentrale Frage auf dem Plenum der Sowjetschriftsteller, sie stellen aber auch für uns eine zentrale Frage dar. Die RAPP gab seinerzeit die Losung heraus: „Schreibt nach der Methode des historischen Materialismus." Ja, aber welches diese Methode ist, konnten die RAPP-Kritiker nicht sagen. Auch wir gaben ähnliche Losungen heraus, auch wir versuchten die proletarische Literatur mit einer ähnlichen Losung zu monopolisieren, zu dogmatisieren und einzustufen. Heute liegt auf der Hand, wie schädlich dergleichen ist. Das Plenum der Sowjetschriftsteller brachte auch in dieser Hinsicht einen frischen Luftzug in das literarische Leben der Sowjetunion, und dieser frische Luftzug muß auch durch das Leben unserer Organisation wehen. Das Plenum gab keine neuen Losungen heraus; es analysierte lediglich die Sowjetliteratur und die vor ihr stehenden Aufgaben und wies nach, daß sie von der Realität, natürlich von der richtig, im Sinn des dialektischen Materialismus gesehenen Realität, ausgehen, also eine sozialistische und realistische Literatur sein muß. 16 Sie muß die Wirklichkeit in ihren Widersprüchen, mitsamt ihren Licht- und Schattenseiten, in ihrer gesamten Vielfalt und Bewegung sowie unter Angabe der Bewegungsrichtung zum Ausdruck bringen. 270

Das alles erfordert naturgemäß eine marxistisch-leninistische Weltanschauung und die Kenntnis der historisch-materialistischen Methode. Es gibt zwar Ausnahmen, wenn nämlich die Schriftsteller instinktiv ein richtiges Bild der Realität, besser gesagt, eines Teiles der Realität zeichnen und einen oder mehrere Abschnitte der Entwicklung richtig wiedergeben - aber das sind Ausnahmen. Der revolutionäre proletarische Schriftsteller muß die Lehren des Marxismus und des Leninismus kennen, wenn er die Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen und ihrer Gesamtheit sehen und ausdrücken will. Doch das ist etwas anderes als von den Schriftstellern zu fordern, sie sollten „nach der Methode des historischen Materialismus arbeiten". Unsere Literatur ist revolutionärer Realismus. Genosse Gronski sagte auf dem Plenum zu den Schriftstellern: „Schreibt die Wahrheit!" Was bedeutet dies? Das bedeutet: Lernt die Wirklichkeit kennen! Also, auf den Kapitalismus bezogen: Lernt den Kapitalismus kennen, seine gesellschaftliche Etablierung, seine Klassengliederung, die Gegensätze in ihm und die Richtung der historischen Entwicklung. Zu alledem ist natürlich eine marxistisch-leninistische Weltanschauung erforderlich, denn nur so sind wir fähig, die sozialistische Wahrheit über die Wirklichkeit, den sozialistischen Aufbau bzw. die kapitalistische Gesellschaft zu schreiben. Wir können die Wirklichkeit in vielfältiger Form beschreiben. Wir können die Wahrheit in vielfältiger Weise ausdrücken. Die Wege des künstlerischen Schaffens sind vielfältig. Sie sind kompliziert. Diesen Prozeß übermäßig zu vereinfachen, ihn zu dogmatisieren oder ihn mit sektiererischen Losungen abzugrenzen, kommt einer Einengung der schöpferischen Möglichkeiten gleich. Mit diesem Zustand hat das Plenum der Sowjetschriftsteller abgerechnet. Die Vielfalt der Wege künstlerischen Schaffens ist als Voraussetzung gegeben. Der revolutionäre Realismus bedeutet keine neue literarische Methode. Er umfaßt alle literarischen Methoden, so zum Beispiel auch den revolutionären Romantizismus, 17 wenn sie die wahre, revolutionäre Wirklichkeit aufzeigen. In der revolutionären Literatur jeder Klasse begegnen wir Elementen der revolutionären Romantik, so auch in der revolutionären Literatur der Bourgeoisie, als diese noch eine revolutionäre Klasse war. Die revolutionäre Romantik ist kein Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern die Fortführung des Klassenkampfes des Proletariats, die über die engsten Gegenwartsaufgaben hinausreicht. Sie darf nicht mit der verlogenen und reaktionären Romantik verwechselt werden, die heute beispielsweise 271

allen faschistischen Schriftstellern eigen ist. Wie diese Schriftsteller die Wirklichkeit selbst verfälscht zum Ausdruck bringen, so bedeutet diese Romantik keine echte Weiterentwicklung der Wirklichkeit. Diese Romantik steht im Dienste der Reaktion und nicht der historischen Entwicklung. Aus all dem ist eine Lehre zu ziehen: Wir müssen der von inhaltlicher und formaler Gebundenheit freien Entwicklung der literarischen Methoden, die den Fähigkeiten der Schriftsteller am ehesten entspricht, breiten Raum gewähren. Der entscheidende Gesichtspunkt sei hierbei, daß der Schriftsteller mit seinem Werk der Verbreitung der proletarisch-revolutionären Ideologie dienen soll. Für die qualitative und ideologische Entwicklung unserer Literatur, insbesondere aber für die erstgenannte, ist eine Umbewertung unserer gesamten bisherigen literarischen Tätigkeit unerläßlich. Die ungarische revolutionäre und proletarische Literatur hat eine Reihe wertvoller Arbeiten hervorgebracht. Doch infolge unserer dem Gruppengeist entspringenden Kritik und der Vernachlässigung der Qualitätsfragen kam es zur höheren Bewertung von literarischen Arbeiten, die aus der Sicht der heutigen Anforderungen nicht bestehen. Diese Umbewertung und eine anspruchsvollere Kritik gegenüber den neuen Werken sind die Voraussetzung dafür, daß sich unsere Literatur weiterentwickelt und unsere Arbeiten nicht nur auf Grund der Überlegenheit der in ihnen vertretenen Ideen, sondern auch wegen ihrer formalen Gestaltung siegreich aus dem Wettstreit mit den Werken bürgerlicher und kleinbürgerlicher Schriftsteller hervorgehen können. Wir müssen Kurs auf eine große revolutionäre sozialistische Literatur 18 nehmen, die das Zeitalter der sozialistischen Revolution zum Ausdruck bringt; das bedeutet natürlich nicht, daß wir unsere alltäglichen, aktuellen literarischen Aufgaben vernachlässigen dürfen. Beide stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich. Eine weitere wichtige Aufgabe ist es für uns, die internationale proletarische Solidarität und den kämpferischen Internationalismus zu popularisieren. Das bezieht sich insbesondere auf die revolutionären und proletarischen Schriftsteller, die in der Emigration leben. Die Vermittlung der internationalen Kampftraditionen der ungarischen Diktatur des Proletariats und des nachfolgenden Klassenkampfes in die Sowjetunion und die Arbeiterbewegung anderer Länder sowie des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion und des revolutionären Kampfes anderer Länder nach Ungarn mit Hilfe unseres literarischen Schaffens stellt für die Schriftsteller in der Emigration eine ernsthafte 272

Aufgabe dar. Wir müssen feststellen, daß die proletarische Emigrationsliteratur, die von der Bewegung in Ungarn losgelöst ist, bisher der revolutionären Arbeiterbewegung in Ungarn nicht annähernd die Unterstützung gewährt hat, zu der sie in der Lage gewesen wäre. Umso mehr haben jetzt die emigrierten, vor allem die in der Sowjetunion lebenden ungarischen proletarischen Schriftsteller die Pflicht, in Romanen, Novellen, Gedichten, Skizzen und Bühnenstücken literarische Dokumente des siegreichen Aufbaus des Sozialismus vorzulegen. Die Emigrationsschriftsteller müssen sowohl mit diesen Aktivitäten als auch durch den Einsatz literarischer Waffen, die zur Verbreitung der proletarischen revolutionären Ideologie stets benötigt werden (unter anderem auch durch künstlerische Übersetzungen), für die Bewegung in vollem Umfang an der Unterstützung des Kampfes der revolutionären Arbeiterschaft Ungarns teilnehmen. Der Charkower Kongreß der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller nannte den revolutionären und proletarischen Schriftstellern als Grundforderungen den Kampf gegen den Kapitalismus, den imperialistischen Krieg, den Faschismus und die sozialfaschistische Ideologie sowie für die Sowjetunion. 19 Die ungarische Sektion der IVRS kann alle diese Forderungen nur durch eine einheitliche und hingebungsvolle Arbeit sowie richtige Literaturpolitik verwirklichen, wobei die Betonung auf der Gewinnung möglichst breiter Schichten der kleinbürgerlichen linken und revolutionären Schriftsteller liegen muß. Diese Aufgabe verlangt von uns eine stete Erhöhung unserer ideologischen und literarischen Bildung, eine flexible, aber nicht prinzipienlose Kritik - in der wir für keinen Augenblick die führende Rolle der proletarischen Ideologie in der revolutionären literarischen Bewegung verblassen lassen dürfen - , eine gründliche Auseinandersetzung über handwerkliche Fragen und Methoden der schöpferischen Arbeit und deren ständige Vervollkommnung sowie einen konsequenten Kampf gegen die in der Vergangenheit begangenen Fehler. Das ist eine große Aufgabe, aber vor ihr erschrickt nur, wer die Bedeutung der revolutionären und proletarischen Literatur im Kampf gegen den Kapitalismus und für die Verwirklichung des Sozialismus unterschätzt. Ungarisches Komitee beim Sekretariat der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller 20 1933 18 Befunde

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Gebot der Zeit „und Herr der Zukunft wer sich wandeln kann" (Stefan George)1 Der Schriftsteller sitzt zwischen vier Wänden am Schreibtisch oder vor der Schreibmaschine und kaut am Federhalter oder starrt auf die Tasten. Er kann über den Frühling schreiben, verlogen Romantisches über das Mondlicht, einen Geldroman über den Engel der Schlafwagen, Kurioses über das Kausalitätsprinzip, Geschwafel über den Kubismus, Phrasen über die Kulturannäherung, er kann Brunnen in russische Seelen graben, kann das psychologische Rätsel der ungarischen Operette lösen, kann das Verhältnis zwischen dem Fünf-Uhr-Tee und dem Ödipuskomplex darlegen: Wir haben Schreib-, Rede- und Gedankenfreiheit, freien Willen und freie Themenwahl. Der Verfasser dieser Zeilen schreibt über die Leichen und Läuse der Schützengräben, über Neger und Proletarier, über Friedenspharisäer und Arbeiterbetrüger, über das ungarische Mittelalter, die russische Arbeitswut und die deutschen Mörder. Das Buch2 - es trägt den unbescheiden anspruchsvollen Titel Gebot der Zeit - beginnt mit dem Massengrab von neunzehnhundertvierzehn und endet mit dem diesjährigen Massentod der Bergarbeiter von Osek (Ossegg).3 Gebot der Zeit ist: eine anklagende, aufrührerische und aufwiegelnde Stimme, die zwischen diesen beiden Massengräbern hockt, die schreit, warnt, protestiert, brüllt und gebietet. Freie Themenwahl eines freien Willens? Ich habe nicht dies gewollt. Wie hätte ich solches wagen, wie hätte ich es wollen können? „Ein spiritualer Kuhbauer, in dörflicher Einsamkeit die Hirtenflöte blasend": Über die Notlage eines Menschen kann Kassäk auch 1931 nur lachen.4 Gebot der Zeit? Lest die vor zehn Jahren geschriebenen bunten Zeitungsreportagen über den „Einsiedler von Stos", den „in der Kurie des verfallenden, roten Dorfes" die faulenden Schindeln nicht stören, wenn seine Hand nur den neuen Gundolf oder Werfel streicheln kann.5 Blättert in den ersten Jahrgängen der slowakischen Zeitungen : Beim Tode Zsolt Beöthys6 grüßt der Schüler den ungarischen 277

Reiter an der Wolga, und zu Ostern bekennt er sich zu dem verfluchten Christusbild von Albert Servaes.7 Gebot der Zettl Im Schmutz der Schützengräben, in der Nachbarschaft von Leichen und Ratten erregte mich das Problem Dorian Grays.8 In den ersten Jahren des Friedens gedachte ich nicht der blutigen und brandigen Todesminuten des von Granaten zerrissenen, vom Typhus zerfressenen Lebens, aber ich schrieb eine Studie über Totentanzgesänge und Totentanzbilder. Holbein war mir wichtig, Hodlers Eurythmie und die Sterbeworte Strindbergs und Babits'. Die zehn Millionen Leichen hatte ich vergessen. Gebot der Zeit? Ich wollte ausruhen, nach Schmutz und Blut heimfinden zur intellektuellen Lust: genießen, Kultur, Literatur und Kunst schlürfen, Musik und Mythos erfühlen, Geheimnisse enträtseln . . . Ich brauchte Ady und Däubler, Péguy und Trakl, Buber und Claudel, Pannwitz und Milán Füst. Dezsö Szomory bedeutete mir den Freud der Intuition, Franz Kafka das Wunder des Schreibens. Dies wollte und genoß ich, das war meine Welt, mein Zuhause. Das allein war es, was mich anging, mir verwandt und mein war. Und von diesem Willen, von dieser intellektuellen Lust findet sich in meinem Buch keine Spur. Wer gut zehn Jahre nichts von mir gelesen hat und jetzt dieses Buch zur Hand nimmt, der wird erstaunt sein: Ich bin fremd geworden und anders. Fremd? Fremd waren Läuse und Hunger, Schnee und Schlamm, Trommelfeuer und Erdbunker, wo man leben, schlafen, Furcht haben und töten mußte. Fremd - aber ich litt, ich fühlte: Erlebnis und Erleiden gehörten mir, unleugbar mir. Und ich vergaß es. Der rotbärtige Russe, dem ich eine Kugel in den Bauch schoß, war fremd. Ein Fremder, ich wußte auch seinen Namen nicht: Aber ich ermordete ihn. Der schwarzhäutige Briefträger, der im fernen Brüssel über Imperialismus und Zivilisation sprach, war fremd. Ein Fremder, ein Neger, aber ein Mensch, dessen Schicksal dem des Viehes gleicht und wie dessen Aufbegehren restlos zu meinem wurde. Fremd war die Stimme der Scheidemanne, die Frieden und Revolution gleichzeitig umarmten. Fremd die Politik, und dennoch verspürte ich die Lüge in ihr. Fremd waren daä Fußlappenlos, der Hunger und die Arbeitslosigkeit des Arbeiters, fremd die Stimme und der Marschrhythmus der Massen. Fremd - und auf einmal stand ich zwischen ihnen und vor ihnen, und zu ihnen sprach ich aus ihnen. Fremd waren ihr Leid, ihre Rechtlosigkeit und ihr Kampf, fremd ihre Kerkerjahre und ihre Hungerstreiks. Fremd - aber die Gefängniszelle und das Imkreisegehen der Hofspaziergänge wurden mir dennoch vertraut. Nach dem 278

ersten Schmerz wurde mir Ungarn fremd, fremd und gleichgültig unser Grund und Boden: das Minderheitenschicksal.9 Fremd wurde, was mir nahestand, doch an den ungarischen Galgen 10 und beim Salvenfeuer von Nemeskossut11 riß diese Fremdheit auf, und ungarischer Schmerz wurde aus ihr. Fremd war die russische Arbeitswut: der graue Alltag von Kohle, Wasser und Elektrizität, und dennoch ist es, als begönnen Kohle, Wasser und Elektrizität erst jetzt ihr Leben. Ich könnte in dörflicher Einsamkeit die Hirtenflöte spielen, aber fremde, ferne deutsche Dinge wiegeln mich auf, strafen mich und schmerzen mich, ich spreche aus Dimitroff, mit Ludwig Renn sperrt man mich ein, und mit Theodor Lessing werde ich ermordet. Ich bin fremd und anders geworden? Weil ich vorher nur mir gehörte: ich war. Wie es meine Neigungen, meine Stimmungen, meine spielerische Laune diktierte: freie Themenwahl eines freien Willens. Ich war der Schönheitsromantiker eines kleinen Kreises, war tatsächlich, wozu mich ein Kritiker 1933 abzustempeln versuchte, als ich „nur ein enges Atelier-Publikum" an mich heranließ. Ich mußte fremd, mußte anders werden, vom Atelier-Publikum unverstanden und nicht gewürdigt, wie ein anderer Kritiker das Wesen der Veränderung in diesem Satz ausdrückt: „Z. F.s Dokumentenliteratur wird zum Selbstausdruck des Proletariats." (Edgar Balogh in Uj Szo)12 Welch sonderbare Welt: Weil ich nicht nur zu meinem eigenen Behagen, sondern laut und streitbar redete, so daß es auch andere verstanden und meine Stimme, die mit der Zeit, mit mir selbst und den Institutionen kämpft und streitet, zum Leben, zur Brot verteilenden Stärke, als Hilfe verwenden konnten, wirft man mir vor und redet man mir ein, ich sei fremd und anders geworden. Was für eine sonderbare Welt: Der Mensch wird in dem Augenblick fremd, wenn äußere, Haut und Haar zerfetzende Kräfte ihm gerade die egoistische Ich-Fremdheit, das Leben um seiner selbst willen abschmelzen, damit er dem näher kommt, was einen Schritt weiter beginnt, um auch das zu sehen, zu fühlen und zu erleben. Der Mensch wird in dem Augenblick fremd, da er Ziel und Sinn seines menschlichen Lebens findet: das moralische Gebot des Handelns, der Tat, die soziale Arbeit für eine Menschengemeinschaft. Ich wurde in dem Augenblick fremd, als ich die uns am nächsten befindlichen Dinge, Stunden und Menschen erblickte, erfaßte und weitergeben konnte: die Wirklichkeit und Unmöglichkeit unseres gemeinsam gelebten heutigen Lebens, das Gebot der Zeit, zu verändern. Gebot der Zeit: Keine Zeile dieses Buches hätte ohne die Jahres-

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zahlen 1914 und 1934 entstehen können. Die Zeit schrieb es für die Zeit. Der Zeitgenosse für den Zeitgenossen. Gebot der Zeit ist ein Zeitdokument, wie auch der Verfasser selbst ein Zeitdokument ist. Gebot der Zeit ist passive und aktive Veränderung. Es war überaus schön und gut, die Hirnmusik einer Mechtilde Lichnowsky13 zu schlürfen, ihre Worte und Gedanken zu verkosten und die Sprache ihr anzupassen, aber die Wirklichkeit, die an Ort und Zeit gebunden ist, die einen Schritt neben mir beginnt, die ich, wenn meine Augen, mein Mund und meine Nase regulär funktionieren, bemerken muß . . . die Wirklichkeit stach mich in die Zunge, griff mir in die Augen, verfluchte und zwang sie zu anderem Ton, zu anderem Sehen. Ich schaute nach Wirklichkeit, und ich sah Wirklichkeit: Kapitalismus und Imperialismus, Arbeitslosigkeit und Aktienkonferenz, Hunger und Poloclub, Ursachen und Zusammenhänge, von denen ich vorher keine Ahnung hatte. Und da kamen - erstmals jetzt in voller Lebendigkeit - meine vergessenen Leichenkameraden, nicht einer, nicht zwei, sondern zehn Millionen, es kamen die Arbeitslosen, nicht hundert, nicht tausend, sondern Millionen und aber Millionen, und ich sah die Werchowina,14 den Hunger. Und allmählich stahlen der Leichengeruch, die Arbeitslosigkeit und der Hunger stumm die parfümierten, wohlklingenden Worte aus meinem Mund und unter meiner Zunge hinweg, rissen ihre Erinnerung und Musik, ihren Geschmack und ihre Zeitlosigkeit heraus und schmuggelten die Armut und Ohnmacht der Proletarier mit ihrer rauhen, der Erlösung harrenden Massenkraft hinein. Mit ihrer Armut und Ohnmacht, ihrer erahnten, schlummernden Kraft schmieden und formen sie in mir das Gebot der Zeit: Worte, mit denen man schneiden kann, aufwecken und werben, Worte, mit denen man kämpfen kann, trotzen und ändern! Mit der Fatalität des „Ich kann nicht anders" wurden diese Worte meine Rede, meine Mission, und ich wurde so zum Dokumentierenden des Gebotes der Zeit, selbst ein Beispiel und eine Bestätigung der Veränderung, der Zeitverantwortung und der sozialen Stellungnahme. Gebot der Zeit - zwanzig Artikel aus einem Artikellabyrinth, das in zehn Jahren verstreut erschienen ist - steht auf der Zeitebene exemplarisch für die Wandlung und Entwicklung eines Menschen von den stotternden, jäh entflammenden Pathosphrasen der Menschenbrüderlichkeit zum Positivum der Wirklichkeitsverantwortung und -änderung: zum Klassenkampf, für den Weg eines Zeitgenossen vom linkischen, wirren Manifest der Menschenliteratur15 (die heut eine schwierige Lektüre ist und in der man weiterblättere, wenn man sie nicht 280

erträgt) zum Kommunismus, zur zeitgemäßen Summierung des Humanismus. Aus Gebot der Zeit spricht in immer nüchterner, immer verständlicherer Stimme der aktive Humanismus der Zeit, das heutige Gebot der Menschenmoral: die soziale Verantwortung und Stellungnahme. Nicht Jesus spricht, nicht Marx, Gebot der Zeit ist kein Evangelium und kein Thesenkatechismus. Der Verfasser konnte nur aus Beispielen, Randbemerkungen und Literaturdingen das Wesen dieser Zeit herausschälen, die anklagende, abwehrende und angreifende Stimme dieses unseres jetzigen Lebens, um die vor der Zukunft bestehende zeitgemäße Wahrheit zu finden und weiterzugeben, das Zeitgebot des passiven und aktiven Veränderns, dessen Alpha und Omega der Kampf für den Proletarier, mit ihm und durch ihn der Freiheitskampf für ein menschliches Leben und eine bessere Zukunft der Menschheit ist. Gebot der Zeit tritt den Weg aus der Werkstatt eines in der Slowakei ansässigen ungarischen Schriftstellers an. Und das ist kein Zufall. Gebot der Zeit dokumentiert auch hiermit: Es illustriert die Mission des ungarischen Schriftstellers in der Slowakei, der nur hier, an dieser Peripherie - nicht losgelöst vom Alltag seines Volkes und seines Landes und dennoch in einen stärkeren Zugwind der Zeitströmungen und Veränderungen gestellt - seine zeitgemäße Aufgabe erfüllen kann: die Herausformung einer freieren, sozialeren ungarischen Mentalität, die revolutionäre Formung des Bewußtseins, der im übrigen ungarischen Sprachgebiet schwere, würgende Hemmnisse entgegenstehen.16 Der seiner Zeit verantwortliche ungarische Schriftsteller in der Slowakei stärkt als ungarischer Fürsprecher des aktiven Humanismus die immer schwächer werdende Vox humana17 des heutigen ungarischen Geisteslebens, bejaht das verschleuderte, feige gewordene soziale Credo, vermittelt von Ost nach West und suggeriert in allem und immer das Z e i t g e b o t d e r s o z i a l e n V e r a n t w o r t u n g . W e r h i e r n i c h t so u n d n i c h t d e s h a l b z u r F e d e r g r e i f t , l e i s t e t ü b e r f l ü s s i g e A r b e i t : der spielt, schneidet auf, kopiert, wiederholt. Er verändert sich nicht, und so kann er nicht verändern. In der letzten Stunde, da die Stiefel des Faschismus aus allen Richtungen nahen, unsere soziale Bejahung niederzutreten, können wir keine wahrere und wichtigere Aufgabe haben, als das Gebot der Zeit - zu ändern, auch auf der abgestumpften, antisozialen Ebene des ungarischen Geisteslebens zu erfüllen. Gebot der Zeit - das ist, was die letzte Stunde zu sagen hat. Wenn die Änderung gebietende Gegenwartsforderung des Humanismus, 281

wenn die Stimmen und Gebote der so2ialen Verantwortung kein Gehör finden, dann wird die Menschheit morgen auf andere Kommandos und Tagesbefehle wieder mit mörderischen Waffen aufeinander losgehen, und 1934 wird wieder zu 1914 werden. Als wäre nichts geschehen, wird die Menschheit mit der Last ihrer unmöglichsten zwanzig Jahre auf den Schultern auf das Kommandowort des kapitalistischen Imperialismus benommen in einen neuen Krieg torkeln. Wir kommen aus einem Krieg, wir gehen in einen Krieg. Wenn sich nichts ändert, wenn nichts geschieht, beginnt morgen eine neue Barbarei. Ich bin daran nicht beteiligt. Nicht dies wollte ich. Und es gibt Millionen, aber Millionen, die daran nicht beteiligt sind, und Millionen, die es gleichfalls nicht wollen. Wo bleibt ihre Stimme, ihr Protest, ihre Abwehr, ihr Angriff? Gestern waren es zehn Millionen Leichen. Genügte das nicht? Wir haben fünfzig Millionen Arbeitslose: Spricht diese Zahl nicht verständlich genug? In den Toten liegt die erschütternde, in den ohnmächtig lebenden Millionen die explosive, ändernde Kraft. In ihnen, bei ihnen, für sie das Gebot der Zeit: ändern, ändern! Ich gebe nur mein besser sehendes Auge, mein besser klingendes Wort, damit sie sehen und reden können, damit sie erwachen, sich zusammentun und aufbrechen. Sie bedeuten Wirklichkeit, Prüfstein, Kraft, Sieg oder Niederlage des Gebotes der Zeit. Das Buch ist die Aussage der letzten Stunde: Es vereint die Lehren aus zwanzig Jahren, aber das Recht des letzten Wortes gebührt dem Proletariat. Morgen beginnt eine neue Barbarei. Sie - auf deren Kosten das bestialische Spiel des Faschismus geht - können daran nicht beteiligt sein. Und niemand kann daran beteiligt sein, der Verantwortung und Moral besitzt und sich des Menschseins bewußt ist. Ihre Stimmen und Taten ruft und erwartet Gebot der Zeit, weil es nur in ihnen und durch sie lebendige Wirklichkeit wird: eine Kraft, die das Schicksal wendet und die Wirklichkeit verändert, Stellungnahme und Urteil! 1934

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39 MIKLOS RADNOTI

Notizen über Form und Weltanschauung F o r m u n d W e l t a n s c h a u u n g . Weltanschauung kommt im wesentlichen immer in der Form zum Ausdruck, denn durch diese wird sie zur Realität. Da das Kunstwerk ein gesellschaftliches Produkt und die Weltanschauung mit der Gesellschaft organisch verbunden ist, vermag es natürlich diese Weltanschauung in seiner Erscheinungsform auszudrücken und tut dies auch. Durch die Aussage formen sie einander gegenseitig, ist doch dieses Formen auch erforderlich. R e v o l u t i o n ä r e W e l t a n s c h a u u n g . Weil hinter der Weltanschauung - im vorliegenden Fall hinter der revolutionären Weltanschauung - das revolutionäre Temperament des Schöpfers als natürliches Geleit steht, bildet dieses die Form, besser gesagt, kann es nur in der gegebenen, revolutionären Form zum Ausdruck gebracht werden. Und da die Sprache das Material der Dichtung darstellt, ist die revolutionäre Dichtung auch mit der revolutionären Formung der Sprache gleichbedeutend. Dazu ist jedoch ein handwerkliches Wissen erforderlich, d. h. eine Sprache, die in ihrer formenden Macht total beherrscht wird und als solche zum Materialproblem gereift ist. Ohnedies kann übrigens keinerlei Kunstwerk entstehen. S t o f f l i c h k e i t . Sie ist zugleich auch mit dem Prinzip der Stofflichkeit identisch. Dieses aber ist stets, so auch heute, mit dem Kampf identisch. Denn die Materie widersetzt sich. Es ist dies ein Kampf auf der Ebene der Gesellschaft wie auch - später stellt sich heraus, warum hier unterschieden werden muß - auf der Ebene der Kunst. Ja, auch auf der Ebene der Kunst. Und auf beiden Ebenen ist es eine Revolution! I c h l e s e G y ö r g y L u k a c s . Er sprach nicht in dieser Weise darüber, weiß aber dies alles und wußte es bereits vor zwanzig Jahren und schrieb über die Form folgendermaßen: „Das Wesen der Kunst ist es, die formalen Widerstände zu überwinden, das Joch der feindlichen Kräfte zu zerbrechen und aus allem Auseinanderstrebenden, aus dem bis dahin und darüber hinaus ewig tiefen Fremden eine Ein283

heit zu schaffen. Das Gestalten ist das letzte Urteil über die Dinge . . . Die Form - die maximalste Kraftentfaltung unter den gegebenen Möglichkeiten einer gegebenen Situation, dies ist die wirkliche Ethik der Formen." (Esztetika kultura, Athenaeum)1 K o m m e n t a r . So ist es. Und ist nicht derjenige schuldig, der zu dieser maximalen Kraftentfaltung nicht gewillt ist? Oder jener, der in seiner Arbeit dazu nicht fähig ist? Jener lege die Arbeit nieder, denn das Unvollkommene ist hier siebenfacher Frevel . . . d i e Form ist e i n d e u t i g und schließt a n d e r e Formen u n d N i c h t ge f o r m t e s a u s , d e n n d i e F o r m i s t d a s P r i n z i p , nach dem b e w e r t e t , u n t e r s c h i e d e n und O r d n u n g g e s c h a f f e n w i r d . - Es gibt nichts Wichtiges und nichts Unwichtiges. Und nichts ist hier einerlei. N o t w e n d i g k e i t . Es ist nicht uninteressant, sich hierüber Notizen zu machen, da die Mehrheit unserer sogenannten sozialistischen Dichter und Schriftsteller von der Sprache und ihren Möglichkeiten keine Ahnung hat, geschweige denn von dem mit ihr ausgefochtenen und a u s z u f e c h t e n d e n Kampf. Aus dem obigen geht klar hervor, daß es ohne diese Fähigkeiten bzw. den Kampf kein Kunstwerk gibt, alles vergebens ist. Noch immer achten jene in erster Linie darauf, w a s und nicht w i e das Kunstwerk etwas sagt. Und so verstehen sie sich als diejenigen, die m i t d e m S t o f f arbeiten. E r z i e h u n g d u r c h d i e F o r m . Da doch die Erscheinungsform der wahre Erzieher ist. Denn - wie erwähnt - ist diese nach unserer Interpretation die Verwirklichung, in ihr ist alles enthalten. Am besten und erfolgreichsten erzieht daher ihre höchste Stufe - die künstlerische Form. Um zu wiederholen: In dieser Form wird das revolutionäre Wesen der Kunst entschieden. Ja. Unter fünf Gedichten, die vom jeweiligen Verfasser nicht unterschrieben sind und von denen ein jedes angenommen i n h a l t l i c h von der Theiß berichtet - ein scheinbar neutrales Thema können wir mit voller Sicherheit den Text des revolutionären Dichters herausfinden. Wo liegt die Grundlage der Unterscheidung? Es ist gewiß, daß sie aus der Erscheinungsform resultiert, die den Anblick der Theiß faßt. Aus der Form und in der Gestaltung. Das Beispiel verlangt die dazu gehörende Konzipierung und die E r w ä h n u n g d e s I n h a l t e s . Denn m a n k a n n ja von derartigem n i c h t g e s o n d e r t s p r e c h e n . So284

wie die Theiß bei diesen angenommenen Gedichten eben nicht Inhalt, sondern die Basis ist, die das dichterische Erlebnis trägt und die die Verwirklichung des amorphen, lediglich geistig fertigen Erlebnisses möglich macht. D i e P e t ö f i s c h e E r l e b n i s g e s t a l t u n g . Die letzten drei Strophen des allgemein bekannten Petöfischen TAe//?-Gedichtesa wären weggefallen, hätte das Gedicht nicht Petöfi, der revolutionäre Dichter, geschrieben. Dieses und nicht das Gedicht Hängt die Fürsten auf!3 liefert den Beweis für den revolutionären Dichter. Es ist interessant und verständlich, daß einzelne Petöfi-Interpreten im Gedicht Die Theiß dort einen strukturellen Bruch feststellen, wo in die Beschreibung des friedlichen Flusses die Flut hereinexplodiert. Und sie schreiben dies der Petöfischen Maßlosigkeit zu. So kann man es auch nennen. Aber eine organische Maßlosigkeit. Und notwendig. So n u r konnte Petöfis Tbeiß-Gedicht enden. D i e F o r m v e r ä t es. Die Formung des revolutionären Künstlers betrifft auch seine revolutionäre Sprachhandhabung, wie könnte es auch anders sein I Und umgekehrt. Die Sprache verrät den Dichter. Untrüglich. Das benutzte Attribut zeigt es an. Denn dieses kann auch n i c h t-revolutionär sein. Und dann ist es um den revolutionären Inhalt geschehen, den es in diesem Fall n i c h t auszudrücken v e r m a g . Er kann nicht erziehen, oder wie man im allgemeinen sagt, er k a n n n i c h t wi r k e n. W i r k u n g . Ein revolutionärer Inhalt kann ohne revolutionäre Form nicht erziehen - nicht wirken. Oder nur scheinbar. Denn dort, wo wir von beiden getrennt sprechen können - es geschieht aus der Zwangsläufigkeit heraus, und oftmals müssen wir es tun - , dort geht es nicht um ein Kunstwerk, denn dessen organische Beschaffenheit schließt derartiges aus. Wir erwähnten dies. Ein sicheres Kriterium des k ü n s t l e r i s c h S c h l e c h t e n ist die sofort wahrnehmbare Dualität dieser beiden. Erziehen und wirken kann man aber nur durch ein Kunstwerk und durch nichts anderes. Ist ein Schriftwerk kein Kunstwerk, dann kann es nur Kitsch sein. Dieser jedoch wirkt, mag man entgegenhalten. Ja. Er wirkt, aber nur scheinbar. B e d ü r f n i s b e f r i e d i g u n g . Wovon ist da die Rede? Der Leser freut sich oberflächlich über seinen Lieblingsinhalt. Er freut sich träge und nimmt nicht wahr, daß dieser durch ihn hindurchgeht und 285

davon natürlich nichts zurückbleibt. Denn was hätte auch bleiben können? Ihm wurde ein längst bekannter Inhalt in einer alten Form, eben l a n g e B e k a n n t e s vorgesetzt. Daß kein Mißverständnis entsteht, wir gingen in diesen Ausführungen von der Ebene der Kunst aus und bleiben dort auch bis zum Ende. Die Parteiliteratur stellt ein anderes Problem dar, ihre Mittel und Ziele, auch ihre unmittelbaren Ziele sind andere und jene Erscheinungen, die wir hier negieren, können wir dort bejahen, bzw. wir billigen sie und umgekehrt. Doch worüber wir hier sprechen, ist ein Produkt, das sich als Kunst maskierte und a l s s o l c h e b e h a n d e l t w i r d . Um wieviel besser ist diese als die sogenannte bürgerliche Kunst, die die Bedürfnisse der kleinbürgerlichen Massen befriedigt? B e f r i e d i g e n . Ermißt man das Wort? Zu einer Zeit, da man erziehen müßte. Auch der bürgerliche Spielfilm befriedigt, wenn am Schluß der Herr Generaldirektor die arme, aber ehrbare Sekretärin zur Frau nimmt. Wo ist hier der Unterschied? Der sich aus dem Kino befriedigt entfernende Kleinbürger weiß, daß es Lüge war. Eben diese braucht er. Er bekam Opium; der Leser der obenerwähnten Literatur einen längst bekannten Inhalt in einer längst bekannten Form, er erhielt also nichts. Und das ist so bequem. D i e „ S t r a m m e " - S c h r i f t . Der linke Leser-Argot bezeichnet diese Schriften als s t r a m m . Und wenn wir achtgeben, dann wissen wir, daß die Arbeiten unserer besten sozialistischen Dichter und Schriftsteller n i c h t zu den „strammen" Schriften gehören. Was also ist solch eine Schrift? Die einfach und o f f e n h e r a u s die Dinge sagt. Auch der deutsche oder amerikanische Film amüsiert offenbar. Offen blödsinnig. K o m m u n i k a t i o n . Wenn eine Sprachgemeinschaft eine bürgerliche Literatur besitzt (doch, es gibt sie), dann muß die sozialistische Literatur deren Resultate zur Kenntnis nehmen, wie auch umgekehrt. (Siehe das wechselseitige Verhältnis von russischer und europäischer bürgerlicher Literatur; oder ein deutlicheres Beispiel: das Verhältnis von russischem und bürgerlichem Film.)4 Bei einem ideologisch richtig ausgerichteten Gedichtband werden d i c h t e r i s c h e Allgemeinplätze nicht dadurch wettgemacht, daß es seinem Wesen nach ideologisch richtig ist. Der Allgemeinplatz ist auch in diesem Fall schlecht. Der dichterische Allgemeinplatz ist natürlich auch ein geistiger und substantieller in einem, und das Kriterium des A I 1 g e 286

m e i n p l a t z e s ist es, daß den Dingen n i c h t s h i n z u g e f ü g t w i r d . Somit geht hier das Wesentliche verloren - die Erziehung. Z ü g e l s c h i e ß e n l a s s e n . Und der Allgemeinplatz bedeutet in geistigem Sinne immer auch ein Schießenlassen der Zügel. Ist es ein Wunder, daß die Pferde, sobald sie eine schwache Hand hinter sich spüren, häufig vom Kampf auf die staubige Straße des kleinbürgerlichen Sentimentalismus galoppieren? D i e F o r m i s t e i n d e u t i g . . . d i e F o r m u n t e r s c h e i d e t . . . - Die Zügel in feste Hände! E r n e u t l e s e i c h G y ö r g y L u k ä c s . Lange vor mehr als zwanzig Jahren schrieb er in seiner Studie die folgenden Zeilen: „ . . . und so wollen sie einerseits inmitten einer bürgerlichen Kultur bewußt proletarische Kunst schaffen - und bringen schwache und plumpe Karikaturen der bürgerlichen Kunst zustande; ebenso zerbrechlich und oberflächlich, nur ohne deren bestechende Feinheiten. Andererseits sind sie auch Ästheten. Und sie genießen dasselbe und genauso wie die Bürgerlichen; sie wissen ebenso, daß nur der 'Ausdruck' wichtig, das Thema nichts ist und auch bei ihnen ist die Sache des Geschmacks, der Anschauung und der Stimmung alles, ohne auch nur für eine Minute das Zentrum des Lebens zu berühren; vielleicht sogar noch besser, denn sie haben ein Lebensziel und ein Zentrum und erkennen doch nicht, daß dies etwas ist, das damit nichts zu tun hat, an ihnen nur irgendwie herumhängt."5 B e k e n n t n i s . Zweck dieser anspruchslosen Notizen ist kein anderer, als der Sache der sozialistischen Kultur zu dienen. Denn für diese Sache setzte der Verfasser dieser Zeilen ein Leben aufs Spiel, und dies ist keine sentimentale Zurschaustellung, sondern B e k e n n t n i s und V e r p f l i c h t u n g . Und er meint, dies taten auch jene, mit denen er sich hier auseinandersetzt, die er i m a l l g e m e i n e n k r i t i s i e r t . 6 Kritisiert, aber nicht angreift. Und er glaubt, daß die Diskussion aus redlicher schriftstellerischer Absicht nur Sonnenschein Bedeutet, der jene Kultur zur Reife bringt, die bei uns bedauerlicherweise nur Saat unter den stattlichen Bäumen des alten ruhmvollen, doch keineswegs mehr Knospen tragenden Urwaldes, der bürgerlichen Kultur, ist. 1934

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40 ATTILA JÖZSEF

Mitteilung der Redaktion Mein werter Herr,1 auf Ihre Vorwürfe, mit denen Sie uns in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Auflage der ersten Nummer der Zeitschrift Szep Szö beehrten, habe ich im folgenden die Ehre zu antworten : 1. Sie behaupten, daß es unsere Zielsetzung sei, Unglauben zu verbreiten. Sie irren, Sie sind der Ungläubige. Sie betonen, daß Sie katholisch sind. Also glauben Sie weder an den Buddhismus, an den Mohammedariismus, an den Protestantismus, an die heidnischen Mythologien noch an den Sozialismus und an die Naturwissenschaften. Sie glauben nicht an die Demokratie, und somit glauben Sie in Wirklichkeit auch nicht an die Autoritäten. Zudem glauben Sie, wie aus Ihrem Brief hervorgeht, ebenfalls nicht an die Vorstellungen jener Katholiken, die in Belgien, Deutschland, England und anderswo die Verwirklichung ihrer moralischen Absichten von einer ausgesprochen demokratischen und unserem „ungläubigen" Humanismus sehr ähnlichen gesellschaftlichen Umgestaltung erhoffen. Es würde kein Ende nehmen, wollte ich namentlich alles aufzählen, woran Sie nicht glauben. Ich dagegen bin ein gläubiger Mensch. Marx schreibt: Die Religion ist die Verwirklichung des menschlichen Wesens2 - in der Einbildung, da die Menschen in diesem irdischen Jammertal (dessen militärische Landkarte die Unterdrückung und Ausbeutung der Klassen, Völker, Rassen, Geschlechter und Generationen festhält) ihr wahres Wesen nicht entfalten können, und da sie dies nicht vermögen, können sie sich dessen auch nicht unmittelbar bewußt werden. Sehen Sie, in diesem „ungläubigen" Zustand vermag ich an alle Religionen, atich an die Ihrige zu glauben, ohne in Widerspruch zu mir selbst zu geraten und durch die Verachtung der Vernunft mich selbst und Sie geringzuschätzen. Denn Sie werden wohl zugeben, daß ich durch die Leugnung der Vernunft auch Sie schmähen würde, da Sie es ja für natürlich halten, daß Sie sich in vernünftigen Sätzen an mich wenden und ich Ihnen mit vernünftigen Sätzen antworte. Ich glaube, Sie fühlten sich beleidigt, wenn ich Sie kurzer Hand einen unverständigen Kerl nennen würde; warum wünschen Sie also, daß ich Sie mit philosophischen Termini technici zu einem unverständigen Kerl stempele? 288

2. Sie schreiben uns, mit Freuden hätten Sie einige Gedichte von mir gelesen, aus denen ein echtes Schuldbewußtsein spricht, und dennoch blieb ich ein Ungläubiger. Mein werter Herr, ich glaube an die Erbsünde, und deshalb bejahe ich den wissenschaftlichen Sozialismus. Denn es gibt zweierlei Schuld. Die eine gilt nur deshalb als Schuld, weil man dafür infolge einer besonderen Fürsorge der herrschenden irdischen Mächte bestraft wird. Das Kind weint, weil ihm der Bauch wehtut, folglich droht man ihm, es solle nicht fortwährend greinen. Die landlosen Bauern und Millionen Arbeitslose versuchen, da sie in unvorstellbarem Elend leben, sich zu organisieren, um ihr Los zu verbessern - also droht man ihnen, die Ordnung nicht zu stören. Verbrechen dieser Art können zum Beispiel sehr leicht dadurch beseitigt werden, indem man sie nicht bestraft. Gegen solche Verbrechen können und müssen wir kämpfen, und zwar durch Zusicherung von Straflosigkeit und institutionell sanktionierter Freiheit. Auf diese Weise bekämpfte die Menschheit im Verlaufe ihrer ganzen Geschichte derartige Verbrechen. Die Gesellschaft schaffte das Verbrechen der Sklaven- und Leibeigenenflucht dadurch ab, daß sie sie nicht mehr unter Strafe stellte und Sklaverei und Leibeigenschaft beseitigte. Eine andere Art Schuld ist jene, die der Mensch ungewollt auf sich lädt und die er auch dann bereut, wenn er dafür nicht bestraft wird. Das ist die Erbsünde. Vergehen an dem, den wir lieben. Solche Vergehen mit Nichtahndung zu bekämpfen genügt nicht, wir müssen sie ausdrücklich verzeihen. Sie nicht zu verzeihen, ist selbst schon ein Vergehen. In den Diktaturen und Gesellschaftsordnungen, die auf der Unterdrückung der Klassen und der Ausbeutung fremder Arbeitskraft beruhen, leiden die Menschen auch unter der Schuld des Nichtverzeihens. Dieser Schuld ist fürwahr nicht anders zu begegnen, als für eine Gesellschaftsordnung, Produktionsweise und für Verteilungsorganisationen zu kämpfen, die es den Menschen ermöglichen, einander leichter zu verzeihen. Es darf nicht vergessen werden, daß in Klassengesellschaften das Bewußtsein von Verbrechen, die nur auf Grund ihrer Ahndung als solche qualifiziert werden, als Erbsünde das Bewußtwerden jener Vergehen (wenn es überhaupt dazu kommt) verhindert, die sich gegen die Liebe richten und die Menschen zum Verzeihen unfähig und ungeeignet macht. 3. Sie begeistern sich für das Ideal der Ordnung, doch in Wirklichkeit haben Sie den Ständestaat im Sinn. Sie müßten jedoch wissen, da Sie über den Standpunkt der moralischen Freiheit meditieren, daß sich die Ordnung nur in Freiheit entfalten kann. Sie werfen mir ganz all19

Befunde

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gemein vor, daß ich die ewigen Ideale außer acht lasse. Auch diesen Irrtum muß ich richtigstellen. Sie sind es, der Sie die ewigen Ideale vergessen. Der Ständestaat ist fürwahr nicht die Verwirklichung der ewigen Ideale, da er mit den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen nicht viel gemein hat. Sie leben freilich in dem Glauben, daß diese Ideale lediglich Götzenbilder der französischen bürgerlichen Revolution seien, die die Vernunft zum Gott erhoben habe. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die höchsten Ideale des Christentums sind. Vor Gott sind alle frei und gleich, sind alle Brüder. D i e bürgerliche Revolution hat diese Ideale lediglich in Erdnähe gebracht, als sie zum Prinzip erhob, daß auch vor den Gesetzen des Staates alle Menschen frei, gleich und Brüder seien. Denken Sie daran, was ich eingangs sagte, daß nämlich die Religion die Verwirklichung des menschlichen Wesens in der Einbildung sei. Ich, ein „ungläubiger Materialist", bemühe mich darum, daß dieses Wesen, diese Ideale, wenn nicht anders, so doch Stufe um Stufe in unserem Alltagsleben verwirklicht werden, damit sie zum Führungsprinzip zum Beispiel in der Verwaltung und in der Produktionsweise werden. Und wenn Sie das Privateigentum, namentlich das an Produktionsmitteln, als von Gott gegeben ansehen, dann muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß gerade die Abschaffung des Privateigentums auf göttlichen Ursprung verweist. D i e ganze Geschichte der Menschheit ist in Wirklichkeit ein Prozeß der Beseitigung von Privateigentum, bildeten doch dereinst die Kinder und die Mutter der Kinder gleichermaßen den Privatbesitz des Vaters. 4. Zum Schluß beanstanden Sie den Titel unserer Zeitschrift. Szep szö 3 ist in Ihren Augen ein Ausdruck, der unsere Gedanken „im Zeitalter der moralischen Erneuerung" zu einem Spiel „herabsetzt". Ich verstehe nicht, wieso das Spiel, die Freude des Kindes, etwas Minderwertiges sein soll. Ich fühle mich in glücklichen Augenblicken wie ein Kind, und mein Herz ist froh, wenn ich bei meiner Arbeit etwas Spielerisches entdecke. Vor Menschen, die sich auf das Spielen nicht verstehen, habe ich Angst, und ich werde stets dafür eintreten, daß die Lust am Spiel unter den Menschen nicht erlahme und die beengenden Lebensbedingungen, die die Spielfreude und die Möglichkeit des Spiels unterbinden, beseitigt werden. In der Atmosphäre der Diktaturen ist es gang und gäbe, alle diejenigen Erscheinungen des geistigen Humanismus als „schönes Wort" zu schmähen, die infolge eines unermeßlichen Leids und Kraftaufwands entstanden sind und uns als 290

die Prinzipien unserer Kultur vorschweben. W i r dagegen, die wir mit einem schönen W o r t jenes menschliche Selbstbewußtsein ausdrücken wollen, das von der weltweit auftretenden G e w a l t auf den Grund der Seile verdrängt wird, dürfen die geistige Überlegenheit der G e w a l t nicht dadurch anerkennen, d a ß wir vor dem von ihr verhöhnten schönen W o r t fliehen. W i r nehmen die Schmähung auf uns. „Schönes W o r t " stellt auf Ungarisch keinen aufgeputzten Ausdruck dar, sondern bedeutet ein verkörpertes A r g u m e n t . D a s schöne W o r t ist nicht nur ein Werkzeug für uns, sondern auch unser Ziel. Unser Ziel ist jene gesellschaftliche und staatliche Lebensform, in der das schöne W o r t , die Überzeugung, die gegenseitige Anerkennung und Diskussion der menschlichen Interessen, das Wissen, aufeinander angewiesen zu sein, Gültigkeit besitzen. M i t unserem Auftreten, unseren Schriften und G e danken, mit unserem Glauben, der sich auf die Vernunft beruft, versuchen wir, den Anspruch auf E i n h e i t der Menschen erneut zum L e ben zu erwecken, einen fortgeschritteneren Anspruch auf eine entwikkeltere Einheit als früher, die moderne Freiheit, die sich zu disziplinieren und Ordnung zu schaffen weiß. Haben Sie D a n k dafür, d a ß Sie mir die Gelegenheit boten, all dies zu sagen. 1936

41 BÉLA M. POGANY

Der umbewertete Realismus Auch das literarische und geistige Leben Frankreichs wurde erdstoßartig vom K a m p f der gesellschaftlichen und ökonomischen K r ä f t e erschüttert, und im Zusammenhang damit traten außerordentlich bedeutsame Fragen in den Vordergrund des Interesses. Polemiken setzten ein, die das gesamte System der literarischen Ästhetik, der Kritik und des schriftstellerischen Schaffens einer grundlegenden Revision unterziehen. D i e fortschrittlich gesinnte Gruppe der hervorragendsten modernen französischen Schriftsteller brach mit ihrer früheren l'art-pourl'art-artigen Richtung wie mit den eigenen schriftstellerischen Traditionen und schloß sich der politischen Bewegung der Einheitsfront an 19*

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die Prinzipien unserer Kultur vorschweben. W i r dagegen, die wir mit einem schönen W o r t jenes menschliche Selbstbewußtsein ausdrücken wollen, das von der weltweit auftretenden G e w a l t auf den Grund der Seile verdrängt wird, dürfen die geistige Überlegenheit der G e w a l t nicht dadurch anerkennen, d a ß wir vor dem von ihr verhöhnten schönen W o r t fliehen. W i r nehmen die Schmähung auf uns. „Schönes W o r t " stellt auf Ungarisch keinen aufgeputzten Ausdruck dar, sondern bedeutet ein verkörpertes A r g u m e n t . D a s schöne W o r t ist nicht nur ein Werkzeug für uns, sondern auch unser Ziel. Unser Ziel ist jene gesellschaftliche und staatliche Lebensform, in der das schöne W o r t , die Überzeugung, die gegenseitige Anerkennung und Diskussion der menschlichen Interessen, das Wissen, aufeinander angewiesen zu sein, Gültigkeit besitzen. M i t unserem Auftreten, unseren Schriften und G e danken, mit unserem Glauben, der sich auf die Vernunft beruft, versuchen wir, den Anspruch auf E i n h e i t der Menschen erneut zum L e ben zu erwecken, einen fortgeschritteneren Anspruch auf eine entwikkeltere Einheit als früher, die moderne Freiheit, die sich zu disziplinieren und Ordnung zu schaffen weiß. Haben Sie D a n k dafür, d a ß Sie mir die Gelegenheit boten, all dies zu sagen. 1936

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Der umbewertete Realismus Auch das literarische und geistige Leben Frankreichs wurde erdstoßartig vom K a m p f der gesellschaftlichen und ökonomischen K r ä f t e erschüttert, und im Zusammenhang damit traten außerordentlich bedeutsame Fragen in den Vordergrund des Interesses. Polemiken setzten ein, die das gesamte System der literarischen Ästhetik, der Kritik und des schriftstellerischen Schaffens einer grundlegenden Revision unterziehen. D i e fortschrittlich gesinnte Gruppe der hervorragendsten modernen französischen Schriftsteller brach mit ihrer früheren l'art-pourl'art-artigen Richtung wie mit den eigenen schriftstellerischen Traditionen und schloß sich der politischen Bewegung der Einheitsfront an 19*

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und schrieb die Losung des sozialistischen Realismus auf ihr Banner. Eine Kostprobe dieser literarischen Polemiken gab Gondolat, als in Heft 3 dieses Jahrgangs A r a g o n s ausgezeichnete Studie Realismus in der Romanliteratur1 veröffentlicht wurde, und man sich zugleich das Ziel setzte, die Abgründe zu beleuchten, die die Literatur vom Leben trennen. Die aufstrebende Lebensanschauung In der „modernen" Romanproduktion bedeutet der Realismus nicht nur eine literarische Strömung, sondern auch die jeweilige Lebensanschauung der aufstrebenden Klassen. Jene Variante des Realismus, an die wir denken, wenn wir von ihm sprechen, ging aus den bürgerlichen Bewegungen hervor, die in der Französischen Revolution ihre Erfüllung fanden. Als literarischer Stil läßt sich der Realismus der Erfindung einer Maschine mit großer Zukunft, der Erfindung eines neuen Produktionsmittels gleichsetzen, das mehr als fünfzig Jahre lang nicht verstanden und jahrzehntelang, ja sogar anderthalb Jahrhunderte hindurch mit romantischen Elementen vermengt wurde und das, wie die Prinzipien und Institutionen seiner Eltern, der Französischen Revolution und der Demokratie, auf keine Weise von diesen feudalistischen Traditionen gesäubert werden konnte. Der Realismus vermochte sich also weder auf seine eigenen Beine zu stellen noch zu seinem eigenen Wesen vorzudringen, und eben deshalb konnte er auch sein wichtigstes Ziel nicht verwirklichen. Anfangs entwickelte er sich als künstlerische Ideologie längst nicht so rasch wie das Bürgertum, er hinkte hinter diesem nur her, und später, als er es einholte, behinderte ihn im weiteren Vorankommen die Interessenausrichtung der typisch kapitalistischen Kultur selbst und ließ ihn zu einem mißgestalteten Ungeheuer verkümmern. Der Realismus ist im Grunde eine Methode oder zumindest ein Verfahren der literarischen Darstellung, die dem Leser unter Verwendung von Details und Fakten aus der Wirklichkeit die Menschen, das Leben, das erzählte Thema oder die erzählte Geschichte vorstellt; und die Überzeugungskraft des Schriftstellers ist um so größer, je lebendiger und realistischer er dadurch die dargestellte Welt zu gestalten vermag.

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Der Realismus auf der Waage Der Realismus war - im weiteren Sinne - die ideologische Widerspiegelung der Lebens- und Wirklichkeitsbejahung der an die Herrschaft gelangten bürgerlichen Schicht. Durch die revolutionäre Inbesitznahme der politischen Macht wurde diese gegen einen feudalistischen Adels- und Priesterstand verwirklicht, der unterdrückte, die Güter besaß und genoß, sich aber auf theologische, d. h. außerhalb der Wirklichkeit angesiedelte Ideale berief. Also ist es ganz natürlich, als zum Beispiel in Frankreich (wo die gesellschaftlichen und ideologischen Kämpfe immer ungemein klar zum Ausdruck kamen) an den realistischen Kunstrichtungen Kritik geübt wurde, daß die Kritiken und Angriffe stets von den reaktionären Brennpunkten, von Elementen ausgingen, die politisch und ökonomisch der um die Macht gebrachten Klasse zuneigten und mit ideologischen Waffen, durch Schmähung der geistigen Produkte des Bürgertums, diesem zu schaden suchten sowie dessen Glaubwürdigkeit angriffen und damit den Boden für den Sturz der an der Macht befindlichen bürgerlichen Klasse und die Rückgewinnung des Besitzes und der Macht vorbereiteten. Als sich jedoch mit der Entwicklung des kapitalistischen Systems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch innerhalb der bürgerlichen Klasse eine aristokratisierte großbürgerliche Führungsschicht herausbildete - die die unzufriedenen kleinbürgerlichen, dem Proletariat ähnlichen Massen zunehmend als Gegner betrachtete - , verbündete sich die neue bürgerliche Aristokratie zum Schutz der gemeinsamen Interessen mit den reaktionären Elementen. Gegen die realistischen Bestrebungen unterstützte sie die aus der Theologie hervorgegangene, idealistische philosophische Weltanschauung und operierte mit einer idealistischen Wertskala. Der Unterschied besteht also nur in folgendem: Während die reaktionären Foren namens religionsmoralischer Prinzipien und des vornehm-feinen Geschmackes gegen die schonungslose Darstellung des Realismus protestieren, taten dies die führenden Geister der herrschenden Klassen im Namen der Ästhetik, von l'art pour l'art, des Formenkultes. Sie wollten sie bereits in der Vergangenheit die tiefe Wirkung der antikatholischen Ideen R e n a n s , der positivistischen A u g u s t e C o m t e s und der materialistischen Ideen T a i n e s kompensieren, obwohl doch ihr Ziel - wie die dem Abgrund zutreibenden Bewegungen des Boulangismus und des Falles Dreyfus zeigten - einfach im Sturz der französischen Republik bestand. Doch die Republik widerstand dem Attentat, lediglich 293

der literarische Realismus erlitt seitens der „bekehrten" Schriftsteller 2 eine vorübergehende Niederlage. D i e Angriffe auf den Realismus dauern bis zum heutigen Tage an, und wer die Literaturkritik auch heute noch zu lesen pflegt und die aus ihr erhellenden Bewertungen verfolgt, bemerkt, daß unter der Losung „weg von der Wirklichkeit" im Namen verlogener, irrationaler, in nebulöse Formen gehüllter Normen, die den Geruch nach Ketzer- und Bücherverbrennung nicht loswerden können, ein ständiger K a m p f gegen den Realismus im Gange ist. D a m i t wir uns recht verstehen, wir verteidigen nicht den Realismus. D i e Sache des Realismus ist so, wie sie uns die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts als E r b e hinterließ, in der T a t gescheitert. Würden der reaktionäre Geist und die verbündete l'art poür l'art wenigstens mit solchen Argumenten streiten, die am Platze sind, und an Punkten angreifen, die tatsächlich die Schwächen des Realismus waren, könnten wir uns in einzelnen Dingen vielleicht sógar einigen. Doch der Realismus wurde nicht durch ihre heiligen Und unverletzlichen magischen Dogmen zur Strecke gebracht. D e r Realismus behauptete in der Aufstiegs-, der sogenannten Blütezeit des Kapitalismus, fest seine Position. Diese Zeit wurde, besonders seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, von sich zunehmend vertiefenden Krisen des Kapitalismus abgelöst und die imperialistischen Kriege warfen ihre Schatten voraus. In dieser Periode floh das Bürgertum vor der Wirklichkeit in die Einsamkeit des Elfenbeinturmes, wo es verantwortungslos alle jene Fragen durchgeistigen konnte, denen es nicht ins Auge zu schauen wagte, und dies zog notwendigerweise den Sturz des Realismus nach sich. D a s wenigste, was die Gegner des Realismus tun konnten, war, den Realismus oberflächlich mit dem Naturalismus zu identifizieren, um ihm die bewährten, sicher wirkenden Anschuldigungen verpassen zu können, mit denen sie vorher schon dem Naturalismus zugesetzt hatten. Obwohl auch der Naturalismus Realismus ist - und zwar ein degenerierter, übertriebener Realismus - , ist das Bemühen der reaktionären Kritik und l'art-pour-l'art-Richtung, die Irrtümer, Übertreibungen und Mängel des Naturalismus dem Realismus in die Schuhe zu schieben, ungerecht und tendenziös. Diesen fortschrittlichen Realismus auch heute noch anzugreifen, ist so, als wenn ein Esel nach einem altersschwachen Löwen schlägt. Doch alle Heimtücke ist vergebens : Ohne Realismus ist der Roman ebenso unvorstellbar wie die Natur und das Leben selbst ohne Wirklichkeit undenkbar sind.

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Die Wirklichkeit ira Zerrspiegel des

Individualismus

Der allgemeine geistige Individualismus, der parallel zum ökonomischen Individualismus des 19. Jahrhunderts vorankam, verlegte sich auch auf die Kunst der realistischen Lebensdarstellung. Allerdings trifft es zu, daß Philosophen, Schriftsteller und Künstler, jeder auf seine Weise, die vom emporstrebenden Bürgertum neuerlich entdeckte Wirklichkeit verarbeiteten, diesen verbotenen Baum, von dessen Früchten im Feudalismus nichts gegessen werden durfte. Das Mittelalter hatte die Wirklichkeit als nicht existierend, als Schattenwelt deklariert und nur im Himmelreich zu forschen erlaubt. D a n t e gab eine so genaue und reale Beschreibung der Hölle und der ihr angeschlossenen Teile, daß sich eine Karte anfertigen ließe. Der herandämmernde Realismus des 19. Jahrhunderts suchte noch stolpernd nach seinem Weg. Eine Zeitlang reproduzierte er mit befreiter, verspielter Kindlichkeit die Wirklichkeit und verschloß sich hochmütig vor allem, was nicht sichtbar ist. „Die innere Welt interessiert mich nicht", 3 erklärte Théophile G a u t i e r. Später waren F l a u b e r t und seine Anhänger bestrebt, diese sichtbare Welt möglichst genau, präzise und musikalisch zu veranschaulichen. Z o l a und seinen Anhängern begann allmählich zu dämmern, daß es bei der Darstellung der Realität auch organische Zusammenhänge zwischen den Dingen gibt, aber trotz aller „wissenschaftlicher" Anstrengungen konnten sie diesen Zusammenhängen nicht näherkommen, weil sie unheilbare I n d i v i d u a l i s t e n waren. Warum war dies ein Hindernis? Das 19. Jahrhundert dachte noch immer mit den Begriffen des philosophischen Idealismus. Das „Ich" und das „Nicht-Ich", also die inrere und die äußere Welt, faßte es als zwei selbständige Einheiten auf, für jede legte es eigene souveräne Gesetze fest. Das „Ich" und die Außenwelt waren einander fremd, füreinander undurchdringbar und sogar feindlich. Das Individuum war in der Ordnung der erschaffenen Dinge ein gar nicht berücksichtbarer kleiner Punkt, ein Gras- oder Schilfhalm, doch - wie P a s c a l sagte - „dachte" 4 dieser Schilfhalm und machte sich auf der Grundlage des Descartesschen Gedankens zum Mittelpunkt der äußeren Welt. 5 Im 19. Jahrhundert ging der Keim des Descartesschen Individualismus auf und erlebte seine Blütezeit. Die Wirklichkeit existierte in den Augen des kontemplativen „Ich" nur in dem Maße, wie das „Ich" sie zur Kenntnis nahm. Sie hing von der Willkür des „Ich" ab. Das „Ich" glaubte - auf Grund D e s c a r t e s ' - mit dem auf die

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Rechtschaffenheit Gottes gesetzten Optimismus, daß die Dinge so sind, wie sie der Schöpfer durch die Sinnesorgane wahrnehmen läßt, was auch immer die Kantsche Theorie über das geruchlose „Ding an sich" in dieser Hinsicht behauptet. Auf literarischer Ebene bekannte sogar der extreme Naturalismus, daß die Wirklichkeit die Filtrierung der Natur durch das individuelle Temperament sei. Kurz, die Wirklichkeit gelangte letztlich dahin, daß sie nur subjektiv existierte. Die gewaltigen Verfehlungen dieser Auffassung sind noch in der literarischen Produktion unserer Tage reichlich anzutreffen. M a r c e 11 B e n e d e k bezeichnet diese individualistische Bewertung der Wirklichkeit, d. h. den Realismus des 19. Jahrhunderts, in seiner Geschichte der Weltliteratur6 mit Recht als romantisch. Letzten Endes war das tatsächlich kein Realismus. Für das „Ich" war die Wirklichkeit nur Vorwand, sich selbst darzustellen, während die Wirklichkeit verlorenging und der Realismus zu einem gewaltigen Irrtum wurde. Aller Nutzen dieses Irrtums wanderte natürlich in die Taschen der besitzenden Klasse, denn während die Kontemplativen und „Wirklichkeitsdarsteller" in der Gefängniszelle ihres eigenen „Ich" schmorten, konnte sich die kapitalistische Macht unbehelligt der Welt auf den Kopf setzen, auf ihm festwachsen und ihn wie Unkraut überwuchern, wobei sie eine auffällige Ähnlichkeit zum mittelalterlichen Lehnsystem an den Tag legte, als während der naiven Andacht derer, die in den Himmel starrten, die Nüchternen sich die schönen Latifundien der irdischen Landschaften aneigneten. Die moralische Reaktion, die zur Zeit des Falles Dreyfus mit dem Sturmlauf der „bekehrten" Schriftsteller den auf Irrwege geratenen Realismus hinwegfegen wollte, blieb trotz ihrer klerikalen Ziele realistisch, nur führte der bisherige, auf die äußere Welt gerichtete Realismus nun sein Scheinleben in den Innengebieten der Psyche weiter. Schriftsteller und Intellektuelle hielten ihre eigenen Ideen und Gedankenassoziationen für ausschließlich real, während sich die tatsächliche, „spröde" materielle Wirklichkeit vor ihren Augen zu fernem Nebel zerfaserte. „Die äußere Welt interessiert mich nicht" (er hätte hinzusetzen können: „Weil sie nicht meine ist"), erklärte nun B a r r é s , der Verfasser des Romans Der Ich-Kult elegant. (Und wer das glaubte, konnte Augenzeuge werden, wie sich wie durch einen Zauber B a r r é s ' aristokratisches „Ich" in der Trilogie Roman der nationalen Kraft in einen Chauvinisten und Kriegshetzer umwandelte.) Doch allmählich schwand auch vom psychoanalytischen Roman das ihm auferzwungene moralische Weltbild, und er trat einen revo-

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lutionären Eroberungsweg an. Wenn er auch eine gewisse Betonung auf die Wirkung der determinierenden gesellschaftlichen Bedingungen legte, so führte er im wesentlichen doch zu einem Überhandnehmen des individualistischen Kultes der Geschlechtlichkeit und machte die Libido zum Mittelpunkt der Welt. Mit P r o u s t und J o y c e gelangte dieser nach innen projizierte Realismus schließlich an die Grenzstation seiner Möglichkeiten. Der durch die bürgerliche Betrachtung auf einen Irrweg geratene Realismus zerfiel; die Betrachtung selbst wurde wirr und verwaschen und erstickte im Chaos. Heute kann man sie nur noch durch Injektionen für eine Weile am Leben erhalten.

Die objektive

Wirklichkeit

Aber es entstand der wahre Realismus, und dieser konnte nichts anderes sein als die dialektische Darstellung der von den aufgeblasenen „Ich"-Filtriergeräten gesäuberten objektiven Realität. Von der Wirklichkeit wurde die durch die Ich-Betrachtung aufgetragene Glasur abgewaschen, blätterte die individualistische Verpackung ab. Es handelt sich um die Entdeckung jener Wirklichkeit, die mehr als einhundertfünfzig Jahre lang nur durch den Schleier des „Ich" gesehen werden durfte, und zwar durch den Schleier eines „Ich", das auf der Grundlage seiner bürgerlichen Klassensituation und -interessiertheit bewertete, sei es nun mit bewußten oder aber unbewußten Maßen und Begriffen. Die bürgerliche Ideologie war in der Anfangsperiode ihrer Entwicklung wirklich fortschrittlich, heute aber will sie weder etwas von geschichtlicher Entwicklung noch von historischer Notwendigkeit wissen. Sie grenzt die sich mittlerweile angesammelten Kräfte des Fortschritts mit allen Mitteln ein, notfalls mit Stahlreifen, nur um sie zurückzudrängen. So wurde sie dann im Laufe der Entwicklung reaktionär, aus ökonomischer Sicht ebenso wie aus politischer und kultureller. Ihre historische Betrachtung wurde verknöchert, degeneriert und deformiert. Doch Träger der historischen Entwicklung ist sie nun nicht mehr. Unter den Stahlreifen erstarkt mit schwellenden Gliedmaßen bereits die gewaltige Klasse der Werktätigen als würdiger Erbe der Kultur, und ihre Wirklichkeitsbetrachtung, ihr Verhältnis zur Wirklichkeit unterscheiden sich fundamental von denen der herrschenden Klasse. Ihre Ideologie ermöglicht es ihr, die gesellschaftliche Wirklichkeit richtig und in genauen Konturen zu sehen. Ihre Ideologie ist der dia-

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lektische Materialismus, und dieser erschließt ihr das System der Elemente der Wirklichkeit, die Wehen der dynamischen Kräfte des Lebens, die Zusammenhänge von Wirkungen und Gegenwirkungen, die Veränderung der sich durch die Gegensätze bewegenden gesellschaftlichen Tatsachen, die Entwicklung zu neuen und aber neuen Stationen hin sowie den ewigen Prozeß des Lebens und die glühende Kette der Zusammenhänge, in der für Wunder kein Platz bleibt. Sie ist sich über ihre historische Mission im klaren und will mit bewußtem Klassenbestreben die erstarrten, hemmenden Formen des Lebens verändern, das sich weiterentwickelt und in ewiger Fortbewegung voranschreitet. Auch diese Formen sind historische Produkte, das stimmt, seinerzeit erschaffen durch zerstörerische und zugleich schöpferische Kräfte, um den damals aufbegehrenden und um Erfüllung ringenden gesellschaftlichen Kräften als freierer Aktionsrahmen zu dienen. In den enger gewordenen Rahmen aber drängt sich in Aufruhr die hundertfach auferstehende, in Ketten geschlagene neue Klasse, Millionen Münder rufen nach wahrer Freiheit, Arbeit und Brot, und Millionen Willen tun sich zu einem Willen zusammen, um Lebensformen zu schaffen, in denen sie für möglichst viele Menschen möglichst großen Wohlstand verwirklichen können. W a s , w e n n n i c h t d i e s , i s t d i e W i r k l i c h k e i t ? Und in dieser Wirklichkeit sind das materielle objektive Element unseres Seins wie das in ihm rumorende, kreisende subjektive Element in dialektischer Einheit vorhanden, die das Proletariat als jene Klasse, die die triumphale Zukunft bedeutet und den Prozeß der Entwicklung trägt, in sich birgt. Als die bürgerliche Ästhetik die Werke der ersten sozialistischen S hriftsteller mit dem Wort „Tendenz" brandmarkte und als unkünstlerisch bewertete, ließen sich - wie G e o r g L u k a c s i n einer Studie ausführt - die sozialistischen Schriftsteller aus absichtlicher und unbeugsamer Opposition und aus Trotz die Anschuldigung der „Tendenz" gefallen. Die bürgerlichen Ästhetiker hatten nicht recht, und die sozialistischen Schriftsteller gingen einen falschen praktischen und theoretischen Weg. In den Augen der ersteren nämlich „erscheint als 'tendenzmäßig' jenes Schriftwerk, dessen Klassengrundlage und Klassenziel der herrschenden Richtung - klassenmäßig - feindlich ist", stellt György Lukacs fest; in deren Augen also „'die eigene Tendenz' keine 'Tendenz', nur die gegnerische" eine ist.7 Doch da sich l'artpour-l'art-Schriftsteller scheinbar der Tendenz enthielten Und eine „reine Kunst" verkündeten und schufen, entstand im Grunde „eine tendenziös zurechtgemachte Wirklichkeitsschilderung, also 'Tendenz298

literatur' im schlechtesten Sinne des Wortes". 8 D a s bedeutet, wenn aus dem künstlerischen Produkt durch Befolgung verzwickter ästhetischer Gebote alle echte Wirklichkeit ausgerottet und unter dem trügerischen Vorwand des Schönheitskultes die Kunst zwecklos und damit unschädlich gemacht wird, dann kann die Klasse, zu deren bloßer Ergötzung die Kunst produziert wird, nur den Schutz ihrer materiellen Interessen wirksam entwickeln, indem sie die Kunst interessenlos macht. Denn sie stumpft die Spitze der Kunst, dieser gewaltigen Waffe, ab, und vermeint, mit Leichtigkeit der ihr gegenüberstehenden Klasse das Mittel entwinden zu können, mit dem ihr Gegner sie so gefährlich am Besitz der Güter stört. E s ist zu verstehen, daß sie mit Händen und Füßen dagegen protestierte und noch immer protestiert, daß die Kunst nach der wahren Wirklichkeit greift, und es ist auch verständlich, daß sie ihre handgreiflichsten Interessen verteidigte, als sie die „Reinheit" der Kunst forderte. Die „reine Literatur" ist in Wirklichkeit die übelste Tendenz-Literatur. D i e sozialistischen Schriftsteller und Künstler der Anfangsperiode stellten indessen den bewußten oder unbewußten Tendenzen der bürgerlichen Schriftsteller ihre „Tendenz" zu starr entgegen. Denn die Tendenz betont anstelle der Wirklichkeitsdarstellung mit ihrer Absichtlichkeit eigentlich ein ausgedachtes „Ideal", eine äußere Anforderung. D e r Wirklichkeit kann man nur nahe kommen, wenn man von ihr ausgeht. Nur der proletarische Schriftsteller, der die Methode des dialektischen Materialismus richtig anwendet sowie die objektive ökonomische Entwicklung und die in ihr wirkenden subjektiven Kräfte klar erkennt, kann in seiner Gestaltung die objektive Realität mit „ihren wirklichen treibenden Kräften, mit ihren wirklichen Entwicklungstendenzen" darstellen, nur er vermag auch die Rolle des Proletariats, dessen Aktivität auf eine Änderung der objektiven Umstände gerichtet ist, am zutreffendsten „in der objektiven ökonomisch-historischen Entwicklung" zu erfassen und darzustellen. In seinem Schaffen bedarf es also keiner äußeren Umstände, „denn seine Wirklichkeitsgestaltung selbst muß das Schicksal jener Forderungen, die konkret und real aus dem Klassenkampf herauswachsen, als integrierende Momente der objektiven Wirklichkeit, in ihrer Entstehung aus ihr, in ihrer Wirkung auf sie mitenthalten". 9 Und es versteht sich von selbst, daß diese Kunst der „Darstellung und Gestaltung" der Wirklichkeit beim Schriftsteller ein möglichst bewußtes Bekenntnis zu den Klassenbestrebungen des Proletariats voraussetzt.

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Uart pour l'art und neuer

Realismus

Also die künstlerische Darstellung und Gestaltung der von der bürgerlichen Ich-Betrachtung unabhängigen Wirklichkeit veranlaßt den schöpferischen Künstler nicht, sich seiner Individualität zu entledigen und die Eigenschaften in sich abzutöten, die den Schriftsteller zum Schriftsteller machen. A r a g o n betrachtet beispielsweise die Fiktion, also das Engagement als ein unentbehrliches Gestaltungselement, das die Tatsachen der Wirklichkeit durchleuchtet. Der schriftstellerischen Phantasie droht keine Gefahr, zum schöpferischen Tun werden sämtliche schriftstellerische Qualitäten benötigt. Nur muß man sich über die aus den Klassensituationen resultierenden bestimmenden Bedingungen im klaren sein, durch die selbst jene Fähigkeit schicksalhaft geformt wird, wie jemand die Wirklichkeit sieht. Die Weltanschauung des in bloße Ich-Betrachtung versunkenen Schriftstellers kann nichts anderes sein als eine individualistische Vision. Das Interesse seiner Klasse aber verlangt, daß auch der Schriftsteller die über die Güter verfügende Machtkonstellation als endgültig betrachtet, jene Entwicklungsstufe, die das Bürgertum erreicht hat und als etwas Unveränderliches stabilisiert sowie aus Klassenkonservativismus heraus möglichst keinerlei Veränderung zuläßt. Die Wirklichkeit verwandelt sich in ein unverletzliches Tabu, nach dessen Ursache, Art, Zweck und Beschaffenheit zu forschen an ein Sakrileg grenzt. L'art-pour-l'artKunst ist noch eine direkte Folge und Waffe dieser Anschauung. P l e c h a n o w untersucht in seiner Studie Die Kunst und das gesellschaftliche Leben die gesellschaftlichen Aspekte von rart-pour-l'artLiteratur und stellt fest, daß für die Kunst der französischen Dichtergruppe der Parnassisten und später auch für die Kunst F l a u b e r t s das „Suchen nach Ziellosigkeit" charakteristisch ist. Das Bekenntnis zu diesem Gedanken ist jedoch nichts anderes als „Rebellion der Kunst gegen den engen Utilitarismus (das Nützlichkeitsprinzip) der herrschenden Klasse beziehungsweise der herrschenden Ordnung", doch zugleich weist er nach, daß l'art-pour-l'art-Verfechter trotz aller Bürgerverachtung keine Neigung zeigten, diese kurzsichtige und an Klasseninteressen haftende Ordnung zu verändern. 10 Wir können hinzufügen: Wenn auch l'art-pour-I'art-Kunst anfänglich wenigstens teilweise eine Rebellion der Dichter gegen die Denkungsart ihrer eigenen Klasse war, so hat doch rart-pour-l'art-Kunst, die sich bis in das 20. Jahrhundert herüberzog, diesen rebellischen Charakter völlig verloren und in den verschiedenen Varianten der Unterhal-

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tungsbelletristik dem bürgerlichen Hang zur Bequemlichkeit Handlangerdienste geleistet. Dies war der beste Vorwand, um die unerbittliche Darstellung der Wirklichkeit zu vereinen, von der schon S t e n d h a l , der Vorläufer des Realismus, wußte, daß „sie viele nicht lieben". Denn die herrschende Klasse ist nicht nur Urheber der abschrekkenden Fakten der Wirklichkeit, sie scheut sich auch, sie in der Kunst zu betrachten. Sie protestiert sogar gegen den literarischen Pessimismus, weil sie in ihm eine Drohung der ins Elend getriebenen Menschheit wittert. So wurden der Optimismus, das Grinsen des k e e p s m i 1 i n g und das beschwichtigende Happy-End obligatorisch. So wagt l'art-pour-l'art-Schreibkunst auch im besten Fall, in ihren modernsten und kühnsten Leistungen nicht, über die Darstellung psychischer Abnormitäten, von Marotten, Verirrungen, Geistes- und Nervenkrankheiten hinauszugehen. In der bürgerlichen Ordnung sind unter dem Druck der herrschenden Interessen die meisten Institutionen, Erfindungen, Prinzipien und Ideale und auch die Kunst von ihrer ursprünglichen Berufung weggedrängt worden. D i e Entwicklung ist über l'art-pour-l'art-Kunst, die die Wirklichkeit in verzerrtem und verändertem Sinn widerspiegelt, hinweggegangen. D i e Wiedergeburt des literarischen Realismus vollzog sich mit Hilfe jener Anschauung, durch die der Individualismus seine richtungweisende Macht verloren und sich das Problem der von der individuellen Bewertung abhängig gemachten Wirklichkeit so umgekehrt hat, daß in den Mittelpunkt des Lebens an die Stelle des mikrokosmischen Individuums das Kollektiv trat, das die Wirklichkeit je nach individuellem Temperament objektiv spiegelt. D a s führt zu jener Stellungnahme, die „das Erkennen des Gesamtprozesses ermöglicht, der die zusammengefaßte Totalität ihrer wirklichen Triebkräfte, die ständige, gesteigerte Reproduktion der ihre Grundlage bildenden dialektischen Gegensätze ist". 1 1 Jene Kunstrichtung, die sich bereits so weit entwickelt hat, daß sie die ideologisch geläuterte Wirklichkeit wiedergibt, ist d e r n e u e R e a l i s m u s 1 2 , und dieser bedeutet - im Gegensatz zum individualistischen Realismus - in erster Linie einen gesellschaftlichen Realismus. Nach einem ausgezeichneten Kritiker dieser Frage unterscheidet er sich „darin vom einfachen Realismus, daß er die Darstellung aller vielfach komplizierten 'Relationen' und 'Verbindungen' des großen historischen Prozesses der Gegenwart in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Zum anderen beschränkt sich der sozialistische Realismus nicht auf die einfache Feststellung des Vorhandenen, son301

dern er führt, indem er den Faden der Entwicklung der Gegenwart aufgreift, in die Zukunft, und zwar aktiv." Und noch ausdrucksvoller definiert er ihn, wenn er sagt, daß „der sozialistische Realismus eine Methode des dichterischen Schaffens ist, ein Stil, der sich sowohl in seinen einzelnen Zügen als auch im Inhalt der Gegenstände der dichterischen Darstellung vom bürgerlichen Realismus unterscheidet". Um diese literarische Strömung bewußtzumachen, wurden die Schriftstellerkongresse der letzten Jahre veranstaltet, die alle jene Schriftsteller in einem Lager zusammenführten, die ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit begriffen haben, daß sich die von Verbrennungen bedrohte Literatur und Kultur in Gefahr befindet, und zwar die Literatur und die Kultur, die an der unerbittlichen Aufdeckung der Wirklichkeit wirken. 1 ' 5 D i e Schriftsteller, die sich zu den Prinzipien des neuen Realismus bekennen, haben mehr oder weniger die Kräfte der historischen Entwicklung erkannt, die zum einen die Schriftsteller der herrschenden bürgerlichen Klasse zum Spielzeug dieser Klasse degradiert haben und zum anderen „die Ingenieure der Seele" 1 4 zur vollen Verwirklichung ihrer Berufung ermuntern, wenn sie die Bestrebungen der aufstrebenden Arbeiterklasse und der Bauernschaft als ihre eigenen betrachten und mit dem Schreiben als aktivem Tun „zur objektiven Veränderung der äußeren Wirklichkeit" beitragen. Daran dachte auch G i d e , als er erklärte: „Die Liebe zur Kultur läßt uns sagen: Solange unsere Gesellschaft bleibt, wie sie ist, wird es unser oberstes Anliegen sein, sie zu verändern." Und auch B a r b u s s e riet, die Schriftsteller und Geistesarbeiter sollten sich „mit den großen Massen der Werktätigen vereinigen", wenn sie die Kultur verteidigen wollten. P a n f e r o w fordert im Namen des gesellschaftlichen Realismus vom Schriftsteller, er solle „die volle Wahrheit des Lebens ausdrücken und sich nicht davor fürchten, denn diese Wahrheit des Lebens steht auf der Seite des sozialistischen Realismus". 1 "' Auch die durch den sozialistischen Realismus geschaffenen Werke befassen sich mit dem Menschen und dem Leben, und zwar in der Vielschichtigkeit der Gefühle, der Leidenschaften und Handlungen. Sie sind bestrebt, diesen vielschichtigen Inhalt in die ihm gemäße vielschichtige Form zu bringen und in gegenseitiger Durchdringung und dialektischer Einheit aufzubauen, und zwar so, daß nicht der Mensch als ein herausgerissener „Mensch an sich" wirklichkeitsfremd neuerschaffen wird, sondern sich die Autoren in die mit der Wirklichkeit konkret übereinstimmenden historischen Perspektiven mit ein-

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flechten; also mit ihren von ihrer Klasse abhängigen Möglichkeiten, den Tausenden Zusammenhängen ihrer Situation im Leben, die sowohl ihre gefühlsmäßige als auch ihre gedankliche Tätigkeit determinieren, und mit allen aktiven Sehnsüchten, die aus den kollektiven Wurzeln resultieren und die auf die Wirklichkeit zurückwirken. Elend und Reichtum, Leid und Liebe, Kampf um Sein und Wohlergehen, jedes Wort, jeder Kuß, jede Träne und jede Geste erhalten erst dank der schöpferischen Phantasie des neuen realistischen Künstlers die wahre, wirkliche Bedeutung, von denen der Künstler, der kapitalistischen Interessen dient, nichts weiß, und wenn er von ihnen weiß, zittert er am stärksten. Das ist eine ziemlich elastische Methode, und ihre Zielsetzungen sollten alle fortschrittlich denkenden schöpferischen Künstler beherzigen. 1936

42 G E O R G - LUKACS

Es gebt um den Realismus Zu ihrer Zeit hat die revolutionäre Bourgeoisie einen heftigen Kampf für die Sache ihrer Klasse geführt, mit allen Mitteln, auch mit dem der schönen Literatur. Was hat die Reste der Ritterschaft zum allgemeinen Gelächter gemacht? Cervantes' „Don Quichotte". Der „Don Quichotte" war die stärkste W a f f e in den Händen der Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen den Feudalismus, gegen die Aristokratie. D a s revolutionäre Proletariat braucht wenigstens einen einzigen kleinen Cervantes (Heiterkeit), der ihm eine ebensolche Waffe geben könnte. (Heiterkeit, Beifall.) G. Dimitroff Rede auf dem antifaschistischen Abend im Moskauer Haus der Schriftsteller

Die Expressionismusdebatte der Zeitschrift Das Wort1 bietet für den verspäteten Teilnehmer eine gewisse Schwierigkeit; viele haben den Expressionismus leidenschaftlich verteidigt. In dem Augenblick aber, als man konkret sagen sollte, wer nun der vorbildliche expressionistische Schriftsteller sei, ja, wer überhaupt verdiene, Expressionist ge303

flechten; also mit ihren von ihrer Klasse abhängigen Möglichkeiten, den Tausenden Zusammenhängen ihrer Situation im Leben, die sowohl ihre gefühlsmäßige als auch ihre gedankliche Tätigkeit determinieren, und mit allen aktiven Sehnsüchten, die aus den kollektiven Wurzeln resultieren und die auf die Wirklichkeit zurückwirken. Elend und Reichtum, Leid und Liebe, Kampf um Sein und Wohlergehen, jedes Wort, jeder Kuß, jede Träne und jede Geste erhalten erst dank der schöpferischen Phantasie des neuen realistischen Künstlers die wahre, wirkliche Bedeutung, von denen der Künstler, der kapitalistischen Interessen dient, nichts weiß, und wenn er von ihnen weiß, zittert er am stärksten. Das ist eine ziemlich elastische Methode, und ihre Zielsetzungen sollten alle fortschrittlich denkenden schöpferischen Künstler beherzigen. 1936

42 G E O R G - LUKACS

Es gebt um den Realismus Zu ihrer Zeit hat die revolutionäre Bourgeoisie einen heftigen Kampf für die Sache ihrer Klasse geführt, mit allen Mitteln, auch mit dem der schönen Literatur. Was hat die Reste der Ritterschaft zum allgemeinen Gelächter gemacht? Cervantes' „Don Quichotte". Der „Don Quichotte" war die stärkste W a f f e in den Händen der Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen den Feudalismus, gegen die Aristokratie. D a s revolutionäre Proletariat braucht wenigstens einen einzigen kleinen Cervantes (Heiterkeit), der ihm eine ebensolche Waffe geben könnte. (Heiterkeit, Beifall.) G. Dimitroff Rede auf dem antifaschistischen Abend im Moskauer Haus der Schriftsteller

Die Expressionismusdebatte der Zeitschrift Das Wort1 bietet für den verspäteten Teilnehmer eine gewisse Schwierigkeit; viele haben den Expressionismus leidenschaftlich verteidigt. In dem Augenblick aber, als man konkret sagen sollte, wer nun der vorbildliche expressionistische Schriftsteller sei, ja, wer überhaupt verdiene, Expressionist ge303

nannt zu werden, gingen die Meinungen so schroff auseinander, daß es keinen einzigen nicht umstrittenen Namen mehr gibt. Man fragt sich zuweilen sogar - gerade beim Lesen der leidenschaftlichen Verteidigungsreden ob es denn überhaupt Expressionisten gab. D a wir hier nicht über die Bewertung einzelner Schriftsteller, sondern um Prinzipien in der Entwicklung der Literatur streiten werden, ist die Entscheidung dieser Frage für uns nicht allzu wichtig. Für die Literaturgeschichte gibt es zweifellos einen Expressionismus als Richtung, mit seinen Dichtern und seinen Kritikern. Ich werde mich in den folgenden Bemerkungen auf die prinzipiellen Probleme beschränken. I Zuerst eine kleine Vorfrage: Handelt es sich hier um den Gegensatz von moderner Literatur und Klassik (oder gar Klassizismus), was einzelne Schriftsteller besonders dann hervorheben, wenn sie meine kritische Tätigkeit zum Gegenstand ihrer Angriffe machen? Ich glaube, diese Fragestellung ist von Grund auf unrichtig. Dahinter steckt eine Gleichstellung der Kunst der Gegenwart mit der Entwicklung bestimmter literarischer Richtungen, die von dem sich auflösenden Naturalismus und Impressionismus über den Expressionismus zum Surrealismus führt. Wenn solche Autoren über moderne Kunst sprechen, so erscheinen als Vertreter der modernen Kunst ausschließlich Vertreter der obengenannten Entwicklungslinie. Wir wollen vorerst kein Werturteil fällen. Wir fragen nur: stimmt diese Theorie als Grundlage zur Geschichte der Literatur unserer Zeit? Jedenfalls gibt es auch eine andere Auffassung. Die Entwicklung der Literatur ist, besonders im Kapitalismus, besonders zur Zeit seiner Krise - ungemein kompliziert. Grob und vereinfacht ausgesprochen, kann man aber doch innerhalb der Literatur unserer Zeit drei große Kreise unterscheiden, die sich natürlich in der Entwicklung einzelner Schriftsteller oft überschneiden: erstens die teils offen antirealistische, teils pseudorealistische Literatur der Verteidigung und Apologetik des bestehenden Systems, über die wir hier nicht sprechen werden. Zweitens die Literatur der sogenannten Avantgarde (über wirkliche Avantgarde später) vom Naturalismus bis zum Surrealismus. Was ist ihre Grundtendenz? Hier können wir, vorwegnehmend, nur soviel sagen: Die Haupttendenz ist eine immer stärkere Entfernung vom Realismus, eine immer energischere Liquidierung des Realismus. Drittens die Literatur der bedeutenden Realisten dieser

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Periode. Diese Schriftsteller sind in den meisten Fällen literarisch auf sich gestellt; sie schwimmen gegen den Strom der Literaturentwicklung, und zwar gegen den Strom der beiden obengenannten Gruppen der Literatur. Zur vorläufigen Bezeichnung dieses zeitgenössischen Realismus genügt es, wenn ich die Namen Gorki, Thomas und Heinrich Mann, Romain Rolland nenne. In den Diskussionsartikeln, die leidenschaftlich die Rechte der modernen Kunst gegen die Anmaßung der angeblichen Klassizisten verteidigen, werden diese Gipfelgestalten unserer heutigen Literatur nicht einmal erwähnt. Sie existieren für die „avantgardistische" Geschichtsschreibung und Beurteilung der heutigen Literatur nicht. In dem interessanten, gedanken- und materialreichen Buch Ernst Blochs, Erbschaft dieser Zeit,2 wird, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, der Name Thomas Mann bloß einmal genannt; der Verfasser spricht über seine (und Wassermanns) „soignierte Bürgerlichkeit", womit für ihn dieses Problem erledigt ist. Durch solche Auffassungen wird die ganze Debatte auf den Kopf gestellt. Es ist höchste Zeit, sie wieder auf die Füße zu stellen und' das Beste der heutigen Literatur gegen seine verständnislosen Verächter zu verteidigen. Der Streit geht also nicht um Klassik contra Moderne, sondern um die Frage, welche Schriftsteller, welche literarischen Richtungen den Fortschritt in der heutigen Literatur vertreten. Es geht um den Realismus. II Es wird mir besonders von Ernst Bloch vorgeworfen, daß ich mich in meinem Aufsatz über Größe und Verfall des Expressionismus3 allzu viel mit den Theoretikern dieser Richtung beschäftigte. E r wird mir vielleicht verzeihen, wenn ich diesen „Fehler" auch diesmal wiederhole und nun seine kritischen Bemerkungen über die moderne Literatur zum Gegenstand einer Untersuchung mache. Denn ich glaube nicht, daß die theoretischen Formulierungen von künstlerischen Tendenzen unwichtig sind - auch wenn sie theoretisch Unrichtiges aussagen. Gerade in solchen Fällen sprechen sie sonst sorgsam verdeckte „Geheimnisse" der Richtung aus. Und da Bloch ein Theoretiker ganz anderen Kalibers ist, als Picard und Pinthus es zu ihrer Zeit gewesen; sind, ist es verständlich, daß ich seine Theorien etwas eingehender behandle. Bloch richtet seinen Angriff gegen meine Auffassung der „Totali20

Befunde

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tät". (Ich lasse die Frage beiseite, wie weit er meine Auffassung richtig auslegt. Es handelt sich nicht um die Frage, ob ich recht habe oder ob Bloch mich richtig versteht, sondern um die Sache.) Er sieht das feindliche Prinzip in dem „unzerfallenen objektiven Realismus, der der Klassik eignet". Ich setze, nach Bloch, „überall eine geschlossen zusammenhängende Wirklichkeit voraus . . . Ob das Realität ist, steht zur Frage; wenn sie es ist, dann sind allerdings die expressionistischen Zerbrechungs- und Interpolationsversuche, ebenso die neueren Intermittierungs- und Montageversuche leeres Spiel." 4 Bloch sieht nun in dieser zusammenhängenden Wirklichkeit nur ein Überbleibsel der Systeme des klassischen Idealismus in meinem Denken und stellt seine eigene Auffassung folgendermaßen dar: „Vielleicht ist eine echte Wirklichkeit auch Unterbrechung. Weil Lukacs einen objektivistisch-geschlossenen Realitätsbegriff hat, darum wendet er sich bei Gelegenheit des Expressionismus gegen jeden künstlerischen Versuch, ein Weltbild zu Zerfällen (auch wenn das Weltbild das des Kapitalismus ist). Darum sieht er in einer Kunst, die Zersetzungen des Oberflächenzusammenhanges auswertet und Neues in den Hohlräumen zu entdecken versucht, selbst nur subjektivistische Zersetzung; darum setzt er das Experiment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls gleich." Hier liegt eine geschlossene, bis aufs Weltanschauliche zurückgehende theoretische Begründung der modernen Kunstentwicklung vor. Bloch hat vollständig recht: Bei einer grundlegenden theoretischen Aussprache über diese Fragen „müßten alle Probleme der dialektischmaterialistischen Abbildlehre zur Sprache kommen". Dazu ist hier der Ort nicht, obwohl ich persönlich eine solche Diskussion außerordentlich begrüßen würde. Für unser jetzt zu behandelndes Problem geht es um eine viel einfachere Frage. Nämlich um die, ob der „geschlossene Zusammenhang", die „Totalität" des kapitalistischen Systems, der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Einheit von Wirtschaft und Ideologie objektiv, unabhängig vom Bewußtsein, in der Wirklichkeit ein Ganzes bildet. Unter Marxisten - und Bloch hat sich in seinem letzten Buch energisch zum Marxismus bekannt - dürfte darüber kein Streit sein. Marx sagt: „Die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes." 5 Wir müssen hier das Wort „jeder" unterstreichen, denn Bloch bestreitet gerade in bezug auf den Kapitalismus unserer Zeit diese „Totalität". Der Gegensatz zwischen uns scheint also zwar unmittelbar, formell, kein philosophischer zu sein, sondern ein Gegensatz in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Auffas306

sung des Kapitalismus selbst; da jedoch die Philosophie eine gedankliche Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, folgen daraus auch philosophisch wichtige Gegensätze. Selbstverständlich ist der zitierte Satz von Marx historisch zu verstehen, das heißt: Die Totalität der Ökonomie ist selbst etwas historisch Wandelbares. Aber diese Wandlungen bestehen wesentlich in der Ausbreitung und Verstärkung des objektiven Zusammenhanges zwischen allen einzelnen ökonomischen Erscheinungen, also darin, daß die „Totalität" immer übergreifender und inhalterfüllter wird. Besteht doch nach Marx die entscheidende historisch fortschrittliche Rolle des Kapitalismus gerade darin, den Weltmarkt auszubilden, wodurch die ganze Weltwirtschaft zu einem objektiv zusammenhängenden Ganzen wird. c Die primitiven Wirtschaften erzeugen eine geschlossen aussehende Oberfläche; man denke etwa an ein urkommunistisches Dorf oder auch an eine frühmittelalterliche Stadt. Diese „Geschlossenheit" beruht aber gerade darauf, daß ein solches Wirtschaftsgebiet mit sehr wenigen Fäden an seine weitere Umgebung, an die Gesamtentwicklung der menschlichen Gesellschaft geknüpft ist. Im Kapitalismus dagegen verselbständigen sich die Momente, die Teile der Wirtschaft in einer bis dahin noch nicht vorhandenen Weise (man denke nur an die Verselbständigung des Handels, des Geldes im Kapitalismus, die sich sogar bis zur Möglichkeit von Geldkrisen, die aus der Geldzirkulation entspringen, steigerte). Die Oberfläche des Kapitalismus sieht infolge der objektiven Struktur dieses Wirtschaftssystems „zerrissen" aus, sie besteht aus sich objektiv notwendig verselbständigenden Momenten. Das muß sich natürlich im Bewußtsein der Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, also auch im Bewußtsein der Dichter und Denker, spiegeln. Die Verselbständigung der Teilmomente ist mithin eine objektive Tatsache der kapitalistischen Wirtschaft. Sie bildet jedoch nur einen Teil, nur ein Moment des Gesamtvorganges. Und die Einheit, die Totalität, der objektive Zusammenhang aller Teile trotz der objektiv vorhandenen und notwendigen Verselbständigung äußert sich am prägnantesten gerade in der Krise. Marx analysiert den dialektischen Zusammenhang dieser notwendigen Verselbständigung der Momente: „Da sie nun doch zusammengehören, so kann die Verselbständigung der zusammengehörigen Momente nur gewaltsam erscheinen, als zerstörender Prozeß. Es ist gerade die K r i s e , worin ihre Einheit sich betätigt, die Einheit des Unterschiedenen. Die Selbständigkeit, die die zueinander gehörigen und sich ergänzenden Mo20»

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mente gegeneinander annehmen, wird gewaltsam vernichtet. D i e Krise manifestiert also die Einheit der gegeneinander verselbständigten Momente." 7 Das sind die grundlegenden objektiven Momente der „Totalität" des gesellschaftlichen Zusammenhanges im Kapitalismus. Und jeder Marxist weiß, daß die grundlegenden ökonomischen Kategorien des Kapitalismus sich in den Köpfen der Menschen unmittelbar stets verkehrt spiegeln. D a s heißt in unserem Fall soviel, daß die in der Unmittelbarkeit des kapitalistischen Lebens befangenen Menschen zur Zeit des sogenannten normalen Funktionierens des Kapitalismus (Etappe der verselbständigten Momente) eine Einheit erleben und denken, zur Zeit der Krise (Herstellung der Einheit der verselbständigten Momente) jedoch das Erlebnis der Zerrissenheit haben. Infolge der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems verfestigt sich dieses letztere Erlebnis für längere Zeiten in sehr breiten Kreisen derer, die sich zu den Erscheinungen des Kapitalismus bloß unmittelbar erlebend verhalten. III Was hat das alles mit Literatur zu tun? Für eine expressionistische oder surrealistische Theorie, die die B e ziehung der Literatur zur objektiven Wirklichkeit leugnet, gar nichts; für eine marxistische Theorie der Literatur sehr viel. Wenn die Literatur tatsächlich eine besondere Form der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist, so kommt es für sie sehr darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist, und sich nicht darauf zu beschränken, das wiederzugeben, was unmittelbar erscheint. Strebt der Schriftsteller nach einer Erfassung und Darstellung der Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist, das heißt: Ist er wirklich ein Realist, so spielt das Problem der objektiven Totalität der Wirklichkeit eine entscheidende Rolle - ganz einerlei, wie sie vom Schriftsteller gedanklich formuliert wird. Lenin hat die praktische Bedeutung der Totalitätskategorie wiederholt energisch in den Vordergrund gestellt : „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und 'Vermittlungen' erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, aber die F o r d e r u n g d e r A l l s e i t i g k e i t wird uns vor Fehlern und Erstarrung bewahren." 8 (Hervorhebung von mir. G . L.) Die literarische Praxis jedes wirklichen Realisten zeigt die Wichtig-

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keit des objektiven gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und die zu seiner Bewältigung notwendige „Forderung der Allseitigkeit". Die Tiefe der Gestaltung, die Breite und die Dauer der Wirksamkeit eines realistischen Schriftstellers hängt weitgehend davon ab, wie weit er - gestalterisch - sich darüber im klaren ist, was eine von ihm dargestellte Erscheinung wirklich vorstellt. Diese Auffassung von der Beziehung des bedeutenden Schriftstellers zur Wirklichkeit schließt keineswegs - wie Bloch meint - die Erkenntnis aus, daß die Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit „Zersetzungen" zeigt und sich dementsprechend im Bewußtsein der Menschen spiegelt. Wie we J nig ich dieses Moment der Wirklichkeitsauffassung außer acht gelassen habe, zeigt das Motto meines alten Aufsatzes über den Expressionismus. Das als Motto gesetzte Zitat aus Lenin beginnt wie folgt: „. . . das Unwesentliche, Scheinbare, an der Oberfläche Befindliche verschwindet öfter, hält nicht so 'dicht', sitzt nicht so 'fest' wie das 'Wesen'." 9 Es kommt aber nicht nur auf die Anerkennung der Existenz dieses Moments des Gesamtzusammenhanges an, sondern auch - und heute vor allem - darauf, dieses Moment als Moment des Gesamtzusammenhanges zu erkennen und es nicht gedanklich und gefühlsmäßig zur alleinigen Wirklichkeit aufzubauschen. Es geht also um die Erkenntnis der richtigen dialektischen Einheit von Erscheinung und Wesen, d. h. um eine künstlerisch gestaltete, nacherlebbare Darstellung der „Oberfläche", die gestaltend, ohne von außen herangetragenen Kommentar, den Zusammenhang von Wesen und Erscheinung, denn wir halten die bei politisch linksstehenden Surrealisten sehr beliebte „Einmontierung" von Thesen in Wirklichkeitsfetzen, die mit ihnen innerlich nichts zu tun haben, im Gegensatz zu Bloch nicht für eine künstlerische Lösung dieses Problems. Man vergleiche einmal die „soignierte Bürgerlichkeit" Thomas Manns mit dem Surrealismus von Joyce. Im Bewußtsein der Helden beider sind jene Zerrissenheit, jene Diskontinuität, jene Unterbrechungen und „Hohlräume" gestaltet, die Bloch sehr richtig als bezeichnend für den Bewußtseinszustand vieler Menschen in der imperialistischen Periode empfindet. Blochs Fehler liegt nur darin, daß er diesen Bewußtseinszustand unmittelbar und vorbehaltlos' mit der Wirklichkeit selbst, das in diesem Bewußtsein vorhandene Bild in seiner ganzen Verzerrtheit mit der Sache selbst identifiziert, statt durch Vergleich des Bildes mit der Wirklichkeit das Wesen, die Ursachen, die Vermittlungen des verzerrten Bildes konkret aufzudecken.

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Auf diese Weise macht Bloch theoretisch dasselbe, was die Expressionisten und Surrealisten künstlerisch machen. Sehen wir nun die Darstellungsweise von Joyce an. D a m i t dessen Bild in den Augen des Lesers nicht durch mein ablehnendes Verhalten in eine falsche Beleuchtung gerate, führe ich an, was Bloch selbst über ihn sagt: ein Mund ohne Ich ist hier mitten im fließenden Trieb, ja, darunter, trinkt ihn, lallt ihn, packt ihn aus. Völlig folgt die Sprache diesem Zerfall nach, sie ist nicht fertig und schon gebildet, gar genormt, sondern offen und verwirrt. Was sonst in Zeiten der Ermüdung, in Pausen des Gesprächs oder bei träumerischen, auch fahrigen Menschen spricht, sich verspricht, wortspielt: hier ist es außer Rand und Band. D i e Worte sind arbeitslos geworden, aus ihrem Sinnverhältnis entlassen, bald geht die Sprache wie ein zerschnittener Wurm, bald schließt sie zusammen wie bewegtes Trickbild, bald hängt sie wie Schnürboden in die Handlung hinein." 1 0 Das ist die Beschreibung, und nun die endgültige Bewertung: „Eine taube Nuß und der unerhörteste Ausverkauf zugleich; eine Beliebigkeit aus lauter zerknüllten Zetteln, Affengeschwätz, Aalknäueln, Fragmenten aus Nichts, und der Versuch zugleich, Scholastik im Chaos zu gründen; . . . Hoch-, Breit-, Tief-, Querstapelei aus verlorener Heimat; ohne Wege, mit lauter Wegen, ohne Ziele,mit lauter Zielen. Montage vermag jetzt viel, leicht beieinander wohnten früher nur die Gedanken, jetzt auch die Sachen, wenigstens im Überschwemmungsgebiet, im phantastischen Urwald der Leere." 1 1 W i r mußten dieses lange Zitat anführen, weil die surrealistische Montage in Blochs historischer Einschätzung des Expressionismus eine sehr wichtige, ja entscheidende Rolle spielt. An einer früheren Stelle seines Buches unterscheidet auch er, wie alle Verteidiger des Expressionismus, zwischen dessen oberflächlichen und dessen echten Vertretern. Und die Bestrebungen des echten Expressionismus leben nach Bloch weiter. E r sagt: „Aber auch heute noch ist kein großes Talent ohne expressionistische Herkunft, mindestens ohne deren höchstgesprenkelte, höchstgewittrige Nachwirkung. D e n letzten 'Expressionismus' stellten die sogenannten Surrealisten; eine kleine Gruppe nur, aber wieder ist Avantgarde bei ihnen und: Surrealismus ist erst recht - Montage . . . sie ist die Beschreibung des Durcheinanders der E r lebniswirklichkeit mit eingestürzten Sphären und Zäsuren." 1 2 Hier erkennt der Leser deutlich, was der Verteidiger des Expressionismus Bloch als die Linie der Literaturentwicklung unserer Zeit ansieht, wie bewußt er alle bedeutenden Realisten der Periode aus der Literatur

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geradezu ausschließt. Thomas Mann verzeihe mir, daß ich ihn in diesem Zusammenhang als Gegenbeispiel heranziehe. Man stelle sich Tonio Kröger oder Christian Buddenbrook oder die Hauptgestalten des Zauberberg vor. Man stelle sich weiter vor, sie wären, wie Bloch fordert, rein aus ihrem Bewußtsein und nicht im Gegensatz zu einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit gestaltet. Es ist klar, daß sie in ihrem Bewußtsein so, wie es unmittelbar ist, so, wie ihr Denken sich vollzieht, in einer Weise vor uns stehen würden, die an „Zerrissenheit der Oberfläche" derjenigen von Joyce nichts nachgeben würde; man würde in ihr ebenso viele „Hohlräume" finden wie bei Joyce. Man sage nicht, daß diese Werke vor jener Krise entstanden sind die objektive Krise etwa in Christian Buddenbrook führt zu einer tieferen Zerrissenheit der Seele als bei den Helden von Joyce. Und der Zauberberg ist mit dem Expressionismus gleichzeitig. Wenn also Thomas Mann bei den unmittelbar genommenen, photographierten und dann zusammenmontierten Gedanken- und Erlebnisfetzen dieser Menschen stehengeblieben wäre, so hätte er leicht ein ebenso „künstlerisch fortschrittliches" Gemälde geschaffen, wie es der von Bloch bewunderte Joyce tut. Warum bleibt Thomas Mann bei so modernen Themen künstlerisch doch „altmodisch", „herkömmlich", warum gibt er sich nicht „avantgardistisch"? Eben weil er ein wirklicher Realist ist, was in diesem Fall zuallererst so viel bedeutet, daß er - als gestaltender Künstler genau weiß, wer Christian Buddenbrook, wer Tonio Kröger, wer Hans Castorp, Settembrini oder Naphta ist. Er braucht es nicht im Sinne einer abstrakt-wissenschaftlichen sozialen Analyse zu wissen: hier mag er sich irren, so wie vor ihm auch Balzac, Dickens oder Leo Tolstoi geirrt haben - er weiß es aber im Sinne des schaffenden Realisten; er weiß, wie Denken und Empfinden aus dem gesellschaftlichen Sein herauswachsen, wie Erlebnisse und Empfindungen Teile eines Gesamtkomplexes der Wirklichkeit sind. Dabei zeigt er als Realist, wohin dieser Teil im Gesamtkomplex des Lebens gehört, woher er aus dem gesellschaftlichen Leben kommt, wohin er geht usw. Wenn also Thomas Mann Tonio Kröger nicht nur als einen „verirrten Bürger" b e z e i c h n e t , sondern g e s t a l t e n d z e i g t , wie und warum er ein „verirrter Bürger" i s t , trotz seines unmittelbaren Gegensatzes zum Bürgertum, trotz seiner Heimatlosigkeit im bürgerlichen Leben, trotz seiner Ausgeschlossenheit aus dem Leben der Bürger, ja gerade darum - so hat er sich nicht nur gestalterisch, 311

sondern auch im Verständnis für die Entwicklung der Gesellschaft turmhoch über jene „Ultraradikalen" erhoben, die sich einbilden, daß ihre antibürgerlichen Stimmungen, ihre - oft bloß ästhetische - Ablehnung des kleinbürgerlichen Muffs, ihre Verachtung der Plüschmöbel oder der Pseudorenaissance in der Architektur sie bereits objektiv zu unversöhnlichen Feinden der bürgerlichen Gesellschaft gemacht hätten. IV Die einander rasch ablösenden modernen literarischen Richtungen der imperialistischen Periode vom Naturalismus bis zum Surrealismus gleichen einander darin, daß sie die Wirklichkeit so nehmen, wie sie dem Schriftsteller und seinen Gestalten unmittelbar erscheint. Diese unmittelbare Erscheinungsform wechselt im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Und zwar sowohl objektiv wie subjektiv, je nachdem, wie die von uns bereits geschilderten objektiven Erscheinungsformen der kapitalistischen Wirklichkeit wechseln, und je nachdem, wie Klassenumschichtung und Klassenkampf verschiedene Widerspiegelungen dieser Oberfläche hervorbringen. Dieser Wechsel bedingt vor allem das rasche Sichablösen und das erbitterte Sichbekämpfen der verschiedenen Richtungen. Aber sie bleiben alle, gedanklich wie gefühlsmäßig, bei dieser ihrer Unmittelbarkeit stehen, graben nicht nach dem Wesen, das heißt nach dem wirklichen Zusammenhang ihrer Erlebnisse mit dem wirklichen Leben der Gesellschaft, nach den verborgenen Ursachen, die diese Erlebnisse objektiv hervorbringen, nach jenen Vermittlungen, die diese Erlebnisse mit der objektiven Wirklichkeit der Gesellschaft verbinden. Sie schaffen im Gegenteil mehr oder weniger bewußt - gerade aus dieser Unmittelbarkeit heraus spontan ihren künstlerischen Stil. Der Gegensatz aller modernen Richtungen zu den in dieser Zeit spärlich vorhandenen Überlieferungen der alten Literatur und Literaturtheorie gipfelt zugleich in einem leidenschaftlichen Protest gegen die Anmaßung einer Kritik, die ihnen angeblich „verbietet", so zu schreiben, „wie ihnen der Schnabel gewachsen ist". Die Vertreter dieser verschiedenen Richtungen übersehen dabei, daß die wirkliche Freiheit, die Freiheit von den reaktionären Vorurteilen der imperialistischen Periode (und zwar nicht nur auf künstlerischem Gebiet) auf dem Boden der Spontaneität, des Befangenbleibens in der Unmittelbarkeit, niemals erreicht werden kann. Denn die spontane Entwick312

lung des imperialistischen Kapitalismus produziert und reproduziert ununterbrochen gerade diese reaktionären Vorurteile auf immer höherer Stufe (gar nicht zu sprechen davon, daß die imperialistische Bourgeoisie diesen Reproduktionsvorgang bewußt fördert). Und es gehört eine harte Arbeit, ein Verlassen und Überwinden der Unmittelbarkeit, ein Wägen und Messen aller subjektiven Erlebnisse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit - sowohl des Inhalts wie der Form dieser Erlebnisse ein tieferes Erforschen der Wirklichkeit dazu, um die reaktionären Beeinflussungen der imperialistischen Umwelt in den eigenen Erlebnissen zu entdecken und kritisch über sie hinauszugehen. Diese harte Arbeit haben die bedeutenden Realisten unserer Zeit künstlerisch, weltanschaulich und politisch ununterbrochen getan und tun sie heute noch. Man vergegenwärtige sich nur die Entwicklung Romain Rollands, Thomas Manns und Heinrich Manns. So verschieden diese Entwicklungen in jeder Hinsicht voneinander sind - dieser Zug ist ihnen allen gemeinsam. Wenn wir das Stehenbleiben auf dem Niveau der Unmittelbarkeit bei den verschiedenen modernen Richtungen feststellen, so wollen wir damit die künstlerische Arbeit, die die ernsten Schriftsteller vom Naturalismus bis zum Surrealismus geleistet haben, nicht leugnen. Sie haben ja aus ihren Erlebnissen einen Stil, eine folgerecht durchgeführte, oft artistisch reizvolle und interessante Ausdrucksweise geschaffen. Aber diese ganze Arbeit erhebt sich, wenn man ihre Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Auge faßt, weder weltanschaulich noch künstlerisch über das Niveau der Unmittelbarkeit. Und darum ist der künstlerische Ausdruck, der hier entsteht, abstrakt, eingleisig. (Es ist dabei vollständig gleichgültig, ob eine die betreffende Richtung begleitende ästhetische Theorie für oder gegen die „Abstraktion" in der Kunst ist. Seit dem Expressionismus wird übrigens die Abstraktion immer stärker auch theoretisch betont.) Es gibt vielleicht Leser, die jetzt meinen, daß in unseren Darlegungen ein Widerspruch vorliege; es scheint, als ob Unmittelbarkeit und Abstraktion einander vollständig ausschließen. Es ist aber eine der größten gedanklichen Errungenschaften der dialektischen Methode schon bei Hegel daß sie die innere Zusammengehörigkeit von Unmittelbarkeit und Abstraktion aufgedeckt, daß sie nachgewiesen hat, daß auf dem Boden der Unmittelbarkeit nur ein abstraktes Denken zustande kommen kann. Marx hat auch hier die Hegeische Philosophie vom Kopf, auf dem sie stand, auf die Füße gestellt und in der Analyse der wirtschaft313

liehen Zusammenhänge wiederholt konkret nachgewiesen, wie diese Zusammengehörigkeit von Unmittelbarkeit und Abstraktion in der Widerspiegelung ökonomischer Tatsachen 2um Ausdruck kommt. Wir müssen uns hier auf die ganz kurze, hinweisartige Beleuchtung eines solchen Beispiels beschränken. Marx zeigt, daß die Zusammenhänge des Geldumlaufs und seines Agenten, des Geldhandelskapitals, die äußerste Abstraktion des kapitalistischen Gesamtvorganges, das Auslöschen aller Vermittlungen darstellen. Nimmt man sie so, wie sie erscheinen, in scheinbarer Unabhängigkeit vom Gesamtvorgang, so erhalten sie die Gestalt einer rein gedankenlosen, vollständig fetischisierten Abstraktion: „Geld heckendes Geld". Aber gerade darum fühlen sich die Vulgär-Ökonomen, die an der Unmittelbarkeit der Erscheinungsoberfläche des Kapitalismus stehenbleiben, gerade in der Welt dieser fetischisierten Abstraktion in ihrer Unmittelbarkeit bestätigt, sie fühlen sich hier so wohl wie der Fisch im Wasser und protestieren leidenschaftlich gegen die „Anmaßung" der marxistischen Kritik, die von den Ökonomen eine Berücksichtigung des gesellschaftlichen Gesamtvorgangs der Reproduktion fordert. Ihr „Tiefsinn besteht hier wie immer nur darin, die Staubwolken der Oberfläche zu sehn und dies Staubige anmaßlich als etwas Geheimnisvolles und Bedeutendes auszusprechen", wie Marx über Adam Müller sagt. 13 Aus solchen Erwägungen heraus habe ich in meinem alten Aufsatz den Expressionismus als ein „Wegabstrahieren von der Wirklichkeit" gekennzeichnet. Selbstverständlich: ohne Abstraktion keine Kunst - wie könnte sonst das Typische entstehen? Aber das Abstrahieren hat - wie jede Bewegung - eine Richtung, und auf diese kommt es hier an. Jeder bedeutende Realist bearbeitet - auch mit den Mitteln der Abstraktion - seinen Erlebnisstoff, um zu den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Wirklichkeit, um zu den tiefer liegenden, verborgenen, vermittelten, unmittelbar nicht wahrnehmbaren Zusammenhängen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gelangen. D a diese Zusammenhänge nicht unmittelbar an der Oberfläche liegen, da diese Gesetzmäßigkeiten sich verschlungen, ungleichmäßig, bloß tendenzartig durchsetzen, entsteht für den bedeutenden Realisten eine ungeheure, eine doppelte, künstlerische wie weltanschauliche Arbeit: nämlich erstens das gedankliche Aufdecken und künstlerische Gestalten dieser Zusammenhänge; zweitens aber, und unzertrennbar davon, das künstlerische Zudecken der abstrahiert erarbeiteten Zusammenhänge - die Aufhebung der Abstraktion. E s entsteht durch diese doppelte Arbeit 314

eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit, eine gestaltete Oberfläche des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment das Wesen klar durchscheinen läßt (was in der Unmittelbarkeit des Lebens selbst nicht der Fall ist), doch als Unmittelbarkeit, als Oberfläche des Lebens erscheint. Und zwar als die ganze Oberfläche des Lebens in allen ihren wesentlichen Bestimmungen - nicht nur als ein subjektiv wahrgenommenes und abstrahierend übersteigertes und isoliertes Moment aus dem Komplex dieses Gesamtzusammenhangs. Das ist die künstlerische Einheit von Wesen und Erscheinung. Je vielfältiger, reicher, verschlungener, „schlauer" (Lenin) sie ist, je stärker sie den lebendigen Widerspruch des Lebens, die lebendige Einheit des Widerspruchs von Reichtum und Einheit der gesellschaftlichen Bestimmungen faßt, desto größer und tiefer wird der Realismus. Was bedeutet, im Gegensatz dazu, das „Wegabstrahieren von der Wirklichkeit"? Die undurchsichtige, zerissen gespiegelte, chaotisch erscheinende, unverstandene, nur unmittelbar erlebte Oberfläche wird bei mehr oder weniger bewußter Ausschaltung und Ignorierung der objektiven Vermittlungen ohne gedankliche Erhebung über dieses Niveau als solche fixiert. In der Wirklichkeit gibt es nirgends einen Stillstand. Die gedankliche und künstlerische Arbeit muß sich entweder zu der Wirklichkeit hin oder von ihr weg bewegen. Diese letztere Bewegung entstand bereits - scheinbar paradox - im Naturalismus; Milieutheorie, zur Mythologie fetischisierte Vererbung, eine Ausdrucksform, die die Äußerlichkeiten des unmittelbaren Lebens abstrakt fixierte, und anderes verhinderten bereits hier einen künstlerischen Durchbruch zur lebendigen Dialektik von Erscheinung und Wesen, oder genauer ausgedrückt: das Fehlen eines solchen Durchbruchs bei den naturalistischen Schriftstellern hatte diese Ausdrucksweise hervorgebracht. Beides steht in lebendiger Wechselwirkung. Darum mußten die photographisch und phonographisch so treu abgebildeten Lebensoberflächen des Naturalismus doch tot bleiben, ohne innere Bewegung, zustandhaft. Darum glichen die äußerlich so verschiedenen naturalistischen Dramen und Romane einander bis zur Verwechselbarkeit. (In diesem Zusammenhang müßte man eine der größten Kunsttragödien unserer Zeit behandeln: die Gründe, aus denen Gerhart Hauptmann nach seinen blendenden Anfängen doch kein großer Realist wurde. Dazu ist hier kein Raum. Wir beschränken uns hier auf den Hinweis, daß für den Dichter der Weber und des Biberpelz der Naturalismus eine Hemmung und keine Förderung war; 315

daß die Überwindung des Naturalismus sich bei ihm ohne ein Hinausgehen über dessen weltanschauliche Grundlagen vollzog.) D i e künstlerischen Schranken der naturalistischen Ausdrucksweise wurden rasch erkannt. Aber sie wurden nie von Grund aus kritisiert. Der einen abstrakten Unmittelbarkeit wurde immer wieder eine andersgeartete, scheinbar entgegengesetzte, aber ebenso abstrakte Unmittelbarkeit gegenübergestellt. E s ist dabei für die Kunsttheorie und Kunstpraxis dieser ganzen Entwicklung bezeichnend, daß die verneinte, zu überwindende Vergangenheit dem Wesen nach stets auf die unmittelbar vorangegangene Richtung beschränkt wird: Impressionismus beschränkt die Vergangenheit etwa auf den Naturalismus. D a m i t bleiben Theorie wie Praxis in diesem ganz äußerlichen, ganz abstrakten Gegensatz befangen. Diese Betrachtungsweise reicht noch in unsere Debatte hinein. Rudolf Leonhard leitet die historische Notwendigkeit des Expressionismus ebenfalls auf diese Weise a b : „Denn dieser G e gensatz zum unerträglich, unmöglich gewordenen Impressionismus ist der eine Grund des Expressionismus", sagt er und führt diese Anschauung klar durch, ohne aber auf die anderen Gründe näher einzugehen. Scheinbar steht der Expressionismus in einem ganz schroffen, ganz ausschließenden Gegensatz zu den früher aufgetretenen literarischen Richtungen. E r betont ja als Mittelpunkt seiner Gestaltungsweise gerade das Herausheben des Wesens; das nennt Leonhard den „unnihilistischen" Zug im Expressionismus. 1 4 Aber dieses Wesen ist nicht das objektive Wesen der Wirklichkeit, des Gesamtprozesses. Dieses sogenannte Wesen ist vielmehr gerade das rein Subjektive. Ich will mich hier nicht auf die verpönten alten Theoretiker des Expressionismus berufen. Wenn Ernst Bloch den eigentlichen und uneigentlichen Expressionismus voneinander unterscheidet, betont er gerade das subjektive Moment: „Der Expressionismus im O r i g i n a l war vielmehr Bildsprengung, war aufgerissene Oberfläche auch vom Original her, nämlich vom Subjekt, das gewalttätig aufriß und verschränkte." 15 Gerade diese Bestimmung des Wesens macht es notwendig, daß es bewußt, stilisierend, abstrahierend vom Zusammenhang, von den Vermittlungen abgetrennt, isoliert für sich genommen wurde. D e r folgerechte Expressionismus leugnet jede Beziehung zur Wirklichkeit, sagt allen Inhalten der Wirklichkeit einen subjektivistischen Krieg an. Ich will mich hier in die Diskussion, ob und wie weit Gottfried Benn als typischer Expressionist aufgefaßt werden darf, nicht einmischen; ich finde aber, daß jenes Lebensgefühl, das Bloch in seinen Darlegun316

gen über Expressionismus und Surrelismus so bildreich und eindringlich beschreibt, in Benns Buch Kunst und Macht am schroffsten, am aufrichtigsten und plastischsten zum Ausdruck gekommen ist: „ . . . Es gab in Europa zwischen 1910 und 1925 überhaupt kaum einen anderen als den antinaturalistischen Stil. Es gab ja auch keine Wirklichkeit, höchstens noch ihre Fratzen. Wirklichkeit, das war ein kapitalistischer Begriff . . . Der Geist hatte keine Wirklichkeit."16 Klar und entschieden finden wir diesen Tatbestand und seine Konsequenzen bei Heinrich Vogeler formuliert. Aus der richtigen Erkenntnis der expressionistischen Abstraktion kommt er zu der richtigen Folgerung: „Er (nämlich der Expressionismus, G. L.) war der Totentanz der bürgerlichen Kunst. . . . Das ,Wesen der Dinge' glaubte der Expressionismus zu geben, doch er gab die Verwesung."17 Als notwendige Folge einer wirklichkeitsfremden oder gar "feindlichen Einstellung entsteht in steigendem Maße in der „avantgardistischen" Kunst eine immer größere Inhaltsarmut, die sich im Laufe der Entwicklung zu einer grundsätzlichen Inhaltslosigkeit, ja Inhaltsfeindlichkeit steigert. Wieder hat Gottfried Benn diesen Zusammenhang am klarsten ausgesprochen: „. . . auch der Begriff des Inhalts selbst ist. fragwürdig geworden. Inhalte - was soll das noch, das ist ja alles ausgelaugt, ausgelaufen, Staffage - Bequemlichkeiten des Herzens, Versteifungen des Gefühls, kleine Herde lügenverfallener Substanzen Lebenslügen, Gestaltloses . . ."18 Diese Beschreibung kommt - wie der Leser selbst beurteilen kann der Blochschen Beschreibung der Welt des Expressionismus und des Surrealismus recht nahe. Freilich ziehen Benn und Bloch aus diesen Feststellungen ganz entgegengesetzte Konsequenzen. Bloch sieht an einzelnen Stellen seines Buches ziemlich klar die Problematik der heutigen Kunst, die sich aus der von ihm beschriebenen Einstellung zur Welt ergibt: „So kommen wichtige Dichter in den Stoffen nicht mehr unmittelbar unter, sondern sie zerbrechen. Die herrschende Welt verbreitet ihnen keinen darstellbaren Schein mehr, der auszufabeln wäre, sondern nur Leere, mischbaren Bruch darin." Bloch untersucht darauf den Weg in der revolutionären Periode der Bourgeoisie bis zu Goethe und fährt nun folgendermaßen fort: auf Goethe aber folgte, statt des weiteren Erziehungsromans, der französische der Desillusion; und heute gar in der perfekten Nicht-Welt, Gegen-Welt oder auch Trümmer-Welt des großbürgerlichen Hohlraums ist 'Versöhnung' konkreten Dichtern weder eine Gefahr noch möglich. Kein anderes Verhalten hier als ein dialektisches (?! G. L.); entweder als Material für 317

dialektische Montage oder als ihr Experiment. Selbst die Welt des Odysseus wurde beim musischen Joyce zur Wandelgalerie des alles zersprengenden, allzersprungenen Heute im kleinsten Kreis- und Querlauf. Ein Querlauf, weil den Menschen etwas fehlt, nämlich die Hauptsache . . ."19 Wir wollen hier mit Bloch nicht um Kleinigkeiten streiten, also weder um den rein individuellen Gebrauch des Wortes Dialektik, noch um die falsche Konstruktion, die den Desillusionsroman unmittelbar an Goethe anschließen läßt. (Meine frühere Theorie des Romans20 ist an diesem historischen Irrtum Blochs mitschuldig.) Es kommt hier auf Wichtigeres an, nämlich darauf, daß Bloch - freilich mit verkehrten Vorzeichen der Bewertung - den Gedanken ausspricht, daß Fabel und Komposition der Literaturwerke von der Beziehung des Menschen zur objektiven Wirklichkeit abhängig sind. So weit ist alles richtig. Indem aber Bloch das historische Recht des Expressionismus und Surrealismus nachweisen will, untersucht er nicht mehr die objektiven Beziehungen zwischen der Gesellschaft und den handelnden Menschen unserer Zeit, die, wie der Jean Christophe21 zeigt, sogar einen Erziehungsroman zulassen, sondern er konstruiert sich aus dem isoliert genommenen Bewußtseinszustand einer bestimmten Intellektuellenschicht den objektiven Zustand der heutigen Welt zurecht, die ihm dann ganz folgerichtig - und leider der Auffassung Benns verwandt - als „Nicht-Welt" erscheint. Für Dichter, die so zur Wirklichkeit stehen, ist selbstverständlich keine Handlung, kein Aufbau, kein Inhalt, keine Komposition im „herkömmlichen Sinne" möglich. Für Menschen, die die Welt so erleben, sind tatsächlich Expressionismus und Surrealismus die einzig möglichen Ausdrucksweisen ihres Weltgefühls. Diese philosophische Rechtfertigung des Expressionismus und Surrealismus krankt „nur" daran, daß Bloch, statt an die Wirklichkeit zu appellieren, einfach und unkritisch die expressionistische und surrealistische Attitüde zur Wirklichkeit in eine farbenreiche Begriffssprache umsetzt. Trotz dieses scharfen Gegensatzes in allen Bewertungen halte ich die Feststellung bestimmter Tatsachen bei Bloch für richtig und wertvoll. Er ist nämlich im Aufzeigen der notwendigen Entwicklung, die über den Expressionismus zum Surrealismus führt, der folgerichtigste aller „Avantgardisten". Er hat auch in dieser Hinsicht das Verdienst, die Montage als notwendige künstlerische Ausdrucksform dieser Entwicklungsstufe erkannt zu haben. (Sein Verdienst wird noch dadurch gesteigert, daß er die Montage nicht nur in der gegenwärtigen Kunst 318

des „Avantgardismus", sondern auch in der bürgerlichen Philosophie unserer Zeit mit großem Scharfsinn nachweist.) Aber gerade dadurch tritt die antirealistische Eingleisigkeit dieser ganzen Entwicklung bei ihm klarer hervor als bei anderen Theoretikern dieser Richtung. Diese Eingleisigkeit ist - und darüber spricht Bloch nicht - bereits im Naturalismus vorhanden. Die künstlerische „Verfeinerung", die der Impressionismus gegenüber dem Naturalismus bringt, „reinigt" die Kunst noch mehr von den komplizierten Vermittlungen, von den verschlungenen Wegen der objektiven Wirklichkeit, der objektiven Dialektik von Sein und Bewußtsein in den gestalteten Menschen und Fabeln. Der Symbolismus ist bereits klar und bewußt eingleisig, denn die Heterogeneität der sinnlichen Hülle des Symbols und des Symbolgehalts geht bereits auf dem schmalen, einspurigen Weg der subjektiven Assoziation ihrer symbolhaften Verbindung. Die Montage bedeutet den Gipfelpunkt dieser Entwicklung, und darum begrüßen wir die Entschiedenheit, mit der Bloch sie künstlerisch und philosophisch in den Mittelpunkt des „avantgardistischen" Dichtens und Denkens stellt. Wo die Montage in ihrer Originalform, als Photomontage, frappant und mitunter agitatorisch stark wirken kann, stammt ihre Wirkung gerade daher, daß sie sachlich ganz verschiedenartige, vereinzelte und aus dem Zusammenhang gerissene Stücke der Wirklichkeit überraschend zusammenstellt. Die gute Photomontage hat die Wirkung eines guten Witzes. In dem Augenblick aber, in dem diese - beim einzelnen Witz berechtigte und wirksame eingleisige Verbindung mit dem Anspruch auf Gestaltung der Wirklichkeit (auch wenn diese als das Unwirkliche gefaßt wird), des Zusammenhanges (auch wenn er als Zusammenhanglosigkeit formuliert wird), der Totalität (auch wenn sie als Chaos erlebt wurde) auftritt, muß der Enderfolg eine tiefe Monotonie sein. Die Einzelheiten mögen in den buntesten Farben erglänzen, das Ganze ergibt ein trostloses Grau in Grau, so wie die Pfütze schmutziges Wasser bleibt, auch wenn ihre Bestandteile die verschiedenartigsten Farben aufweisen. Diese Monotonie ist die notwendige Folge des Aufgebens der objektiven Wirklichkeitswiderspiegelung, des künstlerischen Ringens um die Gestaltung der reich verschlungenen Vielheit und Einheit der Vermittlungen und ihrer Aufhebung in den Gestalten. Denn dieses Weltgefühl läßt keine Komposition, kein Crescendo und Decrescendo, keinen Aufbau von innen, aus der wirklichen Natur des gestalteten Lebensstoffes zu. Wenn nun diese künstlerischen Bestrebungen dekadent genannt 319

werden, so entsteht oft ein Schrei der Entrüstung über die „schulmeisterliche Anmaßung von eklektischen Akademikern". Es sei mir deshalb gestattet, mich auf einen Fachmann in Sachen der Dekadenz zu berufen, den meine Opponenten auch in anderen Fragen als hohe Autorität schätzen, auf Friedrich Nietzsche. „Womit kennzeichnet sich jede literarische décadence?" fragt er. Und antwortet: „Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der décadence: jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens . . . Das Leben, die g l e i c h e Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest a r m an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung o d e r Feindschaft und Chaos : beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr ; es ist zusammengesetzt, berechnet, künstlich, ein Artefact." 22 Diese Charakteristik Nietzsches ist eine gute Beschreibung der künstlerischen Bestrebungen solcher Richtungen wie der von Bloch oder Benn. Natürlich sind diese Grundsätze niemals, selbst bei Joyce nicht, hundertprozentig durchgeführt. Denn ein hundertprozentiges Chaos existiert nur im Kopfe der Irren, ebenso wie schon Schopenhauer richtig gesagt hat, daß man einen hundertprozentigen Solipsismus nur im Irrenhaus finden kann. D a aber das Chaos die weltanschauliche Grundlage der avantgardistischen Kunst bildet, müssen alle zusammenhaltenden Prinzipien aus einem stofffremden Material stammen: daher die montierten Kommentare, daher der Simultanismus usw. Alles dies kann nur Surrogat sein, alles dies bedeutet nur die Steigerung der Eingleisigkeit dieser Kunst. V Daß alle diese Richtungen entstanden sind, ist aus der Ökonomie, aus der gesellschaftlichen Struktur, aus den Klassenkämpfen der imperialistischen Periode verständlich. Darum hat Rudolf Leonhard vollständig recht, wenn er im Expressionismus eine notwendige historische Erscheinung erblickt. E r hat aber nur zur Hälfte recht, wenn er in Anwendung des berühmten Hegeischen Satzes so fortfährt: „Der Expressionismus war; also war er einmal, war er damals vernünftig." 23 320

So einfach ist die „Vernunft der Geschichte" selbst bei Hegel nicht, obwohl dessen Idealismus in den Vernunftbegriff zuweilen eine Apologie des Seienden hineinträgt; und so einfach ist die „Vernünftigkeit" (die historische Notwendigkeit) für den Marxismus erst recht nicht. Die Anerkennung der historischen Notwendigkeit im Marxismus ist weder eine Rechtfertigung des Bestehenden (auch nicht zur Zeit seines Bestehens) noch der Ausdruck einer fatalistischen Notwendigkeit in der Geschichte. Wir können das am besten wieder an einem ökonomischen Beispiel veranschaulichen. Ohne Frage war die ursprüngliche Akkumulation, die Trennung der kleinen Produzenten von ihren Produktionsmitteln, die Schaffung des Proletariats mit all ihren unmenschlichen Greueln eine historische Notwendigkeit. Trotzdem wird es keinem Marxisten einfallen, die englische Bourgeoisie dieser Zeit - als Hegeische Trägerin der Vernunft - zu verherrlichen. Und noch weniger wird es einem Marxisten einfallen, hierin die fatalistische Notwendigkeit einer Entwicklung über den Kapitalismus zum Sozialismus zu erblicken. Marx hat wiederholt dagegen protestiert, daß man sogar für das Rußland seiner Zeit den Weg über die ursprüngliche Akkumulation zum Kapitalismus fatalistisch als den einzig möglichen betrachtete; und heute, unter den Bedingungen des verwirklichten Sozialismus in der Sowjetunion, ist die Vorstellung, daß die primitiven Länder über ursprüngliche Akkumulation zum Kapitalismus und erst über diesen zum Sozialismus kommen könnten, geradezu ein Programm der Gegenrevolution. Wenn wir also mit Leonhard die historische Notwendigkeit der Entstehung des Expressionismus bejahen, so bedeutet das keineswegs die Anerkennnung seiner künstlerischen Richtigkeit, die Anerkennung, daß er ein notwendiger Baustein für die Kunst der Zukunft sei. Darum können wir uns nicht mit Leonhard einverstanden erklären, der im Expressionismus „die Festsetzung des Menschen und die Härtung der Dinge zur Ermöglichung des neuen Realismus" erblickt. Hier hat Bloch gegenüber Leonhard vollständig recht, wenn er im Surrealismus, in der Herrschaft der Montage die notwendige und folgerechte Fortsetzung des Expressionismus sieht. Aus der historischen Bewertung des Expressionismus, die in meinem alten Aufsatz bereits klar ausgesprochen wurde, formuliert nun Bloch folgende Anklage gegen mich: „Avantgarde innerhalb der spätkapitalistischen Gesellschaft gibt es dann nicht, antizipierende Bewegungen im Überbau sollten nicht wahr sein."24 Diese Anschuldigung stammt daher, daß Bloch den Weg der heutigen Kunst ausschließlich 21 Befunde

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in jenem sieht, der zum Surrealismus und zur Montage führt. Wird die Avantgarderolle dieser Richtungen bestritten, so wird, nach Bloch, die Möglichkeit einer jeder ideologischen Vorwegnahme der gesellschaftlichen Entwicklung zwangsläufig in Frage gestellt. Das stimmt aber nicht. Der Marxismus hat stets die vorwegnehmende Funktion der Idelogie anerkannt. Wenn wir auf dem Gebiet der Literatur bleiben wollen, so sei daran erinnert, was Paul Lafargue über die Bewertung Balzacs durch Marx sagt: „Balzac war nicht nur der Historiker der Gesellschaft seiner Zeit, sondern auch der Schöpfer prophetischer Gestalten, die unter Louis Philippe sich noch im embryonalen Zustande befanden und erst nach seinem Tode, unter Napoleon III., sich vollständig entwickelten." 25 Gilt aber diese Marxsche Auffassung auch für unsere Gegenwart? Selbstverständlich gilt sie. Nur finden wir solche „prophetischen Gestalten" ausschließlich bei den bedeutenden Realisten. In den Romanen, Novellen und Dramen Maxim Gorkis gibt es solche Gestalten in Fülle. Wer die letzten Ereignisse in der Sowjetunion aufmerksam und mit ungetrübtem Blick verfolgte, wird sehen, daß Gorki in seinem Karamora, seinem Klim Samgin, Dostigajew u. a. eine Reihe von Typen, die uns ihr wirkliches Wesen erst jetzt vollständig enthüllt haben, „prophetisch" im Sinne von Marx vorweggenommen hat. Wir können ähnliche Beispiele auch in der deutschen Literatur finden. Man denke an die früheren Romane Heinrich Manns, etwa an den Untertan, den Professor Unrat und andere mehr - wer wollte leugnen, daß hier eine Reihe von widerwärtigen und kleinlich-bestialischen Zügen der deutschen Bourgeoisie und des demagogisch irregeführten Kleinbürgertums, die sich erst unter dem Faschismus vollständig entfaltet haben, „prophetisch" vorwegnehmend gestaltet wurden? Und man sehe si h von diesem Standpunkt die Gestalt seines Henri IV. an. Sie ist eine wirklich lebenswahre, historisch echte Figur; gleichzeitig ist sie aber eine Vorwegnahme jener humanistischen Züge, die bei den Kämpfern der antifaschistischen Volksfront erst im Laufe der Entwicklung, erst im Vorgang der Besiegung des Faschismus entfaltet hervortreten konnten. Nehmen wir ein Gegenbeispiel, ebenfalls aus unserer Zeit. Der ideologische Kampf gegen den Krieg war ein Hauptthema der besten Expressionisten. Was ist aber aus dieser Dichtung als Vorwegnahme des die ganze gesittete Welt bedrohenden neuen imperialistischen Krieges noch vorhanden? Ich glaube, niemand wird bestreiten, daß diese Dichtungen heute vollständig veraltet und auf die Gegenwart 322

absolut unanwendbar sind. (Dagegen hat der Realist Arnold Zweig in seinem Sergeant Grischa, in seiner Erziehung vor V er dun den Zusammenhang von Krieg und Hinterland, die soziale und individuelle Fortsetzung und Steigerung der „normalen" kapitalistischen Bestialität im Kriege so gestaltet, daß er dadurch eine ganze Reihe der wesentlichen Momente des neuen Krieges vorwegnahm.) In alledem liegt nichts Geheimnisvolles oder Paradoxes - es ist gerade das Wesen jedes echten und bedeutenden Realismus. Da ein solcher Realismus von Don Quichotte über den Oblomow bis zu den Realisten unserer Tage auf das Schaffen von Typen ausgeht, muß er in den Menschen, in den Beziehungen der Menschen zueinander, in den Situationen, in denen die Menschen handeln, solche dauernden Züge suchen, die als objektive Entwicklungstendenzen der Gesellschaft, ja der ganzen Menschheitsentwicklung, durch lange Perioden hindurch wirksam sind. Solche Schriftsteller bilden eine wirkliche ideologische Avantgarde, denn sie gestalten die lebendigen, aber unmittelbar noch verborgenen Tendenzen der objektiven Wirklichkeit so tief und so wahr, daß ihre Gestaltung von der späteren Wirklichkeitsentwicklung bestätigt wird, und zwar nicht bloß im Sinne der einfachen Übereinstimmung einer gelungenen Photographie mit dem Original, sondern gerade als Ausdruck einer vielfältigen und reichen Erfassung der Wirklichkeit, als Widerspiegelung ihrer unter der Oberfläche verborgenen Strömungen, die erst in einer späteren Entwicklungsstufe voll entfaltet und für alle wahrnehmbar in Erscheinung treten. Im großen Realismus wird also eine nicht unmittelbar evidente, aber objektiv desto wichtigere dauerhafte Tendenz der Wirklichkeit gestaltet, nämlich der Mensch in seinen vielfältigen Beziehungen zur Wirklichkeit, und zwar gerade das Dauernde in dieser reichen Vielfältigkeit. Und es wird darüber hinaus eine Entwicklungstendenz erkannt und gestaltet, die zur Zeit ihrer Gestaltung erst im Keim existierte und noch nicht alle ihre objektiven und subjektiven Bestimmungen gesellschaftlich und menschlich entfalten konnte. Solche unterirdischen Strömungen zu erfassen und zu gestalten, ist die große historische Sendung der wirklichen Avantgarde in der Literatur. Ob ein Schriftsteller wirklich zur Avantgarde gehört, kann nur die Entwicklung selbst bezeugen, indem sie erweist, daß er wichtige Eigenschaften, Entwicklungsrichtungen, soziale Funktionen von Menschentypen richtig erkannt und dauernd wirksam gestaltet hat. Es bedarf nach den bisherigen Ausführungen hoffentlich keiner erneuten 21»

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Argumentation dafür, daß eine solche wirkliche Avantgarde der Literatur nur die bedeutenden Realisten bilden können. E s kommt also nicht auf das noch so aufrichtige subjektive Erlebnis an, sich als Avantgardist zu fühlen und bestrebt zu sein, an der Spitze der Kunstentwicklung zu marschieren, auch nicht auf die erstmalige Erfindung noch so blendender technischer Neuerungen - sondern es kommt auf den sozialen und menschlichen Inhalt des Avantgardismus an, auf die Breite, Tiefe und Wahrheit dessen, was „prophetisch" vorweggenommen wird. K u r z : nicht das Leugnen der Möglichkeit einer vorwegnehmenden Bewegung im Überbau ist hier der Streitpunkt, sondern die Frage ist: Wer hat die Entwicklung vorweggenommen? Worin hat er sie vorweggenommen? Was hat er vorweggenommen? Wir haben eben an einigen Beispielen, die leicht vermehrt werden könnten, gezeigt, was die bedeutenden Realisten unserer Zeit künstlerisch, Typen schaffend, vorweggenommen haben. Wenn wir nun die Gegenfrage stellen, was der Expressionismus vorweggenommen habe, so können wir - auch von Bloch - nur die Antwort erhalten: den Surrealismus - also eine andere literarische Richtung, deren grundsätzliche Unfähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen in der Menschengestaltung vorwegzunehmen, aus der Charakteristik, die ihre größten Verehrer gegeben haben, klar hervorging. Mit dem Schaffen „prophetischer Gestalten", mit einer wirklichen Vorwegnahme späterer Entwicklungen hat der „Avantgardismus" nichts zu tun, hat er nie etwas zu tun gehabt. Wenn also auf diese Weise das Kriterium des Avantgardismus in der Literatur geklärt ist, so sind auch die konkreten Fragen unschwer zu beantworten. Wer ist nun Avantgardist in unserer Literatur? „Prophetische" Gestalter vom Typus Gorkis oder der verstorbene Hermann Bahr, der vom Naturalismus bis zum Surrealismus vor jeder neuen Mode als Tambourmajor einherstolzierte, um jede Richtung, ein Jahr bevor sie aus der Mode kam, zu „überwinden"? Herr Bahr ist selbstverständlich eine Karikatur, und es liegt mir ganz fern, die überzeugten Verteidiger des Expressionismus mit ihm gleichzustellen. E r ist aber die Karikatur von etwas Wirklichem: nämlich die Karikatur des formalistischen, inhaltlosen, vom großen Strom der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung abgerissenen Avantgardismus. E s ist eine alte Wahrheit des Marxismus, daß man jede menschliche Tätigkeit danach zu beurteilen hat, was sie objektiv im Gesamtzusammenhang darstellt, und nicht danach, was das handelnde Subjekt selbst 324

über seine eigene Tätigkeit meint. Es ist also einerseits nicht notwendig, in jeder Hinsicht bewußt „Avantgardist" sein zu wollen (man denke nur an den Royalisten Balzac oder den vielfach konservativen Fontane), andererseits kann selbst der glühendste Wille, die glühendste Überzeugung, die Kunst zu revolutionieren, etwas „radikal Neues" geschaffen zu haben, wenn es beim bloßen Willen, bei der bloßen Überzeugung bleibt, keinen Schriftsteller zum Vorwegnehmer künftiger Entwicklungstendenzen machen. VI Man kann diese alte Wahrheit auch sehr volkstümlich ausdrücken: der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Jeder von uns kommt zuweilen, wenn er seine eigene Entwicklung ernst nimmt und sie deshalb rücksichtslos und objektiv kritisiert, zur Erkenntnis dieser alten Wahrheit. Ich will in ihrer Anwendung bei mir selbst anfangen. Winter 1914 bis 1915: subjektiv ein leidenschaftlicher Protest gegen den Krieg, gegen seine Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit, gegen seine Vernichtung von Kultur und Gesittung, eine verzweifelt pessimistische Gesamtstimmung, Beurteilung der kapitalistischen Gegenwart als Fichtes „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit". Das subjektive Wollen ist also ein vorwärtsstrebender Protest. Das objektive Ergebnis: meine Theorie des Romans - ein in jeder Hinsicht reaktionäres Werk, voll von idealistischer Mystik, falsch in allen seinen Einschätzungen der historischen Entwicklung. 1922: aufgeregte, von Revolutionsungeduld erfüllte Stimmung. Noch höre ich die Kugeln des roten Krieges gegen die Imperialisten um mich pfeifen, noch zittert die Erregung der Illegalität in Ungarn in mir; mit keiner Faser meines Wesens will ich zugeben, daß die erste große revolutionäre Welle vorüber, daß der entschlossene revolutionäre Wille der kommunistischen Avantgarde nicht imstande sei, den Kapitalismus zu stürzen. Also subjektive Grundlage: revolutionäre Ungeduld. Objektives Ergebnis: Geschichte und Klassenbewußtsein26 - reaktionär wegen seines Idealismus, wegen seiner mangelhaften Auffassung der Widerspiegelungstheorie, wegen seines Leugnens der Dialektik in der Natur. Selbstverständlich bin ich nicht der einzige in dieser Periode, dem das passiert ist. Es ist im Gegenteil ein massenhaftes Geschehen. Und jene Auffassung in meinem alten Expressionismusaufsatz, der so viele Diskussionsteilnehmer in Opposition gebracht hat, nämlich die enge Ver325

knüpfung des Expressionismus mit der USP-Ideologie, beruht in ihrem Wesen gerade auf der obengenannten alten Wahrheit. In unserer Debatte über den Expressionismus werden Revolution (Expressionismus) und Noske einander - gut expressionistisch - gegenübergestellt. Hätte aber in der Wirklichkeit Noske ohne die USP, ohne ihr Schwanken und Zaudern, das die Machtergreifung der Räte verhinderte, das die Organisation und Bewaffnung der Reaktion und anderes duldete, siegen können? D i e U S P war eben der organisierte Ausdruck dafür, daß selbst die gefühlsmäßig radikalen Massen der deutschen Arbeiter ideologisch noch nicht für die Revolution gerüstet waren. D i e langsame Lösung des Spartakusbundes von der USP, seine ungenügende grundsätzliche Kritik an ihr drücken eine wichtige Seite jener Schwäche und Rückständigkeit des subjektiven Faktors der deutschen Revolution aus, die Lenin von Anfang an am Spartakusbund so scharf kritisiert hat. Natürlich ist diese ganze Lage nicht einfach; auch in meinem alten Aufsatz habe ich scharf zwischen Führern und Massen in der USP unterschieden. D i e Massen waren instinktiv revolutionär. Sie waren auch objektiv revolutionär, indem sie in den Kriegsbetrieben streikten, indem sie die Front zersetzten, indem ihr revolutionärer Enthusiasmus zum Streik vom Januar 1918 führte; aber bei alledem waren sie unklar und schwankend, sie ließen sich von der Demagogie ihrer Führer fangen. D i e Führer waren zum Teil (Kautsky, Bernstein, Hilferding) bewußt gegenrevolutionär, wirkten objektiv, in Arbeitsteilung mit der alten SPD-Führung, zur (von ihr selbst zugegebenen) Rettung der bourgeoisen Herrschaft. D i e subjektiv ehrlich revolutionär gesinnten Führer aber waren in der Krisenzeit unfähig, dieser Sabotage der Revolution einen wirksamen Widerstand entgegenzustellen; sie gerieten trotz ihrer subjektiven Ehrlichkeit, trotz ihres Widerstrebens ins Schlepptau der rechten Führer, bis endlich ihr Widerstand zu einem Bruch, zur Zerreißung der USP und damit zu deren Untergang reifte. Wirklich revolutionär waren in der U S P die Bestrebungen, die nach Halle zur Auflösung der USP, zur Aufhebung der USP-Ideologie gedrängt haben. Und die Expressionisten? Sie sind Ideologen. Sie stehen zwischen den Führern und den Massen, subjektiv zumeist mit ehrlichen, wenn auch zumeist unreifen, unklaren und verworrenen Überzeugungen, zugleich aber tief erfüllt nicht nur von jenen Schwankungen, denen auch die unreifen, revolutionären Massen unterworfen waren, sondern auch von allen möglichen reaktionären Vorurteilen der Epoche, die

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sie für die verschiedenartigsten antirevolutionären Parolen (abstrakter Pazifismus, Ideologie der Gewaltlosigkeit, abstrakte Kritik des Bürgertums, anarchistische Schrullen usw.) mehr als zugänglich gemacht haben. Und als Ideologen fixieren sie nun diesen bestimmten ideologischen Übergangszustand g danklich wie künstlerisch; und zwar - vom revolutionären Standpunkt gesehen - einen in mancher Hinsicht viel rückständigeren ideologischen Übergangszustand, als es jener war, in dem sich die schwankenden USP-Massen befanden. Aber die revolutionäre Bedeutung eines solchen ideologischen Übergangszustandes besteht gerade darin, daß er sich im Fließen befindet, daß er vorwärtsdrängt, daß er sich nicht fixiert. Die expressionistische gedankliche wie künstlerische Fixierung dieser Übergangsideologie verhinderte für die Expressionisten selbst und für jene, die unter ihrem ideologischen Einfluß standen, das Weiterschreiten in revolutionärer Richtung. Diese schädliche Wirkung, die jede Systematisierung von schwankenden Übergangsideologien hat, erhält eine besonders reaktionäre Note im Expressionismus: erstens durch die hochtrabende Prätention des Führertums, der Verkündigung in der Form von ewigen Wahrheiten, die ein Wesenszeichen des Expressionismus in den Revölutionsjahren war, zweitens infolge der besonderen antirealistischen Tendenz im Expressionismus, durch die eine Kontrolle und Überwindung der falschen Tendenzen durch eine künstlerisch tiefe Erfassung der Wirklichkeit verhindert wurde. Indem der Expressionismus, wie wir gesehen haben, am Standpunkt der Unmittelbarkeit festhält, diesem künstlerisch und weltanschaulich eine Scheintiefe, eine Scheinvollendung verleihen will, steigert er alle Gefahren, die mit der Fixierung einer solchen Übergangsideologie notwendig zusammenhängen. Soweit also der Expressionismus wirklich einen ideologischen Einfluß gehabt hat, hat er den revolutionären Klärungsprozeß der von ihm Beeinflußten mehr gehindert als gefördert. Auch diese seine Wirkung läuft in gleicher Linie mit der USP-Ideologie; nicht zufällig zerbrechen beide an derselben Wirklichkeit. Es ist eine expressionistische Vereinfachung der Wirklichkeitszusammenhänge, wenn gesagt wird, daß Noskes Sieg den Expressionismus zerschlug. Der Expressionismus ging einerseits zugrunde mit dem Ende der ersten Welle der Revolution, an deren Ergebnislosigkeit die USP-Ideologie stark mitschuldig ist: andererseits geht er aber auch an der Klärung des revolutionären Bewußtseins der Massen zugrunde, die über die revolutionären Phrasen der unreifen Anfangszeit immer energischer hinauszugehen beginnen.

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Man vergesse nicht, daß nicht nur die Niederlage der ersten revolutionären W e l l e in Deutschland den Expressionismus entthront hat, sondern auch die wirkliche Konsolidierung des Sieges der proletarischen Revolution in der Sowjetunion. Je fester die Herrschaft des Proletariats wurde, je umfassender und tiefer der Sozialismus die Wirtschaft der Sowjetunion durchdrang, je breiter und tiefer die Massen der Werktätigen von der Kulturrevolution erfaßt wurden, desto stärker und hoffnungsloser wurde die „avantgardistische" Kunst in der Sowjetunion vom immer bewußter werdenden Realismus zurückgedrängt. Die Niederlage des Expressionismus ist also letzten Endes das Ergebnis der Reife der revolutionären Massen. Gerade der Entwicklungsweg solcher Dichter wie Majakowski, oder bei uns Johannes R. Becher, zeigt, daß hier der wahre Grund zum Sterben für den Expressionismus zu suchen und zu finden ist. VII Ist unsere Diskussion eine rein literarische? Ich glaube, nein. Ich glaube, der Kampf zwischen literarischen Richtungen und ihrer theoretischen Begründung würde nicht so breite Wellen schlagen, kein so großes Interesse hervorrufen, wenn die letzten Folgen dieser Diskussion nicht für eine politische Frage, die uns alle angeht, die uns alle im gleichen M a ß bewegt, als wichtig empfunden würde: für die antifaschistische Volksfront. Bernhard Ziegler warf in einer sehr zugespitzten Form die Frage der Volkstümlichkeit in die Diskussion. 27 Man spürt überall die Erregung, die diese Fragestellung verursacht, und dieses starke Interesse ist unbedingt etwas Positives. Bloch will nun am Expressionismus auch die Volkstümlichkeit retten. Er sagt: „Der Expressionismus hatte auch gar keinen volksfremden Hochmut, wieder im Gegenteil: der ,Blaue Reiter* bildete Murnauer Glasbilder ab, er öffnete zuerst den Blick auf diese rührende und unheimliche Bauernkunst, auf Kinder- und Gefangenenzeichnungen, auf die erschütternden Dokumente der Geisteskranken, auf die Kunst der Primitiven." 28 Durch eine solche Auffassung von Volkstümlichkeit wird aber alles verwirrt. Volkstümlichkeit ist keine ideologisch wahllose, artistische, feinschmeckerische Aufnahme „primitiver" Erzeugnisse. W i r k liche Volkstümlichkeit hat mit alledem nichts zu tun. Sonst wäre ja jeder Protz, der Glasmalerei oder Negerplastik sammelt, jeder Snob,

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der im Wahnsinn eine Befreiung des Menschen von den Fesseln des mechanischen Verstandes feiert, auch ein Vorkämpfer der Volkstümlichkeit. Es ist freilich heute nicht leicht, zu einer richtigen Vorstellung vom Volkstümlichen zu gelangen. Denn die an sich ökonomisch fortschrittliche Zersetzung der alten Lebensformen des Volkslebens durch den Kapitalismus schafft im Volke selbst eine Unsicherheit der Weltanschauung, der Kulturbestrebungen, des Geschmacks, des moralischen Urteils - schafft Möglichkeiten der demagogischen Vergiftung. Und ein einfaches und wahlloses Heranziehen alter Erzeugnisse der Volksproduktion ist keineswegs unter allen Umständen, in allen Zusammenhängen fortschrittlich und ein Appell an die lebendigen, trotz aller Hemmungen vorwärtstreibenden Instinkte des Volkes. Aus denselben Gründen ist auch die weite Verbreitung eines Literaturerzeugnisses oder einer literarischen Richtung an sich noch kein Zeichen der Volkstümlichkeit. Sowohl rückständig Traditionelles (wie etwa die „Heimatkunst") als auch schlecht Modernes (Kriminalroman) haben eine Massenverbreitung erlangt, ohne in irgendeiner Hinsicht wirklich volkstümlich zu sein. Bei allen diesen Vorbehalten ist es aber doch nicht ganz unwesentlich, was aus der wirklichen Literatur unserer Zeit wird und wie weit sie in die Massen gedrungen ist. Welcher Schriftsteller aus der ganzen „Avantgarde" der letzten Jahrzehnte kann aber in dieser Hinsicht mit Gorki, mit Anatole France, mit Romain Rolland oder Thomas Mann verglichen werden? Die Millionenauflage eines künstlerisch so hochstehenden, anspruchsvollen und kompromißlosen Buches wie der Buddenbrooks muß uns allen zu denken geben. Das Aufrollen des ganzen Problemkomplexes der Volkstümlichkeit ist hier ein „zu weites Feld", wie der alte Briest bei Fontane zu sagen pflegt. Wir werden uns auf zwei Momente beschränken, ohne den Anspruch zu erheben, auch diese irgendwie erschöpfend zu behandeln. Erstens auf die Beziehung zum Erbe. In jeder lebendigen Beziehung zum Volksleben bedeutet das Erbe den bewegten Prozeß des Fortschritts, ein wirkliches Mitnehmen, Aufheben, Aufbewahren, Höherentwickeln der lebendigen, schöpferischen Kräfte in den Überlieferungen der Leiden und Freuden des Volkes, den Überlieferungen der Revolutionen. Eine lebendige Beziehung zum Erbe zu besitzen, bedeutet, ein Sohn seines Volkes sein, getragen sein vom Strom der Entwicklung seines Volkes. So ist Maxim Gorki ein Sohn des russi329

sehen, Romain Rolland einer des französischen, Thomas Mann einer des deutschen Volkes. Inhalt und Ton ihrer Schriften - bei aller individuellen Originalität, bei allem Abstand von einem künstlichen, artistischen, sammlerischen, geschmäcklerischen Primitivismus - stammen aus dem Leben, aus der Geschichte ihres Volkes, sind ein organisches Produkt der Entwicklung ihres Volkes. Darum ist bei aller künstlerischen Höhe in ihren Schriften ein Ton angeschlagen, der in den breitesten Massen des Volkes nachklingen kann und auch nachklingt. Im schroffen Gegensatz dazu steht der „Avantgardismus" in seiner Haltung zum Erbe; er verhält sich zur Geschichte seines Volkes wie zu einem großen Ramschverkauf. Blättert man in den Schriften von Bloch, so wird von Erbe und Erben nur in Ausdrücken gesprochen wie „brauchbare Erbstücke", „plündern" usw. Bloch ist ein viel zu bewußter Denker und Stilist, als daß diese Worte zufällige Entgleisungen seiner Feder sein könnten; sie drücken vielmehr ein allgemeines Verhalten zum Erbe aus. Das Erbe ist für ihn eine tote Masse, in der man beliebig herumwühlen, aus der man beliebige augenblicklich brauchbare Stücke herausreißen und die man nach augenblicklichem Bedürfnis beliebig zusammenmontieren kann. Diese Gesinnung hat Hanns Eisler in einem mit Bloch zusammen geschriebenen Artikel prägnant ausgedrückt. Er war - mit Recht - begeistert über die „Don Carlos"-Demonstration in Berlin. Statt aber darüber nachzudenken, was Schiller wirklich war, worin seine wirkliche Größe liegt, wo seine Schranken gewesen sind, was er für das deutsche Volk bedeutet hat und heute noch bedeutet, welchen Schutt reaktionärer Vorurteile, zusammengetragen durch die Ideologen der Reaktion, man wegschaffen muß, um die volkstümlich-fortschrittliche Wirkung Schillers zu einer Waffe der antifaschistischen Volksfront, der Befreiung des deutschen Volkes zu machen, statt dessen stellt er in bezug auf das Erbe für die Schriftsteller der Emigration folgendes Aktionsprogramm auf: „Worin besteht aber unsere Aufgabe außerhalb Deutschlands? Es ist klar, daß wir e i n z i g helfen müssen, klassisches M a t e r i a l , das für solchen Kampf geeignet ist, a u s z u s o n d e r n und zu p r ä p a r i e r e n . " 2 9 (Hervorhebungen von mir. - G. L.) Eisler schlägt also vor, die Klassiker zu einem antifaschistischen „Büchmann" zu zerpflücken und dann die „geeigneten Stücke" zusammenzustellen. Fremder, hochmütiger, ablehnender kann man sich zu der ruhmvollen literarischen Vergangenheit des deutschen Volkes nicht verhalten. 330

D a s Leben des Volkes ist aber objektiv etwas Kontinuierliches. E i n e Lehre wie die der „Avantgardisten", die in den Revolutionen nur Risse, nur Katastrophen sieht, die alles Vergangene vernichten, jeden Zusammenhang mit der großen und ruhmreichen Vergangenheit zerreißen will, ist die Lehre Cuviers und nicht die von Marx und Lenin. Sie ist ein anarchistisches Gegenstück zur Evolutionslehre des Reformismus. Dieser sieht nur eine Kontinuität, jene sehen nur Risse, Abgründe und Katastrophen. D i e Geschichte ist aber die lebendige, dialektische Einheit von Kontinuität und Diskontinuität, von Evolution und Revolution. E s kommt also hier, wie überall, auf den richtig erkannten Inhalt an. Lenin sagt über die marxistische Auffassung des E r b e s : „Der Marxismus erlangte seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters durchaus nicht ablehnte, sondern, im Gegenteil, sich alles Wertvolle der mehr als zweitausend jährigen Entwicklung des menschlichen D e n kens und der menschlichen Kultur aneignete und verarbeitete." 3 0 E s kommt also alles darauf an, klar zu erkennen, wo das wirklich Wertvolle zu suchen ist. Ist die Frage des Erbes richtig, das heißt in engem Zusammenhang mit dem Volksleben und seinen fortschrittlichen Bestrebungen gestellt, so leitet sie organisch zu unserem zweiten Problemkomplex hinüber, zur Frage des Realismus. Die modernen Auffassungen der Volkskunst haben, stark beeinflußt von den „avantgardistischen" Kunsttheorien, den urwüchsigen Realismus in der künstlerischen B e tätigung des Volkes in den Hintergrund des Interesses gedrängt. Auch in dieser Frage ist es uns hier nicht möglich, das Problem in seiner ganzen Breite aufzurollen; wir müssen uns darauf beschränken, auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen. W i r sprechen hier über Literatur zu Schriftstellern. Und wir müssen daran erinnern, daß infolge des tragischen Ablaufs der deutschen Geschichte die volkstümlich-realistische Richtung in unserer Literatur lange nicht so mächtig gewesen ist wie in England, Frankreich oder Rußland. Gerade das muß uns aber anspornen, unsere intensivste Aufmerksamkeit auf die vorhandene volkstümlich-realistische Literatur der deutschen Vergangenheit zu richten, ihre lebenfördernden produktiven Überlieferungen aufrechtzuerhalten. Und wenn wir uns in dieser Richtung orientieren, so sehen wir, daß, trotz aller „deutschen Misere", diese volkstümlich-realistische Literatur so gewaltige Meisterwerke hervorgebracht hat wie etwa den

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Simplicissimus von Grimmelshausen. Es mag Eisler und Bloch überlassen werden, den Montagewert der zerschlagenen Stücke dieses Meisterwerkes abzuschätzen — für das lebendige deutsche Schrifttum wird es als ein lebendiges und aktuelles G a n z e s in seiner Größe (und mit seinen Grenzen) weiterleben. Denn nur dann, wenn man die Meisterwerke des Realismus aus der Vergangenheit und Gegenwart als Ganze betrachtet, aus ihnen lernt, für ihre Verbreitung sorgt, ihr richtiges Verständnis fördert, kommt der aktuelle kulturelle und politische Wert der großen realistischen Gestaltung zum Ausdruck: ihre unerschöpfliche Vielseitigkeit im Gegensatz zur - im besten Falle witzigen - Eingleisigkeit des „Avantgardismus". Zu Cervantes und Shakespeare, zu Balzac und Tolstoi, zu Grimmelshausen und Gottfried Keller, zu Gorki, zu Thomas Mann und Heinrich Mann hat der Leser aus den breiten Massen des Volkes von den verschiedensten Seiten seiner eigenen Lebenserfahrung her Zugang. Die breite und dauernde Wirkung des großen Realismus beruht ja gerade darauf, daß die Möglichkeit dieses Zugangs man könnte sagen - durch unendlich viele Türen gegeben ist. Der Reichtum der Gestaltung, die tiefe und richtige Auffassung dauernder, typischer Erscheinungsweisen des menschlichen Lebens bringt die große fortschrittliche Wirkung dieser Meisterwerke hervor; ihre Leser klären im Prozeß des Aneignens ihre eigenen Erlebnisse und Lebenserfahrungen, erweitern ihren menschlichen und sozialen Horizont und werden durch einen lebendigen Humanismus dazu vorbereitet, die politischen Losungen der Volksfront in sich aufzunehmen und deren politischen Humanismus zu begreifen; durch das vom realistischen Kunstwerk vermittelte Verständnis der fortschrittlichen und demokratischen Entwicklungsepochen der Menschheit wird für die revolutionäre Demokratie neuen Typs, die die Volksfront vertritt, in der Seele der breiten Massen ein fruchtbarer Boden bereitet. Je tiefer die antifaschistische Kampfliteratur in diesem Boden verwurzelt ist, desto tiefer begründete Typen der Vorbildlichkeit und des Hassenswerten wird sie schaffen - desto stärker wird ihre Resonanz im Volke sein. Zu Joyce oder zu anderen Vertretern der „avantgardistischen" Literatur führt nur eine ganz enge Pforte; man muß einen bestimmten „Kniff heraushaben", um überhaupt zu verstehen, was dort gespielt wird. Und während bei dem großen Realismus der leichtere Zugang auch eine reiche menschliche Ausbeute ergibt, können die breiten Massen des Volkes aus der „avantgardistischen" Literatur nichts 332

lernen. Gerade weil in dieser Literatur die Wirklichkeit, das Leben fehlt, zwingt sie (politisch gesprochen: sektiererisch) ihren Lesern eine enge und subjektivistische Auffassung vom Leben auf, während der Realismus durch seine gestaltete Fülle Antwort auf die vom Leser selbst gestellten Fragen gibt - Antworten des Lebens auf Fragen, die das Leben selbst gestellt hat! Das schwer erkämpfbare Verständnis für die Kunst der „Avantgarde" gibt dagegen so subjektivistische, verzerrte und entstellte Stimmungsnachklänge der Wirklichkeit, daß der Mann aus dem Volke sie niemals in die Sprache seiner eigenen Lebenserfahrungen zurückübersetzen kann. Die lebendige Beziehung zum Volksleben, die fortschrittliche Weiterentwicklung der eigenen Lebenserfahrungen der Massen - das ist ja gerade die große soziale Sendung der Literatur. Es ist kein Zufall, daß der junge Thomas Mann, als er die Problematik und Lebensabgerissenheit der westeuropäischen Literatur in seinen Werken herb kritisierte und durch eine tiefe gestalterische Kritik auf die richtige Stelle im Literaturzusammenhang stellte, die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts eine „heilige" nannte. Gemeint war hier gerade diese lebenserweckende, volkstümliche Fortschrittlichkeit. Volksfront bedeutet: Kampf um wirkliche Volkstümlichkeit, vielseitige Verbundenheit mit dem ganzen, historisch gewordenen, historisch eigenartig gewordenen Leben des eigenen Volkes, bedeutet, Richtlinien und Losungen zu finden, die aus diesem Volksleben die fortschrittlichen Tendenzen zu neuem, politisch wirksamem Leben erwecken. Dieses lebendige Verständnis für die historische Eigenart des Volkslebens schließt natürlich eine Kritik an der eigenen Geschichte nicht aus - im Gegenteil: eine solche Kritik ist die notwendige Folge einer wirklichen Kenntnis der eigenen Geschichte, eines wirklichen Verständnisses des eigenen Volkslebens! Denn die fortschrittlich-demokratischen Bestrebungen konnten sich bei keinem Volk vollendet und reibungslos durchsetzen, insbesondere nicht in der Geschichte des deutschen Volkes. Die Kritik muß aber von dem richtigen und tiefen Verständnis der wirklichen Geschichte ausgehen. Und da die stärksten Hemmungen des Fortschritts und der Demokratie (sowohl auf politischem wie auf kulturellem Gebiet) gerade die imperialistische Periode mit sich brachte, ist eine scharfe Kritik der politischen, kulturellen und künstlerischen Verfallserscheinungen dieser Periode ein notwendiger Bestandteil des Durchbruchs zur wirklichen Volkstümlichkeit. Zu den wesentlichen Verfalls333

erscheinungen auf dem Gebiet der Kunst gehört der - bewußte oder unbewußte - Kampf gegen den Realismus und die dadurch entstandene Verarmung und Isolierung von Literatur und Kunst. Wir haben in unseren Betrachtungen gesehen, daß dieser Verfallsprozeß keineswegs fatalistisch hinzunehmen ist, daß sich überall lebendige Kräfte geregt haben und auch heute regen, die diesen Verfall nicht nur politisch und theoretisch, sondern auch mit dem Mittel der künstlerischen Gestaltung bekämpfen. Unsere Aufgabe ist es, uns auf diese positiven Kräfte des wirklichen, tiefen und bedeutenden Realismus zu orientieren. Die Emigration, die Kämpfe der Volksfront in Deutschland und in anderen Ländern haben diese fruchtbaren Bestrebungen notwendig verstärkt. E s könnte genügen, wenn wir uns hier auf Heinrich und Thomas Mann berufen, die, von verschiedenen Ausgangspunkten kommend, weltanschaulich und literarisch gerade in diesen Jahren noch höher gewachsen sind als früher. E s handelt sich aber hier um eine breite Strömung in der antifaschistischen Literatur. E s sind gerade die bedeutendsten und talentiertesten Schriftsteller, die diesen Weg beschritten haben oder zu beschreiten beginnen. Doch soll mit dieser Feststellung nicht behauptet werden, daß der Kampf gegen die antirealistischen Überlieferungen der imperialistischen Periode bereits abgeschlossen sei. Unsere Diskussion beweist im Gegenteil, daß diese Überlieferungen noch starke Wurzeln bei wichtigen, politisch fortschrittlich gesinnten, treuen Anhängern der Volksfront, bei leidenschaftlichen Gegnern des Faschismus haben. Eben deshalb war eine solche kameradschaftlich-rücksichtslose Diskussion von großer Bedeutung. Denn nicht nur die Massen, sondern auch die Ideologen (die Schriftsteller und Kritiker) lernen durch eigene Erfahrungen im Klassenkampf. E s wäre ein großer Fehler, jene lebendige und wachsende Tendenz zum Realismus nicht zu sehen, die, gerade infolge der Erfahrungen des Kampfes in der Volksfront, auch jene Schriftsteller ergreift, die vor der Emigration zu diesen Fragen noch ganz anders standen. Den innigen, vielseitigen, vielseitig vermittelten Zusammenhang zwischen Volksfront, Volkstümlichkeit der Literatur und wirklichem Realismus nachzuweisen, war die Aufgabe dieser Betrachtungen. 1938

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43 GABOR GAÄL

Die beutige ungarische Sonographie und die Literatur In der Literatur Ungarns vollzog sich während der letzten Jahre innerhalb der literarischen Gattungen eine eigentümliche Verschiebung. Das Gleichgewicht der literarischen Gattungen, wie es seit dem Mündigwerden der ungarischen Literatur geherrscht hatte, wurde erschüttert, die „klassischen" literarischen Formen fielen auseinander und lösten sich auf, neue literarische Formen begannen sich herauszubilden, die vorher entweder nur vereinzelt (und dann auch nur unvollständig) oder überhaupt nicht vorhanden waren. Es hat zwar den Anschein, als manifestiere sich die heutige ungarische Literaturproduktion gleichfalls in den klassischen Genretypen (Gedicht, Prosa bzw. Roman, Schauspiel, Erzählung usw.), doch sind diese Typen bei niemandem mehr in reiner Form vorhanden. Das Gedicht ist dem qualvollen Ringen zwischen dem Ich und der Kollektivität, die Prosa- und Dramenformen indessen dem zwischen überholter Lebensbetrachtung der Vergangenheit und der nicht zum Ausdruck gebrachten Lebensbetrachtung der Gegenwart ausgesetzt. Die traditionellen Formen zerfallen und organisieren sich neu, und an die Stelle der alten, reinen Formen treten seit einigen Jahren neue, experimentelle Formen, die teils aus den reinen Formen hervorgingen, teils in ihrer Formenfundierung geradewegs aus anderen Richtungen in den Bereich der Literatur gelangten. Unter diesen stehen neuerdings insbesondere die Autobiographie und seit noch kürzerer Zeit die Soziographie im Vordergrund. Diese beiden Formenrichtungen wurden in einem solchen Maße vorherrschend, daß sie das gesamte Bild der jüngsten ungarischen Literaturproduktion veränderten. Der große Wandel, der sich im ungarischen Leben vollzieht, macht sich auch in der Literatur bemerkbar, und zwar so sehr, daß wir in der Formenkultur der neuen ungarischen Literatur nach der autobiographischen Periode jetzt von einer soziographischen Periode sprechen können. Diese soziographische Periode ist etwas sehr Eigentümliches, und es lohnt sich, wenn auch nicht die Periode, so doch die soziographische Form näher in Augenschein zu nehmen und ihre Bedeutung hervorzuheben. Was hat es mit dieser Soziographie auf sich? Die Antwort ist gar nicht so einfach. Wollen wir die Sozio22

Befunde

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graphie als soziologische Disziplin definieren, muß sie nämlich anders lauten, als wenn wir sie als zeitgemäße literarische Gattung zu bestimmen versuchen. Der Definitionsweg ist wahrscheinlich die formale Beschreibung der modernen Soziographie. Was also ist in den verschiedenen soziographischen Publikationen der Gegenwart zu beobachten? Erstens, daß sie überhaupt nicht dem Typ von Soziographie zuzuordnen ist, die dem Bereich der Soziologie angehört, deren Art und Natur von den verschiedenen soziologischen Schulen (Steinmetz, Toennies usw.) mit der für wissenschaftliche Disziplinen so charakteristischen Exaktheit definiert wurden. Die heutige ungarische Soziographie ist im strengen Sinn des Wortes nicht n u r eine soziologische Disziplin, nicht nur ein Wissenschaftsprodukt. Sie ist viel mehr und zugleich viel weniger. Sie steht diesseits der im pragmatischen Sinn verstandenen Wissenschaft, zugleich aber geht sie über diese hinaus. Sie ist ein eigenartiger Kentaur. Sie wurzelt ebenso tief im gesellschaftswissenschaftlichen Denken wie die freie literarische Schöpfung. Die soziologische Stoffaufnahme und -analyse ist ebenso ein Formenelement wie die schriftstellerische Divination. In ihrer Gestaltung ist das methodisch-soziologische, also wissenschaftliche Forschen im gleichen Maß präsent wie das instinktive literarische Gestalten aus Erlebnissen heraus. Zu ihrem Naturell gehören die Anekdote, die Situationsskizze, das Landschaftsbild, die Beschreibung, die Dokumentation, die Reportage und die Publizistik (allesamt literarische Elemente) mit der gleichen Gewichtigkeit wie der gegenstandsbeschreibende, statistische Vergleich der empirischen soziographischen Erhebung und die aus soziologischer Empirie hervorgehende soziologische Synthetisierung. In ihrer Art ist sie in ebensolchem Maß Abhandlung und Monographie wie im ausgeprägt klassischen Sinn Experiment oder Essay. Zum Beweis dessen können wir aus dem Kreis der heutigen ungarischen soziographischen Publikationen eine ganze Reihe anführen. Um die Beschreibung zu vereinfachen, wollen wir uns jedoch nur auf vier berufen: auf vier Veröffentlichungen, von denen zwei der Wissenschaft und zwei (trotz aller ihrer Gültigkeit und Wahrheit) der Literatur näher stehen. Die beiden ersteren, die pragmatischeren, sind Wetterwinkel1 von Géza Féja und Die Bauernschaft der Tiefebene2 von Péter Veres, die beiden letzteren Pusztavolk3 des „Dichters" Gyula Illyés und Schuldbewußtseins4 von Zsigmond Remenyik. Alle vier sind dem Gegenstand und der Form nach perfekte Meister338

werke der behandelten soziographischen Form; diese wie jene beiden stellen zwei Grenz- und Typenvarianten derselben aktuellen Formenerscheinung dar. Erstere (die Bücher von Feja und Veres) werden entscheidend durch die methodische Anwendung des in jeder Hinsicht konsequent praktizierten gesellschaftswissenschaftlichen Denkens bzw. durch dessen Erhebung zur schreibkünstlerischen Manifestation charakterisiert; letztere (die Bücher von Illyes und Remenyik) sind belletristische Bestrebungen, die sich hauptsächlich auf Erlebnisse gründen, aber ausschließlich der Gesellschaftsschilderung dienen. Die jeweiligen beiden Beispiele scheinen - gerade weil sie Grenzfälle sind - auf den ersten Blick für zwei verschiedene Formen zu stehen, die einen (die Bücher von Illyes und Remenyik) für die Autobiographie, die anderen für die empirische Gesellschaftsschilderung. Alle vier sind aber sowohl in ihrem Inhalt (formal) als auch in ihrer W i r kung (ihrer Bestrebung) gleich, indem sie aus unmittelbar erfaßbarer L e b e n s n ä h e das soziale Leben einer real zusammenlebenden Volksgruppe vorstellen. Wenn wir alle Werke der soziographischen Welle hier einordnen könnten, so fielen sie allesamt, trotz der Unterschiedlichkeit ihres Gegenstandes, des Temperamentes ihrer Verfasser und ihrer Schreibkultur, unter diese Definition. In allen tritt das Leben des heutigen Ungartums zutage. In allen entfaltet sich in voller Breite und aus a l l e n Richtungen die Existenz irgendeiner landschaftlichen, geographischen Einheit des ungarischen Volkes. Alle sind ebenso die Arbeit des Entdeckungs r e i s e n d e n wie die des Stubengelehrten, der über die deduktive Arbeitsweise des Soziologen hinausgeht und induktiv über das Leben eines Dorfes oder einer Familie, eines Großgrundbesitzes oder dreier Komitate in der Gegenwart bzw. der unmittelbaren Vergangenheit arbeitet. Ein jeder gibt eine Schilderung heutiger sozialer Fakten. Erlebnis und Gegenstand aller bildet die g e s e l l s c h a f t l i c h e S e i t e eines Segmentes des heutigen ungarischen gesellschaftlichen Seins, und wenn manche oder alle auch diese gesellschaftliche Seite in eine breitere oder engere Schilderung des ökonomischen, politischen und geistigen Lebens der betreffenden Volksgruppe oder Schicht aufgliedern, so versucht doch jede, sich ihrem Stoff stets mit der für die literarischen Formen bezeichnenden Totalität und Abgeschlossenheit anzunähern. Alle stellen eine abgeschlossene Welt dar und sind wie jede Form ein G l e i c h n i s v o m G a n z e n . In allen weist das Bild eines heutigen TeilUngarn auf Ganz-Ungarn hin. Alle sind kompositionelle Einheiten, in deren Mittelpunkt Geschichtsschreibung, Reportage, gesellschaftli-

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che Geographie, Geistesgeschichte, Volkskunde, Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomik, Publizistik, Soziologie und Statistik, kurz: die gesamte e n z y k l o p ä d i s c h e H u n g a r o l o g i e , zusammenlaufen. Hier löst sich die Schwierigkeit auf, die die Soziologen bei der Definition der Soziographie als einer soziologischen Disziplin so sehr beunruhigte, daß sich nämlich die Soziographie, wenn sie nach Vollständigkeit strebe, unvermeidlich in einer enzyklopädischen Stoffanhäufung (wie beispielsweise die Gustische rumänische soziologische Schule) verliere. Sie wird bewältigt durch die Loslösung der Soziographie als wissenschaftlicher Disziplin von ihrem eigenen Boden bzw. durch ihre Befreiung aus den Fesseln der Wissenschaftsformung und des wissenschaftlichen Ausdrucks, durch das Hinübergleiten und Hinüberschwingen auf das Gebiet literarischer Gestaltung. In diesem Zusammenhang ist es überflüssig, sich auf konkrete Beweise zu berufen. Es genügt, den heutigen soziographischen Werktyp dem in unserer wissenschaftlichen Literatur entstandenen traditionellen Typ der Soziographie gegenüberzustellen, denn als soziologische Disziplin ist die Soziographie in unserer Kultur schon lange bekannt. Als unter den europäischen Soziologen erstmals die theoretische Definition der Soziographie aktuell wurde (beispielsweise R. Steinmetz: Die Soziographie in der Reihe der Geisteswissenschaften. Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 6. Band, 1913), war in Ungarn die soziographische Forschung schon im Gange, und in der Zeitschrift Huszadik Szazad zeitigte sie Ergebnisse wie die Veröffentlichungen von Robert Braun.5 Seine Initiative blieb nicht unbeachtet. Über verschiedene Etappen wurde diese Bestrebung von Korunk fortgeführt, und an diese Fäden knüpfte das soziographische Interesse von Sarlö6 an. Doch diese Bestrebungen, sowohl die von Robert Braun als auch die späteren, blieben die einer soziologischen Disziplin und gingen in keiner Hinsicht über die Wissenschaft hinaus. Soziologen schrieben für soziologisch Interessierte. Ihr Ziel war vor allem die Vermittlung von Wissen, einer Wissenschaft, die sich selbst genügte und einem Ziel höchstens i n d i r e k t diente, indem sie ihre Arbeiten an jene weitergab, die aus der Beschreibung Lehren ziehen und diese für Zwecke der Gesellschaft verwerten konnten. In diesem Zusammenhang ist die Soziographie nur mittelbar m i l i t a n t , unmittelbar ist sie n u r W i s s e n , deshalb ist sie durch und durch und in ihrer Tendenz doktrinär. Als Werkform ist sie systematisch und statisch: wissenschaftlich gegliedert und nicht komponiert, linear und nicht zentrisch. Ihr Material ähnelt einer unendlichen Reihe: Fragen und 340

ebenso viele Antworten, Beschreibung um Beschreibung, Tabelle um Tabelle. Wenn sie das gesellschaftliche Sein bzw. eine Gruppe oder ein Zentrum dieses Seins aus allen Richtungen auszuloten versucht, schreitet sie von Individuum zu Individuum, von Punkt zu Punkt voran, und alle ihre Schritte, Bewegungen und Haltungen sind vom Geiste des Positivismus durchdrungen; nichts liegt ihr ferner als die Divination: Sie ist puritanisch, mathematisch und exakt. Der Soziograph selbst schweigt stets, sein Herz klopft nie, seine Weltanschauung kommt gar nicht aufs Tapet, er ist das versteinerte Gewissen: Er ist „objektiv". Er will nur überzeugen und nicht gleichzeitig auch anrühren. Das sind sehr wichtige und gewichtige Arbeiten der ungarischen gesellschaftswissenschaftlichen Forschung. Ihre Wirkung ist keineswegs verpufft. Die düster-exakten Ergebnisse der soziographischen Experimente von Huszadik Század schallen als dumpfer Trommelwirbel in das Plan-Rumoren der beiden ungarischen Revolutionen hinein. 7 Ihre Beiträge sind Argumente und Entscheidungen in diesen oder jenen Überlegungen der Revolutionen, die in die Wirklichkeit umgesetzt werden wollen. Für eine Zeit - nach der Revolution - stirbt sie deshalb ab, erweckt und aktualisiert wird sie von denen, die sich genötigt sehen, erneut die Bestrebungen von Huszadik Század auf die Tagesordnung zu setzen und mit exakten Hinweisen auf das aufmerksam zu machen, was in Ungarn ungelöst ist. Die Neugeburt der Soziographie vollzog sich aus der gleichen Tiefe des Seins und der Überlegung, aus der auch die soziographischen Bestrebungen von Huszadik Szdzad entsprangen. Auch jetzt kommt die Soziographie oder zumindest das, was in ihr wissenschaftliche Tatsachenfeststellung ist, dem Politiker und dem, der Gesellschaft gestaltet, zuvor. Auch jetzt tritt sie für ein besseres Ungarn ein, und dies auch jetzt unter dem Zwang des schlechten Ungarn. Aber weil die Tiefe inzwischen zugenommen und die Lehren sich gemehrt haben, kann der soziographische Autor sein Herz und seine Weltanschauung nicht mehr verstummen lassen, und obgleich er die Ideale des Soziologen nicht leugnet, geht er über den Kreis der Wissenschaftlichkeit hinaus - es ist dies der Zauber der letzten Stunde! - und erklimmt für diese Arbeit höhere Stufen, irgendwo zum Volkserretter hinauf, dessen Gewissen weniger die soziologische Neugier, als vielmehr das heutige ungarische Sein bestimmt. Dieses Sein hielt sich in den Jahren der Konterrevolution ständig verborgen. Selbst in der Belletristik. Es wurde durch Willkür verschleiert und abgewürgt. Sein Bild, seine Wirklichkeit riß erst viel später auf, in den dreißiger Jahren (und bruchstückhaft), in der a u t o b i o g r a 341

p h i s c h e n und B e k e n n t n i s -Welle, die eine Zeitlang die neueste ungarische Literaturproduktion überflutete. Über diese autobiographische und Bekenntnis-Welle ist vielerlei geschrieben worden. Hervorgehoben wurde ihr psychologischer, gesellschaftlicher und klassenmäßiger Sinn, aber es gab keinen Hinweis auf ihren formalen (poetischen), gegenständlichen, den Inhalt der literarischen Formen modifizierenden Sinn: Darauf, daß das in der autobiographischen und Bekenntnis-Literatur mitgeteilte „Fabel"-Material aus nächster Nähe, aus dem Leben, aus der Wirklichkeit kam, daß nach der Literatur der Fiktionen die bloße Wirklichkeit aufgezeigt wurde, wenn auch verzerrt und getarnt - natürlich nur die Wirklichkeit des einzelnen (des Schriftstellers, und auch nur die seiner Vergangenheit). Aber schon diese Wirklichkeit ist voller glühender Andeutungen und brennender Zeichen. Die Soziographie als eine i n literarische F o r m gekleidete soziologische Disziplin entsprang diesem Geistesblitz der Autobiographie, doch statt des Schicksals und der Fabel eines einzelnen interessiert sie im Augenblick heutiger Zusammenhänge und heutigen Seins stets das Schicksal eines verallgemeinerbaren Ungartums. Nicht über den einzelnen wird ausgesagt, sondern über das Ungartum: Die wahren Söhne oder Freunde des Volkes sprechen aus der Perspektive der letzten Stunde über Irrtümer und Vergehen, über Konflikte und Situationen. Die mythenbeladene Berufung des Schriftstellers läuft hier wieder aus allen Richtungen zusammen, Petöfis und Adys Betrübnis verschmelzen mit Szechenyis und anderer (denn der Klassensinn der gesamten soziographischen Literatur ist noch keineswegs ganz klar) in einer neuen Legierung. Ihr Zauber - man bestreite es nicht - ist stark. „Vor uns steht das Schicksal einer Nation", sagen sie mit Vörösmarty, 8 und jedes soziographische Werk stellt sich mit diesem aus der Tiefe kommenden „Manneswerk"-Pathos 9 vor. Dieses Berufungsbewußtsein ist ihre Muse und ihre Parteinahme. Hierher rührt ihre Vollständigkeit. Deshalb werden Erlebnisse und Studien, beim Wandern und introspektiv gewonnenes Material, wissenschaftliche Analysen und künstlerische Intuitionen, Statistik und Inspiration, Pragmatismus und Fieber, Tatsachenkenntnis und Forderungen zusammengetragen, alles, womit sich das verpfuschte, gedemütigte Leben eines Landstriches und der in ihm lebenden Menschengruppe erfassen und gegenüber der notwendigerweise Grauschicht auf Grauschicht häufenden Wissenschaftlichkeit empirischer Soziologie zum Gegenstand einer wirkungssicheren ästhetischen Manifestation machen läßt. In dieser überallher rührenden Vielfalt 342

der soziographischen Form wird das gesamte ungarische Leben untersucht und durchleuchtet, befragt und entlarvt: das gesamte heutige ungarische Menschenreservoir, alle Klassen und Zusammenhänge, alle Institutionen und Organisationen, jede Kraftausrichtung, jedes Innehalten und Sichbewegen, die ganze Dynamik des heutigen Lebens. Das ist eine große Heerschau, ein unermeßliches Sündenregister, das alles und jeden wägt. Hier strebt ein Volk in der Haltung der E n d abrechnung nach Selbsterkenntnis. E s sucht seine neuen Helden und stürzt die alten Götzen. E s zeigt neue Erkenntnisse vor und räumt alte Mißverständnisse aus. In der Hand der Soziographen zeichnet sich das überwältigende Panorama der gesamten heutigen ungarischen W e l t ab. Vor dem ungarischen Schriftsteller wird - wenn er hinblickt - die Welt gewissermaßen neu erschaffen. Das neue Verhältnis des ungarischen Schriftstellers zur ungarischen Welt stabilisiert sich - wenn er es will - unter dem Einfluß der Soziographien: keine Phantasterei und kein freier Raptus, sondern objektive Konfrontation mit der ungarischen Wirklichkeit. D i e Welt des Schriftstellers kann sich - wenn er ein Gewissen hat - wieder bevölkern. D i e Schleusen des Seins haben sich geöffnet. D i e große Rechenschaftslegung der Soziographien wirft ihm die ganze dampfende, amorphe Themenwelt des ungarischen Lebens auf den Schreibtisch. E r braucht nur hineinzulangen. E r braucht nur nach den Gesetzmäßigkeiten des Romans oder des D r a mas zu formen. D i e soziographischen Werke sind, wenn Schriftsteller und Gewissen sie aufspüren, Geburtshelfer einer neuen ungarischen Literaturepoche. D i e Serie, die das Athenaeum 10 jetzt herausgibt und deren erste Veröffentlichung, das Buch Fejas, aus dem Buchhandel Ungarns einmal bereits hinauskomplimentiert worden ist, 11 verspricht große Möglichkeiten. Seien wir jetzt nicht ängstlich, das Schicksal des Feja-Buches werde wahrscheinlich die übrigen Bände der Reihe beeinflussen, die Wirklichkeitswiedergabe des einen oder anderen Autors werde nicht vollständig sein; denn selbst wenn es so kommt historisch und literarisch ist die soziographische Welle ein Vorzeichen großer Veränderungen. Das Leben der Werkformen ist nichts Zufälliges, die Geschichte ist kein Alleingang. D i e Wahrheiten der soziographischen Welle (sogar ihre Halbwahrheiten) müssen historisch zu einer Neuorganisierung Ungarns und literarisch zur Neugeburt der Lebenssicht des ungarischen Schriftstellers führen, welche Klasse er auch vertreten mag. D i e Lebenssicht des ungarischen Schriftstellers konnte bei den bisherigen verschleierten Verhältnissen eine beliebige sein. Heute läßt sich diese Lebenssicht - vorwiegend dank der Sozio-

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graphien - von jedermann kontrollieren. Die mit den Soziographien gewonnene neue Bestandsaufnahme verpflichtet zur E c h t h e i t der Aussagen und Themen. Früher oder später wird die Welle der Soziographie von der Bildfläche verschwinden. Die Erkenntnisse jedoch, in deren Besitz die neue ungarische Schriftstellergeneration durch Géza Féja, Gyula Illyés, Zsigmond Remenyik, Péter Veres und andere gelangte, machen darauf aufmerksam, daß dem Werk eines jeden ungarischen Schriftstellers ähnliche Erkenntnisse vorausgehen müssen. Schönheit ist Kenntnis, sagten die Griechen. „Für das Wahre opfere ich auch das Schöne", schrieb Petôfi an Jänos Arany (31. 3.1847). Und die richtige Kenntnis des Seins, deren Fehlen wir in unseren Rezensionen in Korunk unseren Schriftstellern so oft vorwarfen, wird hoffentlich - nach den so erschütternden Inspirationen der Soziographien - die einzige Muse der ungarischen Literatur sein. 1937

44 BÉLA ILLÉS Gyula

lllyes:

Pus^tavolk

Pusztavolk sind neunzehn farbige Zeitungsartikel. Nebeneinandergestellt und zu einem Band zusammengefaßt, veranschaulichen die Artikel skizzenhaft die Kindheit eines Landarbeiterjungen und vermitteln ein vielseitiges Bild von den schrecklichen Lebensumständen von Millionen ungarischer Landarbeiter. Die einzelnen Teile des Buches stehen weder formell noch inhaltlich auf gleichem Niveau. Einige von ihnen sind von wirklichem künstlerischem Wert, doch es gibt auch Kapitel in Illyés' Buch, die nicht mehr als leicht dahingeschriebene Zeitungsartikel sind. Inhaltlich, oder - genauer gesagt - , wenn man das Ziel der Schriften betrachtet, klaffen zwischen den einzelnen, mehr oder weniger selbständigen Kapiteln des Buches noch breitere Gräben. Illyés erhebt an mehreren Stellen von unversöhnlichem Haß erfüllte Anklagen gegen die in Ungarn herrschende Klasse und ihr tausendjähriges Wirken. Er klagt an und verurteilt. An anderer Stelle kritisiert er nur bescheiden. An einer bittet Illyés sogar ge-

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graphien - von jedermann kontrollieren. Die mit den Soziographien gewonnene neue Bestandsaufnahme verpflichtet zur E c h t h e i t der Aussagen und Themen. Früher oder später wird die Welle der Soziographie von der Bildfläche verschwinden. Die Erkenntnisse jedoch, in deren Besitz die neue ungarische Schriftstellergeneration durch Géza Féja, Gyula Illyés, Zsigmond Remenyik, Péter Veres und andere gelangte, machen darauf aufmerksam, daß dem Werk eines jeden ungarischen Schriftstellers ähnliche Erkenntnisse vorausgehen müssen. Schönheit ist Kenntnis, sagten die Griechen. „Für das Wahre opfere ich auch das Schöne", schrieb Petôfi an Jänos Arany (31. 3.1847). Und die richtige Kenntnis des Seins, deren Fehlen wir in unseren Rezensionen in Korunk unseren Schriftstellern so oft vorwarfen, wird hoffentlich - nach den so erschütternden Inspirationen der Soziographien - die einzige Muse der ungarischen Literatur sein. 1937

44 BÉLA ILLÉS Gyula

lllyes:

Pus^tavolk

Pusztavolk sind neunzehn farbige Zeitungsartikel. Nebeneinandergestellt und zu einem Band zusammengefaßt, veranschaulichen die Artikel skizzenhaft die Kindheit eines Landarbeiterjungen und vermitteln ein vielseitiges Bild von den schrecklichen Lebensumständen von Millionen ungarischer Landarbeiter. Die einzelnen Teile des Buches stehen weder formell noch inhaltlich auf gleichem Niveau. Einige von ihnen sind von wirklichem künstlerischem Wert, doch es gibt auch Kapitel in Illyés' Buch, die nicht mehr als leicht dahingeschriebene Zeitungsartikel sind. Inhaltlich, oder - genauer gesagt - , wenn man das Ziel der Schriften betrachtet, klaffen zwischen den einzelnen, mehr oder weniger selbständigen Kapiteln des Buches noch breitere Gräben. Illyés erhebt an mehreren Stellen von unversöhnlichem Haß erfüllte Anklagen gegen die in Ungarn herrschende Klasse und ihr tausendjähriges Wirken. Er klagt an und verurteilt. An anderer Stelle kritisiert er nur bescheiden. An einer bittet Illyés sogar ge-

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radezu um Entschuldigung, warum sein Buch nur das Schicksal der Landarbeiter beklagt, das der Grundbesitzerklasse jedoch unbeachtet läßt, „deren Interessen sich der Autor nicht unmittelbar vor Augen hält, da deren Erörterung seine Kenntnisse wie auch den Rahmen des vorliegenden Werkes überschreiten'würden". Und doch ist Pusztavolk ein revolutionäres Werk. Gleichsam eine revolutionäre Tat. Sein Autor hat es kaum so geplant. Doch die Kraft der Tatsachen und das Beharren des berichtenden Künstlers auf der Wahrheit sind stärker als Illyes' vorsichtiges Zaudern.1 Die Tatsachen selbst, die er bis zu den Wurzeln kennt und über die er offen spricht, sind eine aufwieglerischere Anklage als die anklagenden historischen Schriften Zolas. Und Illyes ist - obwohl er in seinem Buch der Journalistik breiten Raum gibt - auch mit diesem Werk ein bedeutender schöpferischer Künstler, neben dem Mihäly Babits eine blutarme, sich zierende alte Jungfer abgibt und auch Zsigmond M6ricz trotz des Zaubergartens2 nur ein prächtig Anekdoten erzählender Herrenmensch von altem Schrot und Korn aus der Provinz ist. Von Illyes wissen wir, daß die Puszta nicht die Heimat der Freiheit ist, sondern ein riesiges Internierungslager. Die dort leben, das Pusztavolk, sind keine Kinder der Freiheit, sondern schlecht bezahlte Landarbeiter. Gesinde, mit dem der Gutsherr und seine Angestellten alles, aber auch alles tun dürfen. Rechte hat der Landarbeiter nicht, dafür aber untragbar viele und unerträglich schwere Pflichten. Der Latifundienbesitzer kann seine Landarbeiter schlagen, und er schlägt sie auch. Er kann das Dienstmädchen und die Dienstmagd wann immer zu sich ins Bett befehlen, und er tut es auch, wenn er Lust dazu hat. Er kann seine Dienstboten wie die Pferde wechseln, sie hinauswerfen - und hat er sie verschlissen, entledigt er sich auch ihrer, wie er den Stummel einer zu Ende gerauchten Zigarre wegwirft. Der Vergleich ist schlecht. Der in den Schmutz geworfene Zigarrenstummel wird von einem Landarbeiter oder einem Bettler aufgelesen, doch der auf seine alten Tage auf die Landstraße geworfene Knecht wird von niemandem, aber auch niemandem mehr gebraucht. Im Vergleich zu ihm ist selbst der Bettler mit Konzession ein großer Herr. Wie ist es mit dem Sohn der Puszta so weit gekommen? Illyes sagt und zeigt es. „Nach den Personalangaben handelte es sich um den landwirtschaftlichen Angestellten Sändor Töth, geboren 1857, röm.-kath. Religion, verheiratet, wohnhaft in Szilasbalhäs, Töthi Puszta. Gestalt: mittelgroß; Gesicht: oval; Augen: gelblichbraun; Augenbrauen: braun; 345

Nase: ohne Besonderheiten; Mund: ohne Besonderheiten; H a a r e : kastanienbraun, graumeliert; Zähne: schadhaft; B a r t : rasiert; Schnurrbart: braun, graumeliert; Besondere Merkmale: keine. Eigenhändige Unterschrift: f f t Selbst auf Grund der Personalbfeschreibung kann ich mich Onkel Töths nicht erinnern. Aber die Einzelheiten, die schlechten Zähne, das ovale Gesicht, das nur aus Haut und Knochen besteht und den tatarischen Einschlag aufweist, die mittelgroße Gestalt, bei der man hinzusetzen sollte, daß sie gebeugt ist, der rasierte Bart, der eigentlich als stoppelig zu bezeichnen wäre, der graumelierte Schnurrbart, der in den Mund hängt, sind mir einzeln so gespensterhaft bekannt, daß diese Bruchstücke in meiner Phantasie plötzlich zu einer übernatürlichen, mächtigen Gestalt zusammenspringen. So steht Onkel T6th als typischer Vertreter seiner Gattung riesengroß vor mir. Ich sehe seine gelblichbraunen Augen, die übrigens die Augenfarbe meiner Familie haben, ich sehe seine besonderen Merkmale, die in der Personalbeschreibung nicht enthalten sind: den bärenartigen Gang, die gichtigen, nach innen gekrümmten Finger, die sich nicht mehr ganz ausstrecken lassen, die kleinen Zuckunger. um den Mundwinkel und am Augenlid, die sofort einsetzen, wenn Onkel Töth angeschrien wird; er hat bestimmt auch alte Narben an Kopf, Händen und Füßen, und vor Kreuzschmerzen kann er sich nur schwer hinsetzen oder aufstehen. Ich sehe dann auch mit allen Einzelheiten sein Leben von Geburt an, die zahlreichen Krankheiten und sonstigen Fährnisse der Kinderjahre, durch die er sich durchgekämpft hat. Kaum war es soweit, fing er an zu arbeiten: er hütete Gänse, ging als Tagelöhner, half als Treiber bei den Jagden, wie sich die Gelegenheit eben ergab. Als der erste Ochse auf seinen Zuruf hin stehenblieb oder sich in Bewegung setzte, wurde er Hilfsochsentreiber. Sein Leben als Erwachsener begann im elften bis zwölften Lebensjahr, als er sich von der Befehlsgewalt des Elternhauses unabhängig machen konnte, indem er ein Deputat, wenn auch nur ein halbes, nach Hause brachte. W a r er beim Militär? J a . Eines Tages gestand ihm ein Mädchen, daß sie ein Kind von ihm erwarte. Sie verschafften sich ein Bett, das genügte zur F a miliengründung, und nun erhielt er als Verheirateter auch volles D e putat. E i n Kind kam zur Welt, und beinahe jedes Jahr folgte ein weiteres. Als das letzte geboren wurde, waren die ersten, wenn sie noch am Leben waren, bereits Hilfsochsentreiber und wurden aufsässig. Sie gingen in die weite Welt hinaus. D a s Alter kam, als Ochsentreiber taugte er immer weniger. Dann starb er. Wenn er entgegen der Regel

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nicht rechtzeitig starb, so gab man ihm leichte Arbeit in den Stallungen. Als nach der Peitsche auch der Besen seiner Hand entfiel, hätte er eigentlich wiederum sterben sollen. Er starb aber nicht. Nun wurde er Feldhüter und erhielt wie zur Warnung, daß er sich die Sache nun nicht mehr zu lange überlegen sollte, da ja sogar seine Kinder schon tot waren, nur noch ein halbes Deputat. Dann hütete er eine Zeitlang wiederum Gänse. Dann, beim nächsten 'Appell', zu Allerheiligen, wurde auch sein Name aufgerufen. 'Na, Töth, Sie haben also niemanden, der sich Ihrer annehmen würde?' fragte der Inspektor. 'Nein, niemanden, gnädiger Herr!' - 'Also im Stall gibt es noch immer einen Platz für Sie.' Dort, wo die Wanderburschen übernachten durften. Das Deputat bekam er nicht mehr, aber die Dienstmägde gaben ihm abwechselnd ein Töpfchen Suppe. Eines Tages verschwand er dann auch, wie die Wanderburschen, wenn er inzwischen nicht gestorben war. Sein Dienstbuch blieb im Kontor; anscheinend schämte er sich, es zurückzuverlangen." 3 Das Leben von Onkel Töth ist kurz der Inhalt von Illyes' Buch. Illyes erzählt von jenen Millionen Töths, die nicht nur die Gesetzgeber, sondern bis heute auch die Geschichtsschreiber und die Dichter vergessen haben. Das Leben der vielen Millionen Onkel Töths ist in den Hauptzügen nicht nur ähnlich, sondern auch identisch. Selbst der Alltag der einzelnen Landarbeiter ist sich bis zum Verwechseln ähnlich. Zumindest im Hinblick auf das Wesentliche. Heute scheint die Sonne, morgen regnet es. Das Wetter verändert sich, auf den Frühling folgt der Sommer, auf den Herbst der Winter. Eine jede Jahreszeit erfordert eine anders geartete Arbeit, doch immer sechzehn bis achtzehn Stunden täglich. Das ändert sich ebensowenig wie der völlige Geldund Brotmangel der Landarbeiter, wie der eine Wohnraum für fünfzehn bis sechzehn Menschen und ihre Hoffnungslosigkeit: Der Landarbeiter weiß, daß dieses schreckliche Leben nicht besser, nur schlechter werden kann, an die Stelle des ständigen Hungerleidens der Hungertod, an die Stelle des Elendsquartiers die endlose Landstraße tritt. Dort, wo Illyes das Leben von Onkel Töth, dessen Frau und ihrer Kinder beschreibt, dort ist er ein Künstler. Seine Aussage ist neu, die Bilder unvergeßlich, seine Sprache klar und kraftvoll. Doch jener Illyes, der nach den Ursachen der Geschichte fragt oder eben mit der Geschichtsphilosophie experimentiert, kann dem Dichter Illyes nicht das Wasser reichen. Wir wußten auch ohne Illyes, daß die Zäpolyaer und Werböczyer 4 keine Führer des ungarischen Volkes waren, sondern ihm Fesseln anlegten, seine Henker waren. Wir wissen sogar noch 347

mehr als Illyes aufdeckt. W i r wissen, daß die Mörder von Dözsas Bauern ebensolche Quartiermacher für Mohäcs 5 waren wie die Tisza, Andrässy, Bethlen und Gömbös für Trianon. 6 Mit dem, was Illyes über die achtundvierziger Revolution schreibt, stimmen wir jedoch nicht überein. E r hält die Befreiung der Leibeigenen für eine nebensächliche - hier und dort im Hinblick auf das Schicksal der Landarbeiter sogar für eine schädliche Episode. Noch weniger sind wir damit einverstanden, daß Illyes weder ein Wort über 1919 7 noch über die Sowjetunion, über Lenin und Stalin sagt, die das Hundertmillionenvolk der endlosen russischen Steppen befreit und gezeigt haben, wie man die Sklaven der ungarischen Puszten befreien muß. Ich denke nicht daran, den Journalisten Illyes mechanisch dem Dichter Illyes gegenüberzustellen. Doch mit dem Autor des Pusztavolk geschieht irgendwie das, was (um ein ganz großes Beispiel zu erwähnen) mit Gogol geschehen ist. Gogol ist als Denker - reaktionär. Als Künstler schreibt er auch dann, wenn er für den Zarismus schreiben will, gegen den Zarismus. D e r Künstler ist stärker als der Denker. Illyes als Journalist ist unentschieden. E r weiß nicht genau, was er will oder wagt es nicht zu sagen. Doch als Schilderer des L e bens ist er ebenso wie als Künstler - ein Revolutionär. Onkel Töth und die in Pusztavolk kraftvoll gezeichneten vielen Onkel Toths zeigen den vielen Wankelmütigen einen Weg. Nach Illyes' Buch wird es schwer fallen zu behaupten, daß die ganze ungarische Bauernschaft so ist wie die Romanhelden von Zsigmond Möricz. Und es wird schwer sein, romantische Verschwörer statt der sehr viel weniger romantischen Landarbeiter zu zeigen. Illyes weiß, daß das Schicksal der Landarbeiter innerhalb des kapitalistischen Systems nicht zu verändern ist, daß ihrem Leiden, solange der Kapitalismus besteht, kein E n d e gesetzt werden kann. Sein Buch endet: „Der Leser ist gewohnt, bei Werken, die äußerst schmerzliche Fragen behandeln, am Ende einen Fingerzeig oder eine Empfehlung hinsichtlich der Lösung zu erhalten, die sein aufgescheuchtes Gewissen wieder beruhigen oder zumindest in ihm das G e fühl aufkommen lassen, daß nicht alles verloren ist und sich gleich dem Entdecker des Übels auch jemand finden wird, der Abhilfe schafft. Sein aufgebrachtes Gemeinschaftsgefühl wird jedoch gerade durch die Ungeheuerlichkeit des Elends nur zu leicht wieder betäubt. D a ich nicht von leichtgläubiger Natur bin, wage ich es nicht, mich in dem Zustand billiger Hoffnungsfreudigkeit zu wiegen. Ich kenne die Schwere des Übels und sehe die sich ergebenden Folgeerscheinun-

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gen voraus. Das Leben eines Teiles des Volkes steht auf dem Spiel. Wie heißt das Heilmittel? Die Beantwortung dieser Frage liegt ebenso beim Leser wie beim Autor, der ihn in den ganzen Fragenkomplex eingeführt hat. Von jenen aber, die das Buch ohne 'Lösung' als unvollendet empfinden und eine Fortsetzung begehren - von jenen erwarte ich auch die Fortsetzung. Ihnen sei dieses Buch gewidmet." 8 Es ist offensichtlich, daß Illyes sein Buch uns, der Ungarischen Kommunistischen Partei, gewidmet hat. 1936

45 SÄNDOR GERGELY

Gyula Illyes:

Pusztavolk

Vor kaum einem halben Jahr ist Gyula Illyes' Pusztavolk erschienen. In dieser Zeit wurde ein ganzer Band Kritiken über das Buch geschrieben. Nicht nur in Ungarn und nicht nur in ungarischer Sprache. Ein Teil der Kritiken berichtet feindselig über Illyes. Gegenstand des Buches sind die Opfer des Sklavenhaltersystems der ungarischen Großgrundbesitzer, das Gesinde, und betrachtet werden die Erscheinungen nicht den Interessen der Großgrundbesitzer gemäß - so ist es nur natürlich, daß die ungarischen und die nicht ungarischen Ideologen des ungarischen Faschismus den Schriftsteller und sein Werk in den Spalten der Tageszeitungen und der Zeitschriften als übertreibend, entstellen und vor allem als unpatriotisch abstempeln. Die Presse des liberalen städtischen Bürgertums begrüßte das Buch hocherfreut. Sie sah in ihm eine Anklageschrift gegen die ungarische Reaktion. Ihrer Meinung nach störe Illyes' übertriebene Bauernanbetung jedoch jene Freude, die Gyula Illyes den Anhängern des Fortschritts besonders dann bereitet hätte, wenn das Pusztavolk auch jene „Kulturarbeit" veranschaulichte, die das städtische Bürgertum schon bisher „verstärkt" unter dem in Sklaverei gehaltenen ungarischen Gesinde „verrichtet hat" und auch weiter „verrichten würde" - würde die ungarische Reaktion dieses Bestreben nicht verhindern. Diese Kritik rügt im wesentlichen, daß Illyes nicht eine Arbeit des städtischen Bürgertums glorifiziert, die von diesem nicht einmal geleistet wurde. Die fortschrittliche ungarische Intelligenz hat das Buch mit großem 349

gen voraus. Das Leben eines Teiles des Volkes steht auf dem Spiel. Wie heißt das Heilmittel? Die Beantwortung dieser Frage liegt ebenso beim Leser wie beim Autor, der ihn in den ganzen Fragenkomplex eingeführt hat. Von jenen aber, die das Buch ohne 'Lösung' als unvollendet empfinden und eine Fortsetzung begehren - von jenen erwarte ich auch die Fortsetzung. Ihnen sei dieses Buch gewidmet." 8 Es ist offensichtlich, daß Illyes sein Buch uns, der Ungarischen Kommunistischen Partei, gewidmet hat. 1936

45 SÄNDOR GERGELY

Gyula Illyes:

Pusztavolk

Vor kaum einem halben Jahr ist Gyula Illyes' Pusztavolk erschienen. In dieser Zeit wurde ein ganzer Band Kritiken über das Buch geschrieben. Nicht nur in Ungarn und nicht nur in ungarischer Sprache. Ein Teil der Kritiken berichtet feindselig über Illyes. Gegenstand des Buches sind die Opfer des Sklavenhaltersystems der ungarischen Großgrundbesitzer, das Gesinde, und betrachtet werden die Erscheinungen nicht den Interessen der Großgrundbesitzer gemäß - so ist es nur natürlich, daß die ungarischen und die nicht ungarischen Ideologen des ungarischen Faschismus den Schriftsteller und sein Werk in den Spalten der Tageszeitungen und der Zeitschriften als übertreibend, entstellen und vor allem als unpatriotisch abstempeln. Die Presse des liberalen städtischen Bürgertums begrüßte das Buch hocherfreut. Sie sah in ihm eine Anklageschrift gegen die ungarische Reaktion. Ihrer Meinung nach störe Illyes' übertriebene Bauernanbetung jedoch jene Freude, die Gyula Illyes den Anhängern des Fortschritts besonders dann bereitet hätte, wenn das Pusztavolk auch jene „Kulturarbeit" veranschaulichte, die das städtische Bürgertum schon bisher „verstärkt" unter dem in Sklaverei gehaltenen ungarischen Gesinde „verrichtet hat" und auch weiter „verrichten würde" - würde die ungarische Reaktion dieses Bestreben nicht verhindern. Diese Kritik rügt im wesentlichen, daß Illyes nicht eine Arbeit des städtischen Bürgertums glorifiziert, die von diesem nicht einmal geleistet wurde. Die fortschrittliche ungarische Intelligenz hat das Buch mit großem 349

Interesse aufgenommen. György Bâlint, der bekannte junge Kritiker und Ästhet, schrieb in der in Budapest erscheinenden Zeitschrift Gondolât einen Bericht über die aufrüttelnde Wirkung, die diese mit hoher Kultur und großartiger Virtuosität geschriebene Arbeit auf ihn ausgeübt hat.1 Würde das Buch nur auf einige hundert oder tausend Leser so wirken wie auf ihn, schreibt Bâlint unter anderem, dann hätte das Pusztavolk eine große Arbeit in dem Kampf geleistet, der den ungarischen Werktätigen ein besseres, schöneres, menschlicheres Leben als heute zu sichern wünscht. Die Kolozsvârer Korunk hat sich ebenfalls mehrmals mit dem Buch befaßt. Zuletzt (im Dezember 1936) stellt Péter Veres über die Dorfforscherbewegung fest, daß „Illyés' Buch literaturgeschichtlich und vielleicht auch bis zu einem gewissen Maße vom historischen Gesichtspunkt aus die bedeutendste Leistung der soziographischen Epoche ist", doch er schreibt auch, daß nicht die bessere Gesindewohnung, der menschlichere und höhere Lohn das Wesentliche seien, sondern der Fingerzeig, der Ausweg aus diesem entsetzlichen Pusztaleben. Und dieser Fingerzeig fehle in Illyés' Buch. Auf die Frage des Auswegs werde ich an anderer Stelle des Artikels noch eingehen; hier sei nur bemerkt, daß die Tagesfragen, d. h. die Forderungen nach einem besseren Leben nicht zu unterschätzen sind, und zwar von der Bewegung jener, die das Endziel, die klassenlose Gesellschaft, erkämpfen wollen.2 Der künstlerische Wert von Pusztavolk - und darin stimmen alle Kritiken überein - steht über jeder Diskussion. Der leichte, klare epische Stil, die menschengestaltende Kraft, der weite Horizont, die gründliche Sachkenntnis und die Identifizierung Illyés' mit dem, was er sagt, sein Mut - das alles hebt das Buch in die Reihe der wertvollen Schöpfungen der heutigen ungarischen Literatur. Außer den bereits erwähnten Kritiken erschien auch in der Sarlö és Kalapâcs vom 1. November 1936 eine Rezension dieses Buches, in der die Meinung vertreten wird, der künstlerische Wert von Pusztavolk würde durch häufige journalistische Oberflächlichkeiten gemindert. Der Autor des Artikels beanstandet auch, daß das Buch auf Ereignisse, die sich auf das Leben, das Denken und den Interessenkreis der Werktätigen der ganzen Welt ausgewirkt haben, nicht reagiert - und hierfür beschuldigt er Gyula Illyés der Verschleierung.3 Die antifaschistische Literaturbetrachtung untersucht bei der Rezensierung literarischer Werke - neben der Erforschung ihrer künstlerischen Werte - , ob der Schriftsteller und sein Werk für die Freiheit der Werktätigen, für ein größeres Stück Brot, für ein friedliches Leben 350

und gegen die Unterdrückung kämpft. Da diese kämpferischen Standpunkte in dem Buch von Gyula Illyés aufzufinden sind - und sogar sehr sichtbar - , leistet Pusztavolk eine große Arbeit im Kampf für die ungarische Demokratie. Der aus Sarló és Kalapdcs zitierte Artikel und sein Autor (Béla Illés) haben die Tatsache aus dem Auge verloren, daß auch die Umgebung untersucht werden muß - die Umgebung, in der der Schriftsteller lebt und in der sein Buch entstanden ist. Nach einer gründlichen Untersuchung des Umfeldes - zu dem ebenfalls gehört, daß Gyula Illyés kein Kommunist ist - hätte Béla Illés nicht kritisiert, worüber das Buch nicht berichtet, und nicht ein Werturteil im Hinblick der Mängel abgegeben. Nur auf Grund des den künstlerischen und gesellschaftlichen Werten des Buches gegenüber bewiesenen Unverständnisses konnte der Schreiber des Artikels in Sarló és Kalapdcs feststellen, der Künstler und der Reaktionär Gyula Illyés würden in dem Buch einen ständigen Kampf miteinander führen, der am Ende von dem Künstler gewonnen werde. Wie kommt der Schreiber des Artikels dazu, ihn des Reaktionären zu beschuldigen? Gyula Illyés' schriftstellerische Vergangenheit beweist etwas anderes. Sie zeugt von vielen Sympathiebeweisen für den Kampf um ein besseres, schöneres Leben des ungarischen werktätigen Volkes. Und dieses Buch beweist diese Sympathie besonders. Pusztavolk ist eines der bedeutendsten Ergebnisse der Bewegung ungarischer Dorfforscher4 im Jahre 1936. Von der Kunstgattung her ist es vielleicht am ehesten als novellistische Soziographie zu bezeichnen. Das Buch berichtet von der südtransdanubischen Puszta - über Illyés' Geburtsort. Der Autor vergleicht seine Kindheitserinnerungen mit dem heute Gesehenen, und das Ergebnis ist nicht nur eine Darstellung der Räcegrespuszta, sondern ganz allgemein ein Zeugnis von der Liebe zur Arbeit und zum Leben auf den Latifundien der ungarischen Großgrundbesitzer. Ein Teil des Gesamtbildes ist das die Puszta beherrschende herrschaftliche Schloß mit den dort wohnenden Inspektoren. Diese gestiefelten Landwirte mit der Hundepeitsche sind die Vollzugspersonen der feudalen Überreste des heute herrschenden ungarischen Gesellschaftssystems, die die auf ihrem Besitz selten anzutreffenden Herren mit uneingeschränkter Macht vertreten und jene Einnahmen sichern, die die Besitzungen mit ihren Tausenden von Joch und dem auf ihnen arbeitenden Gesinde mit zwölf-, vierzehn- und sechzehnstündiger Ar351

beit erwirtschaften. Das Vermögen wird durch den Zehnten gründlich vermehrt. Ein Teil der Hühner und der Schweine, der Eier, der Milch und der Lämmer gehören auch heute dem Schloß. Es gibt auch unentgeltliche Fronarbeit, die zu einem großen Teil die Frauen ableisten meistens mit Arbeit im Haus. Das jus primae noctis veränderte sich in der Form, doch es ist in Kraft, obwohl sich hier eine kleine Linderung gegenüber dem früheren Leben der Fronbauern zeigt: Nicht die Jungfernschaft ist das Wesentliche, sondern die Leistung, die Frau selbst. Die Frau, das Mädchen sind verpflichtet, sich dann hinzugeben, wenn es der Herr, der Inspektor fordert. Ein ungeschriebenes Gesetz schreibt das vor. Ebenso wie es kein Gesetz dafür gibt, welches das hübsche Mädchen in der Fabrik verpflichtet, dem Aufseher Folge zu leisten. Es verliert eben nur sein Brot, wenn es sich widersetzt, und auf der Puszta wagen das Mädchen oder die Braut kaum, sich zu widersetzen. Die in wirtschaftlicher und geistiger Unterdrückung Lebenden stellen jedoch nur für den außenstehenden, den unkundigen Betrachter eine einheitliche Masse dar. Ein unermeßlich großer Herr ist der herrschaftliche Kutscher, größer als der Ochsentreiber, der hingegen in dünkelhafter Höhe über dem Knecht steht. Die Kuhhirten hingegen vertreten eine so niedere Kaste, daß unter ihnen nur der Bettler auf der Straße steht. Ein besonderer Stand sind die Rechnungsleger und wieder ein besonderer die Schäfer, die Pferdehirten oder die Schweinehirten. Von dem einen in den anderen Stand überzutreten, ist sehr schwer, fast unmöglich. Und wieder einen ganz anderen Stand bilden die Handwerker der Puszta, das Volk der Schmiede, Stellmacher und Schlosser. Eine abgegrenzte Welt, die Gyula Illyes großartig zeigt, doch in dieser kleinen Welt sind alle Charakteristika der großen Welt genau zu erkennen. Die Puszta ist die Heimat der schweren Peitschen und des wenigen Brots! Und weil die peitschende Hand immer härter und die entlohnende Hand immer geiziger wird - wächst auf dem guten schwarzen Boden immer weniger, wütet die Rinder- und Schweinepest immer öfter, und immer häufiger verendet das Vieh, und immer öfter gehen Getreide und Viehfutter, Vermögen verloren. Der Knecht arbeitet nur angetrieben! Angetrieben, und auch dann schlecht! Der Knecht faulenzt und sabotiert! Schon lange und immer hartnäckiger, je stärker die Peitsche und je weniger das Brot wird. Und diese Erscheinung, diese passive Resistenz - die auf eine aktivierende politische Lenkung wartet - , die die wirtschaftlichen Grundlagen des Großgrundbesitzers 352

angreift, ist ein Positivum des Buches: Sie ist ein Zeichen dafür, daß die abgestumpften Landarbeiter, wenn auch unbewußt, die Formen des primitiven Verteidigungs- und Angriffskampfes gegen die Unterdrücker gefunden haben und auch anwenden. An den „Ausweg" hat selbst Gyula Illyes nicht gedacht, er hatte bestimmt auch nicht beabsichtigt, die passive Resistenz der Landarbeiter zu beschreiben. Unter den vielen, lebendig wirkenden Figuren des Buches hebe ich eine heraus, um zu zeigen, wie das Arbeitsleben des Pusztavolks aussieht: „Eines Tages saß ich neben dem alten Onkel Röka auf dem Wagen. Fast drei Stunden brauchte das Ochsengespann für den Weg zur Puszta, den ich zu Fuß in einer halben Stunde zurückgelegt hätte. Wir schwiegen die ganze Zeit. Plötzlich stieß der Alte einen langgedehnten Seufzer aus und legte nach einer Weile mit einer weitausholenden Gebärde die schwere Peitsche hinter sich. Dann, als ob jede Bewegung ihn schmerze, betastete er die inneren Taschen seines Rockes so vorsichtig, als wären sie ein krankes Herz oder eine entzündete Wunde. Die Pfeife war nicht da, worauf er ziemlich lange in Gedanken versunken vor sich hinstarrte, wie um ein schweres Problem - den Verbleib der Pfeife - zu ergründen. Endlich, da ihm nichts anderes übrigblieb, als in den sauren Apfel zu beißen, griff er nach der äußeren Rocktasche. Mit der Hand in der Tasche glotzte er wieder unbeweglich vor sich hin. Dann förderte er endlich die Pfeife zutage und starrte sie so versonnen an, als ob er sie noch nie gesehen hätte. Mit großer Umständlichkeit klappte Onkel Röka den Pfeifendeckel hoch. Das Suchen und Hervorholen des Pfeifenräumers dauerte womöglich noch länger. Schließlich war die Pfeife gesäubert und der Tabaksbeutel in der Hand. Nun mußte sie nur noch gestopft werden. Da wandte der Alte seine Blicke dem Himmel zu. Wird er vielleicht abwarten, bis die Wolke sich verzieht? Mit dem Streichholz ging er um, als ob es die allerletzte Gelegenheit gewesen wäre, auf dieser Erde Feuer zu entfachen und das Schicksal der Menschheit von diesem einen Streichholz abhinge. Schließlich vergaß der Alte zu ziehen, und die Pfeife ging aus." 5 Gyula Illyes, einer der bedeutendsten Dichter der ungarischen Literatur, reihte sich mit dieser Prosaarbeit unter die besten ungarischen Erzähler ein. Das Buch wirkt auf immer breitere Kreise. Das wird auch nicht so bald aufhören. In der Presse schlagen die Wellen immer höher, bei Zusammenkünften ist es ein ständiges Diskussionsthema, ein Quellenwerk für andere Schriften, die das Dorf erforschen und darstellen. 23

Befunde

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Aus den verschiedenen Bewertungen des Buches, das im Kreuzfeuer freundschaftlicher und gegnerischer Meinungen gestanden hat - und auch heute noch steht kann auch jenes literarische Lager seine Lehren ziehen, das für die Ideale der antifaschistischen Volksfront kämpft. 1937

46 JÔZSEF RÉVAI

Volkstümler und Humanisten Der Einfluß der Rechten innerhalb der Richtung der Volkstümler 1 war bislang eines der Haupthindernisse dafür, daß die Volkstümler im Kampf für ein demokratisches Ungarn an vorderster Front mit einer anderen bedeutenden Richtung des demokratischen Geistes im heutigen Ungarn, mit den Liberal-Humanisten zusammentrafen, die sich unter der Führung von Pâl Ignotus um die Zeitschrift Szép Szô2 gruppieren. Es gab eine Zeit, da zwischen diesen beiden Richtungen sozusagen ein blutiger geistiger Kampf stattfand, sehr zum Schaden der demokratischen Bewegung. Die Anklage der Volkstümler gegen die Humanisten lautete, sie seien Söldner des „liberalen Kapitalismus", während die Humanisten die Volkstümler beschuldigten, sie seien Quartiermacher der faschistischen Pseudo-Volkstümlichkeit. Die Humanisten warfen den Volkstümlern Antisemitismus vor, während die Volkstümler die Humanisten der Freundschaft mit dem Großgrundbesitz bezichtigten. Aufrichtig gesagt, beide Anschuldigungen enthielten ein Körnchen Wahrheit. Bei den Volkstümlern war zweifelsohne ein gewisses Zaudern festzustellen, in der „Judenfrage" 3 klar und eindeutig Stellung zu beziehen - und zwar im Sinne der Rechtsgleichheit, gegen die antisemitische Demagogie. Was waren die Ursachen dafür? Zum einen hatten sie Angst davor, endgültig jene Sympathien zu verspielen, die man ihnen - trotz ihrer Haltung - sogar in rechten Kreisen entgegenbrachte. Dies beeinflußte sie, und es lag ihnen viel daran, daß die Rechte sie nicht f ü r „Judensöldner" hielt. Erst neulich gab der Pressechef Imre Râkâczy eine „knappe und kernige" Einschätzung über die Dorfforscher, indem er sagte, daß „das jüdische Großkapital" mit der 354

Aus den verschiedenen Bewertungen des Buches, das im Kreuzfeuer freundschaftlicher und gegnerischer Meinungen gestanden hat - und auch heute noch steht kann auch jenes literarische Lager seine Lehren ziehen, das für die Ideale der antifaschistischen Volksfront kämpft. 1937

46 JÔZSEF RÉVAI

Volkstümler und Humanisten Der Einfluß der Rechten innerhalb der Richtung der Volkstümler 1 war bislang eines der Haupthindernisse dafür, daß die Volkstümler im Kampf für ein demokratisches Ungarn an vorderster Front mit einer anderen bedeutenden Richtung des demokratischen Geistes im heutigen Ungarn, mit den Liberal-Humanisten zusammentrafen, die sich unter der Führung von Pâl Ignotus um die Zeitschrift Szép Szô2 gruppieren. Es gab eine Zeit, da zwischen diesen beiden Richtungen sozusagen ein blutiger geistiger Kampf stattfand, sehr zum Schaden der demokratischen Bewegung. Die Anklage der Volkstümler gegen die Humanisten lautete, sie seien Söldner des „liberalen Kapitalismus", während die Humanisten die Volkstümler beschuldigten, sie seien Quartiermacher der faschistischen Pseudo-Volkstümlichkeit. Die Humanisten warfen den Volkstümlern Antisemitismus vor, während die Volkstümler die Humanisten der Freundschaft mit dem Großgrundbesitz bezichtigten. Aufrichtig gesagt, beide Anschuldigungen enthielten ein Körnchen Wahrheit. Bei den Volkstümlern war zweifelsohne ein gewisses Zaudern festzustellen, in der „Judenfrage" 3 klar und eindeutig Stellung zu beziehen - und zwar im Sinne der Rechtsgleichheit, gegen die antisemitische Demagogie. Was waren die Ursachen dafür? Zum einen hatten sie Angst davor, endgültig jene Sympathien zu verspielen, die man ihnen - trotz ihrer Haltung - sogar in rechten Kreisen entgegenbrachte. Dies beeinflußte sie, und es lag ihnen viel daran, daß die Rechte sie nicht f ü r „Judensöldner" hielt. Erst neulich gab der Pressechef Imre Râkâczy eine „knappe und kernige" Einschätzung über die Dorfforscher, indem er sagte, daß „das jüdische Großkapital" mit der 354

Dorfforschung „die Aufmerksamkeit vom Antisemitismus abwenden und auf den christlichen Großgrundbesitz hinlenken will". 4 Solche einfältigen und demagogischen Äußerungen haben auf einzelne Volkstümler noch einen allzu großen Einfluß. Doch eine andere, tiefer liegende Ursache dieser Unentschlossenheit in der „Judenfrage" ist, daß unter den Volkstümlern viele - darunter auch Géza Féja den Kapitalismus auf rassischer Grundlage erklären, indem sie vom jüdischen Kapitalismus reden und leugnen, daß es überhaupt einen ungarischen Kapitalismus gebe. Diesen rassisch begründeten Antikapitalismus darf man freilich nicht mit der antikapitalistischen und antisemitischen Demagogie der Faschisten verwechseln, denn die Wurzeln dieses von Géza Féja und Péter Veres vertretenen falschen Standpunktes reichen in das Bauerntum hinein : Der Kapitalismus ist für sie ein fremdes Produkt (wie seinerzeit der Kapitalismus für die russischen Narodniki „fremd" war), und wenn es fremd ist, so ist es eben jüdisch. Allerdings ist zu verstehen, daß die Haltung des Pester Liberalismus nicht immer geeignet ist, den Volkstümlern dabei zu helfen, in der Judenfrage einen konsequent demokratischen Standpunkt einzunehmen. Denn es gibt ja viele „Liberale", die sich wenig um die Freiheit scheren, vorausgesetzt, daß den Juden kein besonderes Leid zugefügt wird. Viele Liberale in Pest hofierten lange Zeit Mussolini allein aus dem Grunde, weil der italienische Faschismus damals nicht antisemitisch eingestellt war. Die Volkstümler hatten darin recht, daß sie das Alpha und Omega der Demokratie, ihre zentrale Frage, nicht in der Rechtsgleichheit der Juden sahen, doch sie haben unrecht, wenn sie glauben, daß die Demokratie mit einem noch so „gemäßigten" und noch so „feinen" Antisemitismus zu vereinbaren sei. Gegen den Antisemitismus ist nicht in erster Linie im Interesse der Juden, sondern vor allem im Interesse der Demokratie zu kämpfen, und man muß erkennen, daß es in Ungarn von immer größerer Bedeutung ist, sich auch in dieser Frage zum Geist von Jözsef Eötvös und Lajos Kossuth zu bekennen.5 In der Frage der Bodenreform 6 erweisen sich die Humanisten hingegen als die Schuldner der Demokratie. Nicht etwa, daß sie offen gegen die Bodenreform Stellung bezogen hätten, doch sie verfolgten die Debatte um die Frage von Großgrund- und Kleingrundbesitz mit einer kühlen, „wissenschaftlichen" Neutralität. Sie neigten dazu, bei der Entscheidung dieser Frage die Diskussion in jene Richtung zu lenken, wohin auch die Großgrundbesitzer strebten : um die Entscheidung in dieser Frage davon abhängig zu machen, welche Betriebsform pro23»

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duktiver sei. Sie erkannten nicht, daß in der Diskussion über die Frage der „Betriebsform" Klassen miteinander diskutierten. Sie übersahen, daß, solange in Ungarn der feudale Großgrundbesitz herrscht, die breiten Massen der Bauern lediglich in Elend dahinvegetieren können. Ihnen nahestehende Agrartechniker und Volkswirtschaftler jedoch wandten sich - wie zum Beispiel im bekannten Buch von Adorjân 7 oder in der Diskussion Frigyes Görögs mit Matolcsy in der Cobden-Gesellschaft 8 - offen gegen die Bodenreform, ohne daß die Humanisten diese reaktionären und in der Tat nur die Interessen des ungarischen Bankkapitals vertretenden Standpunkte abgelehnt hätten. Ist es da ein Wunder, wenn die Volkstümler-Richtung nach alledem mit tiefem Mißtrauen auf alles blickte, was den Geruch des „Humanistischen" an sich hatte. Péter Veres sah im „Humanismus" geradewegs eine antibäuerliche Schläue. Dieses sich gegen die Bodenreform richtende, schwankende Verhalten der Humanisten hatte zur Folge, daß die Volkstümler sogar deren richtiges und ehrliches Bemühen, den Gedanken des ungarischen Fortschritts mit dem des europäischen zu verbinden, mit Argwohn aufnahmen. Zum Entstehen dieses Irrglaubens, der in der Idee des Humanismus eine dem Volke fremde Idee sah, trugen auch die - gelinde gesagt - seltsamen „Privatmeinungen" einzelner ungarischer Humanisten bei. Die neue ungarische humanistische Richtung hat nämlich oftmals zwei Gesichter. Sie ist einerseits kämpferisch, durch und durch aufrichtig und wendet sich scharf gegen den Faschismus und betrachtet es andererseits als ihre Hauptaufgabe, gegen den Bolschewismus zu kämpfen. Ein Hauptvertreter der kämpferischen antifaschistischen Richtung ist der hervorragende Pal Ignotus, und dem Kreis der Szép Szó steht Béla Zsolt naKe, der trotz vieler bürgerlicher Schranken der mutigste Publizist des heutigen Ungarn ist. Der Spezialist des antibolschewistischen Humanismus in Ungarn ist Ferenc Fejtö, der sich zwar für einen „Sozialisten" hält, doch zu seinem „sozialistischen Humanismus" muß man zuweilen sagen, der Himmel möge uns vor ihm bewahren. Das eine Mal sieht er seine Aufgabe darin, die gegen die Sowjetunion gerichteten Ansichten André Gides zu popularisieren, ein anderes Mal, die Trotzkisten zu verteidigen und wieder ein anderes Mal darin, die Wahrheit des Marxismus (allerdings nur die des „jungen" Marx, denn der „alte" Marx war Fejtôs Meinung zufolge keine Humanist mehr) gegenüber der Sowjetunion herauszustellen! Dieser Humanismus enthält eine völlig überholte Schwärmerei gegenüber dem „Westen" (die zur Zeit Adys verständlich und fortschrittlich war), die heute jedoch als Kul356

tursnobismus und kritiklose Anbetung der bürgerlichen Demokratie (nicht der Volksfront-Demokratie, sondern der bürgerlichen Demokratie) anmutet. Kein Wunder, wenn die Volkstümler von diesem Humanismus zuweilen wild werden und die Humanisten bezichtigen, daß sie sich mehr für die französische impressionistische Malerei interessieren als für den Bissen Brot des ungarischen Bauern. Haben die Volkstümler im allgemeinen den Hang, die Lebensform des Dorfes, die Volkskultur zu idealisieren, so neigen die Humanisten dazu, die städtische Kultur zum Ideal zu erheben. So ist doch die politische Gegenüberstellung von Stadt und Dorf, mit der Imre Nemeth den Anhängern der März-Front® bittere Augenblicke verschaffte, ebenso schädlich und reaktionär wie es falsch und unverständlich ist, nur das Gute oder nur das Schlechte in der volkstümlich-bäuerlichen bzw. städtisch-bürgerlichen Kultur zu sehen. Die Gegenüberstellung von Volkstümlertum und Urbanismus ist ebenso falsch wie die Loslösung des Bauerntums von den städtischen Werktätigen, insbesondere von der Industrie-Arbeiterschaft. Urbanismus! Als könnte man sich für Budapest begeistern! Die Volkstümler tun gut daran, sich nicht für den Kaffeehaus-Zynismus und für die Dramenliteratur zu begeistern, die die sexuellen „Probleme" von Leopoldstadt 10 exportiert. Doch Budapest ist auch die Stadt des 15. März 11 , wie die der sozialistischen Arbeiterbewegung. Sie gehört Sändor Petöfi ebenso wie Endre Ady. Gerade in Verbindung mit diesen Repräsentanten ungarischen Geistes ist die Frage, ob sie Volkstümler oder humanistische Urbanisten seien, geradezu sinnlos. Istvän Tömörkeny oder Sändor Brödy stellen lediglich Extreme 12 des ungarischen Geistes dar, während die Einheit und die Größe dieses Geistes in den Persönlichkeiten von Sändor Petöfi und Endre Ady verkörpert ist. Es wäre allerdings ein Fehler zu meinen, daß diese Gegensätze nur auf Grund der jeweiligen geistigen Einseitigkeiten der volkstümlichen und der humanistischen Richtung hervorbrachen. Nein, hier ist von tieferreichenden Dingen die Rede. Es geht um den Gegensatz von bäuerlicher und bürgerlicher Demokratie. Die Volkstümler vertreten den radikalen Demokratismus der ungarischen Bauernschaft, während die Humanisten den Demokratismus des fortschrittlichen städtischen Bürgertums repräsentieren. Daher rührt auch jener eigenartige Widerspruch, daß die Volkstümler in der Frage des sozialen Fortschritts radikaler sind als die Humanisten, während sich der Standpunkt der Humanisten wiederum in den Fragen der politischen Demokratie und in bezug auf die Solidarität mit der internationalen demokrati357

sehen Bewegung als konsequenter erweist, wogegen viele unter den Volkstümlern gegenüber einer Infizierung durch die faschistische Ideologie nicht ganz immun sind. E s steht außer Zweifel, daß sich bürgerlicher und bäuerlicher Demokratismus nicht gegeneinander wenden dürfen, sondern sich verbünden müssen, und daß der dritte Stützpfeiler dieses Bündnisses der sozialistische Demokratismus, der proletarische Humanismus sein muß. Das neue Ungarn läßt sich weder allein mit der Bauernschaft noch allein mit dem fortschrittlichen Bürgertum erkämpfen. Dazu sind beide werktätigen Klassen erforderlich, und es bedarf zudem der Arbeiterklasse. D i e Einberufung des Kecskemeter Treffens 1 3 ist ein Beweis, daß diese Erkenntnis allmählich in den sich bislang einander bekämpfenden geistigen Richtungen Bahn bricht. 1938

47 GYÖRGY BÄLINT

Märtyrer des Verstandes „Wie ein Gedankenstrich, waagerecht ist dein Körper", schrieb Attila Jözsef nach Kosztolänyis Begräbnis. 1 Seit nunmehr zwei Jahren betrifft dies auch seinen Körper. D e r Gedankenstrich bedeutet Spannung und Unvollendetheit, einen dramatischen Augenblick, der auf Auflösung wartet. Diese Spannung hörte nicht im Dezember 1937 unter den Rädern des Güterzuges auf, und sie hat auch seither auf dem Friedhof von Szärszö nicht aufgehört. 2 „Wie ein Gedankenstrich, waagerecht ist dein Körper", sagen wir für uns, wenn wir an Attila Jözsef denken, an die tragischen Spannungen seines Lebens und den. unerwarteten Schauder seines Todes. E s ist schwer, ohne Pathos über ihn zu schreiben, war doch sein Leben ein einziges Pathos, und nicht sosehr im modernen wie eher im griechischen Sinne des Wortes, was in erster Linie Leiden bedeutet. Not, Kämpfe, Schizophrenie, Selbstmord, alles das verlangt auch unfreiwillig große und erschütternde Worte. Dennoch glaube ich, wer über Attila Jözsef schreiben will, der muß solche Worte meiden. Ich möchte dies auch jenen empfehlen, die einmal seine Lebensgeschichte schreiben werden. D i e großen und klingenden Worte soll man für die Lebensläufe der verschiedenen kleineren und größeren „Propheten" und „Besessenen" aufbewahren.

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sehen Bewegung als konsequenter erweist, wogegen viele unter den Volkstümlern gegenüber einer Infizierung durch die faschistische Ideologie nicht ganz immun sind. E s steht außer Zweifel, daß sich bürgerlicher und bäuerlicher Demokratismus nicht gegeneinander wenden dürfen, sondern sich verbünden müssen, und daß der dritte Stützpfeiler dieses Bündnisses der sozialistische Demokratismus, der proletarische Humanismus sein muß. Das neue Ungarn läßt sich weder allein mit der Bauernschaft noch allein mit dem fortschrittlichen Bürgertum erkämpfen. Dazu sind beide werktätigen Klassen erforderlich, und es bedarf zudem der Arbeiterklasse. D i e Einberufung des Kecskemeter Treffens 1 3 ist ein Beweis, daß diese Erkenntnis allmählich in den sich bislang einander bekämpfenden geistigen Richtungen Bahn bricht. 1938

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Märtyrer des Verstandes „Wie ein Gedankenstrich, waagerecht ist dein Körper", schrieb Attila Jözsef nach Kosztolänyis Begräbnis. 1 Seit nunmehr zwei Jahren betrifft dies auch seinen Körper. D e r Gedankenstrich bedeutet Spannung und Unvollendetheit, einen dramatischen Augenblick, der auf Auflösung wartet. Diese Spannung hörte nicht im Dezember 1937 unter den Rädern des Güterzuges auf, und sie hat auch seither auf dem Friedhof von Szärszö nicht aufgehört. 2 „Wie ein Gedankenstrich, waagerecht ist dein Körper", sagen wir für uns, wenn wir an Attila Jözsef denken, an die tragischen Spannungen seines Lebens und den. unerwarteten Schauder seines Todes. E s ist schwer, ohne Pathos über ihn zu schreiben, war doch sein Leben ein einziges Pathos, und nicht sosehr im modernen wie eher im griechischen Sinne des Wortes, was in erster Linie Leiden bedeutet. Not, Kämpfe, Schizophrenie, Selbstmord, alles das verlangt auch unfreiwillig große und erschütternde Worte. Dennoch glaube ich, wer über Attila Jözsef schreiben will, der muß solche Worte meiden. Ich möchte dies auch jenen empfehlen, die einmal seine Lebensgeschichte schreiben werden. D i e großen und klingenden Worte soll man für die Lebensläufe der verschiedenen kleineren und größeren „Propheten" und „Besessenen" aufbewahren.

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Ihnen begegnen wir häufig in unserem literarischen Leben, nicht nur unter den Dichtern, sondern, leider, auch unter den Essayisten. In den letzten zwanzig Jahren kam dieses erregte und chronisch feierliche schriftstellerische Verhalten bei uns immer mehr in Mode. Die „prophetischen" Schriftsteller teilen nie mit, sondern verkünden, sagen nie ihre Meinung, sondern „geben immer ein Glaubensbekenntnis", ihre Worte sind im allgemeinen glühend, ihre Gedanken im allgemeinen mystisch und verworren. Sie sind im Winter und Sommer, nachts und am Tage immer Genies, sie sind die Unverstandenen und Beleidigten. Attila Jözsef, der wirklich ein Genie war, den man geradezu in den Hintergrund gedrängt hatte und der in der Tat - am Ende seines Lebens - geisteskrank gewesen ist, ihm schauderte es vor prophetischem Verhalten. Ich glaube, er war der größte ungarische Dichter der Nachkriegsgeneration: Ein Seidenbett besaß er nie und fraß sich durch so recht und schlecht.3 Seine zweiunddreißig Jahre waren fast nur Schmerz - dennoch war er bis zum Lebensende einfach und bescheiden geblieben, war von seinem feinen Petöfi-Gesicht auch in dem letzten entsetzlichen Jahr nur selten das Lächeln geschwunden. E r verabscheute die Pose und das schnaufende Pathos, und er haßte das feierliche Durcheinander der Begriffe. Die Helle und den Verstand betete er an, sie verteidigte er krampfhaft und heldenhaft gegen die Verdüsterung. Seine Leidenschaft war die Wirklichkeit, sein einziges dichterisches Ziel: die Wirklichkeit, die grundlegenden Bewegungskräfte der menschlichen Welt zu verstehen, „Draußen die produktive Kraft/und den Trieb in unserer Brust . . Im letzten Abschnitt seines kurzen Lebens hat er schon oft mit getrübtem Bewußtsein geschrieben, in die kritische Anschauung der Wirklichkeit waren schon häufig die kühnen und geheimnisvollen Ideenassoziationen des Wahnsinns eingebrochen. Doch selbst diesen traurigen Prozeß konnte er manchmal, in den Augenblicken der Inspiration, sachlich wahrnehmen. Die meisten Dichter sind tagsüber mehr oder weniger nüchtern und überlassen sich nur in den Augenblicken der Inspiration einem dem Rausch ähnlichen Zustand. Bei Attila Jözsef verhielt es sich im letzten Jahr seines Lebens bereits entgegengesetzt: Der Nebel-Zustand war bei ihm beinahe alltäglich geworden, und die Augenblicke der Inspiration brachten die kurze, aber scharfe Helle. Dann sah er mit unerbittlicher Sicherheit und entsetzt den rapi-

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den Zerfall seines Verstandes, und er flehte wie ein erschrockenes Kind um Hilfe: Wie'n Sturm saust, liebt mich allezeit, verscheucht, vertreibt mein graues Leid, ich grins und spring im Affenkleid zwischen meinen Ideen, zwischen den Gittern, einen Fuß breit, nichts mehr, was ich glaub, nichts mehr, was mich freut: ich werd meiner Straf nicht entgehn. 5 Im gleichen Maße, wie seine Krankheit voranschritt, überließ der Dichter, der die Helligkeit suchte, nach und nach seinen Platz dem schaudernden Kind, das allmählich allein blieb und nur noch in der geheimen Privatsprache der uralten Ängste zu reden wußte. Die unmittelbare Ursache seines Selbstmordes wird sich nie herausstellen, doch ist wahrscheinlich, daß er im Augenblick der Inspiration passierte, als er erkannte, daß er die Wirklichkeit zu erforschen nicht mehr in der Lage ist. Nietzsche sagte, daß auf den, der lange in den Abgrund blickt, der Abgrund zurückblickt. Attila Jözsef gehörte zu den mutigsten Dichtern: Ihn zogen ausschließlich die gefährlichen Geheimnisse der Wirklichkeit an, die äußere und die innere Wirklichkeit, die mit Katastrophen drohenden Abgründe „der Produktivkräfte und der Instinkte". Er ist aus der Tiefe der Gesellschaft, vom „Rand der Stadt" 6 gekommen, die Anschauung der ungarischen Arbeiterklasse fand in ihm zum ersten Mal jemanden, der sie bewußt zum Ausdruck gebracht hat. Er war gebildet, nicht nur auf literarischem, sondern auch auf gesellschaftswissenschaftlichem und psychologischem Gebiet, viel gebildeter als die meisten Dichter seiner Zeit. Obwohl kulturell vielseitig gebildet, blieb seine frische, kritische Arbeiteranschauung unversehrt: E r betrachtete die Welt als einen Komplex tobender Gegensätze, als eine unausgesetzte Disharmonie, die dennoch um Harmonie bestrebt war. Selbst durch Leiden und Enttäuschungen hindurch hat er diese Welt geliebt, beharrte er auf der Wirklichkeit und wollte er an ihrer Gestaltung teilnehmen: Der Dichter - auf seinen Lippen noch klingt das Wort, der trunkene Laut, während er, Ingenieur der bezaubernden Welt, die bewußte Zukunft erschaut.. P 1939 360

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Mit Feder und Werkzeug1 Über die sozialistische Dichtung, über die sozialistische Literatur im allgemeinen wurde schon ungeheuer viel zusammengeschrieben. Mit ein wenig Übertreibung könnte man sagen, daß es viel mehr literaturtheoretische Schriften gibt als Werke, über die diskutiert werden kann. Hier stellt sich als erstes sogleich die „ewige" Frage: Kann man überhaupt von einer sozialistischen Literatur sprechen, solange die sozialistische Gesellschaft nicht Wirklichkeit geworden ist? Kann in dieser Übergangsepoche von etwas anderem als von einer kämpferischen proletarischen Literatur die Rede sein? Mit diesen Fragen sind wir dann auch bereits bei dem anderen, ständig gegenwärtigen Diskussionspunkt angelangt, der durch ein endgültiges Urteil offenbar nicht erledigt werden kann: ob die Tendenz-Literatur notwendig ist? Oder kann die Literatur einer Klasse, die eine neue Gesellschaft anstrebt, etwas anderes als eine Klassenliteratur sein? Oder noch weitergehend: Gibt es eine Existenzberechtigung für die Klassenliteratur? Wenn ja, welches sind die maßgebenden Gesichtspunkte des Werturteils? Ferner: Wo ist die Grenze einerseits zwischen dem Programm und der Tendenz und andererseits zwischen der Tendenz und dem gesellschaftlichen Realismus, der die äußeren und inneren Wirklichkeiten des menschlichen Lebens dialektisch darstellt? Die Reihe dieser Fragen, über die bis jetzt schon übermäßig viel diskutiert worden ist, ließe sich unendlich ausweiten, ihnen kann man keineswegs ausweichen, wenn man schon einmal versucht, Ordnung in dem theoretischen Durcheinander zu schaffen. In dem engen Rahmen einer literarischen Einführung ist es selbstverständlich unmöglich, auf diese Fragen eine ernsthafte, gründliche Antwort zu geben. „Theoretisch Ordnung" zu schaffen, also bestrebt sein, allgemeingültige, sogar endgültige Normen für die sozialistische Literatur aufzustellen, ist auf jeden Fall ein hoffnungsloses Unternehmen. Ist es doch nicht möglich, für die ganze Gesellschaft, für die künftige neue Gesellschaft, so im voraus, auf theoretischem Wege, endgültige Kategorien festzusetzen, da dies nur Utopie wäre. Auch der wissenschaftliche Sozialismus unternimmt diesbezüglich nicht mehr, als die Bewegungsgesetze der Gesellschaft darzustellen und die künf361

tige Entwicklungsrichtung zu erforschen. Wie könnte man dann innerhalb des Ganzen, auf einem Teilgebiet, endgültig Ordnung schaffen, sei es auch nur auf theoretischem Gebiet? Wer so etwas unternimmt, bei dem handelt es sich offensichtlich mehr um eine von der Wirklichkeit abstrahierte, zum spekulativen Gedankensystem neigende, hochmütige Schwärmerei als um eine dem sich ständig verändernden Leben gegenüber vorhandene Ergebenheit, die an der steten Veränderung aktiv teilnehmen will. Die Literatur hat jedoch viel mehr mit dem letzteren gemein. All dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß den literaturtheoretischen Schriften bei der Herausbildung der sozialistischen Literatur nicht auch die ihnen eigene Rolle zukäme. Sie besitzen sie, oder sollten sie zumindest haben, weil es ohne kritischen Fingerzeig keine Entwicklung gibt. Das ist unbestreitbar. Doch unbestreitbar ist auch, daß ein theoretisches, kritisches System, wie genau und fehlerlos es auch immer sei, keine Literatur schafft. Damit will ich nur sagen, daß die Gesichtspunkte der Literaturtheorie in erster Linie literarische sein müssen und es durchaus richtig ist, daß man die Literatur auch wie eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens behandelt, aber es darf nicht vergessen werden, daß die Literatur dennoch ihre eigenen inneren Gesetzmäßigkeiten hat. Verändern und entwickeln kann sie jedoch nur im Rahmen dieser Gesetzmäßigkeiten, und man denkt sich vergebens die „allerpatentesten" Formeln aus: Was man in sie hineinpressen kann, ist keine wirkliche Literatur. Bei den Sozialisten besteht oft der Irrtum, daß sie die Literatur lediglich als ein Mittel der gesellschaftlichen Veränderung betrachten. Als ein Mittel, das sie für sich herrichten müssen, damit es am besten der Verwirklichung des Sozialismus dienen kann. Nach dieser Auffassung ist die Literatur Propaganda und entweder in den Kampf für den Sozialismus einbeziehbar oder nicht. Wenn ja, dann wird sie gewürdigt, wenn nicht, lehnt man sie ab. Auf jeden Fall ist dies für ihr Werturteil ausschlaggebend. Diese Auffassung ist jedoch sehr oberflächlich und starr. Niemand kann in Abrede stellen, daß die Literatur wirklich Propaganda ist, im wahrsten Sinne des Wortes, verbreitet sie doch Ideen und formt Menschen. In dieser Beziehung ist sie also wirklich ein „Mittel" - doch gleichzeitig ist es das Ziel, daß man sie ebenso besser, menschlicher und kollektiver gestaltet, wie es ihre Aufgabe ist, die Formen des menschlichen Zusammenlebens besser, menschlicher und kollektiver zu gestalten. 362

Später einmal, könnte jemand sagen. In der sozialistischen Gesellschaft. Bis dahin jedoch ist auch die Literatur, wie alles, nur ein Kampfmittel... Was kann man darauf antworten? Man fragt, ob die Tatsache, daß wir heute Menschen zu Sozialisten erziehen, lediglich nur ein Mittel und nicht zugleich auch ein bereits erreichtes, verwirklichtes Ziel ist? Würden wir die Literatur nur als ein wirkungsvolles, gutes Propagandamittel betrachten, dann könnten wir uns ihrer in dieser „Übergangs"-Periode ruhig entledigen, ließe sich die Propaganda doch mit Flugblättern, Losungen, Programmreden und ähnlichem viel wirkungsvoller durchführen. Von diesen unterscheidet sich die literarische Schöpfung jedoch gerade dadurch, daß ihr Ziel nicht darin besteht, die Menschen zu Handlungen und Aktionen anzuspornen, sondern sie völlig umzuformen, damit das, was sie in der Zukunft tun werden, besser, menschlicher, edler sein soll als das bisherige. Wenn wir die Aufgabe der sozialistischen Literatur so sehen, dann ist es klar, daß auch hier jene Forderung zu den vorrangigsten Zählt, die wir der Literatur gegenüber im allgemeinen betonen: die Aussage in eine solche Form zu bringen, daß sie so suggestiv und so vollkommen wie nur möglich auf den Leser wirkt. D i e Frage der künstlerischen Form ist also durchaus nicht nebensächlich, und jene haben nicht recht, die meinen, die Aussage sei alles, die Form nichts. Damit stimmen wir selbstverständlich nicht der Formenanbetung von 1-art-pourl'art-Literatur zu, sondern wir sagen, daß man bei dem literarischen Werk Inhalt und künstlerische Form nicht voneinander trennen, noch das eine dem anderen überordnen kann. Die beiden gehören organisch zusammen, und so wie wir für die wirkliche, also vom menschlichen Gesichtspunkt aus wesentliche Literatur jedwedes meisterhafte oder eben künstlerische Gespiele mit den Formen nicht akzeptieren können, ebenso können wir uns nicht mit einem literarischen Anspruch dem ansonsten weltanschaulich noch so richtigen formlosen Gestotter oder den fäusteschüttelnden Programmreden nähern. Die wirklich künstlerische Form ist nämlich kein überflüssiger Luxus, der eventuell auch die klaren Linien der Aussage verwäscht oder zu einer Süßholz raspelnden Lyrik auflöst, sondern sie ist gerade die suggestivste, reinste Erscheinungsform der Aussage. Wenn wir scfion davon reden, wie „die Literatur auf die Menschen wirken muß", dann ist die künstlerische Form vom Gesichtspunkt der bleibenden und menschenformenden Wirkung notwendig. Man möchte glauben, daß dies bereits allgemein bekannte Dinge 363

sind, über die zu reden gewöhnliche Wortdrescherei ist. Doch zu einem guten Teil sind dies noch offene Fragen, und sie werden es wahrscheinlich auch bleiben, solange es Agitatoren und Schriftsteller gibt. Was selbstverständlich nicht bedeutet, daß die Schriftsteller die der Literatur eigenen Gesichtspunkte nicht verkünden und ihnen in ihren Werken nicht dienen sollen. Zur Frage der künstlerischen Form ist noch zu sagen, daß wir von der sozialistischen Literatur nicht die Schaffung einer sprachlich neuen Form fordern, sondern vor allem das, was nicht nur Teil, sondern zugleich auch Urheber einer jeden wirklichen Schöpfung ist: ein solch edles, inneres Glühen und erlebnishaftes Durchleben, eine produktive innere Spannung, die den Leser mitzureißen vermögen. D i e Notwendigkeit einer sprachlich neuen Form verneinen wir nicht, da sich eine jede neue Aussage ihre ureigenste, reinste Ausdrucksform schaffen muß. D i e wirklichen Schriftsteller kämpfen zumindest dafür, wenn sie sie auch niemals vollständig realisieren können. D i e erste Forderung war und bleibt jedoch stets menschliches und künstlerisches Durchleben, nicht das Spielen irgendeiner aufgegriffenen Rolle, sondern die immer vollkommenere innere Identifizierung mit dem zum literarischen Werk geformten Material. Dies und die Theorie bewirkten zu allen Zeiten die wahrhaft großen Schöpfungen, und auch die sozialistische Literatur kann nur bleibende Werke hervorbringen, wenn nicht nur ihre weltanschaulichen „Linien" ungebrochen sind, sondern auch die in ihnen formulierten Ideen schriftstellerische und künstlerische Glaubwürdigkeit bekommen. Wenn wir die ungarische sozialistische Literatur betrachten: sozialistische? proletarische? Arbeiter-Literatur? - lassen wir die Diskussion - , kurz, wenn wir die ungarische sozialistische Literatur betrachten, sehen wir die genaue Bestätigung des Obengesagten. Von einer ungarischen sozialistischen Literatur zu sprechen, ist zwar ein wenig großtuerisch, da wir eher nur von einigen Schriftstellern sprechen können, die die Ideen des Sozialismus durchlebten und diesen in ihren Schriften mit mehr oder weniger Begabung Ausdruck verliehen - doch warum sollen nicht auch wir einmal unbescheiden sein? In erster Linie können wir von der Dichtung reden, weil die ungarische sozialistische Literatur in der Lyrik viel mehr in Betracht kommende Werte vorzuweisen hat als in der Prosa. E s hat keinen Sinn, Namen zu erwähnen, da wir keine umfassende literarische B e wertung geben, sondern lediglich auf einige charakteristische Gesichtspunkte hinweisen wollen. Würden wir die ungarische sozialistische

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Lyrik in Perioden aufgeteilt betrachten, könnten wir die erste jedenfalls als den Abschnitt der Ismen bezeichnen. Dies war die Zeit der theoretischen Spekulationen, als man von der modernen Umwertung der Formenfragen die Schaffung der neuen, der sozialistischen Literatur erwartete. Daß uns aus diesem Zeitabschnitt dennoch einige ernsthafte literarische Schöpfungen verblieben, haben wir auf keinen Fall irgendeiner Theorie zu verdanken, sondern ein, zwei außergewöhnlichen schriftstellerischen Begabungen, die auch die unbequemen Patente der Ismen mit Leben zu füllen wußten. Soviele Dilettanten wie in dieser Periode gab es nur in dem ihr folgenden Abschnitt, in dem der Programmdichtung. Die Programmdichtung, oder sagen wir „kämpferische" Dichtung, war das genaue Gegenteil zur vorhergehenden: Sie kümmerte sich sozusagen gar nicht um die Form, die Betonung lag auf der Aussage, und diese Aussage konnte auch nichts anderes sein als eine Dokumentation von dem Elend und der Unterdrückung der Massen sowie ein Wegweiser zur kämpferischen Stellungnahme. Der subjektiven Lyrik war hier wenig Raum gegeben: „Privatsache 1" - winkte man energisch ab, wenn der Dichter solche Funken aufblitzen ließ, die aus dem Zusammenprall der äußeren Wirklichkeit und der Dichterseele hervorsprangen. Um doch einen Namen zu erwähnen - über Verstorbene können wir bereits reden - , Attila Jözsef war dieser Zeit nicht „kämpferisch" genug, ein nicht ausreichend „sozialistischer" Dichter, man hat ihn viel weniger geschätzt als einige von denen, die nicht das innere Leben der zu einer neuen Lebensform hinstrebenden Arbeiterschaft, sondern die Losungen der Bewegung zum Ausdruck brachten, sei es in routinierte äußere Formen gebrochen oder mit beabsichtigter Zerstückelung und manierierter Grobheit. Man kann nicht bestreiten, daß auch dieser Dichtung ein gefühlsmäßiges Durchglühen eigen war, stand doch hinter ihr der Glaube eines kämpferischen Kollektivs, doch es fehlte ihr die Subjektivität, die den menschlichen Gehalt des Werkes ausmacht und sie befähigt, über das augenblickliche Aufbrausen der Gefühle hinaus dem Leser auch ein tieferes, menschenformendes Erlebnis zu vermitteln. Wollten wir uns eines Gleichnisses aus der Musik bedienen: Diese Dichter spielten ständig auf einer Skala; und von jener wunderbar reichen Welt, die die Welt der Töne bedeutet, sagte ihnen nur ein sehr enger, kleiner Teil etwas. Ebenso wußten sie aus der Welt des ganzen Menschen oder sagen wir der ganzen sozialistischen Menschheit - nur sehr we-

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nig zu zeigen und auf ihrer einsaitigen Geige in Musik umzusetzen, auch dann noch, wenn sie verhältnismäßig begabt waren. Der folgende, dritte Abschnitt brachte eine ernsthafte Vertiefung, und langsam hat sich eine solche Generation von Arbeiterdichtern herausgebildet, für die der Sozialismus keine Losungen, sondern eine neue Lebensform und mit ihr einen neuen menschlichen Inhalt darstellte, für die die Dichtung jedoch bedeutete, daß sie - mit Attila Jözsef gesprochen - im Menschen jene Harmonie konstruieren, die die gesellschaftliche Bewegung der Arbeiter draußen in der Welt erbauen will. 2 Kämpferische Dichter sind auch sie, doch nicht Agitatoren im Sinne des Wortes, sondern im schriftstellerischen Sinne: In ihren Versen werden nicht Losungen des kämpferischen Menschen und der kämpfenden Klasse präsentiert, sondern sie zeigen den Menschen, die Klasse und in ihr sich selbst. D a sie auch die inneren und tieferen Zusammenhänge der Wirklichkeit suchen, sind auch ihre schriftstellerischen Mittel vertiefter und komplexer, eben deshalb ausdrucksvoller, plastischer. Jene vier Dichter, die ihre Gedichte in diesem Band 3 auf den Weg schicken, sind bereits aus jener „dritten Generation". Physische Arbeiter sind sie alle vier: Eine schwere Fronarbeit ist ihnen zuteil geworden wie dem ganzen Kollektiv, in dem sie leben, und die Federführung ist ihnen kein Zeitvertreib, sondern ein ernstes, verantwortungsbewußtes Bekenntnis. Ich kenne sie, kenne ihr Leben, und ich weiß, was für zermalmende und müde Minuten dies sind, in denen die innere Sehnsucht - in der von der Erholung gestohlenen Zeit - ihre Hände zur Feder hinzwingt. Das sage ich jedoch nicht als mildernden Umstand, sondern damit wir ihre Zeilen mit noch mehr Liebe lesen sollen. Einer Rechtfertigung bedürfen sie auf keinen Fall: Ausgereifte, fertige Dichter sind sie alle vier. Selbständige Persönlichkeiten sind sie, sie gehen auf eigenen Füßen und besingen mit der ihnen eigenen Stimme das Leben, ihr Schicksal, das sie mit Millionen teilen. Hören wir sie mit reinem Herzen, denn sie sprechen für uns alle! 1941

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49 GYÖRGY LUKÄCS

Die Verantwortung der Schrift kundigen Vorwort Dieses Heft enthält eine Sammlung alter Artikel aus einer vergangenen Periode. (Geschrieben und publiziert wurden sie in den Jahren von 1939-1941, ausnahmslos vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion.) Der jeweilige Anlaß zu den in diesen Artikeln enthaltenen Kritiken ist nicht mehr vorhanden; seither tauchten auf jedem Gebiet neue Probleme auf. Die Schriftsteller, die wir kritisierten, vertreten heute sehr häufig einen anderen Standpunkt als zu jener Zeit, gewannen entweder an Relevanz oder aber fielen der Bedeutungslosigkeit anheim usw. Der Krieg gegen die Sowjetunion markierte zweifellos auch für Ungarn den Beginn eines neuen Zeitabschnittes. Bereits bis dahin tauchten neue Probleme auf und wiederum neue werden durch die Katastrophe der sich über Ungarn ergießenden deutschen Besetzung 1 aufgeworfen. Die Menschen und Parteien werden zum großen Teil in neuen Gruppierungen kämpfen. Warum werden dann diese Artikel erneut und gesammelt herausgegeben? Diese Frage ist umso berechtigter, da ihr ursprünglicher Anlaß in der neuen Ausgabe weder verdeckt, noch die Artikel aktualisiert bzw. den heutigen Tagesfragen angepaßt worden sind; lediglich heute bereits schwer verständliche Anspielungen wurden ausgespart sowie Veränderungen vorgenommen, die das Wesentliche der Artikel jedoch nicht berühren und hauptsächlich stilistischer Natur sind. Und mit welchem Recht wurden diese Artikel höchst unterschiedlicher Thematik in einem Heft zusammengestellt? Was also verleiht diesen Schriften Einheitlichkeit und Aktualität? 1 Der methodologische Kern dieser Artikel besteht darin, daß s t ä n d i g e Probleme auf Grund von aktuellen Anlässen aufgeworfen werden. Nebenbei erfordert dies vom Leser eine gewisse selbständige Mitarbeit. Denn die Permanenz tritt im wirklichen Leben nicht als gesonderte Erscheinung auf, sondern ist n u r als ein 367

Moment der Veränderung sichtbar: Sie ist nichts anderes als der gemeinsame Zug, die gemeinsame Hauptlinie der sich ununterbrochen in stets neuen Formen offenbarenden konkreten Erscheinungen. Trotz alledem entspringt das permanente Element nicht der Subjektivität des Verfassers, ist es keine Erfindung. Die großen ständigen Fragen des nationalen Lebens sind sehr oft im Grau des Alltags im Hintergrund verborgen, um dann in den Zeiten der Krise und schicksalsentscheidender Wenden mit erbarmungsloser Wucht hervorzubrechen. Die radikale Ausrottung der feudalen Überreste, die Schaffung der ungarischen Demokratie und die Verteidigung der Unabhängigkeit des ungarischen Volkes - dies ist die mehrere Jahrhunderte währende Aufgabe der ungarischen Geschichte. Zu einzelnen Abschnitten dieses Problemkomplexes, zu Lehren, Stärken und Fehlern dieser Perioden ist stets aufs Neue zurückzukehren, sosehr sich auch die äußeren Umstände und mit ihnen Form und Inhalt der aktuellen Antworten verändern. Da diese Schriften den vorletzten Abschnitt der Entwicklung des jahrhundertealten ungarischen Problems analysieren, einen Abschnitt, der dem neuen Weltkrieg vorausgeht, sind sie gerade heute aktuell, wenngleich die Aktualität der sie auslösenden Anlässe längst passé ist. Durch äußerst unterschiedliche Ereignisse hervorgerufen, bilden alle diese Fragen doch eine Einheit, da sie unter dem Aspekt der radikalen Demokratie, dem für Ungarn einzigen Ausweg, betrachtet werden. Selbstverständlich machen diese Schriften den Leser nur mit einem Teil des umfangreichen Fragenkomplexes bekannt. Nicht erörtert werden hier aktuelle, politische, taktische, organisatorische und andere Fragen der ungarischen demokratischen Entwicklung; ausschließlicher Gegenstand dieser Schriften ist der fortgesetzte Kampf um die demokratische Ideologie. Doch dieses „nur" besagt - gerade unter ungarischem Aspekt - keineswegs wenig. Auch in den gegenwärtig tatsächlich demokratischen Ländern mit alten demokratischen Traditionen ist der Einfluß von Ideologie und Literatur auf die Entwicklung des nationalen Lebens von Bedeutung. Dort aber werden die ständigen wie die Tagesfragen von einer regen demokratischen Bewegung selbst (Parteien usw.) in heftigster und entschiedenster Form entwickelt und artikuliert. Wo indessen weder eine Demokratie vorhanden ist noch war, wo die Massen unter der reaktionären Unterdrückung leiden und zugrunde gehen (einerlei, ob zu einer solchen Zeit irgendein Scheinparlament gleich einer spanischen Wand existiert), und wo das verdummende und demoralisierende Gift des

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Faschismus in die breiten Massen eindrang, dort obliegt es der Literatur, bei der wirklichen Klärung der Ideen zu unterscheiden, dort gibt es zur Verkündung der wahrhaft demokratischen Ideen kaum ein anderes Sprachrohr als die Literatur. Von den äußerst spärlichen und kurzen Episoden abgesehen, warf die bedeutende ungarische Literatur von Zrinyi bis Ady, oder meinetwegen bis Attila Jözsef, die großen nationalen Fragen in einer überzeugenderen und eingehenderen, ja sogar politischeren Weise auf als das ungarische politische Leben selbst und löste sie häufig. Dies macht den bleibenden Ruhm und die Stärke der ungarischen Literatur aus. Zugleich aber spiegelt diese eine enorme Schwäche der ungarischen Realität: den Verzug in der demokratischen Entwicklung und das bisherige Nichtaufholen dieses zeitlichen Rückstandes. In der politischen Arena ist die ungarische Demokratie einstweilen schwach und unorganisiert. Daran wird „von sich aus" auch die deutsche Okkupation nichts verändern. Diese Situation unterstreicht die gesellschaftliche Bedeutung der ideologischen Vorbereitung und Klärung, mit anderen Worten: die historische Relevanz und Verantwortung der Literatur. Wenn von dieser Gewichtigkeit der Literatur in der nationalen Entwicklung die Rede ist, dann geht es nicht nur, ja sogar nicht in erster Linie darum, wie groß die unmittelbare Wirkung irgendeiner literarischen Erscheinung ist. Diese kann gewaltig sein wie die Voltaires und Rousseaus in der vorbereitenden Periode der Französischen Revolution und in der Revolution selbst; sie kann scheinbar in der Erde versickern, weshalb auch ihre Auswirkungen erst spät offenkundig werden wie unter dem mittelbaren und unmittelbaren Einfluß der russischen demokratischen Literatur. Deshalb ist es kein Beweis gegen die objektive gesellschaftliche Bedeutung Petöfis oder Adys, daß sich bisher in Ungarn noch keine Massenbewegung entwickelte, deren demokratisches Niveau und ideologische Schlagkraft die Höhe beider erreicht hätte. Im Negativen aber ist der Zusammenhang unmittelbar festzustellen. In dem Zeitraum von 1918 bis heute hat die ungarische demokratische Ideologie keine solche zentrale Gestalt vorzuweisen wie die Adys vor 1918. Außerdem beteiligten sich die legalen Repräsentanten von Literatur und Ideologie in Ungarn - obzwar sie an die einzelnen Parteien nicht persönlich gebunden waren, überwiegend ihre Unabhängigkeit von diesen laut verkündeten und sich damit von der offiziellen Politik der Regierung und deren parlamentarischer Opposition abgrenzten - weitgehend aktiv oder passiv an der äußerst relevanten 24

Befunde

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und gefährlichen Aktivität der offiziellen Politik: daran, die demokratische Einheit zu verhindern und zu zerstören. D a m i t sind wir an einem zentralen Punkt der hier praktizierten Ideologie- und Literaturkritik angelangt. D i e Betonung der Petöfischen und Adyschen Traditionen, die entschiedene Bestimmung ihres zentralen Platzes in der Entwicklungsgeschichte des ungarischen demokratischen Gedankens ist eben eine Frage dieser Einheit, des Zusammenschlusses aller aufrichtigen und ernst zu nehmenden demokratischen Kräfte. Petöfi und Ady sind deshalb groß, weil sie fähig waren, die Fragen der ungarischen Demokratie real und dennoch aus großer historischer Perspektive aufzuwerfen und in gleicher ausführlicher Weise auf die gesamten Fragen des ungarischen Volkslebens eine Antwort zu geben. Sie sind das Unterpfand einer revolutionären Einheit, die auf der prinzipiellen Grundlage der ungarischen Demokratie zustande kam. Daher ist es notwendig, daß sie Maßstab einer jeden ungarischen Ideologie sind, die mit dem Anspruch auftritt, wahrhaft demokratisch zu sein, d. h. aufrichtig die Einheitsinteressen des ganzen werktätigen ungarischen Volkes gegenüber der tyrannischen Unterdrückung seitens der Reaktion zu vertreten. Derartige Ideologen eines ungarischen Volksaufruhrs gegen das Horthy-Regime gab es in dem Entwicklungsabschnitt nach 1918 nicht. D i e demokratischen Bestrebungen erwiesen sich in dieser Zeit in Ungarn auch auf dem Gebiet der Ideologie als unfähig, einen einheitlichen Standpunkt auszuarbeiten. Im Gegenteil, zur großen Freude des reaktionären Regimes trugen die unterschiedlichen demokratischen Strömungen objektiv mit zu dessen Weiterbestehen bei, indem sie gegeneinander häufig heftiger und erbitterter kämpften als gegen das Horthy-Regime. Natürlich war diese Zersplitterung, dieses Auseinanderbrechen, der Kampf der aufeinander Angewiesenen gegeneinander bei weitem nicht das Ergebnis „dämonischer", „macchiavellistischer" Gewandtheit der reaktionären Politiker. Das Ausbleiben hatte selbst ernsthafte objektive Ursachen, die sich aus dem Verlauf der ungarischen Geschichte ergaben. Ihre O b jektivität anzuerkennen bedeutet jedoch nicht im entferntesten, sie als fatale Notwendigkeit erachten zu müssen. D i e Objektivität dieser Ursachen beinhaltet lediglich, daß es infolge der historischen Traditionen solch eine s p o n t a n e Aufspaltung der unterschiedlichen demokratischen Richtungen gibt. Doch daraus folgt keinesfalls, daß diese Spontaneität richtig wäre und den wirklichen Interessen des Volkes entspräche; noch weniger, daß man sie nicht durch be-

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harrliche Aufklärungsarbeit bekämpfen und in eine neue, angemessenere Richtung lenken könnte. D a diese sich verzweigende Spontaneität die Interessen der Reaktion begünstigt, kann niemand von den Parteien, die die offizielle Politik betreiben, bzw. von deren Scheinopposition erwarten, daß sie diese nicht pflegten. Umso gewichtiger ist die Rolle der Ideologen in dieser Frage. Ihre Aufgabe ist es, die aus dem Volk hervorgegangenen verschiedenen Richtungen ideell zu einen und eine gemeinsame Kampfesfahne gegen eine Reaktion zu schaffen, die das Land ins Verderben führt.

2 E i n e der augenfälligsten und wichtigsten Erscheinungen dieses Auseinanderbrechens ist der Gegensatz von Stadt und Dorf, von Hauptstadt und Provinz. Dieser Gegensatz besteht ökonomisch in der allgemeinsten Form überall dort, wo die kapitalistische Produktion vorherrscht. Denn überall bedeutet ja der Übergang von der feudalen Produktionsordnung zur kapitalistischen die wirtschaftliche (und deshalb politische und kulturelle) Herrschaft der Stadt über das Dorf, im Gegensatz zum Feudalismus, wo es um die ökonomische und politische Vorherrschaft umgekehrt stand. Doch die Formen, in denen sich dieser Prozeß bei den verschiedenen Völkern unterschiedlich abspielt, fördern diesen grundlegenden Gegensatz auf sehr divergierende, häufig total entgegengesetzte Weise zutage. Wilhelm Raabe, der hervorragende deutsche Schriftsteller Ende des vergangenen Jahrhunderts, stellte zu Recht fest: „Das französische Gewissen hat seinen Sitz in Paris, das englische residiert in London, doch das deutsche bei weitem noch nicht in Berlin." 2 Was bedeutet dies? In der englischen Revolution des 17. und in der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts spielten London bzw. Paris die führende Rolle, in krassem Gegensatz zu Berlin, das zur Zeit der Bauernrevolution naturgemäß nicht in Betracht kam, in der 48er Revolution zur Führung unfähig und nur vorübergehend von Bedeutung war sowie während der Bismarckschen reaktionären Restauration der nationalen Einheit das Zentrum des preußischen Militarismus und der Bürokratie bildete. Durch diese Rolle bei der Schaffung der nationalen Einheit und der Befreiung des Volkes von feudalem Joch und Zerrissenheit wird eine Hauptstadt nicht nur zum administrativen, sondern auch zum geistigen, ja sogar seelischen und moralischen Mittelpunkt des Landes. Diese Rolle schlägt die Brücke zwischen den Werktätigen der Stadt und dem Bauerntum. D i e B e 24*

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freiung der Bauern von feudaler Unterdrückung ist ohne die Unterstützung und Führung seitens der Stadt unmöglich; die Lehren der gesamten Bauernrevolutionen bestätigen diese These. Cromwell und Robespierre (und vorausgehend die großen progressiven Schriftsteller und Denker, die die Revolutionen - in der Hauptstadt und mit deren Hilfe - ideologisch vorbereiteten) sind die Väter dieses nationalen Gewissens. In Ungarn siegte die demokratische Revolution ebenfalls nicht, und von daher ist die Stellung der Metropole zur Provinz in vieler Hinsicht der deutschen Situation ähnlich. Doch die ungarische Lage ist noch komplizierter. Bei aller gesellschaftlichen Unzulänglichkeit und trotz des ideologischen und demokratischen Traditionsmangels ist Berlin ebenso deutsch wie die übrigen Städte, die Provinz und das Dorf. Budapests Ungartum ist dagegen das Ergebnis eines langsamen Prozesses innerhalb des 19. Jahrhunderts, insbesondere der zweiten Hälfte, als der ungarische Kapitalismus einen raschen Aufschwung nahm. Diese Tatsache ist allgemein bekannt. Auch dies, daß die in der Hauptstadt gepflegte Schrift- und Umgangssprache niemals die richtungweisende literarische Sprache in Ungarn war, in deutlichem Gegensatz zu den meisten Ländern, da für die Russen Moskau, für die Franzosen Paris usw. das entscheidende Forum in allen Fragen von Sprache und Literatur darstellten. Trotzdem fand das erste entscheidende Ereignis der Revolution von 1848, das Geschehen des 15. März, in Pest statt; hier wurde entschieden, welche Stellung Pozsony und der adlige Reichstag 3 in der ersten Phase der Revolution einzunehmen hatte. Unabsehbar ist die Perspektive für das weitere Verhältnis zwischen Budapest und der Provinz, hätte die demokratische Revolution von 1848 gesiegt. Nach dem Kompromiß von 1867 4 setzte eine stürmische Magyarisierung Budapests ein - doch was bedeutete diese für die ungarische Kultur? Vor allem die Magyarisierung der Budapester Schwaben, Juden usw. beinhaltete eine Anpassung an den 67er Kompromiß, sehr oft an seine schlimmsten und niedersten Formen. Es genügt, wenn hier auf Gestalten wie Jenö Räkosi, Ferenc Herczeg (und in kleinerem Maßstab auf Lajos Döczy) verwiesen wird. 5 Daneben entwickelten sich mit dem kapitalistischen Aufstieg und Erstarken Budapests auch eine spezifisch städtische Kultur und Literatur, die einerseits den Problemen der Provinz und des Dorfes fremd gegenüberstanden und diese auf dem Gebiet der Kultur als rückständig abtaten und andererseits n e b e n der Literatur aus der Provinz eine 372

besondere städtische schufen. (Diese beiden Richtungen erscheinen und fließen sehr häufig zusammen.) Ohne die führende kulturelle Rolle der Metropole und mangels einer produktiven Wechselwirkung mit dieser litten Ideologie wie Literatur der Provinz, die über eine ausgeprägtere ungarische Tradition verfügten, an einer Beschränktheit, die hinter der Zeit zurückblieb. Diese spezielle Situation wird deutlich sichtbar, wenn wir an die städtischen Schriftsteller des Auslandes denken: an Dickens oder Balzac, die ganz England bzw. ganz Frankreich darstellen und repräsentieren - die wirklich führende Rolle der Hauptstadt im Guten wie im Schlechten. Dagegen brachte das Ende des 19. Jahrhunderts in Ungarn zwar begabte, jedoch eng ausgerichtete Spezialisten hervor: so Tamäs Kobor als den eigens städtischen und Geza Gardonyi als den besonders provinziellen Schriftsteller. Und noch zur Zeit der „literarischen Revolution", kontemporär zum universalen Auftreten Adys, kämpfte der führende Ideologe des Nyugat, Ignotus, nicht für die landesweite dominierende Rolle der neuen Literatur, sondern setzte sich nur gegen die „Persecutor-Ästhetik" 6 der amtlichen Literatur zur Wehr und forderte lediglich, die Existenzberechtigung der neuen, der hauptstädtischen Literatur n e b e n den übrigen literarischen Richtungen anzuerkennen. Dieses Kompromiß-Programm war - wie sehr häufig, wenn objektiv revolutionäre Bewegungen mit einem Kompromiß-Programm auftreten - reine Utopie. Die kapitalistische wirtschaftliche Entwicklung übte eine einigende Wirkung auf das ganze Land aus und übertrug der Hauptstadt die entscheidende führende Rolle im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben. Das Nebeneinander von hauptstädtischer und provinzieller Kultur und Literatur stand daher im Gegensatz zum Erfordernis der objektiven Entwicklung. Ein friedliches Nebeneinander ist nicht möglich. Wenn die Hauptstadt nicht in allen Fragen des nationalen Lebens die demokratische Hegemonie erringt, so kommt es gegenüber der Metropole unumgänglich zu einer feindlichen Opposition der Provinz, die den zurückgebliebenen, reaktionären Ideologien ausgeliefert ist. Diese Tendenz trat in Ungarn besonders kraß zutage, da sich die Entwicklung des Kapitalismus im Rahmen fortbestehender feudaler Überreste, hauptsächlich der Bodenaufteilung vollzog. Demzufolge ertrug die Bauernschaft die gesamte wirtschaftliche Drangsal der raschen Kapitalisierung, ohne dafür, wie in den siegreichen westlichen Revolutionen, Boden und Freiheit erhalten zu haben. Deshalb die Antipathie der Provinz gegenüber Budapest, woher diese Qualen stammten und

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für sie nichts Gutes kam. Diese Antipathie ist nicht auf das Bauerntum beschränkt. Die Mittelklasse der Provinz erlebte die kapitalistische Zerstörung der Idylle patriarchalischer Rückständigkeit, ohne dafür wiederum von der sich mit dem Kapitalismus entwickelnden städtischen Kultur Schadenersatz erhalten zu haben. Dieser ökonomisch gewachsene Gegensatz wurde von der Herrschaft der Magnaten und der Gentry, die sich gleichermaßen auf Stadt und D o r f erstreckte, bewußt geschürt. Ihre führende Schicht ging schnell zum Kapitalismus über und lernte es bald, aus dessen Entwicklung Nutzen zu ziehen. D a diese jedoch ihre ökonomisch und gesellschaftlich längst überholte politische Herrschaft und Monopolstellung um jeden Preis aufrecht erhalten wollte (obzwar sie sich in wirtschaftlicher Hinsicht zunehmend den Interessen der kapitalistischen Produktion anpaßte), strebte sie danach, die offizielle Ideologie mit Hilfe des Staatsapparates, der wissenschaftlichen Institutionen und der zur Verfügung stehenden Presse usw. in enge und überlebte Rahmen „historischer Traditionen" zu pressen und zu konservieren. Dadurch wahrte sie die uneingeschränkte Führung über die zurückgebliebensten Schichten ihrer eigenen Klasse, hielt die Provinz, die kleinstädtische Intelligenz, das Bauerntum usw. von jeder fortschrittlichen Idee fern und unterdrückte bzw. isolierte nach Möglichkeit die sich in den Städten, vor allem in Budapest entfaltende radikale Intelligenz. D i e Pflege dieser „historischen Traditionen" und mit ihnen der nationalen Glorie war nichts anderes als eine Garantie für die ungestörte Herrschaft der „historischen Klassen". D i e Unerschütterlichkeit des 67er Kompromisses bedeutete aber, daß es der führenden politischen Schicht in engstem Bündnis mit dem Finanzkapital gelungen war, Ungarn in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen. Auf diese Weise diente die Heilighaltung historischer Traditionen dazu, das Ungartum zur handfesten Unterstützung der aggressiven Ziele des deutschen Imperialismus zu vereinnahmen. Wenn auch die Konterrevolution gesiegt und sich als fähig erwiesen hatte, das irregeführte Bauerntum gegen das „sündhafte Budapest" 7 aufziehen zu lassen, um danach diese Bewegung wiederum den Interessen der - mit anderen Mitteln regierenden - alten Führungsschicht unterzuordnen, das Stilleben aus der Zeit vor 1918 konnte nicht mehr wiederkehren. D i e Revolutionen hatten die gesamten quälenden Fragen des ungarischen nationalen Lebens aufgeworfen, wenn sich in der legalen Öffentlichkeit auch niemand fand, der die

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richtigen Antworten gewußt und für die breiten Massen vernehmbar ausgesprochen hätte. Hier bestand für die Ideologie und Literatur nach 1918 ein großes ungelöstem Problem. D i e Fragen der demokratischen Revolution in Ungarn waren in schärferen und bestimmteren Formen ständig auf der allgemeinen Tagesordnung (Bodenreform); die organisierte Arbeiterschaft konnte bereits als ein „anerkannter" Machtfaktor auftreten, wenn sie es auch nicht wagte bzw. verstand, mit ihrer Macht zu leben; die nationale Hegemonie des Ungartums hörte auf, von sich aus selbstverständlich zu sein - auch für die Ungarn selbst: D a s Verhältnis der ungarischen zu den Nachbarnationen stellte eine permanent ungelöste Frage dar; schließlich schwand die pseudoliberale Tarnung der ungarischen Reaktion, trat diese offen für ihre eigene proklamierte Ideologie ein. Unmittelbar nach der Niederschlagung der Revolutionen und auch später nahm die reaktionäre Massendemagogie in steigendem Maße zu. Außenpolitisch hörte die Selbstverständlichkeit des Dreier-Bündnisses und mit ihm die „natürliche" Bindung an den Habsburg-Hohenzollern-Imperialismus auf zu bestehen. So tauchte jäh die Frage der Orientierung auf. D i e äußerste Reaktion vertrat hier eine eigene chauvinistisch-imperialistische Leitlinie, die mangels organisierter und zielbewußter Gegenkräfte bis hin zum inneren und äußeren Anschluß an das Hitler-Regime führte. D a s ungarische Volk wurde wiederum zum Satelliten eines bestialischen deutschen Imperialismus erniedrigt. Damit waren nunmehr bereits die gesamten ungelösten Fragen des ungarischen Lebens in einer bewußteren Form aufgeworfen. D i e Frage des Verhältnisses von Stadt und Dorf signalisierte schon jetzt deutlich die Notwendigkeit eines Kampfbündnisses der Arbeiter und Bauern. Doch auf welchem Niveau erfolgten die Antworten? D i e Parteien waren weitgehend andere als vor 1918, jedoch die offiziellen Parteien - die Regierungsbefürworter insgesamt und die Masse der Oppositionellen - sahen es gleichermaßen als ihr Hauptinteresse an, die wirklichen Fragen von der Tagesordnung des politischen Lebens abzusetzen, sie ideologisch zu verwaschen und zu vertuschen bzw. durch eine reaktionäre Demagogie zu entstellen. Zu dieser unrühmlichen, die gesamte nationale Entwicklung gefährdenden Arbeit hatten zahlreiche, ihrem eigenen Bekenntnis nach parteiunabhängige Schriftsteller freiwillig ihren Teil beigesteuert. Denken wir nur daran, wieviel Lajos Kassäk im Interesse einer Verschleierung der wirklichen Belange der Arbeiterschaft getan, welche

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wesentliche Rolle Dezsö Szabö als ideeller Vorläufer der reaktionären Demagogie 8 gespielt hatte. Um uns den Unterschied, den um vieles gefährlicheren Charakter der neuen Periode deutlich vor Augen zu führen, braucht man nur einen solch naiven vorrevolutionären Reaktionär wie Mihäly Szabolcska mit dem bewußten und böswilligen Dezsö Kosztolänyi 9 zu vergleichen. Unter solchen Umständen stieg die Verantwortung der wahren Literatur. D i e neuen Verhältnisse zeitigten tatsächlich auch in der Literatur eine nachdrückliche Differenzierung und neue Gruppierungen. D i e alte Nyugat bestand zwar lange weiter, jedoch noch zahnloser als in der Zeit vor dem Krieg, und dies bewirkte, d a ß sich die städtischen demokratischen Schriftsteller neu gruppierten, am entschiedensten um die Zeitschrift Szep Szö.10 Eine völlig neue Erscheinung stellten die Bewegung und Literatur der „Volkstümler" dar, die die tiefe Enttäuschung der bäuerlichen Massen sowie die permanente innere Problematik des Gesellschafts- und Regierungssystems nach dem Krieg widerspiegelten. Schon jetzt erhebt sich die Frage, wie diese verschiedenen Richtungen jene Aufgaben bewältigten, vor die sie durch die ungarische Geschichte gestellt worden waren. Dies zu untersuchen, ist eines der zentralen Anliegen dieses Buches. Vor allem ist zu konstatieren, d a ß die demokratischen literarischen Bewegungen der 30er Jahre - die städtischen wie die auf dem Boden des dörflichen Lebens entstandenen - in der ungarischen ideologischen Entwicklung einen keineswegs unbedeutenden Schritt nach vorn darstellen. Demoralisierend wirkten sich die Konterrevolutionen auf die öffentliche Meinung beinahe aller Länder aus, besonders in ihrem Anfangsstadium. Diese Tendenz wurde in den derzeitigen Konterrevolutionen durch die nationale und soziale Demagogie, durch' eine Reaktion, die sich als pseudorevolutionär kostümierte, nur noch verstärkt. Um so wichtiger und hervorhebenswerter ist jeder Versuch, der zumindest aus der konterrevolutionären Erdrosselung heraus nach einem Ausweg strebte. (Ob dieser freundschaftlich oder feindselig war kommt auf eins heraus.) Dieser Aufbruch war zweifelsohne ein positiver Zug jener jungen Schriftstellergeneration, mit deren Ideen sich dieses H e f t vornehmlich befaßt. Aus der N a t u r der Sache ergibt sich, d a ß dieser Ausweg schwierig, unvollkommen und widersprüchlich begann und sich entwickelte. D i e N a m e n großer ungarischer demokratischer Dichter tauchen in diesen Spalten deshalb so oft auf, um einerseits den Maßstab zu setzen und 376

unsere Positionen zu bestimmen sowie andererseits durch diesen Vergleich die Schriftsteller zur Selbsterkenntnis und ideellen Klärung aufzurufen. Vom Standpunkt der konsequenten Demokratie gibt es für eine strenge Kritik sehr ernsthafte Gründe. Der Leser wird eingehend erkennen, daß beide Richtungen objektiv zu einer ideologischen Vertiefung des zwischen Stadt und Dorf bestehenden Gegensatzes beitrugen. Zum einen betrachtete die sich in der Hauptstadt entwickelnde radikale Schriftstellerbewegung mit kränkender Gleichgültigkeit und einer von Antipathie erfüllten „wissenschaftlichen Objektivität" die Bodenreform-Bestrebungen der Intelligenz aus der Provinz und schloß sich damit aus der Reihe jener aus, die diese entscheidende Frage der ungarischen Gesellschaft endlich im Interesse des Bauerntums zu lösen wünschten. Diese feindselige Haltung? schlug eine tiefe Kluft zwischen dem städtischen und dörflichen Radikalismus und machte nicht nur die Zusammenarbeit sondern auch eine wechselseitig wohlwollende Kritik unmöglich. Zum anderen verhielt sich die „Volkstümler"-Literatur in ihrer Hauptrichtung gegenüber der städtischen Kultur feindlich oder zumindest ebenfalls gleichgültig und sah bzw. wollte in diesem Zusammenhang nicht sehen, von welch entscheidender Bedeutung das Bündnis mit dem städtischen Proletariat für die Befreiung des Bauerntums ist. Diese Stadtfeindlichkeit offenbarte sich nach der Revolution unter viel komplizierteren und widersprüchlicheren Formen als zuvor. Zu jener Zeit war die Rückständigkeit schlechthin Beschränktheit. Nunmehr sind die Führer der literarischen Bewegung der Volkstümler größtenteils westlich kultivierte Menschen; sie kennen, ja lieben sogar zum Teil die großstädtische westliche Literatur und stehen auch unter deren Einfluß. Doch aus alledem ziehen sie, was Ungarn anbelangt, städtefeindliche Konsequenzen. Diese Tendenz wird durch ihre romantische Opposition gegenüber dem Kapitalismus als ein Leitmotiv ihrer Weltanschauung stark begünstigt. Diese innere Widersprüchlichkeit macht sie indessen für reaktionäre Demagogien empfänglich. Die Verworrenheit des romantischen Antikapitalismus schlägt die Brücke zwischen einem Teil der Volkstümler und den verschiedenen Schattierungen des Faschismus. Statt das demokratische Lager zu vereinen, vertiefen auf diese Weise die beiden Flügel des ungarischen Radikalismus' - zur großen Freude der Reaktion - dessen Spaltung durch ihre Ideologie. Denn unter den heutigen verschärften gesellschaftlichen Kämpfen können die städtische bzw. dörfliche Literatur und Ideologie nicht einfach 377

nebeneinander existieren. Dies war bereits zur Zeit Ignotus' eine Utopie und ist auch jetzt unvorstellbar. 11 Die zunehmende Zuspitzung der Lage wäre ein Fortschritt, wenn sich in Ungarn entschiedene Fronten herausbildeten: die der demokratischen Revolution gegen die Reaktion. So aber tobt unter den einander bevormundenden Bündnispartnern ein erbitterter Kampf, und gleichzeitig werden die Gegensätze dort verwaschen, wo eine scharfe ideologische Trennung vonnöten wäre. Sehr häufig wird so zum Beispiel die trennende Grenzlinie zwischen dem städtischen Radikalismus und einem Liberalismus verwischt, der die Regierung offen oder verdeckt unterstützt. Auf diese Weise verschwimmen die Grenzen zwischen den Anhängern bzw. Opfern eines aufrichtigen Bauernradikalismus und der reaktionären Demagogie; nicht nur Gömbös gelang es, solch eine Grenzverwischung zustande zu bringen, 12 sondern auch die infame Demagogie der Pfeilkreuzler hat auf diesem Gebiet Erfolge aufzuweisen. 13 Städtische und dörfliche Demokraten standen sich so im Kampf einander gegenüber. Doch trotz dieses Bruches lassen sich zugleich in der gegnerischen Bruderpartei zahlreiche ungünstige Gemeinsamkeiten finden, die diese Spaltung vertiefen. Ein solcher gemeinsamer Zug stellte in erster Linie die Angst vor einer ernsthaften revolutionären Regung der Massen dar. Dies kam in der Literatur der Budapester Liberalen und Radikalen ganz offen zum Ausdruck. Bei den Volkstümlern wurde diese Tendenz zum Teil in komplizierter Weise und mittelbarer offenkundig. Natürlich nur zum Teil, denn was waren der Rückzug auf die Linie der „reinen" Literatur, der unpolitische Reformismus (eine Reform hinter dem Rücken und durch Umgehung der gesellschaftlichen Kämpfe) sowie die Illusion in bezug auf die Sozialpolitik des Horthy-Regimes usw. letzten Endes anderes als die Angst vor der eigenständigen Aktivität der Massen? Diese falsche Ausrichtung hat bei vielen Volkstümlern tiefe ideologische Wurzeln: Das Ideal von der „ungarischen Besonnenheit"1'1 ist geradezu geeignet, eine derartige Auffassung zu unterstützen, die vor einem mit dem revolutionären Auftreten der Massen unumgänglich einhergehenden „Chaos" zurückschreckt. Dieses Zurückschrecken isolierte die Ideologen von den Massen und in dessen Folge gewann bei ihnen das bedrückende Gefühl der Schwäche und der Ohnmacht die Oberhand, das dann viele ihrerseits in jener Grundtendenz von neuem bestärkte, die dieses Gefühl hervorgerufen hatte. Nur auf wenige (Kovács, Erdei usw.) wirkte sich die Einsicht der Schwäche aktivitätsfördernd aus: Sie bemühten sich ernst378

haft, aus diesem überkommenen, ihnen anhaftenden Bannkreis auszubrechen. Zugleich kam es aus dem Gefühl der Schwäche heraus einerseits zu ersonnenen Utopien und oberflächlichen Pseudoperspektiven, andererseits führte dieses zu kurzsichtigen Tageskompromissen. In engem Zusammenhang mit all dem bisher Untersuchten wird überdies eine ideologische Schwäche offenbar, die - obzwar in einer jeden Gruppe aus jeweils anderen Gründen entstanden und jeweils andere Erscheinungsformen aufweisend - auf dem Fehlerterrain dennoch ihren Berührungspunkt erneut offenkundig werden ließ. Diese Schwäche ist der Provinzialismus, die Kirchturm-Politik: Ihr mangelt es an Klarsicht und Konsequenz, um die wichtigen Fragen der Demokratisierung Ungarns in den richtigen Zusammenhang mit den großen internationalen Kämpfen der Demokratie und Reaktion zu bringen. Es klingt vielleicht paradox, wenn die europäisch gebildeten Schriftsteller der Szep Szo, die unaufhörlich auf die westlichen Demokratien blicken und auf ihr Ansehen bauen, der Kirchturm-Politik angeklagt werden. Und wahrhaftig: Formal sind sie keineswegs provinziell, doch um so mehr, was das Wesentliche betrifft. Denn wer die grundlegenden Probleme der ungarischen Demokratie richtig einschätzt, muß erkennen, daß deren erfolgreiche Lösung in engem Zusammenhang mit dem weltweiten Kampf der demokratischen und reaktionären Kräfte steht. Wenn die ungarische städtische Demokratie jetzt noch nicht erkannt hat, welche Gefahr die Münchener Politik 15 für die Freiheit Europas bedeutete und sie diese teils aus einem falschen Pazifismus, teils aus einem tschechenfeindlichen, ungarischen Chauvinismus heraus noch billigte, so hat sie - wenn auch unbewußt - das Hauptbestreben der ungarischen Reaktion begünstigt: Ungarn an den aggressiven Imperialismus des deutschen Faschismus zu ketten, seine Unabhängigkeit für billige deutsche Almosen zu opfern und vor allem, Ungarn in das verbrecherische Abenteuer eines Krieges gegen die Sowjetunion zu treiben. In der Weltpolitik war München für den Wettkampf von Demokratie und Reaktion ein ebensolcher schicksalhafter Scheideweg wie die Bodenfrage bei der Erringung der ungarischen Demokratie. Die Ideologen der ungarischen städtischen Demokratie erwiesen sich als unfähig, die Zusammenhänge dieses großen Fragenkomplexes zu erkennen: Sie blieben bei den kleinlichen, vorübergehenden und irreführenden Erscheinungen der Oberfläche stehen. Deshalb war ihre politische Linie im wesentlichen provinziell. Offenkundiger ist der Provinzialismus der Volkstümler, (der bei einzelnen eine breite westliche Bildung durchaus nicht ausschloß).

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„Wir waren Bauern und wurden Provinzialisten" - stellt Laszlo Cs. Szäbö über die neue ungarische Intelligenz nicht zu Unrecht fest. 16 Ein beachtlicher Teil jener Ideologen, die aus dem Bauerntum kamen und dessen Leiden verkündeten, sah weder einen Zusammenhang der Lösungswege mit den anderen entscheidenden Fragen des ungarischen Lebens noch dies, daß die (zeitweilige) Zunahme des weltpolitischen Gewichts Hitlers und das Hereinziehen Ungarns in den verhängnisvollen Strudel der faschistischen Abenteurerpolitik Zehntausende ungarischer Bauern für die Interessen fremder Herren auf die Schlachtbank bringen sowie den ungarischen Namen gleich einem erbärmlichen Söldling der Reaktion weltweit verhaßt machen und der Verachtung preisgeben. Hinsichtlich der außenpolitischen Voraussetzungen für die ungarische Freiheit und Unabhängigkeit bildet eine Wurzel dieser Blindheit die bäuerliche Engstirnigkeit. Doch dies ist noch der günstigere Fall. Es gab nicht nur einen Ideologen der Volkstümler, bei dem die aus beschränkten und falschen Gesichtspunkten resultierende blinde Vergötterung des romantischen Antikapitalismus und der ungarischen Größe geradewegs dahin geführt hatte, wohlwollend und verständnisvoll den verdummenden und Menschen ausrottenden „Grundgedanken" des deutschen Faschismus, die Rassentheorie, auf zunehmen und dadurch unfähig zu werden, die Freiheit und Unabhängigkeit des ungarischen Volkes gegen den wachsenden deutschen Einfluß erfolgreich zu verteidigen. Dieser Mangel an Klarsicht bedingte, daß die Ideologen - obgleich nur ein kleiner Bruchteil von ihnen mit dem Hitlerismus sympathisierte (bei weitem nicht alle jene, die in bezug auf Ungarn gern mit der Rassentheorie liebäugelten) - nicht nur notwendigen Erkenntnis gelangten, daß es für die Interessen der ungarischen Werktätigen sowie für die Freiheit und Unabhängigkeit Ungarns keinen grausameren und gefährlicheren Feind als Hitler gibt. Ferner, daß der wirkliche Weg der ungarischen Demokratie - und mit ihr die Befreiung der Bauern - die revolutionäre Mobilisierung der werktätigen Massen gleichsam gegen den eigenen wie fremden Faschismus darstellt sowie die ungarische Demokratie in die Bewegung jener Völker einzuschalten ist, die ihre Freiheit gegen Hitler verteidigen. Indem auch Volkstümler aus ehrlichster Überzeugung diesen Zusammenhang nicht erkannten, wurden sie zu Provinzialisten. Es wäre kurzsichtigt anzunehmen, daß jetzt in Ungarn eine völlig neue Situation eingetreten sei, in der ausschließlich neue Menschen sich radikal neuer Methoden bedienen. Natürlich hat sich vieles ver380

ändert und ist grundlegend anders geworden. Zweifelsohne werden auch ganz neue Menschen mit wesentlich neuen Programmen kommen. Wo sind heute schon die Szep Szö, wo die Volkstümler? Dies alles ist wahr, läßt jedoch zwei Hauptfragen unberührt. Erstens, daß der ungarische Geschichtsverlauf, der diese Abenteurerpolitik nicht zufällig gezeitigt und der letztlich zur totalen Besetzung Ungarns durch Hitler geführt hatte, ohne eine bis an die Wurzeln gehende Veränderung nicht v o n s i c h a u s eine neue Richtung einschlagen wird. Nicht von sich aus nehmen die feudalistische Aufteilung des Grundbesitzes und die Herrschaft der Magnaten-Gentry ein Ende, sie muß beendet bzw. vernichtet werden. Solange wir nicht in der Lage sind, die großen Fragen des ungarischen Volkslebens radikal anders zu beantworten als man es bisher tat, solange bleiben diese - stärker oder weniger hörbar - ständige Aufgaben des ungarischen öffentlichen Lebens. Zweitens haben auch die falschen Antworten ihre eigenen historischen und gesellschaftlichen Ursachen: Diese sind zu bekämpfen, zu überwinden und zu überprüfen, ob sie tatsächlich veralten; ansonsten werden sie sich unter stets veränderten Formen immer und immer wieder einstellen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist jedoch, sich mit der bisherigen Entwicklung, insbesondere mit deren letztem Abschnitt, kritisch auseinanderzusetzen und aus den Fehlern Lehren zu ziehen. Daher ist es - um wiederum von diesem Heft zu sprechen - nicht wichtig und aktuell, ob Ferenc Fejtö oder Läszlö Nemeth in naher Zukunft eine Rolle spielen werden, und wenn ja, welche, sondern dies, welche t y p i s c h e n Verirrungen gewisse R i c h t u n g e n aufweisen, die ernst zu nehmende gesellschaftliche Wurzeln haben.

3 Damit sind wir wieder bei der Verantwortung der Schriftkundigen angelangt. Der Verfasser dieser Zeilen ist Mitglied der Kommunistischen Partei und verrichtete seine gesamte schriftstellerische Tätigkeit in den letzten fünfundzwanzig Jahren im Zusammenhang mit der Partei. Trotzdem kann hier nicht genug betont werden, daß er bei der Beurteilung der Literatur und Ideologie von den demokratischen Schriftstellern in Ungarn niemals sozialistische oder kommunistische Prinzipien forderte bzw. erwartete. Des weiteren muß betont werden, daß niemand von den Schriftstellern verlangt, sich unbedingt einer Partei anzuschließen, noch sich unmittelbar an der Tagespolitik zu 381

beteiligen. Dies taten und werden einzelne tun, die sich dazu berufen fühlen. Die allgemeine Aufgabe der Schriftkundigen ist eine andere: die wirklichen Fragen des ungarischen nationalen Lebens wachzuhalten, bewußt zu machen sowie darauf p r o g r e s s i v e Antworten zu suchen und zu finden. Die Erfüllung dieser großen Aufgabe bestimmt die Verantwortung der Schriftkundigen. Diese Aufgabe wird häufig so gelöst, daß der Schriftsteller Probleme der ungarischen Historie und Literaturgeschichte erforscht. Zu Recht, denn im menschlichen und gesellschaftlichen Handeln stehen die Perspektiven der Zukunft (und damit die aktuellen Aufgaben der Gegenwart) in engem Zusammenhang mit der realen, richtig oder falsch erkannten Richtung des Geschichtsprozesses. Die Frage des „Woher" beinhaltet stets die des „Wohin" und umgekehrt. Hier liegt die Verantwortung des Schriftkundigen: Er kann in gleicher Weise zum wirklichen Ausweg verhelfen bzw. auf einen Irrweg im Sumpf orientieren. Denken wir an 1918. Erinern wir uns, welche radikale Veränderung der ungarischen Lage in diesem Jahr objektiv vor sich ging und wie innerhalb dieses grundlegenden Wandels die jahrhundertealten großen ungarischen Probleme, wiederholt aufgeworfen, vertieft und brennend aktuell wurden. 1 7 Doch erinnern wir uns auch daran - dieses Heft veranschaulicht dies zum Teil - , wie wenig entschiedene und richtige Hinweise, welche ungeheuer irreführenden Ratschläge in dieser Zeit von den ungarischen Schriftkundigen erteilt wurden. W a s werden sie jetzt sagen? Welchen W e g werden sie weisen? Dies hängt weitgehend von einer schonungslosen und aufrichtigen Selbstkritik für die Zeit nach 1918 ab. Eine solche Interpretation von Berufung und Verantwortung macht Petöfi und A d y zu zentralen Gestalten, nicht nur in der ungarischen Geschichte, sondern auch im Hinblick auf das heutige ungarische öffentliche Leben. Wenn A d y unaufhörlich feststellte, daß der wirkliche - bis dahin nicht beschrittene - Weg der ungarischen Geschichte von György Dözsa über Tamäs Esze 18 zu Petöfi ( und fügen wir hinzu: bis zu A d y ) führt, dann ist in diesem W o h e r sehr deutlich ein W o h i n ausgesprochen, das Mißverständnisse ausschließt. Ausgesprochen sind auch der politische, gesellschaftliche und kulturelle Inhalt sowie die Methode jenes großen Kampfes, den das ungarische Volk zu Ende kämpfen muß, will es in der künftigen zivilisierten und demokratischen Welt eine Zukunft haben. Natürlich darf dieser Richtungshinweis Adys vor allem nicht in der 382

Literaturgeschichte durch eine grobe Vereinfachung verfälscht werden. Diese Namen leuchten als eine Fackelreihe in der heutigen Nacht, sie sind Kompaß in dem Morast, wohin unsere bisherigen Tyrannen uns führten, ein Wegweiser auf einer schicksalentscheidenden Kreuzung; sie bedeuten jedoch bei weitem keine Kurzfassung der ungarischen Historie bzw. Literaturgeschichte. Daher geht es hier nicht um eine Herabsetzung Aranys oder Vörösmartys, Berzsenyis oder Zsigmond Kemenys. Obgleich hier - dies darf durch Vereinfachung nicht unterschlagen werden - a u c h von Literaturgeschichte die Rede ist, freilich auf eine etwas andere Art, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. In der Tat: Wer diese Linie Adys verstanden hat, der wertet Zsigmond Kemeny nicht gering, er schätzt ihn aber nicht d e s h a l b , weil er Haynaus Taten 1 9 billigte, sondern d e s s e n u n g e a c h t e t ; Vörösmarty nicht darum, weil er 1848 dafür stimmte, den Habsburgern zur Niederwerfung der italienischen Revolution ungarische Soldaten zur Verfügung zu stellen, sondern d e s s e n u n g e a c h t e t 2 0 und Berzsenyi nicht deshalb, weil er sich für die grotesk anmutende überholte Adelsinsurrektion begeisterte, sondern d e s s e n u n g e a c h t e t 2 1 usw., usw. (Dies auszuführen, ist selbstverständlich Aufgabe der Literaturgeschichte.) Um von einem heutigen Schriftsteller zu sprechen: Zsigmond Möricz lieben und schätzen wir, weil er mit der Fülle aller seiner Bauerngestalten von Sieben Kreuzer bis Sändor Rözsa22 die ungarische Literatur bereicherte und die großen ungarischen Probleme durch die Dialektik der Gestalten und ihrer Schicksale - unabhängig von den persönlichen Ansichten ihres Autors - auf progressive Weise entwickelt und vorangebracht hat. D a Zsigmond Möricz gegen Ende seines Lebens reaktionären Utopien anhing, sind wir verpflichtet, dagegen zu kämpfen und es wird Aufgabe der Literaturgeschichte sein, die Gründe und Wurzeln der Möriczschen Verirrung aus seiner gesellschaftlichen Lage und Weltanschauung heraus zu begreifen. Kurz resümiert: Jeder wirkliche große Schriftsteller ist l e t z t e n E n d e s das Produkt fortschrittlicher Kräfte. Die Frage ist nur, inwieweit dies wie bei Petöfi oder Ady u n m i t t e l b a r zur Geltung kommt, inwiefern sich dies über eine vielfältige, komplizierte Vermittlung (oftmals entgegen den politischen Absichten und der bewußten Weltanschauung der Schriftsteller) realisiert. Eigentlicher Sinn der von Ady aufgestellten Reihe ist es: diese oftmals verborgen gebliebene, versteckte progressive Tendenz der ungarischen Geschichte zu erkennen, freizulegen und im praktischen Leben zu nutzen, nicht 383

aber an der überwiegend reaktionären Oberfläche stehenzubleiben und die Großen der Vergangenheit nach deren Bild zu verzerren. So verstanden, sind Historie und Literaturgeschichte für das richtige Begreifen heutiger Tagesaufgaben auch von erstrangiger politischer Bedeutung. Was hat es, kurzgefaßt, mit dieser Linie György Dözsa - Tamäs Esze - Petöfi - Ady auf sich? Ady gab darauf mehrfach Antwort, nur eine sei zitiert: Wenn die Feuersglut unserer Kämpfe aufloderte, Welten in Brand gerieten, Nie konnte zum Recht Unsere Wahrheit uns gelangen lassen: Aschenbrödel ist die ungarische Pein. Dennoch und aufs Neue: Empor mit dem Herzen, Für unser blutüberströmtes Herz, Für unsere Pein, für unseren Kummer, Für unseren armseligen, gequälten Glauben, Wenn auch das All zum Orkan wird. Unser Kampf gilt der ungarischen Hölle, Alles taten wir dafür, An deren Tore hämmern wir, Diesem Kampf gehören unsere Seele, unser Körper, Dieser ist unser Verderben oder Sieg: unser Schicksal.23 Dieses Gedicht entstand während des ersten Weltkrieges. Doch auch zu jener Zeit wußte Ady, wo sich der w i r k l i c h e F e i n d befand. Der Kampf mit der ungarischen Hölle - dies ist das tatsächliche Erbe des revolutionären, zukunftsschwangeren Ungarn aus der Vergangenheit. Das ungarische Volk muß mit vielem unechtem Glanz und Pseudoruhm der eigenen Geschichte abrechnen; so manches geriet zwischen die Mühlsteine von Zeit und historischer Entwicklung, von dem man lange geglaubt hatte, daß es ewigen Bestand hätte. Aber die Traditionen des wahrhaften Befreiungskampfes sind lebendig und weisen in eine bessere Zukunft. Die unaufhörliche ; „ewige Melodie" dieser Traditionen besagt: Die Frage der inneren Befreiung des ungarischen Volkes kann nicht starr und mechanisch von der Frage der nationalen Unabhängigkeit getrennt werden. Wer w i r k l i c h das eine will, kann kein Gegner des anderen 384

sein. Wer das eine verrät, wird früher oder später auch zum Judas des anderen. Ursache allen nationalen Unglücks war der Klassenegoismus der Reaktion, ihr daraus resultierender enger und gefährlicher außenpolitischer Horizont. Über Mohäcs hatte selbst Gyula Szekfü 24 festgestellt: „Die Leibeigenen waren für ewige Zeiten in die Knechtschaft gestoßen, und die dies getan hatten, saßen zur Zeit Mohäcs' bereits zitternd zu Haus und lauerten ihren Leibeigenen auf, damit sie sich nicht auflehnen und gegen die Adligen wenden." Dies brachte das Heer Räköczis auf das Schlachtfeld von Majteny, 25 die 48er Honveds unter die Erde von Vilägos, 26 die ungarischen Infanteristen des ersten Weltkrieges in die Massengräber Galiziens und von Doberdö sowie die heutige ungarische Armee in die Vernichtung bei Woronesch. Dies ermöglichte Hitler, Ungarn zu besetzen. Denn diese Besetzung hat nichts mit einem niedersausenden Blitz aus heiterem Himmel zu tun. Wer dem Teufel einen Finger reicht, dessen ganze Hand ergreift er früher oder später. Es ist klar, daß jetzt, da dieses Greuel eingetreten ist, jeder Ungar vor eine neue Situation gestellt ist. Es ist klar: Die erste Aufgabe ist heute, daß sich jeder Ungar mutig und vorbehaltlos gegen Hitler wendet. Wer dies tut und in den schweren Tagen des Kampfes treu ausharrt, der sühnt, wenn er schuldig ist, durch Taten seine Vergehen, die er gegen die Lebensinteressen des ungarischen Volkes verübte, als er in der einen oder anderen Form mit dazu beitrug, die heutige Situation des Landes heraufzubeschwören. Doch keine Macht auf der Welt kann an diesem Tatbestand etwas ändern, daß hier etwas zu sühnen ist. Nur Heldentaten können jene Schmach tilgen, daß wir bis hierher - und zwar nicht zufällig - gelangten. Die Lage ist radikal neu und zu ihrer Lösung vermag keinerlei Geschichte fertige Rezepte zu liefern. Allein der neue große Kampf steht ebenfalls im Zusammenhang mit den permanent bedeutenden Fragen der ungarischen Geschichte. Die großen Kenner des ungarischen Lebens haben auch auf diese Fragen ihre prophetische Antwort gegeben. 1849 schrieb Petöfi über die Aufgaben und Pflichten der Ungarn: Auf für mein Vaterland ein Jeder. Zeit ist's, daß seine Schuld Jeder Mensch ableiste. Heraus aus dem Haus, heraus aufs Feld, 25

Befunde

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Menschen, Ganz Ungarn nunmehr Sei eine große Armee. 27 Aber zu eben dieser Zeit sagte Petöfi auch dies: „Es ist leicht mit unseren äußeren Feinden fertig zu werden, wenn die Schurken im Innern verschwinden!" 28 Diese beiden Leitprinzipien widersprechen einander keinesfalls. Im Gegenteil! Es ist dies das w i r k l i c h e und v o l l s t ä n d i g e Programm der ungarischen Befreiung, des Unabhängigkeits- und Freiheitskampfes. Dieses Vestalinnen-Feuer der ungarischen Unabhängigkeit und Freiheit am Lodern zu halten das ist die Verantwortung der Schriftkundigen in den schwersten Stunden nationaler Versuchung. 1944

Anhang

Abkürzungen LW MEW

- W. I. Lenin: Werke. Bd. 1 - 4 0 . Hg. v. Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1961-65. - Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 (u. Ergänzungsband Teil 1 u. Teil 2 ; Verzeichnis Bd. 1 u. Bd. 2). Hg. v. Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-1971.

Anmerkungen Umleitung 1 Diesen neuen Ton brachte Lajos Kassâks Gedicht M e s t e r e m b e r e k (Handwerksleute) im Dezember 1915 erstmals in der ungarischen sozialistischen Literatur zum Erklingen. 2 Vgl. ursprünglich: Henri Heine: Préface. In: H. Heine: Lutèce. Deutsch: Heinrich Heine: Säkularausgabe. Bd. 19. Berlin - Paris 1977, S. 15. 3 Vgl. Text 1. 4 In dem sog. „Sonntags-Kreis" (1915-1918), einem von Béla Balâzs wöchentlich veranstalteten Diskussionszirkel, ging es vor allem um philosophische und literarische Fragestellungen. Ständige Teilnehmer waren neben Lukâcs und Balâzs u. a. auch Karl Mannheim, Arnold Hauser, Karl Tolnay und später József Rêvai. Aus dem Kreis ging 1917 die „Freie Schule der Geisteswissenschaften" hervor. Die Mehrheit der Teilnehmer entwickelte sich zu Marxisten, nahm an der Kulturarbeit der Ungarischen Räterepublik (1919) teil und spielte später eine bedeutende Rolle im europäischen geistigen Leben. Vgl. Zoltän N o v a k : A Vasârnapi Târsasâg (Die Sonntags-Gesellschaft). Budapest 1979. Ferner: A Vasârnapi Kör. Dokumentumok (Der Sonntags-Kreis. Dokumente). Budapest 1980. 5 Vgl. Sândor Csizmadia: Hadüzenet (Kampfansage). In: Népszava, Nr. 21, v. 2 6 . 1 . 1 9 0 9 , S. 2 - 3 . 6 Ernó Bresztovszky: A modernek (Die Modernen). In: Népszava, Nr. 22, v. 27. 1. 1909, S. 2 - 3 . 25*

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Abkürzungen LW MEW

- W. I. Lenin: Werke. Bd. 1 - 4 0 . Hg. v. Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1961-65. - Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 (u. Ergänzungsband Teil 1 u. Teil 2 ; Verzeichnis Bd. 1 u. Bd. 2). Hg. v. Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-1971.

Anmerkungen Umleitung 1 Diesen neuen Ton brachte Lajos Kassâks Gedicht M e s t e r e m b e r e k (Handwerksleute) im Dezember 1915 erstmals in der ungarischen sozialistischen Literatur zum Erklingen. 2 Vgl. ursprünglich: Henri Heine: Préface. In: H. Heine: Lutèce. Deutsch: Heinrich Heine: Säkularausgabe. Bd. 19. Berlin - Paris 1977, S. 15. 3 Vgl. Text 1. 4 In dem sog. „Sonntags-Kreis" (1915-1918), einem von Béla Balâzs wöchentlich veranstalteten Diskussionszirkel, ging es vor allem um philosophische und literarische Fragestellungen. Ständige Teilnehmer waren neben Lukâcs und Balâzs u. a. auch Karl Mannheim, Arnold Hauser, Karl Tolnay und später József Rêvai. Aus dem Kreis ging 1917 die „Freie Schule der Geisteswissenschaften" hervor. Die Mehrheit der Teilnehmer entwickelte sich zu Marxisten, nahm an der Kulturarbeit der Ungarischen Räterepublik (1919) teil und spielte später eine bedeutende Rolle im europäischen geistigen Leben. Vgl. Zoltän N o v a k : A Vasârnapi Târsasâg (Die Sonntags-Gesellschaft). Budapest 1979. Ferner: A Vasârnapi Kör. Dokumentumok (Der Sonntags-Kreis. Dokumente). Budapest 1980. 5 Vgl. Sândor Csizmadia: Hadüzenet (Kampfansage). In: Népszava, Nr. 21, v. 2 6 . 1 . 1 9 0 9 , S. 2 - 3 . 6 Ernó Bresztovszky: A modernek (Die Modernen). In: Népszava, Nr. 22, v. 27. 1. 1909, S. 2 - 3 . 25*

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7 Vgl. Text 6 sowie Endre Ady: Küldöm a frigylädät (Ich schicke die Bundeslade). I n : Népszava, Nr. 32, v. 7. 2. 1909, S. 2. 8 Mégegyszer a proletàrkoltészetról (Szabó Ervin és Bresztovszky Ernó vitazàró nyilatkozatai) (Noch einmal über die proletarische Dichtung. Abschließende Diskussionsäußerungen von Ervin Szabó und Ernó Bresztovszky). In: Népszava, Nr. 127, v. 31. 5. 1914, S. 8. 9 Ausführlicher dazu Farkas József: Die Literatur der Ungarischen Räterepublik. In: Literaturen europäischer sozialistischer Länder. Berlin und Weimar 1975, S. 4 3 - 6 6 . 10 Vgl. Text 14. 11 Vgl. die unter diesem Aspekt charakteristische Schrift von Sändor Bródy: A dràmànak vaiò iddi (Eine Zeit für das DramaI). In: Szinhäzi Élet, Nr. 14, v. 6.-12. 4. 1919, S. 1. 12 Vgl. Lajos Magyar: Kritika (Kritik). I n : Az Ember, Nr. 30, v. 29. 5. 1919, S. 7 - 8 . 13 Béla Kuns Vortrag, in dem seine diesbezügliche Stellungnahme enthalten ist, wurde veröffentlicht in: A magyar munkàsmozgalom valogatott dokumentumai (Ausgewählte Dokumente der ungarischen Arbeiterbewegung). Budapest 1959, Bd. 6/A, S. 477-478. 14 Megalakult az Irók Szakszervezete. Biro Lajos az elnök (Bildung der Schriftstellergewerkschaft. Vorsitzender: Lajos Biro). In: Fäklya, Nr. 112, v. 13. 5. 1919, S. 4 - 5 . - Die Frage nach der Parteiliteratur beschäftigte Lukäcs stets aufs neue, wurde von ihm gemäß der eigenen politisch-weltanschaulichen Entwicklung sowie entsprechend der jeweiligen konkreten ideologischen Kampfsituation unterschiedlich beantwortet. So argumentierte er in der Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus, daß Tendenzkunst heute Klassenkunst des Proletariats ist (1922) ; forderte er in den Diskussionenum die Durchsetzung des Leninschen Prinzips der Parteiliteratur in der Kultur- und Literaturpolitik der K P D , die „tendenziöse" Einarbeitung der „Tendenz" zu überwinden (1932) ; verstand er den „wirklichen Parteidichter" als ,,treu(en) und dennoch individuell handelnde(n) Partisan einer großen Sache" (1945). Lukäcs bezweifelte immer, daß sich Lenins Schrift Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905) auf die schöngeistige Literatur beziehe. Besonders diese seine Ansichten sind bis heute Gegenstand von heftigen Diskussionen unter den marxistischen Ästhetikern. 15 Vgl. Vigyäzat! (Aufgepaßt!). In: Vörös Ujsäg, Nr. 54, v. 1 1 . 4 . 1919, S. 7. 16 Miksa Fenyö: Dosztojevszkij. In: Nyugat 12 (1919) 8, Bd. 1, S. 600-602. 17 Vgl. Nyilatkozatok a Tanäcsköztärsasägröl (Äußerungen über die Räterepublik). In: Tàrsadalmi Szemle 24 (1969) 3, S. 15-17. 18 Vgl. Ferenc Göndör : Kik akarjäk diktälni a proletärirodalmat? (Wer will die proletarische Literatur diktieren?). In: Népszava, Nr. 91, v. 16. 4. 1919, S. 7. 19 Vgl. Miklós Szabolcsi: A Tanäcsköztärsasäg irodalma (Die Literatur der Räterepublik). In: Kritika, 7 (1969) 4, S. 6. 20 Kunfi Zsigmond felszölaläsa az orszàgos pàrtgyulés elsö napjän (Zsigmond

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Kunfis Rede am ersten Tag der Landesparteiversammlung). I n : Népszava, Nr. 140, v. 13. 6. 1919, S. 4 - 5 . 21 Vgl. Részlet Kun Béla vàlaszbeszédébol az orszàgos pàrtgyiilés mäsodik napjàn (Auszug aus Béla Kuns Antwort am zweiten T a g der Landesparteiversammlung), in der er u . a . feststellte: „Ein neues geistiges Leben, eine neue Kultur m u ß aus dem Proletariat erstehen, und ich vertraue auf jene schöpferische K r a f t des Proletariats, die Institutionen zerstörte und geschaffen h a t ; sie wird auch im geistigen Leben ihre Entfaltung finden. Zweifellos wird das nicht die Literatur der MA sein, die ein Produkt der bürgerlichen D e k a d e n z ist." I n : Vörös Ujsäg, N r . 108, v. 1 4 . 6 . 1919, S. 4 - 5 . 22 Vgl. Freiligrath an Marx. 28. Febr. 1860. I n : Freiligraths Briefwechsel mit Marx und Engels. Berlin 1968, Bd. 1, S. 138. (Freiligrath wie später auch Käthe Kollwitz (Vgl. Anm. 23) waren der irrigen Ansicht, d a ß die Parteimitgliedschaft die künstlerische Arbeit beeinträchtige.) 23 Vgl. M a x Barthel: Kein Bedarf an Weltgeschichte. Wiesbaden 1950, S. 52 bis 53. 24 Vgl. Anatoli Lunatscharski: D i e Revolution und die Kunst. Dresden 1962, S. 243. 25 Anatoli Lunatscharski: Proletkult. I n : D i e Aktion, v. 15. 3. 1919, S. 153. 26 Vgl. Anatoli Lunatscharski: Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse. Berlin 1919. 27 Sändor B a r t a : A kultüräjäban forradalmasitott ember (Der in seiner Kultur revolutionierte Mensch). I n : M A 4 (1919) 6, S. 1 1 0 - 1 1 4 . 28 Dezsö Kosztolänyi: Mi tünik el? (Was wird verschwinden?). I n : Szinhàzi Élet, N r . 15, v. 13. 4. 1919, S. 1. 29 Aladär Schöpflin: Az irodalom a kommunista tàrsadalomban (Die Literatur in der kommunistischen Gesellschaft). I n : Vasärnapi Ujsäg, N r . 1 4 - 1 5 , v. 1 3 . 4 . 1 9 1 9 , S. 1 6 0 - 1 6 1 . 30 Béla Baläzs: A nép szinhäza (Das Theater des Volkes). Vgl. Text 16. 31 Vgl. Dezsö N e m e s : Az ellenforradalom hatalomrajutàsa és rémuralma Magyarorszagon. 1 9 1 9 - 1 9 2 1 (Machtergreifung und Schreckensherrschaft der Konterrevolution in Ungarn von 1 9 1 9 - 1 9 2 1 ) . Budapest 1953; - Az ellenforradalom torténete Magyarorszägon. 1 9 1 9 - 1 9 2 1 (Geschichte der Konterrevolution in Ungarn von 1 9 1 9 - 1 9 2 1 ) . Budapest 1962. 32 Als „erste ungarische Reformer-Generation" wird von der Geschichtswissenschaft jene Generation bezeichnet, die die revolutionären Ereignisse und den Freiheitskampf von 1848/49 in Ungarn vorbereitete. Zur „zweiten ungarischen Reformer-Generation" gehören jene progressiven Politiker, Denker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit W e r k und Tat als Radikale, Reformer oder geradewegs als Revolutionäre hervortraten. Ihr Hauptbestreben war die Abrechnung mit der feudalen Gesellschaftsordnung. - Vgl. hierzu Zoltän H o r v ä t h : Die Jahrhundertwende in Ungarn - Geschichte der zweiten Reformgeneration (1896 bis 1914). Neuwied - Berlin - Budapest 1966.

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33 In diesem Zusammenhang sei unter anderem auf die Gedichte von Aladär Tamäs, Làszló Fenyö und Lórinc Szabó verwiesen, auf dem Gebiet der Prosa auf die historische Trilogie Erdély (Siebenbürgen; - deutsch: Zaubergarten; Der große Fürst; Schatten der Sonne von Zsigmond Móricz. Berlin - Budapest [1973-1975]). 34 Lajos Kassäk: Az izmusok torténete (Die Geschichte der Ismen). Budapest 1972, S. 5. 35 So unter anderem: Sändor Bortnyik, Marcel Breuer, Ernö Källai, György Kepes, Làszló Moholy-Nagy, Farkas Molnär und Gyula Pap. 36 Diese ungarische Künstlergruppe konstituierte sich im Jahre 1911, ihre herausragendsten Vertreter sind: Robert Berény, Béla Czóbel, Käroly Kernstok, Bertalan Por und Lajos Tihanyi. In ihren Arbeiten ist die besondere Rolle der Komposition auffällig; sie sind als Vorläufer der Avantgarde auf dem Gebiet der Malerei zu betrachten. Die Arbeit der Gruppe bestimmte die Plakatkunst der Ungarischen Räterepublik von 1919 und die in ihrer Auffassung zum Ausdruck gebrachte Sympathie gegenüber der Arbeiterbewegung hinterließ in der Entwicklung der ungarischen Kunst bleibende Spuren. 37 Lajos Kassäk: Az üj mfivészet él (Die neue Kunst lebt). In: Lajos Kassäk: Az izmusok törtenete. Budapest 1972, S. 28. - Erstmals veröffentlicht wurde diese Studie im Jahre 1926 in der Zeitschrift Korunk. 38 Lajos Kassäks Artikelreihe erschien in der Zeit vom 19. Juli bis 23. August 1925 in der Népszava unter dem Titel: Munkàsmozgalom és miivészet (Arbeiterbewegung und Kunst). In der sich ausweitenden Debatte meldeten sich noch weitere sieben Teilnehmer zu Wort. Das Schlußwort gehörte wiederum Kassäk, veröffentlicht in der Népszava v. 11.10. 1925. Die im vorliegenden Band enthaltene Mitteilung datiert auf den 30. Juli 1925. 39 Pal Téritó (Mózes Kahäna) Ne tetoväzzunk! (Zaudern wir nicht!). In: Egység (Wien), 2 (1923) 5, S. 5. 40 Vgl. Text 24. 41 Lajos Kassäk: Egy generàció tragédiàja (Die Tragödie einer Generation). In: MA (Wien), 8 (1923) 7-8, S. 14. 42 Pài Téritó: Ne tétovàzzunk! In: Egység (Wien), 2 (1923) 5, S. 5. 43 Vgl. György Szabó: Az „Egység" elméleti platformja (Die theoretische Plattform der Egység). In: Tanulmänyok a magyar szocialista irodalom torténetéból (Studien zur Geschichte der ungarischen sozialistischen Literatur). Budapest 1962, S. 115-142. 44 Vgl. Karl Marx an Joseph Weydemeyer, am 5. März 1852. In: MEW, Bd. 28, S. 507-508. 45 W. I. Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände. In: LW, Bd. 31, S. 276. 46 Vgl. zu dieser Frage das Vorwort Ferenc Botkas zur Anthologie: Kassai Munkäs (Kosicer Arbeiter). Budapest 1969, S. 55-56. 47 Andor Réz: Lebedinszki György: „Egy hét" eimü regénye (Der Roman „Eine Woche"). In: Egység (Wien), 2 (1923) 6, S. 10. 48 Vgl. Iz istorii meshdunarodno'go ob'edinenija revoluzionnich pisatelei (Aus

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der Geschichte der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller). Moskau 1969. Literaturnoe nasledstwo (Literarisches Erbe) Bd. 81. Vgl. György Lukács: A Sarló és Kalapács Évkonyv (Das Jahrbuch Sichel und Hammer) - 1926. In: Uj Március (Wien), 3 (1927) 6, S. 314-316. Vgl. Bevezetönek (Als Einleitung). In: Sarló és Kalapács Évkoriyv - 1926. Wien 1926, S. 1 - 7 . Vgl. dazu die bedeutendsten Werke von János Mácza: Iskusstwo sowremennoj Ewropi (Kunst des zeitgenössischen Europas). Moskau 1926; Literatura i Proletariat na Zapade (Literatur und Proletariat im Westen). Moskau 1927; Iskusstwo zrelogo kapitalizma na Zapade (Kunst des entwickelten Kapitalismus im Westen). Moskau 1929; Sowetskoje iskusstwo za 15 let (Sowjetische Kunst in 15 Jahren). Moskau 1933. Vgl. Text 27. Jenö Derkovits: A proletárirodalomról (Über die proletarische Literatur). In: Kassai Munkás (Kosice) Nr. 123-124, v. 1./2. 6. 1928. In ähnlicher Weise analysierte György Lukács zu dieser Zeit die Dichtung Endre Adys in der Zeitschrift 1 0 0 % . Vgl. zu dieser Frage Miklós Lackó: A 100 % - Ideología, kultúra, irodalom (Die Zeitschrift 100 % - Ideologie, Kultur und Literatur). In: Századok 113 (1979) 1, S. 43-96. Vgl. Text 32. Vgl. László Illés: A marxista irodalomszemlélet kezdetei a Korunkban (Die Anfänge der marxistischen Literaturbetrachtung in der Zeitschrift K o r u n k ) . In: ötven éves a Korunk (Die K o r u n k ist 50 Jahre alt). Budapest 1977, S. 25-34. Vgl. dazu László Illés: A 100 % cimii folyóirat kulturális irányvonaláról/ 1927-1930/(Über die kulturelle Richtlinie der Zeitschrift 1 0 0 % ) . In: Müveltség - miivészet - munkásmozgalom. Tanulmányok a magyar munkásmozgalom kulturális torekvéseiról (Kultur-Kunst-Arbeiterbewegung. Studien zu kulturellen Bestrebungen der ungarischen Arbeiterbewegung). Budapest 1982, S. 235-274. Am 1. September 1930 fand in Budapest seit der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik im Jahre 1919 die gewaltigste Arbeiterdemonstration statt. Diese Manifestation war von solch einem Ausmaß, daß die herrschende Klasse den Ausbruch der Revolution befürchtete. Béla Kun: A válságon barrikádok nönek (In der Krise wachsen die Barrikaden). In: Sarló és Kalapács (Moskau), 2 (1930) 2, S. 102. Béla Kun: Kapitalista vagy szocialista válságmegoldás? (Kapitalistische oder sozialistische Krisenlösung?). In: Sárló és Kalapács 3 (1931) 6, S. 1 - 2 . Vgl. Text 34. Die offene Diskussion über den Plattformentwurf, die viele Korrekturen beinhaltete, wurde in der Zeitschrift S a r l ó é s K a l a p á c s in den Jahrgängen (1931), H. 8 bis (1932), H. 8 - 9 veröffentlicht. Béla Illés: A Forradalmi Irók Nemzetközi Irodájának kibövitett plénuma (Erweitertes Plenum des Internationalen Büros Revolutionärer Schriftsteller). In: Sarló és Kalapács 2 (1930) 9, S. 55-56.

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63 Vgl. György Lukäcs: A regebbi irodalomhoz valö viszonyunk (Unser Verhältnis zur älteren Literatur). In: Sarlö es Kalapäcs 3 (1931) 9, S. 5 5 - 5 7 . 64 Jänos Matheika: Stilus es proletärirodalom (Stil und proletarische Literatur). In: Sarlö es Kalapacs 2 (1930) 4, S. 5 4 - 6 1 ; - Ähnliche Ansichten äußert Matheika in seiner Studie: Razwitie wengerskoj revoljucionnoj literaturi (Über die Entwicklung der ungarischen revolutionären Literatur). In: Westnik inostrannoj literatury (Moskau), 3 (1930) 6, S. 99-137. 65 Den vollständigen Text, einschließlich der Anmerkungen, erstellte Miklös Szabolcsi. - Vgl. Jözsef Attila Osszes Müvei (Sämtliche Werke Attila Jözsefs). Budapest 1958, Bd. 3, S. 209-219 und 427-447. 66 Vgl. dazu Simone Barck: „Wir wurden mündig erst in deiner Lehre . . . " Der Einfluß Georg Lukäcs' auf die Literaturkonzeption von Johannes R. Becher. In: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukäcs. Leipzig 1975, S. 249 bis 285; - Manfred Nössig: Beiträge zu einem entwickelten marxistisch-leninistischen literaturtheoretischen Denken. In: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Berlin und Weimar 1980, S. 629-655. 67 Der vollständige Text der Blum-Thesen wurde veröffentlicht In: Pärttörteneti Közlemenyek 10 (1965) 4, S. 154-207. 68 Vgl. Text 35. 69 Vgl. Alexander Abusch: Referat auf der Theoretischen Konferenz des Deutschen Schriftstellerverbandes vom 6 . - 8 . Juni 1958. I n : Neue Deutsche Literatur 6 (1958) 3, S. 7 4 - 8 3 ; - Ingeborg Münz-Koenen: Auf dem Wege zu einer marxistischen Literaturtheorie. Die Debatte proletarisch-revolutionärer Schriftsteller mit Georg Lukäcs. In: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukäcs. Leipzig 1975, S. 105-152. 70 Vgl. zur damaligen theoretischen Arbeit von György Lukäcs unter anderem: Ingeborg Münz-Koenen: Auf dem Wege zu einer marxistischen Literaturtheorie, ebenda; - Dieter Kliche: Lukäcs und Adorno. I n : Weimarer Beiträge 23 (1977) 7, S. 100-136; - Manfred Nössig: Literatur und Politik - Tendenz und Parteilichkeit. In: Weimarer Beiträge 23 (1977) 8, S. 2 5 - 5 0 . 71 Vgl. Text 36. 72 Vgl. Text 37. 73 Vgl. Istvan Hermann: Die Gedankenwelt von Georg Lukäcs. Budapest 1978. - Läszlö Illes: Widersprüche der Bündnispolitik der proletarischen Literatur. In: Acta Litteraria 17 (1974) 1 - 2 , S. 151-165. - Miklös Lackö: Välsägok välasztäsok (Krisen - Wahlen). Budapest 1975. - Miklös Szabolcsi: Jözsef Attila koränak vilägirodalmäban (Attila Jözsef in der Weltliteratur seiner Zeit). I n : Magyar Tudomäny 25 (1980) 12, S. 891-898. 74 Vgl. Pervyj Vsesojuznyj s-ezd sovetskich pisatelej, 1934. Stenograficeskij otcet (Erster Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, 1934, Stenografitcher Bericht). Moskau 1934. 75 Einen repräsentativen Ausschnitt der in den 30er Jahren entstandenen Essays enthält der Band: Georg Lukäcs: Kunst und objektive Wahrheit. Leipzig 1977; Eine Bewertung der Lukäcsschen Arbeit dieser Jahre ver-

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mittelt die Kollektivarbeit: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukacs. Leipzig 1975. Diese erfolgte Anfang der 30er Jahre insbesondere durch Mihail Lifschitz, Franz Schiller und György Lukacs. Vgl. die von Lukacs hierzu entwickelten Gedanken vor allem in seinem Werk: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954. Vgl. Werner Mittenzwei: Der Streit zwischen nichtaristotelischer und aristotelischer Kunstauffassung. Die Brecht-Lukacs Debatte. In : Dialog und Kontroverse mit Georg Lukacs. Leipzig 1975, S. 153-203; - Kurt Batt: Erlebnis des Umbruchs und harmonische Gestalt. Der Dialog zwischen Anna Seghers und Georg Lukacs. Ebenda, S. 204-248. Vgl. Ein Briefwechsel zwischen Georg Lukacs und Anna Seghers. In: Georg Lukacs: Probleme des Realismus. Berlin 1955, S. 240-270. Vgl. dazu Lukacs' Arbeiten in der Linkskurve, insbesondere seine Studie: Größe und Verfall des Expressionismus. In: Internationale Literatur 4 (1934) 1, S. 153-173. Vgl. Louis Aragon: Pour un réalisme socialiste (Für einen sozialistischen Realismus). Paris 1935. - Vgl. Wolfgang Klein: Schriftsteller in der französischen Volksfront. Die Zeitschrift „Commune". Berlin 1978, S. 168. Im Jahre 1932 wurde Gyula Gömbös Ministerpräsident. Er war ein treuer Anhänger der „Achse" Berlin-Rom und führte Ungarn in Richtung Faschismus. Die ihm folgenden Regierungen setzten diesen Kurs fort. Vgl. zu dieser Frage: Pâl Pritz: Magyarorszäg külpolitikäja Gömbös Gyula miniszterelnôkségc idején, 1932-1936 (Die Außenpolitik Ungarns unter dem Ministerpräsidenten Gyula Gömbös von 1932 bis 1936). Budapest 1982. Eine ideologische und literarische Bewegung, die zur Mitte der 20er Jahre entstand. Ihre Vertreter verstanden sich als Wortführer des Volkes, d. h. in erster Linie der armen Bauernschaft, und formulierten aus diesem Verständnis heraus auch ihr literarisches und politisches Programm. Dementsprechend kam in ihren Arbeiten der Dorfforschung, Soziologie und Soziographie besonderes Gewicht zu (Vgl. auch Text 43). Die Bewegung der „Volkstümler" war dabei keineswegs einheitlich: Das Rückgrat bildeten jene Kräfte, die demokratische Bestrebungen vertraten, doch daneben gab es auch Mitglieder, die durch rechte, den Rassismus verteidigende und das Volk mythisierende Ideologien beeinflußt wurden. Andere gelangten indessen zum Marxismus, einige sogar zur Kommunistischen Partei. Die bedeutendsten Schriftsteller und Soziologen unter ihnen waren Gyula Illyés, Géza Féja, Péter Veres, Pâl Szabô, Lâszlô Németh, Jôzsef Darvas, Jânos Kodolânyi, Aron Tamâsi, Ferenc Erdei, Gyula Ortutay und Imre Kovâcs. Dieser Terminus, der eine ganze geistige Richtung im Ungarn der 30er Jahre charakterisierte, wurde von Lâszlô Németh benutzt. Dieser sah anstelle des sozialistischen beziehungsweise kapitalistischen Weges für Ungarn die Lösung in einem dritten, in dem Weg der „Revolution der Qualität", wo die ungarische Bauernschaft die Hauptrolle spielen sollte und das End-

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ziel der Umgestaltung die klassenlose Gesellschaft war. Als aktuelles politisches Programm war dieses Konzept des „dritten Weges" zugleich nationalistisch und sowjetfeindlich. 85 Illés Monus gehörte dem zentristischen Flügel der Sozialdemokratischen Partei an. Er konnte sich zwar von der opportunistischen Politik nicht frei machen, erkannte jedoch in vielem die Gefahr, die der sich ausbreitende Faschismus für die Arbeiterbewegung bedeutete. Daher öffnete er die Spalten der Szocializmus, der theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratischen Partei, für die kommunistische Intelligenz und kam zeitweilig auch mit Attila Jözsef in Berührung. 86 Gesammelt wurden diese Schriften erst in jüngster Zeit herausgegeben. Vgl. Gâbor Gaâl: Vâlogatott irâsok (Gesammelte Schriften). Bde. 1 - 3 . Bukarest 1964, 1965, 1971; Gâbor Gaâl: Levelek (Briefe). Bukarest 1975. 87 Vgl. über seine Tätigkeit: Sândor Töth: Gaâl Gâbor - Tanulmâny Gaâl Gâborrôl, a Korunk szerkesztôjérôl (Studie über Gâbor Gaâl, den Redakteur der Korunk). Bukarest 1971. 88 Vgl. Attila Jôzsefs Kritiken und theoretischen Arbeiten. In: Jözsef Attila: összes müvei (Sämtliche Werke). Bd. 3. Budapest 1958. 89 Erschien erstmals im Jahre 1957, zwanzig Jahre nach Attila Jözsefs Tod in: Irodalomtörteneti Kôzlemények 61 (1957) 1 - 2 , S. 134-146. Danach in: Jözsef Attila: összes müvei. Bd. 3. S. 7 8 - 1 0 0 ; Zu Attila Jözsefs kunsttheoretischem Schaffen vgl. Miklös Szabolcsi: Attila Jözsef - Leben und Werk. Berlin 1981, insbesondere S. 123-135. 90 Vgl. Kosztolânyi Dezsö. In: A Toll, Nr. 5, v. 15. 7. 1935, S. 1 5 0 - 1 5 2 ; „Uj Szellemi Front" („Eine neue geistige Front"). In: Szocializmus, Nr. 5, v. 8. 5. 1935, S. 1 9 8 - 2 0 4 ; Van-e szociolögiai indokoltsäga az uj népies irânynak? (Gibt es eine soziologische Motivierung für die neue „Volkstümler-Richtung?). In: Szép Szö 2 (1937) 2, S. 172-173. Alle diese Arbeiten sind ebenfalls enthalten in: Jözsef Attila: Összes müvei. Bd. 3. 91 Aus Attila Jözsefs Werk Esztétika (Ästhetik) ist nur dieses Fragment erhalten geblieben. - Vgl. Jözsef Attila: Összes Müvei, Bd. 3, S. 273. 92 Vgl. dazu Text 47 sowie die Gesammelten Werke von Bâlint György: A toronyôr visszapillant (Der Turmwächter blickt zurück). Budapest 1961. Bde. 1 - 2 . 93 Seit 1938 nahm Jözsef Rêvai im Auftrag des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale beim Auslandskomitee der Kommunistischen Partei Ungarns die Funktion eines theoretischen Beraters wahr. 94 Diese Arbeit Jözsef Révais erschien in Ungarn vor 1945 unter dem Pseudonym Gyula Kâllai: Népiség, demokrâcia, szocializmus (Volkstümlichkeit, Demokratie, Sozialismus). Budapest 1943. 95 Vgl. Jözsef Rêvai: Literarische Studien. Berlin 1956. 96 Vgl. Läszlö Illés: Literaturkritik in der Moskauer ungarischen Zeitschrift Uj Hang. In: Wir stürmen in die Revolution. Hg. v. M. Szabolcsi, L. Illés, F. Jözsef. Budapest 1977, S. 335-362.

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97 Vgl. Jozsef Rêvai: Marxizmus, népiesség, magyarsâg. Budapest 1948. 98 Vgl. Text 49. 99 Vgl. Andrâs Kispéter: Die Gruppe der Arbeiterschriftsteller. In: Wir stürmen in die Revolution. Budapest 1977, S. 385-417. 100 Gyötgy Lukâcs: Pârtkôltészet (Parteidichtung); (1945). In: György Lukâcs: Magyar irodalom - magyar kultüra (Ungarische Literatur - ungarische Kultur). Budapest 1970, S. 306. Text 1 : Kiâllitâs a mûcsarnokban. In: Népszava, Nr. 45, v. 22. 4. 1902, S. 2 - 3 . 1 Die Kunsthallen gehören zu den bedeutendsten Ausstellungsstätten Budapests und stehen seit der Jahrhundertwende für zeitlich begrenzte Ausstellungen zur Verfügung. In diesem prinzipiellen Artikel, der in der sozialdemokratischen Népszava (Volksstimme) erschien, legt Ervin Szabö seine Anschauungen zur bildenden Kunst dar, die sich zugleich aber auch auf das Verhältnis von Literatur und Sozialismus beziehen lassen. 2 Organisiert wurde die Ausstellung von der Landesgesellschaft für Ungarische bildende Kunst in der Zeit vom 1. April bis 15. Mai 1902. Über die Bilder der ungarischen sezessionistischen Künstler schtieb Szabö in der Folge noch mehrfach Kritiken, am ausführlichsten über die Ausstellung des Malers Sândor Nagy (1869-1951). Text 2 : Szocializmus és muvészet. In: Népszava, Nr. 39, v. 1. 4. 1905, S. 6. 1 Dieser anonyme Artikel tritt als einer der ersten dafür ein, die fortschrittliche Kunst in einem klassenkämpferischen sozialistischen Programm zu verkünden. 2 Der Terminus geht auf die in großem Luxus lebende Bevölkerung der Stadt Sybaria im Altertum zurück, bezeichnend für ein Leben in Nichtstun und Schmarotzertum. 3 Benvenuto Cellini (1500-1571) wirkte als italienischer Bildhauer, Goldschmied und Graveur. In den vorliegenden Gegensatzpaaren bringt Ervin Szabö zum Ausdruck, daß sich die großartige Kunst des Mittelalters und der Renaissance auf die Ausbeutung der Volksmassen gründete. Text 3 : Proletâr-kôltészet. In : Népszava, Nr. 47, v. 23. 2. 1908, S. 2. (Lesermagazin) 1 Diese Schrift belegt die positive Reaktion der progressiven Schriftsteller auf das von der Népszava verkündete Programm (s. Anmerkung 1 zu Text 2). Kosztolânyi selbst war weder ein sozialistischer noch proletarischer Dichter; doch galt seine Verbundenheit, sein humanistisches Engagement in seiner gesamten Dichtung den Armen. 2 Ein Gedicht von Arno Holz, das einige Monate zuvor in der Übersetzung Kosztolânyis im obengenannten Lesermagazin der Népszava publiziert worden war. 3 Hin-weis auf Thomas Hood: The song of the shirt (Das Lied vom Hemd). In: The serious poems of Thomas Hood (Die bedeutenden Gedichte von Thomas Hood). London 1876, S. 304-306. - Dieses Gedicht erschien in

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der ungarischen Übersetzung: A z ingdal ( D a s Hemdlied) von Käroly Szäsz. I n : G a b o r H a l ä s z : A z angol irodalom kincseshäza (Schatzkammer der englischen Literatur). Budapest o. J., S. 2 2 8 - 2 3 0 . 4 D i e italienische Dichterin A d a Negri ( 1 8 7 0 - 1 9 4 5 ) beschäftigte sich in ihren Gedichten vornehmlich mit den Themen Mutterschaft und Brüderlichkeit. Ihre Landsmännin Annie Vivanti ( 1 8 6 8 - 1 9 4 2 ) gehörte als Dichterin und Romanautorin der Avantgarde an. Text 4 : Leszämolas Ibsennel. I n : Nyugat 1 (1908) 15, B d . 1, S. 7 7 8 - 7 8 6 . 1 Vgl. Heinrich Heine: Gespräch auf der Paderborner Heide. (Ungefähr 1819). I n : Heinrich Heine: Gedichte 1 8 1 2 - 1 8 2 7 . Heinrich Heine Säkularausgabe. B d . 1, Berlin - Paris 1979, S. 55. 2 Vgl. G . W. Plechanow: Henrik Ibsen. Rutenberg, St. Petersburg 1906. (Bibliothek für alle). D i e Studie erschien mit einem zusätzlichen Kapitel am 10. 7. 1908 als Beilage der Neuen

Zeit. Vgl. auch G . W . Plechanow: Kunst

und Literatur. Berlin 1955, S. 8 7 5 - 9 2 8 . 3 Gemeint ist die Treue sich selbst gegenüber, eine Überzeugung, die dem tiefsten Wesen des Menschen entspringt. 4 Ibsens Theaterstück "Brand, entstand 1866 und wurde 1885 uraufgeführt. 5 D a s Stück Die

Stützen der Gesellschaft

wurde im Jahr seiner Entstehung,

1877 aufgeführt. 6 D e r ironische Verweis L a j o s Birös auf eine von Plechanow zum Teil nach Programmpunkten gegliederte, thesenhaft formulierte politische Stellungnahme im literarischen Werk mündet in einer überspitzten und ungerechtfertigten Beurteilung Plechanows. 7 G . W. Plechanow: Kunst und Literatur. Berlin 1955, S. 889. 8 Ebenda, S. 908. 9 D i e Familie der Medici war eine vom 15. bis ins 18. Jahrhundert in Florenz ansässige Bankiers- und Kaufmannsfamilie. Auf Grund ihres Vermögens und Einflusses spielte sie bei der Förderung von Kunst und Literatur der Renaissance eine bedeutende Rolle. 10 Papst Leo X . ( 1 4 7 5 - 1 5 2 1 ) ging aus der Medici-Familie hervor und war ein großer Förderer der Künste. 11 Lenke Bajza Beniczkyne ( 1 8 4 0 - 1 9 0 5 ) erntete mit ihren sentimentalen Romanen im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts großen Erfolg, insbesondere in den Kreisen des Kleinbürgertums. 12 D e r französische Literaturhistoriker Hippolyte-Adolphe Taine

(1828-1893)

arbeitete die sogenannte „Milieu-Theorie" aus. 13 D a s über Leonardo handelnde Buch von Jözsef D e n e s Diener erschien im Jahre 1906 in Budapest. 14 L a j o s Birö war in seinem Denken ähnlich links eingestellt wie E n d r e A d y ; zu Recht und verhältnismäßig früh zog er in diesem Artikel gegen eine sektiererische, nur auf die Tagesaufgaben orientierende Literaturauffassung zu Felde.

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T e x t 5 : A Magyarországi Szociáldemokrata Párt Budapcsten, 1908 április hó 19., 20., 21., 22. és 23. napján tartott XV. pártgyülésének jegyzökönyve gyorsirói jegyzetek alapján (Ausschnitt aus dem Stenogramm vom XV. Kongreß der Sozialdemokratischen Partei Ungarns, der vom 19. bis 23. April 1908 in Budapest stattfand). I n : A Népszava Könyvkereskedés kiadása. Budapest 1908. S. 1 9 5 - 1 9 9 . 1 D a s Lesermagazin erschien als Wochen-Literaturbeilage der sozialdemokratischen Parteizeitung von September 1907 bis Juni 1908. Hier wurden Arbeiten von solch bedeutenden ungarischen und ausländischen Vertretern der fortschrittlichen Literatur wie E n d r e Ady, Gyula Juhász, Dezsö Kosztolányi, Lajos Biró, Tschernyschewski, Engels, Anatole France, Gorki, Hauptmann, William Morris und Zola veröffentlicht. D i e hier von Garami vorgetragenen Überlegungen zum Verhältnis von Künstler und Parteilichkeit gipfeln später in die kontroversen Debatten um Lajos Kassák. (Vgl. Vorwort, S. 2 4 - 2 6 . ) 2 Gipsjungen von István Seregély, einem unbekannten Schriftsteller, war ein belangloses Gedicht von geringem N i v e a u , das am 23. 2. 1908 im Lesermagazin der Népszava veröffentlicht wurde. 3 Garami trat dem konservativen literarischen Geschmack Sándor Csizmadias entgegen, der als Dichter der Népszava erbittert gegen Adys Präsenz in dieser Zeitung ankämpfte, und verteidigte Ady, der von Seiten der konservativen und reaktionären Blätter und Kreise auf G r u n d seiner Modernität äußerst heftig angegriffen wurde. 4 Béla Révész veröffentlichte in dieser Zeit mehrere Novellen gleicher Thematik, so d a ß nicht feststeht, auf G r u n d welcher er angegriffen worden war. Doch höchstwahrscheinlich, weil er als Redakteur Ady und anderen modernen Schriftstellern Publikationsmöglichkeiten in der Népszava geschaffen hatte. 5 Vgl. Text 4, Anmerkung 11. Text 6 : Irodalmi háborgás és szocializmus. I n : Szocializmus v. 1 6 . 1 . 1 9 0 9 : 3 ( 1 9 0 8 - 1 9 0 9 ) 3, S. 112. 1 Eine Schriftstellergeneration, die Ady unmittelbar vorausging und seinem Auftreten feindlich gegenüberstand. Diese Schriftsteller kamen gewöhnlich in einem Café zusammen. 2 v. b. t. t. ist die Abkürzung von valóságos belsö titkos tanácsos (Wirklicher Geheimer Innerer Rat). Diesen Titel trug Jenó Rákosi seit 1903 und war zugleich Mitglied des Oberhauses, während Lajos Dóczy im Jahre 1900 Baron wurde. 3 Spöttische Anspielung auf eine Äußerung Kálmán Mikszáths in der Az Ujság (Die Zeitung) v. 10. 12. 1908, wo dieser den modernen literarischen Bestrebungen verständnislos gegenübersteht. Mikszäth selbst rauchte eine charakteristische Pfeife mit langem Stiel. 4 Erschien in der 3. Oktober-Nummer des Budapesti richtenblatt) von 1908.

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Hirlap (Budapester Nach-

5 Jeflö Räkosis Angriff erschien in Budapesti Hirlap v. 20. 12. 1908 unter dem Titei A holnap (Das Morgen). 6 Dieser Hinweis bezieht sich auf eine Kritik Ferenc Herczegs zur Anthologie Holnap, die Herczeg in V) Idök (Neue Zeiten) v. 25. 10. 1908 veröffentlichte und in der er die modernen Dichter scharf attackierte. 7 Ferenc Herczeg (1863-1955) gelangte als Schriftsteller innerhalb der konservativen Mittelschicht rasch zu Popularität. 8 Gemeint ist die Zeit der bürgerlichen Revolution von 1848/49. 9 Dieser Artikel war die entschiedene Stellungnahme Adys in der großen Diskussion der Nepszava, in deren Verlauf er von dem konservativ ausgerichteten Sändor Csizmadia, der die aktuelle agitative Rolle der Literatur betonte, auf das heftigste der „Dekadenz" bezichtigt worden war. Die Polemik war bereits seit dem Parteikongreß der Sozialdemokraten von 1908 akut. (Vgl. Text 5) Unter denen, die Ady verteidigten, befanden sich Ernö Bresztovszky und ein sozialistischer Arbeiterkorrespondent. Ady veröffentlichte diesen Artikel anderntags in der Nepszava v. 17. 1. 1909 in vollem Umfang. Text 7 : Irodalom es politika. In: Jözsef Pogäny: Harcok emberei (Menschen der Kämpfe). Budapest 1911, S. 5 - 1 5 . 1 Sändor Brödy: Mephisto barätom (Mein Freund Mephisto). In: Sändor Brödy: Nyomor (Elend). Budapest 1884, S. 17-18. - Brödy (1863-1924) war eine der zentralen Gestalten der ungarischen Literatur zur Jahrhundertwende ; er orientierte die Prosa auf den Naturalismus und erneuerte zugleich deren Stil in moderner Richtung. 2 Ede Kabos: Elzüllöttek (Die Verkommenen). Budapest 1885, S. 6 - 8 . Kabos war ein Freund Adys und als realistischer Schriftsteller äußerst produktiv. Er schrieb vor allem Erzählungen, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. 3 Vgl. Text 6, Anmerkung 9. (Übersetzung des Zitats nach: Endre Ady: Gedichte. Berlin 1965, S. 13-14). 4 Dies bezieht sich auf Budapesti Naplö (Budapester Journal) bzw. auf die Nepszava-, vgl. auch Text 6 sowie Text 5, Anmerkung 3. 5 Die Volksschauspiele waren seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts außerordentlich populär. Das Thema dieser heiteren, zuweilen melodramatischen, oftmals musikalischen Theaterstücke bildete das „Leben des Volkes"; in ihnen wurde von der ungarischen Gesellschaft und innerhalb derer von der Bauernschaft ein ungetrübtes, illusorisches Bild vermittelt. 6 Gemeint ist Endre Adys Gedicht: A magyar ugaron (Auf dem ungarischen Brachland), das 1906 erschien. (Vgl.: Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. Hg. Stephan Hermlin u. György Mihäly Vajda. Berlin und Weimar 1970, S. 159.) 7 Ein bedeutender Teil der sozialdemokratischen Literaturtheoretiker jener Zeit sah in Ady den wirklichen Revolutionär der Literaturrevolution der Nyugat; demzufolge stellten sie ihn den übrigen progressiven bürgerlichen

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Schriftstellern gegenüber, die ebenfalls an der literarischen Erneuerung beteiligt waren, jedoch nicht nach Wegen zur sozialistischen Bewegung gesucht hatten. Ein Eckstcin späterer sektiererischer Literaturauffassungen bildete der zwischen Ady, Babits und Kosztolänyi und den anderen sogenannten „ästhetisierenden" Schriftstellern bestehende Unterschied, der dann zum prinzipiellen Gegensatz umkonstruiert wurde. Mit Ferenc Molnär und Lajos Birö werden im vorliegenden Text fortschrittlich-bürgerliche, gesellschaftskritische Literaturbestrebungen charakterisiert, während die Namen von Dezsö Szomory, Ferenc Herczeg und Zoltän Ambrus für konservative, anekdotische bzw. in die Vergangenheit weisende literarische Tendenzen stehen. 8 Hinweis auf Endre Adys Gedicht: Küldöm a frigylädät (Ich sende euch die Bundeslade), das am 7. 2. 1909 in der Nepszava erschien und die Identifizierung des Dichters mit dem Kampf des Proletariats zum Ausdruck bringt. (Vgl.: Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. Hg. Stephan Hermlin u. György Mihäly Vajda. Berlin und Weimar 1970, S. 172-173). Text 8 : „Proletärkölteszet'VVärnai Zseni verseskönyve alkalmäböl/(Aus Anlaß eines Gedichtbandes von Zseni Värnai). In: Nyugat 7 (1914) 9, Bd. 1, S. 643-645. 1 Katonafiamnak 1 (Meinem Soldatensohn!). Budapest 1914. (Zu den folgenden Ausführungen vgl. Vorwort, Abschnitt Sozialismus und Kunst). 2 Diesen Terminus wendet Ervin Szabö auf sozialistische Kritiker mit einer konservativen Anschauung an. 3 Der Name Szabolcska hatte (infolge der vernichtenden Parodien von Frigyes Karinthy) zu dieser Zeit bereits eine symbolische Bedeutung: Er stand für die sentimentale, volkstümliche Epigonendichtung. 4 Szabö führt hier beispielhaft Programme von Parteien an, die sich völlig voneinander unterschieden: neben den Sozialdemokraten die ultrakonservative Volkspartei, die als Partei der klerikalen Opposition in ihrem Programm gegen eine Verbürgerlichung zu Felde zog, während die Verfassungspartei als Sammelbecken der Großgrundbesitzer nur kurze Zeit existierte und sich auch gegen den Klerus stellte. 5 Zeitlich verzögert, schloß dieser Artikel doch an die Debatte der Nepszava an, in der es um das Verhältnis von künstlerischem Wert und politischer Öffentlichkeit ging. (Vgl. Text 6, Anmerkung 9). Text 9 : Jätszunk a szavakkal. In: Nepszava, Nr. 110 v. 10. 5. 1914, S. 4 - 5 . 1 Vgl. Text 8, auf den Bresztovszky hier reagiert. 2 Hinweis auf die drei Farben der ungarischen Fahne. 3 In Anlehnung an den Manchesterianismus, der die totale Freiheit des wirtschaftlichen Lebens verkündete und als ökonomische Richtung ein Einmischen von Seiten des Staates ablehnte, sieht Ernö Bresztovszky dessen literarisches Pendant im l'art pour l'art. 4 Losung des klassischen ökonomischen Liberalismus, „einen jeden auf seinem

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Weg gehen zu lassen". Bresztovszky bezieht sie hier im wesentlichen auf eine Dichtung, die die tendenzielle Absicht vetwirft. 5 Seitenhieb auf Mihâly Babits, der auf Grund seiner großen künstlerischen Sorgfalt für einen Anhänger von l'art pour l'art gehalten wurde. Da sich Babits in seiner Dichtung häufig der Alliteration bediente, ist die in der folgenden Zeile zum Ausdruck gebrachte Ironie unverkennbar; „békén burjânzô bânatosan bojtorjânos babicsoknak". In der deutschen Übertragung ist diese Alliteration unberücksichtigt geblieben. 6 Hinweis auf Immanuel Kants Schönheits-Begriff. 7 Die Debatte zwischen Bresztovszky und Ervin Szabô wurde im Monat Mai in den Spalten der Népszava fortgesetzt: Nach der Antwort Ervin Szabös ergriff Bresztovszky wiederum das Wort, doch letztlich beharrten beide Diskussionspartner im großen und ganzen unverändert auf ihren Standpunkten und beendeten die Polemik mit einer Erklärung in der Népszava v. 31. 5. 1914. Text 10: Hittel a szépben. In: Lajos Kassäk: Uj költök könyve (Ein Buch neuer Dichter). Budapest 1917, S. 5-6. 1 Der vorliegende Text entstand als Vorwort des ersten Gedicht-Sammelbandes der ungarischen Avantgarde und trägt gleichsam programmatischen Charakter. (Dichter dieser Ausgabe sind: Mâtyâs György, Jôzsef Lengyel, Aladâr Komjât und Jôzsef Rêvai.) Wie bereits aus Kassäks Vorwort hervorgeht, bekannte sich die ungarische Avantgarde seit ihrem Debüt zum gesellschaftlichen Engagement. Text 11: Kilencszâztizenhét. In: Internationale v. 1.1.1919; 1 (1919) 1, S. 1. 1 Ende 1917 trennten sich Jôzsef Rêvai, Aladâr Komjât, Jôzsef Lengyel und Mâtyâs György - die Autoren des Buches neuer Dichter (Vgl. Text 10) vom avantgardistischen Kreis Lajos Kassäks und seiner Zeitschrift MA. Sie beabsichtigten die Herausgabe einer neuen Zeitschrift unter dem Titel Neunhundertsiebzehn, an deren Redaktion auch der Ingenieur Gyula Hevesi hätte teilnehmen sollen. Da das Blatt - wie bereits aus dem Titel ersichtlich — ausgesprochen sozialistisch ausgerichtet gewesen wäre, wurde sein Erscheinen untersagt. Erst als Ergebnis der bürgerlichen Revolution von 1918 konnte es im Jahre 1919 erscheinen, nun bereits unter dem Titel Internationale. Die Zeitschrift wurde von Hevesi, Rêvai und Komjât redigiert; eine Zeitlang gehörte ihr auch Mâtyâs György als Mitarbeiter an. Der vorliegende Text ist die programmatische Erklärung der Zeitschriftenredaktion. 2 Hatte die Funktion des Ministers für Justiz, später für Wahlrecht inne; Vâzsonyi würgte schonungslos die im Dezember 1917 in Gang gekommenen Aktionen ab und vereitelte überdies die Einführung des allgemeinen geheimen Wahlrechts.

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Text 12: A kultüra tényleges birtokbavétele. In: Fäklya, Nr. 94 v. 20. 4. 1919, S. 3. 1 Fäklya erschien nach Umgestaltung der bürgerlich-radikalen Leitung unter Beibehaltung ihrer Redakteure als kulturelles Tageblatt des Volkskommissariats für Unterrichtswesen. Lukäcs' programmatischer Artikel brachte demzufolge den offiziellen kulturpolitischen Standpunkt der Räterepublik zum Ausdruck. Zu dieser Zeit war György Lukäcs stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen und bereits ohne alle Vorbehalte Kommunist. Es ist bekannt, daß er noch im Herbst 1918 einen Artikel unter dem Titel Der Bolschewismus als moralisches Problem schrieb, in dem er sich von den Kommunisten abgrenzte, und erst Anfang 1919 (zur Zeit der Gründung der Kommunistischen Partei Ungarns) zur kommunistischen Bewegung kam. 2 Der in Klammern gesetzte Teil ist eine Textkorrektur der Zeitschriftenredaktion. Text 13: Zsigmond Kunfi: Proletärkultüra - proletärmüvdszet (Proletarische Kultur - proletarische Kunst). Budapest 1919. Der Untertitel der vom Volkskommissariat für Unterrichtswesen betreuten Ausgabe lautet: Kunfi Zsigmond 1919 äprilis 9-én tartott elöadäsa a közoktatäsügyi Népbiztossàg tudomänyos és népszeru propaganda osztàlyànak agitätorkepzö iskolàjàban (Vortrag Zsigmond Kunfis in der Schule für Agitationsausbildung der wissenschaftlichen Und Volkspropagandaabteilung des Volkskommissariats für Unterrichtswesen am 9. April 1919). 1 In diesem Vortrag stellt Kunfi die umfassende kulturpolitische Konzeption der Räterepublik vor. Er erschien als Heft gebunden im April 1919. Dieser Text wird im Original von Antworten ergänzt, die Kunfi auf die nach seinem Vortrag an ihn gerichteten Fragen gab. 2 Vgl. Karl Marx: „Zur Kritik der politischen Ökonomie". Vorwort. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Berlin 1964, Bd. 1, S. 336-338. Text 14: Forradalmi istentisztelet. In: Népszava, Nr. 89 v. 13.4. 1919, S. 2 - 3 . 1 Der Begriff „Gottesdienst" steht hier als Ausdruck des weihevollen Respekts der siegreichen proletarischen Revolution vor der wirklich großen Kunst. Außer der IX. Sinfonie wurde am Abend der Roten Soldaten noch Beethovens III. Leonoren-Ouvertüre gespielt sowie das Gedicht Jon az òcsém (Es kommt mein Bruder) von Antal Farkas vorgetragen. Text 15: Ne vegyétek el a gyermekektöl a mesét. In: Fäklya, Nr. 111 v. 11.5. 1919, S. 3. 1 Unter der Leitung Béla Beläzs' organisierte das Volkskommissariat für Unterrichtswesen in der Zeit der Räterepublik in regelmäßiger Folge Märchennachmittage für Kinder. 26 Befunde

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2 Als das hungernde revolutionäre Sowjet-Rußland von Konterrevolutionären und Entente-Truppen eingezingelt war, wurden die Lebensmittel nach vier Kategorien verteilt. Die erste kam den physisch schwer Arbeitenden zu, zur vierten Kategorie gehörten die einstigen Unterdrücker und Ausbeuter. 3 Baläzs' Auffassung (die im übrigen zu bestimmten Ansichten des LukäcsKreises vor 1918 deutliche Bezüge aufwies) setzte sich letztlich durch: Das Volkskommissariat für Unterrichtswesen veranstaltete im Juli 1919 ein Preisausschreiben, um die Märchennachmittage durch neue, originelle Märchen zu ergänzen. Text 16: A Nép Szinhâza. In: Fâklya, Nr. 95 v. 2 2 . 4 . 1 9 1 9 , S. 3. 1 Sämtliche Theater wurden in den ersten Tagen der Räterepublik verstaatlicht. Innerhalb des Volkskommissariats für Unterrichtswesea beteiligte sich neben György Lukâcs, Lajos Kassak, Andor Gabor und anderen auch Béla Baläzs an der Lenkung der Theater wie an der Gestaltung der Programmpolitik. 2 Gleichsam als Experiment hatte Reinhardt einige von ihm inszenierte Theaterstücke vor gewaltigen Publikumsmassen in der Zirkusarena zur Aufführung gebracht. Die Bühne - im vorliegenden Fall war es die Zirkusmanege, in der die Vorstellung ablief - befand sich sozusagen in der Mitte des „Theaters", ganz umgeben von den Zuschauern. Text 17: Diktatlira kell. (Hozzâszolâs Révai József. elvtârs: „Tiszta proletârpolitikât" c. cikkéhez.) [Diskussionsbeitrag zum Artikel des Genossen József Révai: „Reine proletarische Politik").] In: Vörös Ujsäg, Nr. 58 v. 10. 4. 1919, S. 8. 1 József Révais Artikel erschien am 4. April 1919 in der Vörös Ujsäg (Rote Zeitung) und löste eine kürzere Debatte aus. Er trägt ausgesprochen politischen Charakter im Interesse einer konsequenten Weiterführung der Diktatur des Proletariats und befaßt sich nicht mit Fragen der Kunst. Die von Uitz in diesem Zusammenhang vorgenommene Einschätzung der bürgerlich-humanistischen Künstler beruht auf einer eindeutigen linkssektiererischen Position. 2 Diese Anspielung ist nicht klar. Das Ernst-Museum wurde in Budapest 1912 eröffnet, bot ein fortschrittlich ausgerichtetes Ausstellungsprogramm und diente seit 1917 auch als Auktionsstätte. Text 18: Vilâgszemlélet az irodalomban. In: Vörös Lobogó v. 1 0 . 4 . 1 9 1 9 ; 1 (1919) 14, S. 3 - 4 . 1 Mit diesem Artikel brachte Lajos Nagy innerhalb der progressiven Schriftsteller auch eine Bewegung in Gang, die auf eine Annäherung an sozialistische Ideen zielte. Text

19: A MA elsö agitativ estéjén. In: Vörös Lobogó v. 1 7 . 4 . 1 9 1 9 ; 1 (1919) 15, S. 2 - 6 .

1 Die expressionistische Zeitschrift MA wurde im November 1916 ins Leben gerufen und war seit Ende 1918 das Zentrum des ungarischen Aktivismus. Seit Gründung der MA veranstaltete der Kassäk-Kreis Matineen, Ausstellun-

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gen und Abende. Nach der bürgerlichen Revolution im Herbst 1918 nahm dessen Aktivität zu; da eine Zensur nicht mehr zu befürchten war, fanden im Sommer 1919 auch Agitationsabende an der Front statt. 2 Bekanntlich nahm Trotzki zu dieser Zeit noch auf der Seite Lenins an der proletarischen Revolution teil und wurde erst später zum „Abweichler". 3 Der in der Zeit der Räterepublik gehaltene Vortrag war zwar auf die neuen Erfordernisse zugeschnitten, entsprach jedoch letztlich dem von Kassäk im Februar 1919 ausgearbeiteten Programm der aktivistischen Bewegung. E r stellte zugleich eine Zurückweisung der Anklagen und Angriffe dar, die von verschiedenster Seite gegenüber der Avantgarde erhoben bzw. geführt worden waren. Die erste Variante der Rede war am 20. April 1919 unter dem Titel Aktivismus zu vernehmen, die in der MA am 10. April veröffentlicht wurde. Diese neue Fassung verlas Kassäk am 8. April. Ernö Osvät, einer der geistigen Führer der Zeitschrift Nyugat, machte diesen Vortrag in einer Kritik bekannt (in Magyarorszdg v. 2. April 1919); er hielt in diesem Zusammenhang die Bestrebungen der jungen Dichter - wie auch Kassäks in ästhetischer Hinsicht nicht für genug ausgegoren und warf ihnen zu Recht Manieriertheit und überzogenes Selbstvertrauen vor. Text 20: Felvilägositäsul. In: Vörös Ujsäg, Nr. 60 v. 18. 4. 1919, S. 4. 1 Im April 1919 erfolgte im sozialdemokratisch eingestellten Blatt Az Ember ein heftiger Angriff auf Béla Baläzs, Kassäk, György Lukäcs und Jänos Mäcza, indem man Kunfi den als „Wirrköpfen" und „Anarchisten" abgestempelten Künstlern und Politikern gegenüberzustellen suchte. Der Denunziation folgte eine große Pressedebatte, deren Abschluß bildete Lukäcs' Artikel, der auch ein literaturpolitisches Programm lieferte. Danach wurde Ferenc Göndörs Blatt für einige Wochen verboten (vgl. Anmerkung 18 der Einleitung). 2 Es handelt sich um das Volkskommissariat für Unterrichtswesen, dem Lukäcs eine Zeitlang als Stellvertreter Zsigmond Kunfis, später neben diesem selbst als Volkskommissar vorstand. 3 Zu dieser Debatte vgl. auch Farkas József: Oktoberrevolution und die Literatur der Ungarischen Räterepublik im Prozeß der sozialistischen Weltliteratur. In: „Wir stürmen in die Revolution". Hg. v. M. Szabolcsi, L. Illés u. F. József. Budapest 1977, S. 103-104. Text 2 1 : Levél Kun Bélahoz a müveszet nevében. In: M A 4 (1919) 7, S. 146 bis 148. 1 Dieser Brief Kassäks gibt zur Frage des Verhältnisses von Partei und Künstler einen ähnlichen Standpunkt wieder, wie er bereits im Text 19 anzutreffen ist. 2 Eröffnet wurde der Landes-Parteikongreß am 12. Juni 1919; dieser offene Brief war die Reaktion auf die von Kun am zweiten Tag des Kongresses gehaltene Antwortrede. In ihr hatte Kun u. a. festgestellt, daß das Proletariat 26»

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anstelle „des brunnenvergiftenden geistigen Lebens", der „bourgeoisen Belletristik" auch „im geistigen Leben seine Entfaltung finden wird. Zweifellos wird das nicht die Literatur der MA sein, die ein Produkt der bürgerlichen Dekadenz ist." (Vgl. Anmerkung 21 der Einleitung). Vgl. Text 11, Anmerkung 1. Erzherzog Josef August von Habsburg (1872-1962) war Feldmarschall und Befehlshaber der ungarischen Armee, die an den Kämpfen bei Doberdó im ersten Weltkrieg teilnahm. Von der offiziellen Propaganda wurde er zu dieser Zeit als „unser Vater József" tituliert. Der Ausgleich kam 1867 zwischen den herrschenden ungarischen Klassen und der Habsburg-Dynastie zustande, indem die Verbindung zwischen den beiden wiederhergestellt und das Prinzip der vollen Unabhängigkeit sowie demokratischen Umgestaltung des Landes, wie es 1848 errungen worden war, zum Teil aufgegeben wurde. Mit Kàrolyi-Revolution (eigentlich Astern-Revolution) wird die am 31. Oktober 1918 ausgebrochene bürgerlich-demokratische Revolution bezeichnet, deren führende Gestalt Mihäly Kärolyi war.

7 Der „Galilei-Kreis" (1908-1918) entstand mit Unterstützung der Sozialdemokratischen Partei und fungierte als Organisation linker radikaler Universitäts-Studenten. Bei der Verbreitung der progressiven Literatur war dieser von bahnbrechender Aktivität; er veranstaltete Diskussionen und Vorträge und setzte während des ersten Weltkrieges seine antiimperialistische Agitation fort. 1918 wurden der Kreis verboten, mehrere seiner Mitglieder inhaftiert und erst bei Ausbruch der bürgerlich-demokratischen Revolution befreit. 8 Kassäk verweist hier auf die Umstände der Gründung der Kommunistischen Partei Ungarns. Ihre Räumlichkeiten befanden sich neben den Redaktionszimmern der MA. 9 Karl Radek (1855-1939), polnischer Herkunft, Journalist und marxistischer Politiker. 1917 nahm er an der Oktoberrevolution teil, Ende 1918 an der Novemberrevolution in Deutschland. 1919 kehrte er nach Moskau zurück. 10 Kassäk verweist hier auf die Erzählung Feuer des russischen Schriftstellers Alexej Remisow (1877-1957). 11 Vgl. Text 5 ; der Hinweis bezieht sich auf den Kongreß der Sozialdemokraten. 12 Der Roman Vonagló falvak (Ringende Dörfer) entstand im Jahre 1913. In ihm zeichnet Béla Révész mit grellen Farben das Elend der ungarischen Bauernschaft; Kassäk zielt hier auf die Sozialdemokraten. 13 Als sozialdemokratischer Journalist eröffnete Ferenc Göndör die Angriffe gegen Kassäk und die Avantgarde. Kassäk bezieht sich auf die antikommunistische Einstellung und „Proletarierfeindlichkeit", die für alle jene galt, die Göndörs Standpunkt teilten.

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Text . 22;. Aktivista mûyészet és forradalom. In: Munkas (Kosice), Nr. 99 v. 1.5. 1922. S. 4. Vgl. auch: Mérleg és Tovâbb. In: MA (Wien), 7 (1922) 5-6, S. 2-4. 1 Kassâk gab seine Zeitschrift MA bereits am 1. Mai 1920 in der Wiener Emigration erneut heraus. Sie wurde zum führenden Organ der aktivistischen Künstlergruppierung. 2 Gemeint ist die Gründung der Zeitschrift A Tett am 1. November 1915. Auf Grund ihrer internationalistischen Antikriegsbeiträge in der Nr. 17 wurde sie im September 1916 verboten. Im November desselben Jahres erschien die MA als ihr Nachfolger. 3 Die Gruppe um Kassâk schuf in Ungarn die aktivistische Variante des Expressionismus. 4 Kassâk verweist auf seine eigenen Werke: Als Vorwort publizierte er in der ersten Nummer der Zeitschrift A Teil die Ode Az örömhöz (An die Freude), 1915 gab er den Gedichtband Eposz Wagner maszk)âban (Epos in Wagners Maske) heraus und 1920 veröffentlichte er sein Prosawerk 1919 Eposz (1919 - Ein Epos). 5 Zu den jungen Schriftstellern, die sich in dieser Anfangsphase um Kassâk gruppierten, gehörten : Sândor Barta, Mâtyâs György, Mózes Kahâna, Aladâr Komjât, Jânos Lékai, Jôzsef Lengyel, Jânos Mâcza, József Rêvai, Ervin Sinkó, ErZsi Ujvâri und andere. Der Gruppe hatten sich auch bildende Künstler angeschlossen, so vor allem Sândor Bortnyik, Jânos Mattis-Teutsch und der Maler Béla Uitz. 6 Ein Teil der jungen Schriftsteller, der sich der aktivistischen Bewegung verschrieben hatte, wandte sich bereits Ende 1917 gegen Kassâk (Vgl. Text 11, Anmerkung 1) und bekannte sich zur Parteilichkeit als Grundlage ihrer Kunstanschauung. Von dieser Gruppe wurde unter der Leitung Aladâr Komjâts im Jahre 1922 in Wien die Zeitschrift Egység ins Leben gerufen, die entschieden der kommunistischen Richtlinie folgte. Anfang 1922 schieden in der Wiener Emigration von den um Kassâk versammelten Künstlern erneut mehrere aus dem AfA-Kreis aus, unter ihnen Sândor Barta, Béla Uitz und Erzsi Ujvâri, die jüngere Schwester Kassâks. Einige dieser Künstler arbeiteten eine Zeitlang als Mitarbeiter der Egység. Text 23 : Felhivâs a magyar nyelvü kommunista alkotômunkâsokhoz. In : Egység (Wien), v. 10.2. 1923; 2 (1923) 4, S. 1-2. 1 Im August 1920 konstituierte sich zur Zeit des II. Kongresses der Komintern das Zeitweilige Internationale Büro des Proletkult, dessen Ziel es war, in allen Ländern Proletkult-Organisationen ins Leben zu rufen. In Mittel- und Westeuropa bildeten sich vielerorts auch solche Gruppen, deren internationaler Zusammenschluß jedoch nur ein Teilerfolg darstellte, da sich gerade zu dieser Zeit ein Rückgang der Proletkult-Bewegung in Rußland abzeichnete. Der Versuch der Egység, eine Proletkult-Internationale mit ihrem Zentrum in Mitteleuropa zu schaffen, avisierte Varianten von kommunistischen Kul-

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turkonzeptionen, wie sie nach der Oktoberrevolution in Sowjetrußland zustande gekommen beziehungsweise in den von Klassenzusammenstößen schwangeren Mittel- und Westeuropa noch existent waren. Über den Proletkult vgl.: Klaus Kändler: Drama und Klassenkampf. Berlin und Weimar 1970; Multinationale Sowjetliteratur. Berlin und Weimar 1975, S. 3 4 - 4 3 ; W. W. Gorbunow: Lenin und der Proletkult. Berlin 1979; Ferenc Botka: Der Internationale Proletkult. I n : Internationale Literatur des sozialistischen Realismus. 1917-1945. Berlin und Weimar 1978. S. 5 3 6 - 5 5 7 ; Bärbel Schräder: Für und wider proletarische Kultur. In: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Berlin und Weimar 1980, S. 171-220. Über die Organisationen der deutschen proletarischen Kulturbewegung vgl.: Bärbel Schräder: Aufbruch in ein neues Zeitalter - Proletkult und proletarische Kultur. In: Litcraturdebatten in der Weimarer Republik. Berlin und Weimar 1980, S. 197-229; - Im Budapester Parteihistorischen Institut der USAP befindet sich unter der Sammlung zu Jänos Lekai ein Plakat des Kasseler Proletkult-Kartells, demzufolge diese Organisation am 21. Januar 1925 eine Lenin-Gedenkfeier veranstaltete. Der Abend wurde von Ilse Berend Groä organisiert, auf ihm wurden neben Werken von Johannes R. Becher, Berta Lask, F. C. Weiskopf und anderen deutschen Schriftstellern auch Gedichte des Ungarn Jänos Mäcza sowie Johann Lekais Massenchor-Stück Lenin ist gestorben, das der Dichter zu dessen Tode geschrieben hatte, zu Gehör gebracht. Es erschien in: Das Wort (Halle), Nr. 26, v. 28. 2. 1924. Die Kommunistische Partei Ungarns wirkte in Ungarn in der Illegalität, die Leitung der Partei wurde hier wie in der Emigration durch das sogenannte Auslands-Komitee wahrgenommen. Die „stufenweisen" Vorbereitungen waren damit zu erklären, daß man die Emigrationsdauer mehr oder weniger kurzfristig ansetzte und darauf vertraute, das konterrevolutionäre System werde in Ungarn alsbald verschwinden und der Proletkult könnte dann in der heimischen Arbeiterbewegung ausgebaut werden. Nach unserer Kenntnis fand die Konferenz nicht statt. Die ungarischen Proletkult-Kreise in der Tschechoslowakei, Österreich, Deutschland und den USA arbeiteten selbständig. Die Koordinierungsversuche führten zur gemeinsamen Herausgabe des Sarlö es Kalapäcs Bvkönyv (Wien 1926), an dessen Zustandekommen auch die Moskauer Gruppe der ungarischen proletarischen Literatur aktiv mitwirkte. Infolge prinzipieller Meinungsverschiedenheiten und materieller Ursachen wurde diese Initiative jedoch vorerst nicht weiter forgesetzt.

6 Vgl. Text 24.

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Text 24: Szempontok egy nemzetközi proletär kulturszervezet megteremtesehez/ Proletkult-Internacionäle/. In: Egyseg (Wien), v. 10. 2. 1923; 2 (1923) 4, S. 3 - 5 . 1 Zu den Bestrebungen, eine Proletkult-Internationale zu schaffen, vgl.: Text 23, Anmerkung 1. Bereits im Jahre 1923 hatte der Proletkult an Bedeutung und Gewicht beträchtlich verloren, war die Zahl seiner Mitglieder und Zeitschriften in Sowjet-Rußland sehr zurückgegangen. Zu dieser Zeit wurde seitens der III. Internationale zur Schaffung der Proletkult-Internationale bereits keine Initiative mehr ergriffen. Der Anspruch, die schöpferischen Potenzen der proletarischen Literatur zusammenzufassen, war indessen unverändert aktuell. Deshalb kam es am 10. Juli 1924 zu einem Gespräch zwischen den Mitgliedern der 1923 gegründeten Assoziation proletarischer Schriftsteller der Sowjetunion und den auf dem V. Kongreß der Komintern anwesenden ausländischen Schriftstellern. Diese Beratung zeitigte den Aufruf An die proletarischen und revolutionären Schriftsteller aller Länder zwecks organisatorischen Zusammenschlusses der proletarischen Schriftsteller. (Vgl. Inprekorr/ Internationale Pressekorrespondenz/Nr. 42 von 1924 bzw.: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Berlin und Weimar 1980, Bd. 4, S. 9 - 1 3 . 2 Das Arbeitsprogramm bezieht sich auf die von Lenin erstmals 1913 dargelegte Theorie von den zwei Kulturen. - Vgl. W. I. Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. In: LW, Bd. 20, S. 1 - 3 7 . 3 Offenkundig wird hier außer acht gelassen, was Lenin über die kritische Aneignung der gesamten Kultur als das Ergebnis vorangegangener Gesellschaftsformationen ausführte. - Vgl. W. I. Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände. In: LW, Bd. 31, S. 272-290. 4 Das Lied wurde in der Spartacus-Bewegung gesungen. Der Text stammt von Richard Schulz, die Melodie folgt einem alten Soldatenlied. Es erklang in dem von revolutionären Arbeitern im Januar 1919 besetzten Berliner Zeitungsviertel, wo sie die Büxenstein-Druckerei gegen die Noske-Truppen verteidigten. Erstmals veröffentlicht wurde das Lied in einem Arbeiterliederbuch von 1920, neuerdings in: Das Lied im Kampf geboren. H e f t 8. Lieder des Roten Frontkämpferbundes. Leipzig 1961, S. 109-110 sowie in: Inge Lammel: Das Arbeiterlied. Leipzig 1970, S. 143. Wegen seines zeithistorischen Wertes sei der Text hier wiedergegeben: Oh Büxenstein, oh Büxenstein, Spartacus sein, heißt Kämpfer sein. Wir haben gekämpft bei Büxenstein Und dafür sperrt man uns ins Zuchthaus ein. Oh Spreeathen, oh Spreeathen, Viel Blut, viel Blut hast Du gesehen, In Deinem Friedrichsfelde ruht So manches tapfere Spartacusblut.

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5 G . J . : Korvin. I n : Egység (Wien), 2 (1923) 4, S. 6. (Bei dem Verfasser handelt es sich wahrscheinlich um József Greiner, der am 26. M a i 1923 auf Grund seiner Tätigkeit zur Zeit der Ungarischen Räterepublik zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden war und 1924 infolge des Gefangenenaustausches in die Sowjetunion gelangte). 6 D i e erste Konferenz des Proletkult fand im September 1917 in Petersburg, die erste gesamtrussische Konferenz vom 2 3 . - 2 8 . September 1918 in Moskau statt. D i e Wurzeln der Bewegung reichen indessen in das Jahr 1909 zurück, als A . Bogdanow und seine Gruppe in der von ihnen auf der Insel Capri gegründeten Schule ( D i e Wperjod-Bewegung) die Ideen der proletarischen Kultur verbreiteten. Lenin hatte bereits in Materialismus und Empiriokritizismus von 19C8 die auf der machistischen Philosophie fußende Ideologie scharf kritisiert. - Vgl. W. I. Lenin: Über die „Plattform" der Anhänger und Verfechter des Otsowismus. Notizen eines Publizisten. I n : L W , B d . 16, S. 1 9 5 - 2 0 6 . 7 Eine Proletkult-Werkstatt solchen Typs bildete sich von 1 9 2 1 - 1 9 2 3 unter der Leitung Antal Hidas', Jänos Mäczas und anderer in der Tschechoslowakei heraus. D e r in Kosice ansässige ungarische Proletkult war ein Forum klassenkämpferischer Arbeiterbildung. E r korrespondierte mit den Richtlinien der Zeitschrift Proletkult,

die von St. K . Neumann als Organ der K P C in

Prag herausgegeben wurde. - Vgl. Ferenc B o t k a : A Kassai Munkäs ( D e r Kosicer Arbeiter). Budapest 1969. 8 Dieser Punkt des Entwurfs verewigte gleichsam die Proletkult-Ideen und spielte bei der späteren proletarischen Literatur- und Kunstentwicklung eine Rolle. 9 Dies bezog sich vor allem auf die Mitglieder des aktivistischen

KassàkAkasztott Ember und Ek geschart hatten, sich dann dem Kreis der Egység annäherten, aber noch nicht von der Formensprache der Avantgarde zu lösen vermochten. Kreises, die sich vorübergehend um die Emigrationszeitschriften

10 D a s Interesse K a s s à k s und seines Kreises galt zu dieser Zeit hauptsächlich dem Konstruktivismus. D i e Bezugnahme auf den Maler Béla Uitz und dessen Gefährten, die sich Aladär K o m j ä t angeschlossen hatten, ist jedoch unverkennbar. Uitz suchte in seinen damaligen Werken (insbesondere in der Lud-

ditàk-Reihe) die proletarische Kunst auf dem Wege ingenieurmäßig „durchkonstruierter Formen" in ein System zu bringen. 11 Eine Massendemonstration solchen Ausmaßes wurde vom Kosicer Proletkult am 1. Mai 1 9 2 2 organisiert. Diese feierlichen

Massenveranstaltungen

des

Proletkult hatten bereits Tradition : Man denke nur an die am 1. Mai und 7. November 1920 in Petrograd veranstalteten Schauspiele, die eine Menge von Zehntausenden in Bewegung versetzt hatten. - Vgl. P. M. Kerschenzew: D a s schöpferische Theater. Breslau 1922. 12 Hinter dieser russischsprachigen Abkürzung verbirgt sich die GewerkschaftsInternationale (Profsojusnij International).

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Text 25: Munkäsmozgalom és miivészet. In: Népszava, Nr. 169, v. 30. 7. 1925, S. 2 - 4 . 1 Diesen Artikel schrieb Kassäk innerhalb einer Diskussionsserie noch während seiner Wiener Emigration. In ihm kommt klar zum Ausdruck, daß durch die Theorie der Avantgarde ähnlich wie beim Proletkult - nur aus anderen Gründen - eine kritische Aneignung der Traditionen abgelehnt wurde. 2 Kassàk setzt sich hier unmittelbar mit den Ideen des Proletkult auseinander. 3 In der Auseinandersetzung zwischen proletarischer Literatur und deren Gegnern (A. K. Woronski, L. D. Trotzki und anderen) neigt Kassäk letzteren zu. Er anerkannte keine Kunst, die im Dienst des Klassenkampfes stand, und hielt die wahre künstlerische Schöpfung zugleich für ein Produkt, das „jenseits der Klassen" angesiedelt ist. Damit begriff er auch nicht die Spezifik der länger anhaltenden „Übergangsepoche". 4 Diese abweisende Kritik gilt der sozialdemokratisch geprägten Literatur zum Anfang des Jahrhunderts. 5 Offenbar argumentiert hier Kassàk mit einem elitären Künstler-Aristokratismus, in Wirklichkeit war der Kassäk-Kreis sehr wohl auf Massenwirksamkeit aus. Dies zeigte sich insbesondere nach Kassäks Rückkehr nach Ungarn und zwar seit der Gründung der Zeitschrift Munka im Jahre 1928, die zugleich eines der Zentren der Arbeiterbildung wurde. Text 26 : A forradalmi irodalom fejlódésének ütja Magyarorszägon és az emigràcióban. In: Sarló és Kalapäcs Évkonyv (Wien) 1926, S. 6 0 - 6 5 . 1 Der Verband der Ungarischen Revolutionären Schriftsteller und Künstler wurde Anfang 1926 von den in die verschiedensten Länder emigrierten linken ungarischen Schriftstellern gegründet. An seinem Zustandekommen hatte die Ende 1925 ins Leben gerufene Moskauer ungarische Gruppe der RAPP (Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller) wesentlichen Anteil. An dessen Vorbereitung war auch die nach Berlin umgesiedelte figjtfég-Gruppe unter der Führung Aladär Komjäts aktiv beteiligt, der zu dieser Zeit auch der Kritiker Andor Réz angehörte. 2 Die Ausführungen Andor Réz' stellen bei aller Widersprüchlichkeit und sektiererischen Enge doch den Versuch einer perspektivisch weiteren Traditionsinterpretation dar. 3 Als früher Theoretiker der ungarischen proletarischen Literatur nahm Réz noch nicht im plebejisch-revolutionären Demokratismus Endre Adys wahr, daß es sich hier um den unmittelbaren und einen der besten Vorboten der ungarischen sozialistischen Literatur handelte. 4 Kassäks Zeitschrift stellte ihr Erscheinen 1925 in Wien ein. Ihr Vorläufer war die Zeitschrift A Tett (1915-1916), ihre Nachfolger wurden die in Budapest erscheinenden Dokumentum (1926-1927) und Munka (1928-1939)5 Der Verfasser verweist auf die Konfrontation zwischen Béla Kun und Lajos Kassàk. Vgl. Text 21. 6 Dezsö Szabó, der mit seinen Werken, insbesondere mit dem im Mai 1919

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veröffentlichten Roman Az elsodort falu (Das fortgeschwemmte Dorf), eine äußerst breite Wirkung erzielte, schloß sich einerseits der sich später entfaltenden „VolkstümIer"-Bewegung an, bekannte sich zugleich aber zu einer rassistisch geprägten sozialen Demagogie des konterrevolutionären Regimes. Sein romantischer Antikapitalismus und Nationalismus mündeten bei ihm gegen Ende der 20er Jahre in eine Gegnerschaft zu nazistischen Bestrebungen ein. 7 Unter dem Titel Arbeiterbewegung und Kunst veröffentlichte Lajos Kassäk in der Népszava vom 19. Juli bis 23. August 1925 eine sechsteilige Artikelserie, deren dritter Teil Text 25 wiedergibt. Den Ausführungen Kassäks schloß sich eine langanhaltende Debatte an, an der sich weitere sieben Schriftsteller und Kritiker der Sozialdemokratischen Partei beteiligten. Die Mehrzahl von ihnen stellte sich vor die von Kassäk als überholt qualifizierte Literatur, die sozial wirkungslos war und sich der traditionellen Formensprache bediente. Nur wenige griffen die aktivistischen Ansichten Kassäks an. Die Debatte endete mit einem Schlußwort Lajos Kassäks, das am 11. Oktober in der Népszava erschien. 8 Im Jahre 1926 kehrte Kassäk aus der Wiener Emigration nach Ungarn zurück. 9 Im Verlaufe der unblutigen bürgerlichen Revolution im Oktober 1918 ging die Macht in die Hände der bürgerlichen Demokraten über, die mit der Sozialdemokratischen Partei verbündet waren. Innerhalb dieses für bürgerliche Revolutionen charakteristischen Rahmens begann man die feudalen Überreste zu beseitigen. Für die Durchführung der Bodenreform gab der Ministerpräsident (spätere Präsident der Republik) Mihäly Kärolyi auf seinem eigenen Grundbesitz ein Beispiel. Trotz des bürgerlichen Charakters der Revolution bildeten deren Massenbasis die Arbeiterschaft und die mit ihr verbündeten Schichten. Die Revolution schuf Volksorgane, Arbeiter- und Soldatenräte, die den Keim für die proletarische Revolution in sich bargen. 10 Die Kommunistische Partei Ungarns wurde am 24. November 1918 in Budapest gegründet; Mitglieder des ersten Zentralkomitees waren unter anderem Béla Kun, Làszló Rudas, Otto Korvin, und auch György Lukäcs schloß sich der Partei an. Zur Partei stießen überdies nach Ungarn zurückgekehrte kommunistische Kriegsgefangene, Vertreter des linken Flügels der Sozialdemokratie sowie die Gruppe der antimilitaristischen „revolutionären Sozialisten". 11 Vgl. Text 11, Anmerkung 1. 12 Mit diesen Ausführungen polemisiert Andor Réz gegen die Kassäksche Kunstauffassung. 13 Die Zeitschrift Egység erschien von 1922 bis 1924, zuerst in Wien, später 1924 in Berlin; die Zeitschrift Ék wurde in Wien herausgegeben. 14 Vgl. Text 26, Anmerkung 1.

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Text 27: Az irodalom szerepe es ütja a proletärforradalomban. In: Sarlö es Kalapäcs ßvkönyv (Wien) 1926, S. 103-112. 1 Mit der Frage nach dem Verhältnis von Ethik und revolutionärer Haltung beschäftigten sich in der Zeit von 1917 bis 1919 Kassäk und sein Kreis, György Lukäcs und andere. Erstere betrachteten die innere, seelische Revolution des Menschen, den „in seiner Ideologie revolutionierten Menschen" als Voraussetzung der gesellschaftlichen Revolution. Ervin Sinkö unternahm zu derselben Zeit den Versuch einer Aussöhnung zwischen dem Kommunismus und einer Art christlich-tolstojanischer Ethik. Lukäcs wurde nach seinem Beitritt zur Kommunistischen Partei als Leiter der Gruppe „Ethik" der Partei betrachtet. In der Kulturpolitik der Räterepublik verkündeten Lukäcs und sein Kreis, daß die klassische Kunst „hochwertiger" sei. 2 Bei einzelnen Vertretern der Arbeiterbewegung war von Zeit zu Zeit eine Geringschätzung der Rolle von Kultur und Kunst zu bemerken. Die Kunst lediglich als Mittel im Interesse des Klassenkampfes zu propagieren, kam im wesentlichen einem Kulturnihilismus gleich. 3 A proletärirök Oktjabr-csoportjänak ideolögiai es müveszeti platformja (Die ideologische und künstlerische Plattform der Oktjabr-Gruppe der proletarischen Schriftsteller). In: Na postu (Moskau), Juni 1923, Nr. 1, S. 194-195. 4 Eine wichtige Rolle spielten bei der Entwicklung der Literatur- und Kunsttheorie Jänos Mäczas in den 20er Jahren die Lehren des sowjetischen Ästhetikers W. M. Fritsche (1870-1929), eines Vertreters der sogenannten „Soziologischen Schule". Fritsche war ein Schüler G. W. Plechanows, sein Hauptwerk erschien 1926 unter dem Titel: Sociologija izkustwa (Kunstsoziologie). 5 Das erste klassizistische Werk des französischen Malers Jacques Louis David (1748-1825) entstand 1784 unter dem Titel: Le serment des Horaces (Der Schwur der Horatianer). Zur Zeit der großen französischen Revolution war er Mitglied des Konvents; unter den Künstlern seiner Zeit brachte er das Pathos der Revolution am vollkommensten zum Ausdruck. Seine Kunst wurde später akademisch starr, seine Kunstschule beeinflußte ein halbes Jahrhundert Kunstentwicklung. 6 Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) war Ökonom, kleinbürgerlicher Sozialist und einer der Repräsentanten des Anarchismus in Frankreich. Marx kritisierte in Das Elend der Philosophie Proudhons Arbeit Die Philosophie des Elends, in der dieser den Kampf der Arbeiterklasse um die Macht ablehnte. Die Marxsche Kritik erfolgte auf Grund des Eklektizismus, der sich in den wissenschaftlichen und künstlerischen Ansichten Proudhons offenbarte, insbesondere wegen dessen charakteristischer Widersprüche des „einerseits-andererseits". Vgl. Marx' Brief an J. B. Schweitzer vom 24. Januar 1865. In: MEW, Bd. 16, S. 31. - Zu dieser Frage vgl. auch: Georg Lukäcs: Marxismus oder Proudhonismus in der Literaturgeschichte? Manuskript im Lukäcs-Archiv in

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Budapest, LAK-21-153 sowie: Marxisme on proudhonisme en histoire littéraire? In: Georges Lukâcs: Écrits de Moscou. Trad. et introd. de Claude Prévost. Paris 1974, S. 195-265. Text 28: Egy megérkezett nerazedék. In: Uj Föld (Budapest), 1 (1927) 1, S. 2. 1 Die Zeitschrift Nyugat (1908-1941) brachte die Entwicklung der modernen bürgerlichen ungarischen Literatur entscheidend voran. 2 Aus Zensurgründen spricht der Verfasser über die in die Emigration gezwungenen Vertreter der linken Literatur nur in Andeutungen. 3 Anspielung auf die sozialistische Gesellschaft der Sowjetunion. 4 Gemeint sind die Vertreter einer niveaulosen konservativ-positivistischen Literaturanschauung, wie sie sich im konterrevolutionären Ungarn der 20er Jahre mit ihren führenden Repräsentanteft Jenô Pintér und Elemér Csâszâr herausgebildet hatte. 5 Hinweis auf den Film Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein aus dem Jahre 1925, der sich bei dem zeitgenössischen Zuschauerpublikum größter Popularität erfreute und die linke europäische Filmkunst beträchtlich beeinflußte. 6 Der Autor Gyula Illyés nahm auch selbst während seiner Emigration in Frankreich Anfang der 20er Jahre an der Arbeit des Pariser ungarischen Proletkult teil. 7 Richtig ist, daß die Zeitschriften Akasztott Ember (1922-1923) und die ihr folgende Ék' (1923-1924) von Sändor Barta herausgegeben worden waren und letztere mit der von Aladâr Komjât redigierten Zeitschrift Egység verschmolz. 8 Der hl. Ignac von Loyola (1491-1556) war der Gründer des Jesuitenordens, dessen Aufgabe darin bestand, im Interesse der Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse der katholischen Kirche im Kampf gegen die Reformation mit allen Mitteln zu wirkeq. - Die hl. Theresia von Jesus (1515-1582) war Nonne und Schriftstellerin. Sie reformierte den weiblichen Karmeliter-Orden, führte strengere Regeln ein und gründete Frauen- und Männerklöster. Ihre Schriften zählen zu den bedeutenden Werken der mystischen Theologie. 9 Auch Illyés schrieb nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik avantgardistische (surrealistische) Gedichte, doch Ende der 20er Jahre wurde seine Sprache abgeklärter. 1928 veröffentlichte er in Ungarn seinen Gedichtband Nebéz föld (Schwerer Boden), ein Meisterwerk des lyrischen Realismus. Text 29: Proletârmûvészet vagy szocialista mûvészet? In: Munka (Budapest), 1 (1928) 2, S. 32-33. 1 Unter den Antworten, die auf die große Rundfrage der Monde (Paris) vom 4. August 1928 Littérature prolétariennei (Gibt es eine proletarische Literatur?) eingingen, ist das Schreiben Kassàks nicht auffindbar. Die Redaktion veröffentlichte von den eingegangenen Antworten vom 8. September 1928 bis

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5. Januar 1929 u. a. die von Maurice Dekobra, Henri Poulaille, Upton Sinclair, Tristan Remy, Henri Barbusse, Victor Serge, Theodore Dreiser, Sherwood Anderson, Michael Gold und Kurt Kersten. Das Material wurde 2ugleich in der in Berlin erscheinenden Die neue Bücherschau veröffentlicht. 2 Der Florentiner Bildhauer, Maler und Architekt Giotto di Bondone (?1266 bis 1337) setzte den erstarrten byzantinischen Traditionen die Kunst des Trecento entgegen. E r schuf einen neuen Stil, strebte nach einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung von Mensch und Natur. 3 A. Bogdanow und A. Lunatscharski waren die Führer der im Jahre 1909 auf der Insel Capri weilenden otsowistischen beziehungsweise wperjodistischen Gruppe, die hier eine Schule unterhielt und unter anderem die Theorie der „proletarischen Kultur" entwickelte. Bogdanow wurde zu dieser Zeit aus der Partei der Bolschewiki ausgeschlossen. Aus einem an Gorki gerichteten Brief Lenins (aus der zweiten Februarhälfte des Jahres 1913) wissen wir, daß Lenin mehrere seiner alten Genossen, unter ihnen auch Lunatscharski und Gorki, aus der Wperjod-Gruppe herauszulösen suchte. Bogdanow blieb bei seinen revisionistischen Ansichten. Gorki entfernte sich von dieser Gruppe, Lunatscharski stellte sich indessen zur Zeit des ersten Weltkrieges bereits auf einen internationalistischen Standpunkt. Was seine ästhetischen Anschauungen betraf, so wurde Lunatscharski ein Anhänger des Realismus und unterstützte während der Oktoberrevolution ohne jeden Vorbehalt die Leninsche Führung der Partei der Bolschewiki. Über die Rolle des Proletkult nach der Oktoberrevolution vgl. Text 23, Anmerkung 1. 4 Kassäk bezieht sich hier auf Trotzkis 1923 erschienenes Werk Literatur und Revolution, (das ursprünglich in Fortsetzungen in der Prawda veröffentlicht worden war); in seiner Kunstanschauung folgt Kassäk in vielem den Ansichten Trotzkis. 1916 unterstützte Gorki die Herausgabe einer Anthologie der Arbeiterkorrespondenten und proletarischen Schriftsteller, die sich um die Prawda gesammelt hatten. Anfang der 20er Jahre hielt sich Gorki aus gesundheitlichen Gründen in Italien auf. Zu dieser Zeit und sogar nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion griffen ihn die proletarischen Schriftsteller eine Zeitlang scharf an, da er sich mit ihren Ansichten nicht zu identifizieren vermochte. Auf Grund seines in der Istwestija am 25. Juli 1929 publizierten Artikels Die Arbeiterklasse muß sich die Meister ihrer eigenen Kultur heranbilden war Gorki seitens der sibirischen proletarischen Schriftsteller solch groben Angriffen ausgesetzt, daß sich das Zentralkomitee der Partei genötigt sah, ihn in einem gesonderten Beschluß in Schutz zu nehmen. Vgl. dazu: M. Gorki: Literaturno-kriticeskie statji (Literaturkritische Artikel). Moskau 1937 (Anmerkungsteil). - In seinem Referat auf dem Ersten Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller am 17. August 1934 stellte Gorki u. a. fest: „Der Staat der Proletarier muß Tausende von hervorragenden 'Meistern der Kultur', 'Ingenieuren der Seelen' erziehen." In: Maxim Gorki: Über Literatur, Berlin und Weimar 1968, S. 406. 413

Text 30: Kassäk Lajos 35 verse. In: Korunk (Cluj), 6 (1931) 9, S. 668-670. Neuerdings in: Attila József: összes Müvei (Sämtliche Werke). Budapest 1958, Bd. 3, S. 110-114. 1 Vgl. Kassâk Lajos: 35 vers (35 Gedichte). Budapest 1931. Der Band enthält von der Ziffer 66 bis 100 numerierte Gedichte, als letztes die Dichtung über Ernö Osvät unter dem Titel Emlékezzetek! (Gedenkt seinerI). 2 Zitat aus dem Gedicht Nr. 70. 3 Zitat aus dem 12. Gedicht, das in dem 1921 in Wien unter dem Titel Vilaganyâm (Meine Weltmutter) erschienenen Band enthalten ist. 4 Zitat aus dem Gedicht Nr. 74. 5 Ebenda. 6 Die Zitate stammen aus den Gedichten Nr. 83, 88, 93, 95. 7 Hier zitiert Attila József Kassâks Gedicht Gedenkt seinerI Das Gedicht ist ein letzter Gruß an Ernö Osvät. 8 Das Verhältnis zwischen dem Avantgardisten Kassäk und dem bürgerlichliberalen Osvät war von Beginn an gut. Der unnachgiebige Redakteur hielt zu Kassäk, als dieser aus der Emigration nach Ungarn zurückgekehrt war und unter ungesicherten existentiellen Verhältnissen lebte, ebenso wie in der Zeit vor 1919, als er diesen unterstützt, dessen Begabung erkannt und gefördert hatte. Die heutige marxistische Literaturwissenschaft beurteilt die hier aufgeworfenen Fragen der Kritik differenzierter als Attila József, der zur Zeit seines Eintritts in die illegale Kommunistische Partei in gewissem Maße überspitzt reagierte. 9 Aurél Stromfeld (1878-1927) gehörte als Offizier dem Generalstab der Österreichisch-Ungarischen Monarchie an und war dann Generalstabschef der Armee der Ungarischen Räterepublik, an deren militärischen Erfolgen er großen Anteil hatte. Vom konterrevolutionären Militärgericht wurde er unter der Anschuldigung der Majestätsbeleidigung und des Vaterlandsverrats verurteilt. Nach seiner Befreiung schloß er sich erneut der Arbeiterbewegung an und wurde Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei Ungarns. Text 31: Szószék-e a szinhâz vagy brettli? In: 100 % (Budapest), 2 (1928) 5, S. 135-147. - Neuerdings in: Lajos Nagy: Irò, könyv, olvasó (Schriftsteller, Buch, Leser). Budapest 1959, Bd. 1, S. 340-344. 1 Am 14. Dezember 1927 hielt Ferenc Molnär an der New Yorker ColumbiaUniversität den Vortrag Pillantâs az «/ magyar szinhâzi irodalomra (Ein Blick auf die neue ungarische Theaterliteratur), der am 16. 12. 1927 im Pesti Napló (Pester Journal) Nr. 285, S. 5-7 veröffentlicht wurde. Darauf bezieht sich Lajos Nagy. 2 Der Ausspruch stammt nicht von Alexander Dumas dem Jüngeren. Dieser zitiert lediglich den französischen Theaterkritiker François Sarcey de Sutières (1827-1899), und zwar wie folgt: „Corrigé? il ne s'agit pas de cela; le théâtre n'a jamais corrigé personne et ce n'est pas un sermai que je vais y

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chercher." Vgl. Alexandre Dumas fils: Une visite de noces. Préface. In: Alexandre Dumas fils: Théâtre complet avec préfaces inédites. Paris o. J., Bd. 5, S. 10. Vgl. Anmerkung 1. Beaumarchais vergegenwärtigt im Barbier von Sevilla (1775) und in Figaros Hochzeit (1781) alte Lustspiel-Konflikte unter einem neuen Aspekt: dem des Zusammenpralls der alten herrschenden Klasse mit dem emporstrebenden Bürgertum. Durch ihn wurde die Komödie erneuert und der revolutionäre Gedanke mit vorbereitet. Zusammen mit Hermann Schüller leitete Erwin Piscator (1893-1966) 1920/21 das „Proletarische Theater". Von 1924 bis 1927 war er Regisseur an der Volksbühne und gründete 1927 die sogenannte erste Piscatorbühne am Nollendorfplatz. Hier erfolgte auch die Aufführung von Ernst Tollers „Hoppla, wir leben". Vgl.: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Halle 1963, S. 398-402. Die um die Zeitschrift 100 % gebildete Kulturorganisation der illegalen Kommunistischen Partei beabsichtigte die Aufführung von „Hoppla, wir leben", die von der Polizei verboten wurde. Dem Kreis der 100 % gehörte zu dieser Zeit auch Lajos Nagy an.

7 Über die Psychoanalyse (mit der sich zu jener Zeit viele linke Intellektuelle beschäftigten) veröffentlichte Nagy mehrere Studien. 8 Hinweise auf Gerhart Hauptmanns Die Weber (1893) und Leonid Andrejews Anatema (1903). 9 Nagy stützt sich hier auf Freuds Ausführungen (so auf Totem und Tabu, 1911) und auf Schriften anderer Vertreter der Psychoanalyse (z. B. auf O. Rank: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage, 1912). 10 Gemeint sind Gorkis Nachtasyl (1902) und Shakespeares Hamlet (1601). 11 Wie Molnärs Lustspiel-Dreiakter Farkas (Der Wolf, 1912), der ihn im Ausland populär gemacht hatte, wurde auch dem Hattyü (Der Schwan, 1920) großer Publikumserfolg zuteil. Letzterer war eine bürgerliche Kritik an der Welt der Aristokraten. 12 Ferenc Molnärs Novelle Széntolvajok (Kohlendiebe, 1918) erregte auf Grund der realistischen Darstellung der Welt der Armen Aufsehen. Text 32: Az üj magyar lira arcvonaläröl. In: Korunk (Cluj), 3 (1928) 6, S. 476 bis 477. 1 Lajos Kassâk: Napok, a mi napjaink (Tage, unsere Tage). Budapest 1928. 2 Nach der Rückkehr Kassâks hatte sich Ende der 20er Jahre um dessen Zeitschrift Munka eine lose Gruppe gebildet, der überwiegend Dichter wie Tibor Déry, Istvân Vas, Zoltân Zelk und Jôzsef Nädass angehörten. 3 Gaäl beläßt es hier bewußt bei Andeutungen. Einerseits verweist er auf den subjektivistischen Ton der ersten Lyriker-Generation der bürgerlichen Zeitschrift Nyugat, auf der anderen Seite will er nicht das andere Extrem beim

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Namen nennen: jene künstlerisch schwache proletarische Losungs-Lyrik, vor deren Beurteilung er sich auf diese Weise zurückhält. 4 Vgl. Tibor Déry: Énekelnek és meghalnak (Sie singen und sterben). Budapest 1928. 5 Von vornherein beziehungsweise von Anfang an. 6 Tibor Déry kannte die zeitgenössische französische surrealistische Dichtung, so die Lyrik Louis Aragons, Paul Eluards. André Bretons und Tristan Tzaras, als sie sich zu entfalten begann. Text 33: Literatur der Weltrevolution (Moskau), 1 (1931) Sonderheft, S. 126 bis 129. 1 In der Zeit vom 6. bis 15. November 1930 fand in der damaligen Hauptstadt der Sowjet-Ukraine, in Charkow, die II. Konferenz der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller statt. Das einleitende Referat wurde vom Generalsekretär Béla Illés gehalten. An der Konferenz nahmen zahlreiche Mitglieder der ungarischen literarischen Emigration teil. Der Beschluß wurde auf dieser Konferenz angenommen. 2 Die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Ungarn reichen bis ans Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Die Sozialdemokratische Partei wurde 1890 gegründet. 3 Vgl. Text 11, Anmerkung 1. Das richtige Datum des Ausscheidens der Gruppe war der Zeitraum November/Dezember 1917. Das Blatt Internationale konnte erst im Januar 1919 erscheinen. 4 Der sektiererische Beschluß (vgl. Text 20) zielt hier auf die Tätigkeit György Lukäcs' als Volkskommissar der Räterepublik in Fragen der Kultur. 5 Vgl. Texte 23 und 24. Der Verband der Ungarischen Revolutionären Schriftsteller und Künstler wurde Anfang 1926 in Moskau gegründet und faßte die in die verschiedenen Länder emigrierten ungarischen Schriftsteller und Künstler zusammen. Gründungsmitglieder waren u. a. Sändor Barta, Antal Hidas, Béla Illés, Emil Madaräsz, Jänos Matheika, Béla Uitz, M i t e Zalka; Sekretär des Verbandes war Antal Hidas. 6 Die einzige Nummer des Sarló és Kalapäcs Évkonyv erschien im November 1926 in Wien. Diese Publikation des Verbandes der Ungarischen Revolutionären Schriftsteller und Künstler war das Ergebnis der Zusammenarbeit ungarischer Emigranten in Moskau, Berlin und Nordamerika. 7 Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller mit dem Generalsekretär Béla Illés, der gleichzeitig Mitglied der Leitung der RAPP war. 8 Das Postulat nach der „dialektisch-materialistischen Methode" der Literatur stellte in der zeitgenössischen proletarischen Literatur eine allgemeine Erscheinung dar. Die Ursache dafür war teils in der sektiererischen Negierung der Spezifik der Literatur, teils im damaligen Entwicklungsstadium der marxistisch-leninistischen Ästhetik zu suchen. 9 In dieser Zeit verkündete die RAPP die Losung „Stoßarbeiter in die Literatur!"; deren Wirkung spiegelt sich in diesem Punkt des Beschlusses.

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Text 34: A Magyar Proletärirodalom Plattformtervezete. In: Sarlö es Kalapäcs (Moskau), 3 (1931) 6, S. 50-56. 1 In einzelnen Zweigen der Volkswirtschaft ging man zwischen 1928-1933 in der Sowjetunion stufenweise zum 7-Stunden-Arbeitstag über. Vgl. Moskauer Rundschau, Nr. 7 v. 22. 6. 1929, S. 3. 2 Als in der Horthy-Ära die Arbeitsmöglichkeiten allgemein zurückgingen, führte man sogenannte B-Listen für die in Frage kommenden Entlassungen ein. Unter den Gründen für eine Entlassung dominierte der politische Aspekt. 3 J. W. Stalin: Über die Abweichungen in der nationalen Frage. In: J. W. Stalin: Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage. Berlin 1952, S. 350. 4 In der proletarischen Literaturbewegung war man zu dieser Zeit in mehreren Ländern um eine Bestimmung der prinzipiellen Grundlagen der proletarischen Literatur bemüht, wurden unterschiedliche Plattformentwürfe ausgearbeitet. So in der RAPP, in der russischen proletarischen Literaturorganisation und im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands, wo die ungarischen Emigranten gleichermaßen an der Erstellung der Entwürfe beteiligt waren (zum Beispiel Andor Gabor, Aladär Komjät, György Lukäcs und Andor Rez unter dem Pseudonym Birö). Unmittelbaren Anstoß zur Ausarbeitung des Plattformentwurfes der ungarischen proletarischen Literatur gab die im November 1930 von der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller veranstaltete Charkower Konferenz. In der dort vollzogenen allgemeinen politischen Lageanalyse wie in den Details traten die Anzeichen des sektiererischen Dogmatismus offen zutage: In erster Linie schlug sich dies in der undifferenzierten Behandlung bzw. Ablehnung der Bündnispartner sowie in der Ansicht nieder, das Proletariat wäre nur auf die eigenen Kräfte gestützt, in der nahen Zukunft fähig, das als Einheit betrachtete gegnerische Lager, den Faschismus zu besiegen. Diese politische Richtschnur erwies sich als falsch und wurde auf dem VII. Kongreß der Komintern im Jahre 1935 kritisiert. 5 Der Text verweist auf die Tatsache, daß sich nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik 1919 in Österreich, der Tschechoslowakei, in Deutschland, Frankreich und in den USA Werkstätten der ungarischen proletarischen Literatur herausbildeten. Das bedeutendste Emigrationszentrum entstand jedoch in der Sowjetunion. 6 W. I. Lenin: Zur Frage der Dialektik. Philosophische Hefte. In: LW, Bd. 38, S. 340. 7 Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW, Bd. 1, S. 385. 8 Dieser Begriff „Weltfreiheit" aus Petöfis berühmtem Gedicht Wie oft quält ein Gedanke mich . . . kommt in der deutschen Übersetzung „Freiheit für alle" von Annemarie Bostroem dem ungarischen Original nur bedingt nahe. Vgl. Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. Hg. Stephan Hermlin u. György Mihäly Vajda. Berlin und Weimar 1970. 27

Befunde

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9 Der revolutionäre Demokrat Mihäly Täncsics (1799-1884) setzte sich unermüdlich für die nationale Unabhängigkeit und die Befreiung der Leibeigenen sowie später für die Sache der armen Bauernschaft und des Industrieproletariats ein. Als hervorragende Gestalt der Revolution und des Freiheitskampfes von 1848/49 machte er seine Ansichten in zahlreichen Flugblättern publik und gab Blätter wie Munkäsok U¡sagja (Arbeiterzeitung) und Aranytrombita (Die goldene Trompete) heraus. Seine Memoiren erschienen unter dem Titel iUetpälyäm (Mein Lebenslauf). 10 Vgl. Text 21, Anmerkung 5. 11 Die Plattform verweist auf die Literaturpolitik des Lesermagazins der Nepszava. Vgl. Text 5, Anmerkung 1. 12 Die Tdrsadalomtudomänyi Tdrsasdg (Gesellschaft für Gesellschaftswissenschaften, 1901-1919) gelangte in ihrer Zeitschrift Huszadik Szäzad und in der auf ihre Initiative hin gegründeten Tdrsadalomtudomänyok Szabad Iskoldja (Freie Schule für Gesellschaftswissenschaften) von bürgerlich-liberalen Ideen zum bürgerlichen Radikalismus. Zu ihren sich stark nach links orientierenden Mitgliedern gehörten u. a. Ervin Szabö und Oszkär Jäszi. Von den Anhängern des Galilei-Kreises, der aus der Gesellschaft hervorging, wurden nach 1917 mehrere Kommunisten, so Otto Korvin, eines der Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei Ungarns, des weiteren Jolän Kelen, Ilona Duczynska und andere. 13 Vgl. die Texte 6 sowie 8 und Anmerkungen derselben. 14 Sändor Csizmadia: A nyafogö költeszet (Die greinende Dichtung). In: Nepszava, Nr. 23, v. 28. 1. 1909, S. 2 - 4 . 15 Lajos Kassäk leugnete als Dichter der ungarischen Avantgarde, daß die Kunst klassengebunden sei, und bekannte sich zur Idee des „universellen Menschen". 16 Die Kassäksche Avantgarde wies den zeitgenössischen traditionellen postimpressionistischen Stil der Dichtung zurück und übte sich in der aktivistischavantgardistischen „Revolutionierung" der dichterischen Sprache. 17 Vgl. Text 11 nebst Anmerkungen. 18 In der Zeit der Ungarischen Räterepublik teilte die Gewerkschaftsorganisation zur Verbesserung der materiellen Lage der Schriftsteller diese auf Grund ihrer bisherigen Arbeit in verschiedene Kategorien ein. In diesem Zusammenhang beschwerten sich linke Schriftsteller-Kreise, daß führende Persönlichkeiten der früheren bürgerlichen Literatur zum großen Teil der ersten Kategorie zugeordnet worden waren. 19 Eine ungenaue Zitierung aus György Lukäcs' Artikel Zur Klarstellung (Vgl. Text 20). Bei Lukäcs ist die Rede von einer „politischen Bombe in literarischer Verpackung". 20 Vgl. Text 21, Anmerkung 2. 21 Diese Formulierung ist charakteristisch für die zu jener Zeit in der Praxis der proletarischen Schriftsteller um sich greifenden rauhen Töne und Anschuldigungen. Trotz aller ideologischen Schwankungen wurde Kassäk nie zum Kon-

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terrevolutionär und nach Ungarn kehrte er auch erst in der Phase der Konsolidierung zurück. 22 Sändor Latinka ( 1 8 8 6 - 1 9 1 9 ) , Kämpfer und Märtyrer der ungarischen Arbeiterbewegung. Im Februar des Jahres 1919 ließ der Arbeiterrat des Komitats Somogy auf seine Initiative hin den 44 000 Morgen umfassenden G r u n d besitz der Herzog-Familie Esterhàzy enteignen und darauf die ersten Produktionsgenossenschaften gründen. Nach dem Sturz der Diktatur des Proletariats wurde Sändor Latinka von den Konterrevolutionären ermordet. Ihm zum Gedenken schrieb Jenö Hamburger die Latinka-Ballade. 23 Béla Illés' Novellenband Ruszin Petra temetése (Die Beerdigung des Petra Ruszin) erschien 1921 in Bratislava. 24 Vgl. Text 26 nebst Anmerkungen. 25 Nach seiner Tätigkeit innerhalb der Arbeiterbewegung in Ungarn und der Tschechoslowakei ging Hidas 1925 in die Sowjetunion. 26 Diese beiden Tendenzen gab es in der ungarischen Emigrationsliteratur in der Sowjetunion von Anfang an. Zur einen gehörten jene, die konsequent die Linie der russischen proletarischen Schriftsteller (RAPP) vertraten und den W e r t des Kunstwerks ausschließlich in dessen agitativer Funktion sahen. D i e Mitglieder der anderen - weniger tonangebenden - G r u p p e legten den Akzent auch auf das Künstlerische der Literatur. 27 Béla Illés war Generalsekretär der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller, Antal Hidas einer der Redakteure der Zeitschrift Literaund Màté Zalka bekleidete in der Literaturorganitur der Weltrevolution sation der Roten Armee eine verantwortungsvolle Funktion. 28 D e r Entwurf bezieht sich auf das in Budapest legal erscheinende Blatt 100 % der illegalen kommunistischen Partei, das von A l a d ä r Tamäs herausgegeben wurde. Diese Zeitschrift war das Zentrum einer breiten kulturellen Massenbewegung, aus der viele K a d e r der kommunistischen Bewegung hervorgingen. Mit der Verhaftung des Redakteurs stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Unmittelbar auslösendes Moment d a f ü r war, d a ß Tamas auf Anraten der in der Emigration wirkenden Parteiführung zu einer „Politik mit offenem Visier" übergegangen war. 29 Ein Mißverständnis, da die besagten ungarischsprachigen Bände in der Ausgabe von Barbusses Zeitschrift Monde erschienen, doch die reaktioneile Arbeit in der Redaktion des in Paris erscheinenden ungarischsprachigen kommunistischen Blattes Szikra ( 1 9 3 0 - 1 9 3 1 ) erfolgte. In dieser durch die Pariser Monde herausgegebenen ungarischen Buchreihe erschienen auch Ernst Glaesers Jahrgang 1902 sowie Jaroslav Haseks Der brave Soldat Scbwejk. Wie bekannt, wurde mit Barbusses Monde von Seiten der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller eine scharfe Debatte geführt. (Vgl. dazu A n d o r Gabors Artikel in der Zeitschrift Die Linkskurve, Bruno Jasienskis Beitrag auf der Chrakower Konferenz sowie seine in den folgenden Jahren in der Zeitschrift Literatura mirowoj revolucij (Literatur der Weltrevolution/ russischsprachige Ausgabe) veröffentlichten Artikel. 27*

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30 Der Roman stammt von Alexander Tarassow-Rodionow (1885-1938), einem der Redakteure der Zeitschrift Oktjabr, und galt als bedeutendes Werk der zeitgenössischen sowjetischen Literatur. 31 Zu den falschen politisch-ideologischen Definitionen dieser Zeit gehörte der Terminus „Sozialfaschismus", mit dem man undifferenziert die sozialdemokratische Arbeiterbewegung belegte. Kassäk selbst stand im übrigen in scharfer Opposition zur Sozialdemokratie. 32 Diese gegen Attila Jözsef, den hervorragenden kommunistischen ungarischen Dichter, vorgebrachte Anschuldigung beleuchtet grell den sektiererischen Dogmatismus und die extremen Entstellungen durch die sogenannte proletarische Literaturanschauung der RAPP. Die in der Tschechoslowakei erscheinende ungarischsprachige kommunistische Zeitschrift Az Ut begann den Plattformentwurf (in Abwesenheit ihres Chefredakteurs Zoltan Fäbry) zu publizieren, brach diese Veröffentlichung jedoch ab. In einem an den Redakteur gerichteten Brief wies Attila Jözsef die absurden Anschuldigungen zurück. Die der Veröffentlichung des Plattormentwurfes in der Zeitschrift Sarlö es Kalapdcs folgende Debatte korrigierte zum Teil die falschen und irrigen Ideen. Text 35: Die Linkskurve 4 (1932) 6, S. 13-21. 1 Karl Marx: Das Kapital. - Kritik der politischen Ökonomie. 3. Bd. I. Teil, Buch III. Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Hg. v. F. Engels. 4. Aufl. Hamburg 1919, S. 215. - Neuerdings in: MEW, Bd. 25, S. 244. 2 Karl Marx: Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion. In: MEW, Bd. 1, S. 14. 3 Vgl. Friedrich Engels: Ernst Moritz Arndt. Kritik aus dem Telegraph. In: MEW, Ergänzungsband 2, S. 118-131. 4 Georg Herwegh: Die Partei (An Ferdinand Freiligrath). In: Georg Herwegh: Werke. Hg. v. H. Tardel. Berlin o. J „ 1. Teil S. 122. 5 Ferdinand Freiligrath: Aus Spanien (Nov. 1841). In: F. Freiligrath: Werke, Berlin - Leipzig o. J., Bd. 4, S. 11. 6 Franz Mehring: Zur Literaturgeschichte von Hebbel bis Gorki, In: F. Mehring: Gesammelte Schriften und Aufsätze. Berlin 1929, Bd. 2, S. 264. 7 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. § 39. In: G. W. F. Hegel: Sämtliche Werke, Leipzig 1949, Bd. 5, S. 334. 8 Wilhelm Teil. In: Franz Mehring: Gesammelte Schriften. Berlin 1961, Bd. 10, S. 261. (Lukäcs' Mehring-Zitat ist ungenau, da Mehring nicht von „unkünstlerischer Tendenz" spricht, sondern den Terminus „unkünstlerische Weise", benutzt.) 9 Ebenda, S. 321. 10 Franz Mehring: Gesammelte Schriften und Aufsätze. Berlin 1929, Bd. 2, S. 263. 11 Leo Trotzki: Literatur und Revolution. Wien 1924, S. 119-120. 12 Ebenda, S. 150.

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13 Ebenda. 14 Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: M E W , Bd. 17, S. 343. 15 W. I. Lenin: Über den historischen Materialismus. Wien - Berlin 1931, Kleine Lenin-Bibliothek, Bd. 6, S. 74. - Neuerdings: W. I. Lenin: Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve. In: LW, Bd. 1, S. 414. 16 Friedrich Engels: Brief an Mehring vom 14. Juli 1893. In: MEW, Bd. 39, S. 97. 17 Franz Mehring: Gesammelte Schriften und Aufsätze. Berlin 1929, Bd. 2, S. 107. 18 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848). In: MEW, Bd. 4, S. 474. 19 W. I. Lenin: Über die Losung der „Entwaffnung". In: LW, Bd. 23, S. 91 bis 101. Text 36: Internationale Literatur (Moskau), 2 (1932) 4 - 5 , S. 129-135. 1 Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (die von 1927 bis zur Charkower Konferenz unter der Bezeichnung Internationales Büro für Revolutionäre Literatur existierte). Die Organisation bestand von 1930 bis 1935. Vgl.: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Halle 1963, S. 257-261. 2 Am 15. November 1927 nahmen an der Konferenz Schriftsteller aus siebzehn Ländern teil. Das Eröffnungsreferat hielt Anatoli Lunatscharski unter dem Titel Entwicklungsabschnitte der Sowjetliteratur. Béla Illés sprach über die sich entfaltende kommunistische Presse in den kapitalistischen Ländern. 3 Um welchen Ratgeber es sich dabei handelte, konnte nicht ermittelt werden. 4 L. G. Lelewitsch und S. A. Rodow hatten Mitte der 20er Jahre die organisatorische Hegemonie der proletarischen Literatur gefordert und waren damit in Gegensatz zur kulturpolitischen Linie der Bolschewiki geraten, die in ihrem Beschluß zur Literatur aus dem Jahre 1925 demgegenüber auf die Bedeutung literarischer Werke orientiert hatte. 5 I. M. Bespalow (1900—1941) war ein Schüler Perewersews, zwischen 1929 und 1931 als stellvertretender Redakteur der Pecat i revoljucija sowie als Redakteur der Krasnaja now tätig. 1930 gehörte er innerhalb der RAPP der linken Opposition, der sogenannten Litfront-Gruppierung, an. 6 Das literarische Wochenblatt Citateli i pisatelj (Leser und Schriftsteller) erschien vom 1. Dezember 1927 bis Ende 1928 und war der Rechtsvorgänger der Literaturnaja gazeta. Das Blatt veröffentlichte unter der Leitung von S. Wassiltschenko Informationen über Bücher, die beim Staatsverlag erschienen, und enthielt literarische Artikel allgemeinen Charakters. 7 Vgl. Andor Gabor: Die bunte Welt des Genossen Barbusse. In: Die Linkskurve 1 (1929) 5, S. 5 - 6 . ; - Henry Barbusse an die Linkskurve [Andor Gabors Erwiderung], In: Die Linkskurve 2 (1930) 2, S. 5 - 8 . 8 Diese Ansichten wurden vor allem durch Andor Gabor vertreten. 9 Auf Grund der „linken" Abweichungen wurde Andor Gabor von der Re-

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daktion der Zeitschrift Die Linkskurve suspendiert, konnte er nicht an der Charkower Konferenz teilnehmen. Im Zusammenhang mit der gegen die Monde gerichteten kritischen Stellungnahme vgl. Text 34, Anmerkung 29. 10 Antileninistische Richtung innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung. Gemäß der Theorie L. D. Trotzkis (1879-1940) von der permanenten Revolution wurde die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Land geleugnet, stellte man sich unter anderem der Politik der sozialistischen Industrialisierung entgegen. Wegen seiner parteifeindlichen Tätigkeit wurde Trotzki 1927 aus der Partei ausgeschlossen und später im Jahre 1929 des Landes verwiesen. 11 Zur Litfront (literaturnij Front) gehörten jene sowjetischen Schriftsteller, die innerhalb der RAPP zur Wende 1929/30 eine linke Opposition gebildet und zum großen Teil der alten Oktjabr-Gruppe, vereinzelt der Lef den Rücken zugekehrt hatten. In ihren Ansichten folgten sie den Lehren Perewersews, lehnten den „psychologischen" Roman und die Toleranz gegenüber dem bürgerlichen Erbe ab und forderten eine unmittelbar wirkende Literatur. Der Moskauer Universitäts-Dozent W. F. Perewersew löste mit seinem Werk Literaturovedenie (Literaturwissenschaft, 1928), das vulgärsoziologische Züge trägt, unter den proletarischen Schriftstellern heftige Diskussionen aus. 12 Die Antworten erschienen in der Zeitschrift Westnik inostrannoi literatury, dem Organ der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller. Vgl. dazu: Aktionen - Bekenntnisse - Perspektiven. Hg. von d. Deutschen Akad. d. Künste zu Berlin. Berlin und Weimar 1966. 13 Vgl. Andor Gabor: Uber proletarisch-revolutionäre Literatur. In: Die Linkskurve 1 (1929) 3, S. 3 - 6 . 14 Der französisch schreibende Schriftsteller rumänischer Herkunft, Panait Istrati, machte 1927 und 1928 eine Rundreise durch die Sowjetunion und äußerte sich begeistert über das dort Gesehene. Über diese Reise berichtete er jedoch im Jahre 1929 in einem Ton der Entäuschung. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien suchte er 1930 Verbindung zur rechten rumänischen Bewegung. 15 ^n der II. Internationalen Konferenz proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nahmen annähernd einhundert Schriftstellerdelegierte aus 22 Ländern Europas, Asiens, Afrikas und Amerikas teil. 16 Das Konferenzmaterial wurde veröffentlicht in: Literatur der Weltrevolution (Moskau), 1 (1931) Sonderheft. 17 Vsesojuznoe objedinenije Associacij Proletarskich Pisatelej (Allrussische Assoziation Proletarischer Schriftsteller). 18 Vgl. Anmerkung 11 dieses Textes. 19 Vgl. Anmerkung 7 dieses Textes. Der Verfasser berührt hier die Frage des Plattformentwurfs von Aladar Komjät und Käroly Birö (d. i. Andor RezRosinger). Dieser Entwurf wurde innerhalb des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands am 9. Oktober 1931 von einer linken oppositionellen Gruppe - die hauptsächlich aus ungarischen Emigranten bestand - ausgearbeitet und hatte sich die Hegemonie der proletarischen Schrift-

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steller innerhalb des Bundes zum Ziel gesetzt. Dieser Entwurf wurde jedoch abgelehnt und Johannes R. Becher, Andor Gabor, György Lukäcs sowie K. A. Wittfogel mit der Ausarbeitung eines neuen Programmentwurfes beauftragt. Ausführlicher dazu in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland, Berlin 1967 2 . S. 394-395 und S. 782-784 sowie Edgar Weiß: Johannes R. Becher und die sowjetische Literaturentwicklung von 1917 bis 1933. Berlin 1979. Mit dem Beschluß vom 23. April 1932 wurden die proletarischen Schriftsteller- und Künstlerverbände aufgelöst. Vgl.: Uber die Umgestaltung der Organisationen für Literatur und Kunst - Beschluß des ZK der KPdSU (B) vom 23. April 1932. In: Internationale Literatur 2 (1932) 2, S. 2. - Es begann eine Reihe von Beratungen, die die Einberufung des Ersten Kongresses der Sowjetschriftsteller im Jahre 1934 mit vorbereiteten. Hier waren alle jene sowjetischen Schriftsteller vereinigt, die den Aufbau des Sozialismus unterstützten. Vgl. Text 37. An der Organisation des am 27. und 28. August veranstalteten Amsterdamer Antikriegskongresses waren unter anderem R. Rolland, H. Barbusse, M. Gorki, H. Mann, Th. Dreiser, B. Brecht, A. Seghers und M. A. Nexö beteiligt. Vgl. W. I. Lenin: Kommunismus. In: LW, Bd. 31, S. 154. Die Zeitschrift Internationale Literatur erschien in deutscher, russischer, englischer und französischer Sprache. Nach der Auflösung der RAPP und der Gründung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes verlor die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller immer mehr an Bedeutung und hörte praktisch als Organisation im Jahre 1935 auf zu bestehen. Ihre Rolle wurde von den Kongressen zur Verteidigung der Kultur (Paris 1935 und Madrid 1937) übernommen.

Text 37: Mire tanit bennünket a szovjetirok plenuma. In: Sarlö es Kalapäcs (Moskau), 5 (1933) 2, S. 33-37. 1 Das erste Plenum des Organisationskomitees des Sowjetischen Schriftstellerverbandes tagte vom 29. Oktober bis 3. November 1932. Seine Aufgabe bestand nach Auflösung der proletarischen Schriftsteller-Organisationen in der Vorbereitung des I. Kongresses der Sowjetschriftsteller. Es sollte zur Herausbildung jener Prinzipien beitragen, auf deren Grundlage die verschiedenen Strömungen der Sowjetliteratur in einer einheitlichen Organisation zusammengeführt werden konnten. Die Arbeit des Plenums, das noch des öfteren tagte, wurde von I. Gronski, dem stellvertretenden Chefredakteur der Istwestija geleitet. Vgl. dazu: Hugo Huppert: Ergebnisse und Perspektiven der Literaturbewegung in der UdSSR. Zum I. Plenum der Sowjetschriftsteller. In: Internationale Literatur 3 (1933) 1, S. 97-109, Neuerdings: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Berlin 1967 2 . S. 491-513. 2 Der bedeutende sowjetische Literaturkritiker und Schriftsteller A. K. Woronski (1884-1943) rief gemeinsam mit Lenin und Gorki im Jahre 1921

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die Zeitschrift Kiasnaja now ins Leben. (Vgl. dazu: Ocerki istorii russkoi sowetskoi zurnalistiki. [Studien der historischen russisch sowjetischen Journalistik]. Moskau 1966, S. 207.) Später schloß er sich der trotzkistischen Opposition an, wurde 1928 aus der KPdSU(B) ausgeschlossen, doch danach wieder aufgenommen. Vgl. Text 36, Anmerkung 20. Die RAPP (Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller) wurde 1925 gegründet. Sie kämpfte für die Hegemonie der proletarischen Literatur, betrachtete sich zu Beginn der 30er Jahre als Repräsentant der Kulturpolitik der KPdSU (B) und führte auf Grund ihrer traditionsfeindlichen und den Bündnispartnern gegenüber abweisenden kulturpolitischen Linie zu schweren Konflikten. Durch den Beschluß der KPdSU(B) vom 23. April 1932 wurde sie aufgelöst. Auch nach dem Beschluß vom 23. April sucht dieser Artikel die schädliche Linie der RAPP zu rechtfertigen. Die Massenbewegung, die Stoßarbeiter der Betriebe zu Schriftstellern zu erziehen, hatte versagt, und nur einige der bedeutendsten Schriftsteller waren aus den Organisationen der RAPP hervorgegangen. Offenkundig waren die ungarischen Schriftsteller, die sich in der Emigration organisatorisch der RAPP angeschlossen hatten, bis zum Kern des Beschlusses der KPdSU(B), dem Prinzip der Volksfrontpolitik, noch nicht vorgestoßen, ergingen sie sich statt dessen im wesentlichen in der Wiederholung alter Losungen. Der zweite Kongreß der Kommunistischen Partei Ungarns fand 1930 in Aprelka bei Moskau statt. Auf ihm wurde eine zu dieser Zeit irreale Zielsetzung, die unmittelbare Errichtung der zweiten Ungarischen Räterepublik, proklamiert. Vgl. dazu ausführlicher: A magyar forradalmi munkäsmozgalom törtenete (Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung). Budapest 1972, S. 275-277. Diese Ausführungen sind ungerechtfertigt und erinnern an die Zeit der RAPP. Vgl. Text 26, Anmerkung 6. Als „Kursus" wurde in der Presse das konterrevolutionäre Regime Horthys bezeichnet. Der Schriftsteller und Redakteur Lajos Zilahy (1861-1974) schuf eine Reihe erfolgreicher Werke {Haldlos tavasz [Tödlicher Frühling], 1922; Ket f o g o l y [Zwei Gefangene], 1927 usw.), die vor allem den Geschmack der Mittelklasse befriedigten. Zwiespältigkeit charakterisierte auch seine gesellschaftliche Tätigkeit: 1935 näherte er sich der Gruppierung „Uj Szellemi Front" (Neue Geistige Front), insbesondere jenen „Volkstümler'-Schriftstellern an, die die soziale Demagogie der Gömbös-Regierung unterstützten (vgl. Text 49, Anmerkung 12), andererseits erklärte er sich mit der revoltierenden Intelligenz solidarisch. 1948 ging er in die USA, wo er auf Grund seiner demokratischen Haltung ständige Zielscheibe rechter Emigranten war. Jözsef Erdelyi (1896-1978) begann Anfang der 20er Jahre seine Laufbahn als Dichter und erneuerte die Traditionen der Volksdichtung. Seine Ge-

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dichte künden von Beginn an von Unterdrückung und bitterer Not der armen Bauernschaft. Durch sie wurde Erdelyi zum Vorboten der Bewegung der „Volkstümler"-Schriftsteller. In den 30er Jahren kam er mit seiner Empörung in rechtes Fahrwasser, erregte er mit seinen antisemitischen Gedichten Aufsehen, für die er nach 1945 vom Volksgericht zur Verantwortung gezogen wurde. Bela Zsolt (1895-1949) schrieb in der bürgerlich-radikalen Vildg (Welt), später in der liberalen Ujsdg (Zeitung) politische Artikel und war Chefredakteur des radikalen bürgerlichen Wochenblattes A Toll (Die Feder). Neben seinen Romanen und Novellen ist auch seine antifaschistische Publizistik von Bedeutung. Diese Anschuldigung entbehrt jeder Grundlage. Zsigmond Möricz, der bedeutendste Repräsentant der ungarischen Prosa des 20. Jahrhunderts, stellte die bürgerlich-oppositionelle Zeitschrift, die die progressivsten ungarischen literarischen Traditionen wachhielt, zu keiner Zeit in einen „faschistischen Rahmen". Imre Sallai und Sändor Fürst gehörten zur Leitung der illegalen Kommunistischen Partei Ungarns. Sie wurden 1932 durch das Horthy-Regime vor ein Standgericht gestellt und zum Tode verurteilt. Trotz der Proteste, darunter ein Flugblatt, das von Gyula Illyes und Attila Jözsef mitverfaßt worden war, wurde das Todesurteil vollstreckt. Anspielung auf Lajos Kassäks Gedicht Szölok halottainkröl (Ich rede von unseren Toten). In: Munka 5 (1932) 26, S. 728. Vgl. dazu: Mihäly Varga: A „szocialista realizmus" fogalom kialakuläsänak kerdesehez (Zur Frage der Entstehung des Terminus „sozialistischer Realismus"). In: Meghallöi a törvenyeknek (Hörer der Gesetze), Budapest 1973, S. 212-239. Bekanntlich war auch Gorki ein Anhänger der revolutionären Romantik, die er als schöpferischen Teil des Realismus erachtete. Vgl. dazu: M. Gorki: Sobranie socinenij (Gesamtausgabe). Moskau 1953, Bd. 29, S. 280; sowie Gorkis Artikel: Wie ich schreiben lernte; Über Literatur und anderes. In: M. Gorki: Über Literatur, Berlin und Weimar 1968, S. 171-206 und 261 bis 270. György Lukäcs, Johannes R. Becher, Andor Gabor und K. A. Wittfogel behandeln - im Gegensatz zu dem mit linkssektiererischen Fehlern überhäuften Komjät-Birö-Entwurf vom 9. Oktober 1931 - als Redakteure des Ende 1931 von ihnen ausgearbeiteten Entwurfs z« einem Programm des BPRS in dessen 3. Kapitel Das große proletarische Kunstwerk. Vgl.: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Berlin 1967 2 . S. 394-395 und 782-784. In seinem Artikel Kühnheit und Begeisterung (Die Linkskurve 4 [1932] 5, S. 5) schreibt Johannes R. Becher ebenfalls über „das große bolschewistische Kunstwerk". Vgl. Manfred Nössig/Johanna Rosenberg/ Bärbel Schräder: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918-1933. Berlin und Weimar 1980. S. 629-655.

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19 Vgl. Resolution zu den politischen und schöpferischen Fragen der internationalen proletarischen und revolutionären Literatur. In: Literatur der Weltrevolution (Moskau), 1 (1931) Sonderheft, S. 95-103. 20 Nach unserer gegenwärtigen Kenntnis gehörten zu dieser Zeit Antal Hidas, Béla Illés, Jänos Matheika und Màté Zalka dem Komitee an. Text 38: Korparancs. In: Korunk (Cluj), 9 (1934) 6, S. 478-481. Neuerdings in : Zoltän Fäbry: Korparancs. Bratislava 1969, S. 7 - 1 2 . 1 Stefan George: Der Krieg. In: Das neue Reich. Berlin 1928. 2 Im Jahre 1934 erschien Zoltän Fäbrys erste Artikelsammlung unter dem Titel Korparancs (Gebot der Zeit). Der vorliegende Text war die Einleitung dieser Sammlung, er wurde auch in der Zeitschrift Korunbk veröffentlicht. 3 Hinweis auf die in der Sammlung enthaltenen Schriften Emberirodalom (Menschenliteratur, 1925) als Erinnerung an die Toten des ersten Weltkrieges, sowie Ujévi köszöntö (Neujahrsgruß, 1934) über das Bergwerksunglück aus dem Jahre 1934. 4 Kassäk välaszol Fäbrynak (Kassäk antwortet Fàbry). In: A Reggel (Der Morgen, Bratislava) Nr. 126 von 1931. 5 Zoltän Fäbry wurde der „Einsiedler von Stósz" genannt, da er sein Leben in dem in der Nähe von Kosice gelegenen kleinen Bergarbeiterdorf verbrachte, von wo aus er stets in lebendigem Kontakt mit dem geistigen Leben seiner Zeit, insbesondere mit der Literatur des Weimarer Deutschland stand. 6 Berüchtigter Literaturhistoriker romantisch-idealistischer Anschauung, der sich in mythischen Vorstellungen über die Herkunft der Ungarn erging. In dem Kassai Napló (Kosicer Journal) vom 1. Mai 1922 schrieb Zoltän Fäbry einen Nekrolog über ihn. 7 Über den belgischen expressionistischen Maler Albert Servaes, geb. 1883, schrieb Fäbry in der Nr. 8 des Kassai Napló von 1922 einen Artikel unter dem Titel Böjti credo husvét utän (Fastencredo nach Ostern). 8 Die im folgenden aufgeführten Schriftsteller, Maler und Denker bildeten gleichsam das Hauptthema der von Fäbry um 1922 verfaßten Artikel. 9 Fäbrys engste Heimat, Slovensko, gehört seit 1918 zur Tschechoslowakei. 10 Hinweis auf das durch den Weißen Terror angerichtete Blutbad nach Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik von 1919 sowie auf die Ermordung der Führer der Kommunistischen Partei Ungarns, Imre Sallai und Sändor Fürst im Jahre 1932. 11 Pfingsten 1931 beantwortete die Polizei im slowakischen Ort Kosüty den Lohnkampf der Landarbeiter mit Gewehrsalven. Dieses Geschehen lenkte die in der Tschechoslowakei entstandene demokratische ungarische Jugendbewegung Sarló (Sichel) in die linke Richtung. 12 Vgl. Edgär Balogh: Szlovenszko az uj kulturfronton (Slovensko an der neuen Kulturfront). In: Uj Szó (Neues Wort, Bratislava) 4 (1932) 5 - 6 , S. 25. 13 Diese deutsche Schriftstellerin lebte 1879-1958, sie wurde von Zoltän

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Fäbry in dessen Artikel Nötrö Szlovenszkön (Eine Schriftstellerin in Slovensko) im Juniheft der Korunk von 1926 erwähnt. Karpatoukrainische Berggegend, die Fäbry im Jahre 1932 mit Ludwig Renn durchwanderte, über die er in seinem Buch Az ehseg legenddja (Die Legende des Hungers) berichtet. Dieses erschien 1932 in Bratislava, war von der Zensur zuvor rigoros zusammengestrichen und nach seinem Erscheinen sogleich verboten worden. Eines der Fäbryschen Schlüsselwörter war „Menschenliteratur", was er in einem Artikel aus dem Jahre 1925 (Vgl. Anmerkung 3 dieses Textes) darlegte. - Fäbrys Begriffsapparat macht deutlich, daß die geistige Quelle seines Aufbruchs der deutsche Expressionismus war. Zoltän Fäbry bezieht sich hier auf die politischen und kulturellen Verhältnisse in Horthy-Ungarn. „Vox humana" gehörte zu Fäbrys Lieblingsbegriffen. Er stammt aus dem Vorwort der expressionistischen Anthologie Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus aus dem Jahre 1920.

Text 39: Jegyzetek a formäröl es a vilägszemleletröl. In: Független Szemle (Budapest), 2 (1934) 8, S. 185-186. 1 György Lukäcs: Esztetikai kultüra (Ästhetische Kultur). Budapest 1913. Neuerdings: György Lukäcs: Ifjukori müvek (Die Werke der Jugendzeit). Budapest 1977, S. 434. 2 Das Gedicht wurde von Sändor Petöfi im Februar 1847 geschrieben. 3 In der originalgetreuen deutschen Ubersetzung müßte es lauten: „Hängt die Könige auf!" - Die vorliegende deutsche Übertragung stammt von Martin Remane. In: Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. Berlin und Weimar 1970, S. 116-117. 4 Es ist bekannt, daß die Schöpfungen der sowjetischen Filmkunst (so die Werke Eisensteins und Pudowkins) im Westeuropa der 20er und 30er Jahre äußerst populär waren und auch die bürgerliche Kunsttheorie an den schöpferischen Ergebnissen des sowjetischen Films nicht vorbeikam. 5 György Lukäcs: Esztetikai kultura, S. 428-429. 6 Radnöti kritisiert hier die Literaturanschauung der RAPP, nennt aus parteilicher Solidarität jedoch weder Namen noch Werke, da deren Erwähnung in der Zeit des Horthy-Faschismus auch polizeiliche Verfolgungen gegen die Betroffenen nach sich gezogen hätte. Text 40: Szerkesztöi üzenet. In: Szep Szö (Budapest), 1 (1936) 2, S. 9 7 - 9 9 . 1 Dieser Artikel ist an eine fiktive Person gerichtet, jedoch zugleich als programmatische Erklärung des Blattes zu betrachten. 2 Vgl. Karl Marx: „Sie (die Religion) i s t d i e p h a n t a s t i s c h e V e r w i r k l i c h u n g des menschlichen Wesens . . . " In: Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Bd. 1, S. 378. 3 Die Zeitschrift Szep Szö (Schönes Wort) erschien von 1936 bis 1939 in

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Budapest und verfolgte einen demokratisch-humanistischen und antifaschistischen Kurs. Ihre Redakteure waren Ferenc Fejtô, Pâl Ignotus und Attila Jözsef. Text 4 1 : Az âtértékelt realizmus. In: Gondolât (Budapest), 1 (1936) 8, S. 465 bis 472. 1 Vgl. Gondolât 3 (1938) 3, S. 199. Der Autor verweist hier auf den Umstand, daß sich die von Breton geführte surrealistische Gruppe aufgelöst, sich Aragon und Eluard der Kommunistischen Partei angeschlossen sowie die Methode des sozialistischen Realismus bejaht hatten. 2 Die durch die Reaktion verängstigten Schriftsteller wurden als die „bekehrten" bezeichnet, so vor allem Charles Maurras (1868-1952) - die führende Gestalt der Action française und der Ligue des droits de l'homme - sowie Léon Daudet (1867-1942) und Jacques Bainville (1879-1936). Großen Einfluß übte auf sie der Nationalismus von Maurice Barrés aus. Zu dieser Zeit bediente sich Béla M. Pogâny mit Vorliebe des Terminus „bekehrt"; in der zweiten Nummer der Gondolât von 1936 veröffentlichte er einen Artikel unter dem Titel André Gide „megtérése" (Die „Bekehrung" André Gides), in dem er den bisherigen Werdegang des französischen Schriftstellers analysiert. 3 Aller Wahrscheinlichkeit nach zitiert der Verfasser hier Gautier aus dem Gedächtnis, da diese These der gesamten Ästhetik Gautiers widerspricht. Vgl. dazu auch E. Henriot: Neuf siècles à nos jours. Paris 1958, S. 496, der ohne Quellenangabe u.a. feststellt: „Nach 1845 wurde die Ästhetik Theophile Gautiers präziser und eingegrenzt, ist sie auf einen Menschen zugeschnitten, „für den" - wie er selbst bald sagen wird - 'die Außenwelt existiert'." 4 Biaise Pascal: Pensées. Article 1ère (Reflexionen. Artikel). Paris, o. J., S. 59. ('L'homme n'est qu'un roseau, le plus foible de la nature, mais c'est roseau pensant.") 5 Vgl. René Descartes: Cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich). In: Oeuvres de Descartes. Ed. par Ch. Adam et P. Tonnery. Maison d'etion J. Vrin, Paris 1973, Bd. 6, S. 32. 6 Marceil Benedeks Geschichte der Weltliteratur erschien 1921 in Budapest. 7 Georg Lukäcs: Tendenz oder Parteilichkeit? In: Die Linkskurve 4 (1932) 6, S. 15. (Vgl. Text 35.) 8 Ebenda, S. 17. 9 Ebenda, S. 19. 10 G. W. Plechanow: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben (1912/13). In: G. W. Plechanow: Kunst und Literatur. Berlin 1955, S. 289. 11 Georg Lukäcs: Tendenz oder Parteilichkeit? In: Die Linkskurve 4 (1932) 6, S. 19. 12 Die Zeitschrift Gondolât richtete unter dem Titel Uj realizmus („Neuer Realismus") eine Rubrik ein, deren erster Beitrag Aragons Artikel Realizmus a regényirodalomban (Realismus in der Romanliteratur - vgl. Gondolât 1

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(1936) 3, S. 199) war. In Verbindung damit erschienen in dem Blatt zahlreiche Reflexionen, so auch der Artikel von Béla M. Pogány. 13 Der Verfasser verweist hier auf die Kongresse zur Verteidigung der Kultur (Paris 1935; Madrid und Valencia 1937). 14 Am 26. Oktober 1932 führte J. W. Stalin in der Wohnung Gorkis ein Gespräch mit einer Gruppe von Sowjetschriftstellern. In dessen Verlauf bezeichnete Stalin die Schriftsteller als „Ingenieure der Seele" und den sozialistischen Realismus als Methode der sozialistischen Kunst. 15 Am 21. Juni 1935 wurde in Paris der Erste Internationale SchriftstellerKongreß zur Verteidigung der Kultur eröffnet. Auf diesem Kongreß wurden die hier zitierten Worte von A. Gide, H. Barbusse und F. I. Panfjorow zu Gehör gebracht. Über den Kongreß berichteten die ungarische Zeitschrift Gondolat wie die Baseler Rundschau (Nr. 28-29, 1935). Das vollständige Material des Kongresses veröffentlichte 1936 der Staatsverlag für Belletristik in Moskau unter dem Titel: Mezdunarodnoj kongress písatele/ v zascitu kultury (Internationaler Kongreß zur Verteidigung der Kultur). - Eine profunde Studie über diesen Kongreß schrieb Klaus Kändler: Die Internationale Schriftsteller-Vereinigung zur Verteidigung der Kultur. In Internationale Literatur des sozialistischen Realismus 1917-1945. Berlin und Weimar 1978, 5. 582-616. - Vgl. auch: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936. Einleitung und Anhang von Wolfgang Klein. Berlin 1982. Text 42: Das Wort (Moskau), 3 (1938) 6, S. 112-138. 1 Zur Expressionismus-Debatte in der Zeitschrift Das Wort vgl.: Die Expressionismusdebatte - Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Frankfurt am Main 1973. 2 Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Zürich 1935. Neuerdings: Neuere erweiterte Ausgabe - Ernst Bloch: Gesamtausgabe, Bd. 4. Frankfurt am Main 1962. (Auf die letztgenannte Ausgabe beziehen sich im folgenden sämtliche Literaturangaben zu Bloch.) 3 Vgl. Georg Lukács: Größe und Verfall des Expressionismus. In: Internationale Literatur 4 (1934) 1, S. 153-173. 4 Ernst Bloch: Diskussionen über Expressionismus. In: Das Wort 3 (1938) 6, S. 98-112. Neuerdings in: Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. S. 270. 5 Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital. In: MEW, Bd. 6, S. 408. 6 Vgl. Karl Marx - Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischén Partei (1848). In: MEW, Bd. 4, S. 466. 7 Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Teil II. I n : MEW, Bd. 26, S. 496-497. 8 W. I. Lenin: Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis und Bucharins. In: LW, Bd. 32. S. 85.

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9 W. I. Lenin: Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik". Die Lehre vom Wesen. In: LW, Bd. 38, S. 119. 10 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 243. 11 Ebenda, S. 246. 12 Ebenda, S. 224. 13 Karl Marx: Das Kapital. Buch III. In: MEW, Bd. 25, S. 369. 14 Vgl. Rudolf Leonhard: Eine Epoche. In: Das Wort 3 (1938) 6, S. 100. 15 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 224. 16 Gottfried Benn: Kunst und Macht. Stuttgart - Berlin 1934. In: Gottfried Benn: Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge. Wiesbaden 1961, S. 245. 17 Vgl. Heinrich Vogeler: Erfahrungen eines Malers. In: Das Wort 3 (1938) 6, S. 84-94. 18 Gottfried Benn: Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 4 : Autobiographische und vermischte Schriften, S. 399. 19 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 249. 20 Vgl. Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1920. 21 Hinweis auf Romain Rollands Romanzyklus Jean Christophe (1903 bis 1913). 22 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: Friedrich Nietzsche: Werke. Leipzig 1899. Bd. VIII, S. 2 3 - 2 4 . 23 Rudolf Leonhard: Eine Epoche. In: Das Wort 3 (1938) 6, S. 100. 24 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 268. 25 Paul Lafargue: Karl Marx, Persönliche Erinnerungen. In: Karl Marx Friedrich Engels: Uber Kunst und Literatur. Berlin 1967, S. 21. 26 Vgl. Georg Lukacs: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin 1923. 27 Vgl. Bernhard Ziegler: Nun ist dies Erbe zu Ende. In: Das Wort 2 (1937) 9, S. 42-49. 28 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 272. 29 Hanns Eisler: Die Kunst zu erben. In: Die Weltbühne v. 6. 1. 1938. Neuerdings in: Hans Eisler: Musik und Politik. Schriften 1924-1948. Leipzig 1973, S. 408. 30 W. I. Lenin: Über proletarische Kultur. In: LW, Bd. 31, S. 307-308. Text 43: A mai magyar szociogrâfia és az irodalom. In: Korunk (Cluj), 12 (1937) 5, S. 406-410. 1 Das Werk von Géza Féja Vibarsarok (Wetterwinkel) erschien 1937 in Budapest. 2 Péter Veres' Arbeit Az Alföld parasztsdga (Die Bauernschaft der Tiefebene) erschien in Buchform 1936 in Budapest, erstmals veröffentlicht wurde sie 1935 in der Zeitschrift Vdlasz. 3 Vorabdruck in der Zeitschrift Vdlasz und Buchpublikation von Gyula Illyés'

430

Pusztäk nepe (Pusztavolk) fielen ebenfalls in das Jahr 1935. Über die Bewertung des soziographischen Romans vgl. die Texte 44 und 45. 4 Büntudat (Schuldbewußtsein) erschien 1937 in Budapest. 5 Vgl. dazu: Robert Braun: Henry George es a földjäradekadö (Henry George und die Bodenrentensteuer). I n : Huszadik Szazad 8 (1907) 7, S. 5 9 4 - 6 0 9 ; Lippa es Sansepolaro. Ebenda, 9 (1908) 3, S. 3 2 1 - 3 3 6 ; Adatok a videki munkässäg eletehez (Angaben zum Leben der Arbeiterschaft auf dem Lande). Ebenda, 10 (1909)

6,

S. 5 1 3 - 5 2 7 ; A mezögazdasäg üj kora (Die neue

Epoche der Landwirtschaft). Ebenda, 11 (1910) 1, S. 3 2 - 4 5 sowie andere seiner Studien, die bis 1918 erschienen. 6 Radikale linke Bewegung

der jungen ungarischen Intellektuellen in der

Tschechoslowakei zwischen 1928 und 1934. Diese war in vielfacher Weise mit den progressiven Gruppen in Ungarn, so auch mit den „Volkstümler"Schriftstellern, sowie mit den slowakischen linken und kommunistischen Organisationen verbunden. An der Spitze der S a r 1 6 (Sichel)-Bewegung stand Edgar Balogh; Unterstützung fanden deren Anhänger auch durch die von Zoltän Fäbry herausgegebene kommunistische Zeitschrift Az Ut. 7 Der Verfasser verweist hier auf die bürgerliche Revolution von 1918 und die proletarische von 1919 in Ungarn. 8 Ein Zitat aus Mihäly Vörösmartys 1844 entstandenem Gedicht Gondolatok a könyvtärban

(Gedanken in der Bibliothek). (Vgl. dazu die deutsche Über-

tragung von Günther Deicke I n : Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. Hg. Stephan Hermlin u. György Mihäly Vajda. Berlin und Weimar 1970, S. 70).

9 Ebenda.

10 Der Verlag Athenaeum begann 1937 die Serie Magyarorszdg

felfedezese

(Die Entdeckung Ungarns), in der die Mehrzahl der Soziographien erschien. 11 Geza Fejas Buch Viharsarok wurde 1937 beschlagnahmt und dem Verfasser wegen Verleumdung der Nation sowie „klassenfeindlicher Anstiftung" der Prozeß gemacht. Text 4 4 : Illyes Gyula: Pusztäk nepe. In: Sarlö es Kalapäcs (Moskau), 8 (1936) 21, S. 11. 1 Der Artikelschreiber läßt hier offensichtlich außer acht, daß Illyes sein Buch im faschistischen Horthy-Ungarn veröffentlichte und von daher zu „vorsichtigen" Formulierungen gezwungen war. 2 Der erste Teil von Möricz' großer historischer Romantrilogie Erdely

(Sieben-

bürgen) entstand in den Jahren 1921/22. 3 Gyula, Illyes: Pusztavolk Berlin 1948, S. 1 0 7 - 1 0 9 . 4 Zäpolya oder auch Jänos Szapolyai ( 1 4 8 7 - 1 5 4 0 ) war einer der wohlhabendsten Grundbesitzer Ungarns, der den von György Dözsa geführten Bauernaufstand im Jahre 1514 im Blut erstickte. - Istvän Werböczy (gest. 1541) hatte ebenfalls an der Niederwerfung des Bauernaufstandes teilgenommen und mit seinem berüchtigten Gesetzbuch (dem Tripartitum) Rechtsnormen geschaffen, die das Bauerntum unterjochten und letztlich die Verteidigungskraft

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des Landes schwächten. Die Folge war die katastrophale Niederlage durch die Türken im Jahre 1526 sowie ein Rückgang der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes insgesamt. 5 1526 brachten die türkischen Truppen dem ungarischen Heer bei Mohâcs (Südungarn) eine schwere Niederlage bei und drangen nach dem Sieg bis Buda vor. Das Land wurde in drei Teile zerstückelt. Seitdem ist die Niederlage von Mohâcs das Symbol der nationalen Katastrophe. Jänos Szapolyai, der die Niederlage des ungarischen Königs gewünscht hatte, traf mit seinem Heer auf dem Kriegsschauplatz verspätet ein, und Werböczy hatte sich auf seine Burg zurückgezogen und dort das Ende der Schlacht abgewartet. 6 Ministerpräsident Istvân Tisza (1861-1918) trat für den Krieg ein und widersetzte sich bis zuletzt gegen eine Erweiterung des Wahlrechts. — Gyula Andrässy (1860-1929) war Politiker und hatte das Amt des Außenministers der Monarchie inné. - Istvân Bethlen (1874-1946) schloß sich der Partei Andrâssys an, war mit diesem zusammen in Wien und organisierte von hier aus mit die Konterrevolution von 1919 in Ungarn und wurde von 1921 bis 1931 während der Zeit der konterrevolutionären Konsolidierung Ministerpräsident. - Gyula Gömbös (1886-1936), faschistischer Politiker mit rassistischer Einstellung, einer der Führer des Weißen Terrors in den Jahren 1919/20, wurde später Ministerpräsident. Das 1920 abgeschlossene imperialistische Friedensabkommen von Trianon brachte für Ungarn schwere finanzielle Lasten mit sich; zwei Drittel des Gebietes gingen an Ungarns Nachbarländer und viele ungarische Bewohner gelangten so zu den sogenannten Nachfolgestaaten. Dies diente der chauvinistischen und nationalistischen Verhetzung und letzten Endes als willkommenes Alibi für die demagogische Beteiligung am zweiten Weltkrieg. 7 Das Jahr der Ungarischen Räterepublik. 8 Gyula Illyés: Pusztavolk. Berlin 1948, S. 255. Text 45: Illyés Gyula? Pusztâk népe. In: Sarlo és Kalapâcs (Moskau), 9 (1937) 3, S. 51-52. 1 Vgl. György Bâlint: Benyomâsok a Pusztâk népérôl (Eindrücke über Pusztavolk). In: Gondolât 1 (1936) 6 - 7 , S. 402. 2 Vgl. Péter Veres: A mai magyar szociogrâfiai irodalom (Die heutige ungarische soziographische Literatur). In: Korunk 11 (1936) 12, S. 1029-1034. 3 Vgl. Text 44. 4 Die wissenschaftlich fundierte Dorfforschung wurde zu Beginn des Jahrhunderts durch die um die Zeitschrift Huszadik Szdzad gruppierten progressiven Intellektuellen initiiert. Einen neuen Auftrieb bekam sie E n d e der 20er Jahre, als sie sich im Dienste des ungarischen Dorfes und der Armen schriftstellerisch betätigte, sich auch politischen Fragen zuwandte und sich über das Genre der Soziographie der unter dem Namen „Volkstümler"-Schriftsteller bekannten Strömung eng anschloß. 5 Vgl. Gyula Illyés: Pusztavolk. Berlin 1948, S. 101-102.

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Text 4 6 : Nepiesek es humanistäk - Budapesti level (Volkstümler und Humanisten - Ein Budapestec Brief). I n : Magyar Nap (Moravska-Ostrawa), Nr. 58, v. 10. 3. 1938, S. 3. 1 Die „Volkstümler"-Schriftsteller stammten zum überwiegenden Teil aus dem Bauerntum bzw. aus dem Kleinbürgertum. Diese Schriftsteller und Publizisten formierten sich mit ihren Bestrebungen in den 30er Jahren zur bedeutendsten Bewegung der ungarischen Literatur. Ihr linker Flügel forderte eine grundlegende Bodenreform sowie die Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens und suchte das Bündnis mit der Arbeiterklasse. Die Ideologie des rechtten Flügels der Bewegung war u. a. von nationalistischen Ideen und sozialer Demagogie durchsetzt. 2 Vgl. Text 40. Als bedeutender Vertreter der bürgerlich-liberalen Opposition beteiligte sich der Schriftsteller und Publizist Päl Ignotus ( 1 9 0 1 - 1 9 7 8 ) an der Redaktion der Zeitschrift. E r war der Sohn jenes Ignotus, auf den in Text 49, Anmerkung 6 verwiesen wird. 3 In den Jahren 1938, 1939 und 1941 wurden in Ungarn die sogenannten „Judengesetze" eingeführt, die im Geiste der Nürnberger Gesetze unter anderem den Numerus clausus, die Abstammung der Juden und die Verfügungen im Falle einer Eheschließung von Juden definierten und sanktionierten. Diese Gesetze machten die Existenz breiter Schichten von Bürgern jüdischer Herkunft zunichte und bildeten den Auftakt der faschistischen Judenverfolgung in Ungarn. 4 Gegen Imre Räköczys Äußerungen verwahrten sich die Dorfforscher in einem offenen Brief, der in der Zeitung Magyarorszdg

(Ungarn) v. 12. 2. 1938 ver-

öffentlicht worden und von Jözsef Darvas, Ferenc Erdei, Geza Feja, Gyula Illyes, Imre Koväcs und Zoltän Szabö unterzeichnet war. 5 Die herausragenden Gestalten der bürgerlichen Revolution und des ungarischen Freiheitskampfes von 1848/49, Lajos Kossuth und Jözsef Eötvös, verurteilten nicht nur einmal antisemitische bzw. sich gegen andere Nationalitäten richtende Bestrebungen. 6 Eine grundlegende Bodenreform fand in Ungarn bis zum Jahr der Befreiung 1945 nicht statt. Die 1918 erfolgte Bodenaufteilung wurde durch den Weißen Terror sogleich rückgängig gemacht. Ende der 20er Jahre nannte man Ungarn das Land der „drei Millionen Bettler". Die ungelöste Bodenfrage beschäftigte in erster Linie die Bewegung der „Volkstümler'-Schriftsteller und weit weniger jene, die zum Lager der „Urbanisten" gehörten. 7 Megoldäs-e a földreform? /Birtokpolitikdnk problemäi/ (Ist die Bodenreform eine Lösung?

/Probleme unserer Ländereipolitik/). In Jdnos Adorjän: A

magyar kenyerkerdes (Die ungarische Brotfrage). Budapest 1939. 8 Vereinigung liberal gesinnter Großkaufleute ( 1 9 2 2 - 1 9 4 9 ) , die häufig über aktuelle gesellschaftliche, politische und sonstige Fragen diskutierten. - Der Agrarpolitiker, Abgeordnete und Experte für Landwirtschaft, Mätyäs Matolcsy ( 1 9 0 5 - 1 9 5 3 ) stand der Bewegung der „Volkstümler" nahe, wurde dann 28

Befunde

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später Mitglied der faschistischen Pfeilkreuzler-Partei. - Frigyes Görög war Rechtsanwalt, Bankdirektor und Mitglied der Cobden-Gesellschaft. Der Schriftsteller Imre Németh (1893-1970) war in den 30er Jahren Parlamentsabgeordneter. Er schrieb mehrfach über die Mdrciusi-Front (März-Front) sowie über die politische demokratische Gruppierung, die sich mit dem Zusammenschluß der „Volkstümler'-Schriftsteller und der antifaschistisch eingestellten Intelligenz gebildet hatte. Am 15. März 1937 veröffentlichte die Front ihre Grundprinzipien, trat sie für die Bodenreform und eine demokratische Politik ein. Bezirk Budapests, in dem seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Mehrzahl reiche jüdische Bürger wohnten. Am 15. März 1848 brach in Pest die bürgerliche Revolution aus. Der Schriftsteller und Journalist Sändor Brödy (1863-1924) gehörte zu den wirkungsvollsten Vertretern der ungarischen bürgerlich-städtischen Literatur der Jahrhundertwende. Vor allem durch seine sozial sensiblen und geistvollen Dramen und seine Belletristik brachte er das gesamte ungarische literarische Leben in Bewegung. Istvân Tômôrkény (1866-1917) entdeckte für die ungarische Literatur die Welt der armen Bauern in der Gegend um Szeged sowie die der Matrosen auf der Theiß. Er war ein sozial äußerst empfindsamer Schriftsteller und einer der ersten Vorläufer der ungarischen volkstümlichen Literatur.

13 Die junge Intelligenz - unter ihnen auch die „Volkstümler'-Schriftsteller veranstaltete am 15. März 1938 in Kecskemét ein Treffen. Mit diesem Ereignis beschäftigte sich Jözsef Rêvai in einem gesonderten Artikel. Vgl.: Jôzsef Rêvai : A kecskeméti talälkozö hâttere. Budapesti levél (Der Hintergrund des Kecskeméter Treffens. Ein Budapester Brief). In: Magyar Nap (Moravska-Ostrawa), v. 25. 2. 1938, S. 4. Text 47: Az értelem vértanuja. In: Ujsâg, Nr. 280, v. 10. 12. 1939, S. 7. 1 Der bedeutende ungarische Schriftsteller Dezsô Kosztolänyi verstarb am 3. November 1936 im Alter von einundfünfzig Jahren an Kehlkopfkrebs. In dem Gedicht Kosztolänyi nahm Attila Jözsef von dem von ihm hoch geschätzten Dichter Abschied. 2 Attila Jözsef warf sich am 3. Dezember 1937 vor einen Zug in Balatonszârszö. 3 Attila Jözsef: Bevezetö (Einleitung). Deutsche Übertragung von Géza Engl. In: Sinn und Form 5 (1953) 3, S. 369. 4 Attila Jözsef : Am Rand der Stadt. Deutsche Übertragung von Günter Deicke. In: Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. Berlin und Weimar 1970, S. 250. 5 Attila Jözsef: Geschrei. Deutsche Übertragung von Franz Fühmann. In: Attila Jözsef: Gedichte, Berlin 1960, S. 68. 6 Hinweis auf Jözsefs Gedicht Am Rand der Stadt. 7 Attila Jözsef: Am Rand der Stadt, S. 250.

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Text 48: Tollal és szerszámmal. Budapest 1941, Elószó (Vorwort). S. 3 - 8 , (Anthologie). 1 D a sich die Herausgabe von Zeitschriften zur Wende der 30er/40er Jahre zunehmend verkomplizierte, wurden von den linken literarischen Kreisen mehrere Anthologien und Studienbände herausgegeben und somit die Kontinuität des progressiven Gedankens gesichert. Zu dieser Anthologie-Reihe gehört auch der vorliegende Band. 2 Hinweis auf Attila Józsefs Gedicht Am Rand der Stadt aus dem Jahre 1933. 3 Gemeint sind: László Benjamin, János Foldeák, Ferenc Vaád und Gyula László. Text 4 9 : Irástudók felelóssége. In: György Lukács: Irástudók felelossége. Moskau 1944, S. 3 - 2 1 . 1 Am 19. März 1944 wurde Ungarn von der deutschen Wehrmacht besetzt. 2 Zit. nach: Karl Hoppe: Aphorismen Raabes. Chronologisch geordnet. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1960 (Braunschweig), S. 138. - D e r Aphorismus ist nicht datierbar, wahrscheinlich stammt er aus den Jahren um 1900. Lukács kannte den Aporismus aller Wahrscheinlichkeit nach aus der ersten Raabe-Gesamtausgabe von 1913. 3 D e r ungarische Stände-Reichstag tagte in Pozsony (heute Bratislava) und hielt seine letzte Sitzung im Jahre 1848 ab. 4 Vgl. Text 21, Anmerkung 5. 5 Die hier aufgeführten, zur Jahrhundertwende und in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen populären Schriftsteller waren reaktionär eingestellt und vertraten konservative literarische Prinzipien. (Daß sich Lukács gerade hier auf diese beruft, mag daran liegen, daß Rákosi und Herczeg schwäbischer sowie Dóczy jüdischer Herkunft waren.) 6 Vgl. Ignotas: Utóirat/A perzekutor esztétikáról (Postskript. Über die Persecutor-Ästhetik). In: Ignotus: Kisérletek (Experimente). Budapest 1910. Ignotus war einer der geistigen Führer der Zeitschrift Nyugat und stellte sich als deren Redakteur gegen eine reaktionäre, nationalistisch geprägte kritische Tradition, die die künstlerischen Werte allein unter politisch-nationalen Gesichtspunkten untersuchte und Denken wie Stil des Schriftstellers dementsprechend einzuschränken suchte. Was Ignotus' Standpunkt anbelangt, so bekannte er sich zur bürgerlich-liberalen Ästhetik, seine Kritiken knüpften indessen an die Traditionen der impressionistischen Kritik an. 7 In der ungarischen Novellistik der Jahrhundertwende wurde die aus dem romantischen Antikapitalismus hergeleitete Auffassung, daß die Stadt (insbesondere das sich stürmisch verbürgerlichende und industrialisierende Budapest) der Ort der „Sünde" sei, die Provinz, das Bauerntum und das Volk aber die Reinheit und Unverdorbenheit bewahrten. Als Miklós Horthy nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik 1919 als Führer der Konterrevolution in Budapest einzog, nannte er es eine „sündige Stadt". 8 Mit Kassák und seiner avantgardistischen Dichtung setzte sich Lukács mehr28«

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mals auseinander. Bis an sein Lebensende hielt Lukäcs Kassäk für einen „Kleinbürger", würdigte er dessen Verdienste als Dichter auf Grund ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten ungenügend. - Zu Dezsö Szabö vgl. Text 26, Anmerkung 6. Zu Mihäly Szabolcska vgl. Text 8, Anmerkung 3. — Lukäcs irrt hier in seinem Urteil gewaltig; seine ideologische Bewertung der genannten Dichter ist überspitzt und vereinfacht. Vgl. Text 40, Anmerkung 3. Lukäcs bezieht sich hier auf die Nyugat, in der gemäß den Absichten der Redaktion (so Ignotus) eine niveauvolle engagierte volkstümliche Literatur wie bürgerliche bzw. demokratisch-revolutionäre Kunst (Zsigmond Möricz, Dezsö Kosztolänyi, Endre Ady) Eingang fanden. Der rechte Politiker und Ministerpräsident Gyula Gömbös hatte zu der kurzlebigen Schriftsteller-Gruppierung „Uj Szellemi Front" (Neue Geistige Front) den Anstoß gegeben, die sich gleichsam als intellektuelle Nachhut der Gömbös'schen Politik 1935 konstituierte. Ihr hatten sich in der Hoffnung, daß diese Front die Lösung der sozialen Fragen mit voranbringen würde, auch einige Mitglieder der „Volkstümler"-Bewegung angeschlossen. Die Pfeilkreuzler-Partei war das Sammelbecken der ungarischen Faschisten. Bereits seit Mitte der 30er Jahre verkündeten sie ein sozial-demagogisches Programm, vermochten aber nicht einen der Schriftsteller damit in die Irre zu führen. Am 15. Oktober 1944 kamen sie an die Macht und führten Ungarn ins Verderben. Über die „ungarische Besonnenheit" schrieb beispielsweise Mihäly Babits Ende der 30er Jahre einen Essay unter dem Titel A magyar jellemröl (Über den ungarischen Charakter). In: Mi a magyar? (Was ist der Ungar? Budapest 1939. Herausgegeben von Gyula Szekfü). Diese Studiensammlung war bei allem nationalistischen und konservativen Ton eine Abwehr gegen die deutschen (somit faschistischen) Einwirkungen. Die Idee der „Besonnenheit" setzten die bürgerlichen Autoren jedweder linken und rechten Bewegung entgegen.

15 Am 29. und 30. September verhandelten der englische und französische Ministerpräsident N. Chamberlain und E. Daladier sowie Hitler und Mussolini über die Zerstückelung der Tschechoslowakei. Von einzelnen Kreisen der ungarischen städtischen Intelligenz wurden - infolge ihres Nationalismus die verhängnisvollen Konsequenzen der Münchener Politik nicht erkannt, die bald auch Ungarn ereilten. 16 Läszlö Cs. Szabö: A mühely (Die Werkstatt). In: Läszlö Cs. Szabö: Magyar nezö (Ungarischer Zuschauer). Budapest o. J., S. 142. 17 Hinweis auf die erste bürgerlich-demokratische Revolution in Ungarn im Oktober 1918. Zu ihren Errungenschaften gehörten die Erlangung der völligen Unabhängigkeit, die Beendigung der Unterdrückung der Nationalitäten, die Abschaffung der Großgrundbesitzerherrschaft sowie die Schaffung der demokratischen Republik.

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18 Die beiden großen ungarischen Bauernführer, György Dözsa und Tamäs Esze, tauchen auch in Endre Adys Gedichten auf. 19 Der österreichische General Haynau führte nach der Niederschlagung der ungarischen bürgerlichen Revolution und des Freiheitskampfes von 1848/49 in Ungarn eine Terrorherrschaft ein. Diese wurde von dem bekannten Prosaschriftsteller und Essayisten Zsigmond Kemeny verurteilt, doch zugleich all Vergeltung für einen der ungarischen Eigenart beigebrachten Schicksalsschlag empfunden, da sich nach Kemeny der ungarische Charakter gleichsam rasch erhitzt und an Ausdauer verliert. 20 Mihäly Vörösmarty stimmte 1848 nach einigem Zaudern mit der Mehrheit im Abgeordnetenhaus zu, einen Teil der neu aufzustellenden ungarischen Honvedregimenter dem Kommando der Österreicher unterzuordnen, um diese dadurch gegen die italienische Revolution einsetzen zu können. 21 Der namhafte Dichter der Romantik bekannte sich uneingeschränkt Zu der während des Napoleonischen Krieges mit großem Eifer vergebens verkündeten „Erhebung der Adligen" gegen die Franzosen. 22 In der frühen Novelle Het krajcar (Sieben Kreuzer, 1908) beschwört Möricz seine in Armut verbrachte Kindheit herauf. In der Romantrilogie Sändor Rözsa setzte er dem Volkshelden, der zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebte und als legendärer Betyär-Räubec-Führer für die Armen Partei ergriff, ein Denkmal. 23 Endre Ady: Elhanyagolt, veres szivünk (Unser arges, blutiges Herz). In: Endre Ady: összes Versei (Sämtliche Gedichte). Budapest 1977, S. 587 bis 588. - Deutsche Interlinearübertragung von Georg Lück. 24 Gyula Szekfü: A magyar jellem törtenetünkben (Der ungarische Charakter in unserer Geschichte) In: Mi a magyar? (Was ist der Ungar?) Budapest 1939, S. 517. - Der Historiker Gyula Szekfü gehörte zu den Hauptideologen der nach dem Weißen Terror von 1919 folgenden „Konsolidierungs"Epoche, die Ungarn wirtschaftliche und politische Stabilität brachte. Zui Wende der 30er und 40er Jahre erkannte er, daß die Verbindung mit Hitlerdeutschland Ungarn in die Vernichtung führen kann. Nach 1945 war Szekfü der erste ungarische Botschafter in Moskau. - Zu Mohäcs vgl. Text 44, Anmerkung 5. 25 1711 ergaben sich die von Ferenc Räköczi II. im Freiheitskampf geführten Kurutzen bei Majteny (Bezirk Szatmär). 26 1849 kapitulierten die ungarischen Honved-Truppen gemäß der Übereinkunft der Oberbefehlshaber der russischen zaristischen Armee und der HonvedArmee. Erstere war auf Ersuchen des österreichischen Kaisers in Ungarn einmarschiert. 27 Sändor Petöfi: Fol a szent häborüra! (Auf zum heiligen Krieg!) In: Sändor Petöfi: összes Költemenyei (Sämtliche Gedichte). Budapest 1974, S. 1149. Deutsche Interlinearübertragung von Georg Lück. 28 Sändor Petöfi: A nemzethez (An die Nation). Ebenda, S. 979. - Das Gedicht entstand im August 1848.

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Verzeichnis der in den Texten genannten ungarischen Persönlichkeiten

Abet, Adam ( 1 8 6 7 - 1 9 4 9 ) , sozialistischer Dichter und Übersetzer, der in den USA lebte Adorjän, Jänos (geb. 1900), Autor landwirtschaftlicher Fachtexte, Redakteur Ambrus, Zoltän ( 1 8 6 1 - 1 9 3 2 ) , Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker Apponyi, Graf Albert ( 1 8 4 6 - 1 9 3 3 ) , konservativer Politiker Arany, Jänos ( 1 8 1 7 - 1 8 8 2 ) , bedeutendster ungarischer Versepiker Babits, Mihäly ( 1 8 8 3 - 1 9 4 1 ) , namhafter Dicher, Übersetzer, Erzähler und Essayist Balogh, Edgar (geb. 1906), ungarischer Publizist in der Tschechoslowakei, später in Rumänien Barta, Lajos (1878-1964), Schriftsteller Barta, Sändor ( 1 8 9 7 - 1 9 3 8 ) , Schriftsteller, Redakteur Benedek, Marcell ( 1 8 8 5 - 1 9 6 9 ) , Schriftsteller, Ästhetiker, Übersetzer Beniczkyne Bajza, Lenke ( 1 8 3 9 - 1 9 0 5 ) , Schriftstellerin Beöthy, Zsolt ( 1 8 4 8 - 1 9 2 2 ) , konservativer Literaturhistoriker, Ästhetiker Berzsenyi, Daniel ( 1 7 7 6 - 1 8 3 6 ) , bedeutender Dichter Bethlen, Istvän ( 1 8 7 4 - 1 9 4 7 ) , reaktionärer Politiker, von 1921 bis 1931 Ministerpräsident Brödy, Sändor ( 1 8 6 3 - 1 9 2 4 ) , Schriftsteller, Dramatiker, Publizist Csizmadia, Sändor ( 1 8 7 1 - 1 9 2 1 ) , sozialdemokratischer Dichter, Journalist Dery, Tibor (1894-1977), Schriftsteller Döczi, Baron Lajos ( 1 8 4 5 - 1 9 1 9 ) , Journalist, Dichter, Übersetzer, Pressechef Dözsa, György (gest. 1514), Führer des Bauernkrieges von 1514. Ember, Ervin (geb. 1902), Dichter, Schriftsteller Eötvös, Baron Jözsef ( 1 8 1 3 - 1 8 7 1 ) , Dichter, Schriftsteller, fortschrittlicher Staatsmann Erdei, Ferenc (1910-1971), Agrarökonom, Soziologe Erdelyi, Jözsef ( 1 8 9 6 - 1 9 7 8 ) , Dichter Esze, Tamäs (1666-1708), Leibeigener, Anführer der Kurutzen Farkas, Antal ( 1 8 7 5 - 1 9 4 0 ) , sozialdemokratischer Journalist, Dichter, Schriftsteller Feja, Geza (1900-1978), Schriftsteller, Publizist; einer der Ideologen der „Volkstümler"

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Fejtö, Ferenc (geb. 1906), Kritiker, Journalist, Redakteur Forbáth, Imre (1898-1967), ungarischer Dichter in der Tschechoslowakei Forgács, Dezsó (1884-1929), Rechtsanwalt, sozialdemokratischer Politiker Fürst, Sándor (1903-1932), Sekretär der Kommunistischen Partei Ungarns Füst, Milán (1888-1967), Dichter, Schriftsteller, Ästhetiker Gábor, Andor (1884-1953), Schriftsteller Gárdonyi, Géza (1863-1922), Schriftsteller, Dichter Gömbös, Gyula (1886-1936), zwischen den beiden Weltkriegen tonangebender rechter Politiker, zwischen 1932 und 1936 zweimal Ministerpräsident Göndör Ferenc (1885-1934), Schriftsteller, Journalist, Redakteur Gratz, Gusztáv (1875-1946), Publizist; liberaler, später konservativer legitimistischer Politiker Görög, Frigyes (geb. 1890), Rechtsanwalt, Bankdirektor, Autor landwirtschaftlicher Texte Gyetvai, János (1889-1967), Journalist, Schriftsteller, Dichter Háy, Gyula (1900-1975), Dramatiker, Übersetzer Herczeg, Ferenc (1863-1954), Schriftsteller, Dramatiker Hevesi, Gyula (1890-1970), Chemieingenieur, Schriftsteller, Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Ungarns Ignotus (eigentl. Veigelsberg, Hugo) (1869-1949), Redakteur der Nyugat, Essayist, Dichter Ignotus Pài (1901-1978), Sohn Hugo Veigelsbergs, Publizist, Redakteur, Schriftsteller Jászi, Oszkár (1875-1957), Gesellschaftswissenschaftler, Begründer und Redakteur der Zeitschrift Huszadik Szdzad, bürgerlicher radikaler Politiker Jócsák, Kálmán (1876-1948), sozialdemokratischer Politiker Kabos, Ede (1864-1923), Novellist, Schriftsteller Kahána, Mózes (1897-1976), Romancier, Dichter Kaposi, Bálint (Pseud. für Gyula Illyés) (1902-1983) Károly, Graf Mihály (1875-1955), Politiker, einer der Führer der bürgerlichen Revolution von 1918 und Präsident der Republik Kégl, János (1873-1943), Rechtsanwalt, Grundbesitzer Kemény, Baron Zsigmond (1814-1875), hervorragender Romancier, Publizist, Politiker, Essayist Kémeri, Sándor (Pseud. für Bölöni Györgyn'e) (1882-1951), Schriftstellerin Kodolányi, János (1899-1969), Romancier Komját, Aladár (1891-1937), Dichter, Redakteur Korvin, Otto (1894-1919), Kommunistischer Politiker Kossuth, Lajos (1802-1894), Politiker, führende Gestalt des nationalen Unabhängigkeitskampfes 1848/49 Kovács, Imre (1913-1981), Schriftsteller, Publizist, Soziologe Kóbor, Tamas (1867-1942), Schriftsteller, bürgerlicher Publizist Kun, Béla (1886-1939), Arbeiterführer, Kämpfer der ungarischen und internationalen Arbeiterbewegung

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Länyi, Sarolta (1891-1975), Schriftstellerin, Übersetzer Lékai, Jänos (1869-1925), Journalist, Schriftsteller Lengyel, József (1896-1975), Schriftsteller Madaräsz, Emil (1884-1962), Dichter, Schriftsteller Matolcsay, Mätyäs (1905-1953), Journalist, rechter Abgeordneter Mikszäth, Kälmän (1847-1910), Schriftsteller, Novellist Molnär, Ferenc (1878-1952), Dramatiker Mónus, Illés (1888-1944), Journalist, Redakteur, sozialdemokratischer Politiker Móricz, Zsigmond (1879-1942), Prosaautor und bedeutendster kritischer Realist Nagy, Andor (1884-1943), Journalist, Schriftsteller Németh, Imre (1893-1970), Schriftsteller Németh, Làszló (1901-1975), Schriftsteller, Dramatiker, Essayist, Übersetzer Ney, Làszló (1900-1965), Maler Osvät, Ernö (1877-1929), Kritiker, Redakteur der Nyugat Petöfi, Sändor (1823-1849), größter ungarischer Dichter Ràkóczy, Imre (geb. 1890), Redakteur, Ministerialrat, Pressechef während der Horthy-Ära Räkosi, Jenö (1842-1929), Schriftsteller, konservativer Journalist und Politiker Remenyik, Zsigmond (1900-1962), Schriftsteller Révész, Béla (1876-1944), Schriftsteller, Journalist Sallai, Imre (1897-1932), Sekretär der Kommunistischen Partei Ungarns Simon, Andor (geb. 1901), Dichtcr Somló, Bódog (1873-1920), Jurist, Soziologe, einer der Begründer der Gesellschaft für Gesellschaftswissenschaften Stromfeld, Aurél (1878-1927), Befehlshaber zur Zeit der Ungarischen Räterepublik Szabolcska, Mihäly (1862-1930), Dichter Szabó, Dezsö (1879-1945), Schriftsteller, Publizist Cs. Szabó, Làszló (geb. 1905), Essayist, Übersetzer, Kritiker Szakasits, Arpàd (1889-1965), sozialdemokratischer Politiker, Publizist Szekfü, Gyula (1883-1955), Historiker, Publizist Szélpàl, Arpàd (geb. 1897), Dichter, Kritiker Szilägyi, Andräs (geb. 1904), ungarischer Schriftsteller in Rumänien Szomory, Dezsö (1869-1944), Schriftsteller, Journalist Szucsich, Mària (1886-1965), Schriftstellerin Tisza, Istvän (1861-1918), Politiker, zur Zeit des ersten Weltkrieges Ministerpräsident, von revoltierenden Soldaten hingerichtet Tomorkény, Istvän (1866-1917), Schriftsteller, Journalist Ujväri, Erzsébet (1899-1940), Schriftstellerin Vàgó, Béla (1881-1939), sozialistischer Politiker Varnai, Zseni (geb. 1890), Dichterin Väzsonyi, Vilmos (1868-1926), Rechtsanwalt, bürgerlich-liberaler Politiker Werböczy, Istvän (gest. 1541 oder 1542), Adliger, faßte das ungarische feudale Recht zusammen

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Veres, Peter (1897-1970), Schriftsteller, einer der Ideologen der „Volkstümler" Vörösmarty, Mihäly (1800-1855), Dichter, Dramatiker, bedeutender Vertreter der ungarischen Romantik Zalka, Mäte (1896-1937), Schriftsteller, General im spanischen Bürgerkrieg Zäpolya (eigentl. Szapolyai, Jänos) (1487-1540), reicher Großgrundbesitzer, der den von György Dözsa geführten Bauernaufstand 1514 niederschlug; seit 1526 ungarischer König Zilahy, Lajos (1861-1974), Schriftsteller, Redakteur, Publizist Zilzer, Gyula (geb. 1898), Maler, Grafiker Zsolt, Bela (1895-1949), bürgerlich-radikaler Journalist, Dichter, Schriftsteller

Verzeichnis der in den Texten genannten Zeitungen und Zeitschriften

Egység (Einheit). Wien - Berlin 1922-1924. Zeitschrift der ungarischen kommunistischen Emigrationsschriftsteller für Literatur. Redakteure: T. Sternberg, L. Heindl, E. Lehmann, Karl Köhler, Aladär Komjät, Béla Uitz. Ek (Keil). Wien 1923-1924. Sozialistische Zeitschrift für Literatur und Kultur. Redakteure: Franz Hard, Sändor Barta. Ihr Vorläufer war die Zeitschrift Akasztott ember (Der Gehenkte). Wien 1922-1923. Sie ging 1924 in der Zeitschrift Egység auf. Pàklya (Fackel). Budapest 1919. Politisches Tageblatt. Herausgegeben vom Volkskomissariat für Unterrichtswesen. Redakteur: Lajos Barta. Független Szemle (Unabhängige Rundschau). Budapest 1921-1923. Monatszeitschrift für Kultur. Redakteur: Ambro Czakó. Condolat (Gedanke). Budapest 1935-1937. Zeitschrift für Politik, Literatur und gesellschaftliches Leben ; legales Organ der Kommunistischen Partei in Ungarn. Redakteure: Lajos (Nagel) Nemes, Tibor Déry, György Vértes. Huszadik Szäzad (Zwanzigstes Jahrhundert). Budapest 1900-1919. Monatszeitschrift der Gesellschaft für Gesellschaftswissenschaft. Redakteure: Gusztàv Gratz (1900-1903), Jänos Kégl (1904), Bódog Somló (1905), Oszkär Jàszi, Ervin Szabó (1906-1919). Internationale. Budapest 1919. Theoretische und wissenschaftliche Zeitschrift der Kommunistischen Partei Ungarns; die erste kommunistische Zeitschrift in Ungarn. Redakteure: Gyula Hevesi, Aladär Komjät, Béla Kun, György Lukäcs, Làszló Rudas. Internationale Literatur. Moskau 1931-1945. Literarische Zeitschrift der Emigranten. Redakteure u. a. : Johannes R. Becher, Hugo Huppert, Sändor Barta, Willi Bredel, Andor Gäbor, György Lukäcs, Erich Weinert, Friedrich Wolf, Ludwig Renn und andere. Korunk (Unsere Zeit). Cluj-Kolozsvär 1926-1940. Zeitschrift für Gesellschaftswissenschaft und Literatur. Redakteure: Làszló Dienes, Gäbor Gaäl. Die Linkskurve. Berlin 1929-1932. Literarische Zeitschrift des „Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller Deutschlands". Redakteure: Johannes R. Becher, Andor Gäbor, nach dessen Ausscheiden Hans Marchwitza, Kurt Kläber, Erich Weinert, Ludwig Renn. MA (Heute). Budapest 1916-1919; Wien 1920-1926. Zeitschrift für Literatur

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und bildende Kunst. Redakteur: Lajos Kassäk. Ihr Vorläufer war die Zeitschrift A Tett (Die Tat/Aktion). Budapest 1915-1916. Magyar Nap (Ungarischer Tag). Moravska - Ostrawa 1936-1938. Ungarischsprachiges Tageblatt, das im Zeichen des Volksfrontgedankens in der Tschechoslowakei erschien. Redakteure: Kälmän Moskovics (Pseudonym: Miklós Kaiman), Endre Zsigmond (Pseudonym: Endre Nagel), Oszkär Betlen, Läszlö Ferencz. Munka (Arbeit). Budapest 1928-1939. Zeitschrift für Kunst und gesellschaftliches Leben. Redakteur: Lajos Kassàk. Népszava (Volksstimme). Budapest ab 1877. Politisches Nachrichtenblatt, seit 1905 Tageszeitung und von 1880 an Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei. Hyugat (Westen). Budapest 1908-1941. Zeitschrift für Literatur und Kritik. Redakteure: Ignotus, Endre Ady, Ernö Osvät, Miksa Fenyö, Mihäly Babits, Oszkär Gellért (bis 1929); Zsigmond Móricz, Mihäly Babits (1929-1933); Mihäly Babits, Oszkär Gellért (1933-1939) ; Mihäly Babits, Aladär Schöpfen, Gyula Illyés (1939-1941). Sarló és Kalapäcs (Sichel und Hammer). Moskau 1929-1937. Politische und literarische Zeitschrift der in der Sowjetunion lebenden ungarischen Emigranten. Redakteure: Pài Hajdu, Imre Révész, József Lengyel, Béla Vagò, Frigyes Krejcsi. Szép Szó (Schönes Wort). Budapest 1936-1939. Zeitschrift für Literatur und Kritik. Redakteure: Päl Ignotus, Attila József, Ferenc Fejtö; seit 1938 Zoltän Gäspär. Ujsäg (Journal). Budapest 1903-1925. Politisches Tageblatt, das nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik einen bürgerlich-liberalen Charakter trug. Uj Szó (Neues Wort). Bratislava 1929-1932. Zeitschrift für Literatur, Kunst und gesellschaftliches Leben. Redakteur: Lajos Barta. Vörös Lobogà (Rote Fahne). Budapest 1918-1919. Wochenblatt für Politik und Literatur. Redakteur: Zoltän Franyó. Vörös Ujsäg (Rote Zeitung). Budapest 1918-1919. Offizielles Organ der Kommunistischen Partei Ungarns, das seit Dezember 1918 zweimal und später dreimal in der Woche erschien und während der Zeit der Ungarischen Räterepublik als Tageblatt jeden Nachmittag herausgegeben wurde. Redakteure: Läszlö Rudas, Tibor Szamuely, Béla Vagò, Béla Kun, Jenö Läszlö, Käroly Jancsó.

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Biographische Erläuterungen zu den Autoren der Texte V O N P É T E R AGÂR.DI

Ady, Endre (1877-1919), Dichter und Publizist, einer der bedeutendsten Vertreter der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts stand er an der Spitze der modernen ungarischen Literatur im Kampf gegen Konservatismus, Provinzialismus und Nationalismus in Weltanschauung, Literaturpolitik und in der Öffentlichkeit. In seinen Gesellschaftsanschauungen entwickelte er sich vom bürgerlichen Radikalen zum Sympathisanten der sozialistischen Arbeiterbewegung und machte der Jugend dichterisch wie politisch die zunehmend revolutionäre ungarische Wirklichkeit bewußt. In seiner Dichtung werden Dilemma und Perspektiven des Ungarntums und der Menschheit des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht, sind die formalen Errungenschaften des westeuropäischen Symbolismus und dessen Methode der Bildschöpfung integriert. Sein lyrisches Weltbild entwickelte sich von einer ästhetisierenden Moderne allmählich in Richtung eines gedanklich hochwertigen, zeitgemäßen Realismus, in den sozialistische Erlebnisse ebenso Eingang fanden wie die Krisen der modernen Entfremdung. Zu Recht wird Ady als geistiger Vorläufer der Ungarischen Räterepublik betrachtet, die einige Wochen nach seinem Tode ausgerufen wurde. Baldzs, Béla (1884-1949), Dichter, Schriftsteller und Filmästhetiker. Angeregt auch durch die Musik Béla Bartóks, gelangte er von progressiv-bürgerlichen Ideen zunächst zur antiimperialistischen Einstellung und schließlich zur kommunistischen Weltanschauung. Zur Zeit der Ungarischen Räterepublik war er einer der führenden Kulturpolitiker. Die Jahre der Emigration verbrachte er in Wien, Berlin und Moskau ; in der Sowjetunion wirkte er u. a. als Professor an der Filmakademie. Bdlint, Cyörgy (1906-1943), Kritiker, Publizist und Schriftsteller; einer der bedeutendsten Vertreter der marxistischen Literaturkritik zwischen den beiden Weltkriegen. E r gelangte von radikalbürgerlichen Ansichten zu sozialistischen und antifaschistischen Ideen und hatte Kontakt zur illegalen KPU. Seine lebendige literarische und politische Publizistik sind in bezug auf Gedanklichkeit wie Genre beispielhaft. Seine Werke wurden zum Modell einer marxistischen Literaturkritik, die im Zei-

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chen der Volksfront allen Werten gegenüber aufgeschlossen sowie wissenschaftlich fundiert, aber dennoch allgemein verständlich und prinzipienfest ist. Während des Krieges wurde Bälint in einer Strafkompanie an die Front abkommandiert und dort umgebracht. Birö, Lajos (1880-1948), Schriftsteller, Publizist und einer der Mitbegründer der modernen Feuilletonnovelle. Als Freund Adys gehörte er zu den Vertretern der progressiven gesellschaftlichen und geistigen Bewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts. Seine kämpferische Publizistik spiegelt die liberal-bürgerliche und kleinbürgerlichdemokratische Ideenwelt wider; mit seinen Novellen und Theaterstücken hatte er großen Erfolg. Bresztovszky, Ernö (1882-1922), Schriftsteller, Kritiker, Journalist und Redakteur. Bedeutende Gestalt der sozialdemokratischen Intelligenz und Vorläufer der marxistischen Kritik. In den Diskussionen um Ady setzte er sich entschieden für den Dichter ein. Darvas, Jozsef (1912-1973), Schriftsteller, Publizist und Politiker. In den 30er Jahren gehörte er dem linken Flügel der an der Dorfforschung beteiligten „Volkstümler" an. Er wurde Marxist, nahm Verbindung zur illegalen K P U auf und beteiligte sich aktiv an den gesellschaftlichen und politischen Kämpfen. Nach der Befreiung bekleidete er wichtige staatliche und gesellschaftliche Funktionen und war jahrelang Vorsitzender des Ungarischen Schriftstellerverbandes. Seine Dramen und Romane repräsentieren den aus der „Volkstümler'-Literatur hervorgehenden Zweig einer zeitgemäßen sozialistisch-realistischen Literatur. Fabry, Zoltdn (1897-1970), ungarischer Schriftsteller, Kritiker, Publizist und Redakteur in der Tschechoslowakei. Führender Vertreter der marxistischen Literaturkritik zwischen den beiden Weltkriegen. In seiner Haltung von Ady stark beeinflußt, kam er vom Expressionismus über eine offen klassenkämpferische Periode, die nicht frei von sektiererischen Ansichten war, zu einer antifaschistisch orientierten, kommunistischen Volksfront-Plattform. Nach der Befreiung prägte er entscheidend das ungarische literarische Leben in der Tschechoslowakei. Gaäl, Gabor (1891-1954), Kritiker, Publizist und Pädagoge. Namhafter Vertreter der marxistischen Literaturkritik zwischen den beiden Weltkriegen. Früh schloß er sich der Arbeiterbewegung an und war seit 1918 Mitglied der KPU. Nach der Emigration siedelte er nach Cluj um und gab dort die bedeutendste ungarische marxistische Zeitschrift Korunk heraus. Seine Schriften sind im Geist der Volksfront und des Antinationalismus verfaßt und zeichnen sich durch prinzipielle Entschiedenheit und literarische Sensibilität aus. Nach der Befreiung wurde er eine der führenden Gestalten des ungarischen geistigen Lebens in Rumänien.

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Gcrgely, Sàtidor ( 1 8 9 6 - 1 9 6 6 ) , Schriftsteller und einer der ersten Repräsentanten der ungarischen kommunistischen Prosaliteratur. Nach dem Sturz der Ungarischen Räterepublik wurde er Kommunist, trat der illegalen Partei bei und übernahm wichtige kulturpolitische Aufgaben. Nach 1931 emigrierte er in die Sowjetunion und wurde aktiver Kämpfer der dortigen ungarischen Schriftstellergruppe. Nach der Befreiung war er jahrelang Vorsitzender des Ungarischen Schriftstellerverbandes. lllés, Béla (1895-1974), Schriftsteller, bedeutender Repräsentant der ungarischen sozialistischen Prosa. Seit 1923 lebte er in der Sowjetunion und hatte ab 1930 die Funktion des Generalsekretärs der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller inne. Sein Roman über die Ungarische Räterepublik, „Brennende Theiß", ist in vielen Sprachen erschienen und gehörte zu den vielgelesenen Büchern in der Arbeiterbewegung. Mit seinem bedeutendsten Werk, der „Karpaten-Rhapsodie", bereicherte und erneuerte er die ungarischen romantisch-anekdotischen Prosatraditionen mit sozialistischen Ideen; in beiden Romanen setzte lllés den Kämpfen der ungarischen Kommunisten ein Denkmal. lllyés, Gyula ( 1 9 0 2 - 1 9 8 3 ) , Dichter und Schriftsteller, herausragender Vertreter der ungarischen Literatur im 20. Jahrhundert. Auf Grund seiner Zusammenarbeit mit der illegalen kommunistischen Bewegung mußte er Anfang der 20er Jahre emigrieren und publizierte unter den Pseudonymen Anna Csabay und Bälint Kaposi. E r ging über Wien und Berlin nach Paris, von wo er 1926 nach Ungarn zurückkehrte. Hier wirkte er als einer der geistigen Wegbereiter und Organisatoren der in der „Volkstümler"-Bewegung und in der mit den Kommunisten zusammenwirkenden „Märciusi Front" (März-Front) gruppierten linken Kräfte. Nach surrealistischen Anfängen wurde lllyés zunehmend zum Vertreter der plebejisch-realistischen Dichtung in Ungarn. Seine wichtigsten Werke gehören (trotz politisch-ideologischer Diskussionen, die von Seiten der Kommunisten mit dem Autor geführt wurden) zum Anziehungsbereich der sozialistischen Literatur. Auch seine aufrüttelnden Dramen, Übersetzungen und Essays zählen zu den großen Leistungen der heutigen ungarischen Kultur. In seinem Weltbild und zentralen Interesse kommt der nationalen Frage große Bedeutung zu. József,

Attila

( 1 9 0 5 - 1 9 3 7 ) , Dichter, Ästhetiker und Kritiker; bedeutendster Repräsentant der ungarischen sozialistisch-realistischen Literatur. Neben Ady in der ungarischen Lyrik des 20. Jahrhunderts eine Dichterpersönlichkeit von weltliterarischem Rang. Für seinen Lebenslauf waren in besonderer Weise seine proletarische Herkunft, die außerordentlich schwierigen Lebensumstände, ein zunehmend sozialistischkommunistisches Bewußtsein sowie Einsamkeit und Krankheit bestimmend; insbesondere letztere motivierten seinen Selbstmord. In seiner Lyrik sind die cha-

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rakteristischsten ungarischen revolutionären dichterischen Traditionen mit den Errungenschaften der Avantgarde und der volkstümlichen Lyrik zu einer völlig neuen Synthese sozialistischer Gedankenlyrik verschmolzen. Faschismus, die sich zusehends verschlimmernde Krankheit sowie die auf Grund einer sektiererischen Politik betriebene Isolierung des Dichters von der illegalen kommunistischen Partei ließen ihn tiefste menschliche Höllenqualen durchleiden. Durch diese gleichsam authentischer geworden, gelangte seine Lyrik über die Disharmonie zur Harmonie, brachte sie in den philosophischen, patriotisch-internationalistischen w i e in den „Liebesthemen" gleichermaßen Bedeutendes hervor. Seine philosophischen und ästhetischen Schriften weisen in der Entwicklung der marxistischen Ideologie der 30er Jahre eine bemerkenswerte Reife und starke Empfänglichkeit für die Epochenproblematik auf. Kassak, Lajos ( 1 8 8 7 - 1 9 6 7 ) , Dichter, Schriftsteller und Publizist; eine der markantesten Persönlichkeiten der ungarischen sozialistischen Literatur. Zur Zeit des ersten Weltkrieges wurde er durch seine antimilitaristischen Gedichte und publizistischen Schriften bekannt und gab in Anlehnung an die Bestrebungen der europäischen avantgardistischen Bewegungen Zeitschriften sozialistischer Prägung heraus. In mehreren Fragen kam es zu heftigen Diskussionen zwischen ihm und der kommunistischen Bewegung, doch die Grundtendenz seines Lebenswerkes, insbesondere seiner Lyrik und Romane ist offenkundig sozialistisch. Seine aktivistische, dadaistische, konstruktivistische und surrealistische Lyrik, die später zur klassizistischen Formenwelt tendierte, ist von hohem schöpferischem W e r t und nicht zuletzt angesichts ihrer enormen Wirkung bedeutsam. Kosztolänyi, Dezsö ( 1 8 8 5 - 1 9 3 6 ) , Dichter, Schriftsteller und bedeutender Vertreter der ungarischen bürgerlich-humanistischen Dichtung und Prosa im 20. Jahrhundert. Seine Laufbahn war nicht frei von Widersprüchen, einschließlich politisch-weltanschaulicher Irrtümer. Dennoch führte seine künstlerische Entwicklung verhältnismäßig geradlinig von der frühen l'art pour l'art zum realistischen Gesellschaftsroman und zu einer lyrischen Entfaltung, die vom humanistischen Erlebnis persönlicher und allgemeiner Probleme zeugt. Kunfi, Zsigmond. ( 1 8 7 9 - 1 9 2 9 ) , Politiker, Publizist und Pädagoge. Er gehörte zur zentristischen Führung der Sozialdemokratischen Partei Ungarns und war Herausgeber der Zeitschrift Szocializmus. Während der Ungarischen Räterepublik w a r er eine Zeitlang Volkskommissar für Unterrichtswesen; später wandte er sich gegen die Kommunisten. Nach der Niederlage der Räterepublik ging er in die Emigration. In W i e n w a r er Herausgeber der Zeitschrift Vilägossdg (Klarheit) und führender Vertreter jener Emigranten, die ihren Platz zwischen der II. und III. Internationale suchten. Im Jahre 1929 ging er in den Freitod.

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Lukdcs, György (1885-1971), Philosoph, Ästhetiker und Literaturkritiker; einer der bedeutendsten ungarischen Repräsentanten der marxistischen Ideologie und internationalen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert. Seine weltanschauliche Entwicklung führte ihn von verschiedenen idealististischen Philosophien durch sein Engagement für die linke Ethik und die kommunistische Bewegung zum reifen Marxismus. Seit 1919 bis zu seinem Tode war Lukâcs Kämpfer der kommunistischen Bewegung ; seine politische Tätigkeit geriet auf Grund von Auseinandersetzungen mit der sektiererischen Parteiführung Ende der 20ej Jahre zeitweilig in den Hintergrund. Auf den Gebieten der Philosophie, Ästhetik und Literaturkritik schuf er herausragende Werke. Im Geiste von Marx, Engels und Lenin trug er zur Erarbeitung (der bei weitem nicht abgeschlossenen) wissenschaftlichen Grundlage und zum Kategoriensystem der marxistischen Ästhetik wesentlich mit bei. Überdies ist sein Name mit dem Komplex Theorie des Realismus und dessen Konkretisierung anhand einer ganzen Reihe literaturgeschichtlicher Abhandlungen verbunden. Seine Schriften zur ungarischen Literatur bilden neben den Arbeiten von József Rêvai die wichtigsten Grundlagen der ungarischen marxistischen Literaturgeschichtsschreibung. Gegen Ende seines Lebens arbeitete er an einer großangelegten marxistischen Gesellschaftsontologie. Mdcza, Jdnos (1893-1974), Ästhetiker und Schriftsteller. Seine Laufbahn begann in der ungarischen linken Avantgarde-Bewegung; seit 1920 war er Mitglied der Kommunistischen Partei. Ab 1923 betätigte er sich wissenschaftlich, unterrichtete in Moskau an der Lomonossow-Universität, wo er seit 1930 eine Professur inne hatte. E r beschäftigte sich vor allem mit Kunstgeschichte, mit Dramen- und allgemeiner Ästhetik. Nagy, Lajos (1883-1954), Schriftsteller, Publizist und bedeutender Vertreter der ungarischen sozialistischen Prosa. Seine frühen Werke sind durch eine plebejisch-demokratische Gesellschaftskritik gekennzeichnet. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre kam er der illegalen Kommunistischen Partei sehr nahe und schuf in seinen ausgezeichneten Novellen eine eigene expressive, filmähnliche-literarische Methode zur Schilderung sozialistischer Ideen. Seine skeptisch-ironische Betrachtungsweise und sein Engagement für die Linke kommen auch in seinen Romanen und Satiren zum Ausdruck. M. Pogdny, Béla (1896-1962), Schriftsteller und Kritiker; Mitarbeiter der Zeitschriften Nyugat; Szâzadunk; Gondolât. E r lebte von 1923 bis 1927 in Paris und emigrierte im Jahre 1938 in die USA. Im Ausland beteiligte er sich aktiv an der Popularisierung der ungarischen Literatur und war Mitarbeiter der dortigen Presse der Ar-

448

beiterbewegung. la seinen Romanen schildert er auf abwechslungsreiche und realistische Weise die Verworrenheit des Lebens der Nachkriegsjahre sowie der nach Paris emigrierten Ungarn.

Pogâny, Jôzsef ( 1 8 8 6 - 1 9 3 9 ) , Journalist, Lehrer, sozialistischer und später kommunistischer Politiker. Während der Zeit der Ungarischen Räterepublik 1919 war er Volkskommissar verschiedener Bereiche. Als Emigrant lebte er in mehreren Ländern und arbeitete auch in der Komintern; 1929 ließ er sich endgültig in der Sowjetunion nieder.

Radnöti, Miklös ( 1 9 0 9 - 1 9 4 4 ) , Dichter und Kritiker, eine der hervorragendsten Gestalten der sozialistischen antifaschistischen Lyrik zwischen den beiden Weltkriegen. In den 30er Jahren war er in der linken Bewegung der Szegeder Studenten tätig und näherte sich immer mehr den sozialistisch-kommunistischen Ideen. Seine Lyrik belegt eine Entwicklung von der pantheistischen Bukolik zur großen antifaschistisch-humanistischen patriotischen Dichtung, nicht zuletzt angeregt durch die Erlebnisse der Kriegsjahre und des Lagers in Bor (Jugoslawien). E r wurde von den Faschisten erschossen.

Rêvai, Jôzsef ( 1 8 9 8 - 1 9 5 9 ) , Politiker, Ideologe, Historiker und Literaturhistoriker; bedeutende Persönlichkeit der ungarischen kommunistischen Bewegung und der marxistischen Gesellschaftswissenschaften. In seinen Artikeln, Studien und Essays analysierte er grundlegende Fragen der ungarischen Geschichte und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Ziel, die kommunistische Politik und Ideologie historisch zu untermauern. Seine Ansichten sind auf Grund neuerer Forschungen zum Teil bereits überholt, doch bei der Begründung der ungarischen marxistischen Geschichtsschreibung und Literaturwissenschaft spielte er eine bedeutende Rolle und ein beträchtlicher Teil seiner Analysen ist bis heute gültig. Nach der Befreiung Ungarns 1945 war Rêvai in der Parteiführung für Fragen der Ideologie und Kultur mit verantwortlich.

Réz, Andor ( 1 8 9 8 - 1 9 4 0 ? ) , Journalist und Schriftsteller; vor dem Weißen Terror Horthys floh er in die Emigration. In ungarischen und internationalen sozialistischen und kommunistischen Zeitschriften veröffentlichte er bedeutende Artikel und Abhandlungen über Kulturpolitik, Publizistik, Literatur- und Filmästhetik. Seit der deutschen Besetzung Frankreichs ist er verschollen.

Szabö, Ervtn ( 1 8 7 7 - 1 9 1 8 ) , hervorragende Persönlichkeit der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung und erster ungarischer Marxist mit wissenschaftlichem Anspruch. Begründer des modernen ungarischen Bibliothekswesens. E r war ein konsequent 29

Befunde

449

kämpferischer Führer der linken Opposition in der Sozialdemokratischen Partei Ungarns und trug durch die Herausgabe der Werke von Marx und Engels zur Verbreitung und Festigung des wissenschaftlichen Marxismus bei. E r erzog eine ganze Generation von Intellektuellen, die später zu Kommunisten wurden, gelangte selbst jedoch nicht zum Leninismus, sondern blieb theoretisch ein Anhänger des Anarcho-Syndikalismus. Während des ersten Weltkrieges war er der geistige Führer der illegalen antimilitaristischen Bewegung. Uitz, Béla (1886-1971), Maler und einer der bedeutendsten Repräsentanten der sozialistischen bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Er war der typischste Vertreter der jungen aktivistischen Generation der Jahre um 1910, nahm an der Arbeiterbewegung und aktiv an der Ungarischen Räterepublik teil. In der Emigration gehörte er verschiedenen revolutionären kommunistischen Schriftsteller- und Künstlergruppen an, wirkte seit 1926 in der Sowjetunion und fungierte fünf Jahre als Sekretär des Internationalen Büros Revolutionärer Maler. Sein Stil erfuhr eine bedeutsame Wandlung; die kubistisch-expressionistische Periode wurde später durch eine klassizistische Gestaltungsweise abgelöst, die auf die Traditionen der Renaissance zurückging.

Personenregister

Abet, Àdâm 230 Adorjân, Jânos 256 Ady, Endre 16 18 19 20 35 39 51 55 56 81 82 91 92 99 101 103 104 127 149 176 231-232 278 342 356 357 369 370 373 382-384 391 396 397 398 399 409 436 437 Agàrdi, Ferenc 51 Ambrus, Zoltân 92 399 Andersen, Hans Christian 125 Anderson, Sherwood 413 Andrâssy, Gyula d. J. 348 432 Andrejew, L. N. 415 Apponyi, Albert 86 Aragon, Louis 50 292 300 416 428 Arany, Jânos 344 383 Arndt, Ernst Moritz 242 Babits, Mihâly 21 92 278 345 400 436 Bahr, Hermann 324 Bainville, Jacques 428 Balâzs, Béla 25 27 143 387 402 403 Bâlint, Gyôrgy 54 55 350 Balogh, Edgar 279 431 Balzac, Honoré de 250 311 325 332 373 Barbusse, Henri 141 201 257 302 413 419 423 429 Barrés, Maurice 296 428 Barta, Lajos (Ludwig) 25 219 2»

399

401

322 259

236

Barta, Sândor (Alexander) 2 6 - 2 7 32 38 39 180 195 219 222 234 239 405 412 416 Barthel, Max 24 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 211 415 Becher, Johannes R. 45 241 259 328 406 423 425 Beethoven, Ludwig van 120-123 202 401 Benedefc, Marcell 296 428 Beniczkyné Bajza, Lenke 77 85 396 Benjamin, Lâszlo 435 Benn, Gottfried 316-317 318 320 Beöthy, Zsolt 86 277 Béranger, Pierre-Jean de 98 Berend Groâ, lise 406 Berény, Robert 390 Bernstein, Eduard 326 Berzsenyi, Daniel 383 Bespalow, I. M. 256 421 Bethlen, Istvân 348 432 Birô, Kâroly (d. i. Andor Réz-Rosinger) 417 422 Birô, Lajos 21 22 45 91 92 396 397 399 425 Bismarck, Otto Eduard Leopold von 371 Bloch, Ernst 305-306 309-311 316 bis 322 324 328 330 332 429 Blok, A. A. 264 Bogdanow, A. A. 203 408 413 Bortnyik, Sândor 390 405

451

Braun, Róbert 340 Brecht, Bertold 423 Bredel, Willi 46 Bresztovszky, Ernö 19 20 398 399 400 Breton, André 416 428 Breuer, Marcel 390 Brezina, Ottokar 148 Brjussow, W. J. 264 Bródy, Sándor 90 357 398 434 Buber, Martin 278 Bucharin, N. I. 160 182 Cellini, Benvenuto 66 395 Cervantes Saavedra, Miguel de 303 332 Chamberlain, Neville 436 Claudel, Paul 278 Comte, Auguste Isidore François Marie 293 Conradi, Hermann 69 Croce, Benedetto 52 Cromwell, Oliver 372 Császár, Elemér 412 Csizmadia, Sándor 19 81 82 175 bis 176 230 232 397 398 Cuvier, Georges 331 Czobel, Béla 390 Daladier, Edourad 436 Dante Alighieri 66 295 Darvas, József 56 393 433 Däubler, Theodor 278 Daudet, Léon 428 David, Jacques Louis 185 411 Deák, Miksa 84-85 Dehmel, Richard 97 175 Dekobra, Maurice 413 Derkovits, Jenö 39 Déry, Tibor 40 50 215-217 415 416 Descartes, René 295 Dickens, Charles 97 104 311 373 Diener, József Dénes 396

452

Dienes, László 30 40 Dimitroff, Georgi 279 303 Dóczy, Lajos 86 372 397 435 Dostojewski, F. M. 36 79 247 Dózsa, György 348 382 384 431 437 Dreiser, Theodore 258 413 423 Dreyfus, Alfred 293 296 Ducsynska, Ilona 418 Dumas, Alexandre d. J. 210 414 Eisenstein, S. 412 427 Eisler, Hanns 330 332 Eluard, Paul 416 428 Ember, Ervin 239 Engels, Friedrich 23 242 248 249 250 252 397 Eötvös, József 230 355 433 Erdei, Ferenc 51 56 378 393 433 Erdélyi, József 267 424-425 Ernst, Otto 69 Esze, Tamás 382 384 437 Fábry, Zoltán 40 44 51 420 426 427 431 Fadejew, A. A. 259 Farkas, Antal 239 401 Féja, Géza 338-339 343-344 355 393 430 431 433 Fejtó, Ferenc 51 356 381 428 Fenyó, László 390 Fichte, Johann Gottlieb 325 Flaubert, Gustave 295 300 Foldeák, János 435 Fontane, Theodor 325 329 Forbáth, Imre 196 Forgács, Dezsó 83 France, Anatole 79 104 329 397 Freiligrath, Ferdinand 24 175 230 242-243 251 389 Freud, Sigmund 415 Fritsche, W. M. 38 411 Fürst, Sándor 267 425 426 Füst, Milán 278

G.

J. (vermutlich József Greiner) 106 408 Gaäl, Gäbor 40 52 415 Gibor, Andor 55 219 235 402 417 419 421 423 425 Garai, Armin 84 Garami, Ernö 19 397 Gârdonyi, Géza 373 Gautier, Théophile 295 428 George, Stefan 277 Gergely, Sândor 51 237 239 Gide, André 302 356 429 Giotto di Bondone 202 413 Glaeser, Ernst 258 419 Goethe, Johann Wolfgang 71 96 133-134 143 247 317-318 Gogol, N. W. 348 Gold, Michael 413 Göll, Iwan 147 148 Gömbös, Gyula 348 378 393 424 432 436 Göndör, Ferenc 23 24 145 150 403 404 Gorki, Maxim 69 104 138 201 203 204 247 305 322 324 329 332 397 413 415 423 425 429 Görög, Frigyes 356 434 Graf, Oskar Maria 258 Greiner, József 408 Grimm, Wilhelm und Jakob 125 Grimmelshausen, Hans Jakob Cristoffel von 332 Gronski, I. M. 262 271 423 Grosz, George 41 Guilbeaux, Henri 141 147 148 Gundolf, Friedrich 277 Gyagyovszky, Emil 19 Gyetvai, Jânos 36 235 György, Mâtyâs 400 405 Habsburg, Josef August von Hamburger, Jenö 419 Hangoss, Istv&n 196 Hasek, Jaroslav 419

Hast, Julius 69 Hauptmann, Gerhart 315 397 415 Hauser, Arnold 387 Häy, Gyula 238 Haynau, Julius Jakob von 383 437 Hebbel, Christian Friedrich 247 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 233 246 250 313 320-321 Heine, Heinrich 16 69 72 230 242 Henkell, Karl 69 Herczeg, Ferenc 86-87 92 372 398 399 435 Herwegh, Georg 175 230 242 bis 243 252 Hevesi, Gyula 179 400 Heyermans, Herman 104 Hidas, Antal 35 196 222 235 236 239 408 416 419 426 Hilferding, Rudolf 326 Hitler, Adolf 375 380 381 385 436 Hodler, Ferdinand 278 Holbein, Hans 278 Hölderlin, Friedrich 216 Holz, Arno 68 69 395 Hood, Thomas 395 Horthy, Miklós 28 40 57 370 378 417 424 425 427 431 435

145 404

Ibsen, Henrik 71-80 396 Ignac von Loyola 196 412 Ignotus (d. i. Hugo Veigelsberg) 91 373 378 433 435 436 Ignotus, Päl 354 356 428 433 Dlés, Béla 36 42 43 47 55 196 222 235 239 254 351 416 419 421 426 Illyés, Gyula 36 51 238 338-339 344-345 347-353 393 412 425 430 431 433 Istrati, Panait 258 422 ìwanow, W. W. 261 Jasienski, Bruno 419 Jaszi, Oszkär 18 418

453

Jócsàk, Kàlmàn 81-82 Johnson, Eyvind 230 Joyce, James 297 309-311 318 320 332 József, Attila 15 16 42 44 50 52 bis 53 54 55 56 239 358-360 365 366 369 394 414 420 425 428 434 435 Juhàsz, Gyula 25 397 Kabos, Ede 90 398 Kafka, Franz 278 Kahàna, Mózes 32 34 196 234 235 239 405 Kàllai, E m o 390 Kant, Immanuel 73 245 246 248 296 400 Kaposi, Bàlint (d. i. Gyula Ulyés) 196 Karinthy, Frigyes 399 Kàrolyi, Mihàly 146 178 404 410 Kassàk, Lajos 15 20 21 23-25 30 bis 34 40 41-43 177 205-209 213-215 216 234 239 267 277 375 387 390 397 400 402 403 404 405 408 409 410 411 412 413 414 415 418 420 425 435 436 Katona, József 230 Kautsky, Karl 14 140 326 Kelen, Jolàn 418 Keller, Gottfried 332 Kemény, Zsigmond 383 437 Kémeri, Sändor (d. i. Bölöni Györgyné) 236 Képes, György 390 Kernstock, Kàroly 390 Kersten, Kurt 413 Kiss, Lajos 222 239 Kleist, Heinrich von 247 Kóbor, Tamàs 90 373 Kodolänyi, Jànos 238 393 Kölcsey, Ferenc 55 Kollwitz, Käthe 24 41 389

Komjät, Aladär 21 30 32 36 37 45 178 179 180 195 233 234 235 239 400 405 408 409 412 417 422 425 Korvin, Otto

160 410 418

Kossuth, Lajos

355 433

Kosztolànyi, Dezsö

26-27

53 358

376 395 397 399 434 436 Koväcs, Imre Kun, Béla

378 393 433 22 2 3 - 2 5 43

144-150

233 388 403 409 410 Kunfi, Zsigmond 19 21 23 233 401 403 Lafargue, Paul 322 Länyi, Sarolta (Charlotte) 219 Lask, Berta 406 Làszló, Gyula 435 Latinka, Sändor 419 Lékai, Jänos (Johann) 235 405 Lelewitsch, L. G. 255 421 Lengyel, József 178 400 405 Lenin, W. I. 14 35 36 49 138 160 207 224 227 232 234 252 263 308-309 315 326 348 388 403 406 407 408

454

406

149 249 331 413

423 Leo X., Papst 75 396 Leonardo da Vinci 78 396 Leonhard, Rudolf 316 320-321 I.conow, L. M. 261 l.essing, Theodor 279 I.ibedinski, J. N. 259 L'chnowsky, Mechthilde 280 l.iebknecht, Karl 147 Lifschitz, M. A. 393 I cuis-Philippe 322 Lukäcs, György (Georg) 15 18 21 22-25 32 33 38 43 4 5 - 5 0 53 54 55 56 233 283 287 298 306 387 388 391 392 393 401 402 403 410 411 416 417 418 420 423 425 435 436

Lunatscharski, A. W. 25 149 203 413 421 Luxemburg, Rosa 147 160

36

38

Macza, Jdnos 32 35 38-39 142 180 196 219 234 403 405 406 408 411 Madarasz, Emil 222 230 231 235 239 416 Magyar, Lajos 22 Majakowski, W. W. 25 256 264 328 Mann, Heinrich 305 313 322 332 334 423 Mann, Thomas 305 309 311 313 329 330 332 333 334 Mannheim, Karl 387 Marx, Karl 24 49 79 94 101 125 160 174 228 241 246 248 250 251 252 281 288 306-307 313 bis 314 321 322 331 356 411 Matheika, Jänos 44 222 416 426 Matolcsy, Mätyäs 356 433 Mattis-Teutsch, Jänos 405 Maupassant, Guy de 84 Maurras, Charles 428 Mehring, Franz 33 149 243 245 247-248 250 251 420 Mikszäth, Kalmdn 86 230 397 Moholy-Nagy, Ldszlo 390 Molndr, Farkas 390 Molndr, Ferenc 91 92 210-212 399 414 415 Monus, 1116s 51 394 Mönus, Jözsef 230 Möricz, Zsigmond 21 25 91 230 267 345 348 383 390 425 431 436 437 Morris, William 397 Mozart, Wolfgang Amadeus 126 Müller, Adam 314 Mussolini, Benito 355 436 Nadass, Jözsef 415 Nagy, Andor 236

Nagy, Istvan 56 Nagy, Lajos 402 414 415 Nagy, Sandor 395 Napoleon III., Louis Bonaparte 322 Negri, Ada 69 396 Nemes-Nagel, Lajos 53 Németh, Imre 357 434 Németh, Ldszló 381 393 Neumann, Stanislav Kostka 408 Newerow, A. S. (d. i. A. S. Skobeljew) 238 Nexö, Martin Andersen 258 423 Ney, Laszló 196 Nietzsche, Friedrich 36 320 340 Noske, Gustav 326 327 407 Ognjow, Nikolai (d. i. M. G. Rozanow) 261 Ohnet, Georges 77 Ortutay, Gyula 393 Osvât, Ernô 209 403 414 Ottwalt, Ernst 46 Panfjorow, F. I. 259 302 429 Pannwitz, Rudolf 278 Pap, Gyula 390 Pascal, Biaise 295 Pdzmdny, Péter 93 Péguy, Charles 278 Perewersew, W. F. 261 421 422 Petôfi, Sândor 56 87 88 90 98 104 175 230 285 342 344 357 369 370 382-384 385-386 417 Pfemfert, Franz 141 147 Picard, Jacob 305 Pintér, Jenô 412 Pinthus, Kurt 305 427 Piscator, Erwin 211 415 Plechanow, G. W . 7 2 - 8 0 300 411

101 359 427

396

Fogany, Béla (oder Béla M. Pogdny) 50 428 429 Pogany, József 20 Por, Bertalan 390

455

Poulaílle, Henri 413 Proudhon, Pierre Joseph Proust, Marcel 297 Pudowkin, W. I. 427

185 411

Raabe, Wilhelm 371 435 Radek, Karl 147 404 Radnóti, Miklós 15 50 54 55 427 Rákóczi II., Ferenc 385 437 Rákóczy, Imre 354 433 Rákosi, Jenô 86 88 372 397 398 435 Reinhardt, Max 129 402 Remenyik, Zsigmond 338-339 344 Remisow, A. M. 148 404 Rémy, Tristan 413 Renan, Ernest 293 Renn, Ludwig 279 427 Rêvai, József 54 55 178 387 394 400 402 405 434 Révész, Béla 21 84 91 149 176 397 404 Réz-Rosinger, Andor 37 180 234 409 410 417 422 Richter, Trade 241 Rictus, Jehan (d. i. Gabriel Randon de Saint-Amant) 69 Robespierre, Maximilien-Marie-Isidore de 372 Rodow, S. A. 255 421 Rolland, Romain 141 149 258 305 313 329 330 423 430 Rosenfeld, Morris 69 Rousseau, Jean-Jacques 369 Rubiner, Ludwig 147 Rudas, László 410 Saliai, Imre 267 425 426 Sándor, Pài 51 Sarcey de Sutières, François 414 Schiller, Franz 393 Schiller, Friedrich 69 98 122 245 247 330 Scholochow, M. A. 259 Schopenhauer, Arthur 207 320

Schöpflin, Aladdr 27 Schüller, Hermann 415 Schulz, Richard 407 Seghers, Anna 423 Seifuliina, L. N. 261 Serafimowitsch (d. i. Alexander Serafimowitsch Popow) 259 Seregely, Istvdn 397 Serge, Victor 413 Scrvaes, Albert 278 426 Shakespeare, William 71 79 126 133 bis 134 143 332 415 Shaw, George Bernard 79 104 207 258 Shelley, Percy Bysshe 230 Simon, Andor 239 Sinclair, Upton 104 201 413 Sinkö, Ervin 405 411 Sophokles 212 Stalin, J. W. 348 429 Steinmetz, Sebald Rudolf 338 340 Stendhal (d. i. Henri Beyle) 301 Stirner, Max (d. i. Kaspar Schmidt) 36 Strindberg, (Johan) August 186 278 Stromfeld, Aurel 209 414 Szabö, Dezsö 177 266 376 409 435 Szabö, Ervin 17 20 33 98-103 395 399 400 418 Cs. Szabö, Läszlö 380 Szabö, Lörinc 390 Szabö, Päl 393 Szabö, Zoltdn 433 Szabolcska, Mihäly 96 376 399 436 Szakasits (Szakasics), Arpdd 239 Szechenyi, Zsigmond 342 Szekfü, Gyula 385 437 Szelpäl, Ärpäd 239 Szilägyi, Andräs 196 237 Szomory, Dezsö 92 278 399 Szucsich (Szusics), Maria 219 236 Taine, 396

456

Hippolyte-Adolphe

78

293

Tamäs, Aladär 41 390 419 Tamäsi, Aron 393 Täncsics, Mihäly 230 418 Tarassow-Rodionow, A. I. 420 Theresia von Jesus (d. i. Maria Franziska Therese Martin) 196 412 Tihanyi, Lajos 390 Tisza, Istvän 92 348 432 Tizian (d. i. Tiziano Vecellino) 66 Toennies, Ferdinand 338 Toller, Ernst 415 Tolnay, Karl 387 Tolstoi, L. N. 250 311 332 Tomorkény, Istvän 357 434 Tóth, Arpäd 22 25 Trakl, Georg 216 217 278 Trotzki, L. D. 138 203 248 264 403 409 413 422 Tschernyschewski, N. G. Turgenjew, I. S. 138 Tzara, Tristan 416

397

Uitz, Béla 26 32 38 180 196 402 405 408 416 Ujvàri, Erzsi (Elisabeth) 38 196 219 405 Vaäd, Ferenc 435 Vagò, Béla 83 84 Vàrnai, Zseni 98 175-176 239 Vas, Istvän 415 Vàzsonyi, Vilmos 106 400

Veres, Péter 3 3 8 - 3 3 9 344 350 355 356 393 430 Verhaeren, Emile 97 Vertes, Gyôrgy 53 Villon, François 79 Vivanti, Annie 69 396 Vogeler, Heinrich 317 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 369 Vôrôsmarty, Mihâly 342 383 431 437 Wassermann, Jakob 305 Wassiltschenko, S, W. 421 Weiskopf, Franz Cari 406 Werbôczy, Istvàn 347 431 432 Werfel, Franz 277 Whitman, Walt 186 Wittfogel, Karl August 423 425 Woronski, A. K. 264 409 423 Zalka, Maté 222 239 416 419 426 Zâpolya (d. i. Jânos Szapolyai) 347 431 432 Zelk, Zoltân 415 Ziegler, Bernhard 328 Zilahy, Lajos 266 424 Zille, Heinrich 41 Zilzer, Gyula 196 Zola, Emile 79 84 97 104 204 295 345 397 Zrinyi, Miklôs 369 Zsolt, Béla 267 356 425 Zweig, Arnold 323