Schiller-Debatte 1905: Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie [Reprint 2021 ed.] 9783112545324, 9783112545317


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German Pages 316 [315] Year 1989

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Schiller-Debatte 1905: Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie [Reprint 2021 ed.]
 9783112545324, 9783112545317

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Schiller-Debatte 1

9°5

TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN DEUTSCHLAND Begründet von BRUNO KAISER und weitergeführt von URSULA MÜNCHOW Herausgegeben

vom

Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Band XXVI (Theorie)

Schiller-Debatte 1905 Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie

Herausgegeben und eingeleitet von GISELA JONAS

Akademie-Verlag Berlin 1988

Wissenschaftlich-technische Arbeiten und Personenregister: Gerda Paff

Der Abdruck der Texte von John Schikowski und Friedrich Stampfer aus der im Jahre 1905 erschienenen Festschrift „Schiller" erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages J . H. W. Dietz Nachf. GmbH Berlin/Bonn.

I S B N 3-05-000419-3 I S S N 0081-3257 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Straße 3—4, DDR - 1086 Berlin © Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202- 100/107/88 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", Gräfenhainichen, 4450 • 6995 Lektor: Jutta Kolesnyk L S V 8025 Bestellnummer: 7546107 (2119/XXVI) 02200

INHALT

EINLEITUNG TEXTE

VII 1

I. [Franz Mehring]: Schiller und die Gegenwart Max Maurenbrecher: W a s ist uns Schiller? [Franz Mehring]: Schiller und die Arbeiter K u r t Eisner: Schiller-Baalsdienst

3 8 13 17

II. Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter

25

R[osa] L u x e m b u r g : Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter Max Adler: Ein Schillerbuch für Arbeiter . . . Schillers Nachruhm H. D . : Das Schillerbuch des deutschen Proletariats . . . .

90 94 97 103

III. Schiller [Festschrift] Friedrich Stampfer: Werden und Vergehen Lily B r a u n : Schiller und Charlotte von K a l b K u r t Eisner: Über Schillers Idealismus John Schikowski: Schiller auf dem Theater Eduard D a v i d : Schiller und die Schule H[ermann] Molkenbuhr: Schillers Einfluß auf die Agitation der Sozialdemokraten

109 117 125 138 141 145

IV. K a r l K a u t s k y : Die Rebellionen in Schillers Dramen . . . Franz Mehring: Schiller und die großen Sozialisten . . . .

149 178

V

Friedrich Stampfer: Der klassische Idealismus und historische Materialismus Max Maurenbrecher: Der Geschichtsschreiber Schiller Ed[uard] Bernstein: Schiller und die Revolution F[riedrich] Sftampfer]: Schillers Auffassung von Staat Gesellschaft Conrad Schmidt: Schiller Franz Diederich: Schillers Volkstümlichkeit [Friedrich Stampfer]: Schiller Rosa Luxemburg: Gegen sozialdemokratische Juliane [Rosa Luxemburg]: Sozialdemokratische Juliane Clara Zetkin: Friedrich Schiller

der . . und

. .

182 187 192 199 209 223 231 240 244 245

ANHANG

263

Anmerkungen der Herausgeberin Abkürzungen Anmerkungen zur Einleitung Anmerkungen zu den Texten

265 265 266 269

Personenregister

277

EINLEITUNG

Zum 100. Todestag Friedrich Schillers — 1905 — erschien Franz Mehrings Lebensbild für deutsche Arbeiter; der Parteiverlag Vorwärts der deutschen Sozialdemokratie legte eine Festschrift mit Beiträgen von Friedrich Stampfer, K u r t Eisner, Eduard David, Hermann Molkenbuhr, Lily Braun und John Schikowski vor. Darüber hinaus erschienen im Jubiläumsjahr eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in sozialdemokratischen Presseorganen: Neben den genannten Autoren meldeten sich auch K a r l K a u t s k y , Max Maurenbrecher, Eduard Bernstein, Conrad Schmidt, Franz Diederich, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin zu Wort. Übereinstimmend wandten sie sich gegen den Schiller-Kult der deutschen Bourgeoisie im wilhelminischen Kaiserreich, gegen den „Schiller-Baalsdienst", wie K u r t Eisner ihn nannte, zugleich aber bekannten sie sich — aus welchem Blickwinkel und mit welchen Einschränkungen auch immer — zu Schiller, suchten zwischen literarischem Erbe und aktuellem politischem A u f t r a g der deutschen Sozialdemokratie zu vermitteln. Eine solche Phalanx sozialistischer Parteipolitiker in einer auf Aneignung bedachten kritischen Auseinandersetzung mit dem Dichter und Denker Friedrich Schiller verdient immer von neuem beachtet zu werden, auch wenn im nachhinein sich nicht jeder Satz als haltbar, dafür aber mancher kluge Gedanke, der Schiller durchaus gerecht wird, sich im Blick auf das politische Gesamtkonzept dieses oder jenes Autors als dubios, als Element reformistischen oder revisionistischen Denkens erweist. Einig in der K r i t i k an der Preisgabe Schillerscher Ideen und Haltungen durch die zeitgenössische Bourgeoisie, 1 einig folglich im Anspruch der Arbeiterklasse auf dieses Erbe, diskutierten die Teilnehmer an dieser Debatte kontrovers vorzugsweise Möglichkeiten der Vereinnahmung Schillers und Notwendigkeiten der kritischen Abgrenzung im Zusammenhang innerparteilicher AuseinanderIX

Setzungen. Insofern war dies, wenngleich streckenweise ganz auf dem wissenschaftlichen Niveau der Zeit, kein literarhistorischer Disput um Schiller-Deutungen, sondern eine essentiell politische Debatte. Ihr Charakter wurde auch in der Auseinandersetzung mit dem Schiller-Bild des deutschen Bürgertums und den darin zweifellos noch lebendigen Traditionen eines Liberalismus des 19. Jahrhunderts wesentlich davon bestimmt, daß Sozialdemokraten argumentierten. Sie attackierten nicht allein einen Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Anspruch auf Schiller und den Niederungen eines dem Jubiläumsjahr geschuldeten bürgerlichen Schiller-Kultes. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt bildete vielmehr ein geschichtsphilosophisches Konzept, das dem Bürgertum die Fähigkeit adäquater Schiller-Rezeption und mithin den Anspruch auf dieses Erbe absprach. Hier meldete sich die Arbeiterklasse auch in literarischen Dingen selbstbewußt zu Wort als kritische Erbin aller progressiven Traditionen, wenngleich auch unbewältigte Schwierigkeiten in der theoretischen Begründung unübersehbar sind: bei Mehring ein „historischer Instinkt" der Arbeiterklasse, der sie eo ipso vor bürgerlicher Geschichtsklitterung bewahre, bei Stampfer gegenüber dem klassischen Erbe eine Art proletarischer Vollstreckerideologie, die zugleich ein H e r a b h o l e n der Ideale auf die festgegründete Erde bedeutet, bei Eisner hingegen, ungeachtet aller Kritik am bürgerlichen Schiller-Kult, letztlich Ratlosigkeit in der Frage, wo Schillers Erbe seinen Platz habe. Die Beispiele verdeutlichen sowohl den allen Diskutanten gemeinsamen Ausgangspunkt als auch die Schwierigkeiten und schließlich die politische Dimension unterschiedlicher Lösungsversuche. Aber erst, wenn man sich diesen inneren Zusammenhang klar macht, wird der Charakter der Debatte als Kontroverse zwischen marxistischem Standpunkt und reformistischen sowie revisionistischen Auffassungen einsichtig, als Konfrontation nicht unverrückbarer Positionen, sondern in Bewegung und Entwicklung befindlicher Denkmodelle. Der aktuelle politische Bezug vor allem bestimmte die sozialdemokratische Polemik gegen das Schiller-Bild des deutschen Bürgertums. Selbst bei Mehring galt am Ende des Lebensbildes die Kritik an der bürgerlichen Schiller-Rezeption nur deren zum populären Klischee verquollenen Formen, der Verklärung von Schillers philosophisch-ästhetischem Idealismus, um dessen

X

differenzierte Analyse und aktuelle Wertung die Debatte dann kreiste. Weitgehend außer Beträcht blieben hingegen die bedeutenden Leistungen bürgerlicher Schiller-Forschung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts, die nicht zuletzt auf editorischem und dokumentarischem Gebiet lagen: von der großen Briefedition durch Fritz Jonas bis zu Eduard von der Hellens Säkularausgabe. Getroffen wurde zu Recht das Schiller-Bild der landläufigen Literaturgeschichten wie der Gymnasien und Volksschulen. 2 Dagegen hatte die deutsche Sozialdemokratie nichts einzuwenden gegen jene Publikationen, die „ein vorhandenes Bedürfnis in solider und reeller Weise zu befriedigen" 3 suchten. Dazu gehörte z. B. die vom Schwäbischen Schiller-Verein in 160000 Exemplar ren zum Preis von einer Mark — so viel kostete übrigens auch Mehrings Lebensbild — angebotene umfangreiche Auswahl aus den Gedichten und Dramen des Klassikers. In einer kurzen Einleitung zu diesem Band trug Otto Güntter das Anliegen des Schwäbischen Schiller-Vereins vor, der das Lebenswerk des Klassikers, „als eines der wertvollsten Besitztümer des deutschen Volkes, in die weitesten Kreise [. . .] tragen und es zu einem seelische und sittliche Kräfte weckenden und stählenden Gemeingut des ganzen Volkes werden" 4 lassen wollte. In solchen Bemühungen verband sich ein antipreußischer Rekurs auf regionale geistige Traditionen mit einem gesamtnationalen Anspruch. Sehr kritisch wertete die deutsche Sozialdemokratie dagegen die „große Mehrzahl" jener „Gelegenheitserzeugnisse — auch der literarischen — d i e „etwas ausgesprochen Jahrmarktsmäßiges an sich" hatten. Die sozialdemokratische Presse warnte ihre Leser vor den „vielen Schillerporträts und populären Schillerbüchern, mit denen Deutschland" überschüttet wurde, da nur wenige „eine innere Berechtigung für ihr Erscheinen" hätten. Sie verurteilte die Spekulation, die geschäftstüchtige Unternehmer mit Schiller trieben, indem sie „seichtes, unkünstlerisches, literarisch wertloses Zeug [. . .] unter der stolzen Flagge Schillers [. . .] ins offene Meer der Konkurrenz" hinausschickten und mit der Flagge Schillers ihre Waren deckten. 5 Besonders mißtrauisch beobachteten deutsche Sozialdemokraten den Literaturunterricht in den bürgerlichen Volksschulen. Dort wurde Schiller — über dessen Leben und Werk wenig gründlich Auskunft gegeben wurde — vorwiegend als „deutschester" und „männlichster" Dichter dargestellt, um Arbeiterkindern moraXI

lische „Grundwerte" beizubringen, sie zu „kernig-deutschen" Charakteren zu erziehen. Erhebungen des Arztes Dr. Rudenwaldt im Jahre 1905 unter jungen Rekruten beispielsweise bewiesen, daß nur ein geringer Prozentsatz der Volksschüler Werke des deutschen Klassikers kannte, vor allem solche Dichtungen, wie Das Lied von der Glocke, durch die nicht nur die Söhne und Töchter der Kleinbürger, sondern auch Proletarierkinder zu braven Untertanen des deutschen Kaiserreiches erzogen werden sollten. Die Mehrzahl der Rekruten hielt Schiller für den Autor kirchlicher Lieder, einiger Lesebücher, Lesestücke und Fabeln, patriotischer wie Volkslieder. Genannt wurden: Es braust ein Ruf; Tannhäuser; Heiß war der Tag; Dort unten in der Mühle; Heil dir im Siegerkranz; Der Glockenguß zu Breslau; Ein' feste Burg ist unser Gott; Ich hab mich ergeben; Über allen Wipfeln ist Ruh; Freiheit, die ich meine; Schwäbische Kunde; Jesus meiner Zuversicht; Großer Gott, wir loben dich; Gebet während der Schlacht und Geh aus mein Herz und suche Freud. Das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei, der Vorwärts, stellte zu Dr. Rudenwaldts Umfrageergebnissen kritisch fest, daß die junge Generation von 1905, wenn sie Schiller kenne, das nicht dem bürgerlichen Klassenstaat verdanke, sondern ihn offenbar nur „außerhalb der Volksschule" kennengelernt habe. 6 So bemerkenswert es ist, daß die Sozialdemokratie nicht nur die profitträchtigen Auswüchse des Klassiker-Kultes mit SchillerBroschen, -Gläsern, -Nadeln etc. zum Angriff auf den politischen Gegner nutzte, daß sie ihm vielmehr Anspruch und Recht auf dieses Erbe antifeudaler bürgerlicher Auseinandersetzung streitig machte, indem sie der bürgerlichen Interpretation etwa des Schillerschen Idealismus die eigene entgegensetzte, so wenig erschöpften sich die Äußerungen sozialdemokratischer Parteipolitiker in der Ablehnung des bürgerlichen Schiller-Verständnisses. Das gilt selbst dann, wenn man bedenkt, daß die Sozialdemokratie ein vitales Interesse daran haben mußte, gerade gegen eine über die Schule vermittelte Befestigung bürgerlicher Denknormen den Kampf zu führen. Den Kern und aktuellen Reiz dieser sozialdemokratischen Stimmen zu Schiller im Jubiläumsjahr 1905 macht es aus, daß sich i n n e r h a l b der Partei eine Debatte über den deutschen Klassiker entwickelt, die Grundfragen des Verhältnisses zum bürgerlichen Kulturerbe — Anspruch auf wie Abgrenzung gegen dieses Erbe — berührt. Anders als in der Naturalismus-Debatte, in der es um XII

die literarische Moderne und das Verhältnis der Sozialdemokratie zu deren bourgeoisiefeindlichen Autoren ging, die es als konsequent disziplinierte Parteigänger oder aber als ästhetisch zu tolerierende Bündnispartner zu gewinnen galt, 7 war der Angelpunkt in der Auseinandersetzung um Schiller und dessen bürgerliche Interpretationen die Bestimmung von Rang und Gültigkeit eines Werkes, das kritisch anzueignen oder aber preiszugeben war. Zudem bedeutete eine Debatte um Schiller letztlich eine Angelegenheit, die einerseits das nationale Selbstverständnis vieler Sozialdemokraten betraf — galt doch Schiller, zumal mit der durch ihn vertreten geglaubten Moral des Kantschen kategorischen Imperativs, als der Nationaldichter schlechthin, und welcher Sozialdemokrat des Jahres 1905 verstand sich nicht als Angehöriger der Nation zumindest in diesem idealen belletristischen Sinne? — und andererseits aktuelle Auseinandersetzungen berührte wie auch Wunden in der Parteigeschichte. Schiller gehörte in die Bildungstradition der deutschen Arbeiterbewegung.8 Ein großer Teil der sozialdemokratisch organisierten Arbeiter empfand auch im Jahre 1905 für Schiller noch jene traditionelle Verehrung und Begeisterung, die das liberale Bürgertum und insbesondere Ferdinand Lassalle 9 für den „Freiheitsdichter" in der deutschen Arbeiterbewegung seit den frühen sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts geweckt hatten. Lassalle flocht in seine vielerorts mehrstündig gehaltenen, später auch gedruckt verbreiteten Agitationsreden, mit denen er proletarische Zuhörer für die Ziele des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gewinnen wollte, Zitate aus der klassischen Dichtung ein. In seinem Bestreben, den Arbeiterverein zu stärken, ließ er sich von der Auffassung leiten, „nur eine große Idee, nur die Begeisterung für gewaltige Zwecke" können „Hingebung, Opfermut, Tapferkeit" 10 erzeugen. Er lehrte die Proletarier: „Ohne L e i d e n s c h a f t wird in der Geschichte kein S t e i n v o m a n d e r n g e r ü c k t ! Ohne L e i d e n s c h a f t ist keine einzige jener gewaltigen Befreiungen ausgeführt worden, deren Aufeinanderfolge die Weltgeschichte bildet." Im Bunde mit der deutschen Klassik, da „die großen Dichter des Volkes den Sprachgebrauch desselben bestimmen" 11 , folglich auch sein Denken beeinflussen, stritt er mit großer Begeisterung für die Sache der Arbeiterbewegung. Besonders das radikale Pathos der Lyrik Schillers, seine leidenschaftlichen Verse gegen feudale Unterdrückung rissen auch XIII

revolutionär gestimmte Arbeiter mit. Diese Begeisterung für Schillers Lyrik, das vornehmlich distanzlose, unkritische Verhältnis zu seiner Dichtung, das sich in einem schwärmerischen Rezitieren besonders populärer Verse zu den verschiedensten Anlässen ausdrückte, setzte sich in der seit 1890 wieder legal wirkenden Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fort. Hatte das Proletariat zu Beginn seines Emanzipationskampfes Schiller „zunächst ohne Einschränkung als Verbündeten" anerkannt, obwohl er „kein revolutionärer Freiheitsdichter" war, 12 so galt er um die Jahrhundertwende als der „volkstümlichste" und „nationalste" deutsche Dichter, für den Kunst ein Mittel zur Wahrheitsfindung war. Seine Dichtung vermittelte Arbeitern ein allgemeines Vertrauen in das „unbedingt Rechte in der Welt, das kommen muß" 13. Seine Worte, Sinnsprüche und Sentenzen waren nach Rosa Luxemburg auch im Jahre 1905 noch die „Form, in der die deutsche Arbeiterschaft mit Vorliebe ihre revolutionären Gedanken und ihren Idealismus zum schwungvollen Ausdruck" brachte. Jener Lassalleschen Tradition, wie sie im Gedenken an: die Polemik gegen Julian Schmidt auch noch in Rosa Luxemburgs Abfertigung Friedrich Stampfers lebendig ist, stand entgegen, daß Marx an Lassalles Drama Franz von Sickingen das „Schillern" gerügt, einen Mangel an „ Shakespearisieren" moniert hatte. Hinzu kam die äußerst reservierte Haltung von Marx und Engels gegenüber den SchillerFeiern von 1859. Zwar ist heute aus dem Briefwechsel der beiden auch ablesbar, wie sehr eine falsche Schiller-Nachfolge zugespitzte Urteile provozierte, dennoch: Dominanz hatten Shakespeare und Goethe, nicht Schiller, eine Denkungsart, die Marx und Engels übrigens mit Georg Büchner teilten. Mehring hatte gute Gründe, daß er dem Verhältnis der großen Sozialisten zu Schiller ein klärendes Wort widmete. Selbst Ungerechtigkeiten von Marx und Engels gegenüber dem Dichter rechtfertigte er aus ihrer Frontstellung gegen die bürgerliche Rezeption des Schillerschen Idealismus und deren Auswirkung auf ein vermeintlich sozialistisches Denken. Damit ist die theoriegeschichtliche Spannung innerhalb der Schiller-Debatte 1905 der deutschen Sozialdemokratie vorgezeichnet, innerhalb einer Debatte, die zu einer unmittelbar politischen werden mußte, sobald die literarische und philosophische Diskussion um den hundert Jahre toten Klassiker und sein Erbe die Frage nach aktuellen sozialdemokratischen Zu}; ¡.mftsXIV

entwürfen und den Wegen zu deren Realisierung berührte. Wie sollte die Arbeiterklasse mit einem literarischen Erbe umgehen, das seine Spuren in der sozialistischen Agitation und in der frühen sozialistischen Literatur hinterlassen hatte, dessen Volkstümlichkeit auch beim einfachen Mann tief verwurzelt war? Das war gewissermaßen die erbetheoretische Spezifizierung nicht nur der seit dem Jahrhundertende in der sozialdemokratischen Presse diskutierten Frage nach der Beziehung von sozialistischer Bewegung und bürgerlicher Kultur, sondern weit darüber hinaus der Frage nach dem Klassencharakter dieser sozialistischen Bewegung. War sie Vollstreckerin der ethischen Maximen und des revolutionären Pathos Schillerscher Dichtung, seines revolutionären Idealismus, oder mußte sie — und wenn ja, wie — dieses Erbe als ein historisches — und dennoch aktuell wirksames — einem eigenen Kulturkonzept integrieren? Letzteres wurde als Position der Linken von Mehring, Luxemburg, Kautsky und Zetkin in der Debatte, in vielfältigen Attacken auf Meinungen entwickelt, wie sie in der Vorwärts-Festschrift vertreten worden waren. Mit polemischem Bezug auf Stampfer formulierte Rosa Luxemburg, Rezensentin der Mehringschen Broschüre, als generelle Aufgabe, was ihr durch den Autor des Lebensbildes überzeugend gelöst erschien: „Was die Arbeiterschaft heute vor allem braucht, ist: alle Erscheinungen der politischen und auch der ästhetischen Kultur in ihren klaren, streng objektiven historisch-sozialen Zusammenhängen, als Glieder jener allgemeinen sozialen Entwicklung aufzufassen, deren mächtigste Triebfeder heutzutage ihr eigener revolutionärer Klassenkampf ist. Auch Schiller kann und muß die deutsche Arbeiterschaft heute ganz wissenschaftlich-objektiv als einer mächtigen Erscheinung der bürgerlichen Kultur gegenüberstehen, statt in ihm subjektiv aufzugehen oder richtiger ihn in eigener Weltanschauung aufzulösen." Einen solchen Standpunkt zu gewinnen, der Produktivität von Erberezeption aus Distanz bezieht, das war keine geringe Aufgabe. Und an dem, was die Schiller-Debatte der deutschen Sozialdemokratie hier grundsätzlich geleistet hat, haben auch diejenigen ihren bedenkenswerten Anteil, deren Äußerungen heute nurmehr als Punkte der Abstoßung für andere lebendig wirken, deren Fragestellungen in ihrem Stellenwert innerhalb der Debatte nicht gering zu schätzen sind. Im Rückgriff auf die klassische deutsche Dichtung manifestierte XV

sich der von Franz Mehring zu Beginn der neunziger Jahre formulierte Anspruch der deutschen Sozialdemokratie, sich als „Bewahrerin aller wirküch großen Uberlieferungen des deutschen Bürgertums" 1 4 zu verstehen. Gefördert wurde die Aufnahme insbesondere der Werke von Lessing, Goethe und Schiller durch jene Arbeiterbibliotheken, welche die deutsche Sozialdemokratie, Gewerkschaften wie auch Fach- und Volksvereine in vielen Städten Deutschlands gründeten. 15 Darüber hinaus begann die Partei, sich in der Freien Volksbühne eigene Theaterzentren, in Berlin und Hamburg, aufzubauen. Franz Mehring, der die Freie Volksbühne in Berlin in der entscheidenden Phase ihres Bestehens — von 1892 bis 1896 — leitete, faßte die kulturpolitische Arbeit als einen festen Bestandteil des allgemeinen proletarischen Emanzipationskampfes auf. 16 Sein Volksbühnenprogramm wollte den ,,politische[n] Kampfcharakter des Vereins auf dem Gebiet der Literatur und des Theaters" 17 entwickeln und diesen proletarischen Theaterverein in Ergänzung zur politischen Organisation der Arbeiterklasse, der Partei, in ihre literarische Organisation umwandeln. Der Programmgestaltung wie seinen historisch-kritischen Einführungen in die zur Aufführung kommenden klassischen bürgerlichen Dramen lag die Absicht zugrunde, die Mitglieder des sozialdemokratischen Theatervereins auf unterhaltsame Weise zu lehren, wie „vom Klassenstandpunkt des Proletariats aus die Kunst" zu fördern und zu genießen sei. 18 Die Aneignung der klassischen Literatur durch das Proletariat erschien ihm historisch folgerichtig. 19 Er empfahl deshalb neben Lessings Emilia Galotti Schillers Trauerspiel Kabale und Liebe als „das revolutionärste Drama" der klassischen Literatur, da es „echte, historische Wahrheit" enthielt. Es kam ihm darauf an, den Arbeitern zu erklären, warum sie große Dichtungen der klassischen Literatur, wie z. B. Emilia Galotti und Kabale und Liebe, als „rühmliche Stationen in ihrer eigenen Vorgeschichte" begreifen sollten, da sie „voll revolutionärer Tatkraft" 2 0 waren, mit künstlerischen Mitteln sehr eindrucksvoll Kenntnisse über den Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums vermittelten und zudem aktivierend wirkten. Mehring nannte auch im Jahre 1905 die deutsche Klassik noch als eines der wirksamsten Mittel, das Arbeiter „so reich und schnell fördern könne". Zu theoretischen Problemen der Aneignung und Verteidigung des bürgerlichen Literaturerbes durch die revolutionäre sozial-

XVI

demokratische Bewegung nahm seit 1899 auch Kurt Eisner Stellung. In seinen Beiträgen zu den Gedenktagen bedeutender geistiger Vorkämpfer des deutschen Bürgertums, insbesondere Goethes und Herders, der „aus der Zeugungskraft des revolutionären Jahrhunderts der Aufklärung Geborenen" 21 , erörterte er bereits im Vorfeld des 100. Todestages Schillers erbetheoretische Fragen. In seinem Aufsatz zum 150. Geburtstag Goethes im August 1899 sah Eisner die Zeit für eine wahre Volksfeier des Dichters noch nicht gekommen. Das Volk hätte, bedingt durch seine Arbeits- und Lebensweise im Kapitalismus, weder die bildungsmäßigen Voraussetzungen noch Zeit und Mittel, sich Goethes Dichtung anzueignen. Im allgemeinen vermochte es, wie Eisner einschätzte, nur einem Literaturzweig „Genüge zu leisten und gerecht zu werden", nämlich der „Eisenbahnlektüre", einer leichtverständlichen, wenig anspruchsvollen Literatur. Die wahre Kunst, Goethes Dichtung z. B., war im kapitalistischen Kulturbetrieb noch „ein Luxusartikel, kein Volksbedürfnis". Um so mehr zählte Eisner die Bemühungen der deutschen Sozialdemokratie, „mitten in dem stürmischen Ringen um die wirtschaftliche Erlösung [. . .] die Schätze der Kunst zu bewahren und dem Volke zugänglich zu machen", zu „den großartigsten und tröstlichsten Erscheinungen der proletarischen Bewegung". In diesem Zusammenhang äußerte Eisner bereits 1899 den später von Franz Mehring und Clara Zetkin in der Schiller-Debatte und von Rosa Luxemburg zum 70. Geburtstag Mehrings im Jahre 1916 wieder aufgegriffenen Gedanken: „Das Proletariat ist berufen, nicht nur das Erbe der klassischen Philosophie, sondern auch das Erbe der klassischen Kunst zu übernehmen." 22 Theoretisch klar wie zum Goethe-Gedenktag im August 1899 leitete Eisner aus seiner Polemik gegen die offiziellen Ehrungen Herders durch die Bourgeoisie im Dezember 1903 die historische Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie ab, die „revolutionäre Humanität" der Klassiker zu erben und zu verteidigen. 23 Es ist bemerkenswert, daß Mehring und Eisner im Vorfeld der Schiller-Debatte von 1905 auf Grund ihrer an der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, an Kant, Fichte und Hegel, sowie an Marx und Engels geschulten Geschichts- und Kunstauffassungen allgemeine Züge einer Erbekonzeption der revolutionären deutschen Sozialdemokratie herausgearbeitet haben. Das Jubiläumsjahr 1905 forderte zu weitergehender Präzisierung 2

Jonas, Schiller-Debatte

XVII

heraus. Das schloß zwangsläufig ein vertieftes Durchdenken der Frage ein, wieweit Schillers Werk eine aktuelle Bedeutung im politischen Kampf der Sozialdemokratie zukomme, wo Anknüpfungspunkte liegen, die eine aktuelle Wirkung und deren sinnvolle, zielgerichtete Organisierung durch die Partei der Arbeiterklasse ermöglichten. Und es konnte gar nicht ausbleiben, daß für Politiker und Publizisten, die sich als Revolutionäre und als Materialisten verstanden, Schillers Idealismus wie des Dichters kompliziertes Verhältnis zur Französischen Revolution von 1789, das Programm einer ästhetischen Erziehung wie die Praxis des Arrangements mit den Weimarer Verhältnissen und die schließliche Nobilitierung zu zentralen Punkten der Auseinandersetzung werden mußten. Dabei ist es im Rückblick nur von bedingtem Belang, wie kenntnisreich und differenziert im einzelnen argumentiert wurde, ob Schiller immer Gerechtigkeit widerfuhr. Daß aber Mehring, Luxemburg und Zetkin — zumindest im Ansatz — auf eine Methode des Umgangs mit diesem Erbe hinarbeiteten, die es vordergründiger Aktualisierung durch ahistorische Politisierung entziehen und auch ästhetisch rezipierbar machen sollte, gehört zu dem methodologischen Ertrag dieser Debatte, dessen sich die marxistische Literaturwissenschaft immer wieder von neuem zu versichern hat. Daß jedoch gerade in der Vorwärts-Festschrift die „heiklen" Fragen nach Schillers unmittelbarer Aktualität und den ihr widersprechenden Elementen seiner Entwicklung, seines Denkens und seiner Kunst in den Vordergrund gerückt wurden, bedeutete nicht allein nur ein wesentliches Ferment innerhalb der Kontroverse. Auch reflektierte es taktisch divergierende Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie, die durchaus nicht nur — wie nicht zuletzt die neuere literaturwissenschaftliche Behandlung der Debatte einsichtig macht — abgegoltene Geschichte sind. Als die Germanistik in der D D R im Jahre 1959 das literaturtheoretische Erbe der revolutionären deutschen Sozialdemokratie intensiver aufzuarbeiten begann, knüpfte sie vor allem an die Beiträge der marxistischen Teilnehmer der Schiller-Debatte, an Franz Mehring, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg, an. Hans Koch setzte sich mit den von Georg Lukäcs in den dreißiger Jahren vorgetragenen Positionen zu Mehrings literaturtheoretisch-ästhetischen Auffassungen kritisch auseinander. E r würdigte die von Mehring bei der Rezeption der bürgerlichen Klassik verwendete historisch-kritische Methode als dessen besonderen XVIII

Beitrag zur Herausarbeitung der marxistischen Literaturtheorie.24 Günther Dahlke wertete in dem 1959 herausgegebenen Dokumentenband Der Menschheit Würde die Äußerungen Marx! und Engels' über Schiller als wesentliche Grundlegung der schöpferisch-kritischen Methode zur Aufnahme der Werke des Dichters durch die deutsche Sozialdemokratie, insbesondere durch Mehring, Luxemburg und Zetkin. Silvia Schlenstedt kennzeichnete im Lexikon sozialistischer deutscher Literatur im Jahre 1963 wichtige Positionen, die Franz Mehring und Clara Zetkin in der Schiller-Debatte vertreten hatten, und wies darauf hin, daß die linken marxistischen Kräfte besonders „um eine klassenmäßige, historisch-materialistische Interpretation" der Werke Schillers gerungen hatten, „wenn es auch dabei zu Mißverständnissen und Fehleinschätzungen" gekommen sei.25 Schwierigkeiten bereitete vor allem das Werk des reifen Schillen Eine Feststellung wie die Max Maurenbrechers, der es unter den deutschen Verhältnissen für ein Zeichen von Reife ansah, daß Schiller nicht im Stil von Kabale und Liebe weitergedichtet habe, wirkte eher als Provokation denn als angewandte Dialektik und bemerkenswerte Einsicht in die Grenzen eines dramatischen Genres. Wenn freilich der gleiche Autor angesichts des Fehlens von neueren, proletarischen Dichtungen schlußfolgerte; solange dieser Mangel bestehe, sei gerade der klassische Schiller der Jungfrau von Orleans und des Wilhelm Teil auch „unser Prophet und der große Künder auch unserer Kämpfe", so verkehrte sich hier die Einsicht in die historische Bedingtheit von Schillers Werk in die aktualistische, ahistorische Installierung Schillers als Freiheitsdichter schlechthin, eine Identifizierung sozialdemokratischer Zielvorstellungen mit den spekulativen Entwürfen Schillers. Wie subtil immer über den allgemeinen Idealismusvorwurf hinaus der Wirklichkeitsbezug und die überbürgerliche Programmatik gerade der „ästhetischen Erziehung" herausgearbeitet wurden, so fragwürdig wurde doch — etwa bei Eisner — der unvermittelte Bezug einer von Schiller intendierten Veränderung des „Naturstaates" auf die sozialdemokratische Kritik am bestehenden imperialistischen Staatswesen. Die Konsequenz solcher Aktualisierung war zwangsläufig wieder eine distanzierende Historisierung, derzufolge es dann nur noch die „Hoheit der Gesinnung" (Mehring) war, die aktuell wirken sollte, Schiller der Arbeiterklasse für ihre politische Bildung nurmehr wenig, Unschätzbares freilich für die Bildung des 2*

XIX

politischen Charakters zu geben habe (Kautsky). Solche Haltungen waren zumindest nicht frei von der Gefahr, mit Zeitbedingtem und geschichtlich Abgegoltenem auch Substantielles und Vorgreifendes in Schillers Denken preiszugeben oder so mißverständlich zu fassen, daß die Verklärung des historischen Schiller zum Idol der „ Kampfnatur", des „großen Menschen" (Mehring) eine produktive Rezeption der konkreten Texte eher hinderte. Dabei ging es letztlich gar nicht darum, wie zutreffend im einen oder anderen Punkt Schiller interpretiert wurde. Die Kernfrage bestand darin, wieweit es gelang, die Basis-UberbauRelation tatsächlich historisch-materialistisch, nicht einfach als ein starres eingleisiges Abhängigkeitsverhältnis zu fassen, sondern in ihrer Dynamik und Dialektik. Und dieses hing nicht nur von der literaturgeschichtlichen Kompetenz und ästhetischen Sensibilität dieses oder jenes Interpreten ab, sondern berührte die philosophische und politische Grundfrage nach der Entwicklung eines marxistischen Erbekonzepts der deutschen Sozialdemokratie. Georg Fülberth, marxistischer Geschichtswissenschaftler in der B R D , charakterisierte im Jahre 1972 die Schiller-Debatte folglich zutreffend als eine „Kontroverse zwischen marxistischer und revisionistischer Literaturkritik" 26 . Und Dieter Schiller kennzeichnete 1977 diese Debatte als „eine Konfrontation zwischen revolutionär-marxistischer Weltanschauung und revisionistischer Adaption bürgerlicher Ideologien in der sozialdemokratischen Parteiliteratur". Seiner Auffassung nach beinhaltete die Frage, was Friedrich Schiller unter den konkreten historischen Bedingungen des Jahres 1905 dem revolutionären Proletariat bedeuten könne und wodurch er sich den Ruf erworben habe, ein „Dichter der Arbeiterklasse" 27 zu sein, den Kern der Debatte. Ursula Münchow nannte als eine der Ursachen, die zu dem „Pressefeldzug zwischen rechten und linken Sozialdemokraten im Jahre 1905" geführt hatten, gleichfalls „die falsche Einstellung zu Schiller, die ihn zu einem Dichter des Proletariats machte". 28 Gemeint war das Prinzip einer falschen Aktualisierung Schillers wie einer fragwürdigen Idealisierung des geschichtlichen Auftrags der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Solchen Einschätzungen widerspricht der B R D Forscher Wolfgang Hagen. Nach seiner Überzeugung bezeichnen die bereits zur Jahrhundertwende in starkem Maße auftretenden politisch-ideologischen Meinungsverschiedenheiten zwischen XX

Marxisten und Revisionisten 1905 nicht zugleich „die polare Stellung innerhalb der kulturpolitischen Auseinandersetzung" in der deutschen Sozialdemokratie. Für ihn ist die SchillerDebatte keine „.Konfrontation' .zwischen marxistischer und revisionistischer Literaturkritik'". Er faßt den Kreis der De-* battanten bedeutend weiter: von Rechts, den National-Reformisten, über die ideologische Mitte, vertreten durch den gewerkschaftlichen Reformismus, bis Links, den „klaren Befürwortern einer rein proletarischen Schiller-Verehrung". Zum Prüfstein seiner Analyse der politisch-ideologischen Gruppierungen der sozialdemokratischen Teilnehmer an der Debatte erhebt er die Frage nach der Schiller-Verehrung und Schiller-Vereinnahmung. E r beurteilt die Beiträge zur Schiller-Debatte von kulturtheoretischen und ästhetischen Positionen und kommt dabei zu einer Aufwertung der ScMZer-Festschrift des Parteiverlages Vorwärts und des Aufsatzes von Eduard Bernstein, deren Grundtendenz er „eher [in] einer kulturtheoretisch-allgemeinen, kritischen .Würdigung' Schillers" sieht. 29 Damit werden gegenüber den „klaren Befürwortern einer rein proletarischen Schiller-Verehrung", als die Hagen Mehring und Rosa Luxemburg verstehen möchte, Positionen favorisiert, denen zufolge Schiller außerhalb d e s Getümmels der Klassenkämpfe steht: „ I m Reich der Idee g i l t weder Zeit noch Landesgrenze" (Bernstein). Gedanken des jungen Mar x über den Staat ließen sich nach Stampfer „ohne weiteres in Schillers Buch Über die ästhetische Erziehung des Menschen einschieben, ohne durch Inhalt und Stil aus dem allgemeinen Rahmen zu fallen", schließlich hätten — so Stampfer — sich „idealistische Philosophie u n d reale Erfahrungswissenschaft [. . .] zu einer Weltauffassung des realen Humanismus vereinigt, die die Freiheit nicht nur im Reich der T r ä u m e sucht, sondern die realen Vorbedingungen ihres wirklichen Daseins vorhanden weiß und praktisch-politisch mit ihnen rechnet". Der wissenschaftliche Rekurs auf Debattenpositionen, die über den Bezug auf die Marxschen Frühschriften, insonderheit auf den Begriff des realen Humanismus, eine V e r m i t t l u n g zwischen klassischem Idealismus und sozialistischer Bewegung anstrebten, bedeutet seinerseits eine Aneignung der Debatte unter aktuellen politischen Gesichtspunkten. Das wäre eine Auseinandersetzung wert: als historisierende Polemik gegen ein Zurückgehen solcher Vermittlungsversuche hinter den reifen Marx und gegen die daraus folgenden Konsequenzen einer Preisgabe

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von Klassenpositionen des Proletariats. Ein solches Herangehen setzt freilich gerade die umfassende kritische Aufarbeitung der marxistischen Traditionslinie voraus, von der Analyse und Wertung dessen her, was Franz Mehring, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin auch in der Schiller-Debatte erbetheoretisch geleistet haben. Ausgehend von seinen erbetheoretischen Positionen der neunziger Jahre trat Mehring dafür ein, die Dichtung und Weltanschauung Schillers zu historisieren, sie aus ihrer Entstehungszeit heraus in kritischer Distanz zu rezipieren. Einzig dem Freiheitspathos Schillers — nicht seiner Freiheitsidee — gestand er eine aktuelle Bedeutung für den revolutionären Klassenkampf des Proletariats zu. Mehring wandte sich ganz entschieden dagegen, die bürgerliche mit der marxistischen Auffassung von der Freiheit und Gleichheit dei Menschen zu identifizieren oder auch nur zu vermischen. Er betonte stets die ideologischen Bedeutungsunterschiede, die zwischen den bürgerlichen und marxistischen Freiheits- und Gleichheitsbegriffen bestanden. Die bürgerliche, idealistische Weltanschauung des Dichters konnte er nicht als Erbe für das Proletariat anerkennen, wenn er auch das künstlerische Werk Schillers als ein für kommende Generationen der Arbeiterklasse gültig bleibendes literarisches Erbe wertete. Auch Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin legten wie Mehring den stärkeren Akzent auf den historischen Aspekt der Erbefrage. Darüber hinaus gelang es ihnen, zu einigen Nuancierungen der Rezeptionsproblematik vorzudringen. Ähnlich wie Mehring sprach Kautsky dem dichterischen Erbe Schillers nur in emotionaler Hinsicht Aktualität zu, da es den politischen Charakter der Sozialdemokraten, insbesondere der heranwachsenden Arbeiterjugend, festigen und Zuversicht und Hoffnungsfreudigkeit in ihnen erzeugen könne. Die eigentliche Ursache der künstlerischen Wirkungspotenzen der Dramatik Schillers im Jahre 1905 erkannte Kautsky in der „Unbestimmtheit seines revolutionären Ideals", das jede aufstrebende Klasse „im Sinne ihrer besonderen, von denen seiner Zeit ganz verschiedenen Ziele" interpretieren könne. Damit freilich führte er eine Vermittlungsebene ein, die in der Konsequenz abermals eine Enthistorisierung des klassischen Erbes, dessen Annäherung an jeglichen revolutionären Idealismus oder idealistischen Revolutionarismus ermöglichte. Auf Rosa Luxemburgs Standpunkt, die „idealistisch-schwärmerische Identifizierung" mit Schiller XXII

könnten große Teile der Arbeiterklasse nur durch die historischkritische Aneignung seines literarischen Erbes überwinden, wurde bereits hingewiesen. Ihr Lob der Mehringscheri SchillerArbeit galt deren Kritik an „bürgerlich-tendenziöser und andererseits auch [. . .] partei-tendenziöser Verzerrung" des SchillerBildes, was im Klartext bedeutete: Hier wurde Front gemacht gegen eine Rechtfertigung sozialistischer Ideale durch deren Spiegelung im Schillerschen Idealismus. Aber ein solcher Ansatz hatte auch zur Konsequenz, daß er eine vermeintlich materialistische Betrachtungsweise, die Zerlegung Schillers in einen revolutionären und einen zumindest revolutionsfeindlichen, in einen akzeptablen und einen zu kritisierenden ablehnte, darauf insistierte, den ganzen Schiller zu sehen und anzueignen. Die hier geforderte Totalität konnte freilich nur die ästhetische sein, weswegen Rosa Luxemburg insbesondere hervorhebt, daß der Schöpfer des Wallenstein bei dem „kühlen .orthodoxen' Materialisten Mehring" seine Rechtfertigung erfahre, da Mehring die innere Einheit in Schillers Denken von den Räubern bis zu den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen gesehen habe. Rosa Luxemburg hatte sich ursprünglich einer Rezension von Mehrings Schrift wegen mangelnder Affinität zu Schillers Werk entziehen wollen. Nun aber entwickelte sie als ein Konzept, das Mehring bereits verwirklicht habe, die Forderung, den Dichter „aus seiner psychischen Eigenart" zu verstehen. Doch nicht diese auf die Person statt die Historie gerichtete Sensibilität für einen Dichter in aller Widersprüchlichkeit macht die Grenze dessen aus, was Rosa Luxemburg zu leisten vermocht hatte. Die neuralgischen Punkte werden immer dort deutlich, wo sie ohne restlos stichhaltige Alternative, mangels einer ausgearbeiteten marxistischen ästhetischen Theorie des Tragischen, gegen die vordergründigen politischen Argumentationen ihrer Kontrahenten, aber auch gegen ein philosophisches Konzept wie das Karl Kautskys polemisiert. Clara Zetkin entwickelte in der Schiller-Debatte eine über Mehring, Kautsky und Luxemburg hinausgehende Auffassung. Sie wandte sich nicht nur, wie Rosa Luxemburg, gegen jede Art „blinder Verehrung und fälschender Umdeutung" Schillers durch das Proletariat, sie forderte von ihm darüber hinaus, das philosophisch-ästhetische Vermächtnis des Dichters, seinen Idealismus, ebenso wie die klassische deutsche Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt zu erben. Nach ihrer Überzeugung XXIII

konnten die „weltbürgerlichen Ideale der klassischen Literatur" nur durch den proletarischen Klassenkampf, die soziale Revolution an Aktualität gewinnen: daß schließlich „auch die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in ihr Recht" werde treten können, „nicht um ihm ein Reich herrlichen Scheins vorzugaukeln, vielmehr um ihm die Welt zu erschließen, als reichsten Born gesunden, die Schöpferkraft beflügelnden Genusses". In diesem Sinne bleibe Schiller dem Proletariat „ein gewaltig Fördernder als Erzieher zu den höchsten Bürgertugenden, den erhabensten Menschheitsidealen, die [. . .] auf dem Boden der sozialistischen Weltanschauung erwachsen". Clara Zetkin ging am weitesten in der Entwicklung eines kulturtheoretischen Konzepts, das aber nicht nur die soziale Funktion von Kunst, sondern auch ihre für Zetkin vom Politischen nie getrennte ästhetische einschloß. Von daher rücken nun zwei zusammengehörige Aspekte dieser Schiller-Debatte ins Blickfeld, die in besonderer Weise weiterwirkten. Einerseits war es die schließlich nur auf der Basis eines umfassenden kulturtheoretischen Konzepts lösbare Frage, wie einem streng historisch betrachteten künstlerischen Erbe eine lebendige Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit abgewonnen werden könne, auch Aktualität und, davon unablösbar, ästhetischer Genuß. Und verknüpft damit ist andererseits das Problem, wie literarische Werke, die Zeugnis und Wirkungsfaktor einer zu überwindenden bürgerlichen Entwicklung waren, — Genuß bietend — fortzuwirken vermögen. Wurde die Problemstellung, die praktisch Fragen nach Möglichkeiten des produktiven Umgangs der Arbeiterklasse mit einem seiner Klassenposition wie seiner unmittelbaren Kampfsituation entgegenstehenden Kunsterbe ebenso einschließt wie bündnispolitische Konsequenzen, um 1905 auch keineswegs theoretisch durchreflektiert, so lassen sich ihre Ansätze doch in vielfältiger Form auch in der Schiller-Debatte finden. Charakteristisch für die nach 1905 folgenden Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse in der deutschen Sozialdemokratie erscheinen in diesem Zusammenhang auch die von weiteren Teilnehmern an der Erbedebatte vorgetragenen Überlegungen zum methodisch-theoretischen Herangehen an Schiller. So vertrat 1905 eine ganze Gruppe Sozialdemokraten, darunter Conrad Schmidt, Max Maurenbrecher, Hermann Molkenbuhr, Kurt Eisner, Friedrich Stampfer, Eduard David und Franz Diederich, XXIV

die Auffassung, nicht nur Schillers Freiheitspathos, sondern auch seine Freiheitsidee und sein revolutionärer ästhetischer Idealismus würden für die Arbeiterklasse aktuelle Bedeutung besitzen. Conrad Schmidt sprach sich wie Clara Zetkin dafür aus, daß Proletarier nur ausgehend von der historischen Bedingtheit Schillers lernen können, den ,,eigenartige[n] Zauber der großen Schillerschen Persönlichkeit um so freier, unbefangener" zu genießen und den „Reiz, in seinen Worten den Widerhall einer vergangenen, so niemals wiederkehrenden Epoche menschlichen Seelenlebens" nachzuempfinden. Er vertrat die Ansicht, daß die Aktualisierung der idealistischen Weltsicht Schillers 1905 die Arbeiterklasse durch die gewonnene Klarheit über die historische Distanz zu ihm in politisch-ideologischer Hinsicht nicht mehr desorientieren könne.30 Max Maurenbrecher warf das Problem auf, daß im Jahre 1905 nicht lebendig sein könne, was die deutsche Sozialdemokratie „erst mühsam historisch rechtfertigen" müsse. Die Frage nach der aktuellen Wirkung überlieferter Kunst unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen versuchte Hermann Molkenbuhr — ähnlich wie Max Maurenbrecher — durch die „Größe jener Dichter" zu erklären, die vor allem darin liege, „daß sie noch modern erscheinen, wenn sie längst verstorben sind und im Laufe der Zeit ganz andere politische und soziale Verhältnisse entstanden sind, als sie in der Zeit waren, in der der Dichter lebte". Für Molkenbuhr ergab sich die Wirkung Schillers auf das Proletariat einzig aus dessen beginnendem Streben nach idealen Zielen, einem Anknüpfen an die permanent vorhandenen Ideale der deutschen Klassik. Bedeutend differenzierter als Hermann Molkenbuhr untersuchte Franz Diederich am Beispiel der Volkstümlichkeit Schillers die Frage nach den Ursachen und Faktoren aktueller Wirkung der klassischen Dichtung auf die Arbeiterklasse. Er vertrat die Ansicht, nicht die dichterische Leistung allein gewährleiste uneingeschränkte Volkstümlichkeit. Sie entstehe durch „bestimmte Kulturströmungen, die das Volk ergreifen, [. . .], wenn der Dichter oder Denker Dinge schuf oder Gedanken gab, die der Verwirklichung eines Zeitstrebens gewichtvoll dienen können". Als einen entscheidenden Faktor, der die Volkstümlichkeit begünstigen, vermindern oder auch ganz verhindern könne, anerkannte Diederich die „bestimmte geschichtliche Situation". Auch würden gewisse Züge der bürgerlichen Kultur, XXV

das „Pathos der lehrenden Lyrik, ihr moralistischer Grundton, die Theatralik der Dramen, und auch hier die idealisierte bürgerliche Moral, das zu größter künstlerischer Höhe gesteigerte Geschick anschaulicher Versinnlichung von Geschehnissen in Balladen und szenischen Vorgängen", Schiller für die deutsche Arbeiterklasse interessant und volkstümlich machen. Stark war die Tendenz dieser Debatte, die aktuelle Bedeutung Schillers für das Proletariat vor allem in seinen Idealen, in seinem „revolutionären" beziehungsweise ästhetischen Idealismus zu sehen. So legte Kurt Eisner im Gegensatz zu Mehring, Kautsky und Luxemburg bei allem Historisieren der Dichtung und Weltanschauung Schillers den stärkeren Akzent auf die Aktualisierung des Klassikers, insbesondere seines „revolutionären Idealismus der Tat". Friedrich Stampfer interpretierte Schillers Idealismus als noch immer wirkende „Triebfeder unendlicher Bewegung". Er setzte Schillers idealistische Auffassung des bürgerlichen Emanzipationskampfes mit den Anschauungen der deutschen Sozialdemokratie über den proletarischen Klassenkampf zwar nicht gleich, betrachtete sie aber dennoch als ,,ein[en] Bestandteil" der sozialdemokratischen Ideologie. Sein Aktualisieren der Ideale wie des Idealismus Schillers war nichts anderes als ein Versuch, sie in die sozialdemokratischen Auffassungen des Klassenkampfes aufzunehmen. Eine ähnliche Aktualisierung des bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsideals Schillers propagierte Eduard David aus der Überlegung heraus, der proletarische Freiheitsbegriff erfasse auch allgemeinmenschliche Ansprüche. Eine scheinbare Sonderstellung innerhalb der Erbediskussion nahm Eduard Bernstein ein. Er wertete die vom deutschen Bürgertum „zeitlos" genannte Ideologie Schillers als eine „in ihrem Wesen klassenlos[e]", da sie „keiner der Gesellschaftsklassen" entsprochen habe, die der Dichter „vor sich sah". Eine aktuelle Bedeutung sprach er vor allem dem Ideal des Dichters zu, auf ästhetischem Wege gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Er nannte Schillers Gedanken, durch ästhetische Erziehung der Menschen zum Vernunftstaat zu gelangen, „mehr einseitig, als [. . .] falsch". Nur „eine völlige Veränderung der gesellschaftlichen Struktur", die Schiller nicht gefordert, weil zu seiner Zeit „zu einer grundlegenden Reform" des alten Deutschen Reiches „von innen heraus [. . .] noch alle Vorbedingungen" gefehlt hätten, könne bei gleichzeitiger ästhetischer Erziehung der Menschen echten Fortschritt gewährleisten. XXVI

Die Position der ,,tiefgehende[n] Übereinstimmung" der auf das Vernunftdenken des 18. Jahrhunderts sich stützenden Staatsund Gesellschaftsauffassung Schillers „mit den Grundlagen der sozialistischen Weltanschauung" verteidigte Friedrich Stampfer in seinem Aufsatz Schillers Auffassung von Staat und Gesellschaft. Hermann Molkenbuhr stützte Stampfers Auffassung des Schillerschen Idealismus durch die These, daß „auch Schiller schon dem großen Ideale zustrebte, für welches die Sozialdemokraten kämpften". A u s einer anderen Perspektive argumentierte Conrad Schmidt, der die geschichtsphilosophische Theorie des Dichters als ein „aristokratisches Bildungsideal des ästhetischen Menschen" wertete. Schillers „ K u l t u s der Humanität", der „in einen Kultus der künstlerisch Begnadeten, des Genies" münde, lehnte er als ideologische Komponente einer humanistischen Kultur der sozialistisch gesinnten Arbeiter ab. Seiner Meinung nach enthalte die Weltanschauung des „mit neuen, realistisch fundierten Idealen" entstandenen modernen Industrieproletariats einen „Idealismus sozialistischer Gesinnung", der „in so ganz anderen Gedankenschichten und Gefühlen [. . .] als Schillers unbestimmter Freiheitsenthusiasmus" wurzele. Demgegenüber suchte K u r t Eisner durch eine sorgfältige Analyse Schillerschen Denkens jene Momente herauszuarbeiten, die von der sozialistischen Bewegung aufzuheben und weiterzuführen seien. E r nahm an, Schiller selbst habe in seiner „Beschränkung auf die ästhetische W e l t " wohl „eine anstößige Flucht aus einer großen Zeit" gesehen. Die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen bewiesen ihm, wie sehr der Dichter darum gerungen habe, seinen „inneren Zwiespalt zu überbrücken", wobei er „ K a n t s Ästhetik ganz unkantisch um [biegen]" mußte; denn K a n t habe „niemals die ästhetische Bildung als eine Vorschule des politischsittlichen Handelns aufgefaßt". Der Gedanke, der „Mensch müsse zuvörderst in Freiheit gesetzt werden, wenn er die Freiheit gebrauchen lernen solle", habe Schiller dahin geführt, die ästhetische Erziehung der Menschen als „Voraussetzung revolutionärer Wirklichkeit" zu begreifen. Schillers Ideal, die Freiheit aller Menschen auf ästhetischem Wege zu erlangen, garantiere den Arbeitern keine Freiheit — das schlußfolgerte Eisner ebenso wie Mehring. Dennoch übernehme das Proletariat mit der klassischen K u n s t auch den „revolutionären Idealismus der T a t " , den Schiller habe vertagen müssen. Ihm verleihe die

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sozialdemokratische Bewegung, die sich in der günstigen Lage befand, revolutionär handeln zu können, volle Lebenskraft: „Die große K u n s t flüchtete einst zu Wort und Ton, um das Leben vergessend ertragen zu können. Das Idealreich der K u n s t stand fremd und verabscheuend neben dem Leben, das nichts mit ihr gemein hat. Diese Schuld, die unsere K u n s t dem Leben der T a t gegenüber auf sich lud, wird zurückerstattet, indem die Menschheit das Leben selbst in das Reich der Kunst schöpferisch rettet. Die K u n s t ist nicht mehr Flucht aus und vor dem Leben, sondern das Leben selbst." 3 ' Eisner kennzeichnete die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie, die sich selbst auch als eine Kulturbewegung verstand, da eine umfassendere Bildung der Arbeiter auf verschiedenen Gebieten, wie marxistische Philosophie, Politik, Naturwissenschaften sowie Literatur und Kunst, sie zu befähigten Mitstreitern des revolutionären Kampfbundes erziehen sollte, bereits im Jahre 1900 als einen ,,revolutionäre[n] Freischärlerzug des Geistes" 3 2 . Die im wesentlichen fast übereinstimmenden, sehr massiv von Stampfer, Maurenbrecher, David, Molkenbuhr und Eisner vorgetragenen Auffassungen des revolutionären oder ästhetischen Idealismus Schillers wurden von Mehring, Luxemburg und K a u t s k y , insbesondere durch ihre Kritik der Eisner-Position, zurückgewiesen. Rosa Luxemburg wandte sich in der Diskussion energisch gegen die Gleichsetzung des politischen Ziels des revolutionären Bürgertums mit dem der Arbeiterbewegung. Sie opponierte besonders heftig gegen jene, zum bürgerlichen Liberalismus neigenden Sozialdemokraten innerhalb der Partei, die stets bereit waren, „an allen möglichen Revisionen der .wunden P u n k t e ' der Marxschen Lehre" teilzunehmen. Gerade sie würden an den „landläufigen kritiklosen Urteile[n] über Schiller" festhalten. Auf einen anderen Aspekt in Schillers Denken, auf die gesellschaftskritischen Züge in den geschichtsphilosophischen Betrachtungen, wiesen Franz Mehring, K u r t Eisner und Conrad Schmidt hin. Sie machten besonders auf jene Partien der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen aufmerksam, worin der Dichter seine Auffassung der negativen Seite der kulturellen Entwicklung der Gesellschaft, der disharmonischen Ausbildung der vielfältigen menschlichen Anlagen im Arbeitsprozeß, dargelegt hatte. Nur in ferner Zukunft seien die Fähigkeiten und Talente aller Menschen wieder harmonisch zu formen. Auch das betraf unmittelbar die Frage nach der sozialistischen Perspek-

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tive. Franz Diederich maß der Harmonielehre Schillers eine noch zunehmende Bedeutung für das Proletariat bei, habe der Dichter mit ihr doch „gleichsam eine Staffel geschichtlichen Ringens und Werdens" übersprungen und eine Zeit anvisiert, für die die Arbeiterklasse die ökonomisch-sozialen Voraussetzungen erst noch schaffen müsse. In diesem Sinne argumentierte auch Clara Zetkin, wenn sie sagte, dem Proletariat wachse die historische Aufgabe zu, wie die klassische deutsche Philosophie auch die „hehren weltbürgerlichen Ideale der klassischen Literatur" zu erben. Aber das bedeutete für sie, angesichts der in Rußland begonnenen revolutionären Auseinandersetzungen, die soziale Revolution als unbedingt notwendige Form des proletarischen Klassenkampfes theoretisch anzuerkennen und durch sie die sozialistische Gesellschaft als den „Bau einer wahren politischen Freiheit" zu errichten, in dem auch der ästhetischen Erziehung der Menschen die ihr gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden könne. Teil dieser sozialen Revolution müsse auch die umfassende Aneignung des Kulturerbes bilden. In diesem Zusammenhang stellen die Auseinandersetzungen der deutschen Sozialdemokraten mit Schiller, die, wie deutlich geworden ist, politische Diskussionen um Fragen von Revolution, Rolle des Individuums im Staat, aber auch um Probleme der Frauenemanzipation gewesen sind, ein wesentliches Erbe sozialistischer Theoriebildung dar. Engels hatte von der Arbeiterklasse als Erbin der klassischen deutschen Philosophie gesprochen. Revolutionäre deutsche Sozialdemokraten erkundeten nun zu Recht, welches philosophisch-literarische Erbe der klassische Dichter Schiller kommenden Generationen hinterlassen hatte. Dabei galt es zu berücksichtigen, daß zum philosophischen Erbe — das Marx und Engels aus den auch von Schiller partiell vertretenen Theoremen des deutschen Idealismus im wissenschaftlichen Sozialismus aufhoben — neben dem Erkennen der „tätigen Seite" des Menschen, dem Anwenden der Dialektik auf den geschichtlichen Prozeß auch die von Schiller geteilten Auffassungen der Geschichte als Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Menschen sowie des Menschen als Einheit verschiedener Potenzen gehören: der gegenständlichen, ästhetischen, rationalen wie emotionalen — und in dem Zusammenhang seine kritischen Überlegungen über die Zerrissenheit und Vereinseitigung des Menschen unter den ökonomisch-sozialen Existenz- und Produktionsbedingungen seiner Zeit wie auch das Fortschrittsprinzip XXIX

seiner Gesellschaftsauffassung. In welchem Umfange die Teilnehmer an der Schiller-Debatte 1905 dieser Aufgabe gerecht geworden sind, davon zeugen die hier vorgelegten Texte. Zu dieser Ausgabe Die in jüngster Zeit von marxistischen und bürgerlichen Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaftlern zu Problemen der Schiller-Debatte publizierten Forschungsergebnisse sind zunächst einzelne Bausteine einer noch ausstehenden Gesamtdarstellung. Die Notwendigkeit zur Rekonstruktion und Wertung der Schiller-Debatte ergibt sich aus der bisher unabgegoltenen Verpflichtung der marxistischen Literaturwissenschaft, die im Jahre 1905 verfochtenen Positionen zur Funktion und Bedeutung der Dichtung Schillers im proletarischen Klassenkampf theoretisch aufzuarbeiten und zusammenhängend wiederzuveröffentlichen. Eine geschlossene Dokumentation dieser Literaturdebatte liegt bisher noch nicht vor. Sie wird hier versucht. Dabei war zunächst die Frage zu klären, welche Beiträge zum Schiller-Gedenkjahr 1905 als Debattentexte zu werten sind. Als wichtigste Positionen der Debatte kennzeichnet Dieter Schiller Mehrings Lebensbild für deutsche Arbeiter wie auch dessen Aufsatz Schiller und die großen Sozialisten, die im Parteiverlag Vorwärts herausgegebene ScM/er-Festschrift und die Schiller-Nummer der von Karl Kautsky redaktionell geleiteten theoretischen Parteizeitschrift Die Neue Zeit.33 Damit sind aber noch längst nicht alle Debattentexte genannt. Die im Vorfeld des Schiller-Jubiläums 1905 entbrannte öffentliche Diskussion über das Verhältnis der Arbeiterklasse zu Schiller und mit ihm zur deutschen Klassik umfaßt neben den schon erwähnten Texten auch die SchillerNummern der zentralen Parteiorgane Vorwärts und Die Neue Welt, den Aufsatz Was ist uns Schiller? von Max Maurenbrecher, weitere Rezensionen zu Mehrings Schiller-Buch im Vorwärts und in der Schwäbischen Tagwacht wie auch den hier unter den Initialen F. S. [das ist vermutlich Friedrich Stampfer] publizierten Beitrag Schillers Auffassung von Staat und Gesellschaft, den in der Wochenschrift Europa gedruckten Artikel Schiller und die Revolution von Eduard Bernstein, den in mehreren sozialdemokratischen Regionalblättern veröffentlichten Aufsatz Schiller von Friedrich Stampfer, den Rosa Luxemburg in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung kritisierte, und Clara Zetkins 1905 XXX

vor Mannheimer Arbeitern gehaltene Festrede, die 1909 in unveränderter Form unter dem Titel Friedrich Schiller in der Gleichheit gedruckt wurde. Einen Teil der von den deutschen Linken, von Franz Mehring, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, stammenden Debattentexte veröffentlichte Günther Dahlke zum 200. Geburtstag Friedrich Schillers in dem Band Der Menschheit Würde.3i Acht Debattentexte von Franz Diederich, Kurt Eisner, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Hermann Molkenbuhr und Friedrich Stampfer, die in sozialdemokratischen Tageszeitungen und Wochenschriften im Jubiläumsmonat Mai des Jahres 1905 veröffentlicht wurden, druckte Wolfgang Hagen teilweise gekürzt im Anhang zu seinem Buch Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie wieder ab. 35 Außer diesen beiden Dokumentationen von Textteilen der Schiller-Debatte liegen keine weiteren Nachdrucke der Beiträge zur Debatte vor. Unsere Dokumentation gliedert sich thematisch in vier Teile. In den einleitenden Aufsätzen — Teil I — distanzieren sich Franz Mehring, Max Maurenbrecher und Kurt Eisner von dem Kult, den die Bourgeoisie mit Schiller getrieben hat. Sie stellen in diesem Zusammenhang die Frage nach seiner Bedeutung für die Arbeiterklasse im Jahre 1905. Die von Mehring herausgearbeiteten literaturtheoretischen Positionen zum Leben und Werk Schillers bietet sein Lebensbild für deutsche Arbeiter, das wir —im Teil II — nur in großen Auszügen wiedergeben, da dieser Text in seinen Gesammelten Schriften leicht zugänglich ist. Wir halten es aber für unumgänglich, die wesentlichen Teile des Lebensbildes in den Kontext mit den anderen Beiträgen zur Debatte zu stellen, um die Dokumentation für den Benutzer handhabbarer zu machen. Darüber hinaus nehmen wir vier Besprechungen des Lebensbildes in diesen Teil auf, um die unterschiedliche Resonanz der Mehringschen Schrift vor Augen zu führen. Einen ebenso geschlossenen Komplex — Teil III — bilden die Beiträge von Friedrich Stampfer, Lily Braun, Kurt Eisner, John Schikowski, Eduard David und Hermann Molkenbuhr zur ScAi'Wer-Festschrift. Diese Autoren, die weitestgehend übereinstimmende Auffassungen in wesentlichen ideologischen Grundpositionen zu programmatisch-strategischen Zielen der Sozialdemokratie vertraten, diskutierten in ihrer Broschüre vorwiegend die mehr allgemeine kulturhistorische wie auch aktuelle ideologische Bedeutung der Dichtung und Weltanschauung XXXI

Schillers. Die — im Teil IV der Dokumentation — zusammengefaßten zwölf Aufsätze charakterisieren durch die unterschiedlichen Autorenstandpunkte in der Erbefrage den weiteren Verlauf der Schiller-Debatte bis zu ihrem Abschluß. Für die zahlreichen kritischen Ratschläge und die wirksame Unterstützung beim Entstehen der Einleitung danke ich Herrn Prof. Dr. Eike Middell und Herrn Prof. Dr. Rudolf Dau.

TEXTE

I.

[Franz Mehring] Schiller und die Gegenwart Vor etwa dreißig Jahren erschien eine Übersicht über die Schillerliteratur in Deutschland, die nicht weniger als 67 Gesamtausgaben und 323 Einzelausgaben von Schillers Werken sowie 711 Schriften über den Dichter verzeichnete. Seitdem ist diese Literatur ins Ungemessene angeschwollen, wie eben jetzt wieder, zum hundertsten Todestag des Dichters, eine wahre Meereswoge von Schillerschriften über den deutschen Büchermarkt hereinbricht. Rechnet man dazu, wie unzählige Male über Schiller gehandelt worden ist, in Erscheinungen der periodischen und nichtperiodischen Literatur, die sich nicht ausschließlich mit ihm beschäftigten, so sollte man meinen, nichts müsse leichter sein, als mit wenigen Worten zu sagen, wie es historisch um Schiller bestellt gewesen sei. Gleichwohl ist diese Meinung durchaus hinfällig. Schon ein flüchtiger Blick in die gegenwärtig wie Pilze aus dem Boden schießenden Schriften über Schiller offenbart einen Sprachenwirrwarr wie einst beim Turmbau zu Babel. Es ist auch kein Zufall, daß es bei aller tropischen Überfülle der Schillerliteratur noch immer an einer leidlichen Biographie des Dichters fehlt, daß die drei großen Anläufe, die in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Brahm, Minor und Weltrich zu diesem Ziele gemacht wurden, in der Mitte oder gar schon im Anfang steckengeblieben sind. Und dabei hat man alle Vorarbeiten für eine abschließende Biographie Schillers längst erledigt. Seine Werke sind mit der berühmten „philologischen Akribie" durchackert und wieder durchackert worden; keine 3*

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Scholle ihres Erdreichs, die nicht drei-, die nicht zehnmal umgepflügt worden wäre, um jedem Fäserchen darin nachzuspüren, sei es nun des Krauts oder Unkrauts. Ebenso steht es mit dem Briefwechsel des Dichters bis auf die gleichgültigsten Zettel herab, und wie sein Geistesleben bis zu den trivialsten Erläuterungen klargestellt worden ist, so bietet sein einfacher Lebenslauf keine Rätsel irgendwelcher Art, zumal da auch in dieser Beziehung bis zur überflüssigsten Kleinkrämerei herab für das nötige Licht gesorgt worden ist. Wo steckt denn nun eigentlich die Schwierigkeit, Schillers historische Erscheinung zu begreifen? Sie steckt in dem Walle der Tradition, womit sich die bürgerliche Klasse die Gestalt des Dichters verbaut hat. Ahnlich wie um Lessing hat sich auch um Schiller eine ganze Legende gewoben, wenn auch in einer anderen Tendenz; wie Lessing in unserer klassischen Literatur die historische Mission der Hohenzollern, so soll Schiller in ihr die historische Mission des deutschen Bürgertums versinnbildlichen. Von diesem Standpunkt aus ist alles Mögliche und Unmögliche in Schiller hineingelegt worden, wovon seine arme Seele nicht einmal etwas geahnt, geschweige denn gewußt hat. Und wenn es auch ungerecht sein würde zu sagen, daß diese Legende von vornherein in trügerischer Absicht herangezüchtet worden sei, so ist es doch nur richtig zu sagen, daß, wer als wissenschaftlicher Forscher an Schiller herantreten will, zunächst einmal mit der Legende über Schiller aufräumen muß. Das geht aber über bürgerliche Kraft, und es ist schon ein Kompliment für die ernsteren Literarhistoriker, daß sie sich nicht erst an die heikle Aufgabe wagen oder verstimmt abbrechen, sobald ihre historische Gewissenhaftigkeit in einen unlöslichen Konflikt mit ihren bürgerlichen Vorurteilen gerät. Nur die fingerfertigen Lieferanten der gerade fälligen literarischen Marktware schreiben ohne allen Skrupel ihre Bücher und ihre Büchlein über Schiller, die denn auch danach sind. So ist es durchaus nicht übertrieben, wenn die deutschen Arbeiterblätter von einem „bürgerlichen Schillerrummel" sprechen. Sogar in die bürgerliche Presse dringt diese Auffassung ein, wenigstens in diejenigen ihrer Organe, die an ihrem Teile bestrebt sind, aus dem gegenwärtigen Schillertrubel mehr als ein bloßes Jahrmarktergötzen zu machen. Die Frankfurter Zeitung hat schon wiederholt darüber geklagt, so erhebend und schön wie die Schillerfeier von 1859 werde die Schillerfeier von 1905 4

nicht werden. Da hat sie freilich recht, aber wer hat sie auch geheißen, Feigen vom Distelstrauche zu ernten? Die Schillerfeier von 185g beruhte ebenfalls auf der Schillerlegende; das deutsche Bürgertum feierte nicht den Schiller, der historischwirklich gewesen war, sondern den Schiller, den es sich für seine Bedürfnisse zurecht gemacht hatte, nicht den Schiller, der den Deutschen den Beruf abgesprochen hatte, jemals eine moderne Nation zu bilden, sondern den Schiller, der angeblich der Herold der deutschen Einheit im Sinne einer modernen Nation gewesen sein sollte. Aber diese Legende selbst hatte damals noch historische Kraft; sie war keine Lüge und keine Phrase; vielmehr war sie, wenn auch von keinem starken Willen gezeugt, so doch von einer großen Sehnsucht geboren, und so vermochte sie wirkliche Begeisterung zu entzünden, nicht sowohl eine Begeisterung f ü r Schiller als eine Begeisterung in Schiller. Aber wie kann heute von solchen Dingen überhaupt nur gesprochen werden? Was kann Schiller noch bedeuten für die Bourgeoisie, die ihre ästhetischen, politischen und sozialen Ideale längst an den baren Profit aufgelassen hat? Oder was kann er für das Kleinbürgertum bedeuten, das, vom großen Kapital unrettbar zerstampft, in mittelalterlichen Luftspiegelungen vom Schlage der Zunft sein illusorisches Heil erblickt? Wenn diese Klassen heute mit Schillers Namen krebsen, so ist es im schlimmeren Falle eine Lüge und im besseren Falle eine Phrase. Anders steht die Arbeiterklasse zu Schiller. Frei von den bürgerlichen Vorurteilen, sieht sie ihn in der Zeit, worin er wirklich gelebt hat; indem sie die historische Bedingtheit seines geistigen Schaffens erkennt, weiß sie eben dadurch seine historische Größe zu würdigen. Sie kann niemals einen Kultus auch nur mit Schillers Geiste treiben, wie ihn die deutsche Bourgeoisie mit Schillers Namen getrieben hat; sie braucht für ihre großen Ziele keine Schwurzeugen aus der Vergangenheit, auch nicht aus der klassischen Literatur, selbst wenn sie nicht schon durch ihren historischen Instinkt davor bewahrt wäre, in der wunderlichen Weise der bürgerlichen Halbschlächtigkeit die Zeiten durcheinanderzuwerfen. Aber eine tiefe Sympathie verbindet sie mit diesem Dichter, dessen mächtiges Freiheitspathos erst in ihren gewaltigen Kämpfen das historische Echo gefunden hat, dessen heldenhaftes Arbeiten und Kämpfen und Leiden ihn immer einer Klasse teuer machen muß, deren Leben auch aus

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Arbeiten und Kämpfen und Leiden besteht, dessen ernstes Schicksal sie u m so tiefer bewegt, als sie mitten in allem Elend doch schon des „Sieges hohe Sicherheit" empfinden darf, die Schiller nur erst in den Wolken einer idealen Welt finden konnte. E s ist eine kleinliche und dabei auch von völligem Mißverständnis des historischen Materialismus zeugende Auffassung, zu sagen, daß Schiller durch die höfische Umgebung, worin er als Mann gelebt habe, sozusagen entrevolutioniert worden sei. Gewiß hat dies höfische Milieu bis zu einem gewissen Grade auf Schiller abgefärbt, wie sich selbst der größte und stärkste Mensch nie völlig dem Einfluß seiner Umwelt zu entziehen vermag, aber nicht diese kleinen Flecken sind das Charakteristische an Schiller, sondern umgekehrt die Hoheit der Gesinnung, die er der unglaublichen Enge der Verhältnisse abzutrotzen wußte, in denen er lebte. Viel feiner und tiefer sagt Albert Lange: „In Schillers ganzem Wesen lag jener Zwiespalt sehr tief, der das 18. Jahrhundert so mächtig bewegte, und an welchem nur wenige glückliche Naturen, wie Goethe, fast ahnungslos vorübergingen. Wie in seinem Naturell eine feurig zum Idealen emporstrebende Natur mit einer mächtigen Sinnlichkeit kämpfte, so führte ihm sein Bildungsgang tiefe, gewiß nie völlig geschwundene Eindrücke einer kindlichen Frömmigkeit zu, die bald mit seinem scharfen Verstände in Kampf geraten mußte." Damit ist treffend die Zwiespältigkeit der bürgerlichen Aufklärung gekennzeichnet, an der Goethe fast ahnungslos vorüberging, nicht weil er eine glückliche Natur, sondern weil er eine Künstler- und keine K a m p f n a t u r war. Schiller aber stand unter den großen Kampfnaturen der bürgerlichen Aufklärung in vorderster Reihe. Das erste Zeugnis, das urkundlich über sein persönliches Wesen überliefert worden ist, betont gerade diesen P u n k t ; Kraftäußerung vor allem habe ihn begeistert, schrieb sein Jugendfreund Scharffenstein, und wenn Schiller kein großer Dichter geworden wäre, so hätte er nur ein großer Mensch im aktiven öffentlichen Leben werden können. Sein ganzes Dichten und Trachten zeigt, daß er das wirkende Leben über das betrachtende erhob, das Tun dem Erkennen, die T a t , wie es im Fiesco heißt, der K u n s t und dem Scheine vorzog. Und so sagte schon vor siebzig Jahren der bürgerliche Literarhistoriker Gervinus mit R e c h t : „Nur da die wirkliche Welt gar zu steil vor den Gesinnungen des Jünglings dalag, ward er auf die Dichtung und das Reich der Ideale zu-

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rückgewiesen. Aber auch da nahm er den Stoff fast immer aus der wirklichen, handelnden Geschichte her und schien es richtig für des Dichters höchsten Beruf zu halten, Taten zu besingen, wie er umgekehrt des Dichters Preis die schönste Krone der Taten nannte." Das ist wieder viel klarer und verständiger als die Auffassung, die materialistisch sein soll, aber tatsächlich nur naiv ist, wonach Schiller durch die höfische Umgebung von Weimar aus einem stolzen Revolutionär ein zahmer Philosoph geworden sei. Der Dualismus, die Zwiespältigkeit der bürgerlichen Aufklärung war untrennbar von ihr und konnte selbst von ihren stärksten Kämpfern nicht überwunden werden; immer danach ringend, das wirkliche Leben über das betrachtende zu erheben, wurden sie immer wieder dazu gezwungen, das wirkliche dem betrachtenden Leben unterzuordnen. So auch setzte der Jüngling Schiller die Tat vor die Kunst und den Schein, während der Mann Schiller die Kunst und den Schein der Tat vorziehen mußte. Er hat seine Welt des Ideals, die heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen, mit aller dichterischen Kunst geschmückt, über die er verfügte, und als Werk des Genius bleibt sie der Menschheit unverloren; wer sie rein ästhetisch genießen will — was immer nur die Sache weniger gewesen ist und sein konnte —, der wird einen seltenen Genuß haben. Aber als Weltanschauung hat sie für die moderne Arbeiterklasse nur den Wert einer blinkenden Glasperle, denn diese Klasse braucht sich kein Reich in die Wolken zu bauen, da sie ihr Reich auf der festen Erde gründen kann und gründet. Dies ist der große Vorbehalt, den die moderne Arbeiterbewegung gegen alle bürgerliche Aufklärung zu machen hat und somit auch gegen den größten Dichter dieser Aufklärung. Denn wenn wir heute kaum noch begreifen, wie jemals ernsthaft darüber gestritten werden konnte, ob Goethe oder Schiller der größere Dichter gewesen sei, so darf man doch mit gutem Fuge sagen, daß unter den großen Gestalten der bürgerlichen Aufklärung, und nicht nur in Deutschland, keine mit dichterischen Gaben so reich gesegnet gewesen sei wie Schiller. Weder höchste noch reine Kunst findet sich in seinen dichterischen Werken, und die herbe Kritik, die einst die romantische und dann die naturalistische Schule an seinem Dichterberuf übte, focht ästhetisch nicht eben mit ganz stumpfen Waffen. Aber immer wieder sank die Schale zugunsten Schillers, zumal in der Arbeiterklasse, 7

die sich zu ihrem Glücke ihren Geschmack noch nicht von den starren Formen einer mehr oder minder einseitigen Ästhetik regeln zu lassen braucht. Solange sie mitten in dem heißen Kampfe um der Menschheit große Gegenstände steht, wird sie gern die tönende Stimme dieses Kämpfers hören, der aus seinem tapferen Herzen den unversieglichen Mut schöpfte, alle Plagen einer geknechteten Welt zu überwinden.

Max

Maurenbrecher

Was ist uns Schiller? Die Poesie der Rütli-Szene empfinden wir heute noch ganz unmittelbar. In ihr steckt Leben, das auch noch unser Leben ist. Solange es eine deutsche Arbeiterbewegung gibt, gehen die Worte von der Tyrannenmacht und von den ewigen Rechten, die der Bedrängte sich vom Himmel herabholt, durch unsere Reihen. Das ist der Punkt, an dem auch der Proletarier Schiller versteht und Schiller empfindet. Ähnlich sind uns einzelne Szenen aus anderen Dramen noch vollkommen lebendig: Der Kammerdiener, der der fürstlichen Mätresse den Schmuck bringt, um dessentwillen Hunderte von Landeskindern nach Amerika verkauft worden waren; die Königin Maria, die den Edelsten, Vornehmsten und Besten des englischen Volkes die täuschende Maske ihrer Vornehmheit und Gerechtigkeit abreißt und ihre Feigheit, ihre würdelose Sklavenmoral ans Licht stellt; der Triumph, daß die Verfolgte der Verfolgerin einmal all das Unrecht, all die Gewalttat, die sie erlitten, all die Verachtung, die sie für ihre Peinigerin in sich trägt, ins Gesicht sagt, wissend, daß es ihr Tod ist; die unübertreffbare Kennzeichnung der Tyrannin, die die Tat will und den Täter bestraft: das und Dutzende ähnlicher Einzelmomente packen jeden, der selbst von ungerechtem Gericht, von würdevernichtender Aussaugung zu erzählen weiß, mit unmittelbarer Gewalt. Darum liebt der Proletarier seinen Schiller, weil er, wie kein zweiter in Deutschland, Typen von Unterdrückung und Befreiung schuf.

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Haben wir damit den „ganzen" Schiller? Wird damit schon Schiller wirklich zum Unseren gemacht? Jeder Gymnasialprofessor zitiert gegen uns die Hyänenweiber der Glocke. Jeder noch etwas Gebildetere weiß, daß Schiller, der „Ehrenbürger" der Französischen Revolution, ein Pamphlet zur Verteidigung Ludwigs X V I . hat schreiben wollen, daß sein politisches Glaubensbekenntnis zum Antritt des neuen Jahrhunderts in den Worten mündet: „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, und das Schöne blüht nur im Gesang." Ist diese sentimentale Resignation ein Stück des Dichters, das unter uns heute noch Lebenskraft haben kann? Wir haben genug getan, wenn wir sie aus den Zuständen der Zeit des Dichters verstehen, ihre geschichtliche Notwendigkeit begreifen und sie damit achten und würdigen lernen. Aber mitleben kann unter uns niemand mehr, was wir erst mühsam historisch rechtfertigen müssen. So ist der „ganze" Schiller doch für uns tot? So ist's doch nur eine historische Gedenkfeier, die wir in diesen Tagen begehen? Sicher ist, daß Schillers Zeit für uns zur reinen Vergangenheit gehört. Mehr noch als alle anderen Gruppen des Volkes ist das Proletariat über die Zustände vor hundert Jahren hinaus. Es ist nicht mehr die Periode unseres eigenen Lebens, in der Schiller gelebt hat. Aber vielleicht ist's gerade seine Größe, daß er reicher war als seine Zeit, daß es Gebiete gab, in denen das Jahrhundert, das nach ihm kam, seinen ganzen Inhalt noch nicht im entferntesten erschöpft hat. Gibt es solche überzeitliche Größe in Schiller? Die deutsche Kultur des 18. Jahrhunderts ist eine der merkwürdigsten, die in der Weltgeschichte zu finden ist. Ihre soziale Struktur ist die fürstliche W e l t und der fürstliche H o f ; ihr geistiger Inhalt sind die Ideen, die in der bürgerlichen W e l t Westeuropas entstanden waren. Dieses Auseinanderklaffen von Unterlage und Wesen, diese Dissonanz zwischen Form und Inhalt ist ihre Schwäche so gut wie ihre Stärke. Es gab ja in dem Deutschland des 17. Jahrhunderts kein Bürgertum, das eigene Klasseninteressen und Machtinstinkte in sich hätte entwickeln können. Der Umschwung im Welthandel, der Westeuropa hob, ließ Mitteleuropa verarmen; der Dreißigjährige Krieg, der Sieg der Fürstenklasse im Westfälischen Frieden, die staatliche Zersplitterung, die Kapitalarmut, die geknickte Energie ließen Handel und Unternehmung nicht ge-

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deilien. Die paar Ansätze größeren Reichtums in Breslau, Hamburg, Leipzig, Frankfurt a. M. genügten nicht, eine einheitliche bürgerliche Klasse zu schaffen. Die Fürstenhöfe waren die einzigen Stätten geistiger Kultur. Ihre Beamten, wirtschaftlich durchaus zum Bürgertum zu rechnen, waren sozial doch nichts anderes als Anhängsel der Monarchien; die Hofgesellschaft, Beamte, Militärs, Adel und ihre Damen bestimmten den Ton des Lebens in der feinen Welt. Nur für die Hofgesellschaft schrieb ein Leibniz seine philosophischen Traktate und schuf ein Schlüter seine Standbilder. Rationalismus und Aufklärung waren in Deutschland durchaus die K u l t u r der Höfe, nicht, wie in Frankreich, die Kultur eines immer oppositioneller werdenden Bürgertums. Die Generation, die mit Schiller jung war, war die erste, die aus diesen Banden höfischen Mäzenatentums sich gewaltsam zu lösen begann. Schiller selbst war der feurigste, wenn es galt, gegen Tyrannen zu schreiben, in dem tintenklecksenden Säkulum nach großen Männern zu fahnden, einem Eroberer fürstlicher A r t den ganzen Fluch glühenden Rachedursts und bürgerlicher Empörung ins Gesicht zu schreien. Aber das alles war nur eine Wirkung der französischen Revolutionsliteratur, kein eigenes, bodenständiges Gewächs aus deutschem Boden. Als der jugendliche Dichter zur Selbstkritik reifte, strich er die tyrannenfeindlichen Ungeheuerlichkeiten aus seinen Werken. Unter den deutschen Verhältnissen war es ein Zeichen von Reife, daß er im Stile von Kabale und Liebe nicht weitergedichtet hat. Eine Zeitlang blendete ihn die Illusion vom aufgeklärten Despotismus; er schuf den Carlos und den Weltbürger Posa, um, wie er selbst sagte, das Bild eines „Fürsten aufzustellen, der das höchste mögliche Ideal bürgerlicher Glückseligkeit für sein Zeitalter möglich machen sollte". Es entstand die Stimmung der Glocke, nach der es unmöglich ist, daß die Völker sich selbst befreien; nur der Meister hat das Recht, die Form zu zerbrechen zur rechten Zeit. Aber die Idee vom weltbürgerlichen Fürsten, der Freiheit s c h e n k e , war zu unmöglich, um auf die Dauer das alte Jugendfeuer des Revolutionärs ganz ersticken zu können. So ging es dem Dichter in der Politik nicht anders, als es ihm in der Liebeslyrik ergangen war. In jungen Jahren, als Blut und Sinne noch heißer waren, hat er selbst einem „Moralisten" ins Gedächtnis gerufen:

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O denk zurück nach Deinen Rosentagen Und lerne: die Philosophie Schlägt um, wie unsere Pulse anders schlagen, Zu Göttern schaffst Du Menschen nie. Als er älter ward, ist auch er ein Opfer des Satzes geworden, daß die Philosophie sich nach der Schnelle des Blutes in den Adern richtet. An die Stelle der Laura-Lieder und des „Kampfes" sind Thekla und Berta und ähnliche mehr getreten. Auch in der Politik oder besser gesagt, im Dichten von Menschenglück und Menschenwürde sind seine Gedanken umgeschlagen, als die Pulse langsamer zu gehen begannen. An die Stelle der Revolution oder Reform nach außen trat die Besinnung auf Adel und Würde des Charakters im Innern. „In des Herzens heilig stille Räume mußt du fliehen aus des Lebens Drang": es blieb den deutschen Literaten um 1800 wirklich nichts anderes übrig, wenn sie die innere Haltung, die Achtung vor sich selbst und die Hoheit des neuen Persönlichkeitsideals nicht völlig wieder verlieren sollten. Wie hätten ein Professor in Jena, ein Staatsminister oder ein Oberkonsistorialrat in Weimar bürgerliche Freiheit als politisch-soziales Ideal durchsetzen können! In gewisser Beziehung kann man diesen Umschlag unserer klassischen Literatur — es ist ja nicht Schiller allein, dem es so erging — in den Idealismus in Parallele setzen mit der Entstehung des Urchristentums im griechisch-römischen Reich. In beiden Fällen schlägt der Freiheitsdurst, der nach außen nichts mehr zu bewegen vermochte, in das Innerliche, Religiöse und Jenseitige um. In beiden Fällen war dieses Umschlagen eine psychologische Notwendigkeit und war von größtem Segen für die Erhaltung der Selbstachtung derer, die nach außen in ärmlichen und unterdrückten Verhältnissen lebten. „Der Mensch ist frei, und wär er in Ketten geboren"; dies Evangelium Kants bedeutet für die Leute des 18. Jahrhunderts ungefähr dasselbe, als wenn es bei Paulus heißt, daß Gott das Schwache, das Unedle, das Verachtete vor der Welt sich erwählt hat, um damit sein neues seliges Reich zu bauen. Der Glaube, daß der Wert des Menschen nicht durch die Zustände bestimmt wird, in denen er lebt, schafft in beiden Fällen das Selbstbewußtsein, das dem Charakter Rückgrat gibt, auch in einer jämmerlichen Welt seine Würde nicht zu verlieren. Daß seine Umwelt jämmerlich und klein war, diese Erkenntnis

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hat Schiller auch in seinen reiferen Jahren niemals verlassen. Noch leben die Sänger, die, wie einst, den Menschen zum Himmel erheben könnten. „Nur fehlen die Taten, die Lyra freudig zu wecken; es fehlt, ach, ein empfangendes Ohr." Darum nimmt er seine Zuflucht zum historischen Drama. Die Gegenwart bietet ihm, in Deutschland wenigstens, keinen Stoff, der groß genug wäre, den Inhalt des Zeitalters zu erschöpfen, in dem um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen. Es scheint ihm undenkbar, das große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt, an den armseligen Lebensinhalten seiner eigenen Gegenwart darstellen zu können. Damit wurde Schiller recht eigentlich zum dramatischen Propheten einer kommenden Zeit. Erst nach 1813 ist er wirklich populär geworden. Seine Dichtungen haben das Bürgertum begleitet, als es um Freiheit und um Herrschaft wirklich zu ringen begann. Er ist der große Genius des Liberalismus gewesen, als zur Jahrhundertfeier seines Geburtstags der Liberalismus gerade anfing, zu einem neuen Schlage auszuholen. Und er ist mit Ferdinand Lassalle zur Arbeiterklasse gewandert, als der Liberalismus eben schmählich erlag und die Arbeiterbewegung sein Erbe anzutreten begann. Nicht für seine Gegenwart, aber für die Zukunft, die nach ihm kam, ist Schiller der große Freiheitsdichter geworden, als der er heute noch im Bewußtsein der kämpfenden Klassen lebt. Solange wir neben Jungfrau von Orleans und Teil keine andern, neueren, proletarischen Dichtungen zu setzen haben, solange bleibt eben er auch unser Prophet und der große Künder auch unserer Kämpfe. Und noch eins. Der deutsche Idealismus des 18. Jahrhunderts fand den Satz vom A d e l d e s M e n s c h e n . Die Menschheit weder in dir noch in andern als Mittel gebrauchen, sondern immer nur als Zweck ihrer selbst — das hat Kant als Inhalt des Sittengesetzes gefunden. Diesen Satz hat Schiller in Gedichten und Dramen behandelt. Dieser Satz ist der Inhalt auch all seiner philosophischen Schriften. Dieser Satz vor allem ist der Inhalt seines Lebens, seiner Kämpfe, Leiden und Freuden geworden. In einem kränklich-schwachen Körper, in einem ärmlich-gedrückten, oft nur noch vom Kredit und von fürstlichen Geschenken lebenden Haushalt hat er Gewissen, Ehre, innere Freiheit und Würde sich behauptet. „Tief unter ihm, im wesenlosen Scheine,/Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine." Daß 12

der Menschheit verlorener Adel wiederhergestellt werden, daß der Mensch wieder Würde und Selbstachtung, Menschenwert lerne, das war der Inhalt all seiner Werke, von den revolutionären Räubern bis zu den Freiheitskämpfern des Teil. Das war der eigentliche Kerngedanke seines ganzen Charakters. Sind das Töne, für die in uns keine Saite mehr schwingt? Ist das nicht Leben von unserm Leben und Blut aus unserem Blut? Wer kämpft heute für der Menschheit verlorenen Adel? Wer hat das gigantische Sehnen, eine Welt zu zertrümmern und eine Welt neu zu schaffen zu Menschenehre und Menschenglück? Armer Schiller, für den heute die Backfische und die Gymnasiasten schwärmen! Die Alten in der Bourgeoisie haben doch nur ein müdes Lächeln für dich: sonderbarer Schwärmer! Es war eine Illusion, so wunderbar schön, die am Frühlingshimmel des deutschen Bürgertums stand, Menschenglück und Menschenwürde zu schaffen. Und sie hat so bitter, so unsagbar bitter geendet. Eine neue Form von Herrschaft und Unterdrückung, neue Ausbeutung und neue Erniedrigung für Millionen fühlender Menschen, das ist das einzige, was bis jetzt aus dem Persönlichkeitsideal des deutschen Idealismus ward. Darüber haben die Alten den Glauben verloren! Nun sie selber satt geworden, lächeln sie über den geistigen Hunger, der heute die Millionen erfaßt hat. Und sie wollen dich heute feiern! Armer Schiller! Es sind wirklich nur noch die „Ewigblinden", die dich heute im Innersten wirklich verstehen.

[Franz

Mehring]

Schiller und die Arbeiter Am Vorabend der Schlacht bei Jena, die den friderizianischen Preußen ein ebenso verdientes wie ruhmloses Ende bereitete — im nächsten Jahre werden wir ihren Säkulartag feiern —, wetzten die Berliner Gardeleutenants, sozusagen die Creme des ostelbischen Junkertums, ihre Degen auf den Steinstufen, die zum Hotel des französischen Gesandten hinaufführten, und sangen dazu das Reiterlied aus Wallensteins Lager. 13

Auf der einen Seite ist diese Tatsache überaus charakteristisch für die überragende Dichtergröße Schillers; konnte er einst eine verkommene und verrottete Klasse begeistern, die längst in dem Grabe der Schande verwest, das ihr die Geschichte geschaufelt hat, so begeistert er heute noch das deutsche Proletariat, die revolutionärste aller modernen Klassen. Auf der andern Seite zieht jedoch die Erinnerung an den taumelnden Rausch, den Schillers Pathos einst in den Jammerhelden von Jena entzündete, der proletarischen Begeisterung für Schiller eine bestimmte Grenze. Eine bestimmte Grenze nicht in dem Sinne, als ob der moderne Arbeiter sich für Schiller nur bis zu einem gewissen Grade begeistern dürfe; sowenig sich die Begeisterung für lange Jahre einpökeln läßt, sowenig läßt sie sich literweise abmessen. Die Grenze liegt nicht in dem W i e oder W i e v i e l , sondern in dem W a s und B i s w o h i n . Die Bourgeoisie feiert den ganzen Schiller, wie er leibte und lebte; sie nimmt unbesehen seine sämtlichen Werke in ihr geistiges Inventar auf; sie verhimmelt gleichermaßen das Große und das Kleine an ihm und beweist eben dadurch, daß sie jede innere Beziehung zu ihm verloren hat. Denn wenn sie wirklich noch seines Geistes einen Hauch spürte, so würde sie lebhaft empfinden, daß sie in einer völlig andern Welt lebt, als in der Schiller lebte, daß sie die Dinge mit ganz anderen Augen nicht nur ansieht, sondern auch ansehen muß, als er sie angesehen hat. In einen gleichen Fehler kann die Arbeiterklasse nicht verfallen, nicht weil sie um so viel genauere und reichere Hilfsmittel zum Studium Schillers besäße als die Bourgeoisie — vielmehr steht sie ihr in dieser Beziehung unendlich nach —, sondern weil sie noch eine innere Beziehung zu Schiller hat. Wenn Goethe gesagt hat, der Gedanke der Freiheit sei in Schillers ganzem Leben und Schaffen lebendig, so ist es dieser Gedanke, der den Dichter der Räuber und des Teil der Bourgeoisie ebenso entfremdet hat, wie er die Arbeiterklasse immer wieder zu ihm heranzieht. Daraus ergibt sich aber zugleich, daß die Bourgeoisie — da sie sich nun einmal für Schiller begeistern muß und will, um den Schein zu erwecken, als kenne sie noch höhere Interessen als die praktisch-nüchterne Geldmacherei — Schillers Freiheitsidee möglichst ins Unbestimmt-Verschwimmende verwischen muß, während die Arbeiterklasse gerade diese Freiheitsidee so konkret wie möglich zu erfassen bestrebt ist, wobei sie dann eben auf eine bestimmte Schranke stößt. 14

Um noch einmal an die historische Reminiszenz anzuknüpfen, womit wir diese Zeilen eröffneten, so darf kein Arbeiter, der sich für Schiller begeistert, auch nur einen Augenblick vergessen, daß Schiller starb, noch ehe die Schlacht bei Jena geschlagen war, oder mit andern Worten, daß seit Schillers Tod die deutsche Welt von Grund aus umgestaltet worden ist. Eine ganz andre Welt, als wir sehen, stand vor Schillers Augen, als er seine unsterblichen Werke schuf, die jedoch niemals den Rang unsterblicher Werke erreicht haben würden, wenn sie nicht tief und unlöslich eben in ihrer Zeit gewurzelt hätten. Gerade dies meinte Schiller selbst, als er sagte: Denn wer den Besten seiner Zeit genug Getan, der hat gelebt für alle Zeiten. Um diesen ganzen Zusammenhang noch an einem Beispiele zu erläutern, so wählen wir den Idealismus Schillers, den die Bourgeoisie für ihr Leben gern dem „rohen Materialismus" des klassenbewußten Proletariats aufschwatzen möchte. Die Voraussetzung von Schillers Idealismus war der unversöhnliche Widerspruch zwischen dem Guten und dem Wirklichen, zwischen einem menschenwürdigen Dasein der Massen und der unheilbaren Verrottung, die in dem Deutschland seiner Zeit bestand; eine Versöhnung des Widerspruches fand Schiller, wenn auch nur für einen kleinen Kreis auserlesener Geister, im Reiche der Kunst oder der gleichbedeutenden Begriffe, unter denen er sie darstellte: des Scheins, der Gestalt, der Form, des Bildes, des Gesanges. Das war für Schillers Zeit, der jede praktische Möglichkeit auch nur des bürgerlichen Klassenkampfes fehlte, eine bedeutsame und in ihrer Art großartige Anschauung, aus der die edelsten und erhabensten Früchte unsrer klassischen Literatur erwachsen sind. Aber diese Anschauung brach zusammen oder wirkte doch unheilvoll, soweit sie künstlich aufrechterhalten wurde, von dem Augenblick an, wo ein bürgerlicher Klassenkampf in Deutschland möglich wurde. Nun gar seitdem der proletarische Klassenkampf entbrannt ist, der, im schroffsten Gegensatz zu dem Schillerschen Idealismus, von der Voraussetzung ausgeht, daß durchaus kein unversöhnlicher Widerspruch zwischen dem Guten und dem Wirklichen, zwischen dem menschenwürdigen Dasein der Massen und dem Zwange der gesellschaftlichen Einrichtungen besteht, sondern daß dieser Widerspruch durch die Beseitigung aller herrschenden und unterdrückenden Klassen alsbald aufgehoben sein würde, seitdem 15

ist der Idealismus Schillers nur eine wertlose Scherbe, an der sich der proletarische Klassenkampf wohl die Finger zerschneiden, aber in der sich niemals seine eigentümliche Größe widerspiegeln kann. Man sage nicht, daß eine Herabsetzung Schillers darin liege, wenn die moderne Arbeiterklasse sein geistiges Erbe nur mit kritischem Vorbehalt antritt. Im Gegenteil! Sie erweist dem Genius die höchste und würdigste Ehre, wenn sie an ihm trennt, was noch lebendig und was schon abgestorben ist. Despotischer Größenwahn mag sich an der unmenschlichen Vorstellung ergötzen, daß sein Ruhm in Ewigkeit dauere, wenn alles so bleibe, wie es von ihm dekretiert und reglementiert worden sei. Große Denker und Dichter aber huldigen einem schöneren Ehrgeize. Ihre Werke sollen nur eine Stufe auf dem Vollendungsgange der Menschheit sein, und je schneller die Menschheit auf dieser Stufe zu höheren Zielen emporsteigt, um so herrlicher sehen sie die Arbeit ihres Lebens gekrönt. Schiller selbst, wenn er heute sprechen könnte, würde sein Dasein für verloren erklären, wenn die deutsche Welt seit seinem Tode nicht unendlich vorwärtsgekommen wäre. In diesem Sinne dürfen auch die modernen Arbeiter von Schiller sagen: Denn er war unser! Sie ehren ihn, wie es seiner und ihrer würdig ist, indem sie ihn aus seiner Zeit heraus begreifen. Ihn an unsrer Zeit zu messen, hieße ihm Unrecht tun oder unsrer Zeit. Schafft man hier oder da eine scheinbar vollkommene Harmonie, so klaffen an hundert andern Stellen um so tiefere Risse. Freilich um Schiller und Schillers Lebenswerk historisch zu begreifen, dazu bedarf es ernsten Lernens und Nachdenkens. Aber das ist eine genußreiche Arbeit, der moderne Proletarier ihre Mußestunden nicht fruchtlos opfern werden. Denn wenn sie, um über die Bourgeoisie zu siegen, ihr auch geistig überlegen sein müssen, so gibt es für sie kein Bildungsmittel, das sie so reich und schnell fördern kann wie unsre klassische Literatur. Für die Bourgeoisie wird das Gedächtnis Schillers nach dem eitlen Klingklang einiger Wochen wieder verrauscht sein; für die Arbeiterklasse aber wird es — so hoffen und wünschen wir — dauern, im Geiste des klassischen Wortes: Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen.

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Kurt Eisner

Schiller-Baalsdienst Am 14. November 1859 schrieb Leopold v. Gerlach, der Einflüsterer Friedrich Wilhelm IV. und betriebsame Generalstäbler der Gegenrevolution in Preußen, in sein Tagebuch: „L. Schneider (der Sekretär des Prinzregenten Wilhelm) erzählt mir, wie der Prinz von Preußen das von ihm verbotene Schillerfest gegen ihn einen Baalsdienst genannt hat, dann aber gesagt, wie er doch dabei Glück gehabt, indem er mit der Statue und der Schillerstiftung ganz Deutschland vorangegangen." Man hat selten Gelegenheit, so tief in die Psychologie des väterlichen Monarchismus zu blicken, wie durch dieses offenherzige Geständnis eines verschwiegenen Hoftagebuchs. Es enthüllt die armselige Regierungskunst, populären Stimmungen heuchlerisch scheinbar nachzugeben, indem man sie einfängt und verfälscht. Das Wort zeigt an einem denkwürdigen Beispiel, wie ein Monarch aus einem gegen sich gerichteten Baalsdienst der Freiheit eines volkstümlich gedachten Festes ein höfisch-bürokratisch sterilisiertes Schaugepräge gestaltete. In der großen Schillerfeier des Jahres 1859, der Hundertjahrsfeier der Geburt des Dichters, pochte noch das stürmische Herz des bürgerlichen Revolutionärs. Das deutsche liberale Bürgertum, gern leicht berauscht und doch vor der Tat und dem schroffen Anstoß zurückschreckend, gedachte mit der Schillerfeier eine Art loyalen Hochverrats zu treiben. Freilich auch schon damals fehlte es nicht an Versuchen, die ruhmvolle Gestalt Schillers barbarisch und verlogen zu übermalen. Die Frommen im Lande, wie Herr von Nathusius in seinem die Kreuzzeitung popularisierenden Volksblatt für Stadt und Land, entdeckten, daß Schillers Gedicht: Das Glück in jeder Zeile einem Bibelvers entspräche. Die Kreuzzeitung läutete die Schillerglocke der „Ordnung". Auf der anderen Seite erzählten die Liberalen, daß Schiller eigentlich nicht so schlimm sei. Das ewige Philisterblatt, die Vossische Zeitung, verteidigte Schiller gegen den Vorwurf, daß er ein arger Heide gewesen. Sie betrachtete als den bleibenden Gewinn der Schillerfeier die Niederlage, welche bei dieser Gelegenheit wieder jene Gegner der freien nationalen Entwicklung in Staat und Kirche erlitten haben, die wegen ihrer politischen 4

Jonas, Schiller-Debatte

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und kirchlichen Rückschrittsbestrebungen Gegner der nationalen Begeisterung für Schiller sind. Diese wendeten verschiedene Mittel an, u m die öffentliche Schillerfeier zu hintertreiben. Teils suchten sie die Verehrung des großen Dichters als einen heidnischen, menschenvergötternden K u l t u s zu verschreien, teils bemühten sie sich, was fast einen komischen Eindruck machte, durch allerlei sophistische Künste zu beweisen, daß Schiller kein Volksmann, kein Liberaler, sondern ein Mann der Reaktion, ein Konservativer in ihrem Sinne war. Diese Niederlage der Reaktion war nun tatsächlich ein Sieg. Denn es war in der T a t gelungen, v o l k s t ü m l i c h e Schillerfeiern fast überall, namentlich in Preußen, zu hintertreiben. Aber dennoch war das Gedenkfest eine ernsthafte Kampffeier. Schiller lebte noch und erschien darum als Feind. Damals hatte man wenigstens noch den Mut, den Revolutionär und Heiden zu verfemen, den man heute zu einem elenden Götzen verkrüppelt. In dreifacher Hinsicht wirkte Schiller: E r war in dieser trüben Zeit Führer gegen die Dunkelmänner der Orthodoxie, Herold politischer Freiheit und der geistige Vollender der erstrebten nationalen Einheit. Die Frömmler schleppten daher Schiller auf den Scheiterhaufen. Professor Leo in Halle, der als Erzeuger des skrofulosen Gesindels in die Unsterblichkeit geflügelter Worte geraten ist, denunzierte die Unchristlichkeit Schillers sogar in dem innig frommen Jubelruf des Hymnus an die Freude: „Brüder, überm Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen." Den Satz fand Leo „zweifelvoll". Überhaupt nahm man Anstoß an dem „ K u l t u s des Genies", als einem Götzendienst. Schon 1839 bei Einweihung des Thorwaldsenschen Schillerdenkmals in Stuttgart erhob sich dieses Geschrei über den Baalsdienst und forderte Gustav Schwabes demonstrativen Protest heraus. Die Vertreibung der Werke Schillers wurde künstlich erschwert. Durch Bundesbeschluß v o m 6. November 1856 war dem Baron v. Cotta das Verlagsprivileg bis 1867 verlängert worden. Und als 1859 das Berliner Schillerkomitee die Glocke illustriert als Festblatt verbreiten wollte, drohte Baron Cotta mit strengster Verfolgung des strafbaren Nachdrucks. Die Polizei von Ronneburg verbot dann die öffentliche Schillerfeier als unnötig, „indem Schiller hierorts seit wenigen Jahren erst bekannt geworden" und die Mitglieder des einen am Ort befindlichen Gesangvereins nicht gebildet genug seien, um die Verdienste dieses Dichters

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würdigen zu können. Diese väterlich sorgende Begründung mag die Tatsachen selbst richtig beobachtet haben. Der konservative Abgeordnete Pallaske, der im preußischen Abgeordnetenhause am 23. Februar 1905 der Anregung einer allgemeinen Schillerfeier in den Schulen widersprach, weil die Schüler der Landschulen und kleinen Städte „bisher von Schiller und namentlich seinen Werken so gut wie nichts erfahren haben", hat also lediglich die alte Ronneburger Polizeiverordnung v o m Jahre 1859 wiederholt. I m Heimatlande Schillers, in Württemberg, aber wußten die Herrschenden Schillers Gedächtnis nicht würdiger zu ehren als durch die Konfiskation des Stuttgarter Beobachters, der in einem Artikel Die Schillerfeier und die Kirche Württemberg das protestantische Spanien genannt hatte, in dem die Häupter der Pietisten und deren gläubige und ungläubige Anhänger öffentlich und heimlich gegen das Schillerfest predigten. Die Schillerfeier des Jahres 1859 fiel in die Zeit der großen europäischen Krisis. In Preußen herrschte das, was man die neue Ä r a nannte. Friedrich Wilhelm I V . stand vor seiner Auflösung. Der Prinzregent galt jetzt für einen Beschützer des Liberalismus. Das Bürgertum stand vor der Konfliktzeit, in die es allerdings mehr geriet als ging. In der Zeit der Schillerfeier wurde der National verein gegründet, durch den die Demokratie staatsmännisch nationalliberalisiert wurde. Die Schillerfeier war als ein Protest der damals schon ewigen liberalen Ideale gedacht, aber es sollte ein Protest mit allerhöchsten königlichen Privilegien werden. Das Berliner Zentralkomitee der Schillerfeier, dem u. a. L e t t e , Lewald und Märker angehörten, hatte sich vertrauensvoll an den Ministerpräsidenten von Auerswald gewandt; der versicherte die Herren seines lebhaftesten Interesses an dem Unternehmen. Daraufhin wurde ein umfängliches Programm entworfen. A m 9. November sollte ein Festzug stattfinden und auf dem Gendarmenmarkt eine Schillerstatue aufgestellt und am A b e n d beleuchtet werden. Für den 10. November waren Festfeiern in den Schulen, Verteilung von Schillerschen Schriften, Medaillen und Lithographien, ferner Fest Vorstellungen und Illumination vorgesehen. Ein Festessen am 11. November würde die Feier beschließen. Die eigentliche Volksfeier sollte in dem Festzug und der Aufstellung der Statue auf dem Gendarmenmarkt am Vorabend zum Ausdruck kommen. A b e r schon am 19. Oktober kam die Nachricht, daß die öffent-

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liehe Feier, namentlich die Festzüge und die Aufstellung der Statue, vom Polizeipräsidenten verboten seien. Polizeiminister war damals Graf Schwerin-Putzar, der schon im „revolutionären" Märzministerium ein paar Monate den Kultus verwaltete, auch jetzt — nach der Übernahme der Regentschaft durch den Prinzen Wilhelm — ein Gegner der Kreuzzeitungspartei, der mit liberalen Wendungen gewaltig um sich warf. An diesen Mann also appellierte das Komitee gegen den Polizeipräsidenten, indem es ihn bat, „uns die allerhöchste Genehmigung zu erteilen, auf dem Platz vor dem Königlichen Schauspielhause eine Statue Schillers durch Sammlung von freiwilligen Beiträgen zu errichten, und zugleich dem Gendarmenmarkt, der künftig dieses Denkmal tragen soll, den Namen Schillerplatz beizulegen." Außerdem wurde die Erlaubnis eines öffentlichen Aufzuges nachgesucht. Indessen, der Liberalismus wurde auch schon damals durch sein Regierungsvertrauen jämmerlich betrogen. Graf Schwerin, der in den Märzstürmen die Revolution regiert hatte, bestätigte das Verbot des Polizeipräsidenten. Die Entscheidung wirkt so preußisch-frisch und preußisch-ewig, als wäre sie gestern abgefaßt: „Wenn der Herr Polizeipräsident die Genehmigung zu den von dem Komitee beabsichtigten öffentlichen Aufzügen durch die Straßen der Stadt und den Manifestationen, die nach dem aufgestellten Programm unter freiem Himmel stattfinden sollten, versagt hat, so hat sich derselbe innerhalb der ihm zustehenden gesetzlichen Befugnisse bewegt. Nach §§ 9 und 10 des Gesetzes vom 1 1 . März 1850 ist die Cognition darüber, ob Versammlungen unter freiem Himmel und öffentliche Aufzüge durch die Straßen der Stadt zu gestatten, lediglich der Ortspolizeibehörde zugewiesen worden." Es war also alles in schönster gesetzlicher preußischer Ordnung. Aber Graf Schwerin galt nicht umsonst als liberaler Mann; und darum ließ er sich herbei, das Verbot auch sachlich zu begründen: „Der Abschluß eines Jahrhunderts" — schrieb er — „nach der Geburt eines Mannes von so großem Einfluß auf die Entwicklung des deutschen Geistes, wie F. v. Schiller, ist gewiß ein würdiger Gegenstand festlicher Feier, der die Teilnahme aller Gebildeten im Volke gesichert ist, und es werden daher auch unzweifelhaft von allen Seiten mit Dank die Bestrebungen des Komitees anerkannt, das sich in unserer Stadt den Vorbereitungen für diesen Zweck unterzogen hat. Damit aber kann sehr wohl eine Verschiedenheit der Auffassung über die Grenzen, innerhalb deren 20

sich eine solche Festfeier zu bewegen hat, bestehen, und Ew. Hoch wohlgeboren werden gewiß selbst nicht verkennen, daß diejenigen Teile des Programms, die sich auf die öffentlichen Aufzüge durch die Straßen der Stadt und die Teile auf dem Gendarmenmarkt beziehen, weit über das Maß dessen hinausgehen, was bei ähnlichen Erinnerungsfesten das Hergebrachte ist." Ferner wies Graf Schwerin auf den traurigen Gesundheitszustand des Königs hin und warf die Frage auf: „ob dieser Teil des Programms wirklich die allgemeine Zustimmung in der Bevölkerung der Stadt findet, wie Ew. Hochwohlgeboren voraussagen, oder ob nicht aus der Annahme eines erheblichen Gegensatzes der Anschauung in dieser Beziehung und einer Besorgnis der Gefährdung der öffentlichen Ordnung von diesem Gesichtspunkt aus, wesentliche Momente zur Rechtfertigung für die Versagung der polizeilichen Genehmigung herzuleiten sind." Man kennt heute den wirklichen Grund: Der liberale Regent haßte das Baalsfest. Aber das Schillerkomitee war nicht minder liberal. Es warf nicht etwa den ganzen Bettel hin und zitierte nicht die Grenze, die Tyrannenmacht habe. Es war im Gegenteil erfüllt von dem Wohlwollen des Ministers und beschwor die Mißvergnügten, an Schillers eigene Worte zu denken: „Seid einig, einig, einig." Nachdem auf diese Weise eine öffentliche, volkstümliche Schillerfeier unmöglich gemacht — auch in der Berliner Universität suchten die Kreuzzeitungs-Studenten die Feier zu hintertreiben — war für den Prinzregenten Wilhelm die Zeit gekommen, den Baalsdienst zu einem korrekten Hofdienst umzugestalten. Am 9. November erschien das vom Prinzregenten und dem Ministerium unterzeichnete Königliche Patent über den Schillerpreis, in dem Wilhelm, der insgeheim sich über den greulichen, revolutionären Baalsdienst beschwerte, behauptete: „Die hundertjährige Geburtstagsfeier Friedrich von Schillers hat in Uns den Wunsch hervorgerufen, das Andenken des großen Dichters durch eine zur Förderung des geistigen Lebens im deutschen Volke geeignete Stiftung zu ehren. Deshalb haben Wir beschlossen, für das beste, in dem Zeitraum von je drei Jahren, hervorgetretene Werk der deutschen dramatischen Dichtkunst einen Preis von ein Tausend Talern Gold nebst einer goldenen Denkmünze zum Werte von ein Hundert Talern Gold zu bestimmen." Wenn unsere Liberalen von heute darüber jammern, daß der königliche Schillerpreis gegenwärtig nicht mehr bedeute als

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irgend eine höfische Verdienstschnalle zur Belohnung guter Gesinnung, so haben sie vergessen, daß diese Praxis ganz im Geiste des Ursprungs ist. Der spätere Wilhelm I. wollte 1859 mit dem Schillerpreis nicht die Literatur im Sinne Schillers feiern, sondern mit der Popularität des Dichters sich selbst beliebt machen und die K r a f t des Revolutionärs ableiten. Vielleicht hat Jacob Grimm diese wahren Motive des Schillerpreises gekannt und widmete deshalb ihm in seiner schönen, ehrlichen, schlichten Schillerrede die bittere Bemerkung: „Der Gedanke ist matt und unbestimmt oder unbeholfen. Wozu auf diesen glänzenden Namen gegründet eine Armenanstalt für mittelmäßige Schriftsteller, für Dichterlinge, denen von aller Poesie abzuraten besser wäre als jene noch aufzumuntern?" Die Grundsteinlegung zum Schillerdenkmal am Vormittag des 10. November unterschied sich in nichts von irgend einer anderen höfisch-bürokratischen Veranstaltung. E s war ein durch und durch offizieller Mummenschanz, bei dem nur geladene Gäste zugegen waren und das „ V o l k " vertreten war durch Delegierte der Innungen und Gewerke, der in der Reihenfolge der Aufstellung mit Schlächtern, Maurern und Brettschneidern begann und mit Messerschmieden, Stellmachern, Kürschnern und Fabrikarbeitern schloß. D a s Berliner Schillerkomitee genoß schließlich noch das Glück, daß für den Abend des 10. November allgemeine Illumination gestattet wurde, unter der Voraussetzung, daß „die Haltung der Bevölkerung an jenem Tage die nötigen Bürgschaften für die öffentliche Ordnung bieten werde". Unter der „freudigsten Zustimmung" zu dem „hochherzigen A k t " des Prinzregenten forderte das Komitee auf, durch den Glanz der Illumination zu beweisen, daß Preußens Hauptstadt in Wahrheit dem Genius des geliebten deutschen Dichters huldigt. V o n dem Erfolg des Aufrufs berichten die Zeitungen, daß helle, glänzende Fenster in allen Straßen zu treffen gewesen seien. Aber auch Schillers Räuber schienen sich plötzlich zu melden. Zerknirscht berichtet die Vossische Zeitung: „Trotz der Bemühungen des gebildeten Teiles des Publikums bei dem Schillerfest, jeden störenden Mißklang fern zu halten, sind gestern Abend nach dem Schluß des Theaters dort auf dem Gendarmenmarkt ernstliche Exzesse verübt worden. E s hatte sich dort eine bedeutende R o t t e von Straßenjungen und Mitgliedern des niedrigsten Pöbels versammelt und trieb Unfug aller Art. Man riß zuletzt eine der Tri22

bünen ein, holte die angebrachte Dekoration herunter und versuchte ein Freudenfeuer anzuzünden . . . Es mußte daher um 1 1 Uhr Abends ein starkes Kommando Schutzmänner zu Fuß und zu Pferde aufgeboten werden, welches den Platz mit blanker Waffe räumte. An fünfzig Personen sind bei dieser Gelegenheit verhaftet worden." Die Liberalen schoben die Schuld auf die Schillerfeinde. Die Exzedenten mögen der Polizei nahe gestanden haben, die demonstrieren wollte, daß hinter der Schillerfeier die Hydra der Revolution ihr scheusäliges Haupt erhebe. Darauf deutet die Tagebuch-Aufzeichnung Leopold v. Gerlachs: „Es wird jetzt nach denen geforscht, die den Aufstand bei der Schillerfeier gemacht und die Skandale veranlaßt, ja veranstaltet haben. Wenn die revolutionäre Partei nicht geschickt den Verdacht gegen die konservative Partei gelenkt hätte, so wäre ein solcher Skandal wenigstens eine Warnung. So ist er nichts als eine sehr praktische Probe, eine Rekognoszierung." Der gezähmte Baalsdienst schloß mit einem Festessen bei Kroll. Die Stimmung muß sehr begeistert gewesen sein; denn als Nachklang finden wir die bittere öffentliche Klage, daß, obwohl das Kuvert zwei Taler gekostet, es keine warme Mehlspeise gegeben habe, kein Eis, kein Dessert und nur einen ziemlich schlechten Kuchen. Das war die Wirklichkeit der Schillerfeier vom Jahre 1859 : Aber die liberale Begeisterung flüchtete — wie Schiller selbst — aus dem grauen deutschen Elend in das Reich der Träume. Und durch die Festreden der deutschen Intelligenzen rauscht allerdings ein Strom freiheitlichen Geistes und Schillerscher Gesinnung. In den Reden und Gedichten, wenigstens in den besseren, tobte sich der e c h t e Baalsdienst aus. Jacob Grimm, Boeckh (der Freund Lassalles), Johann Jacoby, Ludwig Pfau, Herwegh, Grimm, Freiligrath, der Leipziger Professor Wuttke und viele andere feierten in stürmischer Begeisterung den Dichter der Freiheit. Beging man damals das Jahrhundert der Geburt, so heute das Jahrhundert des Todes Schillers. Wurde er damals aufs neue geboren, so wird er heute von der bürgerlichen Welt nochmals begraben. Es ist keine Not mehr, daß die Schillerfeier heute verboten werden könnte. Der Baalsdienst ist völlig kreuzzeitungsreif geworden. Was Schiller an ängstlichem Tribut seiner Zeit und seinen Verhältnissen zollte — dieses halbe Dutzend unselig philisterhafter Zitate bildet das geistige Kapital, das in diesen 23

lächerlichen Maitagen auf den Markt getragen wird. Die offizielle Totenfeier ist ein Fest der Leichenschändung. 1859 dichtete Ernst Dohm, der Mitschöpfer des Kladderadatsch, die Spottverse: Nun aber, liebes Deutschland, sollt' ich meinen. Hast D u genug der festlichen Gelage, Genug geliebt, gesungen und geleiert. Willst Deines Sängers würdig D u erscheinen, So rüste Dich zum großen Werkeltage; Lang', viel zu lange schon hast D u gefeiert! Die Schillerfeier des bürgerlichen Deutschlands von heute kennt nicht einmal die Sehnsucht nach einem großen Werkeltage, in dem Schiller lebendig schafft. Es feiert Schiller, um von Schiller zu feiern.

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II.

Franz Mehring Schiller Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter Vorwort zur ersten Auflage „Sklaverei ist niedrig, aber eine sklavische Gesinnung in der Freiheit ist verächtlich; eine sklavische Beschäftigung hingegen ohne eine solche Gesinnung ist es nicht, vielmehr kann das Niedrige des Zustandes, mit Hoheit der Gesinnung verbunden, ins Erhabene übergehen." Diese Worte Schillers, die auf den proletarischen Klassenkampf der Gegenwart wie gemünzt erscheinen, gehören mit gleichem Recht an die Spitze einer Darstellung, die den deutschen Arbeitern ein Bild seines Lebens entwerfen will. Ein Bild seines Lebens nur, keine ausführliche Biographie, wie es deren nachgerade unzählige gibt. Ein Bild seines Lebens, wie es sich hundert Jahre nach seinem Tode darstellt, von der sicheren Warte einer Klasse, die sich „in der kriechenden Lohnkunst", in den „Fesseln der Leibeigenschaft", von denen Schiller spricht, die Hoheit der Gesinnung gerettet hat. Sie steuert heute auf hoher See der neuen Welt entgegen, deren Ufer sich von Jahr zu Jahr deutlicher am weltgeschichtlichen Horizont abzeichnen, während der Jüngling Schiller nach seinem eigenen Worte wie Kolumbus „die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meer einging", um sich als reifer Mann mit einer täuschenden Spiegelung zu bescheiden. In dieser Täuschung sich wieder und wieder zu spiegeln, ist das

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Los derer, die vom bürgerlichen Standpunkt aus über Schiller schreiben. Sie dürfen sich nicht gestehen, daß von Schillers ästhetisch-philosophischem Idealismus längst gilt, was er selbst von den Idealen seiner Jugend sang. Erloschen sind die heitern Sonnen, Die meiner Jugend Pfad erhellt; Die Ideale sind zerronnen, Die einst mein trunknes Herz geschwellt. Sie dürfen sich nicht gestehen, daß Schiller gerade aus seiner eigensten Gesinnung heraus, wenn er den entfesselten Schacher der kapitalistischen Welt erblicken könnte, abermals seine wehmütige Klage anstimmen würde: Wie groß war diese Welt gestaltet, Solang die Knospe sie noch barg. Wie wenig, ach! hat sich entfaltet, Dies Wenige, wie klein und karg! So ist die erste Bedingung, um ein geschichtliches Verständnis Schillers zu erwerben, Freiheit von allen bürgerlichen Vorurteilen. Die Welt, worin er lebte, ist längst versunken, und wer sich vorspiegeln muß, als sei sie noch lebendig, der muß von Irrtum zu Irrtum taumeln. Anders, wer im Lichte der historischen Weltanschauung, die der modernen Arbeiterklasse eignet, auf Schillers Leben und Lebenswerk zurückblickt. Ihm entschleiert sich leicht, was daran vergänglich war, aber strahlend tritt ihm jene Hoheit der Gesinnung entgegen, die fortzeugend nur noch in der Arbeiterklasse wirkt und ihr die sicherste Bürgschaft ihres Sieges gibt. Was für Schiller immer getrennt blieb, Ideal und Leben, ist untrennbar verbunden in dem Werke des proletarischen Emanzipationskampfes, das, aus aller menschlichen Bedürftigkeit geboren, dem prophetischen Worte des Dichters entgegenreift: Alle Zweifel, alle Kämpfe schweigen In des Sieges hoher Sicherheit; Ausgestoßen hat es jeden Zeugen Menschlicher Bedürftigkeit.

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I. Jugendjahre Geburt und Abstammung Friedrich Schiller wurde in Marbach, einem kleinen Städtchen des damaligen Herzogtums Württemberg, am 10. November 1759 geboren. Seine Großeltern von väterlicher wie von mütterlicher Seite gehörten dem ehrsamen Bäckergewerbe an, und seine Mutter, eine bescheidene, einfache und gutherzige Frau, ist auch aus dem engen Gedankenkreise des damaligen Handwerks niemals herausgetreten. Aber Schiller war nicht, wie Goethe und Herder, ein „mütterliches" Kind, sondern, wie Lessing, der Sohn seines Vaters, der ihm die Bahn des Lebens gebrochen hat, im Guten und auch im Schlimmen. Johann Kaspar Schiller war ein begabter, energischer und in seinen jungen Jahren auch wohl abenteuerlustiger Mann, ein Stück von einem Glückssoldaten, der, bei einem Klosterbarbier in der Wundarzneikunst ausgebildet, im Jahre 1745 mit einem bayrischen Husarenregiment als Feldscher in die Niederlande zog. Es war in den Kriegen um Maria Theresias Erbe, doch die Sache, um die gefochten wurde, focht den jungen Mitläufer nicht an; als ihn französische Truppen gefangennahmen, tat er bei ihnen, zunächst zwar nach der barbarischen Sitte der Zeit erzwungene, aber dann doch auch willige Dienste, bis er wieder von den Österreichern gefangengenommen und in sein altes Husarenregiment zurückgesteckt wurde. Wie die Fahne, so wechselte er auch die Kunst; er hing die Feldscherei zuzeiten gern an den Nagel, um auf Unternehmungen auszureiten und Beute zu gewinnen. Groß war nun freilich die Beute nicht, die er nach dem Aachener Frieden in die Heimat zurückbrachte: 200 Gulden bar, einen Gaul und einen ungarischen Sattel mit völligem Zeug. Damit traf er im Frühling 1749 in Marbach ein und stieg im Wirtshause zum Goldenen Löwen ab, das der Bäcker Kodweiß unterhielt. Dessen sechzehnjährige Tochter Elisabetha Dorothea führte er dann bald als seine Gattin heim und übte als friedlicher Bürger von Marbach mehrere Jahre seine ärztliche Kunst aus. Aber wie er auch das Heiraten durchaus von der praktischen Seite betrachtete, so hatte er sich arg verrechnet; es zeigte sich, daß 27

seines Schwiegervaters „so beträchtlich geschienene Finanzen" ganz zerrüttet waren. Da überkam ihn die alte Lust an Abenteuern noch einmal, und er nahm württembergische Kriegsdienste, nicht als Feldscher, sondern als Fourier, mit einem Monatssolde von sechs Gulden. So gab er sich in die Hand des Herzogs Karl Eugen von Württemberg, eine Hand, die auf dem Leben seines einzigen Sohnes schwer gelastet hat. [•••] Die

Räuber

Der Hang zur Dichtkunst und namentlich zur tragischen Poesie, den Schillers Mitschüler an ihm beobachteten, hat sich klammernd emporgerankt an dem erstickenden Despotismus, der auf seiner Jugend lastete. Schiller selbst wünschte seinem ersten Schauspiele nur darum Unsterblichkeit, um das Beispiel einer Geburt zu verewigen, die der naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius in die Welt gesetzt habe; er fügte hinzu, wenn ihn von allen unzähligen Klagschriften gegen die Räuber eine einzige treffe, so sei es die, daß er zwei Jahre vorher sich angemaßt habe, Menschen zu schildern, ehe ihm noch einer begegnet sei. Damit ist schon gesagt, daß die Räuber unter dem Sternbilde literarischer Muster geboren worden sind. Doch macht Schiller selbst darüber auch noch die nähere Angabe: „Rousseau rühmte es an dem Plutarch, daß er erhabene Verbrecher zum Vorwurfe seiner Schilderung wählte . . . Räuber Moor ist nicht Dieb, aber Mörder, nicht Schurke, aber Ungeheuer. Wofern ich mich nicht irre, dankt dieser seltene Mensch seine Grundzüge dem Plutarch und Cervantes, die durch den eigenen Geist des Dichters nach Shakespearischer Manier in einem neuen, wahren und harmonischen Charakter unter sich amalgamiert sind." Cervantes kommt in diese Reihe durch den edlen Räuber Roque, den er im Don Quichotte schildert; tiefer war der Einfluß Shakespeares auf Schiller, sosehr dieser im Anfange durch die „Kälte und Unempfindlichkeit" des englischen Dichters abgestoßen wurde, am tiefsten der Einfluß Rousseaus, der die Aufmerksamkeit des jungen Poeten auf Plutarch lenkte. Alle diese Muster waren in der Karlsschule keine Kontrebande, auch Rousseau nicht, nach dessen pädagogischen Grundsätzen der Bruder und spätere 28

Nachfolger des Herzogs seine Tochter erziehen ließ; an diesen Prinzen Ludwig Eugen von Württemberg richtete Rousseau das Schreiben, das mit den berühmten Worten begann: Wenn ich das Unglück hätte, als Prinz geboren zu sein . . . Andere Sterne, die der Geburt der Räuber geleuchtet haben, konnten nur einen verstohlenen, aber um so lockenderen Schimmer in die alte Reiterkaserne hinter dem Stuttgarter Schlosse werfen, wo militärische Wachtposten die Karlsschüler vor jeder Berührung mit den freien Gedanken des neuen Jahrhunderts absperren sollten. Die siebziger Jahre, die Schiller hinter diesen Mauern schmachten mußte, waren das Jahrzehnt von Lessings Emilia Galotti und Nathan dem Weisen, von Goethes Götz und Werther, von Bürgers Lenore, waren das Jahrzehnt des deutschen Sturmes und Dranges. Die europäische Kultur stand vor einer großen Wendung. Die feudale Welt, vom kapitalistischen Maulwurf seit Jahrhunderten untergraben, brach rettungslos zusammen; das bürgerliche Zeitalter dämmerte herauf. Es brauste und gärte in den Gemütern; der frische Hauch eines weltgeschichtlichen Morgengrauens weckte sie wie aus den dumpfen Banden des Schlafes; sie jauchzten der neuen Sonne entgegen, deren erste Strahlen den Horizont zu färben begannen. Aber umgekehrt wie in der Natur ging diese Sonne im Westen auf, und den Deutschen leuchtete sie erst von fein. Ihre traurige Geschichte legte ihnen das Verhängnis auf, nur im Gedanken und im Liede den neuen Weltentag zu begrüßen, nur auf literarischem Gebiete ihre Revolution zu schlagen. Indem Goethe die Dichtungen schuf, die dem deutschen Sturme und Drange sein Gepräge gaben, wandte er sich verächtlich und verstimmt von den Schriften des französischen Materialismus ab, den kecken Sturmvögeln der großen Revolution. Ein kräftiger Hauch dieser literarischen Bewegung drang auch durch die eisernen Tore der Karlsschule, namentlich als sie nach Stuttgart übergesiedelt war. In der einsamen Solitüde war Schiller noch der „Sklave" Klopstocks gewesen; in Stuttgart wurde Goethe sein „Gott". Trotz aller Wachsamkeit der Aufseher war die literarische Kontrebande der „Sklavenplantage" nicht fernzuhalten; je härter sich der Druck spannte, um so geschickter entwickelte sich der Schmuggel. In einem Kreise gleichgesinnter Genossen, deren literarischer Trieb dann freilich schnell verwelkt ist, verschlang Schiller die neue Literatur: 29

nicht nur zu den Sternen ersten Ranges blickte er auf, sondern auch und fast mehr noch zu den Trabanten, die von diesen Sternen ihr Licht empfingen und heute ganz erloschen sind. Es war die natürliche Entwicklung des Jünglings, dessen ästhetischer Geschmack sich erst klären und reifen mußte. Er bewunderte Goethes Werther, aber mit dessen tränenseligplattem Nachfahren Siegwart konnte er über den Lilien, die er sich in Scherben am vergitterten Fenster zog, stundenlang schwärmen. So berichtet seine spätere Schwägerin und erste Biographin, offenbar nach seiner eigenen Erzählung, und seine Jugenddramen zeigen, daß ihn tiefer als Goethes Götz die Dichtungen aus Goethes Freundeskreise beeinflußt haben, die Dramen von Klinger, Lenz und Heinrich Leopold Wagner. Noch nach Jahrzehnten hat Schiller die unauslöschlichen Jugendeindrücke bezeugt, die er von Klinger erhalten habe; Klinger habe zu denen gehört, die auf seinen Geist zuerst und mit Kraft eingewirkt hätten. Das gilt aber nicht nur von Klinger, den Goethe selbst stets als „festen, treuen, derben Kerl wie keinen" hochgehalten hat, sondern auch von dem genialeren Lenz, selbst von Wagner, den Goethe im Grunde nur als „guten Gesellen von keinen außerordentlichen Gaben" gelten lassen wollte. In ähnlicher Weise erkannte der junge Schiller zwar, daß Lessing unendlich besser beobachte als Leisewitz, aber Julius von Tarent rührte ihn mehr als Emilia Galotti', er scheint das eigentliche Lieblingsstück seiner Jugend gewesen zu sein. Auch Schubart stand ihm näher als Bürger, wobei freilich wohl die schwäbische Landsmannschaft mitwirkte. Als wandernder Rhapsode hatte Schubart die Gesänge Klopstocks in den schwäbischen Provinzen bekanntgemacht und sich dann zu Wieland gewandt, wie sich auch Schiller und seine Freunde zu der Ansicht bekehrten, Wieland habe für Menschen geschrieben, und so müsse man ihn lieben, während man für Klopstock erst zu schwärmen brauche, wenn man „überm Strome drüben" sei. Von Schubart hat Schiller nun auch die Fabel seines Schauspiels entnommen: die Geschichte zweier feindlicher Brüder, ein Lieblingsthema der Zeit, das Klinger und Leisewitz ebenfalls als dramatischen Konflikt gewählt hatten. Einen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Herzens wollte Schubart geben: in Karl und Wilhelm, den Söhnen eines Edelmanns, stellte er die genial überschäumende Kraft, die leichtherzig drauflos lebt, dem nüchternen Alltagsmenschen gegenüber, der fromme Streng heu30

chelt, um desto ruchloser zu sündigen. Durch L u g und Trug sperrt Wilhelm dem reuigen Bruder das Herz des Vaters, so daß K a r l ins Elend wandern muß. Doch in seiner Knechtsgestalt als Holzhacker im bäuerlichen Dienste rettet er den Vater, der im Walde von verlarvten Gestalten überfallen wird, von Banditen, die Wilhelm gedungen hat. Schubart läßt seine Geschichte versöhnlich ausklingen: K a r l erhellt das Alter des Vaters als liebevoller Sohn, während Wilhelm seine Schande in einem verborgenen Winkel verbergen darf, als Haupt einer Sekte von Zeloten. Bereits im Jahre 1777 war Schiller auf die Erzählung aufmerksam geworden und hatte sie zu dramatisieren begonnen, zur Zeit, wo er das letzte Hemde und den letzten Rock um einen dramatischen Stoff hingegeben hätte; Schubart selbst hatte sie einem Genie preisgegeben, eine Komödie oder einen Roman daraus zu machen. So wie wir die Räuber kennen, sind sie jedoch erst im Jahre 1780 entstanden, im letzten Jahre, das Schiller auf der Karlsschule zubrachte, nachdem die souveräne Laune des Herzogs ihm nochmals die Freiheit geraubt und den lange gehäuften Groll schwerer Jahre zur hellen Flamme geschürt hatte. Mit echt dramatischem Griff führt der Dichter sogleich mitten in die Handlung; sobald sich der Vorhang hebt, sehen wir das tückische Spiel des jüngeren Bruders Franz, der dem Vater den reuigen Brief Karls unterschlägt und seinen Zorn gegen den abwesenden Sohn durch ein Machwerk von eigener Hand steigert. Seine Erfindungen sind plump und vermessen genug, seine Intrigen abenteuerlich, grob und romanhaft; der Vater, der an sie glaubt, erscheint nicht so wohl schwach und zärtlich als einfältig und kindisch. Alles das hat Schiller selbst in einer Kritik seines Schauspiels hervorgehoben und damit schon im Anfange seines dramatischen Schaffens bekundet, was Goethe später von ihm gesagt hat, daß er um eine ins einzelne gehende Motivierung unbekümmert gewesen sei. So auch steht das Motiv, wodurch Schiller den Zwist der Brüder über Schubarts Vorlage hinaus verschärfen will, die Liebe zu demselben Mädchen, auf schwachen F ü ß e n ; „ich habe mehr als die Hälfte des Stückes gelesen", meinte der Kritiker Schiller, „und weiß nicht, was das Mädchen will, noch was der Dichter mit dem Mädchen gewollt hat, ahnte auch nicht, was etwa mit ihm geschehen könnte". In der T a t dient Amalia nur dazu, die dramatische Handlung äußerlich vorwärtszubewegen; die einzige weibliche Gestalt des Dra-

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mas ist auch seine einzige Gestalt, die ganz mißlungen ist; als der Dichter sie schuf, war er „unbekannt mit dem schönen Geschlecht" ; er sagt von der Karlsschule: „Die Tore dieses Instituts öffnen sich, wie man wissen wird, Frauenzimmern nur, ehe sie anfangen, interessant zu werden, und wenn sie aufgehört haben, es zu sein." So beruht die Tragödie Schillers, wie die Erzählung Schubarts, ganz auf den entgegengesetzten Charakteren der Brüder, aber der tiefe Griff, womit Schiller diese Charaktere umgestaltet hat, gibt seiner Dichtung die tragische und auch die revolutionäre Kraft. Er selbst sagt, einen überlegenden Schurken, wie Franz Moor, auf die Bühne zu bringen, heiße mehr gewagt, als das Ansehen Shakespeares, des größten Menschenkenners, der einen Jago und Richard erschaffen habe, irgend entschuldigen könne. Er stimmt den Kritikern zu, die sofort die Frage aufwarfen, wie ein Jüngling, der im Hause einer friedlichen, schuldlosen Familie aufgewachsen sei, eine so herzverderbliche Philosophie bekommen könne? „Mögen noch so viel Eiferer und ungedungene Prediger der Wahrheit von ihren Wolken herunterrufen: der Mensch neigt sich ursprünglich zum Verderblichen: ich glaub' es nicht." In der Tat lebt Franz Moor nur dadurch, daß der Dichter ihn mit seinem eigenen Odem beseelt hat. Die materialistischen Sophismen und Zynismen, womit Franz seine Greueltaten vor seinem Gewissen zurechtlegt, sind ebenso wie die erschütternde Vision des Jüngsten Gerichts, die ihn zusammenwirft, von Schiller erlebt worden; an den Verbrechen seines Geschöpfes löste er die Zweifel, die seine reine Seele fort und fort beunruhigten. Ohne ein tiefes Interesse für die materialistische Weltanschauung konnten die Monologe des Franz nicht geschrieben werden, aber wie die erschütternde Vision des Bösewichts, so zeigt noch manche andere Szene, und im Grunde das ganze Drama, daß Schiller noch tief in biblischen Anschauungen und Vorstellungen lebte. J a , sie triumphieren schließlich, mehr durch das Genie des Dichters als durch seinen Willen. Denn davon war er freilich weit entfernt, jene Karikatur eines „Freigeistes" wiederherzustellen, die Lessing schon dreißig Jahre früher verhöhnt hatte, und als sein eigener Kritiker sprach er offen aus, daß die Räsonnements, mit denen Franz Moor sein Lastersystem aufstutze, das Resultat eines aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums seien, daß die Begriffe, die sie voraussetzten, ihn vielmehr hätten veredeln sollen. Immer ist in Franz Moor nur der revolutionäre Zweifel des Dich32

ters lebendig geworden, in K a r l Moor aber flammt und leuchtet seine revolutionäre Begeisterung. A u c h ihn sehen wir gleich in seiner ersten Szene, wie er leibt und lebt, in all seinem E k e l vor dem öden Elend einer verkommenen W e l t und all seinem überschäumenden Freiheitspathos: „ D a verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmackten Konventionen, belecken den Schuhputzer, daß er sie vertrete bei Ihro Gnaden, und hudeln den armen Schelm, den sie nicht fürchten . . . Nein, ich mag nicht daran denken. Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust und meinen Willen schnüren in Gesetze. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus." Allein K a r l Moor wäre kein richtiger Vertreter der deutschen Geniezeit, wenn seinem ungestümen Tatendrange nicht die weiche Empfindsamkeit im Nacken säße. K a u m hat er ein Heer Kerls von seinem Schlage verlangt, um aus Deutschland eine Republik zu machen, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen, als er den Gefährten, der diesen Gedanken aufgreift und ausspinnt, von sich weist: „Glück auf den W e g ! Steig du auf Schandsäulen zum Gipfel des Ruhms. Im Schatten meiner väterlichen Haine, in den Armen meiner Amalia lockt mich ein edler Vergnügen." Erst als die Intrigen seines Bruders ihn glauben lassen, daß sein Vater ihn verstoße, schilt er sich einen Toren, der ins Käficht zurück wollte. „Mein Geist dürstet nach Taten, mein A t e m nach Freiheit, — Mörder, Räuber! — mit diesem W o r t war das Gesetz unter meine Füße gerollt." A b e r immer noch genügt ein schöner Sonnenuntergang, um aus dem „großen Räuber" einen „heulenden Abbadona" zu machen. Dennoch war K a r l Moor nicht nur ein echtes K i n d der deutschen Geniezeit, sondern auch ihr größter Sohn. Nicht wie Goethes Götz in entschwundenen Jahrhunderten, nicht wie die Helden der Klinger und Leisewitz auf fremder Erde, mitten durch die deutsche Gegenwart ging er mit den Schritten eines Niebesiegten und strafte die feige Schurkerei der herrschenden Klassen. W e m standen nicht die Montmartin und die Wittleder vor Augen, als der Räuber Moor sich rühmte: „Diesen Rubin zog ich einem Minister v o m Finger, den ich auf der Jagd zu den Füßen seines Fürsten niederwarf. E r hatte sich aus dem Pöbelstaub zu seinem ersten Günstling emporgeschmeichelt, der Fall seines Nachbarn war seiner Hoheit Schemel — Tränen der Waisen hüben ihn auf. 5

Jonas, Schmer-Debatte

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Diesen Demant zog ich einem Finanzrat ab, der Ehrenstellen und Aemter an die Meistbietenden verkaufte und den trauernden Patrioten von seiner Türe stieß." Und als Karl Moor den furchtbaren Schwur tat an dem Hungerturm, dem das Skelett seines Vaters entstieg, da entstiegen mit gleich furchtbarer Anklage die Skelette der Moser und Schubart dem Hungerturm, in den sie der Herzog von Württemberg geworfen hatte. In tirannos — gegen die Tyrannen — stand unter der Titelvignette des aufsteigenden Löwen, die später eine Ausgabe der Räuber schmückte, aber noch nie hatte der Löwe des Sturmes und Dranges seine Pranke so drohend gegen die deutschen Tyrannen erhoben. Wie der Dichter dem Helden und seinem Gegenspieler aus eigenem mit vollen Händen spendete, so nahm er die Gestalten der Räuber aus der kleinen Welt, die er wirklich kannte. Was er an seinen Mitschülern beobachtete, übertrug er auf die Spiegelberg, Schweizer, Roller, Grimm, Kosinsky, von denen er bei aller Schärfe seiner Selbstkritik sagen durfte: „Jeder hat etwas Auszeichnendes, jeder das, was er haben muß, um auch noch neben dem Hauptmann zu interessieren, ohne ihm Abbruch zu tun." Unbillig hart aber urteilte er über die dramatische Handlung, indem er nach der ersten Aufführung schrieb: „Wenn ich Ihnen meine Meinung deutsch heraussagen soll — dieses Stück ist dem ohnerachtet kein Theaterstück. Nehme ich das Schießen, Sengen, Brennen, Stechen und dergleichen hinweg, so ist es für die Bühne ermüdend und schwer. Ich hätte den Verfasser dabei gewünscht; er würde viel ausgestrichen haben, oder er müßte sehr eigenliebig und zähe sein." Im Gegenteil haben sich die Räuber als ein unverwüstliches Theaterstück erwiesen, bis auf den heutigen Tag, so fremd uns die Stimmung geworden ist, aus der sie entstanden, so seltsam uns oft ihre Sprache tönt, deren gewaltige Hyperbeln doch noch immer von heißer Leidenschaft beben. Gewiß ist das Schauspiel keine einheitliche Schöpfung, es ist in einzelnen Szenen entstanden, wie sie dem Dichter aufgingen, wie sie heimlich, hinter dem Rücken der Aufseher und Lehrer, in nächtlicher Weile aufs Papier geworfen wurden; es fehlt nicht an lahmen Auftritten,' die nur ersonnen worden sind, um die Kette der Handlung herzustellen, und der Dichter sagt auch nicht ganz mit Unrecht, daß sein Werk in der Mitte erlahme. Nach den ersten Aufzügen, in denen die Handlung Schlag auf Schlag aufsteigt, bis zum Triumphe des Franz über den Scheintod des Vaters, bis zu dem Kampfe in den böhmischen Wäldern, wo der

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Dichter das Leben der Räuber in all seiner Gemeinheit und all seiner Gräßlichkeit doch zu heldenhafter Größe zu erheben weiß, spannt die elegische Stimmung des dritten Aufzuges ab, und nur ein äußerlicher Notbehelf, die Episode Kosinskys, dessen traurige Geschichte den Räuber Moor an sein verlorenes Liebesglück erinnert, setzt einen neuen Hebel in die Handlung ein. Dann aber erhebt sie sich, mächtiger denn je, im vierten und fünften Aufzuge, in dem gewaltigen Auftritte Karl Moors am Hungerturm, in dem zermalmenden Gericht, das über Franz hereinbricht, Szenen, von denen mit gutem Fuge gesagt worden ist, daß sie in Schillers gesamtem Drama nichts an tragischer Kraft übertreffe. Erst am Schlüsse des Schauspiels sinkt die Handlung wieder. Es ist Räuberromantik im schlechten Sinne des Wortes, wenn Karl Moor seine Geliebte tötet, um sich von der Treue loszukaufen, die er seiner Bande schuldet, und es ist Verbrechertragik in nicht höherem Sinn, wenn er sich selbst den Gerichten ausliefert, die ihn aufs Rad flechten werden. „ 0 über mich Narren, der ich wähnte, die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrechtzuerhalten. Ich nannte es Rache und Recht, aber — o eitle Kinderei — da steh' ich am Rande eines entsetzlichen Abgrundes und erfahre mit Zähneklappern und Heulen, daß zwei Menschen, wie ich, den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrunde richten würden." Den Bau der sittlichen Welt, zu deren Pfeilern ein Herzog Karl Eugen mit seinen Montmartin und Wittleder gehörte! Aber so verfehlt dieser tragische Schluß war, er war symbolisch für den deutschen Sturm und Drang. [...]

II. Kampf esjahre [...] Fiesco Während Schiller in Bauerbach lebte, war sein „republikanisches Trauerspiel" von Schwan herausgegeben worden. Weder als Buchdrama noch als Bühnenstück hat Die Verschwörung des Fiesco zu 5•

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Genua entfernt so tief gewirkt wie die Räuber, obgleich sie unmittelbar in eine politische Revolution hineinführte. Eben hier jedoch lag der entscheidende Punkt; der Dichter war Karl Moors Busenfreund, aber nur der Maler des Fiesco. Der Vergleich stammt insoweit von Schiller selbst her, als er zur Bauerbacher Zeit an Reinwald schrieb: „Jede Dichtung ist nichts anderes als eine enthusiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unseres Kopfes . . . Gleichwie aus einem einfachen weißen Strahl, je nachdem er auf Flächen fällt, tausend und wieder tausend Farben entstehen, so bin ich zu glauben geneigt, daß in unserer Seele alle Charaktere nach ihren Urstoffen schlafen und durch Wirklichkeit und Natur oder künstliche Täuschung ein dauerndes oder nur illusorisches und augenblickliches Dasein gewinnen. Alle Geburten unserer Phantasie wären also zuletzt nur wir selbst . . . Der Dichter muß weniger der Maler seines Helden — er muß mehr dessen Mädchen, dessen Busenfreund sein." Aus seinem eigensten Schaffen hat der junge Schiller diese ästhetische Betrachtung geschöpft, und Fiesco ist mehr gemalt als erlebt. Weder ist dies Drama aus so quälender Bedrängnis entstanden wie die Räuber und Luise Millerin, noch war sein historischer und deshalb spröderer Stoff so leicht im Feuer der Geniezeit zu schmelzen. Von seinem Helden weiß Schiller zumeist zu rühmen, daß ihn Rousseau im Herzen getragen habe. Und wenn man gemeint hat, es sei ein Mißgriff, in das Genua des 16. Jahrhunderts die Tendenzen eines Rousseau oder Schiller zu tragen, so schlägt dieser Einwand an sich noch nicht durch. Denn der Dichter ist nach dem bekannten Worte Hebbels kein Auferstehungsengel der Geschichte und darf den historischen Stoff als Vehikel für die Probleme seiner Zeit benutzen. Aber wie immer er mit dem historischen Stoffe schalten mag, so müssen ihm nach Lessings noch bekannterem Worte die historischen Charaktere heilig sein, und zwischen diesen Grenzmarken dramatischer Poesie versteht der Dichter des Fiesco noch nicht mit der Meisterschaft und Sicherheit zu segeln, wie später der Dichter des Wallenstein und des Teil. Der Fiesco Schillers ist nicht einmal eine einheitliche Gestalt. Die Absicht des Dichters war, „die kalte unfruchtbare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen herauszuspinnen und eben dadurch an das menschliche Herz wieder anzuknüpfen, den Mann durch den staatsklugen Kopf zu verwickeln"; indem Fiesco

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seine politischen Ziele verfolgt und dabei rücksichtslos seine menschlichen Pflichten zertritt, gerät er in einen tragischen Konflikt, worin er untergeht. Ursprünglich ist es diese un-, um nicht zu sagen, antipolitische Wendung, auf die Schiller lossteuert; sie lag auch ganz im Geiste der Geniezeit, die in allen staatlichen Wesen nur eine Fessel des natürlichen Menschen sah. Aber Schiller hätte doch nicht Schiller, nicht die tatkräftige Natur sein müssen, von der Scharffenstein zu sagen pflegte, daß Kraftäußerung sie vor allem begeistere, wenn er sich daran hätte genügen lassen. Wie er in seinem Karl Moor das Zeug entweder zu einem Catilina oder zu einem Brutus gesehen hatte, so stellte er nun dem Catilina-Fiesco den Brutus-Verrina gegenüber, und in ihrem Zusammenstoß sah er den tragischen Schwerpunkt seines „republikanischen" Trauerspiels. Allein weder das eine noch das andere Motiv kommt zu klarer und reiner Wirkung: Fiesco schreitet über die Leiche der Gattin, die unter seinem Dolche gefallen ist, auf seinem schwindelnden Pfade weiter, und Verrina stürzt ihn nur in den Hafenschlamm, um sich gleichmütig wieder unter das alte Tyrannenjoch zu beugen. Erlebt ist dieser Fiesco von seinem Dichter nicht, und auch nicht einmal von einer Hand gemalt, die schon historische Farben zu mischen verstand. Manche krassen Effekte und die überladene Sprache, die allzuoft an die Grenzen geschmacklosen Schwulstes streift oder sie gar überschreitet — nicht zuletzt deshalb, weil ihr der belebende Odem fehlt, der selbst die gewagtesten Kraftquellen der Räuber noch ästhetisch abtönt —, fallen um so empfindlicher auf, als sich das Drama mannigfach, so namentlich in der Episode mit Verrinas Tochter, an Lessings Emilia anlehnt. Gleichwohl überflügelt der Fiesco das geschmackvollere Muster durch die dramatischen Massenwirkungen, die doch schon den Dichter des Wallenstein und Teil ankündigen, und in Muley Hassan, dem „konfiszierten Mohrenkopfe", schuf Schiller eine Gestalt, deren geniale Ursprünglichkeit den Ruf des deutschen Shakespeare bestätigte, den ihm schon die Räuber erworben hatten. Er selbst bewährte sich auch an diesem Drama als strenger Kritiker. Er fand die blühende Sprache auffallend, ja lächerlich, die langen Monologe ermüdend, und wie die Amalia der Räuber, so gab er auch die „Frauenzimmercharaktere" des Fiesco preis.

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Kabale und Liebe Dem „republikanischen" folgte das „bürgerliche Trauerspiel", das anfangs Luise Millerin hieß und dann auf Ifflands Rat in Kabale und Liebe umgetauft wurde. Im Stuttgarter Arreste empfangen, auf den schweren Wandertagen der Flucht nach seinen Grundzügen festgelegt, in Bauerbach vollendet, ist es mehr noch als die Räuber und mehr auch als jedes spätere Drama Schillers aus seinem eigensten schöpferischen Drange entstanden. Es ist das einzige unter seinen Dramen, zu dem Schiller sich den Stoff nicht erst gesucht hat, um seine dichterische Wucht hineinzulegen; ihn selbst überwältigend, ist es ihm aus seinem Leben und Leiden erwachsen. Nicht zwar, als ob es nicht seine literarischen Ahnen gehabt hätte. Auf Schritt und Tritt begegnet man Erinnerungen an Lessings Emilia, mitunter selbst wörtlichen Entlehnungen, und der jüngere Dichter übertrifft nicht immer den älteren; Lady Milford ist ein ungleich schwächeres Abbild der Gräfin Orsina und der Sekretär Wurm nur eine vergröberte Ausgabe des Kammerherrn Marinelli. Auch kleinere Vertreter des bürgerlichen Dramas, das seit Lessings Sara Sampson nun doch schon in Deutschland ein Menschenalter hinter sich hatte, wie Heinrich Leopold Wagner, haben nach dem eingehenden Nachweise literarhistorischer Forscher viel zu Kabale und Liebe beigesteuert. J a schon zu Schillers Zeit meinte ein ihm feindlicher Kritiker nicht ohne einen gewissen Anlaß, daß die Gestalten des Dramas „die nur ins Übertriebene und Schreckliche gemalten Personen des deutschen Hausvaters" seien, das heißt einer schwächlichen Nachahmung von Diderots Hausvater, die, von einem gewissen Gemmingen verfaßt, längst verschollen ist. Alle diese literarischen Anregungen waren aber von Schiller erlebt, und wenn sie ihm nun unbewußt in sein Drama hineinströmten, so allein aus dem Grunde, weil er sich achtlos über sie emporschwang. Auch über die Emilia schritt er fort mit dem einfachen Bekenntnis: Guastalla liegt in Deutschland. Schiller hob das bürgerliche Drama auf eine revolutionäre Höhe, die es vordem nicht und auch nachher nicht erreicht hat, weder in Lessings Emilia noch in Hebbels Maria Magdalena. Er stellte den höfischen Despotismus und das Kleinbürgertum, die damaligen treibenden Kräfte des deutschen Lebens, in offenem Kampfe gegenüber und brachte frisch aus der Zeitung den Sol38

datenhandel der deutschen Fürsten auf die Bühne. Es war kein großes nationales Leben, aber es war nationales Leben, es war historische Bewegung, nicht jene atemraubende, herzbedrückende Enge, nicht jene, wie Hebbel selbst es nennt, „schreckliche Gebundenheit in der Einseitigkeit", die in Meister Antons vier Pfählen brütet. Sechzig Jahre älter, schlägt Kabale und Liebe heute noch wie ein Blitz in ein empfängliches und naives Publikum, dem Maria Magdalena neben aller tiefen Wirkung ein Gefühl des Befremdens erregt, wie ein Blick in eine völlig erloschene Welt. Man rede über Tendenz, so viel man will, man zähle alle künstlerischen Vorzüge auf, die Maria Magdalena vor Kabale und Liebe haben mag: es bleibt doch dabei, daß die dramatische Kunst den historischen Prozeß, der sich in ihren Tagen vollzieht, ergreifen soll und daß sie um so länger dauert, je tiefer sie ihn zu ergreifen weiß. Nirgends in Deutschland standen sich Despotismus und Kleinbürgertum so klar gegenüber wie in Württemberg. Der Herzog und sein feiles Hofgesindel drüben, die Landschaft und ihr zünftlerisch verzopfter Klüngel hüben — unter diesem Gegensatze war das Leben des Dichters verronnen, düster und schwer und trübe, und nun ruft er ihn auf die richtende Szene. Dieser Präsident v. Walter, dieser Hofmarschall v. Kalb, diese Lady Milford, dieser Sekretär Wurm — sie waren ihm schon seit den Tagen seiner Kindheit vertraut; er hatte sie in Ludwigsburg und auf der Karlsschule und in Stuttgart gesehen. Die „falschen Handschriften" des Sekretärs Wurm, die „große Mine", durch die der Präsident Walter seinen Vorgänger in die Luft bläst — kannte er sie nicht aus dem Leben seines Paten Rieger? Und war sein eigener Vater nicht dabei, als „lauter Freiwillige" an fremde Potentaten verhandelt wurden: „Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch' vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf den Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen." Und hatte er es nicht mit angesehen, auf der Solitüde und bis in die Nacht seiner Flucht hinein: „Der Fürst ruft Paradiese aus Wildnissen — läßt die Quellen seines Landes in stolzen Bogen gen Himmel springen oder das Mark seiner Untertanen in einem Feuerwerk hinpuffen." Und war sie nicht landkundig, die furchtbare Schilderung : „Die Wollust der Großen dieser Welt ist die nimmersatte Hyäne, die sich mit Heißhunger Opfer sucht. Fürchterlich hatte 39

sie schon in diesem Lande gewütet — hatte Braut und Bräutigam getrennt — hatte selbst der Ehen göttliches Band zerrissen — hier das stille Glück einer Familie geschleift — dort ein junges unerfahrenes Herz der verheerenden Pest aufgeschlossen, und sterbende Schülerinnen schäumten den Namen ihres Lehrers unter Flüchen und Zuckungen aus . . . Die traurige Periode hatte einer noch traurigeren Platz gemacht. Hof und Serail wimmelten jetzt von Italiens Auswurf. Flatterhafte Pariserinnen tändelten mit dem furchtbaren Szepter, und das Volk blutete unter ihrer Laune." Es ist einfach nicht wahr, was untertänige Kritik oft behauptet hat, daß Schiller den höfischen Despotismus in Kabale und Liebe karikiert habe; er hat die brutale Wahrheit nicht brutal abgeschrieben, aber was er dramatisch widerspiegelt, ist einmal grauenhafte Wahrheit gewesen. Nicht anders steht es um den Vorwurf, daß Schiller der Verworfenheit der Großen die edelmütige Tugend der Kleinen gegenübergestellt habe. Der Stadtmusikant Miller und seine Frau sind trefflich geschaute, aber ebendeshalb nichts weniger als rosig gefärbte Gestalten. Von der Frau ganz zu geschweigen, die, ehrbar in ihrer Weise, aber, dumm und ungebildet zugleich, doch nicht dem heimlichen Gelüste widerstehen kann, ihr bürgerliches Fleisch mit dem blauen Blute zu verkuppeln, und die sich in feiger Angst wie ein Bleigewicht an den Mann hängt, wenn einmal ein wenig Tatkraft in ihm erwachen will — aber auch Miller selbst, Prachtkerl, wie er in seiner Art ist, auf den Helden kann er sich nicht hinausspielen. Dem „Tintenkleckser" von Sekretär will er wohl Leib und Seele breiweich zusammendreschen, ihm alle zehn Gebote und alle sieben Bitten im Vaterunser und alle Bücher Mosis und der Propheten aufs Leder schreiben, daß man die blauen Flecken bei der Auferstehung der Toten noch sehen soll, aber vor dem drohenden Zorne des Präsidenten weiß er im selben Atemzuge doch nur den Rat: „Ich nehme meine Tochter in Arm und marsch mit ihr über die Grenze!" Und als der gefürchtete Mann ihm gewaltsam ins Haus dringt und seine Tochter eine Hure schilt, da bringt er es nur mit Zittern und Zagen heraus: „Halten zu Gnaden! Ew. Exzellenz schalten und walten im Land. D a s ist meine Stube. Mein devotestes Kompliment, wenn ich dermaleins ein Promemoria bringe, aber den ungehobelten Gast werf' ich zur Tür hinaus." Er liebt seine Tochter abgöttisch, und mit tief ergreifenden Worten hält er sie vom Selbstmorde zurück, allein über ihr zerstörtes Liebesglück tröstet ihn doch ein Beutel 40

voll Gold, den ihm der adlige Liebhaber zuwirft. Nach der Überlieferung hat Schiller diese Gestalt einem Stuttgarter Original abgesehen; auf jeden Fall kann man an ihr das Wesen jenes Kleinbürgertums studieren, das ein gewisses Selbstbewußtsein noch oder schon hatte, das nicht mehr zum bloßen Spielball adliger oder fürstlicher Lüste dienen wollte und so etwas wie ehrlichen Proletarierzorn zu empfinden begann, aber wie weit! entfernt war von der einen rettenden Politik: den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust! Verbunden werden die beiden Gruppen durch das Liebespaar, den Sohn des Präsidenten und die Tochter des Geigers. Ferdinand ist eine Schöpfung der dichterischen Phantasie, die immerhin vom Blute des Dichters tropft, der zur Zeit, wo er sie entwarf, zum erstenmal die Wonnen der Liebe und die Qualen der Eifersucht empfand. So ist ihm denn auch zum erstenmal in der Musikantentochter eine weibliche Gestalt gelungen, und auf ihren Namen t a u f t e er mit gutem Fug das Drama. Denn sie ist die tragische Heldin; sie geht unter in dem Konflikte der Pflichten, die sie gegen ihren Vater und gegen ihren Geliebten h a t ; sie nennt sich selbst die „Heldin", die „einem Vater den entflohenen Sohn wieder schenkt und einem Bündnis entsagt, das die Fugen der Bürgerwelt auseinandertreiben und die allgemeine ewige Ordnung zugrunde stürzen würde". Es ist derselbe schwächliche Zug, der in anderer Weise auch die Emilia Lessings und die Klara Hebbels kennzeichnet und, ästhetisch viel angefochten, doch tief in den sozialen Bedingungen wurzelt, unter denen ein bürgerliches Drama auf deutschem Boden überhaupt nur werden konnte. In der Komposition ähnelt Kabale und Liebe mannigfach den Räubern, namentlich in dem hinreißend schnellen Aufstieg, der in der mächtigen Ensembleszene am Schlüsse des zweiten Aufzugs gipfelt. Mit der Intrige hat es sich der Dichter auch in Kabale und Liebe ein wenig bequem gemacht; sie ist keineswegs „satanisch fein", wie der Präsident von ihr rühmt, worüber man sich um so weniger wegtäuschen kann, als der Sekretär Wurm nicht den Kopf eines Franz Moor auf den Schultern trägt. In der Mitte beider Stücke erlahmt die Handlung, verglichen wenigstens mit der drängenden Fülle des Anfanges; nur daß die gefährlichste Sandbank in Kabale und Liebe erst am Schlüsse des vierten Aktes auftaucht, wo sie in den Räubern längst überwunden ist. 41

Die Schuld daran trägt eine Änderung des Planes, die dem Dichter in währender Arbeit entstanden ist und auch einen Hauptcharakter des Stückes, die Lady Milford, schwer geschädigt hat. Ihr Urbild ist die Gräfin Hohenheim, und nach der ursprünglichen Anlage des Dramas sollte sie, wie sich aus einem zufällig erhaltenen Blatte der ersten Handschrift und manchen, nicht getilgten Spuren des Dialogs erkennen läßt, zur Gruppe des höfischen Gesindels gehören. Dann aber hat Schiller sie ins Lichte zu malen begonnen, vielleicht unter der bewußten oder unbewußten Suggestion der Frau v. Wolzogen, die mit der Hohenheim bekannt war und bei der Rachsucht, die diese Person in dem Falle Schubarts bewiesen hatte, für das Schicksal ihrer Söhne fürchten mochte. Eben jene Sätze, worin die Lady Milford sich rühmt, zwischen das Lamm und den Tiger getreten zu sein, mit der Opferung ihrer Ehre die Landestöchter vor der Wollust des Fürsten geschützt und dann auch die ausländischen Buhldirnen vertrieben zu haben, wurden von den Freunden der Hohenheim zu ihren Gunsten geltend gemacht, und sie sind vom Dichter erst in der späteren Fassung eingeschoben worden. Sei dem aber so oder anders — je höher der Dichter die Mätresse moralisch hob, desto tiefer drückte er sie ästhetisch herab und machte sie selbst zu einer für die dramatische Handlung ganz überflüssigen Person. Das ist namentlich in der großen Szene zwischen Luise und der Lady Milford am Schlüsse des vierten Aufzuges empfindlich zu spüren. Über den fünften Akt gehen dann, wie in den Räubern, alle Schauer des Jüngsten Gerichts und zeigen den Dichter noch ganz im Banne der biblischen Vorstellungen. Der leidige Schluß, der Ausblick auf die irdische Gerechtigkeit, ist mit der tragischen Handlung wenigstens nicht so eng verwachsen wie in Schillers Erstling. [...]

Don Carlos Seitdem Schiller von Dalberg auf die Geschichte des Don Carlos als einen tragischen Stoff aufmerksam gemacht worden war, waren nicht weniger als fünf Jahre verflossen, und mindestens vier Jahre hat er urkundlich an diesem dramatischen Gedichte geschaffen. 42

Denn am 14. April 1783 schrieb er aus Bauerbach, „früh in der Gartenhütte", an Reinwald: „In diesem herrlichen Hauche des Morgens denk' ich an Sie, Freund, und meinen K a r los . . . Ich trage ihn auf meinem Busen — ich schwärme mit ihm durch die Gegend um Bauerbach herum. Wenn er einst fertig ist, so werden Sie mich und Leisewitz an Don Karlos und Julius abmessen. Nicht nach der Größe des Pinsels, sondern nach dem Feuer der Farben; nicht nach der Stärke auf dem Instrument, sondern nach dem Ton, in welchem wir spielen. Karlos hat, wenn ich mich des Maßes bedienen darf, von Shakespeares Hamlet die Seele, Blut und Nerven von Leisewitz' Julius, und den Puls von mir. Außerdem will ich es mir in diesem Schauspiel zur Pflicht machen, in Darstellung der Inquisition die prostituierte Menschheit zu rächen und ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen. Ich will — und sollte mein Karlos dadurch auch für das Theater verlorengehen — einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, auf die Seele stoßen. Ich will — Gott bewahre, daß Sie mich nicht auslachen." Es war derselbe Brief, worin Schiller erläuterte, daß alle Geburten unserer Phantasie zuletzt wir selber wären. Aus Reinwalds Nachlaß hat sich auch der erste Entwurf der Tragödie erhalten, ein noch sehr farbloses und karges Schema, immer aber doch ausreichend, um zu erkennen, daß es sich nur um ein Familiengemälde aus einem fürstlichen Hause handeln sollte. Aus einer phantastischen Erzählung, die von einem französischen Geistlichen schon hundert Jahre früher veröffentlicht worden war, hatte Schiller seinen Stoff genommen und ihn zwar für seine dramatischen Zwecke mannigfach umgestaltet, aber doch an dem eigentlichen Kerne der Fabel festgehalten, der — ganz unhistorischen — Liebe zwischen Stiefmutter und Stiefsohn. Umgarnt von höfischen Intrigen, fallen die Liebenden dem Argwohn des Königs zum Opfer. „Das Zeugnis der Sterbenden und das Verbrechen seiner Ankläger rechtfertigt den Prinzen zu spät. Schmerz des betrogenen Königs und Rache über die Urheber." So weist der ursprüngliche Entwurf des Dramas eine große Ähnlichkeit mit Kabale und Liebe auf; auch sollte er damals wie Schillers andere Jugenddramen in Prosa ausgeführt werden. In Mannheim jedoch entschloß sich Schiller nach dem Vorbilde Lessings für den fünffüßigen Jambus. Es ist wahrscheinlich, daß Dalbergs Einfluß dabei mitgespielt hat; er bemühte sich in jener 43

Zeit, in seiner Abneigung gegen den Sturm- und Drangstil, den Dichter auf das französische Muster hinzuleiten, und in der Tat begann Schiller die französischen Dramatiker zu studieren, nicht nur, wie er an Dalberg schrieb, um seine dramatischen Kenntnisse zu erweitern und seine Phantasie zu bereichern, sondern auch um dadurch zwischen zwei Extremen, englischem und französischem Geschmack, in ein heilsames Gleichgewicht zu kommen. Dies Studium hat namentlich auf die Komposition des Carlos eingewirkt. Dann aber floß auch viel Erlebtes in den Stoff ein. Die heftige Spannung, in die der Dichter damals mit seinem Vater geriet, hat auf die Szenen zwischen dem Infanten und dem Könige frisch abgefärbt, und die Königin Elisabeth, die lebendigste Frauengestalt, die Schiller bis dahin geschaffen hatte, trug die verschönten Züge Charlottens v. Kalb. Vor allem aber hob sich die Gestalt des Königs Philipp, und in der Einleitung zu dem ersten Aufzuge des Dramas, den Schiller in der Thalia veröffentlichte, sagt er: „Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muß es, wie mich däucht, durch die Situation und den Charakter König Philipps geschehen. Auf der Wendung, die man diesem gibt, ruht vielleicht das ganze Gewicht der Tragödie . . . Man erwartet — ich weiß nicht welches? Ungeheuer, sobald von Philipp dem Zweiten die Rede ist — mein Stück fällt zusammen, sobald man ein solches darin findet." Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, daß die Leipziger Freunde gerade auf diesen künstlerischen Fortschritt hofften, noch ehe das erste Heft der Thalia erschienen war; Huber schrieb in seinem ersten Briefe an Schiller, sie erwarteten von ihm einen neuen Tyrannen, nicht die gewöhnlichen Theatertyrannen, die vom Dichter durch allerlei in den Mund bedrängter Prinzen oder leidender Prinzessinnen gelegte Ehrentitel und vom Schauspieler durch die ellenlangen Schritte und die brüllende Baßstimme gekennzeichnet würden. So mag der Verkehr mit diesen Freunden dazu beigetragen haben, daß sich die Gestalt des Königs bei der weiteren Arbeit des Dichters an dem Drama noch mehr verfeinert hat. Dagegen ist nicht mehr nachzuweisen, was den Dichter veranlaßt hat, nachdem er den zweiten Aufzug langsam im Laufe eines Jahres vollendet hatte, nun plötzlich seinen ganzen Plan umzuwerfen und den Marquis Posa, der bis dahin nur in einer Nebenrolle, als Vertrauter des Infanten, aufgetreten war, zum eigentlichen Helden zu machen. Schiller selbst hat sich darüber nur mit dem allgemeinen Worte erklärt, Carlos sei in seiner Gunst gefallen, viel44

leicht aus keinem Grunde, als weil er dem Infanten in Jahren zu weit vorausgesprungen sei, und aus der entgegengesetzten Ursache habe der Marquis Posa den Platz des Helden eingenommen. Über die Auslegung dieser Sätze durch die bürgerliche Gelehrsamkeit, wonach sich Schiller vom Räuber Moor bis zum Marquis Posa aus einem wüsten Revoluzzer zu einem staatsmännischen Liberalen abgeklärt habe, braucht kein Wort verloren zu werden. Eher leitet eine Bemerkung Schillers in seinen Briefen über den Carlos auf die richtige Spur: er sagt hier, er sei weder Illuminat noch Freimaurer, aber wenn beide Verbrüderungen einen moralischen Zweck miteinander gemein hätten und dieser Zweck der wichtigste für die menschliche Gesellschaft sei, so müsse er dem Zweck des Marquis Posa mindestens sehr nahe verwandt sein. Hält man daneben, daß Schiller im Geisterseher, an dem er gleichzeitig wie am Carlos arbeitete, den umgekehrten Prozeß schildert, wie sich der Jesuitismus eines Fürsten für seine Zwecke bemächtigen will, so liegt es nahe, anzunehmen, daß Schiller sich in seiner Dresdner Zeit eingehender mit diesen Dingen beschäftigt hat, und das ist um so wahrscheinlicher, als sie in dem Briefwechsel Schillers mit Körner einen mannigfachen Widerhall fanden, nachdem Schiller aus Dresden geschieden war. Er berichtete über seinen Verkehr mit Bode, der eine maßgebende Rolle im Freimaurerorden spielte, und auch über Weishaupt schrieb er einmal ausführlich, den Stifter des Illuminatenordens, der ganz in seiner Nähe als Legationsrat am Koburger Hofe lebte. Körner selbst kann in dieser Richtung freilich nicht auf Schiller eingewirkt haben; in einer Kritik des Heimlichen Gerichts, eines dramatischen Versuchs, den Huber in der Thalia veröffentlichte, bemerkte er trocken, daß „die ganze Ordensidee auf einer Sophisterei des Geistes und des Herzens" beruhe. So war es in der Tat: der Freimaurer- wie der Illuminatenorden waren ohnmächtige Anläufe seichter Aufklärung gegen die in ihrer Art großartige Organisation des Jesuitenordens. Weishaupt, ursprünglich ein katholischer Priester, dachte etwa so klar wie heutzutage ein altkatholischer Professor. Der von ihm gestiftete Orden sollte namentlich Fürsten und Minister für diese Ziele zu gewinnen suchen: Herrschaft der Vernunft, politische und religiöse Aufklärung und Verbreitung republikanischer Denkweise. Er hat auch mehrere deutsche Fürsten gewonnen, so den Herzog von Braunschweig, der als Seelenverkäufer beinahe noch den Her45

zog von Württemberg übertrumpfte und sich dann allerdings um die Französische Revolution verdient gemacht hat, indem er sich bei Valmy von ihren Truppen ins Bockshorn jagen ließ. Der Freimaurerorden hatte an seinem Teil eine gewisse Tradition hinter sich, aber deshalb war er dem wirklichen Leben der Zeit nicht weniger entfremdet. Als Bode im Herbst 1787 von einer Reise nach Paris zurückkehrte, erfuhr Schiller von ihm, daß die französische Nation alle Energie verloren habe und sich mit schnellen Schritten ihrem Verfall nähere. Die Einführung der Notabein wäre nur ein Kniff der Regierung; sie hätte ihn fünf Jahre zu früh gebraucht und noch etwas unerwarteten Gegendruck gefunden; fünf Jahre später hätte sie diesen nicht mehr riskiert. Das Parlament wolle nichts bedeuten; es mache Schulexerzitien wie die Schulknaben in den Gymnasien und so weiter. Marquis Posa tritt nun zwar als Ritter des Malteserordens auf, handelt und spricht aber wie ein Ritter des Illuminatenordens. „Alle Grundsätze und Lieblingsgefühle des Marquis drehen sich um republikanische Tugend", erläutert Schiller selbst, und dabei sehen wir nur, wie Posa seine Hand auf den Hebel der despotischen Gewalt legen will, sei es nun im Infanten oder im Könige. Als Abgesandter der niederländischen Rebellion weiß er von dieser nichts zu melden, sondern ergeht sich in den allgemeinsten Schlagworten der Aufklärung, mit denen er das tiefgewurzelte Regierungssystem eines Weltreichs zu erschüttern hofft. In seinen Mitteln so wenig wählerisch wie ein Jesuit, ist er um so ungeschickter in dem Gebrauch dieser Mittel, und der Dichter selbst kann die Verwirrung, die sein Held angestiftet hat, in den Briefen über Don Carlos nur mit Argumenten beschönigen, wie etwa: „Er hat den richtigen Gebrauch seiner Urteilskraft verloren — er ist nicht mehr Meister seiner Gedankenreihe — endlich will ich ja den Marquis von Schwärmerei durchaus nicht freigesprochen haben." Freilich blendet der Ritter durch den glänzenden Mantel der Rhetorik, den ihm Schiller um die Schultern gehängt hat, aber den Versuch des Dichters, den Charakter Posas zu retten, hat Körner schon mit den trocknen Worten erledigt: „Du gibst dein Kunstwerk preis und willst nur deine Ideale retten, in die du verliebt bist." Als Typ des damaligen Freimaurer- und Illuminatenwesens ist Posa vortrefflich herausgekommen, aber als Held des Dichters, der sieben Jahre früher die Räuber geschrieben hatte, macht er 46

eine desto miserablere Figur. Doch ist dies Interesse für eine überaus leere Aufklärung nur eine vorübergehende Phase der inneren Revolution gewesen, die sich in Schiller vollzog, als er den Carlos schuf, und wie er sich nun in ein Jahrzehnt historischer und philosophischer Studien stürzte, ehe er wieder die tragische Bühne beschritt, so ist er auch schon allzu hart dadurch gestraft worden, daß ihm sein „sonderbarer Schwärmer" sein schönes Gedicht zerrüttet hat. Vornehmlich durch die feinere, aber deshalb nicht weniger scharfe Charakterzeichnung bekundete Don Carlos einen bedeutenden Fortschritt über die früheren Dramen Schillers. Das gilt nicht nur vom König und der Königin und dem Infanten, sondern auch von mancher Nebenrolle, wie der Prinzessin Eboli, die ungleich wahrer herauskommt als ihre Vorläuferinnen, die Lady Milford und Julia Imperiali im Fiesco, oder dem Großinquisitor, dessen grandios-unheimliche Gestalt die Schrecken der Inquisition greifbarer verkörpert, als sie der Dichter, nach seiner jugendlichen Absicht, in den gewaltigsten Worten hätte darstellen können. Aber wenn nicht alle, so doch die Hauptcharaktere werden durch die Art, wie Posa jäh zum Haupthelden emporgeschnellt wird, erschüttert und verschoben, und ebensosehr leidet darunter die dramatische Handlung. Im dritten und vierten Akte, wo Posa die Führung hat, findet sich selbst der Leser, geschweige denn der Hörer nur mit Mühe zurecht, und dafür entschädigt nicht entfernt die Szene zwischen dem Könige und dem Ritter, die sich ohnehin nicht mit ihrem Vorbilde messen kann, der Szene zwischen Nathan und dem Sultan Saladin. Erst im fünften Akte, wo, wie in den beiden ersten Akten, der tragische Konflikt sich zwischen Vater und Sohn abspielt, gemäß den ursprünglichen Absichten des Dichters, erhebt sich das Drama wieder auf die ergreifende Höhe seiner Anfänge. Die Bühnenwirkung des Carlos war nicht groß, dafür wurde das Gedicht ein Liebling der deutschen Lesewelt, dank freilich mehr seinen Schwächen als seinen Vorzügen. [...] Geschichte Sobald sich Schiller entschlossen hatte, durch unermüdliche Arbeit seinen Lebensweg zu bahnen, führte er seinen Entschluß mit eiserner Energie aus. Zwölf und mehr Stunden währte sein Ar47

beitstag, und abends um acht Uhr stand sein Mittagessen oft noch unberührt auf seinem Tische. Außer an der Thalia, die er immer noch in unregelmäßiger Folge herausgab, ohne daß sie jedoch über ein kümmerliches Dasein hinausgelangte, arbeitete er an der Jenaer Literaturzeitung und an Wielands Deutschem Merkur mit, worin er die Briefe über Don Carlos und Das Spiel des Schicksals veröffentlichte, den letzten literarischen Zoll, den er seiner schwäbischen Vergangenheit widmete. Die kleine Arbeit, die an künstlerischer Vollendung noch den Verbrecher aus verlorener Ehre übertraf, erzählte die wechselvollen Schicksale seines Paten Rieger. Hauptsächlich aber stürzte sich Schiller in die Historie; mit angestrengtem Bemühen arbeitete er an der Geschichte der niederländischen Rebellion, die ihm durch den Carlos nahegelegt worden war. Er vertiefte sich so darin, daß er von seinem dichterischen Berufe gering zu denken begann, zum großen Verdrusse Körners, der spottend schrieb, Schiller schäme sich wohl, zur Kurzweil anderer Menschen zu existieren, und wage kaum, einem Brotbäcker unter die Augen zu treten. Als echter Kantianer hatte Körner keinen historischen Sinn; er meinte, durch seine historischen Arbeiten würdige sich Schiller zum Handlanger für die niedrigen Bedürfnisse gemeiner Menschen herab, während er berufen sei, über Geister zu herrschen. Man kann nun nicht sagen, daß Schiller die Kritik seines Freundes glücklich abgewehrt habe. Er antwortete darauf wie Talleyrands Schneider: il faut vivre, man muß leben; Historienschreiben sei einträglicher als Tragödiendichten. Mit der Hälfte des Wertes, den er in einer historischen Arbeit zu geben wisse, erreiche er größere Anerkennung in der sogenannten gelehrten and in der bürgerlichen Welt als mit dem größten Aufwände seines Geistes für die Frivolität einer Tragödie. Für seinen Carlos, das Werk dreijähriger Anstrengung, sei er mit Unlust belohnt worden; seine niederländische Geschichte, das Werk von fünf, höchstens sechs Monaten, werde ihn vielleicht zum angesehenen Mann machen. Erst in zweiter Reihe hob er hervor, bei einem großen Kopfe sei jeder Gegenstand der Größe fähig; sei er ein großer Kopf, so werde er in sein historisches Fach auch Größe legen. Danach wären die historischen Arbeiten für Schiller im wesentlichen doch nur Brot- und Notarbeit gewesen, und Niebuhrs wegwerfendes Urteil, wonach sie unbedingt nichtig seien, träfe das 48

Richtige. Allein als Schiller so mit Körner stritt, war seine Auffassung durch den so berechtigten wie dringenden Wunsch beeinflußt, endlich einmal aus der Schuldenmisere herauszukommen, die ihm aus Stuttgart, Mannheim und auch noch aus Leipzig nachschleppte. Sieht man auch von früheren oder späteren Äußerungen Schillers ab, so bewies gerade ein Satz aus dieser Zeit, daß ihm eine tiefere Auffassung historischer Zusammenhänge nicht fremd war: „Eigentlich sollten Kirchengeschichte, Geschichte der Philosophie, Geschichte der Kunst, der Sitten und Geschichte des Handels mit der politischen in eins zusammengefaßt werden, und dieses erst kann Universalhistorie sein." Aber freilich darf man nun auch wieder nicht so weit wie manche Biographen Schillers gehen und seinen geschichtlichen Arbeiten eine eigentümliche Stellung in der Entwicklung der historischen Wissenschaften einräumen. Er kannte Montesquieu und Voltaire, und mit Herder lebte er sogar in einer Stadt, aber was die Geschichtsforschung diesen Männern an neuen Methoden zu danken hatte, das hat er nicht bemerkt oder nicht verstanden. Einige Sätze von ihm aus dieser Zeit, die oft zitiert werden, um den Weltbürger Schiller zu ehren, verkleinern in demselben Maße den Historiker Schiller. Sie lauten: „Wir Neueren haben ein Interesse in unserer Gewalt, das kein Grieche und kein Römer gekannt hat und dem das vaterländische Interesse bei weitem nicht beikommt. Das letzte ist überhaupt nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt. Ein ganz anderes Interesse ist es, jede merkwürdige Begebenheit, die mit Menschen vorging, dem Menschen wichtig darzustellen. Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragment (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehen. Er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als so weit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist." Wie kann der Geschichtsschreiber der niederländischen Rebellion und des Dreißigjährigen Krieges von der Nation als einer wandelbaren nicht nur, sondern willkürlichen und zufälligen Form der Menschheit sprechen, es sei denn, daß er die historischen Bewegungen, die er schildert, in ihren Triebfedern gar nicht erkannt hat? Und in der Tat geht Schiller in der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges so 6 Jooas, Schiller-Debatte

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in die Irre, daß er den Widerstand der Einzelstaaten gegen die kaiserliche Gewalt als einen Kampf für die „deutsche Freiheit" auffaßt. Am treffendsten hat vielleicht Hebbel über den Historiker Schiller geurteilt, und als großer Dramatiker war er auch wohl am berufensten dazu. Er spricht über die Kontroverse zwischen Schiller und Körner und meint, es sei einer der besten Beweise für Schillers wahren Beruf zum Dichter, daß er ihn zeitweise ganz verkannt habe. „Wer immer vor der Muse auf den Knien liegt, den hat sie nie erhört." Dann aber sagt er, Körner habe doch Unrecht gehabt, sowenig Schillers Gegengründe besagen wollten. „Der Dichter, wenn er anders als solcher nicht bloß in Kommersbüchern und Vergißmeinnicht-Almanachen prangen will, hat gar nichts Wichtigeres zu tun, als sich des ganzen Gehaltes der Welt und der Zeit nach Kräften zu bemächtigen, denn dieser ist es ja, dem er eine neue Form aufdrücken soll. Er wagt weit weniger, wenn er das, was vor ihm gedichtet wurde, auf sich beruhen läßt, als wenn er sich träge an einer der großen Schatzkammern vorbeischleicht, in denen die Menschheit ihre Schätze aufbewahrt, und zu diesen gehört ja wohl auch die Geschichte." Von hier aus gewinnt man das richtige Urteil, das dem Historiker Schiller weder zuviel noch zuwenig tut. Als Dichter brauchte er den historischen Stoff, und als Dichter hat er ihn zu beherrschen gewußt. War es der vielleicht ärgste Mißgriff des Historikers, die partikularistische Zersplitterung Deutschlands als Bollwerk der „deutschen Freiheit" zu betrachten, so hat der Dramatiker nicht Gustav Adolf oder Bernhard von Weimar zu seinen Helden gemacht, sondern den kaiserlichen Generalissimus, der sich vermaß und daran unterging, die kaiserliche Gewalt wiederherzustellen, wie es zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges dem historischen Fortschritte entsprach. Als Dramatiker war Schiller auch ein großer Historiker, während seine historischen Schriften nur die Abfälle des Marmors sind, aus dem er die Gestalten seiner historischen Dramen meißelte. [...]

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Ästhetik und Philosophie Lange hatte sich Schiller gegen das Studium Kants gesträubt, auf das ihn Körner immer wieder hingewiesen hatte. Es ist wohl sein übertriebenes Mißtrauen in den Umfang seiner Vorkennt' nisse gewesen, das ihn von einer schwierigen Aufgabe zurückschreckte, aber als er nun die nötige Muße fand, sich in sie zu vertiefen, mußte er um so freudiger überrascht sein, auf einen verwandten Geist zu stoßen, der, klarer und schärfer als ihm selbst gegeben war, den Zwiespalt zwischen Sinnenwelt und Sittengesetz zu lösen unternahm und diese Lösung in der Kunst fand. Zwischen das Reich der Natur, das Reich dessen was ist, und das Reich der Freiheit, das Reich dessen was sein soll, zwischen die Erscheinungswelt, die den menschlichen Willen den Gesetzen der Natur unterwirft, und die Welt der Ideen, wo der freie Wille des Menschen herrscht, hatte Kant als verbindendes Glied das Reich der Kunst gestellt. Nirgends entfaltete sich Kants Genius so glänzend wie in der Kritik der Urteilskraft. Sie war 1790 erschienen und wurde von Schiller verschlungen, der hier nun die „Mittelkraft" fand, nach der schon der Zögling der Karlsschule gesucht hatte. Hatte die bisherige Ästhetik die Kunst auf die platte Nachahmung der Natur verwiesen oder sie mit der Moral verquickt oder sie als eine verhüllende Form der Philosophie betrachtet, so wies sie Kant als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nach, in einem tief durchdachten und ebendeshalb auch künstlich konstruierten, aber an freien und weiten Ausblicken reichen System. Kritischer als zur Ästhetik Kants stellte sich Schiller zu seiner Ethik. „Es ist immer noch etwas in Kant", schrieb er später einmal an Goethe, „was einen, wie bei Luthern, an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöffnet hat, aber die Spuren desselben nicht ganz vertilgen konnte." In der Tat ist Kants Pflichtenlehre mit ihrem kategorischen Imperativ nichts weiter als die philosophische Verkleidung der mosaischen zehn Gebote und seine Lehre von dem radikal Bösen der Menschennatur nichts anderes als die philosophische Verkleidung des Dogmas von der Erbsünde. Der Spinozist Goethe schrieb darüber an den Spinozisten Herder; „Kant hat seinen philsosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenalter gebraucht, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem 6»

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Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herangelockt würden, den Saum zu küssen." Nicht anders aber urteilte der Kantianer Schiller, der schon zehn Jahre früher in seiner Selbstkritik der Räuber aufs schärfste gegen die Meinung protestiert hatte, daß der Mensch ursprünglich zum Verderblichen neige. Er schrieb im Februar 1793 an Körner, daß Kants Lehre von der Neigung des menschlichen Herzens zum radikal Bösen empörend für sein Gefühl sei, und Kant überhaupt nicht wohl daran tue, die christliche Religion durch philosophische Gründe zu stützen und das morsche Gebäude der Dummheit zu flicken. Und so hat auch Schiller die echte Philisterschrulle Kants verspottet, daß nicht d e r tugendhaft handle, der sich unter dem Triebe eines mitfühlenden Herzens seinen Mitmenschen hilfreich erweise — denn er befriedige nur seine eigene Neigung —, sondern etwa der Geizhals, der unter dem Gebote des kategorischen Imperativs mit äußerstem Widerstreben ein Almosen spende. Unfähig, die bürgerliche Revolution zu begreifen, gab Schiller nun der Kantischen Philosophie die eigentümliche Wendung, daß er aus Kants Reiche der Natur den N a t u r s t a a t machte, worunter er den feudalistisch-absolutistischen Staat seiner Zeit verstand, aus Kants Reiche der menschlichen Willensfreiheit aber „den Bau einer wahrhaft politischen Freiheit", und wie Kant das Reich der Kunst als verbindendes Glied zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche der Freiheit errichtet hatte, so wollte Schiller aus dem Naturstaat über die Brücke der ästhetischen Kultur in den bürgerlichen Vernunftstaat. Die ästhetischen Abhandlungen, in denen sich Schiller zunächst mit Kant auseinandersetzte, ziehen die Konsequenzen des bürgerlichen Vernunftrechts mit radikaler Schärfe. In einem dieser Aufsätze heißt es: „Eine solche Ausdehnung des Eigentumsrechts, wobei ein Teil der Menschen zugrunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht gegründet." Und in einem anderen: „Des Menschen ist nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erduldet, wirft seine Menschheit weg." Und in einem dritten findet sich jenes schöne Wort über die Sklaverei ohne sklavische Gesinnung, womit dies Lebensbild Schillers eingeleitet worden ist. Nicht jedoch als ob Schiller deshalb das Ästhetische wieder mit dem Moralischen oder Politischen zusammengeworfen und der

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alberne Kalauer Nietzsches über den „Moraltrompeter von Säckingen" irgendeinen Sinn hätte. Schiller hat das Ästhetische, so strenge wie nur immer Kant, vom Moralischen und Politischen gesondert. Er nannte es einen „barbarischen Geschmack", den Dichtern „Nationalgegenstände" zur Bearbeitung zu empfehlen; er schrieb: „Wehe dem griechischen Kunstgeschmacke, wenn er durch die historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter erst hätte gewonnen werden müssen", und so meinte er auch: „Es ist offenbar Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zwecke in ästhetischen Dingen fordert, und, um das Reich der Vernunft zu erweitern, die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiete verdrängen will." Kants Satz, daß der Gegenstand der ästhetischen Betrachtung nicht der Stoff, sondern die Form sei, erscheint bei Schiller in der prägnanten Fassung: „Darin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt." Überhaupt, wenn Schillers ästhetische Abhandlungen nicht immer Kants philosophische Tiefe erreichen, so sind bei ihm die rein ästhetischen Urteile, eben weil er ein Dichter war, oft reicher und schärfer gefaßt als bei Kant. Hatte Kants Schönheitsideal noch stark an Winckelmanns griechische Kontur erinnert, und hatte selbst Lessing sich „allenfalls" damit befreunden wollen, daß die Obrigkeit alles Gemeine und Niedrige in der Kunst „unterdrücke", so sicherte Schiller dem Gemeinen und Niedrigen sein gutes Recht in der Kunst. Freilich sagte er, das Gräßliche und das Niedrige, die äußersten Grenzposten des Geschmacks, seien sehr behutsam anzuwenden und müßten durch einen erheblichen künstlerischen Zweck gerechtfertigt werden, aber man darf ihn in diesem Punkte mit einiger Nachsicht beurteilen, denn die glorreiche Entdeckung, daß der Dreck um des Dreckes willen die künstlerische Darstellung erheische, konnte erst in einem erleuchteteren Zeitalter gemacht werden. In den Briefen nun Über die ästhetische Erziehung des Menschen, die Schiller an den Erbprinzen von Augustenburg richtete, wirft er sich selbst zunächst die Frage entgegen, weshalb er sich mit ästhetischen Untersuchungen abgebe, da doch das „vollkommenste aller Kunstwerke, der Bau einer wahren politischen Freiheit" ein „so viel näheres Interesse darbiete", in einem Augenblick, wo auf dem politischen Schauplatze „das große Schicksal der Menschheit" verhandelt werde, „der große Rechtshandel", woran jeder beteiligt sei, der sich Mensch nenne. Er antwortet, 53

das morsche Gebäude des Naturstaats wanke zwar, jedoch finde der freigebige Augenblick ein unempfängliches Geschlecht. Schiller entdeckt „rohe und gesetzlose Triebe" in den „niederen und zahlreicheren Klassen", nur daß er hinzufügt, die „zivilisierten Klassen" böten den noch widrigeren Anblick der Schlaffheit und einer Degeneration des Charakters, die um so mehr empöre, weil die Kultur selbst ihre Quelle sei. Gewiß fänden sich bei allen Völkern, die in der Kultur begriffen seien, ähnliche Zustände, allein bei einiger Aufmerksamkeit zeige sich ein Kontrast zwischen der heutigen und der ehemaligen, besonders der griechischen Form der Menschheit. Schiller erkennt den Unterschied zwischen der antiken und der bürgerlichen Gesellschaft. Er schreibt in dem Deutschland, das noch nichts von der großen Industrie und kaum etwas von der Manufaktur wußte: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zum Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft." Schiller bricht darüber keineswegs in reaktionäre Klagen aus. Er sagt vielmehr: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur." Aber, so fügt Schiller hinzu, auch nur das Instrument; so lange er dauert, ist man erst auf dem Wege zur Kultur. Wie viel immer für das Ganze der Welt durch die getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen wird, so leiden die Individuen unter dem Fluche dieses Weltzwecks. „Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichmäßige Spiel der Glieder die Schönheit. Ebenso kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar außerordentliche, aber nur ihre gleichförmige Kultur glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältnis ständen wir also zu dem vergangenen und dem kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben und unserer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt — damit das spätere Geschlecht in einem seligen 54

Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs seiner Menschheit entfalten könnte." Schiller zieht auch hier rücksichtslos die Konsequenzen des bürgerlichen Vernunftrechts, und seine Schuld ist es nicht, daß sich die bürgerliche Vernunft auf halbem Wege in dem kapitalistischen Profit verlor und nun nichts mehr von „Zukunftsstaaten" wissen will, worin sich der „freie Wuchs der Menschheit" entfalten kann. Kann dies Ziel nun aber nach Schillers Auffassung nicht durch den Kampf zwischen den „niederen" und den „zivilisierten Klassen" erreicht werden, so auch durchaus nicht durch den Naturstaat, den absolutistisch-feudalen Staat, dessen barbarische Roheit und unheilbare Verrottung die ästhetischen Briefe mit beredten Worten schildern. Es ist, als ob Schiller durch das Dunkel des kommenden Jahrhunderts hindurch die Urteilspraxis der preußischen Disziplinargerichtshöfe gesehen hätte, wenn er das beißende Epigramm abschnellt, der Naturstaat werde sich leichter dazu entschließen — und wer könne ihm darin unrecht geben? —, seinen Mann mit einer Venus Cytherea, der Göttin geiler Lust, als mit einer Venus Urania, der hohen Himmelsgöttin, zu teilen? So kommt denn Schiller zu dem Ergebnisse, daß man durch das ästhetische Problem seinen Weg nehmen müsse, um das politische Problem zu lösen, daß der Weg zur Freiheit durch die Schönheit führe. Die ästhetischen Briefe Schillers enthüllen das Geheimnis unserer klassischen Literatur; sie weisen einleuchtend genug nach, weshalb der bürgerliche Befreiungskampf des 18. Jahrhunderts sich in Deutschland auf dem Gebiet der Kunst entfalten mußte. Aber sie geraten selbstverständlich ins Bodenlose bei dem Versuche, den Weg von der ästhetischen Schönheit zur politischen Freiheit zu finden. Schon im zehnten Briefe gesteht Schiller, die Erfahrung sei vielleicht der Richterstuhl nicht, vor dem sich eine Frage wie diese ausmachen lasse, und je mehr er sich in seine gedankenreichen Untersuchungen vertieft, um so mehr wird ihm das Mittel zum Zwecke. Er sucht wohl noch seinen Grundgedanken in dem Satze festzustellen: „Der Mensch in seinem p h y s i s c h e n Zustande erleidet bloß die Macht der Natur, er erledigt sich dieser Macht in dem ä s t h e t i s c h e n Zustande, und er beherrscht sie in dem m o r a l i s c h e n " , aber die ästhetischen Briefe schließen doch mit dem „ästhetischen Staat" als dem Endziele. „Der Geschmack breitet über das physische Bedürfnis, das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, 55

seinen mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit. Beflügelt durch ihn, entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staube, und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stabe berührt, von den Leblosen wie von den Lebendigen ab . . . Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte, und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung anerkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben." Schließlich antwortet Schiller auf die Frage, ob ein solcher Staat des schönen Scheins existiere und wo er zu finden sei, daß er dem Bedürfnis nach in jeder feingestimmten Seele existiere, aber daß er sich tatsächlich wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finde. So verkündet sich dieser ästhetisch-philosophische Idealismus selbst als ein Spiel, womit auserlesene Geister sich die traurigen Wände ihres Kerkers vergoldeten, und es wäre heute ein Hohn auf die hungernden Massen, wenn man ihnen zumuten wollte, sich ihrer Fesseln nur „in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit" zu entledigen. [•••]

III. Meisterjahre [• • •] Philosophische Dichtungen Der erste und alles in allem auch hauptsächlichste Gewinn, den Schiller aus Goethes Freundschaft zog, war sein wiedererwachendes Selbstvertrauen auf seinen dichterischen Beruf; nachdem seine Muse lange Jahre geschwiegen hatte, durfte er im Jahre 1795 mit einem Goethischen Worte sagen, daß sich ihm ein Quell gedrängter Lieder ununterbrochen neu gebar.

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Doch hatte Goethe an dieser neuen Lyrik Schillers zunächst keinen oder doch nur einen mittelbaren Anteil. Ihr eigentlicher Geburtshelfer war Wilhelm v. Humboldt, der, um acht Jahre jünger als Schiller, dadurch in dessen Kreise gekommen war, daß er eine Freundin der Schwestern Lengefeld geheiratet hatte, Karoline v. Dacheröden, die einzige bedeutende Frau aus diesem thüringischen Kleinadel. Humboldt lebte einige Jahre in Jena, ehe er große Reisen ins Ausland antrat, war aber im Jahre 1795 durch eine Krankheit seiner Mutter nach seinem Familiengute Tegel bei Berlin zurückgerufen worden und stand von da aus im regsten Briefwechsel mit Schiller. Ein ungemein angeregter und vielseitiger, aber schwer und selbst schwerfällig produzierender Geist, angeekelt von dem geistlosen und rohen Mechanismus des damaligen Staats, den er zudem in der preußischen Fasson aus praktischer Erfahrung kannte, an griechischem Geiste geschult und gleichermaßen ästhetischen wie spekulativen Studien hingegeben, verehrte er in Schiller nicht den Philosophen, der dichtet, oder den Dichter, der philosophiert, sondern den Genius, in dem beide so verschiedene Richtungen aus einer Quelle entsprangen, der beide besaß, aber auch schlechterdings nicht eine allein besitzen konnte. In der Tat war Schiller, wie nur im Drama ein großer Historiker, so nur in der Lyrik ein großer Philosoph. Seine ästhetischen Abhandlungen, so reich sie im einzelnen an Gedanken sind, zeigen doch nur den Schüler Kants, der sich, nicht immer mit Erfolg, den Meister fortzubilden bemühte. Dagegen tritt Schiller in seinen philosophischen Dichtungen seinem philosophischen Meister selbständig gegenüber. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant den falschen Schein einer transzendenten (über die Erfahrung hinausgehenden) Vernunft zerstört, in der Kritik der praktischen Vernunft aber eine nicht auf Erfahrung gegründete Ideenwelt entwickelt und nicht nur ihr Recht aufs Dasein verteidigt, sondern auch die ganze empirische Erkenntnis der Welt den sittlichen Ideen untergeordnet und wahre Wissenschaftlichkeit nur da angenommen, wo unsere ganze Auffassung der Dinge dergestalt wissenschaftlich geordnet sei, daß der Zweck unseres Daseins, also das sittliche Prinzip, den Bau des Systems bestimme. Kant war, wie der bedeutendste Neukantianer, Albert Lange, mit Recht sagt, scheinbar nur Kritiker und begründete doch eine Spekulation, die nicht nur unwandelbare und schlechthin notwendige ethische Ideen dichtete, sondern auch noch den

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Anspruch erhob, das gesamte Wissen nach diesen Ideen zu ordnen. Dabei waren diese Ideen selbst nur ein kleinbürgerlicher Aufguß uralter Theologie, und Kant pries sogar seine Vernunftkritik den Regierungen als das sicherste Mittel an, das Volk in der Unvernunft zu erhalten, so daß es gegen Atheismus und Materialismus und freigeisterischen Aberglauben immun werde, ja selbst nicht einmal durch Philosophen- und Pfaffengezänk argwöhnisch gemacht werden könne. Hier nun verhält sich Schillers philosophische Poesie zu Kants philosophischer Prosa wie das Neue zum Alten Testamente. Schiller selbst legt diesen Vergleich nahe durch den Brief, den er am 17. August 1795 an Goethe richtete, zur selben Zeit, wo er sein berühmtestes philosophisches Gedicht Das Reich der Schatten, das er später in Das Ideal und das Leben umtaufte, eben vollendet hatte. Er sagt in diesem Briefe: „Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Erscheinungen derselben im Leben scheinen mir bloß deshalb so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten sind. Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes, des Käntischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also, in seiner reinen Form, Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen, und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion." Und genau in diesem Sinne lehnte Schiller die Kantischen Imperative, die mosaischen zehn Gebote ab, um an ihre Stelle die freie Neigung zu setzen, womit sich der Mensch ästhetisch erlöst. In der Welt der Kunst, in den „heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen", lebt jenes Reich des Ideals, in das sich der Mensch aus dem „engen, dumpfen Leben" flüchten muß, um der „Angst des Irdischen" zu entgehen, Dieser Grundgedanke kehrt in den philosophischen Dichtungen Schillers immer wieder, im Reiche der Schatten, in der Macht des Gesanges, im Tanze, in der Teilung der Erde, im Pegasus im Joche und wie vielen anderen noch. In der Welt der Schönheit herrscht die Freiheit der Gedanken, schwinden die Fesseln des Gesetzes, sinken die Schranken der Sinne: in ihr ist die einzige Erlösung von allem schweren Sklavendasein, das den Menschen in den Staub drückt.

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Bis der Gott, des Irdischen entkleidet, Flammend sich vom Menschen scheidet Und des Aethers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen ungewohnten Schwebens, Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. Des Olympos Harmonien empfangen Den Verklärten in Kronions Saal, Und die Göttin mit den Rosenwangen Reicht ihm lächelnd den Pokal. Eine zergliedernde Analyse von Schillers philosophischen Dichtungen verbietet sich nicht nur an dieser Stelle aus äußeren Gründen, sondern im gewissen Sinne überhaupt. Humboldt sagt mit Recht, daß Schillers philosophische Poesie die Idee erzeuge und nicht bloß mit einem dichterischen Schmuck umkleide; die dem Leser sich darbietende Idee liege jenseits einer Kluft, über die der Verstand keine Brücke zu schlagen, die nur die dichterisch begeisterte Einbildungskraft zu überspringen vermöge. Und deshalb mischt Hebbel sehr Falsches mit sehr Wahrem untereinander, wenn er — um den Unterschied von Genie und Talent zu kennzeichnen — vom Genie sagt, daß in ihm immer etwas durchaus Neues, streng an ein bestimmtes Individuum Geknüpftes liege, jedoch hinzufügt, daß der mittelmäßigste Poet, der die Abendröte besinge oder ein Sonett auf einen Maikäfer mache, es zu einem Gedichte, wie dem Spaziergange Schillers, bringen würde, wenn seine Kraft millionenfach verstärkt würde, aber daß Schiller nie den Fischer oder den Erlkönig Goethes hätte erzeugen können. Genau die Definition des Genies, die Hebbel gibt, hat Goethe an Schillers philosophischen Gedichten, unter denen Der Spaziergang in erster Reihe steht, mit den Worten erläutert: „Schillers eigentliche Produktivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er sowenig in der deutschen als in einer anderen Literatur seinesgleichen hat." Und so schrieb auch August Wilhelm Schlegel, der in Kunstfragen mitreden durfte: „So oft ich das Reich der Schatten seit vorgestern schon las, so kehrt doch jedesmal der Eindruck von etwas Einzigem und, wenn es nicht vorhanden wäre, Unglaublichem zurück." Aber wie Schiller nur als Dichter ein großer Philosoph war, so bieten seine philosophischen Gedichte nur einen ästhetischen Genuß. Das Neue Testament ist ein großer Fortschritt über das Alte hinaus, aber es ist auch noch Religion, ganz im Sinne 59

Schillers, der sich aus Religion zu keiner der Religionen bekennen wollte. Die ästhetische Erlösung hebt den Dualismus nicht auf, sondern setzt ihn auch immer nur erst voraus. In ein Jenseits braucht sich nur zu retten, wer sich im Diesseits nicht helfen kann; nur von dem Hintergrunde einer hoffnungslosen Wirklichkeit hob sich Schillers Idealismus erhaben ab, und er wurde so unheimlich, wie nur irgendein religiöses Gespenst, als das wirkliche Leben aufhörte, hoffnungslos zu sein. Schiller selbst hat noch den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen getan, als er zum Antritt des ig. Jahrhunderts, zur Zeit, wo „zwo gewaltige Nationen rangen um der Welt alleinigen Besitz", den deutschen Philister ermahnte: In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang! Freiheit ist nur in dem Reich der Träume Und das Schöne blüht nur im Gesang. Ungleich ärger noch klang das Lied von der Glocke, wo die Französische Revolution zur höheren Ehre des deutschen Spießbürgertums mit häßlichen Schmähungen überhäuft wurde. Gegen Ende seines Lebens ist Schiller aber selbst noch zu der Erkenntnis gelangt, daß er in seinem Idealismus einem Trugbilde nachgewandert sei. In dem letzten seiner philosophischen Gedichte schildert er, wie er in des Lebens Lenze das Vaterhaus verlassen, all sein Erbteil, seine Habe fröhlich glaubend hingeworfen habe: Denn mich trieb ein mächtig Hoffen Und ein dunkles Glaubenswort: Wandle, riefs, der Weg ist offen, Immer nach dem Aufgang fort. Bis zu einer goldnen Pforten Du gelangst, da gehst du ein, Denn das Irdische wird dorten Himmlisch, unvergänglich sein. Abend wards und wurde Morgen, Nimmer, nimmer stand ich still; Aber immer bliebs verborgen, Was ich suche, was ich will. Berge lagen mir im Wege, Ströme hemmten meinen Fuß, 60

Ueber Schlünde baut' ich Stege, Brücken durch den wilden Fluß. Und zu eines Stroms Gestaden Kam ich, der nach Morgen floß; Froh vertrauend seinem Faden, Werf ich mich in seinen Schoß. Hin zu einem großen Meere Trieb mich seiner Wellen Spiel; Vor mir liegts in weiter Leere, Näher bin ich nicht dem Ziel. Ach, kein Steg will dahin führen, Ach, der Himmel über mir Will die Erde nie berühren Und das Dort ist niemals hier. Dies Gedicht stammt aus dem Jahre 1803, aber in der reichen Ernte, die das Jahr 1795 an philosophischen Dichtungen brachte, findet sich auch eins, das weder von bangen Zweifeln, noch von trügerischen Hoffnungen beirrt wird. Unter allen diesen Gedichten Schillers wurde es von Humboldt am tiefsten, aber von Goethe am höchsten gestellt. Es beklagt die zerronnenen Ideale der Jugend, aber es baut sich kein Reich des Ideals in die Wolken: woran es sich in einem persönlichsten Bekenntnis tapfer hält, sagt es in seinen Schlußzeilen: Beschäftigung, die nie ermattet, Die langsam schafft, doch nie zerstört. Die zu dem Bau der Ewigkeiten Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, Doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht. Uber den Dichter und den Philosophen hinweg hat sich der Mensch Schiller zum Evangelium der Arbeit bekannt, die ihm, durch alle Erdenplagen hindurch, die nur je einen Sterblichen bedrängt haben, das Leben geweiht hat bis zum letzten Atemzuge. [...]

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Balladen Dem Xenienalmanach folgte der Balladenalmanach. Goethe schrieb im November 1796 an Schiller, nach dem tollen Wagstück mit den Xenien müßten sie sich bloß großer und würdiger Kunstwerke befleißigen und ihre proteische Natur, zur Beschämung aller Gegner, in die Gestalten des Edlen und Guten umwandeln. Er selbst arbeitete jetzt an einem herrlichen Epos, an Hermann und Dorothea, und das angenehmste, was ihm Schiller melden konnte, war dessen Beharrlichkeit am Wallenstein. Zwischenein stählten sie ihre Kräfte auf episch-dramatischem Gebiete: im Musenalmanach für 1798 erschien von Goethe Der Gott und die Bajadere, Der Schatzgräber, Der Zauberlehrling und Die Braut von Korinth, von Schiller Der Ring des Polykrates, Die Kraniche des Ibykus, Der Handschuh, Der Taucher, Ritter Toggenburg und Der Gang nach dem Eisenhammer. Nichts hat den Namen Schiller so bekannt oder doch so volkstümlich gemacht wie diese Gedichte und die anderen Balladen, die ihnen folgten, im nächsten Jahre Die Bürgschaft und Der Kampf mit dem Drachen, dann in den Jahren 1801 und 1803 noch Hero und Leander und Der Graf von Habsburg. Aber wenn seine Balladen an genialem Wurfe nicht die Balladen Goethes und Bürgers erreichen, so stehen sie auch nicht am höchsten unter seinen eigenen Gedichten. Weder mit den philosophischen Dichtungen noch mit den reichen Epigrammenkränzen Schillers können sie sich an künstlerischem Werte messen. Unter ihnen selbst bleiben diejenigen, die einen mittelalterlichen Stoff behandeln, im allgemeinen hinter denen zurück, die aus antiken Überlieferungen geschöpft haben. Im allgemeinen, denn es gilt nicht gerade vom Handschuh und vom Taucher, den allerersten der Reihe; Der Handschuh ist mehr nur ein Gemälde, halb Tierstück, halb Ritterstück, wie Körner ihn nannte, und im Taucher wiegen die Naturschilderungen vor; Humboldt bewunderte, wie Schiller das verwirrende Wassergewühl zu malen verstanden habe, ohne je den Rheinfall gesehen zu haben. Aber Der Ritter Toggenburg, Der Gang nach dem Eisenhammer, Der Kampf mit dem Drachen, sie haben alle etwas Gekünsteltes; die naive Frömmigkeit des Mittelalters lag dem Genius Schillers nicht. Dagegen war Schiller unter dem Einfluß von Kants Ästhetik und im Verkehre mit Goethe nun doch dem antiken Geiste nähergekommen, als da er sich seiner mit Hilfe von allerlei TTber" 62

Setzungen zu bemächtigen gesucht hatte. Der Ring des Polykrates ist echt herodotisch empfunden, und Die Kraniche des Ibykus werden von der gewaltigen Wucht eines äschyleischen Chorgesanges durchschüttert. Die Kraniche, an denen Goethe eifrig mitgeholfen hat, sind unstreitig die Krone unter den Balladen Schillers. Seiner strengen Selbstkritik taten auch sie nicht genug; er antwortete auf eine kritische Bemerkung Körners, Trockenheit möge vom Ibykus und auch vom Polykrates wohl kaum zu trennen sein, „weil die Personen darin nur um der Idee willen da sind und sich als Individuen derselben subordinieren". Es frage sich also bloß, ob es erlaubt sei, aus dergleichen Stoffen Balladen zu machen, denn ein größeres Interesse möchten sie schwerlich vertragen, wenn die Wirkung des Übersinnlichen nicht verlieren solle. Die Bemerkung ist sehr bezeichnend für Schiller. Die Ballade heißt eine episch-dramatische Dichtungsart, und so folgert man, daß sich der Dramatiker Schiller zu ihr hingezogen gefühlt habe. Allein er war vielmehr der Gedankenlyriker, der auch in der Ballade nicht die übersinnliche Wirkung der Idee vermissen wollte. In den Kranichen des Ibykus wie im Grafen von Habsburg feierte Schiller die Gewalt der künstlerischen Darstellung über die menschliche Brust; die schönste seiner antiken und die trefflichste seiner mittelalterlichen Balladen sind, um die Sache mit einem grob-prosaischen Ausdrucke zu bezeichnen, gewissermaßen historische Beispiele für die Macht des Gesanges, die Schiller in einem philosophischen Gedichte verherrlicht hatte. Von hier aus gewinnt man auch den richtigen Standpunkt zu einigen seiner lyrischen Schöpfungen, die man nicht eigentlich Balladen, aber auch nicht eigentlich philosophische Gedichte nennen kann: zur Klage der Ceres, zur Kassandra, zum Eleusischen Feste und zum Siegesfeste. Die Phantasie Schillers verweilte gern bei den Anfängen der Zivilisation, dem Übergange vom Nomadenleben zum Ackerbau, dem Bunde, den die Menschen mit der frommen mütterlichen Erde stifteten. Aus der antiken Götterlehre war ihm keine Gestalt so vertraut wie die Göttin des Ackerbaues; in ihrer Klage um die in die Unterwelt entraffte Tochter grüßt Ceres die jungen Sprossen des Frühlings, die sich aus der Erde kaltem Schoß in das heitere Reich der Farben ringen, als teure Boten der ewig Entschwundenen, und wie sich in ihrer Brust göttliche Gefühle mit menschlichen gatten, so tritt die Herrscherin in die Kreise der Wilden, die 63

am blutigen Siegesmahle schwelgen, und lehrt sie, die Götter durch die frommen Gaben des Feldes ehren. Das Eleusische Fest ist aus dem lange gehegten Plane Schillers entstanden, die erste Gesittung Attikas durch fremde Einwanderungen episch zu behandeln. In der Kassandra offenbart sich der antike Geist als düster"erschütternde Prophetie, und von seiner heiter-menschlichen Seite zeigt er sich dann wieder im Siegesfeste, das Schiller als Gesellschaftslied gedichtet hat. Er schrieb darüber an Goethe, alle gesellschaftlichen Lieder, die nicht einen poetischen Stoff behandelten, verfielen in den platten Ton der Freimaurerlieder, und so sei er gleich ins volle Saatenfeld der Ilias gefallen und habe da geholt, was er nur schleppen konnte. Humboldt bestätigt, daß Schiller im Siegesfeste den antiken Geist so rein erfaßt habe wie sonst nur in den Kranichen des Ibykus, doch habe er aus der Fülle seines Busens hinzugefügt, was nicht im Gedanken- und Gefühlskreise des Altertums gelegen habe. Und sicherlich hat sich antiker Geist nie so innig mit Schillers Eigenstem verschmolzen als in den Versen: Von des Lebens Gütern allen Ist der Ruhm das höchste doch; Wenn der Leib in Staub zerfallen, Lebt der große Name noch. Tapfrer, deines Ruhmes Schimmer Wird unsterblich sein im Lied; Denn das irdische Leben flieht Und die Toten dauern immer.

Wallenstein „Der Hauptfehler war, ich hatte mich zu lange mit dem Stücke getragen; ein dramatisches Werk aber kann und soll nur die Blüte eines einzigen Sommers sein." So hatte Schiller in den Briefen über Don Carlos geschrieben, aber wenn er an diesem Drama drei oder vier Jahre gearbeitet hatte, so am Wallenstein sechs bis sieben Jahre. Etwa seit dem Jahre 1790 hatte er sich mit dem Stoffe beschäftigt, und im Winter 1798 auf 1799 vollendete er das große Werk. So lange hatte er seine Waffen geprüft und gewogen, hatte er gewaltige Vorarbeiten und Zurüstungen gemacht, in dem Bewußtsein, daß dieser Wurf über seinen dramatischen Beruf entscheiden werde. 64

Er selbst sprach aus, daß er eine neue Bahn betrete, in dem Prologe, mit dem er im Oktober 1798 die Einweihung der erneuerten Schaubühne in Weimar durch Wallensteins Lager einleitete : Die neue Aera, die der Kunst Thaliens Auf dieser Bühne heut beginnt, macht auch Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend, Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen, Nicht unwert des erhabenen Moments Der Zeit, in dem wir strebend uns bewegen. Denn nur der große Gegenstand vermag Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen, Im engen Kreis verengert sich der Sinn, Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken. Und jetzt an des Jahrhunderts ernster Wende, Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird, Wo wir den Kampf gewaltiger Naturen Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn, Und um der Menschheit große Gegenstände, Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen, Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne Auch höhern Flug versuchen, ja, sie muß, Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen. Das war so etwas wie ein dramatisches Programm. Man darf zwar billig daran zweifeln, ob Wallenstein wirklich auf einem „höhern Schauplatz" spielt als Kabale und Liebe; eine bürgerliche Dramatik, die sich wurzelecht entwickelt und verzweigt hätte, wäre leicht aller historischen Dramatik überlegen gewesen. Aber eine Schwalbe konnte keinen Sommer machen, und selbst ein Friedrich Schiller vermochte nicht die Bedingungen zu schaffen, unter denen das bürgerliche Drama in Deutschland sich auf klassische Höhe hätte schwingen können. So wie sich dies Drama am Ende des 18. Jahrhunderts ausnahm, watend in dem Sumpfe der Iffland und Kotzebue, spielte es sich allerdings auf dem denkbar niedrigsten Schauplatz ab, und wie sich eine Erneuerung des deutschen Lebens nur dadurch vollzog, daß europäische Kriege über seine Grenzen hereinbrachen, so mag man etwas wie dichterischen Seherblick darin sehen, daß Schiller große historische Kämpfe auf die Bretter brachte, die nach seinem eigenen Worte die Welt bedeuteten. 7

Jonas, Schiller-Debatte

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Nur darf man sich nicht, wie es allzuoft geschehen ist, zu der Behauptung versteigen, den Friedländer habe Napoleon aus der Taufe gehoben und in den Männern vom Rütli habe die preußische Landwehr mit Gott für König und Vaterland ihre Schatten vorausgeworfen. Als Schiller den Wattenstein vollendete, war Bonaparte nur einer unter den Generalen der Französischen Republik und zudem auf der Expedition in Ägypten verschollen. Sieht man aber auch von diesem äußeren Umstände ganz ab, so hatte Schiller sich nicht mit zähester Mühe zehn Jahre durch historische und philosophische Studien gearbeitet, um am flachen Ufer einer patriotischen Gesinnungstüchtigkeit zu stranden, auch wenn sie zu seiner Zeit überhaupt schon ein Begriff gewesen wäre. In der verschlungenen Verkettung allgemeiner und persönlicher Geschicke hatte er sich seiner revolutionären Jugenddramatik entfremdet, und um so viel er sich ihr entfremdet hatte, um so viel hatte seine Mannesdramatik an genialer Ursprünglichkeit verloren. Aber in demselben Maße hatte Schiller auch an durchgebildetem Kunstverstande gewonnen, und nichts lag ihm ferner, als die Wirkung seiner dramatischen Kunst durch die Gestaltung von „Nationalgegenständen" zu steigern. Die Frage, um die es sich hier handelt, wird am hellsten durch einen Vergleich zwischen Schiller und Hebbel beleuchtet. Hebbel stand in einem tief empfundenen Gegensatze zu Schiller; er hat oft hart über ihn geurteilt, aber da er als ein Ebenbürtiger aus dem innersten Zwange seiner Künstlernatur mit ihm stritt, so haben seine Urteile doch immer Hand und Fuß; ja auch wo sie sehr einseitig werden, erleuchten sie gerade in dieser Einseitigkeit die tiefsten Probleme der Kunst. Hebbel wußte sehr gut, wo er reicher war als Schiller; er tadelte an dessen Kunst, daß sie das Adern- und Nervengeflecht der dramatischen Gestalten in ihren Hauptstämmen, jedoch nicht bis zum Haargewebe bloßzulegen wisse. Aber nicht ebenso gut wußte Hebbel, worin er ärmer war als Schiller. Die Entwicklung der beiden Dichter hat manche Ähnlichkeit; auch der Dichter der Nibelungen hat nicht völlig gehalten, was der Dichter der Maria Magdalena versprochen hatte, und es sind ähnliche Gründe, durch die beide in ihren reifen Jahren dem historischen Drama zugewandt wurden. Allein vergleicht man, was sie auf diesem Gebiete geschaffen haben, so sieht man sofort, wie gern Hebbel im Dämmer-, Schiller aber im Sonnenlichte der Geschichte weilt. Über die historischen Dramen Hebbels wölbt sich ein klarer und reicher Sternenhimmel; sie 66

haben nichts von der freudigen Helle, die über die historischen Dramen Schillers strömt. Einmal begegnen sich beide Dichter; in je ihrem letzten Drama, im Demetrius, den Hebbel fast vollendet, Schiller nur bis in den Anfang des zweiten Aufzugs geführt hat, aber während Schiller nicht ohne langes Bedenken an die „abenteuerliche Expedition", an das „tolle Sujet" heranging, war die Geschichte des falschen Demetrius der modernste Stoff, den Hebbel aus historischen Quellen geschöpft hat. Gewiß wäre er kein so großer Dramatiker, wie er tatsächlich gewesen ist; ja er wäre überhaupt kein großer Dramatiker, wenn er seinen historischen Dramen nicht eine eigentümliche historische Stimmung gegeben hätte. Jedoch auf den Höhen der geschichtlichen Entwicklung findet sich Hebbel nicht zurecht; er versteht nicht, was Schiller meisterhaft versteht, dem noch gestaltlos ringenden Leben der Zeit im historischen Stoff einen weittönenden Resonanzboden zu geben, seine historischen Helden in all ihrer historischen Eigentümlichkeit aus den Herzen der Zeitgenossen emporwachsen zu lassen. Nirgends bewährt Schiller diese Kunst so glänzend wie im Wallenstein, und nirgends läßt sich auch so schlagend nachweisen, daß er dabei nicht in einer künstlerisch anfechtbaren Tendenz, sondern unbewußt als Dichter schuf. Wallenstein als historischer Charakter war ihm im höchsten Grade unsympathisch, wie er schon in seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges gezeigt hatte. Schiller fand den Stoff undankbar und unpoetisch; er schrieb an Goethe, er habe nie eine solche Kälte für seinen Stoff mit einer solchen Wärme für seine Arbeit vereinigt. Ihn leitete ein rein ästhetisches Interesse, wobei er dann freilich auch nach der anderen Seite hin am eigenen Leibe erfuhr, wie wenig der Dichter in seinem Gestalten und Schaffen durch allgemeine Begriffe einer noch so trefflichen Ästhetik gefördert wird; „in dieser Stimmung" war er „unphilosophisch genug, alles, was er selbst und andere von der Aesthetik wußten, für einen einzigen erfahrungsmäßigen Vorteil, für einen Kunstgriff des Handwerks herzugeben". Mit Anspannung seiner ganzen Kraft suchte Schiller das subjektive Empfinden auszuschalten, das er ehedem in seine dramatischen Gestalten gelegt hatte; ganz und gar verleugnete er das ästhetische Bekenntnis seiner Jugend, wonach alle Geburten der dichterischen Phantasie nur der Dichter selbst seien. Er setzte eine gewaltige Energie daran, das objektive Kunstschaffen Goethes zu erreichen, so klar er sich darüber war, d a ß er 7*

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es niemals ganz erreichen könne. Aber so nahe kam er seinem Ziel, daß bekanntlich Goethe für den Verfasser oder Mitverfasser namentlich von Wallensteins Lager gehalten wurde, wodurch Goethe selbst veranlaßt wurde, zu erklären, er habe nur zwei einzelne Verszeilen hineinkorrigiert. Und es war auch wohl im Hinblick auf den Wallenstein, als Goethe sagte, daß er sich erlaube, Schiller für einen Dichter und sogar für einen großen Dichter zu halten, obgleich die romantischen Imperatoren und Diktatoren behaupteten, er sei keiner. So sehr Schillers Wallenstein unter dem Rat und dem Vorbilde Goethes entstanden ist, so ist er — und Schillers historisches Drama überhaupt — doch eine durchaus eigentümliche und selbständige Erscheinung der dichterischen Kunst. Schillers Drama ist nicht das Drama Shakespeares oder das Drama Goethes oder das Drama Hebbels, aber daraus folgt keineswegs, daß es überhaupt kein Drama von künstlerischem Werte sei. Alle Ästhetik hat nur eine bedingte Geltung, da auch sie dem historischen Wandel unterliegt, und im Grunde schafft sich jedes schöpferische Kunstwerk seine eigene Ästhetik. So verkehrt es ist, die Shakespeare, Goethe und Hebbel mit dem Maßstabe Schillers zu messen, so verkehrt ist es auch, Schiller auf der Waage der Shakespeare oder Goethe oder Hebbel zu leicht zu befinden. Dies meinte Goethe, wenn er sagte, Schillers Wallenstein sei so groß, daß ihm nichts an die Seite gesetzt werden könne. Das wäre übertrieben, wenn damit gesagt sein sollte, Wallenstein sei die überragende Krone der dramatischen Weltliteratur, aber es ist vollkommen richtig in dem Sinne, daß jede echte und ursprüngliche Schöpfung der Kunst an sich unvergleichlich sei. Es ist doch der Dichter der Räuber, der den Wallenstein geschaffen hat, und der Dichter des Wallenstein hat sich von Goethe nur angeeignet, was der Dichter der Räuber vertragen konnte. So schrieb auch Schiller an Goethe, sein Wallenstein solle das ganze System desjenigen, was bei ihremcommercio in seine Natur übergehen könne, in concreto zeigen und enthalten. Die Grenzen dieses Verschmelzungsprozesses zeigen sich deutlich, wenn Schiller gestand, wohl werde ihm erst, wenn er vom Wallenstein zum Max Piccolomini komme, aber den Rat Körners, diesen jungen Helden noch mehr in den Mittelpunkt des Dramas zu rücken, zur Verwunderung des alten Freundes mit der rauhen Bemerkung zurückwies, er habe entgegengesetzte Ansichten über tragische Poesie, die er nicht wohl aufgeben könne. Körner be68

rührte gerade den Punkt, wo die eigene Neigung des Dichters mit der Pflicht stritt, die ihm eine reifere Empfindung für künstlerisches Wirken auferlegte, und wenn die Episode Max-Thekla oft als der wunde Punkt des Dramas bezeichnet worden ist, so ist sie es nur dadurch, daß sie in sich aufzehrte, was sonst, so wie der Dichter nun einmal war, das klare und reine Weltbild der mächtigen Dichtung hätte trüben können. Dies Weltbild aber entworfen zu haben — „illuminiert und fresco", wie es einst der junge Schiller vom Dramatiker verlangt hatte — ist das unsterbliche Verdienst des reifen Dichters. Oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen: in drei mächtigen Terrassen erhebt sich dieser gewaltige Bau, dessen imposanter Eindruck nicht im geringsten geschmälert wird, wenn spähende Kleinmeisterei hier oder da einiges zerbröckelnde Mauerwerk entdeckt. Was Schiller seine „Idealisierkunst", die „Riesenarbeit des Idealisierens" zu nennen pflegte, hier zeigte es sich in künstlerischer Vollendung, und herrlich erfüllte sich sein Wort, daß der Mensch nur durch das Morgentor des Schönen in das Land der Erkenntnis dringe. Er hat Wallenstein und Wallensteins Welt idealisiert, aber eben dadurch ihr historisches Wesen schärfer und tiefer erfaßt als die damaligen Historiker, und auch er selbst als Historiker, es irgend vermochten. Und so tiefen Sinnes verknüpfte er die Gegenwart mit der Vergangenheit, indem er mitten in der grauenhaften Auflösung des Reiches den tragischen Untergang des Helden schilderte, der im Kampfe mit dem ehernen Schicksal diese Auflösung hatte hindern wollen. [• • •] Maria Stuart Gleich nach Abschluß des Wallenstein beschäftigte sich Schiller mit einer Tragödie, deren Stoff ihn schon in seiner Bauerbacher Zeit angeregt hatte. Er begann sie noch in Jena, vollendete sie aber erst im Sommer 1800, als er inzwischen um die Jahreswende nach Weimar übergesiedelt war. Maria Stuart entfaltet kein so reiches Weltbild wie Wallenstein. Das Drama entbehrt selbst des tragischen Konflikts; es ist sozusagen nur ein fünfter Akt. Es beginnt mit der Verurteilung der schottischen Königin; von ihrer Schuld erfahren wir nur durch ihre Buße; wir sehen ihr Leiden, aber nicht ihren Kampf. Abgespannt von der anstrengenden Arbeit am Wallenstein, da er die 69

Helden herzlich satt hatte, wie er selbst sagte, ließ Schiller in seinen Ansprüchen an die künstlerische Objektivität bedeutend nach; so fein abgetönt in ihrem Gegensatze, wie Wallenstein und Octavio Piccolomini, sind in Maria Stuart die beiden Königinnen nicht. Auf die Büßerin fällt alles Licht, auf die Siegerin aller Schatten; an Elisabeth von England strafte der Dichter, was ihm selbst am Weibe unerträglich war: den starken unbeugsamen Willen und die Sucht nicht nur, sondern auch die Fähigkeit zu herrschen. Innerhalb der engeren Grenzen, die sich der Dichter selbst gesteckt hat, ist Maria Stuart aber reich an Vorzügen. Körner kennzeichnete das Drama gleich bei seinem Erscheinen dahin, daß es nach der Weise der Alten nicht auf dem Helden, sondern auf der Handlung beruhe, und in der Handlung liegt der größte Vorzug dieses Trauerspiels. Obgleich das Schicksal der Heldin schon entschieden ist, ehe sich der Vorhang zum erstenmal hebt, weiß der Dichter mit meisterhaftem Geschicke eine bewegte Handlung zu fügen, die bis zur letzten Szene die dramatische Spannung erhält. Schiller schaltet jetzt als der geborene Herrscher auf der Bühne und macht ästhetisch möglich, was er selbst moralisch unmöglich nannte, wie den Streit der beiden Königinnen, den Höhepunkt des Dramas. Auch die Kommunionszene des fünften Aktes war ein starkes, aber doch gelungenes Wagnis; Schiller ließ sich nicht beirren, als Goethe ihm noch vor der Vollendung des Dramas schrieb: „Der kühne Gedanke, eine Kommunion aufs Theater zu bringen, ist schon ruchbar geworden, und ich werde veranlaßt, Sie zu ersuchen, die Funktion zu umgehen. Ich darf jetzt bekennen, daß es mir selbst dabei nicht wohl zu Mute war, nun da man schon im Voraus dagegen protestiert, ist es in doppelter Betrachtung nicht rätlich." Natürlich wußte Schiller, wer dieser „man" war. Und wenn die Handlung in Maria Stuart auch nicht den großen historischen Zug hat wie im Wallenstein, so spielt sie sich doch auf einem großen historischen Hintergrunde ab. Wieder versteht es Schiller, in einen historischen Stoff zu legen, was die Herzen der Zeitgenossen unmittelbar ergreifen mußte, ohne daß er doch wohlfeilen Tagestendenzen irgendwie nachgab. Gerade vom Standpunkte solcher Tendenzen ist Maria Stuart viel angefochten worden; verliebt in seine büßende Heldin, soll Schiller dem Katholizismus zuviel und dem Protestantismus zuwenig gegeben, den Kampf großer geschichtlicher Gegensätze in ein bloßes 70

Weibergezänk verkrüppelt haben; Katholikenriecher, sowohl von der konservativen wie von der liberalen Seite, haben an Schiller immer einen bedenklichen Mangel an Rechtgläubigkeit herausgeschnüffelt. Es ist aber nichts an dem, denn persönliche Sympathie hat Schiller für den Katholizismus so wenig gehabt wie für den Protestantismus. Er stand über diesen Gegensätzen, und ebendeshalb vermochte er, ihnen ihr historisches Recht zu wahren. Wie beim Wallenstein, so hat auch bei der Maria Stuart die historische Forschung bestätigt, daß der Dichter ein Seher gewesen ist. Sie hat das Götzenbild der „jungfräulichen Queen Beß" zertrümmert, das vom englischen Nationalvorurteil errichtet worden war, und das Schuldbuch der Maria noch weit mehr entlastet, als es Schiller schon getan hatte. Sie sieht aber auch die historischen Gegensätze des 16. Jahrhunderts, wie sie Schiller sah: auf der Seite der englischen Reformation die grausame, harte, nüchterne Geschäftspolitik eines Burleigh, auf der Seite der europäischen Gegenreformation allen zauberischen Glanz der Künste und Wissenschaften, der auch viel kältere und klügere Köpfe als den Schwärmer Mortimer in den Schoß der katholischen Kirche zurücktrieb.

Die Jungfrau von Orleans Der Maria Stuart folgte Die Jungfrau von Orleans auf dem Fuße. Im Juli 1800 begann Schiller diese „romantische Tragödie", und im April 1801 hatte er sie beendet. Mitten in der Arbeit schrieb er an Körner: „Mein neues Stück wird auch durch den Stoff großes Interesse erregen, hier ist eine Hauptperson, und gegen die, was das Interesse betrifft, alle übrigen Personen, deren keine geringe Zahl ist, in keifte Betrachtung kommen. Aber der Stoff ist der reinen Tragödie würdig, und wenn ich ihm durch die Behandlung so viel geben kann, als ich der Maria Stuart habe geben können, so werde ich viel Glück damit machen." Viel Glück hat Schiller allerdings mit der Jungfrau von Orleans gemacht; als ihre erste Aufführung im Herbst 1801 stattfand nicht in Weimar, wo sich der Herzog widersetzte, sondern in Leipzig —, war Schiller zugegen und wurde mit rauschendem Beifall überschüttet. Doch war der große Erfolg nur der technischen Meisterschaft des Bühnendichters geschuldet;

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ästhetisch trat die Jungfrau noch weiter hinter Maria Stuart zurück als diese hinter Wallenstein. Das historische Mädchen von Orleans war eine naive Heldin: am Ausgange des Mittelalters aufgewachsen in einem entlegenen Grenztale, wo sich im frommen Kirchenglauben noch nicht einmal der uralt heidnische Einschlag verwischt hatte und doch schon durch die nahe Berührung mit fremdem Wesen eine für die damalige Zeit so moderne Empfindung wie das nationale Bewußtsein zu erwachen begann. Eben die völlige Mischung der religiösen und der nationalen Empfindung machte aus Jeanne d'Arc eine historische Erscheinung von höchster Eigentümlichkeit, und ebendeshalb wurde sie zuerst gar nicht verstanden von dem höfischen Ritterpack, dem die religiöse Empfindung längst entschwunden und die nationale Empfindung noch lange nicht erwacht war. Gerade von hier aus erklärt sich aber auch die geheimnisvolle und gleichsam überirdische Macht, die das Mädchen von Orleans auf die Heeres- und Volksmassen ihrer Zeit ausübte, mochten sie in ihr nur das Werkzeug himmlischer oder höllischer Dämonen sehen. Es ist klar, daß die dichterische Wiederbelebung einer solchen Gestalt nur einem naiven Genie möglich ist, und in der unermeßlichen, poetischen und prosaischen Literatur, die sich seit Jahrhunderten über Jeanne d'Arc aufgehäuft hat, ist dies Genie noch nicht erschienen. Shakespeare schildert die Jungfrau in seinem Heinrich VI. als eine verbuhlte Lagerdirne, und Voltaire hat sie zur Heldin eines komischen Epos gemacht, dem man jungfräuliche Sittsamkeit auch gerade nicht nachsagen kann. Nicht als ob der große Spötter dem Mädchen von Orleans gram gewesen wäre; er lobt sonst wohl die „wackere Amazone", aber er meinte: „Man mache nur aus Johanne keine Inspirierte, sondern eine beherzte Idiotin, die sich für inspiriert hielt; eine Dorfheldin, die man eine große Rolle spielen ließ; ein mutiges Mädchen, das Inquisitoren und Doktoren mit feiger Grausamkeit verbrennen ließen." Eine historische Gestalt, wie die Jungfrau, war für die bürgerliche Aufklärung in dem Maße unverständlich, wie ihr alle national-religiöse Schwärmerei fremd war. Zur bürgerlichen Aufklärung gehörte aber auch Schiller, und er hat die Heldin nicht weniger mißhandelt als Voltaire, nur daß er mit dem Herzen ein Problem lösen wollte, das Voltaire mit dem Witze zu lösen versucht hatte. „Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen, Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott", so urteilte Schiller über 72

Voltaires Epos, während er von seiner tragischen Dichtung sagte: „Mit einer Glorie hat sie dich umgeben, dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben." Aber ein Zerrbild ist seine Heldin nicht minder als die Heldin Voltaires. Während die historische Jungfrau niemals das Schwert gegen die Feinde zog, sondern immer nur die Fahne dem Heere vorantrug, mäht Schillers Heldin ganze Reihen von Engländern nieder, und sie verliert den Glauben an ihre göttliche Mission, weil sie einen Engländer, dem sie schon das Schwert an die Kehle gesetzt hat, in einer Anwandlung von zärtlichem Gefühl laufen läßt. Wie sie sich blitzschnell in den britischen Lord verliebt, so verlieben sich die französischen Heerführer umschichtig in sie und verlangen das Dorfmädchen zu ihrem ehelichen Gemahl, obenan Graf Dunois, der Bastard von Orleans. Man braucht aber nur die urkundliche Aussage des historischen Grafen Dunois über das historische Mädchen von Orleans zu lesen, um sofort zu erkennen, was Schiller hier angerichtet h a t ; sie lautet: „Mir selbst und anderen ist, wann und wie oft wir mit Johanna verkehrten, nie der Gedanke oder der Wunsch gekommen, daß sie ein Weib sein möchte. Mir scheint, sie war etwas Heiliges." Die wenigen Worte geben ein klareres Bild vom Wesen der Jeanne d'Arc als Schillers Trauerspiel. Die ganze „Romantik", die er in das Leben der naiven Heldin gedichtet hat, ist unwahr, von ihrem pathetisch-sentimentalen Monologe im Vorspiel bis zum Schlüsse, wo sie zentnerschwere Ketten sprengt, um den Franzosen neuen Sieg zu erfechten. Damit verglichen ist die wirkliche Geschichte des Mädchens von Orleans, wie sie uns in den zeitgenössischen Urkunden überliefert ist, ungleich poetischer als die Dichtung Schillers. Die Wirkung, die von dem Stück ausgegangen ist und wohl noch ausgeht, ist rein äußerlicher und theatralischer Art. Und da Schiller allen Fleiß auf die künstlerische Gestaltung der Hauptperson verwandt hat, so ist das Drama auch arm an fesselnden Charakteren. Scharf geschnittene Köpfe, wie im Wallenstein, aber auch noch in der Maria Stuart, finden sich in der Jungfrau nicht mehr. Die französischen Heerführer hüben, die Dunois, La Hire, Du Chatel, die englischen Heerführer drüben, die Talbot, Lionel, Fastolf sind alle über einen Leisten geschlagen; höchstens daß Dunois und Talbot um einen Schatten erkennbarer sind. Aber die Jungfrau soll einen großen Wendepunkt im Leben ihres Dichters bezeichnen, die Wendung vom Kosmopolitismus zum 73

Patriotismus. Zum Beweise dafür wird der bekannte Vers von der Nation angeführt, die nichtswürdig sein würde, wenn sie nicht ihr alles freudig an ihre Ehre setzte. Nun war Schiller bei dem dramatischen Mißgriffe, den er mit der Jungfrau von Orleans tat, doch nicht so von allen guten Geistern verlassen, um das nationale Element des Stoffes zu übersehen, und er gab diesem Element das ihm gebührende Recht, selbstverständlich innerhalb der historischen Schranken, die dem Stoffe gezogen waren. Man macht dem Dichter im Grunde ein schlechtes Kompliment, wenn man ihm nachrühmt, einen Ausbruch seines modernen Patriotismus mitten in das mittelalterliche Drama geschleudert zu haben, aber er ist leicht gegen den Vorwurf einer ungehörigen Tendenzmache zu verteidigen. Denn nicht der Dichter spricht jenes totgepeitschte Zitat, sondern der Bastard von Orleans, und unverstümmelt lautet es genauso, wie sich der nationale Gedanke im Hirn eines französischen Prinzen am Ausgange des Mittelalters spiegeln mochte: Für seinen König muß das Volk sich opfern, Das ist das Schicksal und Gesetz der Welt. Der Franke weiß es nicht und wills nicht anders. Nichtswürdig ist die Nation, die nicht Ihr alles freudig setzt an ihre Ehre. Vielleicht sagen resignierte Gemüter: aber in dem vollständigen Zitat ist ja erst recht die preußische Landwehr mit Gott für König und Vaterland prophezeit! Das wäre denn freilich gut ausgelegt, und es bliebe nur der Wunsch, daß die gutgesinnten Patrioten das nichtswürdige Zitat immer recht vollständig zitieren möchten, um ganz klarzustellen, daß nur ein mittelalterlicher Feudalherr für die Ehre einer Nation halten konnte, was für eine moderne Nation eine Schande sein würde, nämlich sich für ihren König zu opfern. So auch ist es nicht Schillers Meinung, sondern eine flüchtige Laune des königlichen Schwächlings Karl, wenn es in der Jungfrau heißt: Drum soll der Sänger mit dem König gehen, Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen. Darüber h a t t e Schiller seine eigenen Erfahrungen mit den Herzögen von Württemberg und Weimar, Erfahrungen, die ihm unmöglich eine so optimistische Auffassung der Beziehungen zwischen König und Sänger einflößen konnten.

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Die Braut von Messina Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans standen unter dem Zeichen des Wallenstein. Schillers nächstes Drama, Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder, ein „Trauerspiel mit Chören", das im März 1802 begonnen und im Januar 1803 vollendet wurde, schlug einen neuen Weg ein. Was den Dichter auf diesen Weg trieb, sprach er wohl am treffendsten in einem Briefe an Goethe aus: „Es ist ein Ganzes, das ich leichter übersehe und auch leichter regiere; auch ist es eine dankbarere und erfreulichere Aufgabe, einen einfachen Stoff reich und gehaltvoll zu machen, als einen zu reichen und breiten Gegenstand einzuschränken." Die gewaltige Arbeit, in seinem großen Stil historische Stoffe zu bewältigen, hatte ihn ermüdet, und vielleicht mag er auch empfunden haben, daß er sich vom Wallenstein bis zur Jungfrau auf einer absteigenden Linie bewegt hatte. Er sehnte sich nach einer anderen Methode der Arbeit, wie er es in den Zeilen an Goethe aussprach. Im stillen hat vielleicht auch der Wunsch eines künstlerischen Wettkampfs mit Goethe mitgespielt. Da Goethes Iphigenie auf die Weimarer Bühne gebracht werden sollte, so hatte Schiller sie von neuem aufmerksam gelesen und schrieb darüber an Körner: „Ich habe mich sehr gewundert, daß sie auf mich den günstigen Eindruck nicht mehr gemacht hat, wie sonst, ob es gleich immer ein seelenvolles Produkt bleibt. Sie ist aber so erstaunlich modern und ungriechisch, daß man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stück zu vergleichen. Sie ist ganz nur sittlich, aber die sinnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles, was ein Werk zu einem echten dramatischen spezifiziert, geht ihr sehr ab. Goethe selbst hat mir schon längst zweideutig davon gesprochen—aber ich hielt es nur für eine Grille, wo nicht gar für Ziererei, bei näherem Zusehen aber hat es sich mir auch so bewährt." Ob nun Goethe von Schiller mißverstanden worden ist oder sich selbst mißverstanden hat, ist nicht zu sagen, aber Schiller bewies nur, daß ihm der griechische Geist am letzten Ende doch ungreifbar blieb, wenn er Goethes Iphigenie „erstaunlich modern und ungriechisch" fand, von seiner Braut von Messina aber meinte, sie lasse sich „wirklich zu einer aeschyleischen Tragödie" an. Goethe hat in der Iphigenie den griechischen Geist schöpferisch umzubilden verstanden, Schiller ihn in der Braut von Messina nur äußerlich gegriffen. 75

Um das „Ideenkostüm" seines Dramas zu rechtfertigen, verlegte Schiller seine Handlung nach Messina, in eine Zeit, wo sich Christentum, griechische Mythologie und Mohammedanismus auf der Insel Sizilien wirklich begegnet sind und vermischt haben. „Das Christentum war zwar die Basis und die herrschende Religion, aber das griechische Fabelwesen wirkte noch in der Sprache, in den alten Denkmälern, in dem Anblick der Städte selbst, welche von Griechen gegründet waren, lebendig fort, und der Märchenglaube sowie das Zauberwesen schloß sich an die maurische Religion an." Die Wahl dieses Schauplatzes war klug überlegt, aber daraus, daß auf diesem Schauplatze einmal ein dumpfer Schicksalsglaube geherrscht hatte, folgte keineswegs, daß der abergläubische Fatalismus, der das Drama Schillers beherrscht, griechisch oder überhaupt nur tragisch war. Ein ganzes herrliches, in Kraft, Tugend, Schönheit prangendes Geschlecht geht ohne eigene Schuld unter, weil — doch mag der Dichter selbst sprechen: Auch ein Raub wars, wie wir alle wissen, Der des alten Fürsten ehliches Gemahl In ein frevelnd Ehebett gerissen, Denn sie war des Vaters Wahl. Und der Ahnherr schüttete im Zorne Grauenvoller Flüche schrecklichen Samen Auf das sündige Ehebett aus. Greueltaten ohne Namen, Schwarze Verbrechen verbirgt dies Haus. Ja, es hat nicht gut begonnen, Glaubt mir, und es endet nicht gut, Denn gebüßt wird unter der Sonnen Jede Tat der verblendeten Wut. Es ist kein Zufall und blindes Los, Daß die Brüder sich wütend selbst zerstören, Denn verflucht ward der Mutter Schoß, Sie sollte den Haß und den Streit gebären. In der Tat ist es aber nichts als „Zufall und blindes Los", was in Schillers Drama herrscht. Ob der Ahnherr berechtigt war, seiner „grauenvollen Flüche schrecklichen Samen" auszuschütten, bleibt unklar; daß auch des „Vaters Wahl" ein Frevel sein konnte, war dem Dichter des Don Carlos nicht unbekannt. Allein wenn der Sohn den alleinigen Frevel beging, so mußte er auch dafür büßen, während er in Schillers Drama bis an sein seliges Ende mächtig 76

in Messina herrscht und nur seine schuldlosen Söhne, die Enkel des fluchenden Ahnherrn, sich in unnatürlichem Haß gegeneinander verzehren und in unnatürlicher Liebe zu ihrer einzigen Schwester entbrennen, kraft des Fluchs, der an dem Ehebette hängt, worin sie erzeugt worden sind. Das ist aber nichts als eine arge Verzerrung der antiken Schicksalsidee. Mit Recht hat Hebbel dagegen eingewandt, Ödipus verfluche seine Söhne, aber sein Fluch werde ihm durch ihre Taten abgezwungen; wenn er sie treffe, so treffe er sie nur, weil sie es verdienten und die Nemesis sie ohnehin getroffen haben würde; auch treffe er sie selbst und nicht ihre schuldlosen Kinder. Auch die Wiederbelebung des Chors, die Schiller in der Braut von Messina versuchte, zeigt nur, daß ihm das innerste Wesen des Griechentums doch verschlossen blieb. So gern Humboldt das Bemühen Schillers um die Antike sah und sein Vergreifen dabei übersah, so konnte er doch nicht umhin, den Chor Schillers in noch so milder Form als ganz verfehlt zu verwerfen. „Ich glaube nicht", schrieb er an Schiller, „daß Sie hätten den Ihrigen zu Begleitern der beiden Brüder machen sollen. Da sie dem Zwiespalte der Feindlichgesinnten folgen, sind sie nicht mehr reine Bürger von Messina, und da ihr eigener Ehrgeiz ins Spiel kommt, ist ihr Urteil nicht das unparteiische des Schicksals, so wie es sich im Menschen ausspricht . . . Der Chor ist wie der Himmel in einer Landschaft. Es versteht sich von selbst, daß er da sei, denn jede Handlung geht durchs Gerücht mehr oder minder schneller oder langsamer ins Volk aus, und prosaisch ausgedrückt, ist der Chor nur immer das urteilende Volk, es sind die Achiver, die immer leiden, wenn die Könige rasen." Wirklich rasen die beiden Hälften des Chors mit den feindlichen Brüdern, und so sehr dadurch der griechische Chor verleugnet wird, so liegt hier doch wohl der eigentliche Grund, der den Dichter zu dem Versuche getrieben hat, eine dramatische Form, die längst abgestorben war, wiederzubeleben. Der Chor in der Braut von Messina ist für Schiller sozusagen das Sammelbecken für die lyrische Flut gewesen, die sonst das ganze Drama überschwemmt hätte. In dem Maße, wie die scharfe Charakterzeichnung in Schillers Dramen nachgelassen hatte, war in ihnen das lyrische Element angeschwollen. Die Monologe der Maria griffen weiter aus als die Monologe der Thekla, und wieder die Monologe der Maria verschwanden vor den Monologen der Johanna. In der Braut von Messina aber, wo ein rätselhaftes Los 77

die Handlung lenkt, war die scharfe Zeichnung der Charaktere unnötig, oder selbst bis zu einem gewissen Grade unmöglich, dagegen öffneten sich alle Schleusen für die lyrisch-philosophische Erwägung eines geheimnisvollen Schicksals. So mißlungen deshalb der Chor in der Braut von Messina dramatisch ist, so reich an poetischer Schönheit sind die Chorgesänge. Denn hier war Schiller auf seinem eigensten Gebiete und berührte sich auch mit dem antiken Geiste, soweit es seiner Begabung und seiner Erkenntnis möglich war. Wilhelm Teil Während Schiller noch an der Braut von Messina arbeitete, beschäftigte er sich schon mit einem neuen historischen Stoff, auf den er durch das grundlose Gerücht aufmerksam geworden war, er wolle Wilhelm Teil zum Gegenstande eines Dramas machen. Wiederholte Anfragen veranlaßten ihn, Tschudis schweizerische Geschichte zu studieren, und nun „ging ihm ein Licht" auf, wie er schon im September 1802 an Körner schrieb; Tschudis „treuherziger, herodotischer, ja fast homerischer Geist" stimmte ihn poetisch. Freilich war es eine „verteufelte Aufgabe", wie er an Körner schrieb. „Denn wenn ich auch von allen Erwartungen, die das Publikum und das Zeitalter gerade zu diesem Stoffe mitbringt, wie billig, abstrahiere, so bleibt mir doch eine sehr hohe poetische Forderung zu erfüllen — weil hier ein ganzes, lokalbedingtes Volk, ein ganzes und entferntes Zeitalter, und, was die Hauptsache ist, ein ganz örtliches, ja beinahe individuelles und einziges Phänomen mit dem Charakter der höchsten Notwendigkeit und Wahrheit soll zur Anschauung gebracht werden. Indes stehen schon die Säulen des Gebäudes fest, und ich hoffe einen soliden Bau zu Stande zu bringen." Jedoch rückte die Arbeit nur langsam vor, und erst im Januar 1804 wurde sie vollendet. Wilhelm Teil ist oft neben und selbst über Schillers Wallenstein gestellt worden, was jedenfalls vom künstlerischen Standpunkt aus völlig unrichtig ist. Wilhelm Teil ist kein tragischer Held, wie denn auch Schiller sein Drama nicht ein Trauerspiel, sondern ein Schauspiel genannt hat. Hiermit war mehr gesagt, als daß der Held nicht untergehe. Der Stoff selbst war durchaus epischer Natur, wie Goethe ihn auch als Epos zu behandeln beabsichtigt hatte, und Schillers Schauspiel ist nur ein dramatisiertes Epos. Es 78

fällt in drei Stücke auseinander, die beiden ersten Akte, die in der Rütliszene gipfeln, den dritten und vierten Akt, worin sich der Kampf zwischen Teil und dem Landvogt Geßler abspielt, und endlich den fünften Akt, der von der Parrizida-Szene beherrscht wird. Daß diese Szene das Stück arg verunstaltet, ist kaum jemals bezweifelt worden, und schon Goethe hat sie dem „Einfluß der Frauen" zugeschrieben. Schillers Frau und Schwägerin hielten es für nötig, daß Teil sein Verbrechen, einen Menschenschinder von Landvogt getötet zu haben, wenigstens durch eine Moralpauke über den politischen Mord sühne. Auch sonst hat der „Einfluß der Frauen" störend auf die künstlerische Ökonomie des Dramas gewirkt. Eingeklemmt zwischen die Ansprüche dieser höfischen Huldinnen und den „Erwartungen, die das Publikum und das Zeitalter gerade zu diesem Stoffe" mitbrachte, hat Schiller die Eidgenossen als gar zu große Philister und den Landvogt als gar zu krassen Theatertyrannen dargestellt. In der Rütliszene heißt es: WALTER FÜRST:

Abtreiben wollen wir verhaßten Zwang; Die alten Rechte, wie wir sie ererbt Von unsern Vätern, wollen wir bewahren, Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen Dem Kaiser bleibe, was des Kaisers ist; Wer einen Herrn hat, dien' ihm pflichtgemäß. MEIER:

Ich trage Gut von Oesterreich zu Lehn. W A L T E R FÜRST :

Ihr fahret fort, Oestreich die Pflicht zu leisten. J O S T VON W E I L E R :

Ich steure an die Herrn von Rappersweil. W A L T E R FÜRST :

Ihr fahret fort, zu zinsen und zu steuern. RÖSSELMANN :

Der großen Frau zu Zürch bin ich vereidet. WALTER FÜRST :

Ihr gebt dem Kloster, was des Klosters ist. Das ist unkünstlerische Tendenz durch und durch, denn auf dem Rütli, im Anfange des 14. Jahrhunderts, waren diese Fragen und Zweifel so undenkbar und unmöglich, wie sie im Anfange des 19. Jahrhunderts einen scharfen Protest gegen das größte Werk der Französischen Revolution bildeten. Daß es sich hier auch 79

nicht um ein beiläufiges Versehen handelte, zeigt die Schlußzeile des Dramas, in der Junker Rudenz alle seine Knechte für frei erklärt. Das ist wieder völlig unhistorisch, aber Schiller schließt dadurch einen Kompromiß zwischen dem „Einfluß der Frauen" und den „Erwartungen des Zeitalters"; nur daß Kompromisse dieser Art künstlerisch ebensowenig taugen wie politisch. Auch die Gestalt des Helden leidet unter der abtönenden Tendenz, die sich allzuhäufig in dem Drama bemerkbar macht. Im ersten Akte wird die Zumutung des Landvogts, dem Hute die Reverenz zu erweisen, als das äußerste der Schmach hingestellt, das den Schweizern zugemutet werden könne: Welch neues Unerhörtes hat der Vogt Sich ausgesonnen! Wir 'nen Hut verehren! Sagt! Hat man je vernommen von dergleichen? Kein Ehrenmann wird sich der Schmach bequemen. Als dann aber Teil im dritten Akt am Hute vorbeigeht, ohne ihn zu grüßen, heißt es: FRIESSHARDT:

Des Landvogts oberherrliche Gewalt Verachtet er und will sie nicht erkennen. STAUFFACHER:

Das hätt' der Teil getan? MELCHTHAL:

Das lügst Du, Bube! Der Söldner Frießhardt urteilt würdiger über Teil als Stauffacher und Melchthal, die politischen Führer der Eidgenossen; besonders eigentümlich nimmt sich die sittliche Entrüstung im Munde des Hitzkopfs Melchthal aus, der eben geschworen hat, daß sich von Alp zu Alp die Feuerzeichen flammend erheben und die festen Schlösser der Tyrannen fallen sollen. Aber genauer als Frießhardt kennen sie allerdings den Teil, der dann, sobald Geßler auf der Bühne erscheint und die dem Hute verweigerte Reverenz ebenso auslegt wie sein Söldner, selbst erklärt: Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, Nicht aus Verachtung Eurer ist's geschehn. Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht der Teil, Ich bitt' um Gnad', es soll nicht mehr begegnen. Also nur aus „Unbedacht" hat sich Teil nicht der Schmach bequemt, der sich kein Ehrenmann bequemen kann, und er bittet um Gnade, indem er verspricht, es nicht wieder zu tun. So tritt die Tendenz handgreiflich hervor, die Unterwürfigkeit 80

des schweizerischen Helden bis zum äußersten Grade der Selbsterniedrigung zu treiben, damit er das Recht erhalte, sich an dem Tyrannen zu vergreifen, der auch auf solche Unterwürfigkeit nur mit sinnlos wütender Grausamkeit zu antworten weiß. Und es ist eine Art gerechter Strafe für diese unkünstlerische Tendenz, daß Schiller seinen guten Deutschen noch immer nicht genug getan hat, daß die bürgerlichen Kritiker — vom erzdemokratischen Börne bis zum urreaktionären Vilmar — in holder Eintracht sich vor dem „Meuchelmord" bekreuzigen, den Teil am Landvogt Geßler begeht. Hier aber hat Schiller seinen großen historischen Sinn durchaus bewährt. Nimmt man einmal die Voraussetzung als gegeben an, daß Teil trotz der äußersten Nachgiebigkeit von Geßler in der grausamsten Weise gefoltert wird, so ist das Recht Teils, dies Untier abzuschießen wie einen Wolf des Waldes, so unanfechtbar, daß man sich höchstens wundern könnte, weshalb Teil noch einen langen Monolog braucht, um sich ein unveräußerliches Menschenrecht klarzumachen. Aber so erschöpfend Schiller die Tötung Geßlers als die Notwehr eines in seinen menschlichsten Interessen tödlich verletzten Menschen psychologisch begründet hat, so faßt er sie historisch nur als die Begleiterscheinung des menschenschindenden Despotismus auf, die wohl das Signal zur befreienden Tat geben, aber nicht diese befreiende Tat selbst sein kann. Mit weisem Bedacht läßt Schiller seinen Teil nicht mit auf dem Rütli tagen, und wenn ihn die epische Art des Stoffes auch gehindert hat, die Tat des einzelnen völlig mit der Tat der Eidgenossen zu verschmelzen, so hat er doch in die Rütliszene das herrliche Bekenntnis gelegt, das, wie einst die Flammenzeichen von Alp zu Alp leuchteten, so sein Freiheitspathos von Geschlecht zu Geschlecht tragen wird: Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last — greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst — Der alte Urständ der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht — Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben — 8

Jonas, Schiller-Debatte

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Demetrius Wilhelm Teil sollte Schillers letztes Drama bleiben. Er selbst dachte noch nicht ans Feiern; seine Leiden hatten seit seiner Übersiedelung nach Weimar zwar nicht aufgehört, aber eine gewisse Linderung war eingetreten. Sein rastloser Tätigkeitstrieb hatte sich nicht in seinen großen Dramen erschöpft; daneben lief noch eine Reihe von Ubersetzungen aus dem Englischen, Italienischen und Französischen, darunter Shakespeares Macbeth und Gozzis Turandot. Bis zum fünfzigsten Lebensjahre hoffte Schiller noch schaffen zu können, und er stand jetzt in der Mitte der Vierziger. Aber die Zustände in Weimar begannen ihn zu drücken; er meinte, es sei ein Wunder, wenn er in so engen und kleinen Verhältnissen etwas leiste, was für die größere Welt tauge. Auch bedrängte ihn die Sorge um die Zukunft seiner unmündigen Kinder. So versuchte er im Frühjahr 1804 in Berlin Anker zu werfen, wo Iffland seine Dramen mit großem Eifer und Geschick zu inszenieren pflegte. Allein der Versuch scheiterte; man speiste ihn während eines mehrwöchigen Aufenthaltes in Berlin mit allgemeinen Redewendungen ab, die nur den einen Erfolg hatten, daß den Herzog von Weimar ein Gefühl der Scham überkam, so daß er das Jahresgehalt Schillers auf die erdrückende Summe von achthundert Talern steigerte. Im Sommer 1804 packte den Dichter von neuem die Krankheit, und nun ließ sie ihn nicht mehr los. In dieser qualvollen Zeit, in der unabwendbar das Ende heranrückte, hat Schiller sich noch mit einem großen Drama beschäftigt, dem Demetrius, demselben Stoffe, dem auch Hebbel seine letzte Kraft widmen sollte. Demetrius war ein russischer Kronprätendent, der am Anfange des 17. Jahrhunderts von polnisch-jesuitischer Seite siegreich bis in den Kreml geführt wurde, wo er, bald als Betrüger entlarvt, eines gewaltsamen Todes starb. Hebbel meinte, daß Schiller nie mit seinem Demetrius vorwärts gekommen wäre, da ein Betrüger im Drama die hohe tragische Wirkung unmöglich gemacht hätte ; er selbst suchte diese Schwierigkeit zu umgehen, indem er aus seinem Helden den natürlichen Sohn des Zaren machte, als dessen legitimer Sohn der historische Demetrius auftrat. Als Hebbel so über Schiller absprach, wußte er wohl nicht, daß Schiller die gleiche Lösung beabsichtigt hatte für einen gleichen Stoff, der ihn bis ins Todesjahr hinein beschäftigte, für den englischen 82

Prätendenten Warbeck: aus dem gleichen Grunde wie Hebbel, um „im Moralischen auch nicht den geringsten Knoten zu lassen", aber mit dem Unterschiede, daß Warbeck kein Trauer-, sondern ein Schauspiel werden sollte. Die verschiedene Art der beiden großen Dramatiker ist damit so fein wie scharf gekennzeichnet; Hebbel sucht seinen tragischen Stoff in einem psychologischen Problem und sei es auch recht verzwickter Art, Schiller in dem Aufeinanderstoßen großer geschichtlicher Gegensätze, wie gleich der erste Akt seines Demetrius zeigt, der einzige, den er im wesentlichen vollendet hat, in den prachtvollen Verhandlungen des polnischen Reichstags. Aus einem anderen Grunde als Hebbel mag man daran zweifeln, ob Schiller mit seinem Demetrius fertig geworden wäre. Er hatte sich mit dem englischen Prätendenten viel eingehender und länger beschäftigt als mit dem russischen, und wenn er sich schließlich für diesen entschied, so gab den rein äußerlichen Anstoß dazu, daß der Erbprinz von Weimar eine russische Großfürstin heiraten sollte. Wolzogen, der Schwager Schillers, war als Brautwerber in Petersburg, und von ihm erbat sich der Dichter historisches Material für sein neues Drama. Aus dem prosaischen Entwürfe, den er sich dazu gemacht hat, geht hervor, daß er eine Apotheose des Hauses Romanow einzuflechten gedachte, und damit wäre er, wie zu hoffen steht, doch nicht fertig geworden. Es würde einen bleibenden Schatten auf sein Andenken geworfen haben, wenn er eine Dynastie verherrlicht hätte, die, wie keine andere in der Geschichte, von Blut und Schmutz trieft und eben jetzt, da Schillers Todestag zum hundertsten Male wiederkehrt, endlich der tausendfach verdienten Vergeltung anheimfällt.

Tod und Nachruhm Am 9. Mai 1805 starb Schiller. Der Tod kam ihm als ein Erlöser; nach der Aussage der Ärzte hätte sein Lebensfaden nur um den Preis furchtbarer Leiden noch kurze Zeit fortgesponnen werden können. Und nun erfüllte sich an ihm sein prophetisches Wort: Denn das irdische Leben flieht, Und die Toten dauern immer. Der Ruhm, den er als das höchste der irdischen Güter gepriesen hatte, kränzte sein Grab mit unvergänglichen Lorbeeren, und 8*

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derweil sein Leib in Staub zerfiel, lebte sein großer Name fort. Schiller wurde der gefeierte Lieblingsdichter der Nation, obgleich niemand besser wußte als Schiller selbst, daß er nicht ihr größter Dichter war. Hebbel hat sogar die Tatsache auf die Schwächen Schillers zurückgeführt, die dem deutschen Nationalcharakter als Vorzüge erschienen seien. Dieser Charakter liebe das Unbestimmt-Verschwimmende, das eines sein und doch daneben etwas anderes scheinen wolle, und deshalb sei Schiller, der nie etwas ganz Exklusives, etwas durchaus nur Poetisches biete, sein Lieblingsdichter. „Wenn Schiller z. B. als dramatischer Dichter, statt seiner bekannten Vorliebe, einen unbesiegbaren Widerwillen gegen alles Sentenzenwesen gehabt und hinreichendes Gestaltungsvermögen besessen hätte, um den Ausfall, der dadurch in der Oekonomie seiner Stücke entstanden wäre, zu decken: was würde, seiner Nation gegenüber, die Folge davon gewesen sein? So gewiß er dann vor dem höchsten Forum der Aesthetik ganz anders bestehen würde, wie jetzt, ebenso gewiß würde er drei Vierteile seines großen Publikums verloren haben, denn der Deutsche kann und will nun einmal in den Charakteren eines Dramas nicht eine Art von höherem Alphabet erblicken, aus dem er sich das Lösungswort selbst zusammensetzen soll; ihm ist eine Figur, der kein Zettel aus dem Munde hängt, sogleich eine rätselhafte, und er wird nie befriedigt, wenn der Poet sich herausnimmt, die Kunst befriedigen zu wollen. Das geht aber im Lyrischen ebenso; ein Bild ohne Unterschrift ist ihm ein Bild ohne Sinn; deshalb zieht er alles Reflektierende vor, und Körner erwies sich nur als echter Deutscher, wenn er in den Künstlern so lange, bis das Lied von der Glocke kam, die Krone aller Lyrik erblickte." Man wird diesem Urteil eine gewisse Bitterkeit anmerken, die aus Hebbels eigenen Erfahrungen stammt und ebenso aus den Erfahrungen Kleists, auf den Hebbel auch in seinen weiteren Ausführungen anspielt. Zu sagen, daß Schiller gerade deshalb seinen großen Ruf erworben habe, weil er als Dramatiker kräftiger und nachdrücklicher zum Volke gesprochen habe als die Lessing, Herder und Goethe, hieße übersehen, daß die großen Dramatiker der deutschen Literatur, die mit Schiller in gleicher Reihe stehen und ihm als Dramatiker sogar in manchem überlegen gewesen sein mögen, Kleist und Hebbel, lange ungebührlich im Schatten gestanden haben und selbst heute noch nicht zu ihrem Rechte gekommen sind. 84

Etwas Wahres liegt aber dennoch in der Beweisführung Hebbels. Der Dichter wird immer leichter das Ohr der Massen finden als der Denker und der Forscher, aber der Ruhm des Dichters, der reiner Künstler ist, wird immer mehr in der Zeit als im Räume wachsen. Hieraus erklärt sich der Vorsprung Schillers, sowohl vor den Lessing und Herder als auch vor den Goethe und Hebbel. Nicht als ob die Lessing und Herder nicht auch bis zu einem gewissen Grade Dichter oder die Goethe und Hebbel nicht auch bis zu einem gewissen Grade Denker gewesen wären, aber die Mischung der Elemente war in keinem so gleichmäßig abgewogen wie in Schiller. Dies ist der tatsächliche Kern von Hebbels „Unbestimmt-Verschwimmendem", und was er den „deutschen Nationalcharakter" nennt, war in Wirklichkeit die bürgerliche Klasse in Deutschland, die Bourgeoisie und namentlich auch das Kleinbürgertum. Sie hob den Dichter, in dem sie alles gefunden zu haben glaubte, was ihr Herz bewegte, als ihren Vorkämpfer auf den Schild. In dem sie alles gefunden zu haben glaubte oder vielmehr, in den sie alles hineinlegte, was ihr Herz bewegte. Denn die Ideen bilden nicht die Interessen, sondern die Interessen bilden die Ideen um. Hier nun kam der Sentenzenreichtum Schillers zu dem Einfluß, den ihm Hebbel zuschreibt, zumal da nach dem bedenklichen Prinzip verfahren wurde, den Dramatiker für das verantwortlich zu machen, was er eine dramatische Person sagen läßt. Und dies bedenkliche Prinzip wurde um so unbedenklicher gehandhabt, als sich die bürgerliche Klasse um die persönlichen Lebensumstände ihres Lieblingsdichters nach seinem Tode so wenig kümmerte wie während seines Lebens. Allzu spät, um das Jahr 1830, veröffentlichten selbst Goethe und Humboldt ihre Briefwechsel mit Schiller, und diese Briefwechsel zeigten ihn wesentlich nur von der ästhetischen Seite. Zu gleicher Zeit erschien die erste Biographie Schillers, verfaßt von seiner Schwägerin Caroline v. Wolzogen, die als Witwe eines Weimarischen Oberhofmeisters den Dichter als blassen Schemen darstellte, der mit irdischen Dingen eigentlich nur durch seine Heirat und die dankbare Ehrfurcht verbunden war, die er vor Karl Eugen und Karl August gehegt haben sollte. Der Briefwechsel Schillers mit Körner, die wichtigste Quelle zu seiner Biographie, erschien wenig vor dem Jahre 1848, und auch diese Quelle begann erst nach der stürmischen Zeit von Schillers Jugenddramen zu sprudeln. So wurde Schiller der liberale, der nationale, der ideale Dichter 85

von Gnaden der bürgerlichen Klasse und im Sinne ihrer Tendenzen. Ihrem engbrüstigen Liberalismus kam es schmeichelnd entgegen, daß Schiller die bürgerliche Revolution bekämpft und selbst geschmäht hatte, hierin kurzsichtiger als manche seiner Zeitgenossen, als Klopstock und Herder, als Kant und Fichte; über seine Jugenddramen, die Schiller selbst in späteren Jahren ungünstig beurteilt hatte oder haben sollte, ging man als über unreife Stilübungen zur Tagesordnung; Kabale und Liebe wurde von dem liberalen Literarhistoriker Gervinus kaum weniger heruntergerissen als von Vilmar, dem gehorsamen Trabanten der hessischen Menschenschacherdynastie. Für das mächtige Freiheitspathos aber, das gleichwohl durch Schillers Dramen glühte, von den Räubern bis zu Wilhelm Teil, suchte man sich den ästhetisch und historisch mißlungensten Vertreter aus, jenen flachen Phrasenhelden Posa, den Schiller selbst, kaum daß er ihn geschaffen hatte, nur mit Mißbehagen betrachten konnte. Mit noch größerer Vergewaltigung der historischen Tatsachen wurde Schiller zum Herold des nationalen Einheitsgedankens gemacht. Die bürgerliche Klasse gab damit eine klassische Probe ihres gänzlichen Mangels an Selbstvertrauen. Denn unzweifelhaft waren die bürgerlich-nationalen Einheitskämpfe des 19. Jahrhunderts ein historischer Fortschritt gegen das wurzellose Weltbürgertum der bürgerlichen Aufklärung, das im 18. Jahrhundert geherrscht hatte. Aber daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, daß Schiller diesem Weltbürgertum, so wie es nun einmal war, gehuldigt hatte. Er kannte das „Vaterland" als schwäbischen Kanton, aber sonst wollte er der „Zeitgenosse aller Zeiten" sein, und über den Beruf gerade der Deutschen, eine Nation zu bilden, dachte er so wie Goethe: Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus. Allein Schiller mußte nun einmal zum Propheten der nationalen Einheit gemacht werden, und so verstümmelte man die Worte, die er einem mittelalterlichen Feudalherrn in den Mund gelegt hatte, über die Nichtswürdigkeit der Nation, die nicht ihr alles freudig an ihre Ehre setze, oder man stellte sich an, als ob ein anderer mittelalterlicher Feudalherr nicht die schweizerischen Urkantone, sondern eine moderne Nation gemeint hatte, als er sagte: Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, Das halte fest mit deinem ganzen Herzen, Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft. 86

Am ärgsten aber war der Unfug, den der deutsche Bürgersmann mit Schillers ästhetisch-philosophischem Idealismus getrieben hat. So wie Schiller diesen Idealismus meinte, war er schon zu seinen Lebzeiten das Geheimnis eines sehr engen Kreises gewesen ; nach seinem Tode aber wurde er in gänzlichem Mißverständnis eine Stütze für alle Halbheit und Zaghaftigkeit der deutschen Spießbürgerei. Er rammte den Philister in all seiner Philisterei fest und zeitigte namentlich das blöde Vorurteil, womit wir uns noch täglich herumzuschlagen haben, nämlich daß der philosophische Idealismus der Glaube an sittliche Ziele sei, der philosophische Materialismus aber Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, so daß jeder wackere Staatsbürger, der einige Brocken von Schillers „idealen" Gedichten aufgeschnappt hat, sich über Männer wie Darwin und Haeckel, Feuerbach und Marx erhaben dünkt. Der Kantische Dualismus bewährte sich auch in der verfeinerten Form, die Schiller ihm gegeben hatte, nicht als eine Überwindung des christlichen Dualismus, sondern als seine Fortsetzung oder genauer als seine Übersetzung aus dem Feudalen ins Bürgerliche. In der Auslegung, die ihm die Bourgeoisie gab, sagte er den Armen nicht mehr wie der orthodoxe Pfaffe, daß ein leibhaftiger Gott im Himmel throne, der ihn in einem jenseitigen Leben für alle Leiden dieser unvollkommenen Welt trösten werde, aber er sagte, daß der Arme nur ins „Reich der Schatten", ins „Reich des Ideals" zu fliehen brauche, um aller irdischen Not enthoben zu sein. In seinem berühmtesten philosophischen Gedichte hatte Schiller gesungen : Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden Bleibt dem Menschen nur die bange W a h l . . . Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen, Frei sein in des Todes Reichen, Brechet nicht von seines Gartens Frucht. An dem Scheine mag der Blick sich weiden, Des Genusses wandelbare Freuden Rächet schleunig der Begierde Flucht. Die deutsche Bourgeoisie aber wandelte diese schönen Strophen in jene abgeschmackte Prosa um, womit sich der kapitalistische Ausbeuter hinter den „Seelenfrieden" der Arbeiter verschanzt, wenn sie ihr „Sinnenglück" durch eine Erhöhung des Arbeitslohnes oder eine Verkürzung der Arbeitszeit fördern wollen. Man darf den ästhetisch-philosophischen Idealismus Schillers 87

nicht mit dem historisch-philosophischen Idealismus Fichtes und Hegels verwechseln. Schiller flüchtete aus dem engen dumpfen Leben in das Reich der Kunst, während Fichte im kühnen Sturme der Gedanken dies Leben aus aller Dumpfheit und Enge befreien wollte; Fichte verkündete frank und frei den Atheismus, das Recht auf Revolution, die Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, eben die Gleichheit, die Schiller nur im Reiche des ästhetischen Scheines gelten lassen wollte. Und so auch flüchtete Hegel nicht aus seiner Zeit, sondern erfaßte sie in Gedanken und eroberte mit seiner historischen Dialektik ungezählte Provinzen des Geistes. Schiller spottete über Fichte als einen „Weltverbesserer", aber um so gründlicher und treffender kritisierte der große Idealist Hegel den Idealismus Schillers. Am ärgsten grassierte dieser Idealismus, verzerrt wie er von den bürgerlichen Liberalen war, in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als sich die Wolken des Märzgewitters zu sammeln begannen. Damals schrieb Karl Marx zornig, Schillers Flucht in das Reich des Ideals vertausche nur die gemeine Misere mit der überschwänglichen, und aus diesen Tagen datierte die Abneigung, die unverkennbar hervortritt, wenn Marx und Engels einmal auf Schiller zu sprechen kommen. Es ist unsinnig zu behaupten, daß Schillers Geist die Märzkämpfer des Jahres 1848 beseelt habe; die einfachste Wahrheitsliebe verbietet, ihn als Schwurzeugen für eine bürgerliche Revolution anzurufen. Er hat diese Revolution gesehen, aber nicht verstanden. Sie ist ihm ein Greuel geworden, sobald sie mit ehernen Sandalen einherzuschreiten begann. Es waren die Hallen der Paulskirche, wo im Jahre 1848, wenn nicht der Geist, so doch der Schatten Schillers umging, und diesen Schatten hat die bürgerliche Klasse in Deutschland dann noch einmal beschworen, zehn Jahre später, als sie sich von der Niederlage ihrer Revolution erholt hatte und einen neuen Gang mit der absolutistischfeudalen Reaktion versuchte. Das große Schillerfest am 10. November 1859, z u m hundertsten Geburtstage des Dichters, sah den bürgerlichen Schillerkultus in seinem hellsten Glänze, aber es sah ihn auch zum letztenmal; seitdem die Revolution von oben und von unten zugleich über das deutsche Bürgertum hereinbrach, ließ es den Mohren gehen, der seine Arbeit getan hatte. Aber deshalb sind die Lorbeeren auf Schillers Grabe nicht verwelkt. Nicht nur die Bourgeoisie hat einen Anspruch an ihn, sondern ebenso das Proletariat. Die Arbeiterklasse war noch ein 88

Teil der bürgerlichen Klasse, als Schiller arbeitete und kämpfte. Sie macht sich aus ihm kein Götzenbild, um eigensüchtigen Interessen zu frönen; sie kann ihn nicht mehr als einen unfehlbaren Lehrer und Wegweiser betrachten; sie wandelt andere Wege, als er gewandelt ist. Aber was ihr von seinem Erbe gebührt, das hält sie in unantastbaren Ehren. Immer wird sein Ruf gegen die Tyrannen durch ihre Reihen schallen; immer wird der Dichter der Räuber und der Luise Millerin, des Wallenstein und des Teil ihrem Herzen teuer sein; immer wird sie in bewundernder Dankbarkeit auf dies Leben der Arbeit, des Kampfes und des Leidens blicken, das ein stolzer Wille aufrecht erhielt, bis der letzte Funke von körperlicher Kraft erloschen war. Durch das babylonische Sprachgewirr, das in den herrschenden Klassen zum hundertsten Todestage Schillers lärmt, hört die Arbeiterklasse klar und rein den Grundton seines dichterischen Schaffens im Gelingen und auch im Verfehlen: die Hoheit der Gesinnung, die sich siegreich erhebt über alle Sklaverei.

R[osa] Luxemburg Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter Ein Lebensbild hat Mehring seine Schillerbroschüre genannt, und das ist sie im wahren Sinne des Wortes. Nicht eine Biographie, eine landläufige chronologische Sammlung von Daten aus einem Leben, sondern ein wirkliches Bild, ein plastisches, harmonisches Gemälde, das durch die klare Zeichnung und eine außerordentlich feine Abtönung von Anfang bis zu Ende einen hohen, rein ästhetischen Genuß bereitet. Die Studie Mehrings erscheint gerade zur rechten Zeit wie eine hochwillkommene Gabe an die deutsche Arbeiterschaft, um ihr ein von bürgerlich-tendenziöser und andererseits auch von partei-tendenziöser Verzerrung freies Bild des großen Dichters zu liefern. Schillers Dichtung ist nicht bloß zum ehernen Bestandteil der deutschen klassischen Literatur, sondern auch zum geistigen Hausschatz speziell des aufgeklärten kämpfenden Proletariats geworden, die Worte und Sprüche, die er geprägt, wurden zur Form, in der die deutsche Arbeiterschaft mit Vorliebe ihre revolutionären Gedanken und ihren Idealismus zum schwungvollen Ausdruck bringt. Die Verbreitung der Schillerschen Poesie in den proletarischen Schichten Deutschlands hat zweifellos zu ihrer geistigen Hebung und auch zur Revolutionierung beigetragen, insofern also gewissermaßen ihr Teil an dem Emanzipationswerk der Arbeiterklasse gehabt. Allein es unterliegt keinem Zweifel, daß Schillers Rolle in dem geistigen Wachstum des revolutionären Proletariats in Deutschland nicht sowohl darin wurzelt, was Schiller mit dem Gehalt seiner Dichtungen in den Emanzipationskampf der Arbeiterschaft hineintrug, als umgekehrt darin, was die revolutionäre Arbeiterschaft aus eigener Weltanschauung, aus eigenem Streben und Empfinden in die Schillerschen Dichtungen hineinlegte. Es hat hier ein eigenartiger Assimilierungsprozeß stattgefunden, in dem sich das Arbeiterpublikum nicht den Schiller als ein geistiges Ganzes, so wie er in Wirklichkeit war, aneignete, sondern sein geistiges Werk zerpflückte und es unbewußt in der eigenen revolutionären Gedanken- und Empfindungswelt umschmolz. Doch über diese Phase des politischen Wachstums, wo die gärende 90

Begeisterung, das halbdunkle Streben zu den lichten Höhen des „Idealen" den Anbruch der geistigen Wiedergeburt der deutschen Arbeiterschaft ankündigte, sind wir beträchtlich hinaus. Was die Arbeiterschaft heute vor allem braucht, ist: alle Erscheinungen der politischen und auch der ästhetischen Kultur in ihren klaren, streng objektiven historisch-sozialen Zusammenhängen, als Glieder jener allgemeinen sozialen Entwicklung aufzufassen, deren mächtigste Triebfeder heutzutage ihr eigener revolutionärer Klassenkampf ist. Auch Schiller kann und muß die deutsche Arbeiterschaft heute ganz wissenschaftlich-objektiv als einer mächtigen Erscheinung der bürgerlichen Kultur gegenüberstehen, statt in ihm subjektiv aufzugehen oder richtiger ihn in eigener Weltanschauung aufzulösen. So war denn gerade jetzt, aus Anlaß der hundertjährigen Schillerfeier, offenbar der passendste Moment gegeben, die gegenseitige Stellung Schillers zur Arbeiterklasse, seine Dichtung vom Standpunkt der sozialdemokratischen Gedankenwelt einer Revision zu unterziehen. Jedoch gerade diejenigen Kreise, die jederzeit bereit sind, an allen möglichen Revisionen der „wunden Punkte" der Marxschen Lehre tapfer mitzumachen, zeigen nicht die geringste Lust, die landläufigen kritiklosen Urteile über Schiller zu revidieren. Es ist allerdings viel bequemer, Schiller nach abgebrauchtem Schema als den großen, von der Bourgeoisie verleugneten Apostel der bürgerlichen Revolution für das Proletariat in Anspruch zu nehmen, was jedoch höchstens auf eine gleichmäßige Verständnislosigkeit für den historischen Gehalt der Märzrevolution wie der Schillerschen Dichtung deutet. Das Feiern Schillers als eines revolutionären Dichters par excellence verrät schon an sich einen Rückfall von der durch die Marxsche Lehre, durch den dialektischen Geschichtsmaterialismus vertieften und geadelten Auffassung vom „Revolutionären" in jene spießbürgerliche Auffassung, die in jeder Auflehnung gegen die bestehende gesetzliche Ordnung, also in der äußeren Erscheinung der Auflehnung, eine „Revolution" sieht, ungeachtet ihrer inneren Tendenz, ihres sozialen Gehaltes. Nur von diesem letzten Standpunkt gelangt man dazu, in Karl Moor den Vorläufer Robert Blums, in der Luise Millerin „die Revolutionstragödie des Zusammenbruchs" und im Wilhelm Teil „das Revolutionsdrama der Erfüllung" — mögen die Götter immerhin wissen, was dieser begeisterte Galimathias bedeutet — zu sehen. 91

Durch dieselbe Auffassung wird man alsdann dazu geführt, einen künstlichen Widerspruch zwischen dem „revolutionären Idealismus" der Schillerschen Dramen und seinem Verhalten der großen Französischen Revolution gegenüber, zwischen seiner „Revolution des Handelns" und seiner Flucht in den „ästhetischen Erziehungsstaat" zu konstruieren und schließlich zur Erklärung dieses vermeintlichen Widerspruchs mitten im geistigen Leben Schillers einen Bruch, einen tiefen Riß zu entdecken, der auf die „höfische Akklimatisation" Schillers durch den kleinstaatlichen Despotismus zurückgeführt wird. Diese letztere Theorie ist ja auch eine Art „materialistische Geschichtsauffassung", aber eine ebenso verflachte und vergröberte Ausgabe derselben, wie die mit ihr korrespondierende Auffassung von der „Revolution". Danach werden nicht die ganze Weltanschauung und das Lebenswerk Schillers in seinen tiefen inneren Grundzügen aus der geschichtlichen und sozialen Misere des damaligen Deutschland erklärt, einer Misere, wovon der „höfische Duodez-Despotismus" nur das äußere, wenn auch den ganzen Leib der Nation bedeckende Geschwür war, sondern der angebliche revolutionäre „Umfall" Schillers auf der Höhe seines Schaffens und Lebens wird durch den persönlichen unmittelbaren Druck des Stuttgarter und Weimarer Hofes erklärt. Gegen diese „materialistische" Mißhandlung durch eine überschwengliche Begeisterung findet der Schöpfer WOttensteins eine Ehrenrettung bei dem kühlen „orthodoxen" Materialisten Mehring, der bereits in dem Erstling Schillers, in den Räubern, jenen tiefen Zwiespalt, jenen Dualismus der Weltanschauung aufzeigt, der durch das ganze Leben und Schaffen Schillers geht und im „ästhetischen Staat" einen ganz konsequenten Abschluß findet, — die Flucht aus dem sozialen Elend in das abgeklärte Reich der Kunst am Ende einer geistigen Laufbahn, die mit der Flucht in den Wald eines kraftgenialischen Räubertums begonnen hatte. Der „revolutionäre Idealismus" ist eben, losgelöst von der Grundlage der m a t e r i a l i s t i s c h e n Weltanschauung, auf der er zum Beispiel heute in klassischer Weise in dem modernen Proletariat beruht, ein gar zwiespältig Ding, und um Schiller als Philosoph zu verstehen, muß man eben vor allem — Karl Marx verstehen. Begreift man die Schillersche Dichtung von dieser Seite, so hat man auch nicht nötig, durch eine gewaltsame Konstruktion das einigende Grundelement seiner Dramen in den verschiedenen Erscheinungsformen der geschichtlichen Revolution zu suchen. 92

Schiller war vor allem ein echter Dramatiker größten Stils, als solcher aber brauchte und suchte er gewaltige Konflikte, gigantische Kräfte, Massenwirkungen, und er fand seine Stoffe in den Kämpfen der Geschichte, nicht weil und insofern sie revolutionär waren, sondern weil sie den tragischen Konflikt in seiner höchsten Potenz und Wirkung verkörpern. Mehring hat dieses ganze Problem in zwei Sätzen gelöst, indem er sagt: „Als D i c h t e r brauchte er den historischen Stoff", und „als D r a m a t i k e r war Schiller auch ein großer Historiker". Die große Französische Revolution, die ihn gerade als Revolution abstieß, würde sicher, wenn er sie aus der Perspektive eines oder zweier Jahrhunderte hätte sehen können, als gewaltiges Schauspiel, als eine Riesenschlacht des historischen Geistes seine dramatische Ader gepackt haben, und er hätte ihr dann wahrscheinlich als Dramatiker, durch den einfachen Künstlerinstinkt geleitet, ebensoviel Gerechtigkeit widerfahren lassen wie der historischen Rolle des Friedländers oder dem Unabhängigkeitskampf der schweizerischen Bauerndemokratie, obwohl er mit der bürgerlichen Revolution geistig genausowenig zu tun hatte wie Wallenstein oder Wilhelm Teil. Um Schiller und sein Werk aus seiner psychischen Eigenart, aus der besonderen Mischung des philosophischen und des dichterischen Elements, seine Philosophie aber in ihren Wechselbeziehungen mit seinem politisch-geistigen Milieu zu erfassen, dazu findet der Leser in Mehrings Studie Fingerzeige und Anregungen auf Schritt und Tritt. Die Mehringsche Arbeit wird deshalb gerade den wichtigsten Dienst dem Lesepublikum erweisen, auf den es jetzt in der Parteiliteratur vor allem ankommt: sie wird auf Schritt und Tritt zum Nachdenken und zum weiteren Lernen lebhaft anregen. Und dadurch bringt Mehring, indem er den Leser vor kritiklosem Nachbeten und vor jeglichem Kultus Schiller gegenüber bewahrt, zugleich die wirkliche erhabene Schönheit seines großen Lebenswerks der deutschen Arbeiterschaft nur um so plastischer vor die Augen.

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Max Adler Ein Schillerbuch für Arbeiter Das Schönste, was wir tun können, um einen unserer Geisteshelden wahrhaft zu ehren, ist nicht der Prunk bloß feiernder Reden oder an Verherrlichung sich überbietender Feste, sondern die Arbeit an der Verbreitung des Verständnisses der Person und der Werke dessen, den ein sonst nur allzu leeres Lob mehr umnebeln als verklären möchte. Und so ungemein die Popularität Schillers ist, so sehr es den Anschein hat, als ob hier einmal wenigstens der seltene Fall zur glücklichen Wirklichkeit geworden, da ein großer Geist ungebrochen aus den Millionen Köpfen und Herzen seines Volkes widerstrahlt, so ist dennoch kaum irgendwo diese Arbeit nötiger als hier. Dem so regen Andenken sein echtes Objekt zu geben, den Dichter und Denker Schiller, wie er in Wahrheit auf der Menschheit Höhen steht, zu befreien von der kleberigen Legende, die ihn durch eine jämmerliche, in Schule und Haus gepflegte Tradition gern haften lassen möchte in der atembeklemmenden Enge kleinbürgerlicher „Ideale" — das wäre recht eigentlich die Aufgabe dieser Säkularfeier, in deren Erfüllung sie den Trug und den Irrtum eines Jahrhunderts hinwegnehmen könnte. Zu solchem Werke einer rechten Schillerfeier hat Franz Mehring einen schönen Beitrag geliefert in seinem kürzlich erschienenen Schillerbuche 1 , da er es ausgehen läßt von dem Leitgedanken, daß die erste Bedingung für ein geschichtliches Verständnis Schillers sei: „Freiheit von allen bürgerlichen Vorurteilen". Das Proletariat teilt nicht die müßige Feiersucht der Bourgeoisie, die freilich große Erinnerungen braucht, ohne doch von ihnen aus anders als nur in die Vergangenheit blicken zu können. Denn die Wege, die diese mit der Zukunft verbinden, kann die Bourgeoisie selbst nicht mehr gehen; sie führen in ein Reich, das nicht mehr das ihrige sein kann. In der stolzen Erkenntnis aber, daß es unser Reich, das Reich des siegenden Proletariats ist, wohin alle Kulturentwickelung drängt, deren Keime in den Werken der großen 1 Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter von Franz Mehring. Leipzig 1905 (Verlag der Leipziger Buchdruckerei-Aktiengesellschaft.) Preis 1 M.

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Toten der Bourgeoisie ausgestreut sind, sind sie für das Proletariat Lebendige geblieben, lebend erhalten nicht nur in seinem Herzen, sondern in seiner Tatkraft, daß endlich ihrem Sehnen Erfüllung verspricht. Und darum sind der Schillertag wie alle großen Gedenktage der letzten Zeit für das Proletariat nicht Anlässe bloß, jene Geister zu feiern, sondern vor allem und in erster Linie, sie zu v e r s t e h e n . Von diesem Standpunkte aus, der ausgesprochenermaßen derjenige des Mehringschen Buches ist, trägt dasselbe mit vollem Rechte den Untertitel: Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. Denn es entwickelt in knappen Zügen, in denen sich die meisterhafte Art Mehringscher Darstellungskraft neuerdings bewährt, auf dem Hintergrunde der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zeitverhältnisse die ganze, nur zu rasch sich zum Abschluß drängende Mannigfaltigkeit der Schicksale dieses Dichterlebens; und es bringt den Volksdichter mit seinem Volke in engsten Zusammenhang, indem es die Fülle von unermüdlicher Arbeit, von Kampf und Leiden dieses Lebens in beredtem Ausdrucke sprechen läßt zu der unermüdlichen Arbeit, zum Kampf und Leiden des lebendigsten Teiles dieses Volkes, der Arbeiter. Wenn der Proletarier aus diesem schönen, so klar und einfach geschriebenen Buche zum erstenmal deutlich erkennen wird, was ihm in gleicher Deutlichkeit die Schule vorenthalten hat, welches mühevolle Leben seinem Schiller bereitet war, wenn ihn die Klage dieses großen Mannes ergreifen wird, der einmal die bitteren Worte schrieb: „Von der Wiege meines Geistes an bis jetzt, da ich dieses schreibe, habe ich mit dem Schicksal gekämpft, und seitdem ich die Freiheit des Geistes zu schätzen weiß, war ich dazu verurteilt, sie zu entbehren", — und er jetzt doppelt staunend inne wird, wie trotz all dieses Elends von diesem Leben ein Strom von Schönheit, Begeisterung und Ideenfülle in unser Dasein eingeflossen ist, der ihn oft ganz mächtig mit fortgerissen hat, — wird er dann nicht ganz anders sich mit diesem Dichter verwachsen fühlen ? Wird er ihn nicht noch mehr lieben, da ihn dieses Leben voll Leid und doch sieghafter Geisteskraft wie ein Gleichnis seines eigenen historischen Geschickes berühren muß? Und wird er nun aus diesem Zwiespalt des Dichtergeschickes heraus nicht auch ihn selbst besser verstehen, die einzelnen dunkleren Züge in seinem Lebensbilde richtiger zu deuten wissen? Daß Mehring auch nach dieser Richtung hin ein treues Lebensbild gab, das macht einen besonderen Wert seiner Darstellung aus. J e 95

deutlicher wir sehen, wie wenig die Schwächen, Kleinlichkeiten ja selbst Schattenseiten dieses Charakters die Helligkeit zu tilgen vermögen, die von der ganzen Persönlichkeit ausstrahlt, umso mehr wächst die Gestalt Schillers, ohne doch das Maß des Menschlichen zu überragen. Es ist der Charakter eines großen Menschen, den Mehring uns in seinem Werden und Wirken entwickelt, stets bemüht, seinen lauteren Grundton erklingen zu lassen: „die Hoheit der Gesinnung, die sich siegreich erhebt über alle Sklaverei". Im einzelnen wird man da und dort vielleicht andere Werturteile über Schillers Werke fällen, als sie hier auftreten. Hat doch jeder seinen Schiller. So wird man vielleicht mit Mehring in der geringen Anerkennung der Balladen nicht einig sein, wenn man an ihnen gerade die dramatische Entwickelung und Charakterisierung der Personen bewundert. Oder man wird sich gegen die Hintansetzung des Teil hinter Wallenstein wehren, wofür Mehring als Grund angibt, daß Teil nicht gleich Wallenstein eine tragische Person sei, wogegen vielleicht die Einwendung steht, daß Teil gar nicht die Hauptperson des nach ihm benannten Dramas sei, in deren Mittelpunkt das Schweizer Volk steht, weshalb denn auch Schiller dies Drama ein Schauspiel nannte, ein Schauspiel aus dem Leben des Volkes an einem seiner kritischen Wendepunkte. Von einem anderen Punkte sei hier nur der Vollständigkeit halber die Rede, da ein anderer Zusammenhang Anlaß geben dürfte, mehr darüber zu sprechen. Es ist der vielberufene Punkt, an dem das bürgerliche Mißverständnis die ärgste Sünde gegen den heiligen Geist ihrer Großen begangen hat: Schillers Flucht vor der rauhen Realität des Lebens, d. h. der Französischen Revolution, in das Ideal. Die Enge und Dumpfheit der Verhältnisse, in denen er lebte und die Mehring vielfach sehr anschaulich uns vor Augen rückt, erklärt hier doch nicht alles. Dem nachzugehen hätte den Rahmen dieser Darstellung gesprengt und wird für die Zwecke desselben umso weniger vermißt werden, als Mehring überall Anlaß genommen hat, mit Schillers Geist und Worten bei dem Bürgertum sehr genehmen Auffassung energisch den Garaus zu machen, die aus Schiller einen „sentimentalen Schmachtlappen" formen möchte. Diese Erinnerungen gegen einzelne Stellen treffen, wie man sieht, zumeistens subjektive Ansichten; sehr erfreut und einverstanden wird man gewiß mit denvsein, was Mehring mehrfach von dem historischen Sinn des Dramatikers Schiller sagt. Wenn er aus96

führt, daß Schiller es verstehe, „in einen historischen Stoff zu legen, was die Herzen der Zeitgenossen unmittelbar ergreifen mußte", und so „dem noch gestaltlos ringenden Leben der Zeit im historischen Stoff einen weit tönenden Resonanzboden zu geben, seine historischen Helden in all' ihrer historischen Eigentümlichkeit aus den Herzen der Zeitgenossen emporwachsen zu lassen", so hat er damit nicht nur den lebensvollen Inhalt der Schillerschen Historiendramen aufgezeigt, sondern auch vortrefflich ausgesprochen, wie das Gebot der historischen Treue für den Dichter richtig zu verstehen sei. In einem Schlußsatze, mit dem auch diese Besprechung schließen möge, charakterisiert Mehring in der Stellung der Arbeiterschaft zu Schiller selbst sein Buch am besten, wenn er sagt: „Die Arbeiterklasse macht aus Schiller kein Götzenbild, um eigensüchtigen Interessen zu frönen; sie kann ihn nicht mehr als einen unfehlbaren Lehrer und Wegweiser betrachten; sie wandelt andere Wege, als er gewandelt ist. Aber was ihr von seinem Erbe gebührt, das hält sie in unantastbaren Ehren." Als einen vorzüglichen, warmberedten und liebevollen Führer hierzu wird man dies Buch freudig begrüßen dürfen.

Schillers Nachruhm Wer Schiller liebt, wird dem korybantischen Lärmen und Festjubel, der Schillers hundertjährigen Todestag umtost, mit recht gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Das rein Äußerliche, nur auf dekorative Wirkung Berechnete dieses verzückten Verehrungstaumels tritt in allen Manifestationen desselben mit verletzender Aufdringlichkeit hervor. Wenn irgendwo, so gilt für einen großen Teil des gegenwärtigen Schillerkults, daß das Mittel zum Selbstzweck geworden ist. Nicht der Gefeierte ist die Hauptsache mehr, sondern die Feier. Nicht einen wirklichen geistigen Besitz des Volkes zu vertiefen gilt es, sondern die Illusion hervorzurufen, als gäbe es, über alles Trennende der Klassenscheidung hinweg, ein einigendes Band der deutschen Nation in den Dichtern des deutschen Volkes! Von diesem geistigen „Besitz" des 9

Jonas, Schiller-Debatte

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Volkes wird in diesen Tagen viel gesprochen und geschrieben — und am meisten gerade von jenen, deren Tun darauf gerichtet ist, zu verhindern, daß die deutschen Dichter wirklich B e s i t z des deutschen Volkes werden. Dieselben Leute, die Schiller als „den Dichter des deutschen Volkes" preisen, Übergossen vor acht Tagen die Maidemonstration der Arbeiter, die dem Achtstundentag galt, mit ätzendem Hohne. Sie wollen nicht begreifen, daß man keinen Dichter haben kann, wenn man, nachdem einem in der Volksschule der Kopf mit Religion und Patriotismus vollgepfropft wurde, hinausgestoßen wird in ein Leben atemloser Arbeit und zur Arbeitsmaschine gemacht wird, deren kärgliche Arbeitspausen ausgefüllt werden von Schlaf und der Sorge um den kommenden Morgen. Nein, das deutsche Volk h a t keine Dichter! Es k ö n n t e sie haben, wenn die kapitalistische Organisation der Arbeit den Menschen nicht zum Lasttier erniedrigte und die Organe seiner höchsten, das heißt seiner geistigen Freuden verstümmelte. Schiller, so lautet eine marktgängige literarische Phrase, hat uns das deutsche Drama gegeben, er hat das deutsche Theater belebt, das sich ohne seine Werke heute nicht mehr denken ließe. Aber wem gehört das deutsche Theater? Etwa „uns"? Und wenn Schillers Dramen zeitweilig stark von der Bühne verdrängt wurden, um plattem Alltagstand Platz zu machen — war es der Geschmack des deutschen „Volkes", der sie von da verdrängte? Wenn es irgendeine Bewegung gibt, die dahin drängt, Schiller wahrhaft volkstümlich zu machen, so ist es jene, die die kapitalistische Ausbeutung bekämpft — die Sozialdemokratie. Ihrer Arbeit wird es zu danken sein, wenn das heilige Band der Sehnsucht, das den großen Toten mit Millionen des Volkes verbindet, dereinst zum festen Band wirklichen Besitzes wird — wenn der Nachruhm Schillers den Jahrhunderten nicht nur trotzen, sondern in ihnen sich festigen und ausbreiten wird! In der Siedehitze des bürgerlichen Schillertaumels wirkt wie ein erfrischender Regen das Erscheinen eines Buches, das, aus dem das kämpfende Proletariat erfüllenden Geiste geboren, sich wohltuend abhebt von dem weichlichen ästhetisierenden Vielerlei der bürgerlichen Schillerliteratur: Franz Mehrings Schillerbuch. „Ein Bild seines Lebens nur", sagt Mehring in der Vorrede dieses Buches, „keine ausführliche Biographie, wie es deren nachgerade unzählige gibt, will ich geben. Ein Bild seines Lebens, wie es sich hundert Jahre nach seinem Tode darstellt, von der sicheren 98

Warte einer Klasse, die sich ,in der kriechenden Lohnkunst', in den .Fesseln der Leibeigenschaft', von denen Schiller spricht, die Hoheit der Gesinnung gerettet hat. Sie steuert heute auf hoher See der neuen Welt entgegen, deren Ufer sich von J a h r zu Jahr deutlicher am weltgeschichtlichen Horizont abzeichnen, während der Jüngling Schiller nach seinem eigenen Worte wie Kolumbus ,die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meer einging', um sich als reifer Mann mit einer täuschenden Spiegelung zu bescheiden. In dieser Täuschung sich wieder und wieder zu spiegeln, ist das Los derer, die vom bürgerlichen Standpunkt aus Schiller zu erfassen suchen. Sie dürfen sich nicht gestehen, daß von Schillers ästhetisch-philosophischem Idealismus längst gilt, was er selbst von den Idealen seiner Jugend sang: Erloschen sind die heitern Sonnen, Die meiner Jugend Pfad erhellt; Die Ideale sind zerronnen, Die einst mein trunk'nes Herz geschwellt. Sie dürfen sich nicht gestehen, daß Schiller gerade aus seiner eigensten Gesinnung heraus, wenn er den entfesselten Schacher der kapitalistischen Welt erblicken könnte, abermals seine wehmütige Klage anstimmen würde: Wie groß war diese Welt gestaltet, So lang die Knospe sie noch barg. Wie wenig, ach! hat sich entfaltet, Dies Wenige, wie klein und karg! So ist die erste Bedingung, um ein geschichtliches Verständnis Schillers zu erwerben, F r e i h e i t v o n a l l e n b ü r g e r l i c h e n V o r u r t e i l e n . Die Welt, worin er lebte, ist längst versunken, und wer sich vorspiegeln muß, als sei sie noch lebendig, der muß von Irrtum zu Irrtum taumeln. Anders, wer im Lichte der historischen Weltanschauung auf Schillers Leben und Lebenswerk zurückblickt." „Freiheit von allen bürgerlichen Vorurteilen" — darin liegt die Erklärung der mächtigen Wirkung, die von Mehrings Buch ausgeht. Welchen Schutt von Vorurteilen hat gerade um Schillers Gestalt die bürgerliche Tradition zu häufen verstanden! So hoch türmte sie ihn auf, daß aller Scharfsinn bürgerlicher Historiker ihn nicht zu durchdringen vermochte und die kleberige Legende das Bild des Dichters bis zur Unkenntlichkeit verzerrte! Geleitet 9*

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von dem sicheren K o m p a ß der materialistischen Geschichtsauffassung, frei von allen den Dichter zu irgendwelchem Zwecke vergewaltigenden Nebenabsichten, sieht Mehring seine Aufgabe nicht darin, Schiller zu „feiern", sondern darin, ihn zu verstehen und andere ihn verstehen zu machen. Die bewundernswürdige Gabe Mehrings, aus dem Hintergrunde der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse einer Zeit in plastischer Lebendigkeit die großen Persönlichkeiten derselben hervortreten zu lassen, diese geniale Gabe der Intuition, die in seinen Einleitungen zu dem Marxschen Nachlasse zu so prächtigem Ausdrucke gelangte, zeigt sich auch in diesem neuen Werke, mit dem Mehring die deutsche Arbeiterklasse beschenkt hat. Von Anfang bis zu Ende weiß Mehring mit scharfen und prägnanten Strichen das Milieu zu zeichnen, in dem Schillers Tätigkeit sich abspielt. In die Abgründe des Fürstensumpfes des 18. Jahrhunderts leuchtet er schonungslos hinein, soweit die Kenntnis dieser in den tönenden Festreden der offiziellen Schillerfeiern nur leise gestreiften oder ganz verschwiegenen Tatsachen für das Verständnis von Schillers Entwicklung notwendig ist. Aber er verschmäht es auch nicht, den Schleier von den kleinen, spießbürgerlichen Menschlichkeiten Schillers zu ziehen, ohne daß dadurch die Größe Schillers beeinträchtigt würde. Im Gegenteil. Gerade dadurch, daß man sieht, wie auch diese Schwächen und Kleinlichkeiten des Charakters die Helligkeit nicht zu tilgen mögen, die von der ganzen Persönlichkeit ausstrahlt, gerade dadurch gewinnt Schiller an menschlicher Größe. Unübertrefflich ist die verständnisvolle und anschauliche Einführung des Lesers in die geistige Werkstatt des Dichters. In drei Abschnitten: Jugendjahre, Kampfesjahre, Meisterjahre, rollt Mehring das Schaffen des Dichters in lebendiger und eindringlicher Darstellung auf, wie sie nur ihm eigen ist. E r zeigt, wie aus den Zuständen des schwäbischen Duodezstädtchens von damals der bürgerliche Dichterrebell hervorwuchs, der in den Räubern der staatlichen Ordnung überhaupt den Krieg erklärte, im Fiesco die Laster der Monarchie auf die Schaubühne riß, in Kabale und Liebe den furchtbaren Widerspruch zwischen dem bestehenden Ständestaat und den elementarsten Forderungen menschlicher Sittlichkeit aufwies. Aber er kommt auch, ebenso wie K a u t s k y in einem vortrefflichen Artikel in der kürzlich erschienenen Schillernummer der Neuen Zeit, zu dem Schlüsse, daß dieses Rebellentum Schillers keineswegs, wie die bürgerlich-demokratische Legende be100

hauptet, gleichbedeutend sei damit, daß Schiller ein Fahnenträger der bürgerlichen Revolution gewesen ist. Der scheinbare Widerspruch, der zwischen den Rebellendramen Schillers und seinem später bekundeten Abscheu vor der Französischen Revolution und dann wieder seinem hohen Lied der Selbstbefreiung eines Volkes, dem Teil, besteht, löst sich sehr einfach, wenn man erkennt, daß die Französische Revolution für Schiller nicht die Verwirklichung, sondern den Zusammenbruch seines revolutionären Ideals bedeuten mußte; denn Schiller ebensowenig wie die anderen bürgerlichen Idealisten vor der Revolution haben etwas geahnt von den Klassengegensätzen und den Klassenkämpfen, die die neue bürgerliche Welt in ihrem Schöße barg. Mit Entsetzen wandten sie sich von der Revolution als dem Grabe ihrer Träume ab, als sie die wildesten Kriege nach innen und außen entzündete. Aber daß der Drang nach Freiheit, der Haß gegen die Tyrannei demungeachtet in Schiller lebendig blieb, dafür zeugt eben sein Schwanengesang, der Teil. Mehring hat vollauf recht, wenn er sein Buch mit folgenden Sätzen schließt: „Es ist unsinnig, zu behaupten, daß Schillers Geist die Märzkämpfer des Jahres 1848 beseelt habe; die einfachste Wahrheit verbietet, ihn als Schwurzeugen für eine bürgerliche Revolution anzurufen. Er hat diese Revolution gesehen, aber nicht verstanden. Sie ist ihm ein Greuel geworden, sobald sie mit ehernen Sandalen einherzuschreiten begann. Es waren die Hallen der Paulskirche, wo im Jahre 1848 wenn nicht der Geist, so doch der Schatten Schillers umging, und diesen Schatten hat die bürgerliche Klasse in Deutschland dann noch einmal beschworen, zehn Jahre später, als sie sich von der Niederlage ihrer Revolution erholt hatte und einen neuen Gang mit der absolutistisch-feudalen Reaktion versuchte. Das große Schillerfest am 10. November 1859, z u m hundertsten Geburtstage des Dichters, sah den bürgerlichen Schillerkultus in seinem hellsten Glänze, aber es sah ihn auch zum letztenmal; seitdem die Revolution von oben und von unten zugleich über das deutsche Bürgertum hereinbrach, ließ es den Mohren gehen, der seine Arbeit getan hatte. Aber deshalb sind die Lorbeeren auf Schillers Grabe nicht verwelkt. Nicht nur die Bourgeoisie hat einen Anspruch an ihn, sondern ebenso das P r o l e t a r i a t . D i e A r b e i t e r k l a s s e w a r n o c h ein T e i l d e r b ü r g e r l i c h e n K l a s s e , a l s S c h i l l e r a r b e i t e t e u n d k ä m p f t e . Sie macht sich aus ihm kein Götzenbild, um eigensüchtigen Interessen zu frönen; sie kann ihn nicht mehr 101

als einen unfehlbaren Lehrer und Wegweiser betrachten; sie wandelt andere Wege, als er gewandelt ist. Aber was ihr von seinem Erbe gebührt, das hält sie in unantastbaren Ehren. Immer wird sein Ruf gegen die Tyrannen durch ihre Reihen schallen; immer wird der Dichter der Räuber und der Luise Millerin, des Wallenstein und des Teil ihrem Herzen teuer sein; immer wird sie in bewundernder Dankbarkeit auf dies Leben der Arbeit, des Kampfes und des Leidens blicken, das ein stolzer Wille aufrecht erhielt, bis der letzte Funke von körperlicher Kraft erloschen war. Durch das babylonische Sprachgewirr, das in den herrschenden Klassen zum hundertsten Todestage Schillers lärmt, hört die Arbeiterklasse klar und rein den Grundton seines dichterischen Schaffens im Gelingen und auch im Verfehlen: die H o h e i t der G e s i n n u n g , die sich s i e g r e i c h e r h e b t ü b e r a l l e S k l a verei." In Franz Mehrings Buch hat die deutsche Arbeiterklasse einen Lorbeerzweig auf Schillers Grab gelegt, der grün und frisch bleiben wird, wenn die dem Dichter gereichten Lorbeeren der bürgerlichen Welt längst zerfallen sein werden. In höherem Maße, als es der Dichter, der den Ruhm als das höchste der irdischen Güter gepriesen hatte, für sich selbst erhoffte, wird sich an ihm sein prophetisches Wort erfüllen: Denn das irdische Leben flieht Und die Toten dauern immer. Im Denken und Tun unseres bürgerlichen Geschlechtes zwar kann Schiller nimmer auferstehen. Man braucht die preisenden Worte der bürgerlichen Festreden nicht für erlogen, das Entzücken dieser rauschartig sich steigernden Begeisterung nicht für erheuchelt zu halten. Es ist dabei wirklich nicht alles Geschäft und Mache und Eitelkeit und Kram, wie viele Geschäftemacher und Eitelkeitskrämer in dem Festestreiben sich auch tummeln mögen. Es ist vielmehr die Stimmung von Leuten, die eine längst erloschene Liebe in unfruchtbarer Reue wiederzuerwecken suchen, um nur zu bald, wenn der Rausch verflogen ist, an sich zu erfahren, daß auch die Empfindungen, wenn sie gestorben und in den Gräbern der Seele bestattet sind, durch keine Sehnsucht des Augenblicks wieder ins Dasein zurückgebannt werden können. Das rauschende Fest, das das Bürgertum „seinem" Dichter veranstaltet, wird vergehen, wie Feste eben zu vergehen pflegen. Wenn das Feuerwerk verzischt ist, bleiben nur zurück die leeren 102

Hülsen und die angekohlten Stangen. Aber in derjenigen Klasse des deutschen Volkes, der die Zukunft gehört, im Proletariat, lodert das Feuer der Begeisterung, das jetzt zu Schillers Gedenken angefacht worden ist, weiter als ewiger Opferbrand. Glut wird wieder erweckt als Glut, Feuer flammt wieder auf als Feuer. Leuchtet es nun auf anderen Altären, als die Zeit des Dichters sie kannte, so ist es doch dieselbe helle, zum Himmel wehende Lohe. In der Arbeiterklasse wird der Nachruhm Schillers fortleben !

H. D. Das Schillerbuch des deutschen Proletariats1 Franz Mehring, der Verfasser der sozialdemokratischen Parteigeschichte und — was in diesem Zusammenhang noch bedeutungsvoller ist — der Lessinglegende, hat eine Schillerbiographie geschrieben, die vor kurzem im Verlag der Leipziger Volkszeitung erschienen ist. Das Buch ist für diejenigen Kreise bestimmt, auf die Mehring auch in seinen früheren Schriften und Aufsätzen die tiefste Wirkung ausübte: Er selbst nennt es ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. Der Name Mehrings garantiert von vornherein dafür, daß der Verfasser nicht in den gewöhnlichen Fehler bürgerlicher Schriftsteller verfallen konnte, die über Kunst oder Philosophie zum Proletariat reden wollen: Mehring gibt sich weder kindlich, noch schlägt er einen weitschweifig pastoralen Ton an, um von denen, die da geistig arm sein sollen, verstanden zu werden. Im Gegenteil. Auf wenig über hundert Seiten ist in lapidaren Strichen ein Bild Schillers entworfen, dessen Verständnis und Würdigung auch an „Gebildete" immerhin einige Anforderungen stellt: Eine ebenso flüchtige wie alberne Notiz in der Frankfurter Zeitung, bei der man billig zweifeln kann, ob der l Das Totschweigesystem der bürgerlichen Presse gegenüber Mehrings Schillerbuch rechtfertigt es wohl, wenn wir dieser feinsinnigen Besprechung des von uns bereits gewürdigten Buches hier Raum geben.

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Skribent überhaupt das Werk Mehrings, geschweige denn ein Kapitel von Marx gelesen hat, im übrigen von seiten der bürgerlichen Kritiker die gewohnte Nichtbeachtung eines Buchs, dessen Verfasser nicht unbedingt zu den „Gutgesinnten" gezählt werden darf — diese Momente sprechen an ihrem Teil zur Genüge dafür. Und doch scheint uns die Schrift Mehrings zu den hervorragendsten Veröffentlichungen, die im Schillerjahr das Licht der Welt erblickt haben, zu gehören. Wie eine einzige, vollendet reife Frucht zwischen einer Unzahl mehr oder weniger falber Blätter hebt sie sich von der Uberfülle neuer Broschüren und Aufsätze über Schiller ab. Bedeutend erscheint sie uns nicht bloß, weil der Verfasser eine wirklich vollständige Kenntnis aller Schillerschen Schriften, auch der historischen und ästhetischen, und ein tiefes Verständnis für die poetische wie für die philosophische Seite des Dichters verrät, weil er ferner die zeitgenössischen Dokumente der Schillerschen Lebensgeschichte, so gut wie die Werke unserer klassischen Literatur, für seinen Zweck gründlich durchforscht hat, weil sein Buch endlich den damaligen Zeitgeist, das historische Milieu Schillers im engen Rahmen einer Biographie wie in einem Hohlspiegel widerstrahlt; ein anderes ist wohl noch rühmenswerter: die vollendete künstlerische Wirkung, die durch die eben erwähnten Mittel erzielt worden ist. Mit all diesen Farben, die er sich aus so verschiedenen Gebieten geholt hatte, weiß Mehring die Gestalt des Dichters in einem wirklich neuen, wunderbar belebenden Licht darzustellen. Es ist Mehrings Verdienst, den alten Wein in neue, edlere Gefäße gegossen und zur Beurteilung des Menschen wie des Dichters eigene, noch nirgends aufgestellte Gesichtspunkte gewonnen zu haben. Vor allem besitzt Mehring die Kunst — und was hierzu noch notwendiger ist: die Ehrlichkeit und den historischen Sinn —, nicht bloß Licht, sondern auch Schatten zu verteilen. Licht und Schatten, nicht nach willkürlich ästhetischen oder irgendwelchen tendenziösen Prinzipien — das hat die Mehringsche Weltanschauung, die den Menschen aus seinen natürlichen Bedingungen und aus seinem Milieu heraus begreift, nicht nötig —, sondern nach dem Maßstab, den ihm das vorurteilsfreie Studium der Persönlichkeit Schillers an die Hand gegeben hat. Wie sehr in seinem Buch die u n g e s c h m i n k t e h i s t o r i s c h e W a h r h e i t , selbst wenn es auf Kosten einer harmonischen Schlußwirkung geht, zu Wort kommt, kennzeichnet schon dieser eine Zug: Mehring besitzt endlich den 104

Mut, auszusprechen, daß sich das Verhältnis Goethes zu Schiller seit dessen Übersiedlung nach Weimar eher wieder etwas kühler gestaltet hat, während es sonst ja ein Lieblingsgedanke des deutschen Schulmeisters ist, die beiden Dichter durchaus vereint Arm in Arm die Höhen des Olymp hinansteigen zu sehen. Wenn es als das Recht der Karikatur gilt, vor allem die häßlichen und komischen Züge eines Gesichts hervorzuheben, betrachtet es die bürgerliche Historie und Literaturgeschichte gewöhnlich als ihre Aufgabe, ihre Heroen, gleichgültig, ob von Stammbaums oder von Geistes Gnaden, zu saft- und kraftlosen Idealgestalten, zu schemenhaften Tugendspiegeln oder zu schönen Männertypen, die mit verklärtem Antlitz und sauber gewichsten Stiefeln durch den Staub des Alltags schreiten, umzustempeln. Die offizielle Behandlungsweise, die man täglich unsern sogenannten „drei größten Deutschen", nämlich Luther, Goethe und Bismarck angedeihen läßt, dürfte dies zur Genüge bestätigen. Freilich, daß diese Charaktere an Lebensfähigkeit und tatsächlicher Wirkung auf die Gemüter verlieren, was ihnen am andern Ende an Bürgertugend vindiziert wird, kümmert ihre Darsteller weiter nicht. Einen derartig schönrednerischen Standpunkt braucht Mehring Gott sei Dank seinem Helden gegenüber nicht einzunehmen. Mehring hat in Schiller, wie seinerzeit in Lessing, den Vorkämpfer des damals noch revolutionären Bürgertums erkannt, und als solchen feiert er ihn in seinem Buch, ohne sich aber durch diese verabscheuungswürdige „Tendenz" zu einer Überschreitung des biographischen Rahmens verleiten zu lassen. Gerade in letzterer Beziehung scheint uns das Schillerbild einen Fortschritt über Mehrings Erstlingswerk, die Lessinglegende, hinaus zu bedeuten. Das dem Marxismus entspringende Prinzip, in der Geschichte der Persönlichkeit zugleich ein Stück Zeitgeschichte zu geben, die eine in ihrem inneren Zusammenhang mit der anderen aufzuzeigen, ist hier wie dort betätigt worden. Nur daß Mehring diesmal eine größere Konzentrationsfähigkeit bewiesen, aus dem überreichlich zuströmenden Stoff eine strengere Auslese gehalten hat. Während man sich bei der Lessinglegende doch in manchen Teilen fragen konnte, ob das Buch eigentlich Lessing oder den alten Fritz zum Mittelpunkt habe, bildet hier alles Zeitgeschichtliche nur den fein abgetönten Hintergrund, von dem sich das scharf geschnittene Profil des Dichters abhebt. Dieses gesteigerte Bestreben, Maß zu halten, ist dem 105

Historiker, der Mehring nun doch einmal von Rechts wegen ist, doppelt hoch anzurechnen und ist dem Buch, gerade als einem Lebensbild für deutsche Arbeiter, ganz besonders zustatten gekommen. Überall, wo Mehring auf die öffentlichen Zustände, auf die politische Misere, unter der Schiller litt, zu sprechen kommt, verbreitet er statt des romantischen Halbdunkels, das in den offiziellen Biographien an dieser Stelle zu herrschen pflegt, ein helles, scharfes, kritisches Licht. Der schmähliche Despotismus Herzog Karls wird ja wohl auch sonst nicht gerade als ein augustisch Alter gepriesen. Hierin dürfte sich Mehring mit Wichgram und anderen berühren. Aber die weniger günstige Auffassung, die er auch von Karl August bekommen hat, verdankt er durchaus seinen eigenen Studien: die Gloriole, die dem weimarischen Mäzen, dem Mittelpunkt der Fürstengruft, allmählich ums Haupt gelegt worden ist, verblaßt unter Mehrings kritischen Streiflichtern, wenn sie auch nur im Vorübergehen auf ihn fallen, doch merklich. Außer dem Kämpfer feiert Mehring an Schiller die rein moralische Seite seines Wesens, „die Hoheit der Gesinnung, die sich siegreich erhebt über alle Sklaverei". In ihren Preis klingt das Buch aus, und ihre Spur hat Mehring durch den ganzen Entwicklungsgang seines Lebens verfolgt. Er findet sie leicht in der jugendlich glühenden, revolutionären Periode des Dichters und verkennt sie nicht in der späteren, kühleren, da Schiller den Glauben an die Revolution verloren hatte und seine freiheitlichen Ideale auf der stillen, weltabgelegenen Insel der Philosophie barg, um dort einem mehr der Weltanschauung Goethes enspreclienden Kultus der Schönheit zu leben. Vor dieser teilweisen Wandlung, vor seiner Abkehr von der lichterlohen Tendenzdramatik der Luise Millerin zur verschwimmenden Romantik der Jungfrau von Orleans, verschließt sich Mehring die Augen nicht im geringsten. Er modelt Schiller weder um, noch gibt er ihm gegenüber seinen eigenen Standpunkt preis. Darum ist auch kein Vorwurf lächerlicher als der, den sich gestern der Schwäbische Merkur zu eigen macht, die Sozialdemokratie — und als ihr Dolmetsch darf Mehring in diesem Punkt gelten — nehme Schiller als einen der ihrigen, oder auch nur als ihren Vorläufer, in Anspruch. Ein solcher Mangel an historischem Verständnis wird ihr denn doch nicht mit Recht zur Last gelegt. Sie hat es auch wirklich nicht nötig, ihre Weltanschauung durch Analogien mit den Gedanken eines Mannes, der ein halb Jahrhundert vor ihrem Entstehen dichtete, zu 106

stützen. Wo sich ihre Ansichten von Staat und Gesellschaft mit denen Schillers decken, wo sie auseinandergehen oder über ihn hinaus entwickelt wurden, ist erst kürzlich in unserem Blatte in einem längeren Aufsatz dargelegt worden.

III.

SCHILLER [FESTSCHRIFT]

Friedrich

Stampfer

Werden und Vergehen (1759-1805) Indes die Gegenwart sich bewundernd in das glänzende Schauspiel einer vergangenen Geschichtsperiode versenkt, vergißt sie nur allzu leicht, daß auch sie mit jedem Augenblicke vergeht, daß sie als Tochter der Vergangenheit auch die Mutter einer Zukunft ist, daß also der feste Boden, den sie für ihre Betrachtung gefunden zu haben glaubt, ewig unter ihren Füßen hinweggleitet. Vor allem aber sind es die herrschenden Klassen jeder Zeit, die am leichtesten geneigt sind, in solchen Grundirrtum zu verfallen. Ihnen scheint die Zeit mit Brettern verschlagen, scheint die Zukunft nur eine mäßig variierte Fortsetzung der Gegenwart zu sein, und darum können sie die Geschichte nicht anders begreifen, denn als würdige Vorbereitung ihrer gegenwärtigen satten Vollkommenheit, oder aber sie betrachten sie in rührseliger Stimmung als die „gute alte", die — ach! — nie wieder zurückkehrt und in der nicht geboren zu sein ein Unglück sei, das man nun eben mit Würde und Anstand ertragen müsse. Eine so gewaltige geistige Erscheinung wie Friedrich Schiller und das ihn umgebende Zeitalter der Klassizität läßt sich aber nicht in das Prokrustesbett von anderthalb Jahrhunderten zwängen. Sie wurzelt in tieferen Vergangenheiten und streckt ihre Gipfel nach höheren Zukunftsfernen. Vor dem 10. November 1759, an dem Schiller geboren wurde, waren tausend Kräfte lebendig, die ihn werden ließen, was er war; nach dem 9. Mai 1805 haben diese Kräfte, durch ihn verstärkt, vervielfältigt und 109

in Richtung gebracht, fortgewirkt, wirken sie noch weiter fort. Wer von der Zukunft nichts mehr zu fordern hat als die Erhaltung des Bestehenden, hat nichts gemein mit Schillers vorwärts drängendem Geiste, der den Unendlichkeiten und dem ewigen Wechsel zum Bessern lebte. Schillers Leben erscheint als Haushalt eines geistigen Königs, in seinen Einnahmen ebenso gewaltig wie in seinen Ausgaben großmütig verschwenderisch. Der ewig Schaffende ist zugleich ein ewig Lernender, und es ist nicht minder reizvoll, zu betrachten, wie er stets dankbar von Vergangenheit und Gegenwart empfängt, als wie er Erworbenes-Gewordenes aus vollen Händen Mitwelt und Nachwelt spendet. So lebte er in seiner Zeit und über sie hinaus. Eine heiter gesellige Natur ließ er die Umwelt in reichem Maße auf sich einwirken, und wie ihre Widerwärtigkeiten und Hemmungen sein ungeheures Temperament zum leidenschaftlichsten Widerstande aufpeitschten, so erwärmte jeder Sonnenblick sein leicht entfachtes Gemüt, befruchtete jede Anregung seinen rastlos beschäftigten Geist. Württemberg ist das Schicksal seiner Jugend, Sachsen-Weimar das seines Mannesalters gewesen. Alles übrige schlingt sich episodisch hindurch. Aus dem schärfsten Widerspruch zur Wirklichkeit ist Schillers Ideal der Freiheit geboren. Das kleinbäuerliche Württemberg, als dessen Untertan er geboren war, lag unter der Faust eines vielleicht nicht schlecht veranlagten, aber durch grillenhafte Pedanterie zum Tyrannen gewordenen Herrschers in völliger Erstarrung darnieder. Der Standesunterschied war diesem Zeitalter des Absolutismus nur Rangstufe der monarchischen Sklaverei. Der junge Schiller ward in die Militärakademie gesteckt, um ein Sklave mit Portepee zu werden. Aber von dem vorgeschriebenen trockenen Fachstudium zieht ihn seine rastlose Neigung zu geheimen Lieblingen. Plutarch eröffnet ihm die gewaltigen Perspektiven einer klassisch-antiken Vergangenheit, deren republikanische Welt keine Nullen züchtet, sondern gewaltige Individualitäten gebiert. Rousseau, „der aus Christen M e n s c h e n wirbt" und der die Ideale der Freiheit in einem Zeitalter gesetzloser Einzelwillkür verherrlicht, öffnet ihm die goldenen Pforten der Zukunft. Beide Vorstellungskreise verschmelzen im Feuer seines Temperaments zu einer gewaltigen, leidenschaftlich bewegten Einheit, die nach persönlichen Ausdrucksformen sucht. Goethe, Gerstenberg, Leisewitz, die Stürmer und Dränger, weisen ihm auch den Weg des Dramas. Nach den 110

Anläufen des Studenten von Nassau und des Kosmus von Medici entstehen die Räuber, das Werk eines zwanzigjährigen Jünglings, als ein vollendetes Ganzes. Über das „Grelle, Maßlose, Übertriebene" dieses Jugendwerkes schlägt die wohlgesittete bürgerliche Literaturgeschichte noch heute die Hände über dem Kopfe zusammen. Denn ihr mattes Seelchen vermag es nicht zu begreifen, daß eine gewaltige sittliche Energie in wilder Verzweiflung über die Unsittlichkeit des Bestehenden auch vor dem nicht zurückschreckt, was sie mit frommem Abscheu das Verbrechen nennt. Und so hatte in ihrem Sinne der gewissenhafte Landesvater beinahe recht, als er dem pflichtvergessenen Feldscher, der zur Aufführung seines Stückes nach Mannheim gereist war, 14 Tage Arrest zudiktierte und ihm verbot, künftig etwas Poetisches zu schreiben. Aus dem Schattenbereiche des Hohen asperg, in dem Christian Schubart unter der Obhut des gewissenhaften Landesvaters seit fünf Jahren schmachtete, flieht der Dreiundzwanzigj ährige am 22. September 1782 nach Mannheim. In der Anthologie auf das Jahr 1787, „gedruckt zu Tobolsko" (württembergisch Sibirien), schleudert er Brandfackeln glühenden Hasses in das feindliche Lager der Tyrannei zurück und jubelt in Verzückungen der Liebe. Aber schon reift in ihm der Plan zu Größerem, Höherem: Sein erstes historisches Trauerspiel, der Fiesco, ist der treue Begleiter seiner Flucht. Das Drama der republikanischen Tugend und des monarchischen Ehrgeizes findet nicht den Beifall des Mannheimer Theatergewaltigen Dalberg, der als kluger Diplomat wohl fühlt, daß er sich zu tief in die Gemeinschaft eines Geächteten eingelassen hatte. Und wie später das Eis doch bricht und der Fiesco seine Auferstehung erlebt, klagt der Dichter: „Man verstand ihn nicht. Republikanische Freiheit ist hierzulande ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name; in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut." In Mannheim hatte er offene Arme und freundschaftliche Hülfe erwartet. Er fand kalte Abweisung. Ein Vorschuß von 300 Gulden war dem Mittellosen von Dalberg abgeschlagen worden. Der Buchhändler Schwan kaufte ihm, seine Notlage ausbeutend, den Fiesco für 11 Louisdor ab. Da, wo die Not am höchsten ist, ertönt zum zweiten Male in seiner Lebenssymphonie das mächtige Motiv der Freundschaft an. Der treue Streicher hatte ihn, den vaterlandslosen Gesellen, auf seiner Flucht begleitet. Jetzt bietet ihm Frau v. Wolzogen, eine mütterliche Freundin, auf ihrem 111

Gute Bauerbach ein Asyl. Fast ein Vagabund, kommt er dort an, aber ein Prophet und Strafprediger zugleich. Denn jetzt ging es mit Feuereifer an eine Arbeit, die verstanden werden mußte: In der Tragödie der Luise Millerin speit er seiner Zeit ihre ganze Schande ins Gesicht und reißt die Laster seines Vaterlandes vor den Richterstuhl der Schaubühne. Mit Kabale und. Liebe endet die Periode im Leben des Dichters, in der sich das Revolutionäre seiner Gesinnung in stürmisch-enthusiastischen Kundgebungen entladet. Hier mag eine Einschaltung gestattet sein, die das Verhältnis des Dichters zu den politisch-geschichtlichen Ereignissen seiner Zeit betrifft, unter denen der nordamerikanische Freiheitskampf und die Französische Revolution die gewaltigsten sind. Schiller hat die Revolutionen seiner Zeit, sie fast instinktiv mitempfindend, durch seine historischen Dramen in die Vergangenheit zurückgespiegelt, ohne sich aber näher mit ihnen zu beschäftigen und ihre historische Bedeutung eigentlich verstandesgemäß zu verarbeiten. In einem Briefe vom 27. November 1788, der an Caroline v. Beulwitz, die Schwester seiner späteren Frau, gerichtet ist, gesteht er: „Mir für meine kleine stille Person erscheint die große politische Gesellschaft aus der Haselnußschale, woraus ich sie betrachte, ungefähr so, wie einer Raupe der Mensch vorkommen mag, an dem sie hinaufkriecht. Ich habe einen unendlichen Respekt vor diesem großen drängenden Menschen-Ozean; aber es ist mir auch wohl in meiner Haselnußschale. Mein Sinn, wenn ich einen dafür hätte, ist nicht geübt, nicht entwickelt, und solange mir das Bächlein Freude in meinem engen Zirkel nicht versiegt, so werde ich von diesem großen Ozean ein neidloser und ruhiger Bewunderer bleiben." Eine solche fast philiströs anmutende Sprache verblüfft in einem politisch gerichteten Zeitalter, wie das unsere eines ist. Sie kann nicht wundernehmen zu einer Zeit, da unter der starren Decke des Absolutismus irgendwelche politische Bewegung in Deutschland unmöglich war und die Weite unüberwundener Entfernungen die praktische Politik des Auslandes aus dem Gesichtskreis des Deutschen rückte. So erklärt es sich auch, daß Schiller, der Dichter des Tyrannenmordes, den gegenwärtigen Schrecklichkeiten der Französischen Revolution mit Widerwillen gegenüberstand — im Gegensatz zu seinem philosophischen Lehrmeister Kant, der die Notwendigkeiten der Gegenwartsgeschichte nicht schlechter begriff als die der vergangenen. Jedenfalls hat die 112

Französische Revolution Schiller besser verstanden, als sie ihn zum Ehrenbürger Frankreichs machte, als Schiller die Revolution, als er jene Verse in der Glocke über die Weiber-Hyänen schrieb, die heute noch das Entzücken aller moralischen Schulmeister sind. Wie wenig aber die behagliche Ruhe Bauerbachs und die endgültige Rettung aus den Fängen der Tyrannei die abstrakte Gedankenrichtung des Dichters beeinflußte, beweist der Don Carlos, den er dort entwarf. Menschliche Wirklichkeit erscheint hier in versöhnlicherem Lichte, aber der Konflikt zwischen der Humanität und dem Despotismus bleibt auch hier das Grundthema. Die Mäßigung der Form und die Verkörperung der freiheitlichen Idee in einem diplomatisierenden Höfling hat den Don Carlos später zu einem Lieblingsstück des deutschen Liberalismus gemacht, der sich in untertänigen Versuchen, fürstliche Persönlichkeiten zur freiheitlichen Gesinnung zu bekehren, ewig unfruchtbar erschöpft. Historisch freilich, d. h. im Lichte des 18. Jahrhunderts gesehen, ist der Marquis Posa eine tief tragische Persönlichkeit und keineswegs die lächerliche Erscheinung, zu der ihn das deutsche Bürgertum nachahmend karikiert hat. Philipp II. ist praktisch unüberwindliche Wirklichkeit, Posa das notwendig „unpraktische" Ideal. Das Jahr 1783 führt Schiller nach Mannheim zu dem inzwischen beruhigten Dalberg zurück. Ein Kontrakt mit dem Mannheimer Theater gibt ihm die notdürftigsten Grundlagen einer materiellen Existenz und eine Zeitschrift, die Rheinische Thalia, soll sie befestigen helfen. Schauspielerverkehr, die Freundschaft der geistreichen, unruhvollen, ihn schwärmend verehrenden Charlotte v. Kalb beleben seine zum Geselligen geneigte Natur. Aber das Theater bereitet manchen Verdruß, und seine Werbung um Margarete Schwan (die Tochter des wucherischen Buchhändlers) schlägt fehl. Die Freundschaft Chr. Gottfried Körners, brieflich angeknüpft, lockt ihn nach Sachsen. Leipzig und Dresden werden für die folgenden Jahre sein Aufenthaltsort; der geistige angeregte Verkehr, den er dort findet, drängt ihn zum tieferen Studium der Geschichte. Don Carlos wird vollendet; das hohe Lied der Freundschaft, die sich zu einem Bunde der ganzen Menschheit erweitert, das Lied An die Freude entsteht. Im Jahre 1787 übersiedelt er nach Weimar, arbeitet dort an der Geschichte des Abfalls der Niederlande, an den Briefen über Don Carlos. In Rudolstadt lernt er die Familie v. Lengefeld kennen, ein lebhafter Briefwechsel mit 10

Jonas, Schiller-Debatte

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den beiden Töchtern Caroline und Charlotte unterhält die Verbindung, und zwei Jahre später ist Charlotte seine heimlich Verlobte. A m 22. Februar 1790 folgte in der Stille einer Dorfkirche die Trauung durch einen philosophisch aufgeklärten Theologen, „ein sehr kurzweiliger A u f t r i t t " , wie Schiller bekennt. Trotz dieser Behandlung des Kirchlichen als einer geringen, wenig heiligen Formalität ward die Ehe glücklich. Schiller ist seiner Frau ein zärtlich aufopfernder Gatte und seinen Kindern, zwei Söhnen und zwei Töchtern, ein liebevoller V a t e r gewesen. Alle treu menschliche Gemeinschaft entsprach seiner tiefsten Natur. Das war auch die Zeit, da seine Jugend- und Wanderzeit ihren Abschluß fand und ein örtlich gefestigtes, wenn auch materiell noch lange nicht sorgenfreies Dasein begann. Seit dem Mai 1789 war er Professor der Geschichte in Jena, aber die notwendige dauernde Beschäftigung mit dem rein Stofflichen dieses Faches konnte ihm, der weniger zu konkreter Einzelforschung als zu streng systematischem abstraktem Denken und zu poetischer Schöpfung veranlagt war, wenig behagen. Eine schwere Erkrankung, ein heftiges Katarrhfieber, stört seine Tätigkeit, untergräbt dauernd seine Gesundheit und versetzt ihn durch die Notwendigkeit einer K u r in Karlsbad in schwere materielle Bedrängnis, aus der ihn eine „Gnadengabe" des Herzogs von HolsteinAugustenburg befreit. Erholt und von den drückendsten Sorgen befreit, wirft er sich auf das Studium der Kantschen Philosophie. Jetzt, im Jahre 1793, wagt er endlich auch eine Reise in die Heimat, die ihn ausgestoßen hatte, und in die Arme seiner Eltern. Die Reise nach Schwaben bringt ihm die wichtige Verbindung mit dem Buchhändler J. G. Cotta, in dessen Verlage begründet Schiller die Hören, eine Monatsschrift, die trotz ihrer glänzenden Mitarbeiter, wie Fichte und Humboldt, das Gefallen des Publikums nicht dauernd erregte, wohl aber wichtigeren Gewinn brachte: denn sie schlug die Brücke zu dauernder Verbindung Schillers mit Goethe. Nach gelegentlichen kühlen Begegnungen, die sich seit der Zeit der Karlsschule wiederholten, aber nur das Gegensätzliche in den Naturen der beiden Männer zum Ausdruck gebracht hatten, begann sich nun mählich, zunächst unter dem Einfluß Charlottens v. Stein, der gemeinsamen Freundin Goethes und Lottens, der historische Freundschaftsbund der beiden großen Dichter zu entwickeln. Der Unwille über den Fehlschlag 114

der Hören, der Mißverstand des Publikums, die Intrigen geistig tieferstehender literarischer Gegner zeitigten die spitzen Spottund Stachelverse der Xeniew, als gemeinsame Arbeit. Inzwischen war 1796 der erste Musenalmanach erschienen, dem vier weitere Jahrgänge folgten. Zwischen Jena und Weimar entspinnt sich ein reger Briefwechsel, bis Schiller, ungeduldig nach dem regen geistigen Kreis und dem Theater der herzoglichen Residenz, 1799 seine Übersiedelung nach Weimar vollzog. Auch dieser für das dichterische Schaffen so notwendige Schritt sollte nicht getan werden, ohne Peinlichkeiten materieller Natur mit sich zu bringen. Schiller mußte sich, um die erhöhten Kosten seines weimarschen Aufenthalts aufzubringen, mit einem Bittgesuch an den Herzog Karl August wenden, der ihm 200 Taler Zulage und „etwas Holz in natura" zugestand. In ein näheres freundschaftliches Verhältnis zum Herzog, wie es zwischen diesem und Goethe bestand, ist er nicht gekommen. Seine höchste Gunst erzeigte der Herzog Schiller, als er ihm durch Fürsprache beim Kaiser im Jahre 1802 den Adel und das schöne Wappen verschaffte, das viele gutgesinnte Jugendbücher ziert, als Beweis dafür, wie weit es ein großer Dichter bringen kann. Schiller selbst schrieb darüber an Wilhelm v. Humboldt: „Sie werden gelacht haben, als sie von meiner Standeserhöhung erfuhren, es war ein Einfall vom Herzog, und da es geschehen ist, kann ich es mir um Lolo (Lotte, seine Frau) und der Kinder willen gefallen lassen." „Lolo" selbst dachte aber gleichfalls ein wenig ketzerisch, denn zu gleicher Zeit schreibt sie an Fritz v. Stein: „Sie kennen uns und wissen, was w i r davon halten . . . Es kann jeder daraus (aus dem Diplom) ersehen, daß S c h i l l e r g a n z u n s c h u l d i g d a r a n i s t , und dies ist, was mich beruhigt." Die Jahre des Zusammenwirkens mit Goethe sind die fruchtbarsten in Schillers Leben geworden. Das Politische tritt zeitweilig zurück, das rein Künstlerische in den Vordergrund, bis sich beides im Teil zum Jubelgesang der siegreichen Freiheit vereinigt. Die bloße Idee erscheint jetzt stärker vom Fleisch des wirklichen Lebens umkleidet, und so rasch die Pulse der dramatischen Handlung schlagen, wahrt die Form klassische Gemessenheit. Zunächst geht Wallenstein, unter Beachtung Goethescher Anregungen und Ratschläge, 1799 seiner Vollendung entgegen. Ein Jahr später folgt Maria Stuart und in rascher Reihenfolge die Jungfrau von Orleans (1801), die Braut von Messina, schließlich Teil (1804). Dazwischen liegen die zahlreichen Bearbeitungen und 10*

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Übersetzungen. Auch die meisten der volkstümlich gewordenen Gedichte Schillers, zumal seine Balladen, entstammen dieser reichen Epoche. Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges war schon 1793 abgeschlossen worden. Im selben Jahre noch folgte die Schrift Über Anmut und Würde, zwei Jahre später die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts. 1796 folgte die Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung. Im Juli 1804 erlitt Schiller einen schweren Rückfall in seine Brustkrankheit. Scheinbar genesen, wandte er sich dem Demetrius zu, aber im Januar 1805 warf ihn ein neuer Anfall aufs Krankenlager. Im März glaubte er sich wohler; aber am 1. Mai trat das Übel in das letzte tödliche Stadium. Am 9. Mai war er tot. Seine Kranken- und Todesgeschichte läßt die Züge des großen Denkers und Dichters zurücktreten und rückt das Bild des liebenswürdigen, edlen und liebevollen Menschen in den Vordergrund. Daß Größe des Geistes und Reinheit des Charakters in einem Menschen zu hoher harmonischer Einheit zusammenfließen können, hatte die Geschichte des Lebens bewiesen, das an jenem Tage schloß. Um das, was von ihm blieb, ist ein Jahrhundert lang ingrimmig gekämpft worden, wie um die Leiche des Patroklos. Die romantische Reaktion hat den großen Idealisten als Künstler nicht gelten lassen wollen; das Junge Deutschland hob ihn als seinen Vorkämpfer auf den Schild. Naturalistische und neuromantische Ästheten priesen Goethe und brachen den Stab über Schiller . . . Man kann beinahe sagen, daß der geistig-politische Zustand der deutschen Nation nach dem jeweiligen Verhältnis der miteinander ringenden Strömungen für und wider Schiller gemessen werden kann. So wirkte er auch nach seinem Tode fort nicht als ein Vollendeter, sondern als ein ewig Ringender und hält die Geister in wechselnder Bewegung. Schiller war der Dichterphilosoph des Bürgertums, nicht der Bourgeoisie, der poetische Prophet des dritten Standes, aus dem sich noch kein vierter losgelöst hatte. Denen, die stille stehen, ist er tot; jenen, die vorwärts schreiten, schreitet er auch heute noch lebendig voran, und seine Hand weist in unendliche Fernen. Ob er Weg und Richtung gebilligt hätte, darüber zu streiten wäre müßig, aber daß sein Idealismus keine Ruhe und kein sattes Selbstgenießen duldet, sondern die Triebfeder unendlicher Be116

wegung ist, kann nur von denen bestritten werden, deren stillstehende Intelligenz verlernt hat, ihn zu begreifen. Seine Gedankenwelt ist nicht die unsere, sondern nur ein Bestandteil der unseren. Idealistische Philosophie und reale Erfahrungswissenschaft haben sich heute zu einer Weltauffassung des realen Humanismus vereinigt, die die Freiheit nicht nur im Reich der Träume sucht, sondern die realen Vorbedingungen ihres wirklichen Daseins vorhanden weiß und praktisch-politisch mit ihnen rechnet. Eine Gesellschaft aber, die an allen Idealen des Lebens bankerott ist, die die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden Ketzerei, die Liebe zum Volke Vaterlandslosigkeit, die republikanische Gesinnung Hochverrat und jeden Fortschritt, der das Tempo des Schneckentrotts überschreitet, Umsturz nennt, kann Schiller nicht berühren, ohne Leichenschändung zu treiben. Die Arbeiterklasse, die es als ihre geschichtliche Mission betrachtet, die Ideale des klassischen Zeitalters aus unendlichen Höhen auf die festgegründete Erde herabzuholen, die Arbeiterklasse, die noch auf eine Zukunft baut, die vorwärts drängt, die will und kämpft, ehrt das Andenken Friedrich Schillers weder mit satten Festen noch mit heuchlerischen Totenklagen, sondern in lautem Kampf und fröhlichem Vollbringen.

Lüy Braun Schiller und Charlotte von Kalb Es gilt allgemein, auch bei Kennern unserer Literaturgeschichte, für eine ausgemachte Tatsache, daß Goethes dichterische Gestalten in direkter Anlehnung an das Leben entstanden sind, daß besonders seine Lotten, Gretchen, Klärchen und Eleonoren den Frauengestalten nachgebildet wurden, die seinem Herzen teuer waren. Von Schiller dagegen glaubt man, seine Phantasie sei die alleinige Schöpferin gewesen und die Heldinnen seiner Werke muteten nur darum den Beschauer so seltsam fremd an, weil das Weib in seinem eigenen Leben keine bestimmende Rolle gespielt habe. Wer aber die Frauen seines Kreises einmal genauer betrachtet und mit denen seiner Dichtungen vergleicht, kommt 117

zu einem völlig anderen Resultat. Wohl waren seine Beziehungen zu den Frauen meist Spiele der Phantasie oder der Sinne, die in seinem'geistigen Leben kaum nachweisbare Spuren hinterließen. Eine aber ist es gewesen, die im Sturm der Leidenschaft die Tiefen seines Wesens in Aufruhr brachte, die in seine Entwickelung bestimmend und richtunggebend eingriff und deren merkwürdige Erscheinung in seinen größten Werken wieder und wieder auftaucht: Charlotte v. Kalb, die Frau mit den dunkelblauen Märchenaugen. Es gärte damals überall in den Köpfen und Herzen der Frauen. In den Kreisen der Fürstenhöfe und der Aristokratie wirkten die Einflüsse französischer Sittenlosigkeit, Rousseauscher Erneuerungsideen und englischer Gefühlsschwärmerei zusammen, um die alten festgewurzelten Auffassungen von der Stellung der Frau in der Familie und Gesellschaft zu untergraben. Aber der fieberhaft erregte Drang nach Freiheit des Geistes- und Gefühlslebens mußte auf die eines festen inneren Haltes und eines klaren Zieles entbehrenden Frauen jener Zeit am letzten Ende verheerend wirken, wie Gewittersturm auf Pflanzen, die in Treibhausluft gezogen wurden. Die Tragik des Geschickes der Vorläufer neuer Entwickelungen wurde all diesen Frauen zuteil, sie lastete aber wohl auf keiner von ihnen so schwer als auf Charlotte v. Kalb. Als Tochter einer alten, reichbegüterten fränkischen Adelsfamilie, der Marschalk von Ostheims, war sie auf dem düsteren Schloß zu Waltershausen im Grabfelde zur Welt gekommen. Voller Entsetzen über die Geburt des unerwünschten Mädchens, rief ihre Großmutter ihr zu: Du solltest nicht da sein! Und dies Wort, von ihrem älteren Bruder, dem kaum zum ersten Verständnis erwachten Kinde, häufig wiederholt, machte sie früh schon scheu und verschlossen. Die dunklen Sagen ihrer Vorfahren nährten ihre Phantasie, und mit einem seltsamen, früh sich äußernden Ahnungsvermögen glaubte sie, schwere Schicksalsschläge voraussehen zu können. Sie hatte keine Neigung zu harmlosem Kinderspiel; am liebsten streifte sie in den dunklen Wäldern ihrer Heimat träumend umher. So wurde sie das Urbild der Kassandra, der unglücklichen Seherin in Schillers schwermütig düsterer Ballade. Bei einem fröhlichen Familienfest äußerte einer der Anwesenden, daß dieser Tag, wie alles wahrhaft Echte, ein Kleinod sei; das still zuhörende Kind empfand dies als eine Prophezeiung, und kurze Zeit später raubte der Tod ihm Vater und Mutter. Ohne

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Gefühl für die gemarterten Herzen der Kinder wurden die Tore des vereinsamten Schlosses verschlossen und versiegelt, kaum daß seine Herrin in die Erde versenkt war, und die Geschwister unter den Verwandten verteilt. „Ich habe als Kind schon ausgeweint!" sagte Charlotte in ihren Memoiren, dieser Zeit gedenkend. Eine konventionale Erziehung, ohne jede Herzensteilnahme ihrer Umgebung, wurde ihr zuteil. Niemand bemühte sich, einen Zugang zu ihrem verschlossenen Innenleben zu finden, niemand entdeckte unter den Seltsamkeiten des spröden Kindes seine ungewöhnliche Begabung. Natur und Poesie wurden ihre Lehrmeister und Vertrauten. Alle Bücher, deren sie habhaft werden konnte, verschlang sie; unklare Zukunftsträume und Hoffnungen erweckten sie in ihr, die nach vollem Leben, nach Betätigung dunkel verlangten. Die Kraft aber, gegen die Gewalt der Konvention zu kämpfen, konnte diese Vorläuferin aller um ihre individuelle Freiheit ringenden Frauen noch nicht besitzen. Sie sah, wie ihre Schwestern ihr willenlos ausgeliefert wurden und Standesrücksichten allein ihre Ehen bestimmten; sie erlebte schaudernd, wie die eine von ihnen, die ihre junge Liebe der Familienpolitik hatte opfern müssen, mit gebrochenem Herzen frühzeitig starb; sie stand verzweifelt an der Bahre ihres einzig geliebten Bruders, der im Duell dem Popanz einer falschen Ehre erlegen war. Trotzdem beugte sie sich selbst der Konvention, wie einem unentrinnbaren Schicksal, und vermählte sich, ohne ein Gefühl der Zuneigung, als Zweiundzwanzigj ährige mit dem in französischen Diensten stehenden Major v. Kalb. „Ich fügte mich im Gleichmut des Leidens", sagte sie. Ihr Gatte war ein abenteuerlustiger, oberflächlicher Weltmann, der in Charlotte nur die unumgängliche Zugabe zu dem großen Besitz an Geld und Gütern sah, dessen er bedurfte. „Uns lockt die Hoffnung nicht, uns bindet kein Vertrauen. Es schwanden die Tage ohne Einsicht noch Absicht dahin, wie in tiefster Wesenheit geschieden" - klagte Charlotte über den Beginn ihrer Ehe. Auf der Reise nach Landau, seiner künftigen Garnison, kam Herr v. Kalb mit seiner jungen Frau nach Mannheim, wo Schiller damals weilte. Seine Freundin und Charlottens Verwandte Frau v. Wolzogen vermittelte durch einen Brief die persönliche Bekanntschaft beider. Welch ein Begegnen! Zum erstenmal in ihrem einsamen Leben trat ein verwandter Geist ihr gegenüber, der die Schlüssel besaß zu den verborgenen Schätzen ihres geistigen 119

Lebens. Sie selbst faßte ihre Eindrücke folgendermaßen zusammen : „Durch Scheu nicht begrenzt, traulich, da gegenseitig mit dem Gefühl des Verstandenseins gesprochen werden konnte, löste ein Gedanke den folgenden Gedanken, ohne Wahl oder Nachsinnen;" sie fühlten sich beide „begünstigt von dem Maientag, noch mehr durch die Freiheit der Seele, wähnend, Schöpfer des Lebens zu sein". Und zu seiner Schöpferin des Lebens wurde sie. Damals befand sich Schiller in einem Zustand innerer Gärung und Zerrissenheit; Gleichgültigkeit, Wankelmut und Feindschaft begegnete ihm überall, dabei war sein Äußeres unscheinbar, fast abstoßend, formlos und linkisch sein Benehmen. Nur der geniale Scharfblick einer in der Schule des Leidens und der Einsamkeit gereiften Natur, wie die Charlottens, vermochte durch all die dunklen Hüllen hindurch den großen Geist zu erkennen. „Die ungewöhnliche Frauenseele", wie Schiller sie gleich nach erstem flüchtigen Sehen bezeichnete, wurde seine Beraterin, ihre Urteile, die scharf und kritisch blieben durch alle Phasen ihres Bündnisses, wurden ihm ästhetisches Gesetz. „Damals trugen Sie das Schicksal meines Geistes in Ihren Händen und ehrten in mir ein unentwickeltes, noch mit dem Stoffe unsicher kämpfendes Talent", schrieb er ihr viele Jahre später, als er auf der Höhe seines Ruhmes stand. „Nicht durch das, was ich war und was ich wirklich geleistet hatte, sondern durch das, was ich vielleicht noch werden und leisten konnte, war ich Ihnen wert." Die damalige Sitte, die der Offiziersfrau das Leben mit dem Gatten in dessen Garnison versagte, kam Charlottens Wünschen entgegen. Sie siedelte nach Mannheim über, wo sich ein täglicher Verkehr rasch entwickelte. Noch nie war ihm eine Frau begegnet, so voll inneren Reichtums. In seinem Don Carlos prägten sich zuerst die Eindrücke aus, die er von der edlen, in aufgezwungener, unglücklicher Ehe lebenden Frau empfing: die Königin trug ihre Züge. Aber je näher er ihr kam und hinter der vornehm-kühlen Maske der Frau der großen Welt das leidenschaftlich-sehnsüchtige Weibesherz pochen fühlte, je mehr wandelte sich auch das dichterische Spiegelbild. Wie sie zuerst die Königin war, die reine, opfervolle, die „schöne Seele", so wurde sie später zur liebesglühenden, stürmisch begehrenden Prinzessin Eboli. Denn es blieb nicht bei dem ruhigen Freundschaftsbund zwischen dem nach Leben durstenden Weibe und dem jungen, heißblütigen Dichter. Lange hielt anerzogene Sitte und strenge Konvenienz auf der einen, scheue Verehrung für die vornehme Frau auf der 120

anderen Seite den Ausbruch der Leidenschaft zurück. Da sollte die Trennungsstunde schlagen; widrige Verhältnisse drängten Schiller zum Abschied von Mannheim. Und nun gab es keine Schranken mehr für die Glut ihres Inneren. Charlotte, die stark Empfindende, Rücksichtslose, bricht den Bann. „Seit ich Sie kenne", ruft sie aus, „verlange ich mehr, als ich jemals von den Tagen erbeten." Und Schiller antwortete: „O wohl, daß ein Gedanke flammend uns beseelt!. . . Das Feuer meiner Seele hat sich an Ihrem Licht entzündet. . ." Das erste „Du" kommt über seine Lippen. „Du sagen Sie . . . Du sage ich . . . Das Du ist einer ewigen Verbindung Siegel!" gibt sie zurück. Sie haben sich gefunden! Daß sie einem anderen gehört, schreckt ihn nicht: Wird ein Gebrauch, den die Gesetze heilig prägen, Des Zufalls schwere Missetat geweiht? Nein — unerschrocken trotz ich einem Bund entgegen, Den die errötende Natur bereut. O zittre nicht — du hast als Sünderin geschworen, Ein Meineid ist der Reue fromme Pflicht. Das Herz war mein, das du vor dem Altar verloren, Mit Menschenfreuden spielt der Himmel nicht. So heißt es in seiner Freigeisterei der Leidenschaft. Nur kurz dauerte der Taumel. Am 10. Februar 1785 hatte er seinen Leipziger Freunden sein Kommen in ruhigem Tone brieflich anzeigen wollen. Mitten im Satz brach sein Schreiben ab. Am 22. Februar vollendete er es mit wenigen, in fliegender Hast hingeworfenen Zeilen: „Ich kann nicht mehr hier bleiben . . . Zwölf Tage habe ichs in meinem Herzen herumgetragen, wie den Entschluß, aus der Welt zu gehen . . . Der hiesige Horizont liegt schwer und drückend auf mir, wie das Bewußtsein eines Mordes!" Was geschehen war — wer zuerst sich von dem anderen riß, wir wissen es nicht. Aber die Kenntnis von Charlottens und Schillers Wesen läßt darauf schließen, daß es nicht Charlotte war, die vor den letzten Konsequenzen — der Trennung von ihrem Gatten und der Verbindung mit dem Geliebten — zurückbebte, denn für sie war ihre Liebe alles, was sie besaß, er hatte sein Werk, seine Dichterzukunft, ihm war Charlotte nicht des Lebens Inhalt und Vollendung. In dem „schweren Riesenkampf der Pflicht", von dem sein Gedicht Resignation erzählt, opferte er seine Leidenschaft seiner Bestimmung. Charlotte blieb noch ein Jahr in Mannheim, vertieft in ihre Bü121

eher, mit wenigen Auserwählten verkehrend, der Erziehung ihres einzigen Sohnes hingegeben. Sie starb nicht an gebrochenem Herzen, wie ihre Schwester, sie erstarkte zu der Seelengröße, dem Geliebten weiter nur Freundin zu sein. Wie tief sie selbst ihr Leid empfand, das beweisen ihre eigenen Worte: „Dem Weibe vor allem ist Einsamkeit not, da allein findet sie den Frieden sehnsuchtsloser Gegenwart. ,In der Welt habt ihr Schmach', dies Wort ist besonders für das Weib gesprochen." Aber auch Schiller fühlte den Riß, der durch sein Leben ging, und schmiedete abenteuerliche Pläne eines möglichen Zusammenlebens zu dreien. In Weimar, wohin Charlotte ihm die Wege geebnet hatte und wo sie sich zunächst niederließ, sahen beide sich wieder. „Unser erstes Wiedersehen hatte so viel Gepreßtes, Betäubendes . . .", schrieb Schiller an Körner, „Charlotte ist sich ganz gleich geblieben, bis auf wenige Spuren von Kränklichkeit, die der Paroxysmus der Erwartung und des Wiedersehens für diesen Abend verlöschte und die ich erst heute bemerken kann Sonderbar war es, daß ich mich schon in der ersten Stunde unseres Beisammenseins nicht anders fühlte, als hätte ich sie erst gestern verlassen: so schnell knüpfte sich jeder zerrissene Faden wieder an." Und etwas später: „Charlotte ist eine große, sonderbare weibliche Seele, ein wirkliches Studium für mich, die einem größeren Geist, als der meinige ist, zu schaffen geben kann. Mit jedem Fortschritt unseres Umgangs entdecke ich neue Erscheinungen in ihr, die mich, wie schöne Partien in einer weiten Landschaft, überraschen und entzücken." E r brachte fast den ganzen Tag bei ihr zu. Sie führte ihn in die Gesellschaft ein und schuf ihm eine Stellung in ihr. Bei den herrschenden Anschauungen jener Zeit und jener freier denkenden Kreise nahm niemand Anstoß an dem Zusammensein der beiden, das den Beziehungen Goethes zu Charlotte v. Stein so ähnlich sah. Aber Schiller war seit den Mannheimer Tagen ein anderer geworden: ein ruhebedürftiger, durch seine Kränklichkeit nervös erregter Mann. Die stürmischen Ausbrüche von Charlottens Temperament, die mit ahnungsvoller Schwermut wechselten, ihr fieberhafter Betätigungstrieb, ihre geistvolle, aber sprunghafte Art der Konversation, ihr unbefriedigtes Leben, das in allem hervortrat, war nicht mehr das, was seinen Bedürfnissen entsprach. In Briefen und Äußerungen seinen Freunden gegenüber drückte sich seine Sehnsucht nach ruhigem Glück, nach dem Behagen einer eigenen Häuslichkeit, kurz nach dem aus, was das Genie zumeist von seiner Umgebung 122

verlangt: ein stilles Sichaufopfern und selbstloses Hingeben an den Größeren. So ist's erklärlich, daß Schiller in diesem Zustand sogar daran dachte, um ein ihm völlig unbekanntes, aber als schlicht und einfach gerühmtes Mädchen, Wielands Tochter, zu werben. Die Begegnung mit einer anderen Charlotte verhinderte es. Charlotte v. Lengefeld, das junge, weltfremde, schwärmerische Mädchen bot ihm das, was Charlotte v. Kalb, die reife Frau mit der starkgeistigen Individualität, nicht bieten konnte. Schiller schrieb seiner Braut: „Deine Seele muß sich in meiner Seele entfalten und m e i n Geschöpf mußt Du sein", und sagt damit nichts anderes, als was unsere Vorväter sagten, wenn ihre Gesetze das Weib zum Eigentum des Mannes stempelten, oder was die Gegner der Frauenbewegung heute sagen, wenn sie mit dem Hinweis auf den „einzigen Beruf des Weibes" ihr das Recht auf Freiheit der Entwickelung absprechen. Charlotte v. Kalb mußte den Kelch bis auf die Neige leeren: bis zum Verzicht auf persönliches Glück. „Zu meiner Erkenntnis gehört Entlaubung, — Sturm, — Frost, — Erstarren", schrieb sie. Der Verkehr mit Schiller, auch der briefliche, der bei jeder Trennung ein sehr reger gewesen war, schlief mehr und mehr ein. Auf ihren Wunsch gab er ihr kurz vor seiner Vermählung ihre Briefe zurück, die sie zusammen mit den seinen in einem schwarzen Kästchen verwahrte. „Tu es weg", rief einmal eine Freundin ihr zu, „so sahen die Särglein aus, darin ich meine Kinder begraben." „Es waren totgeborene Kinder", schrieb Charlotte. „Ich ehre uns, wenn ich diese Blätter vernichte", fügte sie hinzu und übergab den kostbaren Schatz, der vielleicht Schillers tiefstes Leben barg, den Flammen. Da sie aber keine flüchtige Erscheinung in Schillers Leben, sondern im Grunde das eine große, erschütternde Erlebnis war, so konnte sie, auch wenn die persönlichen Beziehungen sich immer mehr lockerten, ihm nicht verschwinden. Seine Dichtkunst hat auch sie „mit einer Glorie umgeben; Dich schuf das Herz, Du wirst unsterblich leben". Die Jungfrau von Orleans, das träumerische, in der Einsamkeit der Natur ihren Visionen sich hingebende Mädchen, die ihre große Mission in dem Augenblick selbst zerstört, wo ihr Herz erwacht, trägt Charlottens Züge. Das Ahnungsvolle in allen Frauengestalten des Wallensteins erinnert immer wieder an das Urbild der Kassandra. Also gerade das, was o fremdartig berührt und nur wie Phantasiegebilde erscheint in s 123

den weiblichen Helden Schillerscher Werke, ist dem lebendigen Vorbild entnommen, das der Dichter nie vergessen konnte. Charlotte verfolgte sein Schaffen mit unveränderter begeisterter Teilnahme: Ihr Leben spann sich ab zwischen der Erziehung ihres Sohnes und dem Verkehr mit den Größten ihrer Zeit — Goethe, Herder, Humboldt, Fichte —, die alle ihrem Geiste huldigten. Noch einmal glaubte sie das Glück zu halten, als sie zu Jean Paul in nahe Beziehung trat. In der heißglühenden, allen Ehezwang als eine Schmach der Liebe verachtenden Linda seines Titan hat er ihr ein Denkmal gesetzt und sie zugleich preisgegeben. Aber ihr Schicksal war noch nicht vollendet: durch den Leichtsinn und die widerlichen Prozesse ihres Gatten verlor sie alles, was sie besaß. Ihr Mann und ihr zärtlich geliebter Sohn endeten durch Selbstmord, und ihr selbst verschloß völlige Blindheit während der letzten zwanzig Jahre ihres Lebens den Anblick der Welt, die sie so liebte. In einem kleinen Zimmer des Berliner Königsschlosses fand die völlig Verarmte, nachdem sie sich eine Zeitlang kümmerlich durch einen kleinen Teehandel ernährt hatte, ihre letzte Zuflucht. Hier diktierte die achtzigjährige Greisin mit den toten blauen Märchenaugen, die die Größten der Zeit einst zur Begeisterung entflammt hatten, einer mitleidigen Seele ihre Memoiren. Sie sind ein krauses Durcheinander von zarter und gewaltiger Lyrik, klangvoller Sprache, sybillinischen Orakelsprüchen und wilder Phantasterei und Verschrobenheit, das Abbild eines zerstörten großen Geistes. „Die glänzendste geistige Hetäre ihrer Zeit", nannte sie ein Forscher, der sie ebensowenig verstand, wie ihre Zeit sie verstanden hat. Sie war eine jener Stufen, die die Führer der Menschheit niedertreten, um emporzusteigen. Darum, wer heute Schillers Grab mit Lorbeer schmückt, der sollte auch dem vergessenen Hügel Charlottens ein paar Zweige weihen.

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Kurt Eisner Über Schillers Idealismus Das Tiefste und Reichste, was Schiller der Welt gespendet, ist zugleich der Urgrund seines Falls in der bürgerlichen Gesellschaft, der Ursprung jenes Jahrhunderts der Verderbnis, Entfärbung und Fälschung, das den revolutionären Himmelsturm für die elend klappernde Mühle einer seichten und leeren Sonntagsgeschvvätzigkeit einspannte; das aus dem innerlichsten Lebensbedürfnis einen Festspruchzierat, aus der heiß atmenden Weisheit die Gemeinplätze eines Stammbuchs schneiderte; das die tief in das Erdreich menschlicher Entwickelung pflügende Gedankenarbeit in eine trockene Schulbubenqual zusammenschrumpfen ließ; das endlich den kühnen Schöpfergesang der Freiheit in einen frömmelnden Gassenhauer w i d e r die Freiheit log. Heute, ein Jahrhundert nach dem Tode des Dichters, preist den Rebellen und Republikaner die ekle Gemeinschaft der Byzantiner. Der reine Heide, der niemals etwas gemein hatte mit Pfaffentum, Kirche und konfessionellem Dogmatismus, wird von dem Weihrauch der Dunkelmänner umqualmt; der Künder eines Weltbürgertums, der es ein „armseliges, kleinliches Ideal" nannte, „für e i n e Nation zu schreiben", dessen philosophischem Geist „diese Grenze durchaus unerträglich" war, wird nun gerühmt als einer, der dennoch „bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders)" stille gestanden hätte, — gerühmt nämlich von denen, die in dieser Grenze national begeistert die göttliche Erfindung grenzenloser Zollmöglichkeiten anbeten. Der Seher und zuversichtliche Bekenner einer menschlichen Zukunftsgesellschaft der Freiheit wird bekränzt von den trägen, zynischen Hirnen der mittleren Linie, die in dem Streben nach einem idealen Staat eine Narretei begrinsen, wenn sie es aus Rücksichten des Geschäfts nicht vorziehen, es als Verbrechen anzuklagen. Der Priester der Humanität muß sich den Kultus einer bluttriefenden Soldateska gefallen lassen, deren einzige Politik die gewaltsame Unterdrückung ist, und der trotzige Bekenner des Tyrannenmords als des notwendigen Mittels der Befreiung vom unerträglichen Joch, wird feiernd zum Schwurzeugen derer herangeschleppt, die das Verbrechen der 125

Herrschenden als unumstößliches Recht und das Recht der Unterdrückten als todeswürdiges Verbrechen vertauschen. Dieses Jahrhundert klassischer Erziehung hat die Gegensätze in wundersame Harmonie aufgelöst: Franz, die Kanaille, sinkt vor Karl Moor-Schiller auf die Knie. Der Hofmarschall von Kalb wird der kluge und hochherzige Trauzeuge von Ferdinands und Luisens ehelichem Glück. Marquis Posa empfängt in jubelndem Dank von Philipp II. den eigens für ihn gestifteten Orden der heiligen Inquisition, und Wilhelm Teil drängt sich, noch bevor er zerknirscht ins Zuchthaus geht, dem Geßlerhute die ersehnte Reverenz zu erweisen. Was gab die Möglichkeit zu solchem tollen Gaukelspiel? Das, was man den Idealismus, die idealistische Weltanschauung heißt. Schillers größte Tat ward sein Fluch, ward die Ursache, daß er selbst in seinem geschichtlichen Wirken in der Klasse, für die er wirkte, seine Mission zerstörte. Gewiß ward Schiller das Opfer einer tückischen Verleumdung: dennoch nicht ohne eigene Schuld. In dem Idealismus, wie er ihn prägte oder vielmehr wie er ihn betätigte, lag schon das Element der Zerstörung, der Selbstauflösung. Und nicht aus innerlichem Irren entstand dieser feine, kaum merkbare Bruch seiner Weltanschauung. Es war der Tribut, den er dem deutschen kleinstaatlichen Despotismus unbewußt zahlen mußte, der sozialen Misere eines mühselig um sein Brot arbeitenden armen Literaten, der von der Gnade gerade jener Elemente zu leben verurteilt war, die man in Frankreich guillotinierte. Es ist eine ekle Legende, daß unsere klassische Kunst den freien Höfen aufgeklärter, verständnisvoller Despötchen ihre Blüte verdankte. Sie verdankt ihnen vielmehr die verhängnisvolle Akklimatisation, die den Anfang bildete jener schlimmeren Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft, der unsere Größten nach ihrem Tode dann wehrlos ausgeliefert wurden, mit Episoden der Wiedergeburt und Erneuerung, bis auf diese Tage. Mag immer Sachsen-Weimar nicht die schlimmste Heimstätte deutscher Kunst und deutschen Denkens gewesen sein, es blieb doch Frondienst, hier zu wirken. So kam es, daß Friedrich Schiller in dem gewaltigsten Augenblick der menschlichen Geschichte, da das von ihm nicht nur geträumte, sondern als notwendig erkannte und geforderte Vernunftreich der Freiheit den Riesenschritt zur Wirklichkeit tat, blind vorüberging, ja ängstlich vor ihm flüchtete, indem er die heranstürmende Zukunft, die Zukunft t in es 126

Ideals, scheu beschwor, wieder in die Ferne zu verdämmern. Diese Flucht vor der Tat war das Verhängnis seiner Wirkung im deutschen Volk, im deutschen Bürgertum, das er, zwar mißverstanden, doch das Mißverständnis durch eigene Zweideutigkeit nährend, vielleicht mehr gegen seine Ideale erzog, als daß er es ihnen näherte. Schillers revolutionärer Idealismus erlitt in seinem Blutumlauf unter dem höfischen Druck der deutschen Kleinstaatelei eine Stockung, die seine Gewalt lähmte und am Ende wie eine Geisteskrankheit erscheinen ließ. Schillers in der Militärzwangsanstalt seines Landesvaters eingeschnürte Jugend befreite sich an Rousseau, zu dem sich — im Stil der Gefühlsäußerung — Klopstock gesellte. Wider die Tyrannei war seine Losung. Er flüchtete zu der Utopie des erhabenen Verbrechens, das alle bürgerlichen Fesseln erlösend löst. Sein erster stürmender Idealismus war die Religion des aufbäumenden Frevels. Frei sein vom zerreibenden Druck schien ihm Freiheit. Die große Natur des heißen Menschenherzens, die Republik der einfachen, ungebrochenen, gütigen Kraft ward ihm seine ideale Welt, bevor er die Welt kannte. So entstanden seine Räuber, Fiesco, Kabale und Liebe, die Trilogie revolutionärer Leidenschaft. Ehrenvoller als der hundertjährige Ruhm, der Schillers Geltung in der Kulturentwickelung entnervte, war der dumme und brutale Philisterhaß, der damals den Jubel der jungen Generation zu überschreien suchte. In dieser stumpfen Verleumdung barg sich eine stärkere Anerkennung seines Elementarwesens als alle geschminkte Schwärmerei der Nachwelt. Durch diesen Jugendidealismus, der im gigantischen Verbrechen den Ausweg aus schlaffer Schande suchte, in ihm das zyklopisch sich türmende Tor zur Freiheit gesprengt wähnte, fühlte sich die gezähmte Barbarei despotisch-kleinbürgerlicher Kultur bedroht. Ein Räuberrezensent — ein Mitglied übrigens der Gesellschaft Jesu — scheute sich schaudernd, „an die Plattheiten, an die Hefe des Pöbelhaften, und an das äußerst Abscheuliche, alles gute Gefühl Empörende, die Sitten und die Menschheit Schändende zu gedenken, das aus dem Munde der Banditen, dieses räuberischen Lumpengesindels kömmt". Der angesehene Schriftsteller Moritz denunzierte in der Berliner Vossischen Zeitung Kabale und Liebe als ein „Produkt von unserer Zeiten Schande": „Mit welcher Stirn kann doch ein Mensch solchen Unsinn schreiben und drucken lassen, und wie muß es in dessen Kopf und Herz aus127

sehen, der solche Geburten seines Geistes mit Wohlgefallen betrachten kann! . . . Wer 167 Seiten voll ekelhafter Wiederholungen gotteslästerlicher Ausdrücke, wo ein Geck um ein dummes affektiertes Mädchen mit der Vorsicht (Vorsehung) rechtet, und voll krassen, pöbelhaften Witzes oder unverständlichen Galimathias durchlesen kann und mag — der prüfe selbst. Aus einigen Szenen hätte was werden können, aber alles, was dieser Verfasser angreift, wird unter seinen Händen zu Schaum und Blase." Derselbe wusch sich später die Hände von dem „Schillerschen Schmutz". Man beobachtete auch üble Wirkungen an diesen gotteslästerlichen Werken; und man begnügte sich nicht etwa nur mit Anklagen und Befürchtungen wie den folgenden: „Daß der eingebildete Held aber die Bewunderung und das Interesse des Pöbels und höherer Stände wird, wo die Schwäche der landesherrlichen Macht oder Polizei in dem elendesten Kontraste erscheint ; — welche Wirkungen werden solche Situationen hervorbringen? welche Lehren der Moral, der Politik, des Gehorsams gegen die Gesetze und ihre Handhaber sind stark, einleuchtend oder anziehend genug, um die vorigen Eindrücke auszulöschen?" Man b e w i e s die Anklage auch: „In Leipzig wurden vor zwei Jahren während der ersten Vorstellung dieses Trauerspiels im Theater und in der Stadt ansehnliche Summen gestohlen, welches natürlich viel Gerede verursachte und den dortigen Magistrat bewog, nach der zweiten Vorstellung die fernere Aufführung des Stückes in der Stille zu verbieten. So wenig sonst ein Verbot in Sachen des Geschmacks zu loben ist, so scheint doch dieses sehr guten Grund zu haben, . . . weil ich glaube, daß die Absicht des Schauspiels ist zu vergnügen, pöbelhafte Reden, welche in dem Stück vorkommen, durch die Vorstellung desselben, zu sehr unter junge Leute in Schwung kommen und daß gräßliche Schauspiele ein Volk ungesittet und das Herz junger Leute hart und zu Grausamkeit geneigt machen." Nicht genug damit, daß die Räuber zum Diebstahl anleiteten. Andere Anwälte der Zivilisation erzählten: „Ein Junge von 12 bis 14 Jahren wurde von dem romanhaften Charakter Karl Moors so hingerissen, daß er den andern Tag mit seinen Mitschülern eine Verschwörung machte, als Räuber zu Fuß durch die Welt zu streichen." Und im Leipziger Magazin der Philosophie und schönen Literatur 128

las man gar 1785: „In der Gegend von B a i e r n und S c h w a b e n rotteten sich vor nicht langer Zeit gefährlich schwärmende Jünglinge zusammen und wollten nichts Geringeres ausführen, als sich durch Mord und M o r d b r e n n e r e i auszuzeichnen und einen Namen zu machen oder dem großen Drange nachzugeben, R ä u b e r und M o r d b r e n n e r zu werden. - Und welcher Anlaß konnte solche Unglückliche, in der I m a g i n a t i o n v e r s e n g t e Menschen verleiten und sie auf den Grad von Ausschweifung bringen, wenn wir es aufs gelindeste benennen? Sie w o l l t e n Schillers Räuber realisieren." Das waren Mißverständnisse, die doch mehr Verständnis für das wirkliche Wesen des Dichters verrieten als die Totalbewunderung unserer bürgerlichen Schillerfeier von heute. Im Sinne der herrschenden Klassen seiner und noch mehr fast unserer Zeit ist Schiller die Unsittlichkeit und der Umsturz - zumal der junge Schiller. Das 18. Jahrhundert, das so urteilte, war dabei nicht einmal fromm. Schillers Verhältnis zur Religion begann mit jenem weichen Deismus, der das Jahrhundert der Aufklärung beherrschte. In der Kirche sah er stets nur die Organisation geistiger Tyrannei. Mit dem dogmatischen Aberwitz war er früh fertig, wenn er überhaupt jemals mit ihm belastet war. Sein Gottesglaube bestand zunächst in dem Glauben an ein gütiges Geschick. Er haßt die Zyniker, die an gar nichts glauben, was außerhalb ihrer Sinnlichkeit liegt: Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen. Wie Hellas in seinem Geist aufgeht, verfinstert sich ihm auch das vom Kirchentum losgelöste Christentum. In heidnischer Sehnsucht läßt er die Götter Griechenlands auferstehen: Damals trat kein gräßliches Gerippe vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß nahm das letzte Leben von der Lippe, still und traurig senkt ein Genius seine Fackel. Denselben christentumsfeindlichen Gedanken, der sich anlehnt an Lessings schöne Abhandlung, wie die Alten den Tod gebildet, wiederholt er später (1798): 11

JODas, Schiller-Debatte

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Die Urne und das Skelett In das Grab hinein pflanzte der menschliche Grieche noch Leben, und du töricht' Geschlecht stellst in das Leben den Tod. Der Gott des christlichen Zeitalters ist ihm der Zerstörer schöner Menschlichkeit: Nach der Geister schrecklichen Gesetzen richtete kein h e i l i g e r B a r b a r , dessen Augen Tränen nie benetzen. Das Blütenalter der Natur ist „von des Nordens winterlichem Wehn" vertrieben: von jenem lebenswarmen Bilde blieb nur das G e r i p p e mir zurück. E i n e n zu bereichern unter allen, Mußte diese Götterwelt vergehn. In immer neuen Bildern wird der finstere Gott der Christenheit gezeichnet: Freundlos, ohne Bruder, ohne Gleichen, Keiner Göttin, keiner Ird'schen Sohn, Herrscht ein Anderer in des Aethers Reichen, Auf Saturnus umgestürztem Thron. Da die Götter menschlicher noch waren, Waren Menschen göttlicher. Als der christlich verzückte und verstiegene Graf Stolberg sich wegen der Verherrlichung des griechischen Götterkults, als der Verbindung „gröbster Abgötterei mit dem traurigsten Atheismus", bekreuzigte, schnellte Schiller den Spottpfeil gegen ihn ab: Als du die griechischen Götter geschmäht, da warf dich Apollo Von dem Parnasse; dafür gehst du ins Himmelreich ein. Schillers Religion verdichtet sich schließlich zur reinen Gottesidee, die letzten Endes nichts anderes ist wie der Idealismus der reinen Menschheit: Nehmt die Gottheit auf in e u r e n W i l l e n , Und sie steigt von ihrem Weltenthron. Des Gesetzes strenge Fessel bindet Nur den Sklavensinn, der es verschmäht, Mit des Menschen Widerstand verschwindet Auch des Gottes Majestät. 130

In den Worten des Glaubens wird 1797 der Gedanke also geformt : Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,. Wie auch der menschliche wanke, Hoch über der Zeit und dem Räume webt Lebendig, der höchste Gedanke, Und ob alles in ewigem Wechsel kreist, Es beharrt im Wechsel ein ruhiger Geist. Allen denen aber, die dennoch den Versuch machen würden, ihn zu einem Kirchengläubigen zu erniedrigen, weil er seine Weltanschauung in der Gottesidee als der Menschheitsidee vollendete, wehrte er unzweideutig ab: Mein Glaube Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, Die du mir nennst! „Und warum keine?" Aus Religion. Schiller hat die beiden einzigen großen Revolutionsdramen unserer Literatur geschrieben, die Revolutionstragödie des Zusammenbruchs in Kabale und Liebe und das Revolutionsdrama der Erfüllung in Wilhelm Teil. Das eine kam in die Welt vor der großen Französischen Revolution, das andere, als sie bereits im Bonapartismus gestrandet. Während aber sein revolutionäres Ideal zur Wirklichkeit sich durchrang, war Schiller verständnislos, fast feindselig. Als seine Dichtung ins Leben zu treten schien, flüchtete sich Schiller, der Ehrenbürger der Französischen Republik, in die Welt des — Ideals. Zeuge des gewaltigsten Ereignisses der Weltgeschichte, verstummt und erblindet er. Keine seiner Schriften, nicht einmal seine Briefe, ahnen einen Hauch der unermeßlichen Zeit. Wenn Schiller auch nicht wie Goethe die Revolution mit platten Possen und stumpfen Stachelversen höhnte, so hatte er doch nichts für sie übrig wie schulmeisternde Worte des Grauens. In seinen kleinen Bemerkungen über den Wert der Ordnung, über die Weiber, die zu Hyänen werden, über die Tigerin, die das eiserne Gitter durchbrochen, entwurzelte er die Wurzeln seiner eigenen revolutionären Kraft und warf sich dem Philistertum zur Beute hin. Seltsam, fast unbegreiflich: Wenn Schiller schon über den „Greueln" der Revolution nicht ihr Wesen erkannte, wie konnte der Schöpfer des Karl Moor so völlig auch die Einsicht in die Würde des „Verbrechens" verlernen, das die Fesseln der Tyrannei zerbricht! if

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Hier wird die Anschmiegung an die Bedingungen der Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen war, sichtbar. Freilich, indem Schiller zur Welt, in der und von der er existierte, hinabglitt, brachte er das Fallen selbst in ein gewaltiges System, ohne doch den Sturz verheimlichen zu können. Es ist kein Zufall, daß sich die Weimaraner so unendlich verständnisloser gegenüber der Revolution zeigten als etwa die Königsberger. Die höfische Akklimatisation hatte ihre Opfer gewonnen. Die verhängnisvolle Entwickelung läßt sich in zwei, an sich unbedeutenden Begebnissen seines Lebens veranschaulichen und in ihren realen Ursachen erkennen. Im Jahre 1783 sollte Schiller in Mannheim eine „poetische Rede" zum Namenstage der Kurfürstin verfertigen. Wie er sich aus der Affäre zog, schreibt er mit vielem Vergnügen an Frau v. Wolzogen: „Kein Mensch kann sie brauchen, denn sie ist mehr Pasquill als Lobrede auf die beide Churfürstliche Personen. Weil es jetzt zu spät ist und man das Herz nicht hat, mir eine andere zuzumuten, wird die ganze Lumpen-fete eingestellt." Sechs Jahre später entsetzt sich derselbe Schiller in einem Brief an seinen Freund Körner über einen „Knabenstreich" Herders, in dessen Adern gärendes Jakobinerblut floß: „Bei der Tafel der Herzogin sprach er vom Hof und von Hofleuten und nannte den Hof einen G r i n d k o p f und die Hofleute die L ä u s e , die sich darauf herumtummeln. Dies geschah an Tafel und so, daß es mehrere hörten. Man muß sich dabei erinnern, daß er und seine Frau den Hof suchen und auch vorzüglich durch den Hof souteniert werden." Schiller hatte inzwischen gelernt, was man schuldig sei, wenn man höfisch souteniert wird. Nicht als ob diese Beeinflussung dem Dichter zum Bewußtsein gekommen wäre, es entwickelte sich alles ganz von selbst. Zur gleichen Zeit etwa, als er dem Bann der Höfe verfiel, fand er Kant, dessen Ästhetik ihm die systematische Vertiefung und gedankliche Veredelung auch seines Abwegs lieh. Er ward Kants Schüler und Prophet. So innig verschmolz er seinem Wesen die Weltanschauung des Philosophen — den niemand besser verstanden hat als Schiller —, daß er mit dem Erworbenen wie mit eigenem freien Eigentum fruchtbar zu schaffen und zu gestalten vermochte. Kants Philosophie empfing gewaltigen Rhythmus und künstlerische Bildkraft in Schillers philosophischen Gedichten, die in dem Allerheiligsten der Weltliteratur ihre Stätte haben 13?

und die, wie kein anderes Werk, das Problem einer Weltanschauungskunst vollendet zeigen. Kant errichtete, Grenzen setzend und Wege weisend, in wissenschaftlichem Ausmaß die drei Reiche des menschlichen Kulturbewußtseins: die reine Vernunft als die Schöpferin der Gesetze der Notwendigkeit in der Erfahrung der Natur; die praktische Vernunft als die Gesetzgeberin der Freiheit in der menschlichen Gesellschaft; die Vereinigung beider Reiche ist die Kunst, welche aus dem Gefühl empfangen, aufs Gefühl wirkend, die Welt der sittlichen Freiheit gleichsam als Naturerscheinung bildet. Schillers wie Kants sittlich-politischer Idealismus, der die Loslösung des auf sich selbst gestellten menschlichen Handelns von aller offenbarten Religion, als niedriger Polizeianstalt zur Züchtung moralischer Sklaverei, voraussetzt, empfängt Licht und Richtung von dem Endziel eines Zukunftsstaates, der die freie Gemeinschaft gleicher, zur Persönlichkeit entwickelter Weltbürger vollendet. Aus dieser Aufstellung eines revolutionären Ziels ergibt sich die grundsätzliche Verneinung des historisch gewordenen Staates der Willkür und Gewalt, dieses — im Sinne der zielweisenden Vernunft — „Notstaates", den Schiller im Gegensatz zu seinem idealen Vernunftstaat den Naturstaat nennt, dessen Überwindung ihm die eigentliche Aufgabe der Kulturarbeit der Menschheit ist. Die Kunst nun schafft im freien Spiel der Phantasie dieses Reich der sittlichen Freiheit als eine Art naturgesetzlicher Notwendigkeit, als Naturerscheinung. Schillers ästhetische Anschauungen waren von Anfang an vorbereitet für die Ästhetik Kants. Ihm war die Kunst niemals eine leere Belustigung, sie war ihm Anklägerin der Gesellschaft, Rächerin der beleidigten Menschheit, Verkünderin der Freiheit. In den vor dem Studium Kants verfaßten Künstlern (1789), dem Erhabensten, was je über Kunst gesagt, wird ihm die Kunst zur träumerisch schaffenden Mutter aller Menschlichkeit; im Spiel ahnt sie die Wissenschaft voraus, im Schlag richtet sie die Frevler an der Humanität, im Bild schaut und rüstet sie schöpferisch die Zukunft: Erhebet euch mit kühnem Flügel hoch über euren Zeitenlauf; f e r n d ä m m ' r e s c h o n in e u e r m S p i e g e l das kommende Jahrhundert auf. Und hier vollzieht sich die verhängnisvolle Wendung. Die Kunst wurde ihm aus der Helferin und Schöpferin des Lebens E r s a t z 133

des Lebens. Die Revolution des Handelns resignierte in der Welt des Schönen: Endlos liegt die W e l t vor deinen Blicken, Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum. Doch auf ihrem unermessnen Rücken Ist für zehen Glückliche nicht Raum. In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang. D a s war der müde Rechnungsabschluß Schillers an der Grenzscheide des revolutionärsten Jahrhunderts. A u s der Not wurde ihm ein System. Aus der Unmöglichkeit, im Kerker despotischer Kleinstaaterei, die ihn doch „soutenierte", den revolutionären Idealismus zu leben, flüchtete er in den revolutionären Idealismus seiner K u n s t als — Erziehung zu diesem Leben! I m März 1794 kündigte Schiller seine Monatsschrift Die Hören an, die sich über alles verbreiten sollte, „was mit Geschmack und philosophischem Geist behandelt werden kann". Aber, hob Schiller nachdrücklich hervor, sie werde sich „alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht". In einer anderen Ankündigung hieß es, daß das Journal sich alle „Beziehung auf den j e t z i g e n Weltlauf und die n ä c h s t e n Erwartungen der Menschheit" verbieten werde. Körner erkannte sofort, was hinter diesem feierlichen Verzicht steckte: Man entgehe dadurch, schrieb er, „vielen Unannehmlichkeiten: teils in Ansehung der Z e n s u r , teils in dem Verhältnis des Ausschusses zu den Mitarbeitern". Er, Körner, würde gegen alles sein, was Staat und Religion zerstöre. Das könnte als Beschränkung der Freimütigkeit erscheinen. Aber das schade nichts; denn man bedürfe gar nicht der Freimütigkeit, „wenn der Mensch auf dem Wege der Schönheit weitergekommen ist". Schiller hatte trotzdem ein lebendiges Gefühl, daß er mit der Beschränkung auf die ästhetische Welt eine anstößige Flucht aus einer großen Zeit vollzog. In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen rang er deutlich damit, diesen inneren Zwiespalt zu überbrücken. Er bog K a n t s Ä s t h e t i k ganz unkantisch um. K a n t hat niemals die ästhetische Bildung als eine Vorschule des politisch-sittlichen Handelns aufgefaßt. Gegen alle Bedenken, ob die Menschheit schon reif sei für den Vernunftstaat, richtete er die schlichte tapfere Erkenntnis: Der Mensch

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müsse zuvörderst in Freiheit gesetzt werden, wenn er die Freiheit gebrauchen lernen solle. Schiller aber fand in dem Mißtrauen gegen die Freiheitsreife der handelnden Menschen — sie durften nicht reif sein in einem Lande des despotisch-patriarchalischen, bürokratisch-polizeilichen Regiments — das Mittel, um die Notwendigkeit seiner gesellschaftlichen Existenz mit seinem revolutionären Idealismus zu versöhnen: Wenn denn die Kunst ahnende Schöpferin des Lebens sein sollte, mußte Erziehung durch sie nicht die Voraussetzung revolutionärer Wirklichkeit sein? So wurde der revolutionäre Idealismus der T a t vertagt und die Menschheit zunächst in die Schule der Kunst geschickt. Statt der gemeinsamen, in Wechselwirkung sich ergänzenden sittlich-politischen u n d künstlerischen Arbeit' verdrängte die Ästhetik die in der P r a x i s unerlaubte revolutionäre H a n d l u n g , auch grundsätzlich. Die Kunst wurde die Betätigung des revolutionären Idealismus. Wohl fühlt Schiller, daß eigentlich „der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeit so nachdrücklich aufgefordert wird, s i c h m i t dem v o l l k o m m e n s t e n a l l e r K u n s t w e r k e , m i t dem B a u e i n e r w a h r e n p o l i t i s c h e n F r e i h e i t zu b e s c h ä f t i g e n " : „Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmannes auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Verrät es nicht eine tadelnswerte Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu teilen? . . . Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkeren beantwortet wurde, ist nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Vernunft anhängig gemacht." Radikal gesteht Schiller in den ästhetischen Briefen in einer fast an heutige sozialistische Kritik anklingenden Weise zu, daß es die unveräußerliche Aufgabe sei, den „Naturstaat" der Gegenwart zu revolutionieren, diesen Staat, dessen sinnlose, feindselige, verderbliche Widersprüche er schildert: „Der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er antreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft." 135

Aber dieser Weg zur Freiheit kann, so biegt Schiller die große Idee um, nicht s o f o r t gegangen werden: „In den niederen und zahlreicheren Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen . . . Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück." Also muß die Menschheit erst erzogen werden, also muß man, „um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das Ästhetische den Weg nehmen", „weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert". Dermaßen stieg die Kunst zu ihrer höchsten Würde, und indem sie sich vermaß, das Leben für den Zukunftsstaat zu erziehen, stieß sie den Anspruch und die Kraft des Lebens selbst in das erhabene Nichts eines stolzen Traums. Zugleich zog sich die Kunst selbst aus der Unmittelbarkeit des Lebens zurück. Durch Schleier und Hüllen sprach sie in den Bildern einer phantastischen Vergangenheit zur Zukunft. Nicht als ob Schiller kein Auge für das lebendige Dasein seiner Zeit gehabt hätte. In den philosophischen Gedichten gestaltet er die Zustände seiner Zeit zu klarster Anschaulichkeit. Er plant sogar ein Epos unmittelbarer Gegenwart, eine Friedriciade; an der Idee zog ihn an, daß „unsere Sitten, der feinste Duft unserer Philosophie, unsere Verfassungen, Häuslichkeit, Künste" auf Grund eines „tiefen Studiums unserer Zeit" dargestellt werden könnten. „Wie interessant müßte es sein (schreibt Schiller an Körner) die europäischen Hauptnationen, ihr Nationalgepräge, ihre Verfassungen, und in sechs bis acht Versen ihre Geschichte anschauend darzustellen! Welches Interesse für die jetzige Zeit! Statistik, Handel, Landeskultur, Religion, Gesetzgebung: Alles dies könnte oft mit drei Worten lebendig dargestellt werden. Der deutsche Reichstag, das Parlament in England, das Conclave in Rom usw. Ein schönes Denkmal würde auch V o l t a i r e d a r i n e r h a l t e n . Was es mir a u c h k o s t e n m ö c h t e , ich würde den f r e i e n D e n k e r v o r z ü g l i c h d a r i n in G l o r i e stellen, und das ganze Gedicht müßte dies Gepräge tragen." Er gibt den Gedanken auf aus dem Grunde, weil er den Charakter Friedrichs II. nicht lieb gewinnen könne; „er begeistert mich nicht genug, die Riesenarbeit der Idealisierung an ihm vorzunehmen." 136

Der Zwang der Umstände, unter denen Schiller leben mußte, lenkt schließlich selbst unbewußt die Forderungen seines künstlerischen Stils. So ward die Bahn frei für die Schillerschändung der bürgerlichen Epigonen. Auf ihn beriefen sich die blutarmen Schwächlinge, welche aus der Roheit der Politik in die Stille der Kunst naserümpfend retirierten. Der revolutionäre Idealismus, der die Zukunftsgesellschaft gebieterisch fordert, wurde zur gaukelnden, unverbindlichen Phrase. Seine welthämmernde Ethik wurde zu platter moralisierender Heuchelei. Vergebens hatte Schiller versucht, die Mißverständnisse abzuwehren, die ewigen Tugendschwätzer gehöhnt, die flachen Moralisten gegeißelt und denen, die den Hunger mit moralischer Salbaderei zu betrügen suchten, das umstürzende Wort zugerufen: Würde des Menschen: Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen g e b t ihnen, zu wohnen. H a b t i h r die B l ö ß e b e d e c k t , g i b t sich die W ü r d e von s e l b s t . Der jämmerliche deutsche Liberalismus verkrüppelte den großen Stürmer nach seinem kleinen Bilde. In Schiller vereinigt sich alles, was das deutsche Bürgertum an revolutionärer Kulturkraft aufgebracht hat. Die deutsche bürgerliche Kultur erschöpft sich in der deutschen Kunst, die zwar gerade deshalb sich so mächtig entfaltete, weil sie eben der Ersatz einer Kultur der Wirklichkeit war; die aber andererseits, in sich genügsam und isoliert, schließlich nicht, wie gedacht, Erziehung zur Wirklichkeit, sondern Ablenkung von ihr ward. In dem Geschick der bürgerlichen Revolution in Deutschland wiederholt sich der Bruch, der Schillers Kraft und Wirkung spaltete. Die Höhe erreicht Schillers Mission in den Frühlingsstürmen von 1848, und noch einmal in der tiefen Reaktionszeit ward die Jahrhundertfeier seiner Geburt — 1859 — zu der packenden Demonstration aller Deutschen, die in seiner Kunst die Freiheit und Einheit Deutschlands verwirklicht sahen. Schillers Ruhm wäre sicherer gewahrt, wenn man ihn unter den Märzgefallenen verachtet beseitigt hätte. Die Märzfeier ist die Huldigung, die er verdiente. Wenn an diesem Mai aber die offizielle deutsche Welt den Namen des Großen vor ihre Blöße zerrt, 137

so hat diesen Verehrern Schiller selbst das Brandmal aufgedrückt : O wie viel neue Feinde der Wahrheit! Mir blutet die Seele, Seh ich das Eulengeschlecht, das zu dem Lichte sich drängt.

John Schikowski Schiller auf dem Theater Was weder Lessing, dem großen Reformator der deutschen Schaubühne, noch Goethe und den Stürmern und Drängern gelungen war, das brachte der junge Schiller mit seinem dramatischen Erstlingswerk zustande: er stellte das Theater in den Mittelpunkt des literarischen Interesses. Man kann sich von dem ungeheuerlichen Eindruck der iiäMÖer-Premiere heute nur schwer einen Begriff machen. Am 13. Januar 1782 ging das Drama auf der Mannheimer Nationalbühne zum erstenmal in Szene. „Das Theater" — erzählt ein Augenzeuge — „glich einem Irrenhause. Rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung, wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!" Die nörgelnden Einwände der Kritik blieben wirkungslos. Vergebens sprach sie die Hoffnung aus, „das Parterre werde binnen kurzem selbst zur Einsicht kommen und diesem Räuber- und Mörderstück den Garaus machen", vergebens versicherte sie, dieses „schauderhafte Produkt unserer Muse" könne „seines empörenden Inhalts wegen" unmöglich anhaltenden Beifall behaupten. Das Publikum war anderer Meinung als die zünftigen Hüter der ästhetischen Gesetze, die den jungen Autor belehrend auf Lessings Hamburgische Dramaturgie verwiesen — das Publikum blieb dem kühnen Poeten treu, der dem Sehnen und Hoffen der Zeit so gewaltig hinreißenden Ausdruck gegeben hatte. Und der Poet hing an seinem Publikum. Nicht eine Reform des Geschmackes, nicht eine Umwälzung in der Bühnenkunst erträumte der junge Revolutionär. Sein Streben ging vor allem dahin, die Psychologie der Zuscliauer138

menge zu erforschen, die die Theater füllt, die Bedingungen kennenzulernen, unter denen Wort und Aktion auf der Bühne wirksam werden. Das Theaterblut, der Theaterinstinkt, der ihm von Natur eigen war, wies ihn in erster Linie auf das Studium der dramatischen Technik. Es mag uns heute wohl seltsam berühren, wenn wir aus Schillers Jugendbriefen ersehen, mit welcher nüchternen Berechnung der Feuerkopf sich die Kenntnis der formalen dramaturgischen Elementargesetze anzueignen suchte. Aber er t a t recht daran, vor allem erst die Waffen zu prüfen und ihren Gebrauch zu erlernen, bevor er in den Kampf schritt. Schiller wurde einer der sichersten Techniker, einer der glänzendsten theatralischen Komponisten aller Zeiten. Aber die virtuose Mache allein hätte ihn nicht zum Siege führen können. Was ihn von seinem ersten Auftreten an zum volkstümlichsten Dramatiker der Deutschen machte, das war vor allem der Umstand, daß er die Szene als Spiegel der Zeit, als gewaltiges Sprachrohr des Zeitgeistes zu benutzen verstand. Alle Schillerschen Dramen sind Tendenzdramen im höchsten Sinne des Wortes. Als echter Sohn des Zeitalters der Moral betrachtete er die Schaubühne zunächst als eine moralische Anstalt, deren Amt es ist, die weltliche Gerechtigkeit zu unterstützen, indem sie dort, wo das Gebiet der staatlichen Gesetze endigt, ihre Rechtsprechung anheben läßt, indem sie die Laster straft, die die Justiz duldet, und Tugenden empfiehlt, von denen jene schweigt. Die Schaubühne ist ihm der „gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet; richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volkes; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht". Von der religiös-moralischen Weltanschauung, die in den Räubern, dem Fiesco und Kabale und Liebe Ausdruck fand, schritt Schiller dann zu einer höheren, philosophisch-ästhetischen, fort. Das Studium der Kantschen Philosophie hatte ihn auf diesen Weg geführt, und das Resultat war die Erkenntnis, daß an Stelle des Moralprinzips die Schönheit als höchstes Gesetz des menschlichen Daseins zu betrachten und die Kunst das einzige Mittel sei, den Menschen zum Bürger des Vernunftstaates zu erziehen. Während der Dichter diesen Anschauungen in seinen philosophischen Schriften den klarsten und formvollendetsten Ausdruck gegeben hat, ist es ihm nicht immer gelungen, seine Prinzipien auf 139

der Bühne in rein künstlerische Formen umzuprägen. In allen seinen Dramen tritt neben dem gestaltenden Poeten immer wieder der plädierende Rhetoriker, der Volksredner und Sittenprediger. Freilich waren es die gewaltigsten Ideen der Zeit, zu deren pathetischem Verkünder er sich machte. Was das Zeitalter der Aufklärung, was Rousseau und die große Französische Revolution an neuen Problemen, neuen Gedankengängen, neuen Erkenntnissen und neuen Idealen gezeitigt hatten, das wurde von der deutschen Schaubühne herab in den tönenden Rhythmen Schillers der großen Masse des Volkes offenbart. Volkserzieher wollte der Dichter vor allem sein und erst in zweiter Linie Künstler. Und dies ist der hauptsächlichste Grund, weshalb Schiller auf dem Theater unserer Tage nicht mehr die gleiche Wirkung ausübt wie früher. Das Zeitalter des Marquis von Posa ist vorüber. Eine objektive künstlerische Darstellung, die uns über das Wesen der Dinge aufklärt, vermag auf diesem indirekten Wege durch diskretere, intimere Mittel unseren Willen heute ungleich stärker zu beeinflussen als der kategorische Imperativ des Moralisten. Das Goethesche „Bilde, Künstler! rede nicht!" entspricht besser dem Empfinden der Zeit, die für das ethische Pathos Schillers keine rechte Empfänglichkeit mehr besitzt. So konnte es kommen, daß ein Mann wie Nietzsche unseren trotz alledem populärsten Theatraliker als „Moraltrompeter von Säkkingen" verspottete und daß die junge naturalistische Schule in der deutschen Dramatik ihn mit den schärfsten Angriffen, mit zum Teil maßlosen Beschimpfungen überhäufte. Durch seine Epigonen namentlich war Schiller in Mißkredit gekommen. Ein Heer von theatralischen Phrasendreschern, die sich ihn angeblich zum Vorbild erkoren hatten, überschwemmte jahrzehntelang den Markt mit lebensfremden Bücherdramen und beherrschte die Bühne, soweit diese sich damals überhaupt noch ernsteren Aufgaben zuwandte. Als dann die neue Strömung kam, wollte sie im ersten ungestümen Anprall zugleich mit diesen Ausartungen der pathetischen Jambendramatik auch den vermeintlichen Nährvater der Richtung hin wegschwemmen. Es ist ihr nicht gelungen. Der Naturalismus stirbt ab, aber Schiller blieb lebendig. Aber wenn auch manche formale Äußerlichkeiten der Schillerschen Dramatik nicht mehr auf die moderne Bühne passen mögen — von dem reinen, heiligen Feuer, das diese Werke schuf, wäre auch den Bühnendichtern von heute ein Fünklein zu wünschen. Denn unser Theater, das in tausend Äußerlichkeiten und Neben140

sächlichkeiten ein künstlerisches Raffinement entwickelt, von dem man zu Schillers Zeiten keine Ahnung hatte, ist in dem, was not tut, trostlos verflacht und versimpelt. Wer wagt es heute überhaupt noch, auf den weltbedeutenden Brettern ein getreues, umfassendes Spiegelbild der Zeit zu geben? Kleine bourgeoise Schmerzen und Hoffnungen mögen ihren Ausdruck finden. Die tiefsten und folgenschwersten Regungen des Zeitgeistes aber kommen auf der deutschen Bühne von heute überhaupt nicht zu Wort. Das Ringen und Sehnen nach geistiger, politischer und sozialer Befreiung ist gegenwärtig sicherlich ebenso stark wie in der Zeit, da Schiller, sieben Jahre vor dem Ausbruch der großen Revolution, seine Stimme erhob. Eine Überfülle von fruchtbaren neuen Stoffen und Ideen harrt der dramatischen Gestaltung. Aber vergebens blicken wir nach dem Genius aus, der dem Sehnen und Ringen des Volkes kraftvollen, restlosen Ausdruck leiht.

Eduard David Schiller und die Schule Es wird kaum ein neueres deutsches Schullesebuch geben, in dem nicht irgend etwas von Schiller zu finden wäre. Herzlich wenig ist's freilich zumeist in den Lesebüchern für die Volksschule. Ein paar Gedichte: Mit dem Pfeil dem Bogen, Von Perlen baut sich eine Brücke und einige andere Kleinigkeiten genügen den Zusammenstellern, um das Volk mit Schiller bekannt zu machen. Es gibt ja auch so viele herrlichere Schätze der Poesie — z. B. Reinickes frömmelnde Lieder für die Jugend oder die patriotischen Machwerke moderner Hofpoeten —, die unbedingt mehr Anspruch darauf haben, dem heraufkommenden Geschlecht ins Herz geprägt zu werden, als die immerhin nicht ganz ungefährlichen Gaben Schillerschen Geistes. Da muß weise Vorsicht, ernst prüfender pädagogischer Sinn walten, damit möglichst dürftige und nur ganz „einwandfreie" Kostproben verabfolgt werden. Der Geist des weiland preußischen Kultusministers v. Raumer, der die sogenannte „klassische Literatur" aus der Privatlektüre der Seminaristen ausgeächlössen wissen wollte, geht heute noch 141

in den Volksschullesebüchern um. Aufnahme findet nur, „was nach Inhalt und Tendenz kirchliches Leben, christliche Sitte, Patriotismus und sinnige Betrachtung der Natur zu fördern geeignet ist", wie es in der Raumerschen Verfügung hieß. Außerdem: was bleibt denn in der Volksschule für Zeit übrig zur Pflege von „weltlicher" Literatur und Dichtung? Der Lehrer ist froh, wenn er seiner Herde von 60, 80, 100 Schülern die erdrückende Masse von alt- und neutestamentlichen Geschichten, Katechismusstücken, Bibelversen und Gesangbuchliedern einigermaßen eingepaukt hat. Das ist bei der Prüfung die Hauptsache für das Fortkommen der Schüler und mehr noch für das des Lehrers. In zweiter Linie rangieren Rechnen, Schreiben, Lesen und einige Realien. Die „profane" Poesie aber kommt zu allerletzt. Sie ist Luxus, gefährlicher und verbotener Luxus sogar, sofern sie geeignet ist, das pädagogische Resultat zu erschüttern, das Ibsen mit den Worten geißelt: Durch Schläge aufs Gehirn betäubt Hat er das Kind. Und sieh': es gläubt! — Auf den höheren Schulen, Gymnasien, Realschulen usw. wird Schiller in größeren Dosen verabfolgt. Zwar eifert die katholische und protestantische Orthodoxie auch gegen die Vergiftung der „höheren" Jugend. Allein hier ist das pädagogische Ideal der humanistisch-formalen Geistesbildung, das sich aus dem Betrieb der griechischen und lateinischen Sprache herleitete und das in der deutschen klassischen Dichtung seine natürliche Ergänzung findet, zu stark eingewurzelt, als daß es so leicht ausgerottet werden könnte. Hand in Hand mit der Orthodoxie kämpft auch der moderne Hurra-Patriotismus mit seinem chauvinistisch-militaristischen Ideenhimmel neuerdings heftig an gegen den humanistischen Bildungsgehalt der griechisch-römischen und der deutschen klassischen Literatur. Nicht ohne Erfolg bei vielen dafür veranlagten Individuen, die schon auf der Schule an die künftige Karriere denken! Aber innerlich hat diese gedankenarme Thronund Altar-Ideologie neuester Auflage doch einen schweren Stand in diesem Kampf um die Seele der Jugend. Den Dank dafür schulden wir nicht in letzter Linie Friedrich Schiller. In tyrannos! Nieder mit den Tyrannen! Das war das Motto, das der achtzehnjährige Dichterjüngling auf sein kühnes Erstlingswerk Die Räuber setzte. Fiesco, Kabale und Liebe, Don Carlos atmen denselben Geist. Und das reifste Werk des Dichters, Teil, das er ein Jahr vor seinem Tode vollendete, ist ein Hochgesang 142

auf die Revolution, als die ultima ratio des Volkes, wenn alles andere versagt. Da hilft keine beschönigende Sophistik. Schiller scheut hier nicht davor zurück, selbst den politischen Mord von dem Grundsatz aus zu rechtfertigen, daß der Zweck unter Umständen auch das sonst verabscheuenswerteste Mittel heilige. Die Tat Teils erscheint ihm groß und gut, weil sie nach Lage der Verhältnisse notwendig geworden war zur glücklichen Durchführung des Befreiungswerkes. Das republikanische Ideal der freien Selbstbestimmung des Volkes über seine höchsten Angelegenheiten wird als berechtigtes Ziel politischen Strebens unumwunden und mit flammender Begeisterung gefeiert. Der froh bejahende Freiheits- und Fortschrittsidealismus ist es, der die Dichtungen Schillers der gesunden Jugend so nahe rückt, sie ihr so faßbar und lieb macht. Wie ein berauschender Trank geht ihr der poesieverklärte Lebensoptimismus ein, der aus der Tiefe seiner Seele quillt. Wie groß muß das Maß von idealistischer Lebensbejahung in Schiller gewesen sein, daß es in dem jahrelangen bitteren Tageskampf gegen materielle Not und Sorge nicht versiegte. Man wird Schiller nie gerecht, wenn man sich nicht des Druckes bewußt bleibt, der auf der besten Zeit seines Schaffens lastete. In dem Briefe, den er Ausgang des Jahres 1791 an Jens Baggesen, anläßlich des hochherzigen Anerbietens seiner beiden nordischen Gönner, schrieb, zieht er den Schleier von der Misere seiner Dichterexistenz weg. Er schreibt dort: „Unreif und tief unter dem Ideal, das in mir lebendig war, sehe ich jetzt alles, was ich zur Welt brachte; bei aller geahnten möglichen Vollkommenheit mußte ich mit der unzeitigen Frucht vor die Augen des Publikums eilen, der Lehre selbst so bedürftig, mich wider meinen Willen zum Lehrer der Menschen aufwerfen. Jedes unter so ungünstigen Umständen nur leidlich gelungene Produkt ließ mich nur desto empfindlicher fühlen, wie viele Keime das Schicksal in mir unterdrückte. Traurig machten mich die Meisterstücke anderer Schriftsteller, weil ich die Hoffnung aufgab, ihrer glücklichen Muse teilhaftig zu werden, in der allein die Werke des Genies reifen. Was hätte ich nicht um zwei oder drei stille Jahre gegeben, die ich, frei von schriftstellerischer Arbeit, bloß dem Studieren, bloß der Ausbildung meiner Begriffe, der Zeitigung meiner Ideale hätte widmen können? Zugleich die strengen Forderungen der Kunst zu befriedigen und seinem schriftstellerischen Fleiße auch nur die notwendigste Unterstützung zu verschaffen, ist in unserer deutschen literarischen Welt, wie ich endlich weiß, unvereinbar. 143

Zehn Jahre habe ich mich angestrengt, beides zu vereinigen; aber es nur einigermaßen möglich zu machen, kostete mir die Gesundheit." Diese ergreifende Klage läßt verstehen, was Schiller als Mensch gelitten. Der kritische Maßstab, den er an seine eigenen Werke legte, zu denen damals schon Don Carlos gehörte, der Abstand, den er zwischen seinem Wollen und Vollbringen empfand, zeigt aber auch seine geistige und künstlerische Größe. Daß er keine bloßen Worte machte, daß es ihm nicht am inneren Können mangelte, das bewies sein ferneres, durch philosophische Studien vertieftes Schaffen. In dem letzten Jahrzehnt seines Lebens reift auch das ihm eigene prachtvolle Pathos der Sprache zu jener künstlerisch geläuterten Form aus, die das Entzücken jedes deklamatorisch veranlagten Jünglings bildet. Schillers Sprache vereinigt dichterische Phantasie mit philosophischer Prägnanz der Gedankenoffenbarung. Sie ist kristallklar, leuchtend bis auf den Grund. Das macht sie besonders wertvoll für die Erziehung der Jugend. Den bildnerischen Einfluß, den Schillers Balladen und Dramen auf die deutsche Sprache ausgeübt haben und noch ausüben, kann man nicht hoch genug anschlagen. Die daraus stammenden Sentenzen, Wendungen und Wortbilder, die sprachliches Gemeingut geworden sind, sind nicht zu zählen. Höher als dies aber ist die allgemeine Schärfung des Sinnes für bildlich schöne, plastisch klare Ausdrucksweise einzuschätzen, die von den Schillerschen Dichtungen ausgegangen ist. Schiller selbst aber empfand diese klare, nichts verbergende Sprache nicht als die dichterisch höchste Kunstform. Eines seiner Dystichen lautet: Jeden anderen Meister erkennt man an dem, was er ausspricht ; Was er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils. Das war die Goethesche Art, die Schiller als die höhere erachtete und neidlos bewunderte. Goethe schätzte Schiller nicht minder als dieser ihn; ei empfand die natürliche Stärke und die philosophische Tiefe des Schillerschen Dichtergenies als ein läuterndes und belebendes Element seines eigenen dichterischen Schaffens. In einem seiner Briefe an den Freund spricht er das offen aus, indem er schreibt: „Sie haben mich die Vielseitigkeit des inneren Menschen mit mehr Billigkeit anzuschauen gelehrt, Sie haben mir eine zweite Jugend ver144

schafft und mich wieder zum Dichter gemacht, welches zu sein ich schon so gut als aufgehört hatte." Es scheint, daß gewisse moderne Geister schon zu sehr gealtert sind, als daß Schiller auch ihnen eine „zweite Jugend" zu geben vermöchte. D a ist nichts zu machen. Wir anderen dagegen wollen uns wie Goethe auch im fortgeschrittenen Alter des geistigen Verkehrs mit Schiller nicht entschlagen. Das heranwachsende Geschlecht aber geleite seinen Genius auf die Höhe des Lebens.

H[ermann]

Molkenbuhr

Schillers Einfluß auf die Agitation der Sozialdemokraten Das Jahr 1859 hatte mit Schillers hundertjährigem Geburtstag eine in Deutschland seltene Feier gebracht. Wenn es auch in erster Linie galt, den gewaltigen Dichter zu feiern, so hatte die Feier doch einen politischen Beigeschmack. Die Feier war ein Protest gegen die Kleinstaaterei. In der Verehrung Schillers waren alle Deutschen einig. Die Schillerfeier hatte den Dichter auch dem Volke näher gebracht. In Großstädten, wie z. B . in Hamburg, hatte man große Umzüge veranstaltet; alle Handwerke waren mit Fahnen und Emblemen ausgezogen; keine Krankenkasse und kein Gesangverein war zurückgeblieben. Schiller war der Dichter des Volkes. Seine Werke aber waren in Arbeiterkreisen weniger bekannt. Zwar hatten die meisten Arbeiterkinder in der Schule einige Balladen — Der Taucher, Die Bürgschaft, Der Kampf mit dem Drachen usw. — gelesen, manche auch später im Theater einige Stücke von Schiller gesehen, aber die sämtlichen Werke waren den Arbeitern unbekannt. Hierin trat Anfang der sechziger Jahre eine Änderung ein. Einige billige Ausgaben von Schillers sämtlichen Werken waren erschienen und auch teilweise von Arbeitern gekauft worden. Jetzt kam die Lassallesche Agitation, die einige bei der 12

Jonas, Schiller-Debatte

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Schillerfeier gepflanzte Keime zum Wachsen brachte, und der bei dieser Feier gepredigte Idealismus bekam neue Nahrung. Lassalle hatte in seiner Schrift Die Feste, die Presse die liberalen Zeitungen verurteilt, in seinem Julian Schmidt hatte er die liberalen Plattheiten bekämpft. Die eifrigen Anhänger Lassalles folgten seinen Weisungen und verschmähten es, solche Schriften zu lesen, die Lassalle als minderwertig oder gar als Gift bezeichnet hatte. Das Lebensbedürfnis aber sollte befriedigt werden, und nun griff man zu Schiller, den ja auch Lassalle als einen der Besten bezeichnet hatte. Durch Lassalle war Schiller auch den Arbeitern näher gebracht. Mit heißem Bemühen hatten viele Arbeiter das Arbeiterprogramm wiederholt durchstudiert. Hierdurch hatte man sich daran gewöhnt, Geschichtsphilosophie zu treiben. Nun fanden die Arbeiter in Schillers kleinen Aufsätzen eine ganze Anzahl Schriften, die zum Nachdenken anregten. Von den kleinen Aufsätzen ging man dazu über, die größeren Geschichtswerke zu studieren. In verschiedenen Zigarrenfabriken wurden die Werke des großen Dichters vorgelesen und über die Sätze, die man nicht verstanden hatte, oft stundenlang diskutiert. Dieses Studium brachte es mit sich, daß nun auch die Dramen mit ganz anderen Augen angesehen wurden. Hatte früher das spannende Sujet das größte Interesse wachgerufen, so fand man jetzt eine große Anzahl für die Agitation brauchbare Stellen. Schiller wurde nun der Apostel der Unterdrückten, der Dichter des nach Freiheit strebenden Volkes. Man begriff nun, weshalb Lassalle im Bastiat-Schulze gesagt hatte, daß die Herrschenden Schillers Werke verbrennen würden, wenn sie dieselben gelesen hätten. Den Umschwung in der Denkweise der Arbeiter konnte man am besten ermessen, wenn man die Darstellung nebeneinander stellte, die vor Eindringen des Sozialismus und nachher ein Arbeiter von einem Schillerschen Drama gab. Hatte früher jemand einen Freund für Die Räuber, Fiesco, Kabale und Liebe oder sonst ein Stück zu begeistern gesucht, dann schilderte er wohl recht anschaulich das Aufregende der Handlung. Ganz anders machten es die zum Sozialismus bekehrten Arbeiter. Sie vergaßen keinen Satz, der sich gegen die Unterdrücker wendet. Die Schufte Franz Moor, Spiegelberg, Wurm usw. waren ihnen jetzt weit gleichgiltigere Personen geworden. Jetzt hatte sich jeder eine Anzahl 146

Sätze gemerkt, die er wörtlich wiedergab, um zu beweisen, daß auch Schiller schon dem großen Ideale zustrebte, für welches die Sozialdemokraten kämpften. Durch das Studium von Kabale und Liebe erkannte man jetzt, wie man in den Kreisen der Herrschaften über das Volk denkt. In der prächtigen Schilderung, die Max Piccolomini von den Greueln des Krieges und den Segnungen des Friedens gibt, fand man Waffen zur Bekämpfung des Militarismus. Don Carlos lieferte Waffen zur Bekämpfung der Pfäfferei und für das Streben nach Gedankenfreiheit, und im Teil erkannte man, daß der Dichter auch dem Volke das Recht gibt, sich vom Drucke zu befreien. Der Idealismus wurde durch Schiller angeregt und gehoben. Diesen bedurften die ersten Sozialisten mehr als jetzt. Vorläufig war es nötig, die Massen zu begeistern für das große Werk. Die scharfe Kritik der bestehenden Zustände trat weniger hervor, Marx' Kapital war noch nicht erschienen, der Kapitalismus war noch nicht soweit entwickelt, und der Klassencharakter der Gesetzgebung war noch nicht so ausgeprägt wie jetzt. Zwar fühlte man den politischen und wirtschaftlichen Druck, und darum war die ganze Agitation mehr ein Appell an das Empfinden als an den Verstand. Wollte man die Massen begeistern, dann mußte man bei jenem gewaltigen Dichter lernen, der schon vor einem Jahrhundert die Massen begeistert hatte. Man kann die Anfänge der sozialistischen Agitation als Schule des Idealismus bezeichnen. Die Massen, die sonst ein Dasein wie Lasttiere geführt hatten, fingen an, sich für höhere Dinge zu interessieren. Was lag näher als die Tatsache, daß der größte Idealist nun auch den größten Eindruck auf die Massen machte. Er wirkte als Apostel des Idealismus. Darin liegt eben die Größe jener Dichter, daß sie noch modern erscheinen, wenn sie längst verstorben sind und im Laufe der Zeit ganz andere politische und soziale Verhältnisse entstanden sind, als sie in der Zeit waren, in der der Dichter lebte. Schiller suchte den Idealismus zu pflegen, und wohl nie ist der Idealismus heller empor gelodert als in den Anfängen der sozialistischen Bewegung. Hier fand der Idealismus Vertreter in den breiten Schichten des Volkes. Es war ganz jungfräulicher Boden, auf den er angepflanzt wurde, und darum zeitigte er so schöne Früchte.

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IV.

Karl Kautsky Die Rebellionen in Schillers Dramen i. Schülers Dramen vor der Revolution Wenn am nächsten 9. Mai Schiller von allen Klassen und Parteien Deutschlands — abgesehen von ein paar verbohrten Zeloten — einmütig und begeistert gefeiert wird, so liegt darin sicher viel Gemachtes und Geheucheltes; der Enthusiasmus, den die deutsche Bourgeoisie am hundertsten Todestag Schillers entfaltet, ist weit mehr ein künstliches Gewächs als jener, mit dem sie seinen hundertsten Geburtstag beging. Um 1859 stand sie vor dem Höhepunkt ihres politischen Aufstiegs, wo sie dem Triumph jener Ideale, deren beredtesten Herold sie in Schiller sah, sich am nächsten glaubte. Seitdem aber hat sie eines dieser Ideale nach dem anderen als hindernden Ballast von sich abgeworfen, hat sie sich zur „Realpolitik" bekehrt, zu jener Politik, die sich nur um das Morgen kümmert und die Frage nach dem Übermorgen schon als eine unbequeme und überflüssige abweist: die richtige Politik für eine Klasse, die keine großen Ziele mehr hat, an ihre eigene Zukunft nicht mehr glaubt. Die großen und stolzen Ziele, welche die Bourgeoisie bei ihrem politischen Aufstieg sich setzte, sind für sie zu bloßen Redensarten geworden, die man gedankenlos nachschwätzt, wie für manchen „Christen" die Religion zu bloßer Redensart geworden ist, über die man selbst schon sich erhaben dünkt, die aber dem Volke noch erhalten bleiben muß, das man dadurch besser zu zügeln hofft. So rechnet der „aufgeklärte", „moderne" Bourgeois heute Schiller zu den Nationalheiligen, an 149

die er selbst nicht mehr glaubt, deren Kultus er aber gewohnheitsmäßig fortsetzt, zum Teil in der Erwartung, daß sie gut sind für Kinder und für das Volk, die aus ihnen Vertrauen in die sittliche Weltordnung und den Glauben an die jugendliche Kraft der Schlagworte des Liberalismus saugen sollen. Aber je mehr man sich unter den gesellschaftlichen Klassen Deutschlands dem denkenden und kämpfenden Proletariat nähert, desto wahrer, desto lebendiger wird die Begeisterung der Schillerfeier. Es gibt sicher keinen deutschen Dramatiker, der so volkstümlich geworden ist wie Schiller. Daß er dies wurde, verdankt er aber vor allem dem rebellischen Inhalt so vieler seiner Dramen, der den rebellischen Neigungen der arbeitenden Klassen so vortrefflich entspricht. Von ihrem r e b e l l i s c h e n , nicht ihrem r e v o l u t i o n ä r e n Inhalt ist hier die Rede. Sicher war Schiller auch ein Revolutionär; unter den Idealen, die die aufsteigende bürgerliche Welt im Gegensatz zur Weltordnung, die sie vorfand, entwickelte, waren auch die seinen zu finden. Aber das ist es nicht, was Schiller besonders kennzeichnet. Was ihn jedoch über die anderen Dramatiker Deutschlands nach der politischen Seite hervorhebt — und nur von dieser, nicht von der ästhetischen sprechen wir hier —, das ist sein Interesse für die Rebellion, für die Auflehnung gegen die angestammteObrigkeit. Immer und immer wieder behandelt er dies Thema, und er variiert es in der mannigfachsten Art. Den Ursachen dieses Rebellentums nachzuforschen und es in seine Einzelheiten zu verfolgen, liegt nicht im Plane meiner Ausführungen. Es würde dies zu einer materialistischen Erklärung des ganzen dramatischen Schaffens Schillers werden müssen, eine Aufgabe, die ich gerne kompetenteren Federn überlasse, ebenso wie die ästhetische Würdigung des Schillerschen Wirkens. 1 Ich habe hier bloß die Absicht, die Formen zu untersuchen, die die Rebellion in den einzelnen Dramen Schillers annimmt, um daraus Schlüsse auf seine revolutionäre Eigenart zu ziehen. Nur eine Frage sei hier noch berührt, bevor ich an diese Untersuchung gehe, die Frage, ob das dramatische Genie bei Schiller nicht auch in einem Zusammenhang mit seinem revolutionären Temperament steht. Das Drama und die Revolution sind einander insofern verwandt, als beide Katastrophen darstellen, die 1 Vorliegender Artikel wurde geschrieben, ehe ich Gelegenheit hatte, in Mehrings meisterhafte Schrift über Schiller Einsicht zu nehmen. K. K.

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sich unmerklich, aber unwiderstehlich vorbereiten, um dann jäh hereinzubrechen. J e mehr das katastrophale Empfinden und Denken in einem Dichter entwickelt ist, desto besser muß ihm die dramatische Form gelingen, desto stärker muß die Wirkung seiner Dramen werden — natürlich bei sonst gleicher künstlerischer Begabung. Wie das Empfindungsleben des Dichters selbst muß aber auch die Stimmung der Zeit, in der er lebt, nicht bloß auf den Inhalt, sondern auch auf die Form und Wirkung dieser Form seines Schaffens Einfluß nehmen. In meiner Broschüre über die soziale Revolution habe ich auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß in den Naturwissenschaften die Katastrophentheorien vorherrschten, solange die Bourgeoisie revolutionär war; daß sie durch die Theorien der unmerklichen Entwicklung abgelöst wurden, als die Bourgeoisie in konservative Bahnen einlenkte. Dieser Zusammenhang wird niemanden überraschen, der weiß, wie sehr die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Empfindungen nicht nur die gesellschaftlichen, sondern auch die naturwissenschaftlichen Theorien, das ganze Weltbild beeinflussen. Die wissenschaftliche Tätigkeit bedeutet ja nichts als die Ordnung der Fülle der Erscheinungen und die Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen. Die Art und Masse der Erscheinungen, die die Wissenschaft in einem gegebenen Moment zu verarbeiten hat, hängt wesentlich von der gegebenen Höhe der Technik ab. Sie sind für alle Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft die gleichen. Aber je nach dem durch die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflußten Empfinden und Denken werden dieselben Tatsachen von den Einzelnen verschieden bewertet werden, und in dieser verschiedenen Wertung beruhen vornehmlich die Differenzen der verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Die Tatsachen sind für alle dieselben, aber ihre Scheidung in wesentliche und unwesentliche ist nicht bei allen Klassen und Individuen die gleiche. So wie die Wissenschaft muß auch die Kunst durch die sozialen Stimmungen und Bedürfnisse beeinflußt werden..Das ist ja ganz selbstverständlich, soweit es den I n h a l t der Kunst anbelangt, aber es gilt auch für ihre F o r m . Und da ist es kein Zufall, daß jene Kunstgattung, die am meisten eine katastrophale Entwicklung darstellt, ihren Höhepunkt im Zeitalter der Revolutionen erlangte — allerdings in Deutschland, das die große bürgerliche Revolution philosophisch und künstlerisch reflektierte, nicht in 151

England und Frankreich, die sie machten und ihre ganze intellektuelle Kraft in der Politik und im Kriegswesen aufbrauchten, so daß für Kunst und Philosophie nur wenig übrig blieb. Und ebensowenig dürfte es Zufall sein, daß die dramatische Produktion an Kraft und Tiefe in Deutschland in demselben Maße zurückgeht, in dem seine Bourgeoisie konservativer wird; daß aber auch in demselben Maße das Drama seinen Charakter ändert - das katastrophale Element wird aus ihm immer mehr ausgeschieden, das Drama wird immer mehr aus der Schilderung einer Handlung, einer Entwicklung, die Schilderung eines Zustandes, der nicht vom Flecke kommt - ; an Stelle eines kraftvollen Kampfes tritt müde Ergebenheit, schmerzvoller Pessimismus oder zynischer Hohn, die aber alle das gleiche Thema variieren: Es bleibt alles beim alten. Freilich, das Wesen des Dramas schreit gebieterisch nach Handlung, nach Katastrophen; das Milieudrama kann nie die Form des Dramas überhaupt werden; aber was heute noch an katastrophalem Drama daneben erzeugt wird, entspringt nicht dem modernen bürgerlichen Denken, sondern nur seinen Überlieferungen, wird immer mehr konventionell, verliert den Pulsschlag des warmen Lebens. Ganz anders aber war die Zeit, zu der Schiller schrieb. Sie lechzte nach Kampf, nach rasch fortschreitender Handlung, nicht nach tatloser Stimmung. Kein dichterischer Genius kam diesem Bedürfnis mehr entgegen als Schiller. Darin wurzelt seine mächtige Wirkung, darin seine Popularität. Und sie bleibt lebendig für das Proletariat, das auch heute nach Kampf und Handlung begehrt; sie läßt ihm Schiller auch an seinem hundertsten Todestag noch ewig jung erscheinen und wird ihn als populärsten deutschen Dramatiker fortleben lassen, solange nicht ein neues Genie erstanden, das ihm gewaltige Katastrophen lebendig vor die Augen führt. Jedoch nicht nur durch die Größe, die Gewalt der Handlung sowie die Wucht der Sprache fesseln Schillers Dramen alle revolutionären Gemüter, sondern auch durch ihren rebellischen Inhalt. Aber freilich, dieser Inhalt zeigt nicht nur das Zeitalter der Revolutionen an, dem er entsprang, sondern auch die politische Rückständigkeit und Beschränktheit Deutschlands und die politische Naivität, die sie in seinen besten Geistern erzeugte. Der erste Rebell, den Schiller zeichnete, war Karl Moor, an dem er 1777 bis 1781 arbeitete. Noch haben wir es hier mit keiner

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politischen Rebellion zu tun, keinem Versuch, den Staat umzumodeln, sondern nur einer persönlichen Auflehnung gegen die Gesetze des Staates — einer Auflehnung, die selbst wieder nicht einmal durch schlechte Gesetze, sondern nur durch den persönlichen Schurkenstreich eines Halunken provoziert wird: „Mörder, Räuber durch spitzbübische Künste!" Aber der edle Räuber ist keine rein phantastische Personifizierung der Auflehnung gegen Staat und Gesellschaft; er ist keine Erfindung Schillers. Dies Räuberwesen ist vielmehr eine Erscheinung, die mit gewissen sozialen Verhältnissen untrennbar verknüpft ist. Der Räuber der Wälder, der dem Einbrecher oder Raubmörder der modernen Großstadt nicht gleichzurechnen ist, entspringt aus der Auflösung des urwüchsigen Bodenkommunismus. Er tritt dort auf, wo dieser Kommunismus unfähig wird, allen Dorfbewohnern ihre Existenz zu sichern, wo namentlich das Latifundienwesen Bauern und auch kleine Adelige expropriiert, anderseits aber noch keine starke kapitalistische Industrie entstanden ist, die in der Lage wäre, die Expropriierten aufzusaugen, aber auch eine starke zentralisierte Staatsgewalt zu schaffen, wodurch jede gewaltsame Auflehnung gegen die Gesetze sofort niedergeschlagen werden könnte. Die Schwächlinge unter den Expropriierten werden da Landstreicher und Bettler; die starken Naturen greifen zu den Waffen, um sich als Söldner zu verdingen, wenn Nachfrage nach solchen vorhanden. Wo diese fehlt, werden sie Räuber; wo es eine politische Empörung gibt, schließen sie sich ihr an. In unseren Tagen noch sehen wir im Balkan, wie die Grenze zwischen dem Räuber und dem Freiheitskämpfer eine verschwimmende ist; wie je nach der Konstellation der Räuber von heute zum nationalen Helden von morgen und dieser wieder zum Räuber von übermorgen wird. Das Volk liebt ihn und verehrt ihn als Bekämpfer seiner Unterdrücker und Ausbeuter. In den serbischen und bulgarischen Volksliedern spielen die Heidukken, die Räuber, eine gefeierte Rolle. Nichts irriger, als zu glauben, erst Schiller habe den Räuberkultus aufgebracht. Nicht bloß im Balkan, auch in Süditalien gilt der Räuber als ein edler Held; nicht minder war dies bis in die sechziger Jahre in Ungarn und Irland der Fall. Schiller konnte selbst aus dem Volksempfinden Süddeutschlands schöpfen, wo zu seiner Zeit der Räuber der Wälder noch eine lebhafte Praxis übte. Wir erinnern nur an den Schinderhannes und den bayerischen Hiesel. Ein württembergischer Räuber, der Sonnenwirt, 153

wurde von Schiller in einer seiner Prosaschriften, dem Verbrecher aus verlorener Ehre, 1787, gerechtfertigt. In einem ökonomisch rückständigen, agrarischen Lande, wo keine starke Bourgeoisie, kein trotziges Kleinbürgertum, kein kampffähiges industrielles Proletariat dem Absolutismus und der Feudalherrschaft entgegentreten, erscheint rebellischen Gemütern leicht das Räubertum als die einzig mögliche Form der Auflehnung gegen Staat und Gesellschaft. Noch 1869 schrieb Bakunin: „Das Räubertum ist eine der ehrenhaftesten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volks, der unversöhnliche Feind des Staats und jeder vom Staat begründeten sozialen und bürgerlichen Ordnung. . . . Die in den Wäldern, Städten und Dörfern von ganz Rußland zerstreuten und in den zahllosen Kerkern des Reichs eingesperrten Räuber bilden eine einige und fest verbundene Welt, die Welt der russischen Revolution. . . . Wer in Rußland eine ernstliche Verschwörung will, wer die Volksrevolution will, muß in diese Welt gehen." (Zitiert in: Ein Komplott gegen die Internationale, Braunschweig 1874, S. 56, 57.) So führt von der Schillerschen Räuberromantik ein direkter Weg zum bakunistischen Anarchismus, zur Propaganda der Tat. Aber so modern in dieser Form die Rebellion erscheinen mag, sie ist eine der primitivsten; indes, wie gesagt, keineswegs eine rein phantastische, sondern eine sehr reale Form der Auflehnung gegen Staat und Gesellschaft. Politisch viel höher als die Räuber des einundzwanzigjährigen Schiller steht schon sein nächstes Drama, der Fiesco des dreiundzwanzig jährigen (gedruckt 1783). Hier handelt es sich nicht mehr um die verzweifelte Auflehnung eines deklassierten Edelmanns gegen die Staatsordnung, ohne jedes positive Ziel, sondern um eine wohlüberlegte Aktion zur Umwälzung dieser Ordnung, zur Begründung einer neuen Staatsgewalt. Aber immerhin weist Schiller selbst in seiner Vorrede auf seine völlige politische Unwissenheit hin, und es gibt kaum eine Szene des Stückes, die sie nicht bezeugte. Ein „republikanisches Trauerspiel" hat Schiller das Drama genannt. In der Tat ein Spiel, das jeden Republikaner traurig stimmen muß. Denn wo sind die Republikaner, die diese Republik lebensfähig machen sollen? Das Volk spielt hier in jedem Sinne des Wortes nur eine Statistenrolle; es ist nur unartikulierter Zurufe fähig und wechselt seine politischen Ansichten — soweit man von solchen sprechen kann — im Hand154

umdrehen auf die erste beste demagogische Rede hin. Ein paar Worte Fiescos genügen, es zu überzeugen, daß die Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet, verderblich sei, denn „der Feigen sind mehr, denn der Streitbaren, der Dummen mehr, denn der Klugen". Aber nicht minder traurig als um die Demokraten sieht es um die Aristokraten in der Republik Genua aus. Fast lauter gedankenlose und unselbständige Gecken, deren ganze Politik in einem tatlosen Mißvergnügen besteht, deren ganzen Republikanismus der Widerwillen gegen die Subordination bildet. Der einzige tatkräftige und weiterdenkende Politiker — neben Verrina — unter den Republikanern ist Fiesco. E r l e i t e t nicht nur die Revolution, er m a c h t sie von Grund aus, er s c h a f f t alle ihre Elemente; er i s t die Revolution, und mit ihm geht sie zugrunde. Besonders naiv ist es, daß Schiller diesem, alle anderen nicht bloß an Begabung, sondern auch an Kenntnis der Menschen und der Verhältnisse so riesenhaft überragenden Staatsmann sein eigenes jugendliches Alter von 23 Jahren verlieh. Wenn wir darin, daß Schiller die republikanische Umwälzung Genuas zum Werk eines einzigen Mannes macht, einen Beweis seiner Verständnislosigkeit für das Wesen einer politischen Revolution — und sei es nur eine aristokratische Verschwörung — sehen, so soll damit natürlich nicht etwa gesagt sein, daß wir an Schiller die lächerliche Forderung stellten, sich von den Grundsätzen der materialistischen Geschichtsauffassung leiten zu lassen. Ganz abgesehen davon, daß von einer solchen Auffassung zu Schillers Zeit noch keine Rede war, so sind gerade vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung die Aufgaben des Dramatikers ganz andere als die des Geschichtsforschers. Nach der herkömmlichen Auffassung stimmen sie insofern überein, als beide außergewöhnliche Einzelschicksale zu erforschen und darzustellen haben, für beide der hervorragende Mensch oder ein hervorragendes Menschenschicksal das Objekt ihres Schaffens ist. Die materialistische Geschichtsauffassung sieht aber das die gesellschaftliche Entwicklung beherrschende Element im Gewöhnlichen, Alltäglichen, nicht im Außergewöhnlichen; in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen und nicht im Einzelmenschen. Will man eine Zeit verstehen, muß man ihre Alltäglichkeit verstehen, gerade jene Verhältnisse erforschen, welche die Dar-

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steller ihrer eigenen Zeit als selbstverständlich nicht aufzeichnen, die ja nur das Außergewöhnliche überliefern. Den späteren Verarbeitern der historischen Quellen wird das Außergewöhnliche, Abnorme einer Zeit eher bekannt als ihre normalen Verhältnisse; kein Wunder, daß sie zuerst in diesen außerordentlichen, namentlich persönlichen Erscheinungen die Triebkraft dei gesellschaftlichen Entwicklung suchen, daß es viele Jahrhunderte dauerte, bis man die alltäglichen Massenbewegungen früherer Perioden einigermaßen kennenlernte und es damit ermöglicht wurde, in diesen Bewegungen die wirkliche Triebkraft der Geschichte zu entdecken. Man könnte nun freilich glauben, als ob heute das Drama Miene machte, auch der Geschichte zu folgen, der Heldendarstellung zu entsagen und die Alltäglichkeit zu seinem Objekt zu machen. Aber diese Annäherung ist nur eine scheinbare. Wie immer man über die Aufgaben der Kunst denken mag - und diese Aufgaben sind ungemein wechselnd mit Zeit und Ort, mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Bedürfnissen des Künstlers und seines Publikums - , stets wird diese Aufgabe darin bestehen, das Publikum aus der Alltäglichkeit und über die Alltäglichkeit zu erheben. Das liegt schon im Wesen der Kunst, die eben ein Objekt künstlich, willkürlich schafft. Die Alltäglichkeit schafft sich von selbst, sie zu schaffen, bedarf es keines Künstlers. Sobald ich mich zur Kunst wende, geschieht es zu dem Zwecke, aus dieser Alltäglichkeit herauszukommen. Und wie immer der Künstler und sein Publikum von der Kunst denken mögen: auf jeden Fall will der Künstler auf das Publikum wirken; welche Wirkung er erzielen will, das ist wieder je nach den wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen und persönlichen Temperamenten sehr verschieden, ob er rühren will oder amüsieren, ob Lüsternheit oder Begeisterung erwecken, beschauliche Wehmut oder feurigen Tatendrang, Freude am Schönen oder Entsetzen über krasse Häßlichkeit - aber wirken will er auf jeden Fall. Die einzige Wirkung aber, welche die Alltäglichkeit erweckt, ist die der Langweile - gerade jene Wirkung, die unter allen Umständen perhorresziert wird, welches immer die Absichten und Bedürfnisse von Künstler und Publikum sein mögen. Wenn nun heute zeitweise der Schein entsteht, als suchte die dramatische Kunst die Alltäglichkeit darzustellen, so ist dies teils gerade dem Suchen nach etwas Unerhörtem auf der Bühn e 156

zuzuschreiben: Ist die Darstellung der platten Alltäglichkeit auf der Bühne etwas Neues, Unerhörtes, so kann diese Tatsache eine Zeitlang als ein kühnes Experiment interessieren. Aber die Darstellung der Alltäglichkeit muß langweilen, wenn sie aufhört, ein vereinzeltes Experiment zu sein und auch auf der Bühne alltäglich wird. Dann aber wird der Anschein, daß das Drama sich mehr der Alltäglichkeit zuwende, dadurch erweckt, daß, je mehr die proletarische Bewegung das öffentliche Leben beherrscht, desto größer das Interesse der Dichter und des Theaterpublikums für Stoffe aus dem Leben der unteren Klassen und für die Äußerlichkeiten ihres Lebens, zum Beispiel ihres Dialekts, wächst, also für Erscheinungen, denen wir auf Schritt und Tiitt begegnen und die uns daher alltäglich erscheinen. Aber der Dichter wird uns nur dann fesseln, wenn er es versteht, uns diese Erscheinungen von einer Seite zu zeigen, die uns an ihnen neu ist, oder in Situationen, die außerordentlich sind. Die Hauptmannschen Weber sind sehr alltägliche Menschen mit einer sehr alltäglichen Sprache; aber der Masse der Theaterbesucher sind ihre Verhältnisse, ihre Anschauungen doch etwas ganz Außerordentliches. Und die Situation, die die hungernde Masse zur Revolte treibt — ist sie etwas Alltägliches? Die Lumpenproletarier wieder im Nachtasyl ergreifen uns deshalb so mächtig, weil wir sie von der Seite noch gar nicht kennen, die uns Gorki an ihnen enthüllt; weil er uns da einen Blick in eine Welt tun läßt, die uns nicht minder fremd ist wie das Innere von Afrika. Weder das Aufkommen des Milieu-Dramas noch die Vorliebe für Erscheinungen und Ausdrucksformen der Alltäglichkeit hat etwas mit der materialistischen Geschichtsauffassung zu tun, die vielleicht noch jedem der modernen Dichter ein Buch mit sieben Siegeln ist. Sie stehen nur insofern in einem inneren Zusammenhang, als sie alle Kinder der gleichen gesellschaftlichen Entwicklung sind. Aber zu Schillers Zeit herrschten andere Bedingungen; und wie Dichter und Publikum im Drama nach Handlung suchten und nicht nach Stimmung, nach einer Handlung, die in einer Katastrophe mündete und nicht in einem Fragezeichen, so forderten sie auch einen Helden als Mittelpunkt des Dramas, der über seinem Milieu und im Kampfe dagegen steht, keinen seufzenden Schwächling, den seine kleine Umgebung langsam zermürbt. Daß 157

Fiesco so grandios dasteht, ist also kein Fehler, ist ein Vorzug des Dramas. Daß . aber das Milieu, über welches er so kolossal emporragt, ein politisch so zwerghaftes und impotentes ist, das ist es, was beweist, wie fern Schiller allem politischen Denken stand. Der einzige Mann mit republikanischen Grundsätzen unter den vielen Republikanern des „republikanischen Trauerspiels" ist Verrina. Aber auch seine republikanischen Grundsätze entspringen nicht dem Vertrauen in die Republik. Wie könnte er denn Zutrauen haben zur demokratischen oder auch nur aristokratischen Selbstregierung angesichts all der haltlosen Schwätzer um ihn herum! Sein Republikanertum ist ein höchst persönliches, entspringt seinem Haß gegen jede Oberherrschaft, der er persönlich sich zu beugen hätte. Und rein persönlich, wie sein Republikanertum, ist auch sein politisches Handeln. Die entscheidende politische Tat, die die ganze Revolution zum Scheitern bringt und den alten Doria wieder zum Herrn macht, die Tötung Fiescos, unternimmt er auf eigene Faust, ohne jede Abrede mit den Genossen. Das ist nicht mehr Republikanertum, sondern Anarchismus, und zwar einer der weitestgehenden Art. Denn selbst die Anarchisten pflegen bei ihrer Propaganda der Tat Beschlüsse und Absichten von Genossen zu respektieren. Für andere als persönliche Motive des politischen Handelns fehlte Schiller damals noch alles Verständnis. E r sagt das selbst in der Vorrede zum Fiesco: „Wenn es wahr ist, daß nur Empfindung Empfindung weckt, so müßte, deucht mich, der politische Held in eben dem Grade kein Subjekt für die Bühne sein, in welchem er den Menschen hintansetzen muß, um der politische Held zu sein. Es stand daher nicht bei mir, meiner Fabel jene lebendige Glut einzuhauchen, welche durch das lautere Produkt der Begeisterung herrscht; aber die kalte, unfruchtbare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen herauszuspinnen und eben dadurch an das menschliche Herz wieder anzuknüpfen — den Mann durch den staatsklugen Kopf zu verwickeln — und von der erfinderischen Intrige Situationen für die Menschheit zu entlehnen — das stand bei mir. Mein Verhältnis mit der bürgerlichen Welt machte mich auch mit dem Herzen bekannter als mit dem Kabinett, und vielleicht ist eben diese politische Schwäche zu einer poetischen Tugend geworden." Da haben wir das ganze politische Elend Deutschlands am Vorabend der großen Revolution. Die Politik war zu einer Kab,,.£tts158

politik geworden, mit deren „kalten, unfruchtbaren Staatsaktionen" die „bürgerliche Welt" nicht das geringste zu tun hatte. Und da nur zu leicht einem jeden die Menschen, mit denen man zufällig verkehrt, als das Prototyp der Menschheit erscheinen, so war mit der Loslösung der „bürgerlichen Welt" Deutschlands von der Politik für Schiller auch die Scheidung zwischen dem „politischen Helden" und dem „Menschen" gegeben. Die Politik erscheint ihm als etwas Unmenschliches; als menschliche Tugenden und Motive betrachtet er nur jene, die die unpolitische „bürgerliche Welt" bewegen. Will man den „politischen Helden" dem Publikum „menschlich näher" bringen und sympathisch machen, so muß man in seine politischen Motive solche der bürgerlichen Alltäglichkeit hineinmengen, solche der persönlichsten Art. Schiller merkt nicht, wie gerade eine Politik, in die auf diese Art das „menschliche Herz" hineinspielt — persönliche Neigungen und Abneigungen und Leidenschaften —, eine niedere Form der Politik darstellt, daß gerade durch solche Einflüsse des „menschlichen Herzens" die Politik der „Kabinette" zu einer rein persönlichen Politik wird, die den Staat zur Domäne des Fürsten herabsetzt und die „Staatsaktion" „unfruchtbar" macht. Wir haben seitdem in Deutschland ein starkes politisches Leben im Volke bekommen. Aber die Schillersche Verständnislosigkeit für die Triebkräfte der Politik lebt heute noch unter manchen Belletristen fort. Weit entfernt, in einer Politik, die der Sorge für die Gesamtheit entspringt, die höchste Blüte menschlichen Tuns zu erkennen, betrachten sie immer noch jede Politik als etwas, was den Charakter verdirbt; sie können auch politische Motive nur dann begreifen, wenn sie rein persönlicher Art sind, das Empfindungsleben des unpolitischen Philisters nicht überragen, höchstens seine Verklärung darstellen. Wenn diese Belletristen Politik zu schildern oder gar zu treiben haben, ist sie auch danach. Von Schiller kann man leider nicht sagen, daß so rasch wie seine dichterische Reife sein politisches Verständnis wuchs. Freilich, der Rebell blieb er noch lange. Durch und durch rebellisch ist das dem Fiesco folgende Werk, Kabale und Liebe (1784), wohl neben dem Wallenstein seine größte dramatische Leistung, von einer zermalmenden Wucht. Indessen haben wir es hier nur mit jenen seiner Dramen zu tun, in denen nicht bloß durch ihren Inhalt zur Rebellion aufgereizt, sondern diese auch betätigt wird. Zu einer solchen kommt es jedoch in Kabale und Liebe nicht, wohl

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aber in seinem nächsten Trauerspiel, dem Don Carlos, der 1787 fertig wurde. Gegenüber dem Fiesco bedeutet dieser einen Fortschritt nach der politischen Seite insofern, als die Politik hier nicht mehr bloß als „kalte, unfruchtbare Staatsaktion" betrachtet wird. Schiller empfindet nun doch, daß neben dieser Art von Politik noch eine andere möglich ist, durch die das Glück der Völker begründet werden kann. Indes, auch in diese Politik mischt das „menschliche Herz" sich bedenklich ein. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß der rebellische Kronprinz weit weniger rebellisch wäre, hätte ihm nicht sein Vater die Braut weggefischt, Elisabeth von Valois, die füi eine französische Prinzessin auffallend liberal ist. „Ich bin entschlossen", ruft Carlos, „Flandern sei gerettet. Sie (Elisabeth) will es — das ist mir genug." Hätte Carlos seine Elisabeth heimgeführt und hätte diese jene reaktionären Gesinnungen besessen, die einer Königin ziemen, so wäre Posas Freund kaum in Konflikt mit der Inquisition gekommen. Die Politik der Völkerbeglückung selbst aber, die Carlos und Posa entwickeln, war keineswegs die der Gesetzgebung und Regierung durch das Volk. Von oben herab, durch den Monarchen soll den Völkern die Freiheit gebracht werden. Der Erfolg der Rebellion der flandrischen Provinzen wird abhängig gemacht von der Entschließung des Kronprinzen. Posa ruft ihm zu: Ein Abgeordneter der ganzen Menschheit Umarm' ich Sie — es sind die flandrischen Provinzen, die an Ihrem Halse weinen Und feierlich um ihre Rettung Sie bestürmen . . . Auf Kaiser Karls glorwürd'gem Enkel ruht Die letzte Hoffnung dieser edlen Lande. Sie stürzt dahin, wenn sein erhabnes Herz Vergessen hat, für Menschlichkeit zu schlagen. Das Trugbild, das seit einem Jahrhundert den deutschen Liberalismus äfft, der liberale Kronprinz, der dem reaktionären Vater entgegentritt, wird hier zum Mittelpunkt des Dramas, zum Hort der Rebellion. Natürlich wußte Schiller sehr wohl, daß die Niederlande des liberalen Kronprinzen in Wirklichkeit nicht bedurften, um sich zu befreien. Aber ohne einen liberalen Prinzen ging es bei ihm einmal nicht. 160

So schrieb er denn auch in seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande, nachdem er gezeigt, wie Philipp seine getreuen Untertanen zum Aufstand förmlich zwang: „Noch fehlt die letzte vollendende Hand — der erleuchtete unternehmende Geist, der diesen großen politischen Augenblick haschte und die Geburt des Zufalls zum Plane der Weisheit erzöge. Wilhelm der Stille weiht sich, ein zweiter Brutus, dem großen Anliegen der Freiheit". Und er zeigt dann, wie die Rebellen nicht zum wenigsten deshalb siegten, weil die Vertreter Philipps und ihre Verwaltungsgrundsätze rasch wechselten und dem Kriege „ebensoviel entgegengesetzte Richtungen gaben, während daß der Plan der Rebellion in dem einzigen Kopfe, worin er klar und lebendig wohnte, immer derselbe blieb", nämlich in dem Wilhelms von Oranien. Also nicht bloß im Überschwang des Dramas, sondern auch in der nüchternen geschichtlichen Darstellung erscheint Schiller der Volksaufstand als eine „Geburt des Zufalls", die erst im Kopfe eines Prinzen zu einem planvollen Tun und dadurch zu einer lebensfähigen Erhebung „erzogen" wird. Prinz Wilhelm von Oranien ist hier derselbe „rettende Engel" der Rebellion, zu dem der Marquis Posa den spanischen Kronprinzen machen will. Um die Völker zu befreien und glücklich zu machen, bedarf es nur des guten Willens ihrer Herrscher, die ihnen von oben herab mühelos alles schenken können, was sie brauchen. Der Freiheitsmann Posa ruft dem König zu: Ein Federzug von dieser Hand, Und neu erschaffen wird die Erde. Er denkt nicht daran, das Volk durch das Volk zu befreien: Die lächerliche Wut Der Neuerung, die nur der Ketten Last, Die sie nicht ganz zerbrechen kann, vergrößert, Wird m e i n Blut nie erhitzen. Das Jahrhundert Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe. Ein Bürger derer, welche kommen werden. Und dieses Ideal der kommenden Jahrhunderte? Sanftere Jahrhunderte verdrängen Philipps Zeiten; Die bringen mildre Weisheit; B ü r g e r g l ü c k Wird dann versöhnt mit F ü r s t e n g r ö ß e wandeln. Schließlich beschwört der „sonderbare Schwärmer" den spanischen Despoten: 13

Jonas, Schiller-Debatte

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Weihen Sie Dem Glück der Völker die Regentenkraft, Die — ach so lang — des Thrones Größe nur Gewuchert hatte — stellen Sie der Menschheit Verlornen Adel wieder her! Der Bürger Sei wiederum, was er zuvor gewesen, Der Krone Zweck — ihn binde keine Pflicht, Als seiner Brüder gleich ehrwürd'ge Rechte. Und früher schon:. Geben Sie Gedankenfreiheit! Nach wie vor ist das Freiheitsideal Schillers kein demokratisches, sondern ein rein persönliches, anarchistisches; nicht die Forderung der Selbstregierung des Volkes, sondern die der Freiheit für den einzelnen, zu tun, was ihm behagt; bloß ist sie aus der wild überquellenden Gewalttätigkeit des Räubers Moor, der für sich das Recht in Anspruch nimmt, auf eigene Faust aller Niedertracht ein Ende zu machen, nun zu dem frommen Wunsche des „Abgeordneten der Menschheit" „abgeklärt", jeder möge frei reden und schreiben dürfen, was ihm gefällt. Und diese sanfte Abklärung des ursprünglichen wilden Anarchismus ist aufgepfropft auf die Idealisierung einer Monarchie, die bei Lichte besehen nichts anderes ist als der aufgeklärte Despotismus des 18. Jahrhunderts oder vielmehr die Legende von seinem deutschen Heros, Friedrich II., die sich der liberale deutsche Bürger zu seiner Erbauung zurechtgemacht: Hatte doch der große Friedrich erklärt, der Fürst sei der erste Diener des Staates, und er hatte verfügt, „Gazetten sollten nicht geniert" und jeder nach seiner Fasson selig werden. War da nicht schon in den „kommenden sanfteren Jahrhunderten" Posas Vision verwirklicht, die Gedankenfreiheit gegeben, der Bürger zum Zwecke der Krone geworden und das Bürgerglück mit Fürstengröße versöhnt? Der Marquis Posa kommt eben aus den usurpierten flandrischen Provinzen, wo er „ein kräftiges, ein großes Volk, und auch ein gutes Volk" sah; aber keinen Moment kommt ihm die Idee, wie herrlich es wäre, wenn dieses empörte Volk sich selbst befreite und selbst regierte. Nein: V a t e r dieses Volks, Das dachte ich, das muß göttlich sein. So dachte Schiller noch am Vorabend der großen Revolution. Aber auch der kolossale Anschauungsunterricht, den diese er162

teilte, ging spurlos an ihm vorüber; ja, statt ihm tiefere Einsicht in das Wesen der Demokratie und der bürgerlichen Revolution zu verschaffen, entfernte ihn das große französische Schauspiel weiter davon als je.

II. Schillers Dramen nach der Revolution Im Mai 1789 traten in Frankreich die Reichsstände zusammen und bezeugten der Welt, daß ein großes Volk im Begriff stehe, das Joch des absoluten Herrentums abzuwerfen. In demselben Mai trat Friedrich Schiller seine Professur in Jena an und verzichtete auf seine bisherige Freiheit, um das Joch des Herrendienstes auf sich zu laden. Damit vollzog sich eine große Wendung in der Lebenslage Schillers, aber es scheint mir, als überschätze man, zum Beispiel Kurt Eisner in der März-Schillernummer des Berliner Parteiverlags, die Wirkung dieser Wendung — des Eintritts in den Weimaraner Kreis — auf die Anschauungen Schillers. Man darf sich die Beeinflussung des einzelnen durch die gesellschaftlichen Bedingungen nicht rohmaterialistisch als ein bloßes „Anschmiegen an die Bedingungen der Gesellschaft, in der man zu leben gezwungen ist", vorstellen. Nicht bloß das Anschmiegen an, auch das Kämpfen gegen die Bedingungen der Gesellschaft, in der man zu leben gezwungen ist, gehört zu den Wirkungen des gesellschaftlichen Milieus. Gerade bei einem gereiften Manne von Charakter dürfen wir nicht erwarten, daß er seine Uberzeugungen aus dem rein äußerlichen Grunde wandelt, weil der Kampf ums Brot ihn in eine Gesellschaft bringt, die seinen bisherigen Anschauungen zuwider ist. Bei der Ehrlichkeit, Überzeugungstreue und Leidenschaftlichkeit Schillers wäre es vielmehr nahe gelegen, daß er sich gegen die Anschauungen des Weimarer Kreises ebenso aufgelehnt hätte wie ehedem gegen die Disziplin der Stuttgarter Karlsschule, wenn sie ihn beengt hätten und mit seinen Überzeugungen unverträglich gewesen wären. Die persönlichen Lebensbedingungen des einzelnen sind von der größten Bedeutung für sein ganzes Empfinden und Denken, sein Weltbild, seine politischen und philosophischen Überzeugungen, solange er noch ein Werdender ist, den jeder persönliche Eindruck aufs tiefste bewegt. Aber bei jedem einigermaßen starken und tiefen Charakter tritt der Einfluß der persönlichen Bedingungen 13*

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auf die Überzeugungen, zu denen er sich durchgerungen, in dem Maße immer mehr zurück, je gereifter und gefestigter er wird. Nur kleine und schwache Charaktere wechseln ihre Überzeugungen im Mannesalter unter dem bloßen Einfluß veränderter persönlicher Umstände. Dagegen kann sich auch der stärkste Charakter nicht den Veränderungen entziehen, die gewaltige historische Ereignisse in der gesamten gesellschaftlichen Atmosphäre bewirken. Ein solches Ereignis war nicht die Übernahme der Jenenser Professur durch Schiller, wohl aber die andere Veränderung, die im Mai 1789 eintrat: der Umsturz des französischen Feudalabsolutismus. Von diesem welthistorischen Ereignis und nicht von der Veränderung seiner Einkommensquellen ist die Wandlung Schillers zu datieren. Man kann von dieser persönlichen Veränderung höchstens sagen, daß sie den Einfluß des historischen Ereignisses verstärkte, weil sie beide in gleicher Richtung auf ihn wirkten. Also umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nicht weil er sich dem neuen höfischen Milieu im Gegensatz zu seinen Überzeugungen anschmiegte, verlor er seine Sympathien für die Französische Revolution; sondern vielmehr weil diese ihn abstieß, entwickelte sich in ihm aus seiner von Anfang an großen Verständnirlosigkeit für das Wesen der Demokratie eine Stimmung, die es ihm ermöglichte, sich in den Weimarer Ton einigermaßen hineinzufinden. Schiller war als Charakter zu groß, als daß wir die gegenteilige Entwicklung bei ihm annehmen dürften. Die Französische Revolution bedeutet eben nicht die Verwirklichung, sondern den Zusammenbruch des revolutionären Ideals nicht bloß Schillers, sondern vieler seiner Zeitgenossen. Von der Freiheit, was immer sie darunter verstehen mochten, erwarteten sie eine neue Welt der Freude und des Friedens, der Brüderlichkeit und der Versöhnlichkeit. Schiller ebensowenig wie die anderen bürgerlichen Idealisten vor der Revolution hatten etwas geahnt von den Klassengegensätzen und den Klassenkämpfen, die die neue, bürgerliche Welt in ihrem Schöße barg, und sie wandten sich mit Entsetzen von der Revolution als dem Grabe ihrer Träume ab, als sie die wildesten Kriege nach innen und außen entzündete. Freilich, für die kämpfenden und befreiten Klassen in Frankreich selbst, vor allem seine Bourgeoisie, sein Kleinbürgertum, seine Bauernschaft hatte die Revolution viel zu viele greifbare Vorteile gebracht, als daß der Abstand zwischen dem erträumten Ideal

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und der Wirklichkeit sie hätte der Revolution entfremden können. Aber anders die Ideologen in Deutschland, denen die politischen Ideale der Bourgeoisie zunächst noch bloß ein wesenloser Reflex vom Ausland und das Produkt unbestimmten persönlichen Empfindens, nicht aber bestimmter Bedürfnisse kampffähiger und gesellschaftlich notwendiger Klassen waren. Sie sahen in der Revolution nur den Zusammenbruch ihrer Illusionen, begriffen nichts von dem, was sie wirklich erfüllte und leistete. Feindselig oder im besten Falle gleichgültig traten sie ihr gegenüber, und soweit sie auch weiterhin das Bedürfnis empfanden, der unbefriedigenden wirklichen Welt das Idealbild einer schöneren gegenüberzustellen, suchten sie es nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, im Mittelalter, das sie nun ebensosehr mit einem verklärenden Strahlenkranz umgaben wie früher das erhoffte Zukunftsreich der Freiheit. Gerade bei den überschwenglichsten Gemütern trat nun an Stelle des revolutionären Sturmes und Dranges die Romantik, und einige der letzten Werke Schillers zeigen sich schon von ihrem Mystizismus infiziert, so die katholisierende Maria Stuart (1800), Jungfrau von Orleans (1801), Braut von Messina (1803). Aber das rebellische Interesse bricht immer wieder durch und zeugt noch zwei große Dramen und das Fragment eines dritten : Wallenstein (1799), Wilhelm Teil (1804) und den Demetrius. Wenn man nicht wüßte, daß Schiller die Idee zum Wallenstein schon 1792 faßte, könnte man glauben, Napoleon habe ihm den Anstoß dazu gegeben. Der Schluß der Trilogie, Wallensteins Tod, wurde am 20. April 1799 aufgeführt, der Staatsstreich des 18. Brumaire im November des gleichen Jahres. Schiller führte auf der Bühne noch vorher vor, was sich wenige Monate darauf im Leben vollzog, allerdings mit besserem Erfolg für den Helden der Aktion: die Vorbereitung zum Staatsstreich eines glücklichen Generals, dessen Armee durch eine lange Periode des Krieges zum entscheidenden politischen Faktor gemacht worden war. Wie Kabale und Liebe ist auch die Wallenstein-Trilogie aus der Zeit geboren; gleich jener ist auch diese so realistisch, wie es für Schiller möglich war; beide Werke zusammen stellen das Bedeutendste dar, was Schiller geleistet. Und ist Kabale und Liebe eine leidenschaftliche Anklage gegen die Fürsten-, Maitressenund Beamtenwirtschaft des ancien régime, so der Wallenstein

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eine, wenn auch nicht so leidenschaftliche, so doch eindringliche und machtvolle Anklage gegen die Greuel des Krieges und des Soldatenregimentes, unter dem Europa seit dem Ausgang der Revolution seufzte. Die Rebellion wie die Rebellen, die Schiller diesmal zeichnet, besitzen nicht mehr seine Sympathie. Mit der Freiheit haben sie nicht das mindeste mehr zu tun. Und das gleiche gilt von der Rebellion des falschen Demetrius. So wie die Wallensteins dient auch diese nur rein persönlichen Zwecken. W o aber darin v o m Volke gesprochen wird, geschieht es gerade nicht in rühmender Weise. In diesem letzten Werke Schillers finden wir jene bekannten Worte, die die Reaktionäre seitdem so oft mit Vorliebe für sich ausgebeutet haben: Die Mehrheit? Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist Unsinn; Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen, Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat? Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl? E r muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt, Um Brot und Stiefel seine Stimm' verkaufen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; Der Staat muß untergehn, früh oder spät, W o Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet. Man vergesse indes nicht, daß schon im Fiesco, wie wir gesehen, die gleiche Weisheit ausgesprochen wurde. Das ganze Drama läuft auf eine Verherrlichung des Zarengeschlechtes hinaus, und ihm gilt auch das letzte dramatische Produkt, das Schiller fertiggestellt, „Die Huldigung der Künste, ein lyrisches Spiel, Ihrer Kaiserlichen Hoheit, der Frau Erbprinzessin von Weimar, Maria Paulowna, Großfürstin von Rußland, in Ehrfurcht gewidmet." Gerade jetzt wirkt diese Huldigung höchst humoristisch, wenn man liest, wie darin das „große Herz der Brüder", der russischen Fürsten, gepriesen wird sowie die siegreichen W a f f e n Rußlands: Dieses Siegesbild (die Viktoria), das ich (die Skulptur) erschaffen. Dein hoher Bruder schwingt's in mächt'ger H a n d ; Es fliegt einher vor Alexanders Waffen, E r hat's auf e w i g an sein Heer gebannt. Diese Ewigkeit war freilich sehr kurz bemessen. A m 1. Dezember 1805 schlug Napoleon seinem russischen Kollegen Alexander bei Austerlitz das Viktoriabild so gründlich aus der „mächtigen

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Hand", daß es in tausend Scherben zerschellte. Wenn Nikolaus II. Glück hat, kann er die hundertste Wiederkehr dieses Tages im Jahre der Schlacht von Mukden noch höchsteigenhändig feiern. Freilich hat er einen großen Fortschritt über Schillers Zeit hinaus zu verzeichnen. Seine „mächtige Hand" schwingt nicht mehr heidnische Viktorien, sondern nur noch christliche Heiligenbilder, um den Sieg der Waffen „auf ewig an sein Heer zu bannen". Wie stimmt aber zu allen diesen Werken der letzten Periode Schillers sein Wilhelm Teil, dieses hohe Lied der Selbstbefreiung des Volkes, der Zerschmetterung der Tyrannen ? In der Tat, es wäre unbegreiflich, wenn wir annähmen, auf Schiller hätte seine höfische Umgebung abgefärbt und ihm allen Freiheitsdrang verekelt. Dagegen erklärt es sich unschwer, wenn wir Schillers Wandlung aus den Wirkungen der Französischen Revolution erklären. Sein Drang nach Freiheit, sein Haß gegen die Tyrannei blieb nach wie vor in ihm lebendig. Wohl erschien ihm die Revolution nach französischem Muster als ein verderblicher Abweg, aber um so stärker mußte er das Bedürfnis empfinden, der schlechten, der abscheulichen Revolution das Bild der schönen Revolution, der Revolution, wie sie sein soll, gegenüberzustellen. Eine solche Revolution hatte Schiller selbst erlebt, es war der Unabhängigkeitskrieg der Nordamerikaner gewesen. Was hatte aber diesen dem gesamten europäischen Publikum so sympathisch gemacht? Es war kein K l a s s e n k a m p f gewesen, sondern ein n a t i o n a l e r Kampf; er entsprang nicht dem Streben, eine neue soziale Ordnung einzuführen, eine ausbeutende Klasse zu expropriieren, sondern dem Streben, das drückende Joch eines auswärtigen Herrschers abzuschütteln. Der Unabhängigkeitskrieg änderte nichts an den sozialen Verhältnissen des Landes. Er brachte die Phrase der „Freiheit" zu Ehren, er veranlaßte die erste Erklärung der Menschenrechte. Aber die Verfasser der Menschenrechte erkannten die Negersklaverei als eine notwendige Einrichtung an, waren zum Teil selbst Sklavenhalter. Das war eine „schöne" Revolution! Ähnlicher Art wie diese Revolution, die in Schillers Jugendjahre fiel, in die Zeit, wo er an den Räubern und dem Fiesco arbeitete, die auch in seiner Kabale und Liebe noch nachzitterte, war die Revolution, die er dann studierte, die der Niederlande. Auch sie stellte keinen rechten Klassenkampf dar, auch in ihr wirkten alle 167

Klassen des Volkes zusammen zum Kampfe gegen den auswärtigen Unterdrücker, den Spanier. Das waren Kämpfe um die „Freiheit", die den Monarchen Europas durchaus nicht gefährlich erschienen. Die Gegner Spaniens unterstützten ebenso die aufständischen Niederländer, wie die Gegner Englands die aufständischen Amerikaner unterstützten — darunter Ludwig XVI., der genau zehn Jahre, nachdem er der amerikanischen Revolution zum Siege verholfen (20. Januar 1783, Friede von Versailles), von der Revolution im eigenen Lande aufs Schafott geführt werden sollte (21. Januar 1793). Eine solche Revolution kann wohl, muß aber nicht die Sache der politischen Freiheit fördern. Deutschland erlebte eine solche Revolution wenige Jahre nach Schillers Tode in den sogenannten Freiheitskriegen, die das Mittel waren, das bißchen Freiheit auszulöschen, welches die „Fremdherrschaft" des Korsen ihm gebracht. Es war eine Revolution, bei der die Fürsten selbst tatkräftig mitwirkten. Zu dieser Sorte Revolutionen gehörte auch die Erhebung der Urkantone gegen das Habsburgische Regime. Ich möchte ebensowenig wie Mehring (Gesammelte Schriften von Marx und Engels 1841 bis 1850, II. S. 382) vorbehaltlos akzeptieren, was Engels darüber im Jahre 1847 schrieb: „Der Kampf der Urschweiz gegen Österreich, der glorreiche Eid auf dem Rütli, der heldenmütige Schuß Teils, der ewig denkwürdige Sieg bei Morgarten, alles das war der Kampf störrischer Hirten gegen den Andrang der geschichtlichen Entwicklung, der Kampf der hartnäckigen, stabilen Lokalinteressen gegen die Interessen der ganzen Nation, der Kampf der Roheit gegen die Bildung, der Barberei gegen die Zivilisation. Sie haben gegen die Zivilisation gesiegt, zur Strafe sind sie von der ganzen weiteren Zivilisation ausgeschlossen worden" (S. 448). Aber man darf dabei höchstens zur zivilisatorischen Mission der Habsburger des 14. Jahrhunderts in der Schweiz ein Fragezeichen machen. Dagegen ist es sicher, daß die Erhaltung der Kantönlifreiheit ein höchst konservatives, durchaus nicht revolutionäres Ereignis war und mit der Zeit zu einem Mittel wurde, einen Herd der schwärzesten Reaktion im Zentrum Europas zu konservieren. Es waren die Urkantone, die in der Schlacht bei Kappel 1 5 3 1 Zwingli mit seinem Heere schlugen und dem Fortschreiten des Protestantismus in der Schweiz eine Schranke setzten. Sie waren es dann, die jedem europäischen Despoten ihre Truppen lieferten, die treuesten Verteidiger Ludwigs X V I . gegen die Revo-

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lution, wofür ihnen die Republik in Luzern das bekannte Denkmal gesetzt. Notabene, es ist bemerkenswert, daß der junge Schiller schon mit einem gewissen Stolz in seinem Fiesco die „den Meistbietenden zu Gebote stehende Treue" (Engels über die Schweizer) der deutschen Landsknechte behandelte. Er läßt den Verschworenen Calcagno sagen: „Bären, die Deutschen! Pflanzten sich vor den Alten (Doria) wie Felsen . . . Wenn sie das fremden Tyrannen tun, alle Teufel, wie müssen sie ihre Fürsten bewachen !" Der Engelssche Artikel gegen die Urschweizer wurde veranlaßt durch den Sonderbund, den diese mit anderen ultramontanen Kantonen zum Schutze des jesuitischen Regimes 1843 stifteten und der 1847 zu offenem Bürgerkrieg, dem Sonderbundskrieg, gegen die Eidgenossenschaft führte. Den konservativen Charakter der Erhebung der Urkantone hat Schiller nicht übersehen, ihn vielmehr ausdrücklich hervorgehoben. Er läßt die Verschworenen auf dem Rütli folgendermaßen ihre Ziele darlegen: WALTHER FÜRST :

Abtreiben wollen wir verhaßten Zwang; Die alten Rechte, wie wir sie ererbt Von unsern Vätern, wollen wir bewahren, N i c h t u n g e z ü g e l t n a c h dem N e u e n g r e i f e n . Dem Kaisei bleibe, was des Kaisers ist; Wer einen Herrn hat, dien' ihm pflichtgemäß. MEIER:

Ich trage Gut von Österreich zu Lehn. WALTHER FÜRST:

Ihr fahret fort, Ostreich die Pflicht zu leisten. J O S T VON W E I L E R :

Ich steure an die Herrn von Rappersweil. WALTHER FÜRST :

Ihr fahret fort, zu zinsen und zu steuern. RÖSSELMANN :

Der großen Frau (dem Nonnenkloster) zu Zürch bin ich vereidet. WALTHER FÜRST:

Ihr gebt dem Kloster, was des Klosters ist. Mit einem Worte: alles bleibt beim alten, an kein Ausbeutungsund Knechtschaftsverhältnis wird im mindesten gerührt; darauf darf sich die „Freiheit" nicht erstrecken, soll die Revolution eine 169

schöne und respektable bleiben. Junker, Bauern, Knechte, alles arbeitet einträchtig zusammen, und statt sich den Klassenkampf anzusagen, umarmen sie sich gerührt, nachdem die von auswärts gekommenen Tyrannen vertrieben. Bemerkenswert für Schillers politisches Denken ist auch der Umstand, daß keiner der Freiheitskämpfer aus einem Grunde politischer Überzeugung, aus anderen als persönlichen Motiven sich gegen die Tyrannen erhebt. Wie der dreiundzwanzigjährige weiß auch der fünfundvierzigjährige Schiller immer noch nur auf diese Weise „Staatsaktionen aus dem menschlichen Herzen herauszuspinnen". Am auffallendsten tritt das bei dem Helden zutage, beim Wilhelm Teil selbst. Aufgefordert, sich der Verschwörung anzuschließen, findet er, zuerst: Die einz'ge Tat ist jetzt Geduld und Schweigen, dann: Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst, endlich: Der Starke ist am mächtigsten allein. Das sagt er nicht etwa aus gemeiner Selbstsucht. Wir sehen, wie er den Baumgarten unter Gefährdung des eigenen Lebens rettet. Mit Recht betont er auch: Der Teil holt ein verlornes Lamm vom Abgrund, Und sollte seinen Freunden sich entziehn? Nur fügt er hinzu: Doch was ihr tut, laßt mich aus eurem Rat! Also er will den Freunden persönliche Hilfe leisten, soviel er vermag, aber nur fordere man von dem großen Freiheitsmanne nicht, daß er sich über die Politik den Kopf zerbricht. So kommt er denn auch in den Konflikt mit dem Landvogt nicht aus politischer Widersetzlichkeit oder politischem Freiheitsdrang, sondern aus bloßer Achtlosigkeit, die sich um die Befehle der Obrigkeit ebensowenig kümmert wie um die Beratungen der Freunde. Und die entscheidende Tat, die Tötung des Tyrannen, entspringt denn auch nicht einem politischen Motiv, sondern rein persönlichem Selbsterhaltungstrieb. Sie steht nicht im geringsten Zusammenhang mit der auf dem Rütli beschlossenen Freiheitsaktion. Das wird auch als ästhetische Schwäche des Stückes empfunden, entspringt aber notwendig aus der Verständnislosigkeit Schillers für politische Motive. Ihn und ebenso sein deutsches Publikum hätte eine aus rein politischem Denken geborene Tat 170

viel kälter gelassen wie eine aus persönlichen Veranlassungen entsprungene. Und wie Teil sind auch die anderen Freiheitskämpfer beschaffen. Baumgarten tötet den Wolfenschießen, weil dieser seiner Frau nahetritt; Melchthal empört sich, weil sein Vater geblendet worden, Werner Stauffacher, weil ihn der Landvogt bedroht; Ulrich von Rudenz endlich ist höfisch gesinnt, solange er glaubt, dadurch seine geliebte Berta zu gewinnen; er wird im Handumdrehen ein glühender Republikaner, sobald sie ihm zu verstehen gibt, daß er auf diesem Wege bei ihr weiter kommt. Kein Zweifel, das wirkt viel drastischer als ein Handeln aus gefestigter Überzeugung, aber sonderbar ist es doch, daß der Idealist Schiller keinen einzigen Freiheitsmann auftreten läßt, der die Demokratie um ihrer selbst willen liebte. Man hat in der Tat Teils oft die poetische Rechtfertigung der russischen Attentäter gesehen. Aber diese ideale Figur steht tief unter den großen Freiheitskämpfern der russischen Wirklichkeit, von denen kaum einer aus persönlichen Motiven dem Absolutismus den Krieg erklärt hat. Unsere Idealisten werfen gern der Marxschen materialistischen Geschichtsauffassung vor, daß sie andere als persönliche Motive in der Geschichte nicht anerkenne. Das ist ein Unsinn, der bloß beweist, daß diese Herren keine Ahnung haben von dem, was Marx wirklich gelehrt. Aber jene Geschichtsauffassung, gegen die sie sich so entrüstet wehren, sie finden sie in dem idealsten Drama des großen Kantschen Idealisten Schiller angewandt, als Folge des Strebens, das politische Tun aus dem „menschlichen Herzen" abzuleiten. Daß aber der Teil trotz alledem als die großartigste Verherrlichung der Revolution und aller revolutionären Ideale erscheint, verdankt er dem leidenschaftlichen Schwung der Sprache, die, wie in allen Schillerschen Werken, so auch in diesem sieghaft alle Schwächen verdeckt und selbst dem philisterhaftesten Gemeinplatz die dröhnende Wucht titanenhafter Himmelstürmerei verleiht. Er verdankt aber seine politische Wirkung, wie andere Werke Schillers, zum Teil auch der Nebelhaftigkeit seines Freiheitsbegriffs, die jedem Revolutionär gestattet, ihn in seiner Weise auszulegen.

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III. Die Ursachen von Deutschlands

politischer

Rückständigkeit

Wir haben gesehen, wie in Schiller ein revolutionäres Sehnen über das Bestehende hinaus lebte, das, trotz seiner Unklarheit, durch die ganze Atmosphäre der Zeit dem Liberalismus, dem damaligen Inhalt der bürgerlichen Revolution, in manchem auch dem Anarchismus, der heute noch eine revolutionäre Rolle spielt, verwandt war. Wir haben aber weiterhin auch gesehen, wie Schiller eine Kühnheit des Denkens und einen rebellischen Trotz entwickelte, die ihn mit Vorliebe Rebellionen zum Gegenstand seiner Dramen wählen ließen. Endlich haben wir gesehen, wie er trotz alledem der wirklichen bürgerlichen Revolution verständnislos gegenüberstand, und nicht etwa bloß der Französischen Revolution, deren blutige K ä m p f e leicht einen Beschauer abschrecken konnten, wenn ihn mit den sich emporringenden Klassen kein direktes Interesse verband, sondern auch früheren bürgerlichen Revolutionen gegenüber. Alle möglichen Rebellionen schildert er — den Krieg des Räubers gegen die Gesellschaft, die aristokratische Verschwörung, den K o n f l i k t des liberalen Kronprinzen mit seinem Vater, den Staatsstreich des übermächtigen Generals, den Aufstand des Prätendenten, die Insurrektion von Bauern gegen einen auswärtigen Unterjocher —, aber an den bürgerlichen Revolutionen, die vom 17. Jahrhundert bis in seine Zeit sich abspielen, geht er achtlos vorüber. Selbst der Aufstand der Niederländer reflektiert sich bei ihm nur in einer Palastintrige. Man sage nicht, daß Schiller ein Künstler war und kein Politiker und daß dem Künstler diese Rebellionen dankbarere Stoffe boten als die Revolutionen der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums. Sein auch v o m künstlerischen Standpunkt aus großartigstes Werk ist gerade jenes, in dem er sich am meisten der Atmosphäre der bürgerlichen Empörung gegen den Feudalabsolutismus nähert, am meisten aus dem revolutionären Inhalt seiner Zeit schöpft, ist Kabale und Liebe. Weit mächtiger wirkt dies Drama als irgend eines der anderen, in denen er die Träger seiner Ideen u n d ihrer Konflikte in die K o s t ü m e einer vergangenen Zeit steckte. Die Wirkung bildet aber schließlich den Maßstab auch für den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes. Indes, wenn es wirklich bloß künstlerische Rücksichten gewesen wären, die Schiller mehr zu anderen Formen der Rebellion zogen als denen 172

der demokratisch-bürgerlichen Revolution, hätte sich in der Behandlung seiner Stoffe doch irgendwie ein Verständnis für die Bedingungen einer bürgerlichen Revolution zeigen können, ja müssen, wenn er eines besessen hätte. Aber alles, was er sagt, deutet auf das Gegenteil: sonderbares Verhängnis, das Schiller drängte, immer wieder politische Themata zu behandeln, und das ihm doch alles politische Verständnis versagte; das ihn immer wieder trieb, Rebellionen zu malen, und ihn blind machte für die größte, fruchtbarste Rebellion, die sich vor seinen Augen abspielte. Woher rührt aber dieser eigenartige Widerspruch? Unsere Untersuchung wäre unvollständig ohne die Beantwortung dieser Frage. Nicht darum handelt es sich, Schiller zu verherrlichen oder ihn zu benörgeln — nichts leichter, aber auch nichts unfruchtbarer als das. Was uns obliegt, ist jene Aufgabe, die Spinoza sehr schön in dem Satze aussprach: „Eifrig war ich bestrebt, die Handlungen der Menschen nicht zu verlachen, nicht zu betrauern, noch zu verabscheuen, sondern zu begreifen." Erst kürzlich trat uns dieser Satz wieder entgegen als Motto eines Werkes über die Kriminalität (Bonger, Criminalité et conditions économiques). Aber er gilt nicht minder für die Erforschung der Kunst wie für die Erforschung des Verbrechens. Einen großen Geist begreifen, das ist das beste Denkmal, das wir ihm setzen, das ist der beste Gewinn, den wir aus ihm ziehen können. Wenn wir aber den Ursachen nachgehen, die die erwähnten Widersprüche herbeiführten, so finden wir vor allem, daß diese den Zeitgenossen Schillers nicht auffielen — soweit mir bekannt. Sie lagen also nicht in persönlichen Eigentümlichkeiten des Dichters begründet, sondern in allgemeinen Zeitverhältnissen, die auf sein Publikum ebenso wirkten wie auf ihn selbst. Und im allgemeinen sind diese Verhältnisse ja auch früher schon erkannt worden. Sie entsprangen der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands, dessen kapitalistische Entwicklung im Innern und dessen Verkehr mit den weiterentwickelten Nachbarn schon weit genug fortgeschritten war, um seine besten Denker die Probleme und Bedürfnisse der neuen bürgerlichen Gesellschaft und die Richtung ahnen zu lassen, in der ihre Lösung und Befriedigung gesucht werden mußte, die aber noch nicht genug fortgeschritten war, um eine bürgerliche Gesellschaftsklasse zu schaffen, welche Kraft und Intelligenz genug besessen hätte, um den Kampf für ihre 173

besonderen Interessen zu einem Kampfe für die neue Gesellschaft und den neuen Staat zu erweitern und diesen Kampf energisch und erfolgreich zu führen. Die bürgerlichen Denker Deutschlands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren daher in einer ähnlichen Lage wie die Sozialisten der ersten Jahrzehnte des 19. Sie mußten die Mittel und Kräfte zur Lösung der neuen gesellschaftlichen Probleme, zur Befriedigung der neuen gesellschaftlichen Bedürfnisse aus sich selbst schöpfen, da sie sie nicht in ihrem Milieu zu entdecken vermochten; sie mußten sie durch ihre Phantasie produzieren, waren imstande, dadurch alle zeitliche und räumliche Beschränktheit und Bedingtheit zu überwinden; aber den Blick in die Wolken gerichtet, stolperten sie zu leicht bei jedem Schritte, den sie auf dem Boden der Wirklichkeit zu gehen gedachten. So entstand der politische Idealismus eines Schiller und eines Kant, der als bürgerlicher Utopismus wesensverwandt ist dem sozialistischen Utopismus eines Fourier und Owen — die freilich als Engländer und Franzosen immer noch eine solide ökonomische und politische Basis unter sich fühlten, die den Idealisten unter den Deutschen im Zeitalter der großen Revolution gänzlich fehlte. Und bis heute glauben jene Sozialisten, die sich nicht zur materialistischen Grundlegung des Sozialismus durchgearbeitet haben und in seinem utopistischen Stadium stecken geblieben sind, er sei wesensgleich mit dem Idealismus von Schiller und Kant. Indes wird die Eigenart des deutschen Idealismus des 18. Jahrhunderts noch verständlicher, wenn man den Unterschieden zwischen Deutschland auf der einen Seite, Frankreich und England auf der anderen noch weiter nachgeht. Und da finden wir vor allem einen großen Unterschied, der durch die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands allein nicht erklärt wird, wohl aber die Folgen dieser Rückständigkeit bedeutend verstärkt hat: Deutschland fehlte eine Großstadt wie Paris und London. Diese beiden Städte waren schon Großstädte zu einer Zeit, wo Frankreich und England ökonomisch noch weniger entwickelt waren als Deutschland zu Ende des 18. Jahrhunderts. Paris zählte 1 7 1 5 bereits 500000 Einwohner, für London wird seine Volkszahl schon 1685 etwas höher (530000) angegeben. Dagegen zählten Deutschlands größte Städte: Wien 1754 erst 175000 Einwohner und Berlin 1755 126000; beide aber waren für das kulturelle Leben Deutschlands von geringer Bedeutung. In den Teilen Deutschlands, die als Zentren seiner Kultur angesehen 174

werden dürfen, konnte man nur noch kleinere Städte finden. Die größte darunter, Hamburg, das samt Gebiet noch 1786 nur 120000 Einwohner umfaßte; die anderen Städte waren viel kleiner. Köln und Frankfurt umfaßten damals nur je 40000 Einwohner, Leipzig, dies „Klein-Paris", hatte noch 1801 nur 32000, Stuttgart 1795 ganze 19000 Einwohner; Weimar dürfte kaum die Hälfte aufzuweisen gehabt haben. Noch 1871 enthielt es nur 16000 Einwohner. Paris und London waren aber nicht bloß Großstädte, die im übrigen zivilisierten Europa ihresgleichen nicht fanden, denen nur noch Amsterdam mit seinen 300000 Einwohnern am Anfang des 18. Jahrhunderts nahe kam, das auch einen ähnlichen Einfluß übte wie sie; sie fanden auch im eigenen Lande keine Stadt, die ihnen einigermaßen nahe kam. So waren zum Beispiel in England die beiden größten Städte nach London Bristol und Norwich, jedes um 1685 mit 29000 Einwohnern. Die zweitgrößte Stadt war also siebzehnmal kleiner als die Hauptstadt! Schon das allein mußte dieser eine ungeheure Macht über das ganze Land verleihen. Dazu kam die enorme Konzentration von Machtmitteln in der Stadt, während das flache Land und die Kleinstädte nicht nur über geringe Machtmittel verfügten, sondern auch durch die unentwickelten Verkehrsmittel außerstande waren, diese Machtmittel rasch zusammenzuziehen und zu benutzen. In der Großstadt waren sie auf den engsten Raum zusammengedrängt und konnten über Nacht mobil gemacht werden. Da fanden sich zunächst die Machtmittel der Intelligenz. Die Großstadt zog sie an, sie schuf einen Markt für ihre Leistungen, der die Literaten und Künstler unabhängiger machte von reichen Gönnern. Eine starke oppositionelle Literatur, namentlich Zeitungsliteratur, konnte sich entwickeln zu einer Zeit, wo die deutschen Literaten entweder verhungerten oder auf die Gnade eines mehr oder weniger fürstlichen Mäzens angewiesen waren. Zu den Machtmitteln der Intelligenz gesellten sich die des Geldes. Die reichsten Kaufleute des Landes sammelten sich in der Großstadt, alle die großen Ausbeuter des Adels, des Landvolks, des industriellen Proletariats, der Kolonien. Sie verfügten über Schätze, denen gegenüber die kleinen deutschen Fürsten wie arme Schlucker erschienen. Und endlich die Machtmittel der Waffen. Noch waren die Handwerker nicht wehrlos, noch war die Differenz zwischen der Waffentechnik der fürstlichen Truppen und der der Bürgerschaft 175

keine erdrückende. Und diese, auf engem Raum zusammengedrängt und leicht mobilisiert, bereitete den königlichen Regimentern einen schweren Stand. Zuzug von außen erhielten diese aber nicht so rasch. So spielten die beiden Großstädte im 17. und 18. Jahrhundert eine entscheidende politische Rolle und wußten ihren Herrschern gewaltig zu imponieren, mit denen sie gar manchen Strauß siegreich ausfochten. Sie bildeten aber auch die Mittelpunkte großer Reiche, es waren große Fragen nationaler und internationaler Politik, um die sie sich kümmerten, um derenthalben sie zeitweise in Konflikt mit dem Herrn des Landes gerieten; da entwickelte sich im Bürgertum dieser Städte ein relativ bedeutendes politisches Interesse, politischer Weitblick, politischer Einfluß und damit auch ein politisches Selbstgefühl, wie es eine Kleinstadt damals nie erzeugen konnte. Wenn man von diesen Errungenschaften der revolutionären Bourgeoisie Frankreichs und Englands spricht, ist darunter in erster Linie die von Paris und London zu verstehen. Ohne die beiden Großstädte hätten diese Länder trotz ihrer sonstigen ökonomischen Entwicklung kein so revolutionäres und politisch so intelligentes Bürgertum und Kleinbürgertum erzeugt, wie sie in Wirklichkeit produzierten. Seitdem haben die großen Hauptstädte an politischer Kraft und Führungsfähigkeit sehr eingebüßt. Für den proletarischen Emanzipationskampf haben sie weit geringere Bedeutung als für den der Bourgeoisie. Die bürgerliche Revolution ist dagegen nicht zu verstehen ohne Kenntnis der Geschichte von London und Paris. In Deutschland fehlte die Großstadt und damit die belebende politische Wirkung, die sie üben konnte. Die hemmende Wirkung der Kleinstädterei Deutschlands wurde noch verstärkt durch die seiner Kleinstaaterei, zwei Faktoren, die sich gegenseitig bedingten und verstärkten. Ausgenommen in Berlin und Wien, die damals so wenig für die deutsche Kultur bedeuteten, wurde mit der wachsenden Souveränität der Kleinstaaterei und dem Schwinden der kaiserlichen Zentralgewalt das Treiben der Höfe selbst immer kleinlicher, engherziger, unpolitischer. Das Amüsement spielte bei allen fürstlichen Höfen des 18. Jahrhunderts eine große Rolle, bei den meisten deutschen Höfen wurde es der einzige Lebenszweck, und das Volk konnte noch von Glück sagen, wenn der Drang nach Amüsement sich auf ästhetische Gebiete wandte, wenn das Theater der Mittelpunkt des Staates wurde 176

und nicht die Kaserne und der Wildpark; wenn der Ehrgeiz des Landesvaters dahin ging, ein vortrefflicher Theaterdirektor zu sein, und nicht dahin, einen tadellosen Feldwebel, Militärschneider und Weidmann vorzustellen; wenn nur Schauspielerinnen und Ballerinen und nicht auch Kavalleriepferde, Hirsche und Eber Bürger und Bauern auspowerten. Im ersteren Falle fielen doch auch gelegentlich ein paar Brocken für einen Dichter ab. Aus der Kleinstaaterei und Kleinstädterei entsprang das politische Elend Deutschlands, das nicht bloß in seiner Unfreiheit bestand, sondern auch in seiner Unfähigkeit, eine Bourgeoisie mit politischem Verständnis und politischer Selbständigkeit hervorzubringen. Gegen die Unfreiheit vermochte sich die Schillersche Feuerseele zu empören. Der allgemeinen Atmosphäre kleinstädtischen Philistertums erlag sie. Und weit entfernt, ihm das vorzuwerfen, muß man noch erstaunen über die sieghafte Kraft, mit der er in diesem trostlosen politischen Milieu sein Rebellentum zu entwickeln und so lange zu behaupten vermochte. Politisches Verständnis und politische Selbständigkeit den aufsteigenden Klassen in Deutschland einzuflößen, vermochte erst — soweit das überhaupt ein Dichter vermag und soweit es zu seinen Aufgaben zählt — ein Dichter der nächsten poetischen Generation, aber kein Dramatiker, sondern ein Lyriker, Heinrich Heine, der wenige Jahre vor Schillers Tod geboren wurde. Indes auch dieser hätte seine politische Aufgabe kaum zu erfassen und zu lösen vermocht, wäre er in Deutschland geblieben. In Paris holte er sich die Kraft und die Einsicht, deren er dazu bedurfte. Bis zum Jahre 1848 war es die französische Großstadt, aus der die deutsche Bourgeoisie ihre revolutionären Anregungen, Gedanken und Ziele erhielt und erhalten mußte, da sie eine eigene Großstadt nicht besaß. Zur Zeit Schillers aber war die Brücke zwischen dem revolutionären Paris und Deutschland noch nicht geschlagen. Für unser politisches Denken kann uns Schiller nur wenig geben. Für die Bildung des politischen Charakters ist jedoch sein Einfluß unschätzbar. Dadurch wird er vor allem als Politiker der Dichter der heranwachsenden Jugend, jenes Zeitalters, in dem es mehr die Bildung des politischen Charakters als des politischen Verstandes, mehr die des Empfindens als des Analysierens gilt; wo es heißt, die Fähigkeit der Begeisterung für hohe Ziele entwickeln, aller dekadenten Altklugheit und selbstsüchtigen Weltklugheit 14

Jonas, Schiller-Debatte

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vorbeugen. Er bleibt aber durch sein revolutionäres Temperament auch der Dichter jeder revolutionär aufstrebenden Klasse, auf die er gerade durch die Unbestimmtheit seines revolutionären Ideals noch ein Jahrhundert nach seinem Tode anfeuernd einwirken kann, da er ihr erlaubt, sein Freiheitsideal im Sinne ihrer besonderen, von denen seiner Zeit ganz verschiedenen Ziele zu deuten und sich aus seinem Schwung, seinem Trotz, seiner Kühnheit Zuversicht und Hoffnungsfreudigkeit zu holen. So ist Schiller der Dichter der deutschen Arbeiterklasse geworden, gibt es bisher keinen Dramatiker, der ihn überholen und aus ihrem Herzen verdrängen könnte, hat gerade das Proletariat das Recht, ihn zu feiern. Denn dies Recht steht nur der Jugend zu und jungen Klassen mit hohen Zielen, nicht aber Klassen, für deren Greisenhaftigkeit das politische Ideal nichts mehr ist als eine Erinnerung an längst vergangene Tage.

Franz Mehring Schiller und die großen Sozialisten Beim Schillertag drängt sich unwillkürlich auch die Frage nach dem Einfluß auf, den Schiller auf Marx, Engels und Lassalle gehabt hat. Es läßt sich nicht viel darüber sagen, denn Marx und Engels sind immer nur beiläufig und Lassalle ist nicht viel häufiger auf Schiller zu sprechen gekommen. Ein Unterschied macht sich dabei insofern geltend, als sich in Lassalles gelegentlichen Äußerungen über Schiller eine lebhafte Sympathie für diesen kundgibt, von der bei Marx und Engels eher das Gegenteil zu spüren ist. Gleichwohl bestehen hier tiefere Zusammenhänge, die ein gewisses historisches Interesse besitzen. Sagen, daß Marx und Engels von Schiller nicht viel hätten wissen wollen, weil Schiller „Idealist" gewesen sei, hieße vom „Idealismus" in jenem verschwommenen Sinne sprechen, den nicht sowohl Schiller selbst als Schillers bürgerliche Ausleger aufgebracht haben. Von Fichte und Hegel, die „Idealisten" in der kühnsten Bedeutung des Wortes waren, haben Marx und Engels stets mit größter Hoch178

achtung gesprochen und sich gern als ihre Schüler bekannt. Idealismus und Idealismus können je nachdem ganz verschiedene und unter Umständen ganz entgegengesetzte Anschauungen bedeuten. So auch unterscheiden sich der Idealismus Schillers und der Idealismus Fichtes, was niemand klarer erkannte als Schiller und Fichte selbst, zur Zeit, wo sie — im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts — in Jena zusammenlebten. Schiller schrieb damals an Fichte (bei einem Streite, den sie wegen der Aufnahme eines von Fichte verfaßten Manuskriptes in die Hören hatten): „Wären wir bloß in Prinzipien geteilt, so hätte ich Vertrauen genug in unsere beiderseitige Wahrheitsliebe und Kapazität, um zu hoffen, daß der eine den anderen endlich auf seine Seite neigen würde; aber wir empfinden verschieden, wir sind verschiedene, höchst verschiedene Naturen, und dagegen weiß ich keinen Rat." In ähnlicher Weise, nur noch schroffer, ließ sich Schiller in seinen Briefen an Goethe über Fichte aus, den er einmal „die reichste Quelle von Absurditäten" nannte und den er auch öffentlich als „Weltverbesserer" verspottete. Damit kommen wir auf den entscheidenden Punkt. Schillers ästhetisch-philosophischer Idealismus bestand in der Flucht aus dem erbärmlichen wirklichen Leben ins Reich der Kunst, während Fichte von dieser Resignation nichts wissen wollte, weshalb ihn Schiller eine „unästhetische" Natur schalt. Fichte wollte vielmehr die Erbärmlichkeit des wirklichen Lebens durch das willenskräftige Ich in eine menschenwürdige Wirklichkeit umschaffen. Es ist leicht einzusehen, einerseits wie weit dieser historisch-philosophische Idealismus vom Idealismus Schillers entfernt, ja ihm geradezu entgegengesetzt war, andererseits wie sehr der Idealismus Schillers, immerhin in ganz mißverstandener und verzerrter Form, das Ideal des deutschen Philisters werden mußte, der sei' Ruh' haben wollte, während die Fichte und Hegel wie die Kraniche über die Köpfe des deutschen Bürgers flogen, bis sie in Marx und Engels die schöpferischen Umbildner ihres Idealismus fanden. Unter diesem Gesichtspunkt begreift man denn aber auch sofort, weshalb Marx einmal sagt, Schillers Flucht ins Ideal sei nur die Vertauschung der gemeinen Misere mit der überschwenglichen, oder Engels ein andermal die Verketzerung des philosophischen Materialismus so erklärt, daß der Philister davon nur soviel verstehe, als er an einigen Bildungsbrocken aus Schillers Gedichten

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aufgeschnappt habe. Marx und Engels hatten gerade in ihren kräftigsten Entwicklungsjahren mit dem Popanz zu kämpfen, den die deutsche Spießbürgerei aus dem Idealismus Schillers gemacht hatte, und ihr Unwille darüber war um so größer, als leichte und leichtfertige Feuilletontalentchen vom Schlage der Karl Grün den mißverstandenen Idealismus Schillers mit dem mißverstandenen Idealismus Fichtes und Hegels in ein unglaubliches Sammelsurium zusammenkoppelten. Gegen solche belletristische Seichtbeuteleien hatten Marx und Engels immer einen unbändigen Zorn; sie sahen darin eine verhängnisvolle Verwüstung der Arbeiterbewegung, und gewiß mit vollstem Rechte; es wäre nur zu wünschen, daß ihr Zorn heute noch, in der Arbeiterbewegung der Gegenwart, ebenso lebendig wäre. In diesem Zusammenhang ist nun freilich Schiller selbst bei Marx und Engels zu kurz gekommen. Sie haben sich nie die Mühe genommen, zu unterscheiden oder wenigstens öffentlich hervorzuheben, daß der Idealismus, so wie ihn Schiller meinte, für seine Zeit doch etwas anderes war als der Idealismus, den sich die deutschen Spießer, namentlich in den Jahren von 1815 bis 1848, für ihre Zeit aus Schillers Gedichten zurechtbrauten. Marx und Engels wurden sofort mißtrauisch, sobald sich der deutsche Bürgersmann für Schiller zu begeistern begann. Selbst die Franzosenhetze im Frühjahr des Jahres 1859 erschien ihnen in günstigerem Lichte als die Schillerfeier im Herbste desselben Jahres. „Sie war wirklich national", schrieb Engels, „viel nationaler als alle Schillerfeste von Archangel bis San Francisco; sie entstand naturwüchsig, instinktiv, unmittelbar." Das ist aber unrichtig; von den beiden bürgerlichen Emotionen des Jahres 1859 war die Schillerfeier unzweifelhaft die naturwüchsigere. Lassalle erklärte sie ganz richtig aus dem Fichteschen Wort, daß die Literatur erst das einzige einigende Band der Nation sei. „In der geistigen Einheit seiner Literatur ist es, wo unser Volk die Bürgschaft seiner eigenen Geisteseinheit und somit das fröhliche Unterpfand seiner nationalen Auferstehung sieht." Lassalle war nicht minder als Marx und Engels ein Schüler Fichtes und Hegels. Er hat zu Schillers Idealismus keine nähere, aber eine unbefangenere Stellung. Gegen die bürgerliche Verzerrung dieses Idealismus wendet er sich ebenso wie Marx und Engels, aber er tut das, was diese beiden in dem Eifer einer viel drängenderen Notwendigkeit und eines viel heißeren Kampfes unterlassen haben: Er unterscheidet zwischen Schiller und dessen 180

bürgerlichen Interpreten. Karl Grün war eben in den vierziger Jahren viel gefährlicher als Julian Schmidt in den fünfziger Jahren. In seinem Pamphlet gegen diese Helden der bürgerlichen Literarhistorie gibt Lassalle eine schöne und durchaus treffende Charakteristik des Schillerschen Idealismus. Er kommt dann noch — während er im allgemeinen die Versündigungen Julians an Schiller durch seinen Mitarbeiter Bucher abstrafen läßt — auf einen anderen Punkt von allgemeinem Interesse zu sprechen, auf die Frage nach dem Maße von Schillers Bildung. Sie ist oft sehr wegwerfend beurteilt worden, und gewiß hatte sie manche Lücken infolge des Verbrechens, das der Herzog Karl Eugen von Württemberg an dem Knaben Schiller beging, indem er ihn auf acht Jahre in die Karlsschule sperrte, Lücken, die1 Schiller auch durch das angestrengteste Studium späterer Jahre nicht mehr ausfüllen konnte. Es war nun aber rein lächerlich, wenn ein Julian Schmidt sich deshalb aufs hohe Pferd gegenüber einem Schiller setzte und den unglaublichen Galimathias von sich gab: „Aus einem unendlich kleinen Vorrat des Stoffes hatte Schiller eine sehr vielseitige Weltanschauung gewonnen, die selbst die Fürstin zuweilen durch ihre geniale Wahrheit überraschte. Daher seine langsame Entwicklung, daher aber auch sein fester Glaube an die Gewalt des Geistes, dem die Wirklichkeit Untertan sei." Indem Lassalle diesen blühenden Unsinn zergliederte, fällte er über Schillers Bildung das bemerkenswerte und im ganzen gewiß zutreffende Urteil, daß der Verfasser Wallensteins und des Dreißigjährigen Krieges, der Übersetzer des Eurípides und der Kenner der antiken Tragödie, die er in seiner Braut von Messina wiederzubeleben suche, der gründliche Forscher der Schweizergeschichte, die er in seinem Teil so meisterhaft gestalte, und der Verfasser der Briefe über die ästhetische Erziehung einen achtungswerteri und ausgedehnten Wissenshorizont gehabt habe, der nur hier und da etwas tiefer hätte sein können. Lassalle hat aber nicht bemerkt, daß Julian Schmidt sein sinnloses Gerede noch dazu in sinnlosester Weise abgeschrieben hat, nämlich aus folgenden Sätzen Wilhelm v. Humboldts über Schiller: „Es ist merkwürdig, aus welchem kleinen Vorrat des Stoffes Schiller eine sehr vielseitige Weltansicht gewann, die, wo man sie gewahr wurde, durch genialische Wahrheit überraschte; denn man kann die nicht anders nennen, die durchaus auf keinem äußerlichen Wege entstanden war. Selbst von Deutschland hatte er nur einen Teil ge181

sehen, nie die Schweiz, von der sein Teil doch so lebendige Schilderungen enthält." Man vergleiche diese Sätze Humboldts mit dem, was Julian Schmidt daraus gemacht hat, und man beantworte dann die Frage, ob es je einen ruchloseren Schmierer gegeben hat als den wackeren Julian, und wie sehr die mitleidigen Seelen auf dem richtigen Wege sind, die dies unschuldige Opfer des bösen Lassalle heute noch bemitleiden. Das Beispiel ist aber auch charakteristisch für die Art, wie der Idealismus Schillers, zu dessen tiefsten Kennern Wilhelm v. Humboldt gehörte, für das Verständnis der bürgerlichen Welt zurechtgemacht worden ist. Er wurde in die blödeste Wortmacherei versponnen und hat an seinem Teile dazu beigetragen, den bürgerlichen Klassenkampf in Deutschland zu entnerven. Marx und Engels mußten ihn bekämpfen, wenn sie der großen Aufgabe ihres Lebens gerecht werden wollten; ist Schiller selbst dabei nicht zu seinem Rechte gekommen, so war das — auch in Schillers eigenem Sinne — ungleich leichter zu ertragen als eine geistige Verseuchung der Massen mit belletristischen Salbadereien im Stile'der Karl Grün, die ja in dem einen Sinne unsterblich sind, daß sie nie aussterben.

Friedrich

Stampfer

Der klassische Idealismus und der historische Materialismus Das stolze Wort Friedrich Engels', das die Arbeiterklasse als die Erbin der deutschen klassischen Philosophie bezeichnet, scheint ohne weiteres geeignet, das Verhältnis des aufgeklärten Proletariats zu Friedrich Schiller zu kennzeichnen, der ja der dichterische Herold und damit der unvergleichliche Popularisator der deutschen klassischen Philosophie gewesen ist. Aber ein Bedenken liegt doch am Wege: war nicht Schiller der Verkünder des I d e a l i s m u s , und ist nicht die klassenbewußte Arbeiterschaft die eingeschworene Anhängerin des historischen M a t e r i a l i s m u s ? Schiller glaubte an den Sieg des Guten und der Idee; die Sozialdemokratie aber, hören wir unsere Gegner sagen, rechnet nur mit den Kräften des Eigennutzes (lies auch: rohen Instinkten der 182

Masse) und den allmächtigen wirtschaftlichen Verhältnissen (lies auch: dem blinden Mechanismus der Gesellschaft), woraus denn ohne Mühe zu folgern ist, daß die Weltanschauung der Sozialdemokratie im geraden Gegensatz stehe zu der Höhe und idealen Geisteseinheit des gefeierten Poeten. Wieweit es unseren Gegnern mit solchen phrasenhaft aufgeblähten Vorhaltungen ernst ist, vermögen wir im allgemeinen nicht zu beurteilen. Nur soviel scheint sicher zu sein, daß auch im Lager der Sozialdemokratie selbst über das Verhältnis des klassischen Idealismus zur sozialistischen Weltauffassung sehr verschiedene Meinungen vorhanden sind und sich öfter ein seltsamer Gegensatz bemerkbar macht. Einer fast instinktiven Zuneigung zum Geiste des 18. Jahrhunderts und einer ungekünstelten urwüchsigen Begeisterung für Schiller begegnet eine kühle, verstandesmäßige Zurückhaltung, die fast zu befürchten scheint, daß eine engere Verständigung mit dem Geiste des klassischen Jahrhunderts nur durch Aufgabe eines wichtigen Fortschrittes menschlicher Erkenntnis erkauft werden könnte. Die deutsche Arbeiterklasse ist nicht nur die Erbin der klassischen Philosophie, sondern in noch weit höherem Grade die Hüterin marxistischen Erbes. Und hat nicht das Leben von Marx und Engels zum guten Teile dem Kampfe wider einen verschrobenen Idealismus gegolten? Gegen ihn traten sie schon in den vierziger Jahren auf den Plan. „Der reale Humanismus", heißt es in der Vorrede zur Heiligen Familie, „hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das .Selbstbewußtsein' oder den ,Geist' setzt." Diese Kriegserklärung richtet sich gegen die letzten Mohikaner einer absterbenden Philosophieperiode, die Brüder Bauer, die durch ihre Wirksamkeit reichlich genug bewiesen hatten, wie eine bedeutende und heilsame Lehre durch mißverständliche Ubertreibung in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Die Entartung der klassischen Philosophie aber ist daran schuld gewesen, daß mitunter jede Brücke der Verständigung zwischen der großen Idee des 18. und jener des 19. Jahrhunderts abgebrochen zu sein schien, wiewohl es klar ist, daß der Befreiergedanke des Sozialismus unmöglich wie Pallas Athene gleich fertig aus dem Haupt des Vaters Zeus entsprungen sein konnte und das Wort Engels' vom Erbe der klassischen Philosophie nie eigentlich bestritten worden ist. 183

Der junge Marx hat indes zwischen dem Baum selbst und seinen verfaulten letzten Früchten wohl zu unterscheiden gewußt. Der klassische Idealismus des 18. Jahrhunderts hatte sich in der ersten Hälfte des i g . Jahrhunderts so völlig zersetzt, daß ein ätherischer Mystifizismus, eben jener „spekulative Idealismus", zum Himmel dampfte, während die Lehre von der Vernünftigkeit alles Bestehenden, der Grundsatz der historischen Rechtsschule und der historischen Schule der Nationalökonomie, als ekler Bodensatz zurückblieb. Im Interesse des „realen Humanismus" kämpfte Marx gegen beide ungleiche Brüder mit gleicher Schärfe an. Er wendet sich u. a. auch gegen den Meister des Mystizismus Hugo, gegen dessen angemaßte Schülerschaft er K a n t in Schutz nimmt. „ I s t " , so schreibt er, „ K a n t s Philosophie mit Recht als die deutsche Theorie der Französischen Revolution zu betrachten, so Hugos Naturrecht als die deutsche Theorie des französischen ancien régime." Hugos Theorie sei nichts weiter als die Proklamation des „Rechts der willkürlichen Gewalt". In strengstem Gegensatze hierzu betrachtete Marx den Staat „als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eigenen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht". Die Übereinstimmung dieser Ausführungen mit dem Geiste des 18. Jahrhunderts, zumal mit Kant-Schillerschen Auffassungen, t r i t t hier klar zutage. Jener Satz des jungen Marx ließe sich ohne weiteres in Schillers Buch Über die ästhetische Erziehung des Menschen einschieben, ohne durch Inhalt und Stil aus dem allgemeinen Rahmen zu fallen. Denn die Worte, in denen Marx seine Forderungen an den Staat formuliert, stimmen fast wörtlich mit jenen Schillers überein. „. . . Das Werk blinder K r ä f t e , heißt es bei Schiller, besitzt keine Autorität, vor welcher sich die Freiheit zu beugen braucht, und alles muß sich dem höchsten Endzweck fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt. Auf diese Weise rechtfertigt sich der Versuch eines mündigen Volkes, seinen Naturstaat in einen sittlichen umzuformen." Und die enttäuschten Hoffnungen der Französischen Revolution schildert Schiller also: „ W a h r ist es . . . die Willkür ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz u n d Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher

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Stimmenmehrheit fordert er die Wiederherstellung seiner unverlierbaren Rechte. Aber er fordert sie nicht bloß; jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltig zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung zu Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen." Der eigentliche genetische Zusammenhang zwischen dem klassischen Idealismus und dem historischen Materialismus wird von Marx selbst in unendlich klarer Weise aufgezeigt in seinem Aufsatze: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. „Die Waffe der Kritik", heißt es da, „kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß geschützt werden durch materielle Gewalt; allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. . . . Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie . . . ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, d a ß d e r M e n s c h d a s h ö c h s t e W e s e n f ü r d e n M e n s c h e n sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Aber auch hier schon verbindet sich bei Marx der Schwung des idealen Gedankens mit realpolitischer Einsicht, und er gesteht: „Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die V e r w i r k l i c h u n g s e i n e r B e d ü r f n i s s e ist." Als die einzige Klasse aber, der die Verwirklichung der humanistischen Theorie die Verwirklichung ihrer Bedürfnisse ist, erkennt er das P r o l e t a r i a t . „Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands", schreibt er, „ist die Befreiung auf dem Standpunkte der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt . . . Die Emanzipation der Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann nicht verwirklicht werden ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." Die Verwandlung des Naturstaats in einen sittlichen, die Anerkennung des Menschen als Selbstzweck, die Erhebung der Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung — alles was Schiller von der Französischen Revolution, von der er sich bald enttäuscht 185

abwandte, ursprünglich erwartet hatte, kann also nur erreicht werden durch eine Klasse, die Schiller noch nicht in den Kreis seiner Erwägungen mit einbeziehen konnte, aus dem einfachen Grunde, weil sie zu seiner Zeit noch nicht bestand. Das Proletariat übernimmt aber seine gewaltige historische Mission nicht wie die mittelalterlichen Kreuzzügler mit dem Rufe „Gott will es", es bildet sich nicht ein, zu seiner großen Aufgabe durch eingeborene Tugend und göttliche Gnade berufen zu sein, sondern es leitet seinen Beruf aus dem Zwange seiner Klassenlage ab. Die Verwirklichung des klassischen Menschheitsideals ist eine klassenpolitische Notwendigkeit. Hatte der klassische Idealismus die „ewige Wahrheit" als eine allgemeine menschliche Denknotwendigkeit erkannt, die ihre reale Existenz nicht irgendwo über den Wolken, sondern im menschlichen Geiste führte, so erkannte hinwiederum der historische Materialismus die besondere Wahrheit einer Zeit als die Denknotwendigkeit einer bestimmten Klasse. Schiller ging noch von der einfachen und naheliegenden Erwägung aus, daß Volksschichten, die durch Unterdrückung in ewiger Unwissenheit gehalten werden, auch am wenigsten imstande seien, verwickelte philosophische Theorien zu begreifen. „Der zahlreichere Teil der Menschen", klagt er, „wird durch den Kampf mit der Not viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen härteren Kampfe mit dem Irrtum auf raffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in Bereitschaft halten." Das Geheimnis der wirkenden Kräfte des Klassengegensatzes, das erst durch die fortschreitende Entwickelung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung enthüllt wurde und sich erst vierzig Jahre nach seinem Tode fortgeschrittenen Geistern mählich zu entschleiern begann, muß ihm noch verborgen bleiben. Er hat es nicht mehr erlebt, daß der zahlreichere Teil der Menschen sich zum Kampfe mit dem Irrtum aufraffte und die Formeln des Staates und der Kirche zu kritisieren begann. So schien ihm damals, als ob Vernunft und Wirklichkeit für unabsehbare Zeiten verschiedene Wege gehen müßten, wenn er auch nicht die Hoffnung aufgab, daß sie irgendwo und irgendwann einander begegnen müßten. 186

Der historische Materialismus hat jene scheinbare Unabhängigkeit der voraneilenden Wahrheit von der trägen Materie der menschlichen Gesellschaft als nur scheinbar erkannt, den engen Zusammenhang zwischen der geistigen Entwickelung der Menschheit und ihrer gesellschaftlichen nachgewiesen; er hat der Flucht in das Reich der Träume Einhalt geboten und das flüchtige Ideal mit den Ketten der Erfahrungswissenschaft auf der sicheren Erde verankert. Der Geist verlor seine eingebildete Ungebundenheit und die scheinbare Unendlichkeit seines Reiches, er fand sich nicht mehr nur durch die allgemeinen Gesetze seiner Organisation, sondern auch durch die Verhältnisse seiner Zeit beschränkt. Der Idealismus wurde praktisch, der Humanismus real. In diesem Sinne ist nicht nur im allgemeinen der Sozialismus der Erbe der deutschen klassischen Philosophie, sondern auch im besonderen der historische Materialismus der Erbe des klassischen Idealismus. Die Überzeugung, in idealem Sinne recht zu haben, hat er vermehrt durch die Zuversicht, auch in der Welt der Wirklichkeit recht zu behalten. Solche „grob materialistische" Auffassung will freilich regierenden Klassen wenig behagen, die sich das Ideal als das Gute definieren, das man nicht haben kann und an dem das Beste ist, daß man es nicht hat, sintemal es sich ja so auch ganz gut leben läßt und die Menschheit noch lange nicht reif sei. Das allerdings ist ein „Idealismus", und wahrlich kein klassischer, der keinen schlimmeren Feind hat als den historischen Materialismus.

Max

Maurenbrecher

Der Geschichtsschreiber Schiller Niemand wird heute zu Schillers Werken greifen, wenn er die wirkliche Geschichte des Dreißigjährigen Krieges oder des Abfalls der Niederlande oder gar den mutmaßlichen Anfang des Menschengeschlechts erfahren möchte. In keinem anderen Punkte ist unsere heutige Methode, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, 187

so unermeßlich weit über das 18. Jahrhundert hinausgekommen als gerade in der Geschichte. In den Tagen Schillers war es, für Deutschland wenigstens, schon ein ziemlicher Fortschritt, daß man anfing, die Tagebücher der handelnden Personen zu lesen ; Schiller selbst hat einen Teil seines Lebensunterhalts damit verdient, daß er eine solche Memoirensammlung herausgab. Das war damals die beste Quelle, die man hatte, die Tatsachen der Vergangenheit zu kennen. Heute ist die Zeit ziemlich vorbei, wo man [von] Geschichtsschreibern und [aus] Selbstbiographien seine Kenntnisse nimmt; heute hat die Urkunde, das Aktenstück, der gleichzeitige Brief schon seit einem halben Jahrhundert die erste Stelle in den historischen Quellen erhalten. Wer wird heute noch etwa Goethes Leben nur nach Dichtung und Wahrheit erzählen! Sind wir aber schon in der Kenntnis der Tatsachen der Schillerschen Zeit gewaltig überlegen, so noch viel mehr in der A r t und Weise, sie zu verknüpfen und zu verstehen. So gut es Schiller gelegentlich verstand, Massenbewegungen zu beschreiben, so wenig hat er je daran gedacht, sie bis auf ihre letzten Ursachen hin zu begründen. Ein Satz wie der, daß der Katholizismus mehr für ein Künstlervolk, der Protestantismus mehr für ein K a u f mannsvolk passe, ist ja wie eine gelegentliche A h n u n g kommender Erkenntnisse, wie ein erstes, unbewußtes Dämmern neuen Verständnisses. Aber er ist auch das Fortgeschrittenste, was Schiller in dieser Beziehung hat, gelegentlich hingeworfen, nicht zur Grundlage der Erklärung des Zeitalters der Religionskämpfe gemacht. So ist der Geschichtsschreiber Schiller heute nur noch historisch zu verstehen, nicht praktisch und aktuell zu genießen. Seine Dramen, seine Balladen sprechen noch heute fast immer unmittelbar zu unserem Gemüt. Seine philosophisch-ästhetischen Schriften sind wenigstens immer noch starker Anregungen voll. Seine geschichtlichen Werke, so sehr sie eine Zeitlang für den Haushalt ihres Verfassers die wichtigsten waren, sind für uns heute mehr oder weniger tot. Oder vielleicht doch nicht so ganz? Vielleicht helfen sie uns nicht, bestimmte Geschichtsperioden wirklich zu verstehen und zu ergründen, aber sie sind doch ein Dokument dafür, was für des Dichters Zeit das Wesentliche an der Geschichte war. Vielleicht, daß es unrecht ist, die Geschichtsauffassung seiner Zeit so unbesehen zum alten Eisen zu werfen. Die Geschichtsdarstellung Schillers wurzelt ganz in den Ideen 188

des „Rationalismus", der Aufklärung, des Zeitalters der Vernunft, wieviel eine bestimmte Periode für die Beförderung der Aufklärung getan hat, ob sie der Durchdringung der Vernunft hinderlich oder förderlich war, ob sie die einzelnen Nationen sich gegenseitig genähert, sie zu höherer Kultur, zu einem neuen Weltbürgertum zusammengeschweißt hat oder sie abgesondert voneinander in ihren eigenen Dunstkreisen erhielt, ob sie Völkerfriede und Untertanenglück zu schaffen versuchte: das sind die Maßstäbe seines Urteils. In diesem Sinne kennt er keine Objektivität, sondern ist Partei, teilweise leidenschaftliche Partei. Der Zustand des Kämpfens und Ringens, in dem seine eigene Zeit sich befand, tritt auch in dieser Parteilichkeit seiner Geschichtsschreibung zutage. Ist das ein Vorwurf? In unserem Sinne sicherlich nicht. Die Idee der parteilosen, objektiven, leidenschaftslosen Geschichtsbetrachtung haben wir immer denen überlassen, die selbst nichts mehr zu hoffen oder zu fürchten haben. Solange das Bürgertum aufstrebende Klasse war, solange es gegen Konfessionalismus und Fürstenrecht kämpfte, solange war auch seine Geschichtsschreibung ein Kampf um die Macht; solange sah es auch in der Vergangenheit seine Ideale ringen und leiden, kämpfen und siegen. Natürlich soll der Historiker ein wahrhaftiger Mensch sein, der nichts frisiert, verschweigt, beschönigt oder unnötig schlechtmacht; natürlich soll er auch gegen Größe und Heldenmut bei seinen Gegnern nicht blind sein. Aber darum soll er doch den Kampf seiner Gegenwart nicht verleugnen, wenn anders er selbst überhaupt noch in einem Kampfe steht. Die bürgerliche Geschichtswissenschaft ist im 19. Jahrhundert meist wieder hinter die Aufklärung des 18. zurückgesunken. Schiller und seine Zeit haben sehr wohl gewußt, daß die Entstehung der protestantischen Konfessionen an sich noch nicht die Überwindung der christlich-germanischen Kultur des Mittelalters war. Erst die Überwindung alles Kirchentums überhaupt ist der Anfang des modernen Bewußtseins; erst die „Aufklärung" macht den Anfang der neueren Zeit. Man muß heute schon ein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie in die Hand nehmen, um die Periodeneinteilung zu finden, daß die „neuere" oder „modernere" Philosophie mit dem 17. Jahrhundert beginnt. Alle politischen Geschichtsbücher beginnen die neuere Zeit mit Luther und der Reformation. Weil unser Bürgertum von Ranke und Droysen an selbst wieder „gläubig" lutherisch wurde, ist auch 189

seine Periodifizierung der Geschichte wieder hinter die Historiker der Aufklärung zurückgesunken. Hier ist ein Punkt, an dem wir noch heute von Schiller und seiner Zeit lernen dürften, konfessionslos zu schreiben. In gewisser Weise kann einen der Historiker Schiller für die Schwächen des Dichters Schiller entschädigen. Als Dichter hat er dem großen bürgerlichen Befreiungskampf, den er erlebte, verständnislos gegenübergestanden. Die Hyänenweiber und „alle Laster", die „frei" geworden sind, sind ihm das Markanteste an der Französischen Revolution gewesen. Als Geschichtsschreiber brachten ihm Krieg und Gewalttat an sich keine Schrecken, wenn ihre Wirkungen nur groß und fortschrittlich waren. Er hatte Metall genug in sich, über der Schrecklichkeit der Mittel nicht die Größe der Folgen zu übersehen. So beschrieb er die Empörung der Niederländer gegen Spanien: „Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hülfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hülfsquellen endlich erschöpfen kann." Darum erachtet er es „des Versuches nicht unwert, dieses schöne Bild bürgerlicher Stärke vor der Welt aufzustellen, in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues, unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung". — So hat er auch im Dreißigjährigen Kriege sich einen Fortschritt durchsetzen sehen: „Die Teilnehmung der Staaten aneinander, welche sich in diesem Kriege eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen. Die Hand des Fleißes hat unvermerkt alle verderblichen Spuren dieses Krieges wieder ausgelöscht; aber die wohltätigen Folgen, von denen er begleitet war, sind geblieben." So wenig sentimental, so männlich und fest vermag der Historiker selbst über die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges zu urteilen, und noch dazu in einem „Damenkalender", in dem bekanntlich diese Darstellung zuerst erschien. Es hätte dem Dichter nicht geschadet, wenn er so männlich auch die Schrecknisse des französischen Revolutionskampfes beurteilt hätte! Freilich gilt diese Anerkennung nur der Methode des Urteils, nicht dem Urteil als solchem. In der Auffassung des Dreißig190

jährigen Krieges wenigstens hat Schiller arg gefehlt. Er sah in ihm den Kampf der Freiheit der deutschen Stände gegen den österreichischen Kaiser; er wandte seine alten Begriffe Freiheit gegen Despotismus! unbesehen auch auf diese Kämpfe an. Aber die „Freiheit", um die man im Dreißigjährigen Kriege kämpfte, war nur der Anfang der ekelhaftesten und ödesten Art von Despotismus, die es jemals gegeben: der Kleinstaaterei der 300 souveränen deutschen Fürsten und Fürstchen! Erst aus dem Siege der Fürstenpartei im Westfälischen Frieden ist die absolute Zerrissenheit und Verödung in unserem Vaterlande heimisch, ist die despotische Aussaugung des Volkes durch die schrullenhafte Laune seiner Herren deutsches Staatsrecht geworden. Die Flüchtigkeit der Arbeit, die notwendige Folge der Brotschreiberei, hat da dem Dichter von Kabale und Liebe doch einen argen Streich gespielt. Dann hat freilich der Dichter wieder gut gemacht, was der Historiker verfehlte. Dem Geschichtsschreiber war Wallenstein der böse Ränkeschmied und Verschwörer, der Treue und Dankbarkeit vergaß. Erst am Ende seiner Erzählung, als alle nur denkbare Schande auf dem Haupte dieses Mannes gesammelt war, bricht eine andere Erkenntnis durch: „So fiel Wallenstein nicht weil er Rebell war, sondern er rebellierte, weil er fiel. Ein Unglück für den Lebenden, daß er eine siegende Partei sich zum Feinde gemacht hatte — ein Unglück für den Toten, daß ihn dieser Feind überlebte und seine Geschichte schrieb." Vielleicht, daß in der plötzlichen Wendung dieses Urteils der Keim des Gedankens entstand, der dann zum Drama Wallenstein geführt hat. Jedenfalls hat der Dichter den tieferen historischen Instinkt bewiesen, da er den kaiserlichen Feldherrn Wallenstein als die tragische Figur des Dreißigjährigen Krieges erfaßte, als der Geschichtsschreiber, der die Wilhelm von Hessen-Kassel oder Bernhard von Weimar oder gar den Schwedenkönig Gustav Adolf bis in den Himmel erhob. Darin liegt das letzte Urteil beschlossen, das man über den Geschichtsschreiber Schiller äußern kann. Der beste Wert seiner geschichtlichen Studien liegt in den historischen Dramen, die er in seinem letzten Jahrzehnt geschaffen hat. Für die deutsche Bühne war es eine Erlösung, daß das historische Drama kam, um den Klatsch abzulösen, in den die bürgerliche Dichtung versunken war, mit der ausdrücklichen Erklärung kam: In dieser Zeit, da 191

Um der Menschheit große Gegenstände, Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen. Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne, Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß. Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen. Und für das deutsche Volk war es ein bleibender Gewinn, daß nun Wallenstein, Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, Teil, rasch aufeinander folgten. In ihnen hat der Dichter der Nachwelt geschenkt, was der Historiker nie zu leisten vermocht hätte.

Ed[uard]

Bernstein

Schiller und die Revolution In Friedrich Schiller hat das deutsche Volk lange seinen eigentlichen Freiheitsdichter geliebt und gefeiert, und den meisten steht er noch heute als solcher dem Herzen näher als irgend einer der vielen Dichter, die zu Lebzeiten Schillers und nach ihm ihre Muse in den Dienst der Freiheit und der Sache der Unterdrückten gestellt haben. Schon vielfach ist es unternommen worden, Schiller diesen Titel streitig zu machen. Bekannt ist vor allem die herbe Kritik, die Börne vom demokratischen Standpunkt aus gerade dem Drama, das als Schillers spezifische Freiheitsdichtung die größte Popularit ä t erlangt hat, dem Wilhelm Teil hat zuteil werden lassen. Ja, selbst von Schillers Freund und Mit-Olympier Goethe haben wir das durch Eckermann vermittelte Wort, daß Schiller im Grunde mehr Aristokrat gewesen sei als er, der als solcher verschrieen werde. Und wir brauchen auch nur in Schillers Briefen und Werken uns ein wenig umzusehen, um auf eine ganze Reihe von Äußerungen zu stoßen, die diesen Ausspruch als berechtigt erscheinen lassen. Aber richtig ist er darum doch nicht. Freilich mochte Goethe ihn in gutem Glauben für richtig halten. Denn sein Verhältnis zum Volk war in der Tat ein andres als das Schillers. Er, der das Leben im ganzen beschaulich nahm, konnte sich unzweifelhaft leichter mit dem gemeinen Mann aus dem Volke verständigen wie Schiller, 192

der rastlos nach Vervollkommnung Strebende. Er stand als Dichterfürst ganz oben, wie er sozial den Obersten gleich stand; er war der Gott, der die Bajadere, die er sich erwählt, mit feurigen Armen zu sich emporhob. Für Schiller aber war Goethes Verbindung mit der Christiane Vulpius eine Mesalliance, die er vertrauten Freunden gegenüber als eine Alterstorheit bespöttelte. Aber dies geschah nicht wegen der sozialen, sondern wegen der geistigen Unbedeutendheit des Mädchens. Ihm würde eine Ehe mit einer ungebildeten Frau wahrscheinlich unerträglich gewesen sein, wie er denn sich gelegentlich sehr scharf gegen die geistige Abfütterung der Frauen mit banaler Unterhaltungsliteratur aussprach, wie sie damals Mode war. Er suchte den Umgang der geistig Hochstehenden, die in jenen Tagen nur in den akademischen Kreisen und den oberen Gesellschaftsklassen zu finden waren. Daher konnte er leicht als aristokratischer gesinnt erscheinen, als wie er tatsächlich war. Tatsächlich steckte in seiner geistigen Aristokratie wärmeres Empfinden als in der Leutseligkeit, die einen Egmont sich in den Armen eines Klärchen von den Staatsgeschäften erholen ließ. Aber ein geistiger Aristokrat war Schiller, das soll und kann nicht bestritten werden. Er fühlte sich vor allem als Erzieher, und wenn man ihm gerecht werden will, muß man ihn auch nur als solchen beurteilen. Selbst in seiner Jugend, in seiner Sturm-und-DrangPeriode, tritt dieser Zug bereits hervor. Der Verfasser der Räuber war ein Stürmer, aber kein Revolutionär. Das „in tyrannos", das auf dem Titelblatt des Jugenddramas stand, war keine politische Kriegserklärung, kein republikanischer Schlachtruf wider die Fürsten im allgemeinen gewesen, es war nur ein Protest gegen Auswüchse fürstlicher Willkür. Und mehr als diese, mehr als moralische Verderbtheit bekämpft auch Schillers agressivstes Drama, Kabale und. Liebe, nicht, während wir in Don Carlos nur die Tragödie des Prinzen sehen, der ein im Sinne der Aufklärer guter, ihr Werk verrichtender Fürst werden sollte. Wiederholt, und auch noch in unseren Tagen, stößt man auf Aussprüche, wonach Schiller in seiner Stellung zur Französischen Revolution seinen früheren Schriften untreu geworden sei; andre sehen in ihr den Ausfluß bürgerlicher oder gar kleinbürgerlicher Beschränktheit. Weder das eine noch das andere hält vor genauer Prüfung stand. Wenn Schiller den Bastillesturm weniger enthusiastisch begrüßte als vielleicht neun Zehntel des literarisch gebildeten Deutschlands der Epoche, wenn er später mit diesem 15

Jonas, Schiller-Debatte

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die Hinrichtung Ludwigs X V I . bitter verurteilte und in der Schreckensherrschaft nur rohe Gesetzlosigkeit sah, so: spielten neben anderen Faktoren sicher auch gewisse Beschränktheiten in sein Urteil hinein, es wäre aber grundfalsch, die Beschränktheiten auf Klassenvorurteile oder Klassenempfindungen zurückzuführen. Er war von Klassenempfindungen soweit entfernt, wie man es als in bestimmten Gesellschaftszuständen lebender Mensch überhaupt nur sein kann. Die Ideologie, die ihn erfüllte, entsprach keiner der Gesellschaftsklassen, die er vor sich sah. Man hat sie — und kann sich dabei auf Äußerungen von ihm selbst berufen — zeitlos genannt. Völlig richtig ist das nicht, aber was daran richtig ist, ist es deshalb, weil diese Ideologie in ihrem Wesen klassenlos war. Für welche Klasse sollte sich ein Schiller begeistern, aus welcher seine Inspirationen ziehen? Von einer Arbeiterklasse im modernen Sinne war noch keine Spur vorhanden, die Landbevölkerung befand sich in einem furchtbaren geistigen Tiefstand, das Handwerkertum steckte noch tief in der Zünftelei, eine Bourgeoisie gab es erst in sehr mäßigen Anfängen. Eine führende Rolle konnte in Deutschland noch keine dieser Klassen spielen. Das geistige Leben war fast völlig auf die Höfe, die besseren Elemente des Adels, die Universitäten und Seminare und die auf diesen herangebildeten Vertreter der sogenannten liberalen Berufe beschränkt. Dank der Zersplitterung Deutschlands waren aber die Verhältnisse an den meisten Orten so kleinliche und beengte, daß die paar literarisch gebildeten Leute sich wie auf eine Insel verschlagen vorkamen. So wohltätig es Schiller empfand, daß er in Jena, dank der freien Geistesrichtung Karl Augusts von SachsenWeimar, vor groben Beschränkungen seiner Meinungsfreiheit geschützt war, so sehr klagt er doch über die Kleinlichkeit des dortigen sozialen Lebens. Nicht unter dem Gesichtspunkt bürgerlicher Klassen revoltiert er gegen die Französische Revolution, und noch weniger unter dem der damaligen Privilegierten. Wenn er mit den Gebildeteren unter diesen geistigen Verkehr suchte, so wußte er doch, daß auch sie nur eine kleine Schicht ihrer Klasse waren. Mit unzweideutiger Schärfe hat er sich darüber in einem der Briefe an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg geäußert, die er etwas später umredigiert unter dem Titel Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen veröffentlichte. Er knüpft dort an die Vorgänge in Frankreich an und äußert 194

sich zunächst mit allerdings maßloser Wegwerfung über das Gebaren der Volksmassen. „In den niederen Klassen", heißt es da, „sehen wir nichts als rohe gesetzlose Triebe, die sich nach aufgehobenem Stand der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut ihrer tierischen Befriedigung zueilen." So geht es noch eine Weile weiter, dann aber legt Schiller folgendermaßen über die herrschenden Klassen los: „Auf der anderen Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigeren Anblick der Erschlaffung, der Geistesschwäche und einer Versunkenheit des Charakters, die um so empörender ist, je mehr die Kultur selbst daran Teil hat. — Wenn die Kultur ausartet, so geht sie in eine weit bösartigere Verderbnis über, als die Barbarei je erfahren kann." Und weiter: „die vermehrte Abhängigkeit der Menschheit vom Physischen hat es allmählich dahin geleitet, daß die Maxime der Passivität und des leidenden Gehorsams als höchste Lebensregel gilt. Daher die Beschränktheit im Denken, die Kraftlosigkeit im Handeln, die klägliche Mittelmäßigkeit im Hei vorbringen, die unser Zeitalter zu seiner Schande charakterisieren." Das war im Juli 1793 geschrieben, zu einer Zeit, wo in Frankreich der Konvent eine Reihe von Gesetzen großartigster Natur ins Leben rief. Wußte Schiller nichts davon, oder war er gegen das Bedeutende, das in Frankreich geschah, völlig blind? Es liegt kein Grund vor, dies anzunehmen. „ Seitdem ich den Moniteur lese", hatte er etliche Monate vorher (am 26. November 1792) an Körner mit Bezug auf die Franzosen geschrieben, „habe ich mehr Erwartungen von diesen. Wenn Du diese Zeitung nicht liest, so will ich sie Dir sehr empfohlen haben. Man hat darin alle Verhandlungen in der Nationalkonvention im Detail vor sich und lernt die Franzosen in ihrer Stärke und Schwäche kennen." Daran anschließend erzählt er sofort von Polizeischikanen, die in Deutschland an der Tagesordnung seien, Brieferbrechungen usw., über die viel geklagt werde. Nur in Jena sei es noch „auf dem alten Fuße". Er sieht also in Frankreich auch Licht und in Deutschland den Schatten. Daher bleibt denn in dem Brief an den Augustenburger die Philippika wider die oberen Klassen nicht auf die „Zivilisierten" Frankreichs beschränkt, sondern läuft in Sätze aus, die weit mehr auf Deutschland als auf Frankreich passen und sicher auch so gemeint waren. Schiller liebte es, in solcher Weise in Schriften, deren offensichtliche Tendenz den herrschenden Gewalten zusagte, Satzstücke 15*

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einzuschalten, die eben diesen Gewalten den Prozeß machten. So hatte er am 6. November 1792 Körner den Vorschlag gemacht, eine Geschichte der englischen Revolution zu schreiben. Da das Glaubensbekenntnis in Sachen der Revolution schlechterdings zum Vorteil der Revolutionsfeinde ausfallen müsse, „so können die Wahrheiten", heißt es wörtlich, „die darin den Regierungen notwendig gesagt werden müssen, keinen gehässigen Eindruck machen". Ähnlich wollte er selbst in eine von ihm geplante Denkschrift gegen die Hinrichtung Ludwigs X V I . „einige wichtige Wahrheiten" einfließen lassen. Beiläufig so ziemlich die einzig mögliche Manier, damals in Deutschland etwas gegen die Oberen zum Druck zu bringen. Wie sehr die Kraftwoite über die „Beschränktheit im Denken" usw. auf Deutschland gemünzt waren, geht übrigens auch aus ziemlich gleichlautenden Äußerungen Schillers in Briefen an Freunde und Mitarbeiter hervor. „Es gibt nichts Roheres", schreibt er z. B. am 3. August 1795 in einem für Fichte bestimmten Briefentwurf, „als den Geschmack des jetzigen deutschen Publikums, und an der Veränderung dieses elenden Geschmacks zu arbeiten, nicht meine Modelle von ihm zu nehmen, ist der ernstliche Plan meines Lebens." Und tags darauf: „Ich müßte eine ganz andere Meinung von dem deutschen Publikum be kommen, als ich gegenwärtig habe, wenn ich in einer Sache, worüber meine Natur nach einer mühsamen und hartnäckigen Kiise mit sich einig geworden, sein Ansehen respektieren sollte. — Die Rohigkeit auf der einen und die Kraftlosigkeit auf der anderen Seite erwecken mir, ich gestehe es, einen Ekel vor dem, was man öffentliches Urteil nennt." Ähnlich in Briefen an Cotta, Körner und andere. Und wer war außer Akademikern dieses von ihm verachtete Publikum? Der Adel und die bürgerlichen Klassen. Nein, Schiller fühlte sich zu keiner Klasse gehörig, war das Mundstück keiner Klassentendenz, wie er auch keine besondere Nationaltendenz vertrat. Wohl war er in seinem Wesen deutsch und fühlte sich auch als Deutscher, aber nicht im politischen, sondern mehr im ethnologischen Sinne. Von politischem Deutschtum, von bestimmten politisch-nationalen Tendenzen ist in Seinen Schriften nichts zu finden. Und wie konnte es anders sein? Noch bestand ja, solange er lebte, das alte Deutsche Reich, noch brauchte sich kein Deutscher nach Herstellung eines solchen zu sehnen. Im Gegenteil, die Beschaffenheit dieses Reiches war von solcher Art, daß Gleichgültigkeit noch das Mindeste war, was ein

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mit kritischem Verstand begabter Deutscher ihm gegenüber empfinden konnte, denn zu einer grundlegenden Reform dieses Reiches von innen heraus fehlten noch alle Vorbedingungen. So kläglich im allgemeinen die Zustände unter der Kleinstaatlerei waren, so bot diese doch gerade für das, was Schiller am meisten am Herzen lag, einen großen Vorteil, sie ermöglichte die Existenz geistiger Oasen, in denen man vor dem brutalen Geistesdruck, der in den meisten Staaten und nicht zum wenigsten im aufstrebenden Preußen geübt wurde, leidlich geschützt war. Diese Schaffung geistiger Oasen war so ziemlich die einzig gute Seite der deutschen Kleinstaatlerei, und Schiller genoß sie nicht nur, er war auch im hohen Grade ihr Produkt. Er war nicht Romantiker genug, um sich für eine Rückkehr zur deutschen Vergangenheit zu erwärmen, und nicht Revolutionär genug, ein völlig umgewandeltes Deutschland zu erstreben, nicht Träumer genug, es bei dem in Deutschland vorhandenen Menschenmaterial für möglich zu halten. So mußte er, dessen Geist zu groß veranlagt war, um sich in Kleinarbeit zu erschöpfen, im Kosmopolitismus, im Weltbürgertum die einzig würdige Alternative des spießbürgerlichen Stumpfsinns erblicken. Es war eine Abwendung von der Gegenwart, und zwar eine bewußt vollzogene, trotzige Abwendung. Keine Abwendung in ein Kloster, keine Sehnsucht nach mönchisch-scholastischer Einsiedelei, sondern Sehnsucht nach einer großen, von freien Geistern bewohnten Welt. Hätte die Französische Revolution den Verlauf genommen, wie er seinen Ideen entsprach, es hätte Schiller wenig Überwindung gekostet, sein Zelt in Frankreich aufzuschlagen. Sie stieß ihn aber ab — wenn wir ihn gerecht beurteilen wollen, müssen wir sagen, begreiflicherweise. So sehr er sich bemühte, Authentisches über sie zu erfahren, so sah er sie doch im ganzen nur von außen, und da war ihr Bild lange Zeit wirklich kein schönes. Er sah alle die Auswüchse der Revolution, er sah ihr destruktives Walten, er sah aber noch nicht ihre schöpferischerzieherischen Leistungen. Noch konnte es ja zweifelhaft erscheinen, ob aus diesen fortgesetzten Konvulsionen der Nation und der Menschheit bleibender Vorteil erwachsen werde, und solange dies zweifelhaft war, mußten auch die im Namen der Revolution verübten Gewaltakte in anderem Lichte erscheinen, als sie der nachträglichen, allseitig unterrichteten Geschichtsbetrachtung sich darstellen. So muß man sich Schillers Beurteilung der Revolution erklären^ 197

Er stand ihren Zielen durchaus nicht ablehnend gegenüber, im Gegenteil, auch er ersehnte den auf Freiheit gegründeten Vernunftstaat. „Ich hatte einen Augenblick gehofft", schrieb er, „die physische Möglichkeit sei gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen." Darin sah er sich grausam enttäuscht. Bis durch Napoleon Bonaparte die von ihm vorausgesagte Militärherrschaft eintrat, wollten die Dinge in Frankreich nicht zur Ruhe kommen, und unter Napoleon ward der Kriegszustand nach außen getragen. Das Volk hatte sich in Frankreich nur solange als selbständige politische Kraft gezeigt, als es zu zerstören galt — in den Momenten des politischen Schreckens. Zur Selbstregierung dagegen war es unfähig gewesen. Und wenn das in dem vorgeschrittenen Frankreich geschah, was war da in dem zurückgebliebenen Deutschland vom Volk zu gewärtigen? Schelte man Schiller nicht Spießbürger, weil er den Kultus der Masse verwarf. Die Masse, die er vor sich sah, war keines Kultus würdig. Sie nahm die Reaktionsmaßregeln der deutschen Regierungen, die Zensurverschärfungen usw. mit stumpfem Gleichmut auf, sie begeisterte sich an Schundromanen und jubelte auf dem Theater Kotzebue und Schlimmeren zu. Von einer Selbstaktion dieser Masse war nichts zu erhoffen, und wie langé hat es gedauert, bis das deutsche Volk ein politisches Volk wurde? Nicht weil er spieß- oder kleinbürgerlich dachte, sondern weil er das Spieß- und Kleinbürgertum verachtete, hielt er nichts von der Masse. Und weil er von der Zeit keine Verwirklichung dessen erhoffen konnte, was er erstrebte, flüchtete er in die Welt des Ideals, die man sich indes nicht als Wolkenkuckucksheim vorstellen darf. Das Schillersche Ideal war keine phantastische Utopie, es war das Reich der großen, die Menschheitsziele ausdrückenden Ideen. Schiller war kein Schwärmer, sondern eine durchaus kritisch angelegte Natur. Er arbeitete sich mit Riesenfleiß in die kritizistische Philosophie eines Kant hinein, der er, ohne sich ihr bedingungslos zu unterwerfen, poetischen Ausdruck verlieh, er bewahrte sich stets einen starken geschichtlichen Blick, ein lebhaftes Verständnis für die Realitäten des Lebens. Daß er durch die ästhetische Erziehung herbeizuführen versuchte, wozu eine völlige Veränderung der gesellschaftlichen Struktur erforderlich war, war mehr einseitig, als es falsch war. Denn ohne ästhetische 198

Erziehung kein Fortschritt, der der Mühe wert wäre. Was Lassalle in dieser Hinsicht den deutschen Arbeitern zurief, ist nur die auf moderne Verhältnisse übertragene Anwendung der Grundidee Schillers, dessen Andenken denn auch Lassalle stets besonders hoch hielt. Im Reich der Idee gilt weder Zeit noch Landesgrenze. Aber die Idee vermag jedem Streben Kraft und Weihe zu verleihen. Und niemand war mehr geeignet, den Strebungen der Völker, den Kämpfen des unterdrückten Menschenrechts Ausdruck zu verleihen, wie Schiller, der die Sprache in unübertroffener Meisterschaft beherrschte, der über einen unerschöpflichen Reichtum packender Bilder verfügte, dem es gegeben war, sich geistig in jegliche Menschenseele zu vertiefen, der nicht nur ein Genie im Dichten, sondern auch ein Genie im Empfinden war. „Glühend für die Idee der Menschheit, gütig und menschlich gegen den einzelnen Menschen, und gleichgültig gegen das ganze Geschlecht, wie es wirklich ist, das ist mein Wahlspruch" — so schrieb er am 5. Mai 1795 an Benjamin v. Erhard, und diese Glut für die Idee der Menschheit war es, die seinen Dichtwerken eine nie verblassende Eindruckskraft verliehen, ihn zum ewig jungen Sänger alles dessen gemacht hat, was die Menschen zu den verschiedensten Zeiten auf ihrem Wege zur Vervollkommnung sich als Ziel gesetzt haben und setzen.

F[riedrich]

S[tampfer]

Schillers Auffassung von Staat und Gesellschaft Nicht bloß in seinen Göttern malt sich der Mensch, sondern auch in seinen Heroen, den bedeutenden Menschen der Vergangenheit, die er verehrt. Je weiter ihr wirkliches Bild in zeitlicher Entfernung verschwimmt und allem menschlich Gegenwärtigen entrückt wird, desto größer wird die Lust und zugleich die Möglichkeit, ihnen Züge des eigenen Wesens anzudichten und in ihren Meinungen, die man sich zu diesem Zwecke mit unbewußter Künstlichkeit zurechtlegt, seine eigene Meinung wiederzufinden.

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Und welcher Heros der menschlichen Geschichte wäre solchen Umdeutungen in höherem Maße ausgesetzt als der Dichter, dessen Persönlichkeitsbild dem Wechsel seelischer Stimmungen seinen Reiz und seine Bedeutung verdankt, schon gar der dramatische Dichter, in dem alle Stimmen der Menschheit laut werden und der — Meinung und Meinung in Rede und Gegenrede gegenüberstellend — uns oft genug darüber im Zweifel läßt, wo seine eigene Ansicht zu finden sei! Der Konservative und der Liberale, der Zentrumsmann und der Demokrat, der Manchestermann und der Sozialist, der Fromme und der Freigeist, der Scharfmacher und der Revolutionär, der Philister und das Kraftgenie — sie alle sind imstande bei einigem guten Willen, einzelne Züge von Friedrich Schillers Persönlichkeit hervorhebend, andere unterdrückend, in einem mehr oder minder verzerrten Gesamtbild des Dichters ihr eigenes Bild wiederherzustellen. Auf erheblichere Schwierigkeiten aber stößt der, der sich redlich bemüht, zu der wirklichen Persönlichkeit Schillers vorzudringen und seine wahren Meinungen kennenzulernen. Denn er muß den Schutt aller willkürlichen und unwillkürlichen Kommentare, den ein Jahrhundert lebhafter geistiger Kämpfe um und über Schillers Gedankengebäude gehäuft hat, mühselig hinwegräumen, er darf sich auch von dem Blendwerk einer überreichen Außenarchitektur nicht irre machen lassen, um zu seinen eigentlichen Grundmauern vorzudringen. Was von Schillers Werken am meisten bekannt ist, seine populären Gedichte und Dramen, wird er als Quelle nur mit größter Vorsicht gebrauchen dürfen; desto eher darf er hoffen, aus den Briefen und den weniger gelesenen Prosaschriften sichere Anhaltspunkte für sein Wahrheitsstreben zu gewinnen. Die Meinung, die Schiller vom Wesen des Staates und der Gesellschaft hatte, bildet begreiflicherweise das meist umstrittene Gebiet seiner Weltanschauung. „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an" — also war Schiller ein Patriot. Dabei vergißt man, daß die Vaterlandsliebe des 18. Jahrhunderts etwas völlig anderes gewesen ist als die amtlich abgestempelte des 20., vergißt man, daß man zwanzig und vierzig Jahre nach Schillers Tode die deutschen Patrioten als Revolutionäre und Umstürzler verfolgte. „Da werden Weiber zu Hyänen" — hat darin Schiller nicht das Wesen der sozialdemokratischen Rednerinnen prophetisch vorausgeahnt? Hat doch, um nur ein ergötzliches Beispiel aus der letzten Zeit hervorzuheben, der südwestafrikanische Generalissi206

mus Herr v. Trotha seinen Leuten verboten, über Kriegsereignisse nach Hause zu berichten, weil schon der große Dichter Friedrich Schiller gesagt habe: „Die T a t ist s t u m m ! " — „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen" — wie oft wird dieses Wort aus dem Demetrius als Sturmbock gegen ein demokratisches Wahlrecht gebraucht, wobei man natürlich die vorangehenden Worte fortläßt: Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl? Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt, U m B r o t und Stiefel seine Stimm' verkaufen . . . Solche lächerlichen Zitierkunststücke sind selten bewußter Schwindel; in den meisten Fällen entspringen sie jenem oben geschilderten Vorgang der unbewußten geistigen Assimilation. Eine Gesellschaft der Klassenherrschaft, die ihrem Wesen nach autoritär sein muß, kann sich mit den großen Erscheinungen der Weltgeschichte nicht anders abfinden, als indem sie sich falsche Götzenbilder von ihnen macht. Gegen die Großen, die sie über die Wolken erhoben hat, hat sie keinerlei logische Widerstandskraft, darum muß sie sich täglich vorlügen, daß diese Großen ganz ihrer Meinung gewesen wären. Sie kann, ohne sich selbst aufzugeben, die einfachen Tatsachen nicht zugeben, daß z. B . Christus ein Gegner des Kriegs und der Kapitalanhäufung gewesen sei, daß K a n t von allem äußeren Gottesdienst der Kirche nichts gehalten habe, daß Fichte die Erbmonarchie verwarf, sie darf sich auch nicht eingestehen, was ihr wahres Verhältnis zu Schiller sei. Der Sozialismus aber hat es nicht notwendig, seine Kirche mit Heiligenbildern zu schmücken. Denn er ist nicht autoritär, sondern, als Hüter der Traditionen des 18. Jahrhunderts, kritizistisch. E r vermag die Würde einer selbständigen, in sich gefesteten Weltanschauung auch gegenüber den größten Namen zu behaupten. Es beweist nichts gegen ihn, daß ein großer gefeierter Dichter, der vor hundert Jahren starb, in manchen Punkten anders dachte als er. Schiller war ein Dichter und als solcher in seinen Gedanken mehr noch als der trockene Prosagelehrte von seinen eigenen Schicksalen beeinflußt. Schiller lebte im 18. Jahrhundert, das erst an seinem Ende für Amerika und Frankreich ein Zeitalter der praktischen Politik zu werden begann. Darum steht er an praktischer politischer Erfahrung hinter dem letzten Vertrauensmann irgendeiner heutigen politischen Partei zurück. Von den politischen 201

Theorien, die noch in unserer Zeit fortwirken, waren ihm nur die Rousseaus, später die Kants und die Anfänge Fichtes bekannt. Die ungeheure Arbeit, die die Naturwissenschaft und die Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert geleistet hat, kam ihm zu spät. Die Entfaltung des Kapitalismus, die Entstehung des Proletariats, das Zeitalter der Technik, des Parlamentarismus, der politischen Parteien — all das hat zwischen der Staatsphilosophie Schillers und der unseren Wälle von Tatsachen aufgeführt, die das Hüben und Drüben scheiden und eine unmittelbare Vergleichung unmöglich machen. Die Welt, in der Schiller lebte, war eine Welt erstarrter Standesunterschiede, eine Welt des hier beschränkt-despotischen, dort mehr oder minder „aufgeklärten" Despotismus, sie war vor allem eine Welt, die geringen Veränderungen ausgesetzt war und deshalb der Forschung nur geringe Anregung bot. Die Bewegung der Gesellschaft, die ja das eigentliche Thema der politischen Wissenschaften ist, konnte er nur aus dem trüben Bilde der Weltgeschichte und den noch trüberen Berichten über amerikanische und französische Zeitgeschichte studieren, in seinem eigenen Anschauungskreise lag nur das unbewegt Zuständliche der damaligen deutschen Gesellschaft. Was hat Schiller über das Wesen von Staat und Gesellschaft der Geschichte entnommen? Was hat er darüber aus den großen Weltvorgängen des Werdens gelernt? Das sind die Fragen, mit denen wir uns hier zu beschäftigen haben. Über die Anfänge der menschlichen Gesellschaft hat Schiller als junger Professor in Jena (1789) einen Vortrag gehalten. Er hielt sich dabei an den Leitfaden der Mosaischen Urkunde, die er aber nicht mit einfacher Gläubigkeit hinnahm, sondern rationalistisch für seinen Lehrzweck auslegte. Darin unterscheidet er sich nicht von den Gelehrten seiner Zeit, die, unbekannt mit Hieroglyphen und Keilinschriften, immer auf die Bibel als älteste Quelle der Menschheitsgeschichte zurückgehen mußten. Der paradiesische Urzustand ist für ihn der Zustand der menschlichen Wildheit. „Als Pflanze und Tier war der Mensch also vollendet." Ein vernünftiges Wesen aber wird er erst durch den Mangel der Lebensmittel, der ihn zur Tätigkeit drängt, durch den „Sündenfall", mit anderen Worten: durch die Arbeit. Der Sündenfall und das Ende eines nur tierischen Daseins ist für den Menschen „erste Aeußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück der Vernunft., erster Anfang seines moralischen Daseins": Der Philosoph hat 202

recht, ihn (den Sündenfall) einen Riesenschritt der Menschheit zu nennen; denn der Mensch ward dadurch aus einem Sklaven des Naturtriebs ein freihandelndes Geschöpf, aus einem Automat ein sittliches Wesen, und mit diesem Schritt trat er zuerst auf die Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft führen wird. Wir begegnen in diesem Satze einem Lieblingsgedanken Schillers, der immer wieder den gegenwärtigen Zustand der Menschheit mit den elenden tierischen Anfängen unseres Geschlechtes verglich und aus dieser aufsteigenden Reihe Hoffnungen für die Zukunft schöpfte. Daraus erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch, daß er beispielsweise sein Gedicht Die Künstler mit einem Hymnus auf den zeitgenössischen Menschen beginnt, der „mit seinem Palmenzweige", „der reifste Sohn der Zeit" an des Jahrhunderts Neige stehe,, während er doch an der Neige dieses Jahrhunderts klagend den Unfrieden und die menschliche Unzulänglichkeit der Zeit schilderte, um zu dem resignierten Schluß zu kommen: Freiheit ist nur in dem Reich der Träume Und das Schöne blüht nur im Gesang. Schiller sah, obwohl ihm der Begriff der Entwicklung in seinem modernen Sinne noch nicht klar sein konnte, in der Geschichte der Menschheit doch eine aufsteigende Reihe, und je nachdem er den Abstand maß, der den Menschen seiner Zeit von den niedrigen Anfängen trennte, oder aber jenen, der ihn von einem dunkeln, entfernten Zukunftsideal schied, wechselt das Gefühl des Stolzes mit jenem der Beschämung. Die Bedeutung der ökonomischen Faktoren für die Entstehung des Staates konnte Schiller nicht ganz entgehen. Die Unterordnung des Schwachen unter den Starken erzeugt den Gegensatz zwischen Reichtum und Armut: Der erste Unterschied der Stände. Der Reiche wurde reicher durch des Armen Fleiß; seinen Reichtum zu vermehren, vermehrte er auch die Zahl seiner Knechte . . . Der Reiche fühlte sich und wurde stolz. Er fing an, die Werkzeuge seines Glücks mit Werkzeugen seines Willens zu verwechseln. Die Arbeit vieler kam ihm, dem einzigen, zugute; also schloß er, diese vielen seien der einzigen wegen da — er hatte nur einen kleinen Schritt zum D e s p o t e n . . . Das Recht des Stärkeren kam auf, Macht berechtigte zur Unterdrückung, und zum erstenmal zeigten sich Tyrannen. 203

So entsteht schließlich das erste Königtum. Oberwinder von Ungeheuern, Beschützer gegen den gemeinsamen Feind, steigen die Anführer der Jagd und des Krieges endlich durch Gewalt auf den Thron. Schiller polemisiert gegen die Annahme, daß das Königtum durch freiwilliges Ubereinkommen, durch eine Art Gesellschaftsvertrag zustande gekommen wäre. Erst bei Völkern, die schon „formierte politische Gesellschaften sind", kann er die Entstehung eines solchen Friedenskönigtums anerkennen: Es scheint dem Gange der Dinge gemäßer, daß der erste König ein Usurpator war, den nicht ein freiwilliger einstimmiger Ruf der Nation (denn damals war noch keine Nation), sondern Gewalt und Glück und eine schlagfertige Miliz auf den Thron setzten. Schiller war demnach keineswegs der Ansicht, daß der Staat ein Erzeugnis der menschlichen Vernunft sei und daß man, um ihn zu verbessern, nur zum „alten Urständ der Natur" zurückkehren müsse. In den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen führt er seinen Gedanken abermals mit großer Klarheit aus. Sobald der Mensch aus dem sinnlichen Schlummer seines Urzustandes erwacht und sich als Mensch zu fühlen beginne, finde er sich im — Staate: „Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freiheit diesen Stand wählen konnte; die Not richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte." Aber als „moralische Person" kann sich der Mensch mit diesem „Notstaat" nicht zufrieden geben. So entsteht in ihm die Vorstellung eines staatlichen Zustandes, der auf heller Einsicht und freiem Vertragswillen aller einzelnen untereinander beruht, auf der freiwilligen, von der Vernunft gebotenen Unterordnung unter das Staatsganze: Das Werk blinder Kräfte besitzt keine Autorität, vor welcher sich die Freiheit zu beugen brauchte, und alles muß sich dem höchsten Endzweck fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt. Auf diese Weise rechtfertigt sich der V e r s u c h e i n e s m ü n d i g e n V o l k e s , s e i n e n N a t u r s t a a t in e i n e n s i t t l i c h e n umzuformen. In solchen Anschauungen, mit denen sich Schiller als ein Schüler Immanuel Kants bekennt, wird auch der vorsichtigste Beurteiler eine tiefgehende Übereinstimmung mit den Grundlagen der sozialistischen Weltanschauung nicht verkennen. Der „Naturstaat" ist 204

ganz dasselbe, was Engels als das „Reich der Notwendigkeit", der „sittliche Staat" ganz dasselbe, was er als das „Reich der Freiheit" bezeichnet. Wie der Sozialismus die Weltgeschichte als eine „Geschichte von Klassenkämpfen" betrachtet, so ist sie Schiller der Schauplatz gewesen, „wo um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen". Als die Erbin der deutschen klassischen Philosophie begreift auch die politisch geschulte Arbeiterklasse die geschichtliche Entwicklung als einen Aufstieg der Menschheit aus dem Tierischen zu vollkommenerer Menschlichkeit. Wie Schiller sieht sie in dem Staat ein Instrument der Gewalt, das zu einem Instrumente der Vernunft verändert werden soll. — Nichts wäre müßiger, als darüber zu streiten, ob Schiller, stünde er heute aus dem Grabe auf, das Programm der Sozialdemokratie billigen oder verwerfen würde; die M i t t e l , mit denen im 20. Jahrhundert Politik getrieben wird, zu beurteilen, ist der Sohn des 18. nicht mehr zuständig. Das Z i e l der Sozialdemokratie aber ist das, was Schiller den „sittlichen Staat" genannt hat. 1 War nun der Staat als ein bloßer „Naturstaat" erkannt, der nicht von Gesetzen der Vernunft, sondern von dunklen Trieben und Gewalt geleitet war, so lag nichts näher als der Schluß, daß sich auch jene inneren Bewegungen des „Naturstaates", die ihn dem Ideal des „sittlichen Staates" näher bringen, nicht gewaltlos vollziehen können. Schiller hat die Gewalt als* Faktor der Politik nicht nur im Fiesco anerkannt und im Teil verherrlicht. Auch als Historiker hat er die Geschichte des Abfalls der Niederlande zu seinem Lieblingsthema gewählt, in welcher Absicht, sagen gleich die ersten Worte der Einleitung: „Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das 16. Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die G r ü n d u n g der n i e d e r l ä n d i s c h e n F r e i h e i t . Wenn die schimmernden Taten der Ruhmsucht und einer verderblichen Herrscherbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen, wie viel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Kräfte 1 Über sein engeres politisches Verhältnis hat Schiller selbst sehr bescheiden gedacht. Auf den Vorschlag J. F. Cottas, eine p o l i tische

Zeitschrift herauszugeben, antwortete

Schiller 1 7 9 4

ab-

lehnend. E r bezeichnet die Politik als „ein für mich ganz neues und höchst schwieriges Fach, wozu es mir sowohl an Neigung als an Talent

fehlt"

und

bekennt

eine weitreichende

Unbekannt-

schaft mit der politischen Fachliteratur.

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ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Rechte sich paaren und die Hilfskräfte entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampfe siegen. Groß u n d b e r u h i g e n d ist der G e d a n k e , d a ß gegen die trotzigen A n m a ß u n g e n der F ü r s t e n g e w a l t endlich noch e i n e H i l f e v o r h a n d e n i s t . . . und darum achte ich es des Versuches nicht unwert, dieses schöne Denkmal bürgerlicher Stärke vor der Welt aufzustellen, in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was M e n s c h e n w a g e n d ü r f e n f ü r d i e gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung." Solche Auffassungen stehen in schneidendem Gegensatz zu dem bekannten Urteil, das Schiller über die glänzendste Staatsbegebenheit seiner eigenen Zeit, über die Französische Revolution, gefällt hat. Wie jene berühmte oder berüchtigte Stelle aus der Glocke gemeint war und wie sie doch in einem näheren Verhältnis zu seiner gesamten Weltauffassung steht, kann man nicht aus ihr selbst, sondern wieder nur aus den Prosaschriften erfahren. Wenn Schiller die Französische Revolution verwarf, so tat er das trotz aller Philisterei, in der sich sein Abscheu ausdrückt, doch nicht im Sinne unserer Reaktionäre, die das Gegebene als das Bleibende, Unveränderliche betrachten, das anzutasten ein Verbrechen wäre, sondern im Sinne eines i d e a l e n Revolutionärs, den die Wirklichkeit der Revolution anwidert und enttäuscht. Deutlich drückt er diesen Gedanken in den Briefen über die ästhetische Erziehung aus, in denen er schreibt: „Wahr ist es . . . die Willkür ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmenmehrheit fordert er die Wiederherstellung seiner unverlierbaren Rechte. Aber er fordert sie nicht bloß; jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltig zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung zu Unrecht verweigert wird. D a s G e b ä u d e d e s N a t u r s t a a t s w a n k t , s e i n e m ü r b e n F u n d a m e n t e w e i c h e n , und eine p h y s i s c h e Möglichkeit scheint gegeben, d a s G e s e t z auf d e n T h r o n zu stellen, den M e n s c h e n e n d l i c h a l s S e l b s t z w e c k z u e h r e n und wahre F r e i h e i t z u r G r u n d l a g e d e r p o l i t i s c h e n V e r b i n d u n g zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die m o r a l i s c h e Möglichkeit fehlt, und der freigebige Moment findet ein unempfängliches Geschlecht . . . In den niedern und zahlreichen 206

Klassen stellen sich uns r o h e g e s e t z l o s e T r i e b e dar, die sich nach aufgelöstem Bande der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen . . . Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zueilen, f ä l l t in d a s E l e m e n t a r r e i c h z u r ü c k . " Die ideale Revolution, von der Schiller träumte, hätte sich also so vollziehen müssen, daß die Menschheit schon im Augenblick ihres Vollzugs alle Gewohnheiten des Naturstaates abstreifte, daß sich die alte Gewaltherrschaft gewaltlos und ohne alle Zuckungen des Überganges in eine Herrschaft vernünftiger Gesetze verwandelte, denen nicht der Staat, sondern der Mensch Selbstzweck ist. Das ist die Utopie, eine „Revolution in allseitigem Einverständnis". Hatte nun Schiller keinen Anstoß genommen an den blutigen Revolutionen vergangener Zeit, hatte er sie sogar verherrlicht, so bleibt es doch immer ein klaffender Widerspruch, der sich nur psychologisch erklären läßt, daß er angesichts der gegenwärtigen Revolution seine Anschauungen so sehr modifiziert. Schiller dachte gering von den Gesetzen, aber unendlich hoch von dem Gesetz. In der ungebildeten Volksmasse sah er eine Feindin nicht bloß der bestehenden Gesetze, sondern der Idee der Gesetzlichkeit überhaupt. So unendlich hoch er von der Menschheit dachte, so gering dachte er vom Volke, das ihm fremd und unheimlich war und das er als geeignetes Werkzeug zur Verwirklichung philosophischer Menschheitsideale, so wie er es fand, nicht gebrauchen zu können glaubte. Zwar meinte er, daß jeder individuelle Mensch „der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealischen Menschen in sich trägt", in dem Bauer und Handwerker seiner Zeit findet er aber solche Anlagen nur wenig ausgebildet. Und so flüchtet er schließlich zu der Idee, daß der Mensch nur durch die Erziehung zur S c h ö n h e i t reif gemacht werden könne für W a h r h e i t u n d F r e i h e i t ! Dieses Mißtrauen gegen das Volk war bei Schiller kein fanatischer Haß des Klassenegoismus, sondern es war mit tiefem menschlichen Mitgefühl innig verwoben. Das zeigt sich, wenn er denen, die von der „Würde des Menschen" in moralischen Hochgefühlen schwelgen, zuruft: Nichts mehr davon, ich bitt' euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst. Das zeigt sich auch, wenn er in den Briefen über die ästhetische 207

Erziehung seinen Meinungsäußerungen über die Unvollkommenheit der Menschen gleichsam entschuldigend hinzufügt: „Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den K a m p f m i t d e r N o t viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen härteren K a m p f e m i t d e m I r r t u m aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der S t a a t u n d d a s P r i e s t e r t u m für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese u n g l ü c k l i c h e n M e n s c h e n unser M i t l e i d e n verdienen, so trifft unsere gerechte Verachtung die anderen, die ein b e s s e r e s L o s von dem Joche der Bedürfnisse freimacht, aber eigene Wahl darunter beugt. D i e s e z i e h e n d e n D ä m m e r s c h e i n d u n k l e r B e g r i f f e , wo m a n l e b h a f t e r f ü h l t und die P h a n t a s i e sich nach eigenem B e l i e b e n b e q u e m e G e s t a l t e n b i l d e t , den S t r a h l e n d e r W a h r h e i t v o r , die d a s a n g e n e h m e B l e n d w e r k i h r e r T r ä u m e v e r jagen." Es war nicht die Absicht dieser Ausführungen, „das angenehme Blendwerk der Träume zu verjagen" und die „bequeme Gestalt" Schillers, die sich die besitzenden Klassen „in ihrer Phantasie nach eigenem Belieben gebildet" haben, zu zerstören. Denn dieser Versuch würde vergeblich sein. Wohl aber war es ihre Absicht, den Arbeitern, die die „saure Mühe des Denkens" nun doch auf sich genommen haben, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild von der Auffassung zu entwerfen, die Friedrich Schiller vom Wesen des Staates und der Gesellschaft gehabt hat, und dabei auch nicht jene Züge zu verheimlichen, in denen wir ihm,' wie wir glauben mit guten Gründen, entgegenzutreten bemüßigt sind. Das Urteil, das Schiller über das Volk seiner Zeit fällte, auf seine Revisionsbedürftigkeit zu untersuchen, mag für den H i s t o r i k e r eine dankbare Aufgabe sein. Daß es für das Volk unserer Tage nicht mehr zutrifft, darf der P o l i t i k e r mit rechtem Stolze bekennen und ohne Furcht, sich einer schädlichen Schmeichelei schuldig zu machen. Die weltökonomischen Vorgänge des ig. Jahrhunderts haben zwischen der klassischen Philosophie und dem Proletariat die Brücke geschlagen. Es gilt die triumphierende Prophezeiung des jungen Marx: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und s o b a l d d e r B l i t z d e s G e d a n k e n s in d i e s e n 208

n a i v e n V o l k s b o d e n e i n g e s c h l a g e n h a t , wird sich die E m a n z i p a t i o n d e r D e u t s c h e n z u M e n s c h e n vollziehen." In diesem Sinne — Ewiges von Zeitlichem scheidend — darf das Proletariat in Schiller einen Denker verehren, der voranging.

Conrad Schmidt Schiller Die viereinhalb Jahrzehnte, die, seit Deutschland den hundertjährigen Geburtstag Schillers feierte, vergangen sind, waren eine Zeit der größten sozialen, politischen, geistigen Umwälzungen. Naturwissenschaft und Technik haben seither eine ungeahnte Vervollkommnung erhalten; Deutschland, damals ein Bündel Staaten von vorwiegend agrarischem Charakter, hat, politisch geeinigt,im Sturmmarsch die kapitalistische Entwickelung nachgeholt, und Hand in Hand damit erwuchs in seinem industriellen Proletariat mit neuen realistisch fundierten Idealen die kämpfende Kulturmacht der Sozialdemokratie. Weltauffassung, Literatur und Kunst, alles ist in den Strudel der Veränderungen mit hineingerissen. Nicht nur zeitlich, auch in seiner äußeren wie inneren geistigen Existenz steht das Geschlecht, das heute den hundertjährigen Todestag Schillers festlich begeht, dem Dichter und Denker ferner. Es wäre beispielsweise heute unmöglich, daß sein Name wie damals als Losungswort im politischen Kampfe erschallen könnte, unmöglich, weil der altersschwach gewordene Liberalismus von Idealen überhaupt nichts mehr wissen will und der Idealismus sozialistischer Gesinnung in so ganz anderen Gedankenschichten und Gefühlen wurzelt als Schillers unbestimmter Freiheitsenthusiasmus. Er steht uns ferner, wir fühlen schärfer das historisch Bedingte seiner Gestalt. Aber doch nur der Schwärmerei, nicht der Achtung, der Liebe und Bewunderung kann dies Bewußtsein, daß er als Bürger a n d e r e r Zeiten zu uns redet, gefährlich werden. Nichts ist gewöhnlicher als die Erfahrung, daß solche, die als Knaben für ihn geschwärmt, im unduldsamen Jünglingsalter — „schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort" —, weil er irgendwelchen „modernen" Kunstformeln und 16

Jonas, Schiller-Debatte

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Ideen nicht entsprach, sich naserümpfend von ihm abgewandt, als Männer wieder zurückkehren zu ihrem Schiller. Einmal zur Klarheit über jenen Abstand gelangt, läßt sich der eigenartige Zauber der großen Schillerschen Persönlichkeit um so freier, unbefangener genießen. Der Reiz, in seinen Worten den Widerhall einer vergangenen, so niemals wiederkehrenden Epoche menschlichen Seelenlebens zu vernehmen, ersetzt, was da und dort der unmittelbare Eindruck an Stärke und Lebendigkeit verloren. In Schillers ersten Dichtungen weht der Sturm revolutionärer Empörung. Der Jüngling schleudert seinen Fluch gegen die „schlimmen Monarchen", die dereinst vor Gottes Thron für ihre Frevel an der Menschheit werden Rechnung ablegen müssen, er adelt in den Räubern die zügellose Kraftnatur Karl Moors, indem er ihn zugleich als Rächer der Unterdrückten handeln läßt, er verherrlicht im Fiesco den Republikanismus und richtet, zur Gegenwart des Zeitalters sich wendend, in Kabale und Liebe den kühnsten Angriff gegen den höfischen Despotismus der deutschen Kleinstaaten. Der Druck der militärisch organisierten Karlsschule, in die der Württemberger Herzog Karl Eugen im Jahre 1773 den vierzehnjährigen Knaben gegen den Willen der Eltern gesteckt, hatte den angeborenen Freiheitsdrang nicht knicken können, im Gegenteil den Widerwillen gegen jede Art von Tyrannei dem jugendlichen Herzen um so tiefer eingeprägt. Typisch trat ihm das absolutistische Willkürregiment in der Person des Herzogs, der Landeskinder als Soldaten ins Ausland verschachert hatte, der den Dichter Schubart wegen eines Spottverses, den tapferen Moser wegen seines Eintretens für die ständische Opposition viele Jahre eingekerkert hielt und den getreuen „Untertanen" für seine Prunkbauten und schwelgerischen Feste ungeheure Summen abpreßte, entgegen. Acht Jahre hat Schiller in den engen Mauern dieser „Sklavenschule", wie Schubart sie nannte, zugebracht, abgeschlossen von fast jedem lebendigen Verkehr mit der Außenwelt. Aber dennoch, die gefährlichen Bücher, die von der Bewegung der Geister draußen Kunde gaben, drangen trotz eifrigster Kontrolle der Aufseher zu ihm und seinen Freunden. Da las man und begeisterte sich an des jungen Goethes Götz und Werther, an Lessings Emilia Galotti, an Klopstocks überschwenglichen Oden, an den Dramen der Stürmer und Dränger und Shakespeares 210

gewaltigen Gemälden menschlicher Leidenschaft. — A u s der antiken Literatur scheinen damals die Heldenerzählungen des Plutarch, viel zitiert und gepriesen in der großen Französischen Revolution als Denkmal aller Republikanertugend, den stärksten Eindruck auf Schiller gemacht zu haben. V o n der verächtlichen Gegenwart, „diesem tintenklecksenden Säkulum" appelliert K a r l Moor an die „großen Menschen des Plutarch", die erhabenen Bilder der K r a f t . — Unter den Franzosen war es Rousseau, z u dem der Jüngling sich durch einen Zug tiefer Wahlverwandtschaft hingezogen fühlte. Die Entgegensetzung von „ N a t u r " und „Zivilisation", die Rousseau zum Ausgangspunkt seiner radikalen Gesellschaftskritik nahm, geht freilich anders gewendet, auch durch Schillers eigene spätere Gedankenentwickelung als eines der leitenden Probleme hindurch. Dann aber h a t t e Rousseau gegenüber der verstandesmäßigen Aufklärungstendenz der französischen Enzyklopädisten, Natur und Menschenwelt in einen einzigen großen Mechanismus aufzulösen, alles Handeln als ein notwendiges Produkt der Triebe und der Umstände zu erklären, Protest erhoben im Namen des Herzens und des Gefühls. In dem Gefühle verehrte er die Quelle eines Glaubens, der losgebunden von dem positiven Dogma, unbeweisbar, aber auch unwiderlegbar durch die Wissenschaft, dem Menschen eine höhere Bestimmung offenbare. Und in dieser Überzeugung traf Schiller, dessen Vernunft die christlichen Dogmen ebenso entschieden zurückwies, wie andererseits die Vorstellung einer blind waltenden vernunftlosen Notwendigkeit dem innersten Bedürfnis seiner Seele widerstrebte, unmittelbar mit ihm zusammen. In der Sehnsucht des Herzens, in dem gegen alle Verstandesskepsis sich behauptenden Vertrauen: „ W a s schöne Seelen schön empfunden, muß trefflich und vollkommen sein", wurzelt schließlich wie der Rousseausche Glaube so auch der ethisch-ästhetische Idealismus, der das Bekenntnis Schillers wurde, welche K l u f t sie im übrigen scheide. Unter den Jugenddramen ist das erste und genialste — Die Räuber — noch in der Karlsschule entstanden. Heimlich in Stunden, die der Arbeit oder der nächtlichen Ruhe abgestohlen, wurden die Szenen in fiebernder Hast aufs Papier geworfen, heimlich dem Kreise begeisterter Kameraden vorgelesen. Die Jünglingsphantasie, noch durch keine Lebenserfahrung genährt, hat hier rein heraus aus der eigenen Fülle Kontraste, Schicksale und Ge211

stalten von einer Wucht geschaffen, die heute noch die Gemüter fortreißt, wieviel Fehler und Bedenklichkeiten immer die Kritik dem Stücke nachrechnen mag. Auch in das Lächeln, welches das verstiegene Pathos so mancher Stellen hervorruft, mischt sich noch immer etwas wie Bewunderung, Freude am Überschlagen, Überschäumen der Kraft. Wenige Monate, nachdem der Dichter die Karls-Akademie verlassen und zum Range eines Stuttgarter Regimentsmedikus mit 20 Gulden Monatsgehalt avanciert war, erschien das Drama im Buchhandel und wurde dann im Januar 1782 von Dalberg im Mannheimer Theater unter brausendem Beifall zur Aufführung gebracht. Mit einem Schlage war Schillers Name berühmt. Die zweite Auflage führte als Symbol des revolutionären Inhalts das berühmte Motto — den drohenden Löwen mit der Unterschrift „wider die Tyrannen" — auf dem Titelblatt. Der Konflikt mit dem Herzoge war unvermeidlich. Eine lächerlich geringfügige Beschwerde zum Anlaß nehmend, beorderte Karl Eugen den mißratenen Sprossen seiner Akademie vor sich, ließ ihn höchst ungnädig an und verbot ihm kurzerhand, je wieder etwas Dichterisches drucken zu lassen. Die Richtung paßte ihm nicht. So floh Schiller, mußte er, wenn er nicht selbst Verrat an sich begehen wollte, fliehen. In Mannheim erwartete ihn schwere Enttäuschung. Dalberg lehnte den inzwischen fertig gewordenen Fiesco ab und verweigerte auch sonst jeden Beistand. Von Hause, vom Vater, dem schmal besoldeten herzoglichen Parkaufseher in Ludwigsburg, der die Flucht nicht anders denn als einen unüberlegten abenteuerlichen Jugendstreich ansah, durfte Schiller erst recht auf keine Unterstützung hoffen. So war das Asyl, das ihm Frau v. Wolzogen auf ihrem Gutshofe in einem abgelegenen Thüringer Dörfchen anbot, Rettung aus dringendster Not. Hier entstand Kabale und Liebe, wurde der Don Carlos in Angriff genommen. Doch nicht lange duldete es ihn in der Einsamkeit. Auf das Anerbieten eines Dramaturgenpostens nach Mannheim zurückkehrend, war er der Augenzeuge seines zweiten großen Theatersieges. Kabale und Liebe, das „bürgerliche" zu flammender Auflage sich erhebende Trauerspiel, wirkte mit zündender Kraft von der Bühne, wühlte im Innersten die Seelen auf. Der Mannheimer Premiere folgten — es ist merkwürdig, wie passiv sich vielfach die Zensur verhielt — Aufführungen in anderen Städten. Aber die äußere Lage des Dichters wurde darum nicht gesicherter. Er 212

verlor die mäßig besoldete Anstellung und die Rheinische Thalia, ein Blatt, in dem er als „Weltbürger" vor dem Publikum seine Ideen entwickeln wollte, fand wenig Subskribenten. Von allen Seiten drängten die Gläubiger. Da trat Körner, der wackere Mann, von nun an bis zum Tode Schiller in innigster Freund^schaft verbunden, ihm helfend zur Seite. Die Jahre 1785—1787, die Schiller in täglichem Verkehr mit Körner und seinem Kreise in Leipzig und Dresden verlebte, sind zum größten Teil der Arbeit am Don Carlos gewidmet. Die Prosä. des ursprünglichen Entwurfes weicht der Versform, die Schiller dann in seiner ganzen späteren dramatischen Produktion nicht mehr verlassen hat. Damit ist auch das Streben nach Schönheit der Sprache ein idealisierender Stil des Ausdrucks, der in scharfem Kontraste zur Art seiner ersten Werke steht, gegeben. Aber auch die innere Struktur der Tragödie, die ursprünglich ganz von dem Kampfe zwischen Vater und Sohn beherrscht sein und die Greuel der Inquisition brandmarken sollte, wird eine andere. Die lichte Gestalt des Marquis Posa tritt in den Vordergrund, des Edelsinnigen, der für den Freund und für die Menschheit — beide! Ideale durchdringen und ergänzen sich in der Vorstellung des Dichters hier ähnlich wie in dem Liede An die Freude — willig sein Leben hingibt. Mitten aus dem verschlungenen Intrigenspiel, dem Widerstreit der Leidenschaften, ertönt die Stimme, die von dem frohen Zukunftsglauben an die Völkerfreiheit in feurigen, in unvergessenen Worten Zeugnis ablegt. Das Weltbild Schillers, so düster in den Rauhem, in Fiesco, Kabale und Liebe, wandelt sich. Hinausspähend über das Wirrsal und die Zerrissenheit des wirklichen Lebens, sucht er, dem eingepflanztem Triebe des Herzens folgend, nach höheren Harmonien, in denen alle Dissonanz des einzelnen sich auflöst. Brausend, eine Vision glühender Begeisterung, stürmt der Hymnus An die Freude auf geflügelten Rhythmen daher: Freude heißt die starke Feder In der ewigen Natur. Freude, Freude treibt die Räder In der großen Weltenuhr. . . . Aus der Wahrheit Feuerspiegel Lächelt sie den Forscher an; Zu der Tugend steilem Hügel Leitet sie des Dulders Bahn. 213

Auf des Glaubens Sonnenberge Sieht man ihre Fahnen wehn, Durch den Riß gesprengter Särge Sie im Chor der Engel stehn. Es sind Gedankenkreise, in denen sich Schiller mit einer damals weitverbreiteten freigläubig-optimistischen Philosophie berührt, wie er denn in einem eigenen philosophischen Versuche aus jener Zeit an der Vorstellung eines persönlichen Gottes, der die Menschen zur Liebe und Glückseligkeit geschaffen, durchaus festhält. Aber die strömende Wärme des Gefühls, der Schwung der dichterischen Phantasie in jenen Versen läßt alles Trennende vergessen. Ein Triumphgesang befreiter Menschheit, so klingt uns heute noch das Lied, getragen von den jubelnden Akkorden Beethovens. Mit der Beendigung des Don Carlos trat eine vielj ährige Pause in Schillers dramatischem Schaffen ein; historische und philosophische Arbeiten füllen sie aus. Von Dresden siedelte er nach Weimar, von dort nach dem nahen Jena über. Lange dauerte es, bis er den Weg zu Goethe, in dem er neidlos das größte poetische Genie des Jahrhunderts verehrte, fand; aber um so schöner, fruchtbarer gestaltete sich dann der weltberühmte Bund. Die Wendung zum ästhetischen Idealismus, die 88—89 i n den Göttern Griechenlands und in den Künstlern in der Form eines poetischen Bekenntnisses sich ankündigte, und fortwirkend, erweitert durch die Ideen der Kantischen Philosophie, Schillers Denken die bestimmende Richtung gab, hat der Annäherung der beiden, so durchaus verschiedenen Naturen vorgearbeitet. Jene Harmonie der seelischen Kräfte, die Schillers Schönheitskultus pries, schien ihm verwirklicht im Bilde von Goethes dichterischer Persönlichkeit. Wie Rousseau das von der Zivilisation vernichtete Menschenglück in der Utopie eines idyllischen Naturzustandes gesucht, so besingt Schiller in seinen Göttern Griechenlands dies neue, ihn machtvoll ergreifende Ideal harmonischer Schönheit als ein unwiderbringlich verlorenes Gut der fernen Vergangenheit. Was er in Mannheim, in Dresden von griechischer Plastik kennengelernt, die stille Einfalt und Größe der Bildwerke, der jugendfrische Reiz der hellenischen Göttersagen, die überall die äußere Natur als ein Beseeltes darstellen, die homerischen Mythen — hatte ein Gefühl in ihm entzündet, das rückstrahlend ihn das Volk der Griechen selbst in verklärtem Glänze als Erfüllung seiner eigenen Sehn-

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sucht schauen ließ; wie denn das ganze Zeitalter, unter dem Eindruck der enthusiastischen Schriften Winckelmanns, einer idealisierenden Betrachtung des griechischen Lebens — das doch durch Klassengegensätze und Kämpfe, durch Not und Elend nicht weniger als die Gegenwart zerrüttet war — zuneigte. Hier herrschte, singt Schiller, noch Einklang des Menschen mit der Natur; in einem engen, aber schönen Kreis der Anschauung, durch keine christlichen Jenseitsgedanken noch durch kaltsinnige Zergliederung der Erscheinungen aufgeschreckt, ward dies Geschlecht von seinen Göttern an „der Freude leichtem Gängelband" gelenkt: Da der Dichtung zauberische Hülle Sich noch lieblich um die Wahrheit wand, — Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle, Und was nie empfinden wird, empfand. An der Liebe Busen sie zu drücken, Gab man höheren Adel der Natur, Alles wies den eingeweihten Blicken, Alles eines Gottes Spur. Heiter menschlich empfanden die Himmlischen; kein „trauriges Entsagen" verlangte ihr Dienst; und milder Sinn umgab sogar den Tod mit freundlichen Symbolen: Damals trat kein schreckliches Gerippe Vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß Nahm das letzte Leben von der Lippe, Seine Fackel senkt der Genius. Die Blüten mußten fallen, vor dem Christengotte flohen die Götter, und die anmutsvolle Belebung der Natur wich einem Einblick in den Weltenmechanismus, der — seltsam klingt hier Schillers Klage — die Herzen ohne Poesie läßt: Knechtisch dient sie dem Gesetz der Schwere Die entgötterte Natur! Dieser Ton elegischer Klage, das Sich-Anklammern an eine beschränkte Epoche und deren notwendig beschränkter Schönheitsstil ist in den Künstlern völlig überwunden. Da vermählt sich in dem Geist des Dichters das Schönheitsideal mit dem großen Gedanken aufstrebender Kulturbewegung. Im Keime schon den Wilden eigen, hat die Kunst im Griechentum, das menschliche Empfinden aus den Sklavenbanden blinder Sinnlichkeit befreiend, sich herrlich entfaltet — doch nicht, um mit dem Griechentume unterzugehen. Eine unsterbliche Gefährtin, begleitet sie 215

tröstend, erhebend, den Umkreis ihrer Harmonien sieghaft weiter dehnend, das menschliche Geschlecht auf seiner Wallfahrt durch die Jahrhunderte. Der Hymnus An die Freude wird zum Hymnus auf die Kunst als Freude spendende, läuternde, Seelen vereinigende Macht. Wie dort verschwimmen und verschwinden hier in einer Flut des Lichtes die Grenzen kümmerlicher Wirklichkeit. Der Enthusiasmus schafft die Dinge nach seinem eigenen innersten Verlangen um: Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige Stehst du an des Jahrhunderts Neige In edler, stolzer Männlichkeit, Mit aufgeschlossenem Sinn, mit Geistesfülle, Voll milden Emsts und tatenreicher Stille, Der reichste Sohn der Zeit, Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze, Durch Sanftmut groß und reich durch Schätze, Die lange Zeit dein Busen dir verschwieg, Herr der Natur, die deine Fesseln liebet, Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet Und prangend unter dir aus der Verwilderung stieg! Stolzer ist der Ruhm dieses Zeitalters nie gefeiert worden als in dieser hell schmetternden Ouvertüre des Gedichts. In berauschender Bilderpracht, kühn hinschweifend über das Ganze der menschlichen Geschichte ergießt sich der Gedanke: Nur durch das Morgentor des Schönen Drangst du in der Erkenntnis Land. An höheren Glanz sich zu gewöhnen, Übt sich am Reize der Verstand. Was bei dem Saitenklang der Musen Mit süßem Beben dich durchdrang, Erzog die Kraft in deinem Busen, Die sich dereinst zum Weltgeist schwang. In dem Einheitsstreben der Wissenschaft, der Rätsel lösenden, die von der Kunst sich trennt, lebt nur in anderer Form der gleiche Trieb nach Schönheit und nach Harmonie, die Quelle aller freien Menschlichkeit. Zu einem Bunde werden Schönheit und Wahrheit einst zusammenfließen. In seinen historischen Untersuchungen hat Schiller den hier auftauchenden und später von ihm philosophisch formulierten Gedanken einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts

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nicht verfolgt. Auch hätte ein solcher Plan, von allem anderen abgesehen, an den Tatsachen des sozialen Lebens, die uns die K u n s t wesentlich als ein durch andere Zusammenhänge bedingtes, kaum irgendwo als leitendes, bestimmendes Moment in der Entwicklung zeigen, notwendig scheitern müssen. Sein erstes und bedeutendstes Geschichtswerk, das ihm auch eine freilich unbesoldete Professur in Jena einbrachte, eine Position, die ihm den lang gehegten Wunsch einer Vermählung endlich zu realisieren erlaubte, schildert den Abfall der Niederlande. Nicht das „Heroische und Außerordentliche der Begebenheit" - das, was ihn ein paar Jahre später zur Beschreibung des Dreißigjährigen Krieges reizte - hat ihn zu diesem Gegenstande hingezogen, sondern die Bedeutsamkeit desselben für die bürgerliche Freiheit. Ein politischer Idealismus edelster A r t spricht aus den Worten der Einleitung: „Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hülfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Plane an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten A r m eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hülfsquellen endlich erschöpfen kann. Nirgends durchdrang mich diese Wahrheit so lebhaft als bei der Geschichte jenes denkwürdigen Aufruhrs, der die vereinigten Niederlande auf immer von der spanischen Krone trennte - und darum achtete ich es des Versuches nicht unwert, dieses schöne Denkmal bürgerlicher Stärke vor der W e l t aufzustellen, in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu wecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung." Der große Sinn, mit dem er an die allgemeinen Probleme des Völkerlebens herantrat, prägt sich in seiner Antrittsvorlesung, die vom Begriffe einer Weltgeschichte handelt, leuchtend aus. Das Bild, das er hier von seinem eigenen Jahrhundert, dem der Aufklärung, entwirft, gemahnt in der überoptimistischen Färbung an die Eingangsstrophe der Künstler. Aber sonst, soweit nach allen Seiten der Gedanke ausgreift, herrscht eine klare, jede Überschwenglichkeit ablehnende Denkart. D e m Chaos historischer Gelehrsamkeit stellt er das Ringen nach einer Erkenntnis des Wesentlichen und Gesetzmäßigen in der Geschichte, die ihm vor allem Kulturgeschichte ist, entgegen und deutet auf das hohe Ziel, in dem unendlich komplizierten Ablauf zugleich die Spuren 217

einer fortschreitenden, die Menschheit aufwärts führenden Entw i c k l u n g zu entdecken. In der Art, wie er diese Idee, die geschichtlichen Veränderungen zugleich als Momente einer fortschreitenden Entwickelung zu erfassen, als ein notwendiges Streben der menschlichen Vernunft begründet, wie er — der eben noch so völlig frei in den Phantasien der Künstler geschwelgt — auf strengste wissenschaftliche Untersuchung bei einem solchen Unternehmen dringt, macht sich bereits der Einfluß Kantischer Philosophie bemerkbar. Schiller kannte damals bereits die genialen, auf wenige Blätter zusammengedrängten Reflexionen des Königsberger Denkers über die „Idee einer Philosophie der Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" — Reflexionen, die, indem sie den Fortschritt zum Widerstreit und Kampf der Interessen in ursächliche Beziehung setzen, ihn nicht idealistisch aus der Güte menschlicher Natur, sondern naturalistisch aus dem Mechanismus dieses Widerstreites selbst erklären wollen, in vielem sich dem Geist der Marxschen Geschichtsauffassung nähern. Während Schiller im stillen Jena sich in das Studium lang vergangener Zeiten versenkte, donnerte jenseits des Rheins die Brandung der Französischen Revolution. Doch der Dichter, der so oft die Freiheit besungen, der Geschichtsschreiber der Niederländer Revolution, ging an dem gewaltigsten Ereignis der neueren Geschichte mit halbgeschlossenem Blick vorüber. Über die Zukunftsfernen, die ihn begeisterten, verlor er das sichere Augenmaß für die Bedeutung der lebendigen Gegenwart. Er, der Schlachtenschilderer des Dreißigjährigen Krieges, scheute vor dem Blut, das nun nicht mehr im Kampf der Fürsten, sondern des Volks vergossen wurde, zurück: eine Episode, wie die Hinrichtung des Königs, genügte, um die anfängliche Sympathie, mit der er wie so viele andere in Deutschland der Bewegung gefolgt war, in Abscheu zu verkehren. Davon in Kenntnis gesetzt, daß die Nationalversammlung ihm als Verfasser der Räuber das französische Bürgerrecht erteilt habe, wollte er im Winter 1792 eine öffentliche Verteidigungsschrift zugunsten des angeklagten Monarchen an den Konvent richten. Die Arbeit wurde begonnen; da traf ihn die Botschaft, daß Ludwigs Haupt gefallen sei. „Ich kann seit 14 Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln mich die Schinderknechte an", schrieb er im Februar 1793 an Körner; und in den Grimm mischte sich eine Stimmung weltflüchtiger Resignation: „Man kommt mit jedem Tage mehr", heißt es mit offenbarer Anspielung auf diese Dinge in einem an218

deren Schiller-Briefe aus jener Zeit, „von dem jugendlichen Kitzel zurück, den Menschen das Bessere aufzudringen, weil unvorbereitete Köpfe auch das Reinste und Beste nicht zu gebrauchen wissen." Er hat den Bruch auch später nicht verwunden. Seine philosophischen Gedichte und Epigramme schweigen fast völlig von der Revolution, und wo noch einmal die Erinnerung an sie lebendiger auftaucht, im Lied von der Glocke, muß ihr gewaltiges Bild es sich gefallen lassen, zum Popanz und Philisterschrecken herzuhalten. Von der wirklichen bewegten Menschengeschichte wendet Schiller sich zu allgemeinen Spekulationen über — die menschliche Natur. Das Thema von der veredelnden Wirkung der Schönheit, in den Künstlern angeschlagen, nimmt er, um es in anderer Weise durchzuführen, von neuem auf. Die Kantische Vernunftkritik, Ethik und Ästhetik, die er erst in Jena las, hatten seine Anschauungen von Grund aus aufgewühlt, und ein tief empfundenes Bedürfnis trieb ihn, sich kritisch darüber klar zu werden, wie er seinen Schönheitsglauben in den Rahmen dieses philosophischen Systems hinüberretten, ihn in diesem Rahmen weiterentwickeln könne. Ein Ehrensold, den der Augustenburger Erbprinz dem Dichter nach schwerer Krankheit für einige Jahre aussetzte, gab ihm die Muße, sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Der zentrale Gedanke der Kantischen Ethik, daß der wahrhaft gute Wille seinen Antrieb nicht aus irgendwelchen Neigungen und Interessen des Individuums, sondern aus der reinen Vorstellung dei Pflicht schöpfe, daß in diesem Sinne dem Menschen, der als Sinnenwesen restlos den Naturgesetzen unterworfen erscheint, im Moralischen die Macht einer völlig freien Selbstbestimmung verliehen sei, wirkte zwiespältig auf Schiller. Das Eihabene dieser moralischen Freiheitsidee begeisterte ihn, aber der unversöhnte Gegensatz, in den die Kantische Doktrin das menschliche Wesen auseinanderreißt, mußte seinem ästhetisch-künstlerischen Empfinden im tiefsten widerstreben. Wie sollte Haimonie, wie freie Schönheit in dem Menschen möglich sein, wenn er, um gut zu handeln, seine Neigung gewaltsam ausschalten, in stetem Kampfe mit ihr leben mußte?! Aus diesem Zwiespalt sucht Schiller einen Ausweg. Er sagt sich von dem Ideal des Kantischen Pflichtmenschen nicht los, aber er stellt daneben — bald in Unterordnung unter jenes, bald als ein Gleichberechtigtes oder Höheres, seine Schätzung scheint hier zu schwanken — das 219

Ideal der „schönen Seele" auf, in der durch Veredelung der natürlichen Triebe jener Widerspruch, der Kampf von Neigung und Pflicht geschlichtet ist. Spielend, ohne den Gedanken, daß man auch anders handeln und empfinden könne, übt sie in freier Anmut die Tugenden, die der „Zögling der Sittenregel" erst in saurer Selbstüberwindung sich abtrotzen ! muß. Nicht in dem bewußten Tun, im Sein und Wesen, aus dem das Handeln unwillkürlich fließt, begründet sieh ihr Wert. Der Weg aber zur Annäherung an einen solchen Zustand der Harmonie des Sinnlich-Natürlichen mit dem Sittlich-Vernünftigen geht nach Schiller - und damit knüpft er an den Gedankenkreis der Künstler wieder an - durch das läuternde Feuer der Kunst und des ästhetischen Empfindens hindurch. Diese Auffassung hat er vor allem in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, eine Art ideologischer Geschichtsphilosophie, ausführlich zu entwickeln gesucht. Nicht nur einzelnen Individuen soll die Kunst Erhöhung und Veredelung des Charakters bringen; Schiller treibt den Gedanken so sehr ins Extrem, daß er die durch Kunst vermittelte Seelenkultur geradezu als eine Vorbedingung auch der politischen Völkerfreiheit erklärt. „Um das politische Problem eines Vernunftstaates" - und als solches erschien ihm das in der Französischen Revolution aufgerollte Problem — in der Erfahrung zu lösen, dazu, heißt es in den Briefen, müsse man den Weg durch das ästhetische Problem nehmen, „weil es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert". Was denn, an den Bedingungen der Wirklichkeit gemessen, so ziemlich auf eine endgültige Resignation, auf das Bekenntnis: „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume" hinauslaufen würde. Auch die letzte Erinnerung an den wirklichen Bewegungsmechanismus des Fortschritts, wie ihn doch Kant bis zu gewissem Grade schon durchschaute, ist hier geschwunden, der Idealismus losgelöst von jeder realistischen Betrachtungsweise, die ihm als Basis allein Halt geben kann. — Die Arbeitsteilung, die alle an einen kleinen Kreis monoton sich immer wiederholender Tätigkeiten schmiedet, hat, nach Schiller, für die Entwicklung der Fertigkeiten und der Kenntnisse unendliches geleistet, aber was die Gattung als Ganzes so gewonnen, sei bezahlt worden mit der Verkümmerung der Individuen zu trauriger Einseitigkeit. Selbst nur ein Rädchen in dem ungeheuren gesellschaftlichen Mechanismus, verhärtet sich der Mensch, unempfindlich für die Idee der Menschheit, des Volkes, des Staates, in einem 220

dumpfen, eng umschränkten Egoismus der privaten Interessen und Begierden. Um sich zur Freiheit des Sittlichen zu erheben, muß er dieser Verstümmlung, diesem lähmenden Druck vorerst entflohen sein, muß ein unmittelbar anlockender Reiz ihn aus seiner Lethargie und Isolierung herausgelockt, das Auge ihm geöffnet haben. Und dies Erlöseramt versieht die Kunst. Sie ruft zu einem Spiel in dem sich alle Seelenkräfte frei entfalten, in dem der Mensch das uninteressierte Wohlgefallen am Schönen lernt und so Distanz gewinnt den Trieben gegenüber, deren blind gehorchender Knecht er war. Der Sinn erweitert, die Neigung adelt sich, und aus der Blüte harmonischen Empfindens reift als Frucht ein schönes Gleichmaß des Handelns, dem der Stempel zwangloser Sittlichkeit aufgeprägt sein wird. Streicht man die Ideologie, die, was in einzelnen Individuen geschehen kann, zu einem Entwickelungsgang, ja zum notwendigen Entwickelungsgang der Menschheit umdichtet, so bleibt als Kern ein durchaus aristokratisches Bildungsideal des ästhetischen Menschen. Nur in auserwählten Günstlingen der Natur kann der Genuß des Schönen solche Wunder wirken. Der Kultus der Humanität in dieser Form mündet so — schon in manchen Schillerschen Gedichten, noch mehr aber bei den Romantikern mit ihrer gleichfalls an Schiller anknüpfenden Verherrlichung des ästhetischen „Spieltriebs" tritt das hervor—in einen Kultus der künstlerisch Begnadeten, des Genies. — Wie in den Briefen geht Schiller auch in seinen anderen Aufsätzen Über die tragische Kunst, Über Anmut und Würde, Über naive und sentimentalische Dichtung überall auf jene Kantische Entgegensetzung von sinnlicher Natur und sittlichem Wollen zurück. Sie bildet den Angelpunkt, um den sein Denken, beistimmend und zugleich ästhetisch modifizierend, sich bewegt. In der Mitte der neunziger Jahre, als die Gründung der Hören ihn mit Goethe zusammengeführt hatte, beginnt der Trieb poetischen Schaffens in Schillers Brust sich wieder lebendiger zu regen. Zueist erschien in der neuen Zeitschrift eine reiche Ernte philosophischer Gedichte, darunter das unbeschreiblich schöne Ideal und Leben. Platonische Ideen und Symbole aus der griechischen Mythologie in sich verwebend, spiegeln diese Strophen wundersam mit einer bildnerischen Kraft der Sprache sondergleichen das Innerste: das Herz, Gefühl und Stimmung des Schillerschen Idealismus wider. Im Jahre 1797 entstand dann die Mehrzahl 221

jener großzügigen Balladen, die ebenso volkstümlich wie seine besten Dramen werden sollten. Langsam, in vielfachen Umgestaltungen wuchs während jener Zeit die Wallenstein-Tragödie, an die er bei seinen historischen Studien zum Dreißigjährigen Krieg wohl schon flüchtig gedacht haben mochte, heran; im März 1799 war das dreigliedrige Riesenwerk, mit dem die letzte ruhmgekrönte Epoche Schillers anhebt, vollendet. Die Aufführung erweckte staunende Bewunderung. Der Eindruck übertraf noch die hochgespannten Erwartungen der Freunde. Das Stück, schrieb Goethe, „hat alle Stimmen vereinigt". Meisterhaft ist die Gestalt des großen Feldherrn und ehrgeizigen Politikers, des „Realisten", den „die Begierde zu der Erde zieht" und der phantastisch dennoch von den Sternen Auskunft hofft, entworfen. Der Gegensatz zum jungen Piccolomini, in dem der Dichter frei idealisierend des „Herzens Stimme" sprechen läßt, gibt Wallenstein selbst durch den Kontrast noch eine tiefere gesättigtere Farbe und fügt sich so bei aller Idealisierung doch wiederum organisch dem Zusammenhange dieser Charaktertragödie, wohl der machtvollsten Schillers, ein. Damals nahm der Dichter, um Goethe und dem Theater näher zu sein, in Weimar seinen Wohnsitz. Nur noch sechs Jahre waren ihm, nachdem er mit dem Wallenstein den Weg zur Bühne zurückgefunden, vergönnt. Im Kampfe mit seiner alten Brustkrankheit, die schleichend die Körperkräfte unterhöhlte, den Tod vor Augen, hat er schaffensfroh bis zum letzten Atemzuge der neugewonnenen Kunst gelebt. In rascher Folge entstanden Maria Stuart, die Jungfrau von Orleans, eine „romantische Tragödie", die ihre Symbolik dem Katholizismus entnimmt, die Braut von Messina, in der er die Formen des griechischen Trauerspiels zu erneuern sucht, und endlich das große Drama des gegen tyrannische Bedrückung sich erhebenden Schweizer Volkes — der Teil. Sprudelnd, brausend brechen unaufhaltsam die Quellen jugendlicher Freiheitsbegeisterung, lange Zeit gleichsam verschüttet, hier noch einmal in des Dichters letzter Schöpfung hervor. Das Ende knüpft sich an den Anfang, und so hat die dankbare Erinnerung des Volkes, aus den vielfach verschlungenen Zügen e i n e n herauslösend, den liebsten, teuersten, sein Bild als das des Freiheitsdichters im Herzen festgehalten. Mitten in den Arbeiten an einem neuen, groß gedachten dramatischen Entwurf schlug ihm, dessen heroische Willenskraft keine Krankheit hat zermürben können, der Tod die Feder aus der Hand. 222

In der Blüte der Mannesjahre ging er dahin. Herrlichen Lorbeer hat Goethes Epilog auf das frische Grab des Freundes gelegt; unvergänglich sind die schlichten Strophen, die uns Schiller in der Begeisterung seines Ringens schauen lassen, wie der Kranke, gleichsam entkörpert, nur noch schaffender Geist, dem Sonnengange entgegensinnt: Nun glühte seine Wange rot und röter Von jener Jugend, die uns nie entfliegt, Von jenem Mut, der früher oder später Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt. Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter, Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt; Damit das Gute wirke, wachse, fromme, Damit der Tag dem Edlen endlich komme. Schiller, der Mensch, so angeschaut in seines Wesens tiefstem Kerne, weckt in den Herzen jenes hinreißende triumphierende Gefühl menschlicher Kraft und Größe, das uns aus seinen Dichtungen entgegenweht. „Nur der Körper eignet jenen Mächten, die das dunkle Schicksal flechten . . ." Nach ihrem Ratschluß früh schon quälendem Leiden verfallen, hat er dennoch, die Blicke kühn auf alles Höchste richtend, „freudig, wie ein Held zum Siegen", seine Bahn vollendet,in edlem Selbstvergessen wirkend, bis ihn die Nacht umfing, da niemand schaffen kann.

Franz

Diederich

Schillers Volkstümlichkeit In Schiller gipfelte die deutsche Dichtung des 18. Jahrhunderts. Wir dürfen uns nicht durch die Emsigkeit, mit der Schule und Bühne des Dichters Schaffen als Gegenwartswert zu betonen suchen, über diese geschichtliche Tatsache täuschen lassen. Die Tatsache aber bedeutet auch nicht, daß Schiller nur dem 18. Jahrhundert gehöre und daß alles Lebendigsein im jüngstverflossenen Säkulum etwa künstliche Mache gewesen sei. Denn dieses 18. Jahrhundert — seine zweite Hälfte — schloß nicht nur eine deutlich zu umschreibende Kultur ab, sondern formte hoch 223

und frei das Portal einer neuen Kultur: die Geschichte der Gegenwart beginnt in dieser Zeit. Wir sind gewohnt, in Schärfe auszusprechen, daß wir uns von der klassischen Periode deutscher Kunst durch starke Gegensätze unterschieden fühlen. Dies Gefühl ist gut begründet, aber es wäre sehr verkehrt, sich seiner mit Geringschätzung jener Vergangenheit bewußt zu sein. Denn diese klassische Periode war kein stagnierender Sumpf, sondern ein Strom, dessen Wogen mit gläubiger Hoffnungsfreude der Zukunft große Gefühle und Gedanken entgegentrugen. Und gerade Schiller war mehr als irgendein anderer der führenden Geister neben ihm ein großer Verkünder kommender Herrlichkeiten menschheitlicher Kultur. Schiller, der die peinvolle Enge seiner Zeitgegenwart mit Leib und Seele schwer gespürt, hatte nicht das Zeug, geistig zu unterliegen. Er ist ein lebendiges Beispiel, wie jede Zeit ihren Gegensatz im eigenen Schöße reift. Aus der Unfreiheit der Wirklichkeit, die ihn und seine Zeitgenossen umgab, rettete er sich in die Freiheit weltgroßer Gedanken. Nicht als ein müder Wirklichkeitsflüchter! Nein, er war ein Mensch mit den stärksten Wirklichkeitsorganen, ein Mensch mit großbeflügeltem Geschichtsbewußtsein, der, wenn er sich ins Reich der Ideale erhob, im persönlichen Sehnen immer das Sehnen der Menschheit lebendig empfand. Dem Jüngling schon erschien das Gefühl, ein Dichter zu sein, als menschheitlicher Beruf; es zeigte ihm den persönlichen Wert engverschmolzen mit großen, ins allgemeine abzielenden Aufgaben. „Größe, Hervorragung, Einfluß auf die Welt und Unsterblichkeit des Namens —", so heißt es 1787, und gleich der erste dramatische Keulenschlag hatte diesen weitgespannten Zielen absichtskühn gedient. Als die Verehrer Körners und der Seinigen sich ihm zum ersten Mal mit liebendem Angebinde namenlos genähert, brach die flammende Sehnsucht, in die Welt und in die Zukunft zu wirken, in reinem, großem, ewig denkwürdigem Aufleuchten aus: „So ein Geschenk von ganz unbekannten Händen, durch nichts als die bloße reinste Achtung hervorgebracht, ein solches Geschenk ist mir größere Belohnung, als der laute Zusammenruf der Welt, die einzige süße Entschädigung für tausend trübe Minuten. Und wenn ich das nun weiter verfolge und mir denke, daß in der Welt vielleicht mehr solche Zirkel sind, die mich unbekannt lieben und sich freuen, mich zu kennen, daß vielleicht in h u n d e r t und mehr J a h r e n — wenn auch mein Staub schon lange verweht ist, man mein A n 224

d e n k e n s e g n e t und mir noch im Grabe Tränen und Bewunderungzollt - d a n n f r e u e i c h mich m e i n e s D i c h t e r b e r u f e s und versöhne mich mit Gott und meinem oft harten Verhängnis." Dieses Gefühl, im Boden der Gegenwart mit dem dichterischen Schaffen Wurzel zu schlagen, hat in Schiller die Kraft des Gedeihens wunderbar genährt und gesteigert. Die beiden Freundschaften mit den großentwickelten Menschen Körner und Goethe trieben den Baum dieses Menschenlebens fest und fruchtgesegnet empor, und der Dichter gedieh, weil der Mensch gedeihen konnte. Schiller besaß den Optimismus der Kämpfernatur, die immer die unzulängliche Wirklichkeit um sich her sah, aber alles Gemeine in wesenlosem Scheine hinter sich lassend, ohne Ermatten die Zukunft lichtgebreitet aus dem Dunkel drückender Unvollkommenheit heraushob. Der Glaube seiner starken, suchenden, spornenden Gedanken half ihm als wahrer Wunderarzt über das Elend seines früh zerfallenen Körpers lange sieghaft hinweg. Bewundernd hat einst Hebbel von ihm gesagt: „Dieser heilige Mann! Wann hätte er auch nur in einem einzigen Vers das persönliche Leiden seines Lebens berührt. Immer hat das Schicksal geflucht, und immer hat Schiller gesegnet." In dieser heilenden Gläubigkeit ruht im Keime all die über ein Jahrhundert und mehr ausgesäte Hülfe, die aus der Gedankenwelt Schillers für die Menschen einer werdenden Kultur entsprang. Hier wurzelt recht eigentlich alle Volkstümlichkeit dieses begeistert begeisternden Dichters, hier, in ihm selbst, wurzelte die Möglichkeit der Erfüllung seiner heiligsten Wünsche. Dichterische Größe bedeutet durchaus nicht immer und durchaus nicht fortdauernd Volkstümlichkeit. Am besten versinnlicht die Richtigkeit dieses Satzes das Verhältnis des Volkes zu Goethe. Die Hinkehr größerer Massen des Volkes zu diesem bedeutendsten Geiste der Weltliteratur beginnt erst in unserer Gegenwart. Volkstümlichkeit hängt eben nicht von der dichterischen Leistung allein ab: bestimmte Kulturströmungen, die das Volk ergreifen, bringen sie hervor, wenn der Dichter oder Denker Dinge schuf oder Gedanken gab, die der Verwirklichung eines Zeitstrebens gewichtvoll dienen können. Worte, Gestalten, Lebensschicksale, Persönlichkeitszüge - Dichtung und Wahrheit alles kann zeitweilig oder auf längere Dauer Volkstümlichkeit bewirken, wobei nicht vergessen werden darf, daß Zuneigung, Gleichgültigkeit und ausgesprochene Befehdung, auf breite 17

Jonas, Schiller-Debatte

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Schichten verteilt, nebeneinander herlaufen können. Die bestimmte geschichtliche Situation entscheidet hier. In Schiller ist die Verbindung mit der geschichtlichen Situation seiner Gegenwart zeitlebens die denkbar innigste gewesen. Er münzte sich das Leitwort: „Denke dir die Menschen, wie sie sein sollten, wenn du auf sie zu wirken hast; aber denke sie dir, wie sie sind, wenn du für sie zu handeln versucht wirst." Dieser Grundsatz praktischen Handelns im Kampfe um Kultur wirft helle Lichter in die Lebensarbeit des Dichters. Weil er so genau wußte, „wie sie sind", eben deshalb konnten sich die Energien seiner Beredsamkeit so stark im Ringen um den Gegensatz „wie sie sein sollten" auslösen, und eben deshalb fiel den meisten seiner Werke so unmittelbar eine jubelnde Volkstümlichkeit zu. Seine Gedanken begleiten in lautem Widerhall die Geschichte seiner Tage, und diese antwortete seinen Werken wie ein gewaltiges Echo. Goethe empfand Schiller bei der ersten Berührung „wie einen neuen Frühling" so aber wirkte das Wort Schillerschen Schaffens auf Tausende und Abertausende. Und weil Schiller in allem geschichtlichen Geschehen den ringenden Menschen und den Gang des Freiheitsgedankens sah und deutete, deshalb wuchs seinen Werken diese Lebenskraft zu, deren Pulsschlag allen um ein Aufatmen von ererbter kulturwidriger Bedrückung ringenden Menschen über die Lebenszeit des Dichters hinaus bis auf den heutigen Tag wunderbar verständlich war. Will man die Rolle, die Schiller zufiel, recht verstehen, so ist es notwendig, zu beobachten, daß das 18. Jahrhundert nicht nur von den heutigen Mitteln des wirtschaftlichen Verkehrs, sondern ebensosehr von den uns heute gegebenen Mitteln geistigen Verkehrs nichts wußte. Die Tagespresse lag in den Windeln, vom freien Worte der parlamentarischen Rednertribüne besaß man noch nichts: Bedrückung überall und nirgends ein organisiertes politisches Leben. Hundedemut statt offener Auflehnung! Höchstens versteckte, unklare Sehnsucht und ein Ballen der Faust im Sack wagte der dem fürstlichen Despotismus ausgelieferte rechtlose Bürger. Aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erstehen Prüfer und Mahner, die das Wort öffentlich zu handhaben wagen. Lessings weckende Lebensarbeit beginnt. Der Einfluß Rousseaus, des großen öffentlichen Anklägers der Schwäche und naturwidrigen Verkommenheit der Zeit, dringt von Westen herüber. Der Sturm und Drang ergreift mit wildem Brausen die Literatur Deutschlands; die Leidenschaft der Jugend fordert ihre 226

Rechte, das erwachte Selbstbewußtsein packt die Plattheit und feige Selbstbescheidung am Schöpfe und rüttelt sie auf mit dem Rufe nach starken Menschen, nach Männern, Helden. Groß wie der Einfluß Rousseaus wird der Einfluß des alten griechischen Geschichtsschreibers Plutarch. An seinen Heroenbildern berauscht man sich: „der erhebt über diese platte Generation und macht uns zu Zeitgenossen einer besseren, kraftvolleren Menschenart." So sprach 1788 der Mann, der dem Sehnen der zur Mannheit erwachenden besten Volkselemente erstanden war. Ein großes Messiashoffen ergriff diese Elemente des Bürgertums. Des eingekerkerten Schubart Stimmung gehörte der Jugend, die sich regte und äußerte. Die Begeisterung, die dem Goetheschen Götz zuflog, enthüllte zuerst die weite Verbreitung und kräftige Art dieser Stimmung. Und nun kam Schillers jugendgewaltiger Erstling: Die Räuber. I n t y r a n n o s ! Da war der Messias, den die Zeit brauchte. Er war's, weil er den Gedanken der Zeit die hinreißende Wucht des himmelstürmenden Wortes in heißen Fluten einzugießen vermochte. Die Gedanken brauchten ihren Redner. Hier war der Tribun. Wilhelm v. Humboldt rief, als der Dichter jählings starb: „Seine Kraft lag ganz in den Ideen und in der Beredsamkeit. Das Wort war das einzige Werkzeug, das ihm die Natur gegeben hatte; in ihm lebte er ganz, und sicher hat niemals ein Mensch einen solchen Gebrauch von ihm zu machen gewußt, keiner gewußt, es so zu Geltung und Glanz zu bringen." Die Geschichte Deutschlands hatte sich in ihm das Organ geschmiedet, dessen sie dringend bedurfte und dessen Kraft ihr über Jahrzehnte hin Fanfarendienste zu leisten vermochte. Der Emanzipationskampf der bürgerlichen Klasse Deutschlands fand bei Schiller die Schlagworte, die er brauchte, und das Auf und A b Schillerschen Einflusses bezeichnet in treulicher Spiegelung den Aufstieg und Absturz, der dem Bürgertum als Bannerträger der großen freiheitlichen Ideale der Menschheit beschieden war. Freiheitsgedanken, Freiheitsgestalten. In Wort und Symbol griff Schiller tief in das Gefühlsleben der breiten Schichten des Volkes. Er war nicht der rhythmenreiche Poet wie Goethe, sein rhythmisches Fühlen war begrenzt. Und ebenso quoll nicht ein reicher Strom reiner Gefühlslyrik aus seiner Brust. Er war im Grunde genommen ein Verstandesmensch, in dem aber das eine Gefühl und der eine Rhythmus, die klärenden Errungenschaften des Verstandes zu verkünden und für sie zu werben, übermächtig war. Damit aber drang er gerade in die breiten 17'

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Schichten des Volkes seiner Zeit ein. Der Unentwickelte ist dem Pathos und seinen begrenzten Rhythmen noch am ehesten zugänglich, die feineren Saiten des Gefühls schwingen noch nicht in seiner Seele. Das Zeitalter der Aufklärung war ein Zeitalter nüchternen Verstandesmenschentums, es war ein Zeitalter politischer Unreife der Massen. Aber die politischen Umstände, die ganze geschichtliche Situation mit ihrer Anhäufung von Revolutionsstoff und ihrer revolutionären Explosion in Frankreich entwickelte die Bereitschaft zur Reife. So traf der Rhythmus des Schillerschen Stils, der im Kerne revolutionär war, auf die rechte Empfänglichkeit in den Massen. Es ist eine aus der Geschichte bekannte Erscheinung, daß die Ruflyrik, die knapp und feurig die Sturmgedanken der geschichtlichen Bewegung zu formen weiß, heiß und feurig von den aufsteigenden Klassen aufgesogen wird. Es ist aber auch bekannt, daß der schlichte Verstand sich an das Anschauliche hält. Schiller selbst, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen entsprossen, wußte, daß er kein Lyriker war, und fühlte auch keine fortreißende Neigung für lyrisches Schaffen. Aber zum Drama riß es ihn mit der Gewalt eines Naturtriebes. Begeisterung band ihn an die führenden Gestalten seiner Dramen, gedankenmächtig baute er sie, große, gewaltige Menschen, Spiegelbilder ganzer Zeiten, Führer bewegter Massen, echte starke Helden, die zu kämpfen und für ihren Glauben und Willen zu sterben wissen. Das alles war aus dem sicheren Gefühl für die Gegenwart entsprungen, und so war die geistige und gefühlsmäßige Verbindung mit den Massen der Gegenwart und auf Jahrzehnte hinaus natürlich gegeben. Das Pathos der lehrenden Lyrik, ihr moralistischer Grundton, die Theatralik der Dramen, und auch hier die idealisierte bürgerliche Moral, das zu größter künstlerischer Höhe gesteigerte Geschick anschaulichster Versinnlichung von Geschehnissen in Balladen und szenischen Vorgängen, das alles sind Züge einer ganz bestimmten Kultur, und eben deshalb konnten diese Dichtungen bis zur Volkstümlichkeit Einfluß gewinnen. Aus dem gleichen Grunde aber mußte diese Volkstümlichkeit mit der Wandlung dieser Kultur und ihrer Menschen auch Veränderungen erfahren, und so besteht im Bürgertum die Volkstümlichkeit Schillers als Dichter der Freiheit in der Tat heute kaum mehr dem Namen nach. Der alten Herrlichkeit des Volksdichterruhms sucht man mit ein paar spärlichen Zitatenresten das Leben zu sichern. Von dem Dichter der Freiheit, der Freiheit 228

durch Einigkeit, der Freiheit und Menschenmächtigkeit durch Sittlichkeit, der Sittlichkeit und Freiheit durch Schönheit blieb als Kulturhelfer nicht mehr als ein vaterländischer Mahner zur nationalen Einigkeit, ein Verherrlicher engen bürgerlichen Hausund Familienglückes, ein wehrloser Eideshelfer jener idealisierend verlogenen Beschönigungsdichtung, die der Wahrheit grundsätzlich das Gesicht verhängt. Gerade das, was Schiller als das Geringe galt, wurde zur Hauptsache gestempelt, die bedeutsamsten Merkmale seiner geistigen Höhe aber überging die bürgerliche Welt, und sie fielen geradezu in Vergessenheit. Dieser Welt aber muß ein (natürlich auch sehr totgeschwiegenes) Schillerwort aus den Briefen an Körner laut ins Gedächtnis gerufen werden, das Wort: „Das v a t e r l ä n d i s c h e I n t e r e s s e ist ü b e r h a u p t nur f ü r u n r e i f e N a t i o n e n w i c h t i g , für die Jugend der Welt. E s i s t ein a r m s e l i g e s , k l e i n l i c h e s I d e a l , f ü r e i n e N a t i o n z u s c h r e i b e n ; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich. Er kann sich für das Nationelle nicht weiter erwärmen, als soweit ihm die N a t i o n u n d N a t i o n a l b e g e b e n h e i t als B e d i n g u n g f ü r den F o r t s c h r i t t d e r G a t t u n g wichtig ist." Schiller ging aus von dem Kampfe um individuelle Freiheit: Rousseaus Gedanken erfüllten seine Jugend und münden in das Jugenddrama Die Räuber. Ein Rütteln am knebelnden, bedrückenden Absolutismus sind die übrigen Dramen der ersten Periode: Fiesco, Kabale und Liebe, Don Carlos. Vom Blut der Zeit genährt, rissen sie — Fiesco ausgenommen — zur Begeisterung hin. Und so wirkten auch fast alle Dramen der zweiten dramatischen Periode: Wallenstein, Jungfrau von Orleans, Wilhelm Teil. Auch in diesen pulsiert Schillers Gegenwart, die Zeit großer persönlicher Energien und großen Hoffens auf starke, neue und zum Neuen führende Männer, die Zeit der Revolution und des Kriegsgetöses, wo Staaten mit dem Schwerte zerschlagen wurden. Hier ging die Gegenwart und das folgende halbe Jahrhundert mit. Aber das deutsche, zur Politik drängende Bürgertum sah immer nur Schillers politisches Vermächtnis. Daß Schiller ein M e n s c h e n g e s t a l t e r sein, daß er für den „Fortschritt der Gattung" ringen wollte, das begriff man nicht und sollte man nie begreifen. Die Befreiungskriege und die Periode bis 1848 brachte den politisch-ideellen Einfluß Schillerscher Schlagwortsentenzen zur 229

höchsten Blüte. Die Feier der hundertsten Wiederkehr des Schillergeburtstages ließ noch einmal den nationalen Ruhm des Dichters in riesiger Mächtigkeit aufflammen; aber schon damals war die Abwendung von Schiller in den Kreisen der „Gebildeten" so auffällig, daß Gottschall diese Tatsache zum Thema eines Festvortrages wählte. Der ausbrechende Profitmaterialismus der Bourgeoisie verwies die Dichter spottend in den Winkel, und Schiller wurde den Schulkindern als geeigneter Lesestoff zugewiesen; die Erwachsenen glaubten ihn entbehren zu können. Die Aufführungen Schillerscher Dramen verrotteten, und im politischen Kampfe begann nun die sich organisierende sozialdemokratische Anhängerschaft mit Schillerschen Gedanken und Worten dem Liberalismus, der seiner radikalen Ideale müde war, den goldenen Himmel höllenheiß zumachen. Die ernsthaften Versuche, Schiller auf der Bühne wieder zu einer Macht werden zu lassen, konnten nicht hindern, daß die in den achtziger Jahren laut einsetzende Ära des literarischen Naturalismus der äußerlich behaupteten Vorherrschaft Schillers und seiner schwächlichen oder hohlpathetischen Epigonen rücksichtslos zu Leibe ging. Das Ringen, ihn durch ein neues, großes, der Gegenwart entwachsenes Drama zu ersetzen, dauert auch heute noch an. Heute aber, wo die praktische Arbeit einer neuen Kulturströmung Tag und Tag das Pflugeisen tiefer in die Scholle drückt, scheint es auf einmal, als sollten wir Schiller von einer ganz neuen Seite entgegen wachsen. Das Thema „Schiller als Erzieher" beginnt in der Diskussion des Tages Raum zu erobern. Schillers Hoffnung, die Französische Revolution werde die Ideale der Menschlichkeit und Menschenwürde vor den Augen der Zeit verwirklichen, schlug fehl. Aber er sank nicht in Pessimismus, sondern wandte sich den Gedanken zu: zunächst müsse der einzelne als solcher eine Entwicklung zur Kraft und Würde durchmachen, ehe er reif sei, Gesellschaftsordner zu werden. Schiller wußte wohl, daß die Würde des Menschen von der Befriedigung der Lebensnotdurft abhänge: „Zu essen, gebt ihnen zu wohnen! Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst." Aber er konnte nicht wissen, was heute so leicht zu wissen ist: daß nicht von oben, sondern von unten her die Kräfte drängen, die die Neuentwicklung der Menschengattung fundamentieren werden. Er konnte auch das Mittel des Klassenkampfes noch nicht erkennen: die deutschen Verhältnisse, die sein Denken bestimmten, waren gänzlich zurückgeblieben. Er sann einer ästhe230

tischen Erziehung des Menschen nach, und die Ergebnisse seiner Gedankenarbeit sind derart, daß sie Ausblicke geben auf die Zeit, wo die Vorbedingungen sozial-ökonomischer Art soweit erfüllt sein werden, daß der äußere Druck von den Menschen schwinden und die Arbeit der inneren Befreiung des Menschen von Zwangsqual und gesellschaftsschädlicher Engherzigkeit die letzten Reste einer dunklen Vergangenheit überwinden kann. Die ästhetische Kultur, die Schiller fordert, ist nicht erschöpft in dem Gedanken der Erziehung der Menschen zu Kunst und Kunstverständnis. Schillers S c h ö n h e i t s z i e l will die i n n e r s t e h a r m o n i s c h e E n t w i c k l u n g d e s g a n z e n M e n s c h e n , die eine Sittlichkeit herbeiführt, in der das Gute ohne Berechnung und Dünkel ganz um seiner selbst willen geschieht. Die Entwicklung der Persönlichkeit, die heute geschieht und von einem gereinigten sozialen Fühlen neuer Art gekennzeichnet ist, wird die Augen für den Sinn des ästhetischen Wollens Schillers öffnen. Schillers Gedanken übersprangen gleichsam eine Staffel geschichtlichen Ringens und Werdens und wurden deshalb nicht verstanden und mißachtet. Nun aber ist die Kulturmenschheit seinen zukunftsgläubigen, fliegenden Gedanken nachgekommen, und wie in eine Welt von Offenbarungen wächst sie in ihren Kreis hinein.

[Friedrich

Stampfer]

Schiller Heute vor hundert Jahren starb er, fünfundvierzig Jahre alt. Er hatte das Schicksal aller großen Wahrheiten — b i s h e r — , er starb zu früh. Alle menschliche Kultur- und Geistesgeschichte — b i s h e r — ist eine Geschichte vom vorzeitigen Sterben. Die glänzenden Wahrheiten a n t i k e r W e i s h e i t waren längst veraltet, als das Volk des Mittelalters in starrer Unwissenheit dahinlebte, dem Bettler gleich, unter dessen elender Hütte ein köstlicher Kronschatz vergraben liegt; er aber weiß es nicht und siecht kümmerlich dahin; 231

ein undurchdringlicher Bodensatz von Schmutz und Unflat trennt ihn von Glanz und Glück. Dann kamen zur Zeit der Reformation die H u m a n i s t e n , die den Kampf wider die Dunkelmänner aufnahmen und mühsam den Schutt hinwegzuräumen begannen. Jetzt drang ein Strahl des aufgehenden Lichts auch in die Werkstatt des schaffenden Volkes, und Hans Sachs, der Schuhmacher, jubelte der rotbrüstigen Morgenröte entgegen. Vorbei! Der Dreißigjährige Krieg, die Gegenreformation, der ersterbende Monarchismus zertrümmern die Anfänge einer neuen menschlichen Kultur, und wie im tiefsten Mittelalter decken dichte Schleier der Unwissenheit das weite Land. Seit dem Ende des furchtbarsten aller Kriege waren drei Menschengeschlechter gekommen und gegangen; das vierte aber, dem Friedrich Schiller entsproß, ward ein Geschlecht der Befreier, das erste in einer Reihe, die noch nicht abgeschlossen ist und deren Glieder nach der Zukunft weisen. Aber auch hier noch wiederholt sich das ewige traurige Motiv der menschlichen Geschichte: der Frühtod der Wahrheit! Vor hundert Jahren starb Schiller; der ganze Geistesschatz eines Lebens wurzelt in einer Zeit, die uns fremd geworden ist — selbst seine Sprache ist nicht mehr ganz die unsere. Aber Friedrich Schillers Wahrheit ist in den fünfundvierzig Jahren seines Lebens und in den hundert Jahren seit seinem Tode keinen einzigen Tag das geistige Gemeineigentum der deutschen Nation gewesen: noch ehe sie sich zur Vollkraft entwickelte, alterte sie und schwand stückweise dahin. Freilich, ein leuchtender Stern blieb. Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Schillerfeier als eine „Nationalfeier" zu begehen vorgibt — ja, wer ist die deutsche Nation? Es ist eine heuchlerische gleißende Lüge, wenn man schlechtweg sagt, daß Friedrich Schiller der Dichter des Volkes sei. D a s d e u t s c h e V o l k h a t k e i n e n D i c h t e r ! Man kann keinen Dichter haben, wenn man, nachdem einem in der Volksschule der Kopf mit Religion und Patriotismus vollgetrichtert worden ist, mit rauher Hand in den Lebenskampf hineingestoßen wird, vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Maschine steht und kärgliche Arbeitspausen mit Schlaf und der Sorge um morgen ausfüllt! Wohl mag es Millionen Deutscher geben, denen der Klingklang einiger Verse Schillers im Ohre hallet — wieviele aber gibt es, denen es vergönnt war, in liebevollem Bemühen zu seinem Wesen vorzudringen und sich ihn geistig ganz zu eigen zu machen ? Mehr als einmal in hundert Jahren tobte der Streit der Gelehrten 232

für Schiller, gegen Schiller; aber die Masse vernahm kaum ein Geräusch davon und hatte keine Gelegenheit, ihr Urteil im Streite abzugeben — weil sie keines hatte, keines haben konnte. Dieselbe Gesellschaft, die heute den Dichter des deutschen Volkes preist, übergoß vor acht Tagen die Maidemonstration der Arbeiter, die dem Achtstundentag gilt, mit ätzendem Hohn. Ein Volk aber, das um den achtstündigen Arbeitstag erst kämpfen muß, kann keine Dichter haben, und wenn trotzdem ein starkes Band den großen Toten mit den Millionen des Volkes verbindet, so ist es nicht das Band des Besitzes, sondern das mächtigste der Sehnsucht. Schillers Weltanschauung! Sie ist in diesen Tagen hundertfach kritisiert, zerpflückt, gesiebt und gesichtet worden. Man hat um sie gestritten, ja gezankt. Der Streit der Parteien, sogar der Fraktiönchen ward um sie entfesselt. Solche Art der Diskussion ist ja freilich immer noch ein Fortschritt gegenüber dem gedankenlosen Festphrasentum, das eine große geistige Angelegenheit auf das Niveau eines Moderummels herabdrückt. Wenn nun aber ein zufälliges Datum die Welt mit dem Klange eines großen Namens erfüllt, so mag es weder angemessen erscheinen, von ihm so zu reden, als ob jeder Mensch von vornherein wissen müßte, was er bedeutet, noch ihn derart zu behandeln, als ob nur die spitzfindigste und gelehrteste Forschung sein Wesen begreifen könnte. Weil heute Schillers hundertster Todestag ist, soll darum versucht werden, in einfachen Worten zu sagen, wer Schiller war und was er den Arbeitern noch sein kann, wenn sie ihn erobern. Zunächst das Einfachste: Schiller war ein D i c h t e r , das heißt ein Mann, der aus Worten Kunstwerke schuf. Der Genuß von Kunstwerken verschafft, ungeachtet ihres besonderen geistigen Inhalts, ein reineres, tieferes, echteres Glück, als der begreifen kann, der solches Glück nicht kennt. In diesem Sinne sind Schillers Werke dazu bestimmt, das geistige Gemeingut des ganzen Volkes zu sein, ohne Rücksicht auf Stand, Klasse und Parteiung. Soweit es sich um ihren abstrakten Schönheitswert handelt, steht ihnen der am nächsten, der die größte Genußfähigkeit besitzt, so wie nicht der die größte Freude an Homer hat, der an griechische Götter glaubt, sondern vielmehr jener, der die beste Kenntnis der griechischen Sprache mit der stärksten Vorstellungskraft verbindet. Schiller hat Dramen und Gedichte geschrieben, die einfach s c h ö n sind, so daß die Freude an ihnen auch nicht beeinträchtigt 233

werden kann, wenn man mit den Gedanken, die in ihnen ausgedrückt sind, etwa gar nicht einverstanden sein sollte. Schiller, so lautet die marktgängige literarische Phrase, hat „uns" das deutsche Drama gegeben, er hat das deutsche Theater belebt, das sich ohne seine Werke heute nicht mehr denken ließe. Aber wem gehört das deutsche Theater? Etwa „uns"? Und wenn Schillers Dramen zeitweilig stark von der Bühne verdrängt wurden, um plattem Alltagstand Platz zu machen — war es der Geschmack des deutschen „Volkes", der sie von da verdrängte? Allüberall, in den größeren Städten, in denen die breiten arbeitenden Massen auf irgendwelche Weise dazu kamen, einigen Einfluß auf den Spielplan der Schaubühne auszuüben, vollzog sich auch die Einsetzung Schillers in seine Rechte. Denn diese Massen empfanden die allbezwingende Macht des Gesanges, fühlten die Schönheit der großen Dichtung. Mit allen großen Dichtern hat Schiller das gemein, daß er keine übertriebenen Ansprüche an die gelehrte Bildung seiner Hörer stellt. Wenn früher gesagt worden ist, das deutsche Volk habe keine Dichter, so muß hinzugefügt werden: es k ö n n t e seine großen Dichter haben, ohne ein Volk von Professoren werden zu müssen. Es braucht dazu nur ein wenig Muße, ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig Zeit und ein wenig Geld. Von der künstlerischen Kultur trennt es keine unübersteigliche Schranke, sofern man nicht die gegenwärtige Gesellschaftsordnung für unüberwindlich hält. Nicht die Arbeit an sich drückt die Masse unter das Niveau künstlerischer Genußfähigkeit herab, sondern die kapitalistische Organisation der Arbeit. Sie erniedrigt den Menschen zum Lasttier, stumpft alle feineren Empfindungen in ihm ab und verstümmelt die Organe seiner höchsten, d. h. seiner rein geistigen Freuden. Wenn es darum irgendeine Bewegung gibt, die dahin drängt, Schiller wahrhaft volkstümlich werden zu lassen, so ist es jene, die die kapitalistische Ausbeutung des Volkes bekämpft, die Arbeiterbewegung. Schon aus diesem Grunde gebührt ihr bei jeder Nationalfeier des Dichters — gleichgiltig, wie sich sonst ihr geistiger Gehalt zu jenem des Dichters stellen mag — die entscheidende Rolle. Schillers Bedeutung beruht aber nicht allein auf dem rein künstlerischen. E r ist eine Ziffer in der Summe der Wissenschaft vom menschlichen Geiste in der P h i l o s o p h i e , er ist ein Faktor in der deutschen P o l i t i k . Sein Name ist in früheren deutschen Geisteskämpfen ein Schlachtruf gewesen, er ist auch heute noch 234

ein Programm. Die Größe seiner Kunst, Ideen in schönen Formen auszudrücken, erzwingt ihm die Verehrung oder doch wenigstens den äußerlichen Respekt jener, die sich mit seinen Anschauungen nichts weniger als einverstanden erklären. Für oder gegen Schiller Partei ergreifen heißt nicht, seiner Formkunst Anerkennung zollen oder verweigern, sondern seine I d e e n annehmen oder verwerfen. Dabei ist Schiller keineswegs ein originaler Denker gewesen. Seine Bedeutung beruht vielmehr darauf, daß er die größten und fruchtbarsten Ideen seiner Zeit in sich aufnahm und sie dichterisch verlebendigte. Wie auf den Jüngling Rousseau, so wirkte auf den reiferen Mann Kant ein. Die Räuber, Fiesco, Kabale und Liebe, Don Carlos tragen die deutlichen Spuren des französischen Einflusses an sich, die bürgerliche Revolution wetterleuchtet in ihnen. In Wallenstein, Maria Stuart, der Jungfrau von Orleans, der Braut von Messina tritt dieses revolutionär-tendenziöse Element zurück, um sich schließlich im Teil aufs neue zu entfalten. In die Zeit der tendenzlosen Dramatik aber fällt auch die Schaffung der großen philosophischen Lehrgedichte und der wichtigsten prosaischen Schriften, so daß Schiller eigentlich zu keinem Zeitpunkt seines Lebens seinen großen Lehrberuf versäumte und seine hinreißende Darstellungskunst immer im Dienste der zeitgenössischen Weltanschauung stand. Die große geistige Tat aber, die das 18. Jahrhundert vollbrachte, war die Entthronung der Gottheit und die Inthronisation des M e n s c h e n . Was immer man von der Wiedereinsetzung des Gottesbegriffes durch Kants Kritik der reinen Vernunft halten mag — soviel ist gewiß, daß dieser neugeschaffene Gott nichts mehr mit jenem der positiven Religion gemein hat. Die Kritik der reinen Vernunft hat zwischen alter und neuer Zeit in revolutionärer Weise jedes Bindeglied zerrissen. Gott hat nicht den Philosophen geschaffen, sondern der Philosoph Gott. Die Religion erschien kulturhistorisch als ein Hebel des menschlichen Fortschritts, aber sie hatte aufgehört, als die eine absolute Wahrheit zu gelten; die denkende Vernunft und die moralische Gesetzlichkeit waren die neuen Herren einer neuen Welt. Solche Gedanken hat Schiller wohl nicht selbst gefunden, aber in ewig klare Formen geprägt: Nehmt die Gottheit auf in euren Willen Und sie stürzt von ihrem Weltenthron. Des Gesetzes strenge Fessel bindet 235

Nur den Sklavensinn, der es verschmäht. Mit des Menschen Widerstand verschwindet Auch des Gottes Majestät. An die Stelle eines tyrannischen Pfaffengottes tritt der selbstgewollte Gott des „ewigen Willens", an die Stelle einer abergläubischen Vorstellung eine philosophische Abstraktion, die dem menschlichen Fortschritt zu Wahrheit und Freiheit nicht mehr hemmend im Wege steht. Das Gesetz aber, das Schiller gegen die Schmähungen des „Sklavensinnes" verteidigt, ist nicht das kirchliche noch das staatliche, sondern das moralische Gesetz, das in der Brust des Menschen lebt. Gegenüber dem trügerischen M a t e r i a l i s m u s der Dogmenreligion, die mit grob-sinnlichen Vorstellungen arbeitet, erhebt sich das revolutionäre System des I d e a l i s m u s , das die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt der Welt stellt. Das menschliche Denken erkennt die Begrenztheit seiner Erkenntnisfähigkeit und erfaßt zugleich die Größe seiner p r a k t i s c h e n M a c h t . Der erwachende Geist der bürgerlichen Klasse rodete den Urwald der feudalistischen Vorurteile aus, um ein Feld für seinen Pflug zu gewinnen. Es kam nicht bloß darauf an, die Welt zu begreifen, sondern auch darauf, sie zu verändern, zu verbessern. Nachdem der achtzehnjährige Schiller in den Räubern der staatlichen Ordnung überhaupt den Krieg erklärt hatte, riß er im Fiesco die Laster der Monarchie auf die Schaubühne, zeigte in Kabale und Liebe den furchtbaren Widerspruch zwischen dem bestehenden Ständestaat und den elementarsten Forderungen menschlicher Sittlichkeit, führte im Don Carlos den Feldzug wider die Despotie des Dunkelmännertums. „Wir haben lang genug geliebt und wollen endlich hassen!", dieses Wort Herweghs dürfte als Motto über Schillers Jugenddramen gesetzt werden. Denn ein unbändiger, großer Zerstörerhaß treibt in ihnen sein Wesen — jener Haß, der aus der heiligsten sittlichen Leidenschaft geboren ist. Die Schaubühne war eine moralische Anstalt geworden; sie übernahm Schwert und Klinge und riß die Laster vor ihren gräßlichen Richterstuhl. Man macht heute der Sozialdemokratie den Vorwurf, sie wollte nur zerstören und wüßte nicht, was an die Stelle des Bestehenden zu setzen sei. Wußte der Zerstörer Schiller, was er an die Stelle des Bestehenden, das er bekämpfte, setzen wollte? Sicher besaß er davon eine viel undeutlichere Vorstellung als die Sozialisten. In seiner Sturm-und-Drang-Zeit hat er sein politisches Ziel über236

liaupt nicht formuliert; später in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen bekannte er, daß er an die Stelle des urwüchsig gewordenen Naturstaats der Menschen einen Vernunftstaat gesetzt wissen wolle, und bezeichnete den Bau einer wahren politischen Freiheit als das höchste Kunstwerk. Damit war nur die allgemeine grundsätzliche Forderung ausgesprochen, daß sich die Menschheit aus den Fesseln einer unvernünftigen, den höchsten Menschheitszielen widersprechenden Staatsform zu einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Organisation erheben möge, die nicht von der brutalen Gewalt beherrscht ist und an trägen Gewohnheiten klebt, sondern von der menschlichen Vernunft regiert wird. Auch der Teil, das Drama der revolutionären Siegeszuversicht, zeigt die Freiheit nur als das Abhandensein oder die Zerstörung einer tyrannischen Fremdenregierung und die Aufhebung der Leibeigenschaft: So korrespondiert die Entwicklung der Ideen mit jener der tatsächlichen Verhältnisse. Das Zeitalter des Kapitalismus räumte das Gerümpel des Feudalismus wie des absolutistischen Polizeistaats hinweg und bereitet den Platz für den Aufbau des Sozialismus. Die bürgerliche Aufklärung bekämpft das religiöse und politische Vorurteil der feudalistischen Periode, proklamiert die Selbstherrschaft der menschlichen Vernunft und schafft so den Rahmen der sozialistischen Weltanschauung. So ist der klassische Idealismus der Bahnbrecher nicht bloß der bürgerlichen Revolution, sondern auch ihrer Fortsetzerin, der proletarischen. Ihre Schlüsse sind unmöglich ohne ihn als Voraussetzung. Nicht gegen ihn wendet sich der „ökonomische Materialismus", sondern gegen seine entarteten Sprößlinge, gegen die pseudoidealistische Philosophie eines reaktionär gewordenen Bürgertums. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts hatte einstweilen genug damit zu tun, die erste und tiefste Fundierung einer modernwissenschaftlichen Politik zu liefern. An politischer Erfahrung im engeren Sinne hat es ihm vollkommen gefehlt, und in diesem Sinne war auch Schiller kein Politiker. Weder besaß er eine Vorstellung von den nächsten Zielen, die im Interesse der erstrebten Menschheitsveredlung anzustreben wären, noch auch von den Mitteln, mit deren Hilfe eine Annäherung an das Endziel zu erreichen wäre. So war es möglich, daß er, freilich im Gegensatz zu seinem großen Lehrer Kant, das Wesen der Französischen Revolution, deren Ehrenbürger er verdientermaßen war, verkannte und von den losgebundenen Volksmächten einen Rück237

fall in die Anarchie befürchten zu müssen glaubte. Schiller begriff nicht, daß sich das Volk in seinem dunklen Drange schließlich doch des rechten Weges wohl bewußt sei. Angesichts der unleugbaren Greuel einer blutigen Revolution, die durch die höfischroyalistische Geschichtsklitterung der Emigrantenlegende noch ins Tausendfache übertrieben wurden, verlor er zeitweilig allen sieghaften Glauben an die Zukunft des Menschengeschlechts. Daß er in der Glocke die Weiber schilderte, die „zu H y ä n e n " wurden, mochte noch hingehen, denn in der Sache ist alle W e l t mit ihm darüber einig, daß die Entfaltung überflüssiger Grausamkeit keine wünschenswerte, das Menschengeschlecht ehrende Erscheinung sei. Aber sich selber und sein ganzes Leben verleugnete er in jenen folgenden entsetzlichen Worten der Weltverneinung: Weh denen, die dem ewig Blinden Des Lichtes Himmelsfackel leih'n. Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden, Und äschert Städt' und Länder ein. Ein solcher Ausbruch der Verzweiflung an all dem, wofür er sonst gekämpft, war nicht möglich, wenn nicht ihr K e i m im Wesen des Mannes verborgen gewesen wäre. Dieser K e i m war tatsächlich vorhanden und bestand in einem fast ängstlichen Mißtrauen gegenüber der breiten Masse des Volkes. Man hat Schiller einen Aristokraten genannt; wenn damit gesagt sein soll, daß Schiller die Adelsherrschaft als richtiges politisches Prinzip anerkannt hatte, so heißt das allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen; richtig ist aber, daß Schiller dem Volke gegenüber ein gewisses schmerzliches Gefühl der Verachtung empfand, weil er an eine Verständigung zwischen dem zurückgebliebenen Haufen und der zu Wolkenhöhen vorgeschrittenen Philosophie nicht zu denken wagte. So fand er schließlich Trost in der Hoffnung, daß die Menschen in der S c h u l e d e r K u n s t reif werden würden für die großen Wahrheiten der Philosophie und die sittlichen Grundforderungen der Politik. So sehr er auch den berechtigten A b scheu vor den äußeren Erscheinungen eines Bürgerkrieges einseitig und leidenschaftlich übertrieb, so pflanzte er doch an den Gräbern der Französischen Revolution wieder die Hoffnung auf eine künftige Verbesserung auf. Auch diese Wiederaufrichtung war in seiner Persönlichkeit begründet ; denn so wenig Schiller nach seinen äußeren Schicksalen zu den glücklichen Menschen zu zählen ist, so blieb er doch stets 238

seiner optimistischen Grundauffassung treu. In dem Lied An die Freude strömt er sein ureigenstes Wesen aus: Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt. Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Weder mit der platten Weisheit eines ewig selbstzufriedenen Philistertums noch mit der Katzenjammerphilosophie des bankerottierenden, bürgerlichen Idealismus, noch auch mit der moralischen Anarchie eines sich aristokratisch gebärdenden Herrenmenschentums hat Schillers Weltauffassung etwas gemein. Nur weil sie niemals noch wahrhaft volkstümlich gewesen ist, ist es heute noch möglich, sie am hellichten Tage lobhudelnd zu verfälschen. Die Sozialdemokratie hat es niemals unternommen, die Richtigkeit ihrer politischen Auffassungen durch willkürlich aus den Werken berühmter Männer zusammengeraffte Zitatenhaufen zu erhärten. Sie ist sich zu klar dessen bewußt, daß die Wahrheit jederzeit ihr eigenes Kleid trägt und ihre eigene Sprache redet. Aber je deutlicher unsere Weltanschauung den klassischen Idealismus, dessen glänzendster Vertreter Schiller war, in seiner geschichtlichen Begrenztheit erkennt, mit desto gerechterem Stolze dürfen wir ihn als einen großen Lehrmeister der Menschheit erkennen, der so wenig unfehlbar war wie irgend ein anderer, aber uns doch auch Wahrheiten gegeben hat, die nicht verloren werden dürfen, ohne daß die menschliche Kultur sich selbst verliert. Ein Volk, das in liebevoller Verehrung in Schillers Welt und Wesen eindringt, beweist, daß das Urteil, das Schiller über die zeitgenössische Masse fällte, so richtig oder so falsch es gewesen sein mag, immer doch ein geschichtlich vergängliches gewesen ist. Damit zugleich verschwindet der dunkle Fleck aus dem leuchtenden Bilde, aus dem kommende Jahrhunderte von ferne aufdämmern. Z u r ü c k zu Schiller? Nein! V o r w ä r t s zu Schiller, vorwärts mit ihm!

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Rosa Luxemburg Gegen sozialdemokratische Juliane Unsere Parteipresse hat in verschiedenen Tonarten den Schöpfer Teils und Wallensteins gefeiert, und gewiß, jedes von den sozialdemokratischen Blättern Schiller gespendete Wort der Begeisterung und des Dankes, mag es hie und da auch etwas unbeholfen ausgefallen sein, war unvergleichlich aufrichtiger und ehrlicher gemeint als die prunkvollen, verstiegenen und gelahrten Hymnen, die sich die bürgerliche Presse geleistet hat. Allein, auch bei dieser Gelegenheit sollte es in unseren Blättern nicht an Leistungen fehlen, die von gutem Willen zeugen mögen, jedoch im Interesse Schillers wie des lesenden Arbeiterpublikums lieber hätten unterbleiben sollen. So ist uns z. B. ein SchillerArtikel aufgefallen, der seltsamerweise sogar durch einen beträchtlichen Teil der Parteipresse die Runde gemacht hat, der aber — um es rundheraus zu sagen — ein so konfuses Wortgebimmel von Anfang bis zu Ende darstellt, daß man geneigt wäre, seine Veröffentlichung einfach auf ein Versehen der Redaktion zurückzuführen, wenn dies „Versehen" leider nicht einer so großen Anzahl unserer Blätter passiert wäre. Jede sachliche und stilistische Kritik dieser merkwürdigen Leistung verbietet sich von selbst, und es bleibt nur übrig, einige Proben hier leibhaftig abzudrucken. Gleich der Anfang des Artikels ist eine Perle in jeder Hinsicht: „Heute vor hundert Jahren starb er, fünfundvierzig Jahre alt. Er hatte das Schicksal aller großen Wahrheiten — b i s h e r —, er starb zu früh. Alle menschliche Kultur- und Geistesgeschichte — b i s h e r — ist eine Geschichte vom vorzeitigen Sterben." Und nach diesem Generalbegräbnis der „großen Wahrheiten" geht es mit Grazie fort: „Die glänzenden Wahrheiten a n t i k e r W e i s h e i t waren längst veraltet, als das Volk des Mittelalters in starrer Unwissenheit dahinlebte, dem Bettler gleich, unter dessen elender Hütte ein köstlicher Kronschatz vergraben liegt; (!!) er aber weiß es nicht und siecht kümmerlich dahin; ein undurchdringlicher Bodensatz von Schmutz und Unflat trennt ihn von Glanz und Glück. Dann kamen zur Zeit der Reformation die H u m a n i s t e n , die den Kampf wider die Dunkelmänner aufnahmen und mühsam den 240

Schutt hinwegzuräumen begannen. Jetzt drang ein Strahl des aufgehenden Lichts auch in die Werkstatt des schaffenden Volkes, und Hans Sachs, der Schuhmacher, jubelte der rotbrüstigen Morgenröte entgegen. (!!) Vorbei! Der Dreißigjährige Krieg, die Gegenreformation, der ersterbende Monarchismus zertrümmern die Anfänge einer neuen menschlichen Kultur (!!), und wie im tiefsten Mittelalter decken dichte Schleier der Unwissenheit das weite Land. Seit dem Ende des furchtbarsten aller Kriege waren drei Menschengeschlechter gekommen und gegangen; das vierte aber, dem Friedrich Schiller entsproß, ward ein Geschlecht der Befreiei, das erste in einer Reihe, die noch nicht abgeschlossen ist und deren Glieder nach der Zukunft weisen. Aber auch hier noch wiederholt sich das ewige traurige Motiv der menschlichen Geschichte: der Frühtod der Wahrheit! (!!) Vor hundert Jahren starb Schiller; der ganze Geistesschatz eines Lebens wurzelt in einer Zeit, die uns fremd geworden ist — selbst seine Sprache ist nicht mehr ganz die unsere. Aber Friedrich Schillers Wahrheit ist in den fünfundvierzig Jahren seines Lebens und in den hundert Jahren seit seinem Tode keinen einzigen Tag das geistige Gemeineigentum der deutschen Nation gewesen: noch ehe sie sich zur Vollkraft entwickelte, alterte sie und schwand stückweise dahin. (!!) Freilich, ein leuchtender Stern blieb. (!!) Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Schillerfeier als eine ,Nationalfeier4 zu begehen vorgibt — ja, wer ist die deutsche Nation? Es ist eine heuchlerische gleißende Lüge, wenn man schlechtweg sagt, daß Friedrich Schiller der Dichter des Volkes sei. D a s d e u t s c h e V o l k h a t k e i n e n D i c h t e r ! (!!) Man kann keinen Dichter haben, wenn man, nachdem einem in der Volksschule der Kopf mit Religion und Patriotismus vollgetrichtert worden ist, mit rauher Hand in den Lebenskampf hineingestoßen wird, vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Maschine steht und kärgliche Arbeitspausen mit Schlaf und der Sorge um morgen ausfüllt! (!!) . . . " „Zunächst d a s E i n f a c h s t e : Schiller war ein Dichter, das heißt ein Mann, der aus Worten Kunstwerke schuf. (!) Der Genuß von Kunstwerken verschafft, ungeachtet ihres besonderen geistigen Inhalts, ein reineres, tieferes, echteres Glück, als der begreifen kann, der solches Glück nicht kennt. (!) In diesem Sinne (!) sind Schillers Werke dazu bestimmt, das geistige Gemeingut des ganzen Volkes zu sein, ohne Rücksicht auf Stand, Klasse und Parteiung. Soweit es sich um ihren abstrakten Schönheitswert (!) handelt, 18

Jona«, Schiller-Debatte

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steht ihnen der am nächsten, der die größte Genußfähigkeit besitzt, so wie nicht der die größte Freude an Homer hat, der an griechische Götter glaubt, sondern vielmehr jener, der die beste Kenntnis der griechischen Sprache mit der stärksten Vorstellungskraft verbindet. (!) Schiller hat Dramen und Gedichte geschrieben, die einfach s c h ö n sind (!), so daß die Freude an ihnen auch nicht beeinträchtigt werden kann, wenn man mit den Gedanken, die in ihnen ausgedrückt sind, etwa gar nicht einverstanden sein sollte. Schiller, so lautet die marktgängige literarische Phrase, hat ,uns' das deutsche Drama gegeben, er hat das deutsche Theater belebt, das sich ohne seine Werke heute nicht mehr denken ließe. Aber wem gehört das deutsche Theater? Etwa ,uns'? (!!) Und wenn Schillers Dramen zeitweilig stark von der Bühne verdrängt wurden, um plattem Alltagstand Platz zu machen — war es der Geschmack des deutschen .Volkes', der sie von da verdrängte? Allüberall, in den größeren Städten, in denen die breiten arbeitenden Massen auf irgendwelche Weise dazu kamen, einigen Einfluß auf den Spielplan der Schaubühne auszuüben, vollzog sich auch die Einsetzung Schillers in seine Rechte. Denn diese Massen empfanden die allbezwingende Macht des Gesanges (!!), fühlten die Schönheit der großen Dichtung. Mit allen großen Dichtern hat Schiller das gemein, daß er keine übertriebenen Ansprüche an die gelehrte Bildung seiner Hörer stellt. (!) Wenn früher gesagt worden ist, das deutsche Volk habe keine Dichter, so muß hinzugefügt werden: es k ö n n t e seine großen Dichter haben, ohne ein Volk von Professoren werden zu müssen. (!!) Es braucht dazu nur ein wenig Muße, ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig Zeit und ein wenig Geld. ( ! ! ) . . . " „Die große geistige Tat aber, die das 18. Jahrhundert vollbrachte, war die Entthronung der Gottheit und die Inthronisation des M e n s c h e n . (!!) Was immer man von der Wiedereinsetzung des Gottesbegriffes durch Kants Kritik der reinen Vernunft (!!) halten mag — soviel ist gewiß, daß dieser neugeschaffene Gott nichts mehr mit jenem der positiven Religion gemein hat. Die Kritik der reinen Vernunft hat zwischen alter und neuer Zeit in revolutionärer Weise jedes Bindeglied zerrissen. Gott hat nicht den Philosophen geschaffen, sondern der Philosoph Gott. Die Religion erschien kulturhistorisch als ein Hebel des menschlichen Fortschritts, aber sie hatte aufgehört, als die eine absolute Wahrheit zu gelten; die denkende Vernunft und die moralische Gesetzlichkeit waren die neuen Herren einer 242

neuen Welt. Solche Gedanken hat Schiller wohl nicht selbst gefunden (!!), aber in ewig klare Formen geprägt." (!!) „An die Stelle eines tyrannischen Pfaffengottes tritt der selbstgewollte Gott (!) des .ewigen Willens', an die Stelle einer abergläubischen Vorstellung eine philosophische Abstraktion, die dem menschlichen Fortschritt zu Wahrheit und Freiheit nicht mehr hemmend im Wege steht. Das Gesetz aber, das Schiller gegen die Schmähungen des , Sklavensinnes' verteidigt, ist nicht das kirchliche noch das staatliche, sondern das moralische Gesetz, das in der Brust des Menschen lebt. Gegenüber dem trügerischen M a t e r i a l i s m u s der Dogmenreligion (!!), die mit grob-sinnlichen Vorstellungen arbeitet, erhebt sich das revolutionäre System des I d e a l i s m u s , das die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt der Welt stellt. Das menschliche Denken erkennt die Begrenztheit seiner Erkenntnisfähigkeit . . ." Und so weiter und so weiter im gleichen Wahnwitz fortgefahren durch mehrere Spalten. Es wäre wahrhaftig ein zu billiges Vergnügen, einen schwachen und verfehlten Artikel aus einem sozialdemokratischen Provinzblatt herauszugreifen, um daran herumzumäkeln. Unsere Provinzredakteure sind gewiß geplagte Wesen, und ihre Arbeitsbedingungen sind beschwerlich genug, um eine übermäßige Strenge im Urteil und ein übertriebenes Maß von Anforderungen speziell an literarische Artikel zu stellen. Aber abgesehen davon, daß es sich bei der Schiller-Feier doch gewissermaßen um einen „Extrafall" handelte, bei dem auch eine Extraportion von Fleiß und Mühe seitens unserer Redakteure sehr wohl angebracht war, liegt das Empörende in der Leistung, von der wir hier ausreichende Proben gegeben haben, nicht in dem unzureichenden Inhalt, sondern in der so vielseitigen totalen Unwissenheit, die sich aber zugleich in prätentiösester Weise mit dem Schein der Bildung zu schmücken sucht. Dieses alberne Geschwätz über Homer, Kant, Materialismus, Idealismus, Feudalismus, Religionsphilosophie, Hans Sachs, Humanisten und Gott weiß was noch, dieses Umsichwerfen mit hohlen und verstiegenen Redensarten, von denen wohl auch die sieben Weisen von Griechenland mit vereinten Kräften nicht ein Sterbenswort verstehen würden, das ist viel schlimmer als einfaches geistiges Nichtkönnen, es ist — geistige Korruption. Und die Tatsache, daß gerade auf diesen klingenden Wortschwall so viele unserer Provinzredakteure her243

eingefallen sind, zeugt von einer ganz verfehlten geistigen Geschmacksrichtung ihrerseits. Man sollte meinen, daß im Lande, wo Lassalle an dem Literaturhistoriker Julian Schmidt seine unsterbliche Exekution ausgeführt hat, am allerwenigsten in den Reihen von Lassalles eigenen Jüngern das Julianische Unkraut aufschießen dürfte. Mag unsere Parteipresse den Arbeitern hie und da — wenn sie es nicht besser kann — nur eine m a g e r e Kost servieren. Aber e c h t und g e s u n d und u n v e r f ä l s c h t muß sie sein, darauf hat unsere Arbeiterschaft einen unbestreitbaren Anspruch ! Und gegen die ganze jetzt leider aufkommende Richtung in unseren Literatenkreisen, die zur äußerlich prätentiösen überladenen Ausschmückung einer schillernden Gedanken- und Wissensarmut neigt, muß im Interesse der geistigen Hebung der proletarischen Massen, die nur auf uns angewiesen sind, mit aller Entschiedenheit Front gemacht werden.

[Rosa Luxemburg] Sozialdemokratische Juliane Zu dem vielfach in den Parteiblättern abgedruckten SchillerArtikel, den wir unter obigem Titel in der Sächsischen ArbeiterZeitung vom 16. d. M. gekennzeichnet haben, werden wir vom Genossen Stampfer, der sich als der Verfasser meldet, darauf aufmerksam gemacht, daß sein von uns auszugsweise abgedruckter Artikel einige D r u c k f e h l e r enthielt. Es soll nämlich heißen statt: „Ein leuchtender S t e r n blieb" — „Ein leuchtender K e r n blieb", statt: „Der e r s t e r b e n d e Monarchismus" — „Der ers t a r k e n d e Monarchismus", statt :„ Kants Kritik der r e i n e n Vernunft" — „Kritik der p r a k t i s c h e n Vernunft". Wir heben hiermit gern die Druckfehler hervor, müssen aber zugleich unsere Verwunderung darüber ausdrücken, daß der Verfasser erst in unserem Abdruck und nicht in den zahlreichen Blättern, die eine Woche früher seinen Festartikel gebracht hatten, diese Druckfehler entdeckt und korrigiert hat. Übrigens scheinen uns, abgesehen von dem allerdings totalen und boshaften Druckfehler, der Kants „Kritik der reinen Vernunft" an Stelle der „praktischen"

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gesetzt hat, die hervorgehobenen Korrekturen nicht viel an der Sache z u ändern. Ob leuchtender Stern oder leuchtender K e r n , das ist für unseren Geschmack g e h ü p f t wie gesprungen — das gleiche W o r t g e b i m m e l . Schließlich erklärt Genosse Stampfer, d a ß er, „falls die Polemik gegen seinen Schillerartikel in der Sächs. Arb.-Ztg. weiter fortgesetzt werden sollte", „ m i t Vergnügen zur V e r f ü g u n g s t e h t " — „obgleich manches Wichtigere z u tun sei". Seinerseits habe er auf unsere K r i t i k „nur durch eine kurze Notiz, die er der Parteipresse zur beliebigen N i c h t V e r w e n d u n g übersandte", reagiert. W i r sehen nicht recht ein, weshalb Genosse S t a m p f e r eine Fortsetz u n g der K r i t i k seines Schiller-Artikels erwartet, wobei er gerade der Sächsischen Arbeiter-Zeitung auch die kurze Replik vorenthält, die er anderen B l ä t t e r n zur beliebigen NichtVerwendung geschickt hat. W i r unsererseits sind genügsamer und lassen es vorläufig ruhig bei der einen N o t i z bewenden, in der H o f f n u n g , daß unsere P r o v i n z b l ä t t e r für einige Zeit doch v o r dergleichenLeistungen gewarnt sind. So wird auch Genosse S t a m p f e r bei dem Wichtigeren, was er zu tun hat, nicht gestört werden. Mag er es nur k ü n f t i g so tun, daß von den A r t i k e l n , mit denen er unsere arme Provinzpresse speist, wenigstens ein, wenn auch nicht „leuchtender", so doch gesunder „ K e r n " bleibt!

Clara Zetkin Friedrich Schiller 1 A l s Schiller am 10. N o v e m b e r 1759 z u Marbach geboren wurde, z u c k t e durch die geistige A t m o s p h ä r e Frankreichs das erste W e t t e r l e u c h t e n des aufsteigenden weltgeschichtlichen Gewitters, 1 Diese Ausführungen sind der wesentliche Inhalt einer Rede, die 1905 zur Schillerfeier der Mannheimer Arbeiter gehalten wurde. Was seither an „Schillerliteratur" erschienen ist, hat uns nicht zu fachlichen Änderungen veranlassen können. Wir nehmen die Gelegenheit wahr, unseren Leserinnen dringend die Lektüre der vorzüglichen Studie von Franz Mehring zu empfehlen: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. Sie ist 1905 im Verlag der Leipziger Buchdruckerei erschienen.

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das die feudale Gesellschaft hinwegfegte. 1751 begann die Enzyklopädie der Diderot, d'Alembert, Holbach und Grimm zu erscheinen, jenes gewaltige wissenschaftliche Werk, das von einer materialistischen Naturbetrachtung ausgehend in einer naturrechtlichen Gesellschaftsphilosophie gipfelte und die französische Bourgeoisie als empordrängende, revolutionäre Klasse ankündigte. 1762 veröffentlichte Jean Jacques Rousseau seinen Gesellschaftsvertrag, der, aus dem gleichen Geiste geboren, die Geister wachrüttelte. Als am 9. Mai 1805 der Tod seine Fackel vor Schillers Genius senkte, flackerten über Europa die verlöschenden Gluten einer großen Revolution. Die Blitze einer aufziehenden Revolution sind es, die heute ihren glühenden Schein auf uns werfen. Damals Frankreich der erste Herd des Feuerbrandes, heute Rußland; damals die Bourgeoisie die Hüterin und Trägerin vorwärtstreibenden revolutionären Lebens, heute die Arbeiterklasse. Scharf beleuchten die zwei geschichtlichen Feuersäulen dieser Tatsachen, mit welcher Kraft und Schnelle die soziale Entwicklung in der kleinen Spanne Menschheitsgeschichte vorwärtsgeschritten ist, die anderthalb Jahrhundert darstellt. Getragen von der wirtschaftstechnischen Revolution, König Dampf voran, der gebändigte Blitz mehr und mehr als Genosse ihm zur Seite, hat der Kapitalismus in dieser Zeitspanne — um mit dem Kommunistischen Manifest zu reden — ganz andere Wunder vollbracht als den Bau ägyptischer Pyramiden, römischer Wasserleitungen und gotischer Kathedralen; hat er ganz andere Züge verursacht als die Völkerwanderung und Kreuzzüge. Er hat im Schöße der Gesellschaft die gewaltigsten, nie geahnten Produktivkräfte entfesselt; er hat Berge versetzt und Meere überspannt; er hat nationale Einheitsstaaten geschaffen und die Nationen durch die unüberbrückbare Kluft der Klassengegensätze zwischen Kapital und Arbeit auseinandergerissen; er hat uns auf dem Untergrund des in seinen tiefsten Tiefen revolutionierten Wirtschaftslebens eine Weltwende gebracht, an deren Ausgangspunkt das von der Bourgeoisie sich scheidende, kämpfende Proletariat, an deren Endpunkt die befreite Menschheit steht. Diesen geschichtlichen Wandel der Dinge und Menschen müssen wir im Auge behalten, wollen wir uns vergegenwärtigen, warum und inwieweit die deutschen Proletarier — abseits von dem schellenlauten Festesrummel der bürgerlichen Welt — von Schiller erklären können: „Er ist unser". Er lehrt uns im gewaltigen Lebenswerk des Dichters scheiden, was einer vergangenen Zeit, 246

einer absterbenden Klasse angehört, von dem, was mit fortwirkender Lebenskraft den gegenwärtigen Tagen, den aufstrebenden Massen zu eigen geblieben ist. Lasset die Toten ihre Toten begraben! Mag die Bourgeoisie in aufdringlichem, äußerem Kultus das historisch Sterbliche der Schillerschen Hinterlassenschaft feiern. Die Arbeiterklasse dagegen hebt an ihr Herz, umfaßt mit ihrem Geist dasjenige, was dem rauschenden Strome der Zeit als unsterblich widerstanden hat, was über Vergangenheit und Gegenwart hinweg der Zukunft gehört, ein köstliches Menschheitserbe. Und indem sie an Stelle blinder Verehrung und fälschender Umdeutung die geschichtlich forschende Kritik setzt, die durch Erkenntnis zur Würdigung, zur Liebe und Verehrung emporführt, ehrt und dankt sie am besten in seinem eigenen Sinn dem genialen Künstler, der ein leidenschaftlicher Sucher der Wahrheit, ein nie ermattender Kämpfer für Wahrheit gewesen ist, solange er ein bewußtes Leben lebte. Jedoch nicht das Gebundensein Schillers an seine Zeit, die historische Bedingtheit seines Lebenswerkes allein ist es, die uns das Eindringen in die Welt begreifen läßt, aus der er erwuchs, in der er lebte und webte. Es schärft auch unseren Blick für die überragende Größe seiner Persönlichkeit. Gewaltig hebt sie sich in dem, was sie ward und was sie schuf, von dem Hintergrunde eines geschichtlichen Milieus ab, das in seiner Jämmerlichkeit seinesgleichen sucht. Auf Schillers Jugend- und Mannesjahren lastete die ganze Misere der rückständigen, krüppelhaften Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Deutschland. Während in England und Frankreich der junge Kapitalismus kräftig die Glieder reckte und mit rasch erstarkender Faust in die sozialen Verhältnisse umgestaltend eingriff, während in beiden Ländern eine wirtschaftlich mächtige, kulturell hochstehende und emanzipierte Bourgeoisie sich bereits im Besitz der politischen Herrschaft befand oder diese im revolutionären Kampfe eroberte, während in beiden Ländern tausend ausgelöste Kräfte sich regten und neues Leben schufen: welch trostloses Bild der Stagnation in Deutschland! In wirtschaftlicher, politischer und geistiger Beziehung trug Deutschland schwer an dem furchtbaren Erbe des Dreißigjährigen Krieges. Schüchtern klopfte die neue Zeit in Gestalt einer noch schwach entwickelten Manufaktur ans Tor. Die mittelalterlichen Zunftschranken zogen im Bunde mit politischer Unfreiheit und Rückständigkeit schlimmster Art der Entfaltung des wirtschaftlichen 247

und sozialen Lebens die engsten Grenzen. Die Kleinstaaterei trieb die Übel auf die Spitze. Ihre Despoten und Despötchen suchten ihren Ruhm in Militärspielerei, Hetzjagden und ein- wie vielschläfriger Mätressenwirtschaft, im Kriege untereinander und in schmachvollen Bündnissen mit dem Ausland. Wenn die skrupelloseste Steuererpressung, der schamloseste Amtsschacher nicht mehr ausreichten, die Kassen zu füllen, so mußte die Verschacherung der Söhne des Landes in fremde Kriegsdienste herhalten. Soweit es an den Höfen geistige Kultur gab, war sie eine Karikatur, ein Abklatsch französischen Wesens. Die Stände, die den herrschenden Feudalmächten Untertan, zins- und tributpflichtig waren, trugen eine unbeschreibliche Last materiellen und kulturellen Elends. Es mangelten Deutschland die großen Städte, die wie London und Paris infolge einer Konzentration des Reichtums und der intellektuellen Kräfte zu Mittelpunkten des politischen und geistigen Lebens der Nation, zu vorwärtstreibenden, ausschlaggebenden Faktoren im Ringen für eine neue Zeit werden konnten. Kein kraftvolles, seiner Bedeutung bewußtes, revolutionäres Bürgertum stand auf der Schanze, um die Macht des Absolutismus und des Feudaladels zu brechen und mit der Eroberung der politischen Macht neuem geschichtlichem Leben eine Gasse zu bahnen. Der brandende Wellenschlag der großen Revolution in Frankreich, deren Sturmvögel die Enzyklopädisten gewesen, ebnete sich in Deutschland zu einem sanften Kräuseln. Die deutsche Bourgeoisie schlug am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Schlachten ihrer Emanzipation nicht auf dem Blachfelde des politischen Kampfes, sondern in den Gefilden der Kunst, der Literatur. Ihre revolutionäre Ära wurde eingeleitet durch die literarischen Stürmer und Dränger - die Klinger, Wagner, Leisewitz usw. —, sie erreichte in den Räubern und in Kabale und Liebe ihren Höhepunkt, und sie endete triumphierend mit der klassischen Literatur. Schillers Leben und Leisten war in den Rahmen dieser Verhältnisse gebannt. An sie gefesselt zu sein, war sein geschichtliches Verhängnis; gegen sie angekämpft, an ihnen gerüttelt zu haben, bleibt sein unvergänglicher Ruhm. Es genügt, den Namen seines „Landesvaters" zu nennen, um die Fülle des politischen Jammers zu charakterisieren, die auf Schillers Entwicklung in der Jugend lastete. Karl Eugen, der brutal-läppische Kriegsherr, der verschwenderische Wüstling, der seine Landeskinder als Söldner an Österreich und Frankreich, an die Niederländische-Ostindische 248

Kompanie nach dem Kapland verhandelte, der einer Laune seiner Mätresse zuliebe die Kraft des Dichters Schubart in dem Verlies des Hohenasperg brach; der gewissenlose, kleinliche Tyrann, der durch Greuel aller Art Volk und Land verwüstete. Schiller war nicht bloß der Untertan dieses beschränkten Unholdes, sondern obendrein gegen Neigung und Willen Zögling der berüchtigten Karlsschule — des Herzogs Schöpfung und Werkzeug —, die Schubart erschöpfend als „Sklavenplantage" gebrandmarkt hat. Zusammen mit der „Not der Tyrannei" im öffentlichen Leben erfuhr er im reichsten Maße die „Tyrannei der Not". Jeder Ausschnitt aus seinem Leben läßt das erkennen. Da ist Schiller, der kärglich besoldete Medikus eines verachteten Infanterieregiments, der zu einem ungeliebten Beruf gezwungen, mit Schulden belastet — die ihm in der Hauptsache durch den Druck der Räuber erwachsen sind —, aus dem Vaterland flüchtet, dessen Souverän ihn anherrscht: „Ich sage Ihm, bei Kassation, schreib Er keine Komödien mehr!" Schiller, der Heimatlose, der „Vogel auf dem Dache", der von des treuen Streicher und der gütigen Frau v. Wolzogen Freundschaft gehalten, von künstlerischem Schöpfungsdrang verzehrt, von Sorgen gepeinigt, um die Gunst des schwankenden Mannheimer Theaterintendanten v. Dalberg wirbt, der mehr Höfling als Kunstverständiger ist. Nur eine kurze Idylle zwischen den rauhen Lebensstürmen. Der Aufenthalt bei dem freigesinnten, hochgebildeten Konsistorialrat Körner, von dem Schiller mehr und Wertvolleres empfing als ein trauliches Asyl, erst in Leipzig, dann in Dresden: eine reiche Fülle fruchtbarer Anregung zum Studium, zur Vertiefung der Persönlichkeit und der von ihr erfaßten Probleme; in Augenblicken des schwersten Ringens und Zweifeins die Neubelebung des Glaubens an seine künstlerische Mission. Neben Goethe hat kaum jemand Schillers Entwicklung so nachhaltig beeinflußt wie Körner, der Vater des Sängers der Befreiungskriege gegen Napoleon. Aber ein Schiller konnte die Existenz als Geschenk auf die Dauer auch nicht aus der Hand treuester, zartfühlender Freundschaft ertragen. Aus eigener Kraft sie sich zu gründen, trieb ihn sein Selbstgefühl, sein Unabhängigkeitssinn. Und so finden wir ihn bald als Professor der Geschichte in Jena, erst ohne Besoldung, dann aus „fürstlicher Gnade" mit einem Hungergehalt von 200 Talern bedacht, das später auf 400 und nicht allzulange vor seinem Tode auf 800 Taler erhöht wurde. Als schweres körperliches Leiden den Dichter heimsuchte — die Glut künstlerischen 249

Schöpfungstriebs, das leidenschaftliche Bemühen, die Lücken der Jugendbildung auszufüllen, und die Plagen des Alltagskampfes zerrütteten seinen ohnehin schwächlichen Organismus —, wäre Pflege und Schonung unmöglich gewesen ohne die materielle Hilfe zweier begeisterter Verehrer: des Erbprinzen von Augustenburg und des dänischen Grafen Schimmelmann. Schließlich ein Armeleute-Begräbnis ohne alle Feierlichkeit. Wie sie lügen, die bürgerlichen Geschichtsklitterer, die Karl August von Weimar als einsichtsvollen, großzügigen Beschützer und Förderer der Kunst preisen! Ihn, der leere französische Dramen Schillers und Goethes Meisterwerken vorzog, ihn, unter dessen Regiment noch 1800 den weimarischen Hofschauspielern eine Aufführung der Räuber in Lauchstädt verboten wurde! Schiller kannte diesen „fürstlichen Freund der Musen", und an der Wende des Jahrhunderts erfiob er die bittere Anklage: Kein Augustisch Alter blühte, Keines Medizäers Güte Lächelte der deutschen Kunst; Sie ward nicht gepflegt vom Ruhme, Sie entfaltete die Blume Nicht am Strahl der Fürstengunst. Von des größten Deutschen Sohne, Von des großen Friedrichs Throne Ging sie schutzlos, ungeehrt. Schiller hat nicht, Goethe gleich, für seine Kunst leben können, er hat unter äußeren und inneren Nöten hart um sie kämpfen müssen. Nur selten trat die Muse zu ihm, eine holde Schäferin, die mit lächelnder Anmut zu lieblichem Spiel auf blumigen Auen, in goldig webenden Wäldern, an schimmernden Fluten lockte. Eine ernste Göttin, eherne Sandalen an den Füßen, für den Kampf gerüstet, zum Kampfe rufend, schritt sie ihm zur Seite. Oder die Falten des Gewandes schwer von Gedankenlast, trat sie zu ihm, mit zwingender Gebärde nach fernglitzernden Sternen, nach neuen Horizonten weisend. Denn in Schillers Eigenart paarte sich der Kämpfer mit dem Denker, der Tatverlangende mit dem spekulativen Grübler. Beide Seiten seines Wesens verschmolzen in dem faustischen Drange, in dem Zeitlichen das Ewige, in der bunten Vielheit der Erscheinungen das einheitliche Gesetz zu ergründen, das Leben in seinem weitesten Umfang, in seinem tiefsten Sinne zu fassen und es nach den höchsten Idealen zu gestalten. Eines seiner besten philoso250

phischen Gedichte, Die Ideale, enthält das charakteristische Selbstbekenntnis: Es dehnte mit allmächt'gem Streben Die enge Brust ein kreißend All, Hinauszutreten in das Leben, In T a t und Wort, in Bild und Schall. Seine Eigenart kündigt sich früh in dem kindlichen Traum, Geistlicher zu werden. Er will das Leben veredeln, indem er die Seelen dafür zurechthämmert. Im letzten Grunde ist Schiller die Kunst nie Selbstzweck gewesen, vielmehr Mittel zum Zweck, die Menschen vorwärts und aufwärts zu führen. Eine innere Entwicklungslinie führt geradewegs von seiner Auffassung der Bühne als einer „moralischen Anstalt" zu seiner ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts. Im höchsten und vollendeten Sinne war Schiller ein Künstler der Tendenz. Eine bestimmte Tendenz hat von innen heraus mit überzeugender Wucht und künstlerisch reifen Mitteln gerade die charakteristischsten seiner Schöpfungen gestaltet. Ein Kampfesschrei tönt aus den zwei besten seiner Jugendwerke, aus den Räubern und Kabale und Liebe. Beide bringen auf der Bühne ein Stück sozialer Welt zur Darstellung, gesehen durch ein Temperament, aber nicht durch das Temperament eines kühlen Beobachters, sondern das eines trotzigkühnen Rebellen, eines leidenschaftlichen Kämpfers. In den Räubern rechnet die kraftstrotzende, auf die höchsten Ziele gerichtete Individualität mit der sozialen Ordnung jener Tage ab. Sie sind des Dichters persönliche Auseinandersetzung mit dem Ideal und dem Leben in seiner furchtbaren Realität, mit dem Leben, wie es in der „Sklavenplantage" auf ihm gewuchtet hatte, wie er es aus dem Schrei der Plage von Tausenden Zertretener erlauschte, wie es ihn tagtäglich aus Bildern der Tyrannei, der Korruption, der Vernichtung angrinste. Karl und Franz Moor, die beiden Träger dieser individuellen Abrechnung,^ schließen sich zu einer inneren Einheit zusammen, sind die Verkörperung von zwei Seelen in des Dichters Brust. Franz, das Geschöpf des Zweifels an der Rechtmäßigkeit alles dessen, was ist; aber des unfruchtbaren Zweifels, aus dem der skrupelloseste Zynismus erwächst, der alles unter seine Füße stampft, um zu genießen. Karl, die Fleisch und Blut gewordene Sehnsucht zur Tat, die lügnerischen Tafeln einer hohlen Rechtmäßigkeit zu zerschmettern, die gefälschten Werte umzuwerten, zu zerstören, um neu und schön aufzubauen. Sein „Geist dürstet nach Taten", sein „Atem nach Freiheit". Was der 251

Arzt nicht heilen kann, das soll das Schwert heilen; was das Schwert nicht heilen kann, soll das Feuer heilen. K a r l und Franz sind künstlerische Schwurzeugen iür die Erkenntnis: „Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet." Die Räuber sind in künstlerischer Form der gewaltigste Schrei individueller A u f lehnung der Freiheitsdurstigen, der seit Äschylos' Prometheus Menschenherzen aufgewühlt hat. In einem Milieu ärgster T y rannei, in ungebändigtem Haß gegen die Tyrannen entstanden, sind sie selbst ein lebensheißer Zeuge jenes unsterblichen prometheusischen Aufbäumens geknechteten Menschentums, das den Vernichtung drohenden Gott mit der Erklärung höhnt: „ D u kannst mich doch nicht töten." In Kabale und Liebe setzt sich nicht bloß die himmelstürmende Einzelpersönlichkeit, sondern eine ganze Klasse mit der sozialen Ordnung der Zeit auseinander. Dieses bedeutendste aller bürgerlichen Trauerspiele unserer Literatur vollendet, was Lessing in seiner Emilia Galotti begonnen hatte: die Abrechnung des deutschen Bürgertums mit dem Regime des feudalen Gottesgnadentums. Und dies vom Dichter bewußt gewollt. Schiller wies die Ratschläge, der Aufführungsmöglichkeit halber das Trauerspiel in ein anderes Land zu verlegen, mit der stolzen Antwort a b : „Guastalla liegt in Deutschland." In den einzelnen Persönlichkeiten des Trauerspiels prallen zwei Welten aufeinander: Die Welt der bürgerlichen Untertanen und die Welt der unbeschränkten Fürstengewalt. Der eigentliche Held des Dramas ist das Bürgertum, ein Held, der nur anzuklagen, jedoch nicht zu kämpfen und den Feind zu vernichten versteht, ein Schwächling, „der im Leben untersinkt". Wie das Milieu, so ist der Held treu nach der historischen Wahrheit gezeichnet. Auch Fiesco, den Schiller zwischen den Räubern und Kabale und Liebe schuf, steht im Dienst der Tendenz, die Zeitgenossen aus der Knechtschaft zur Freiheit zu rufen. E r sollte durch das Beispiel republikanischer Tugend Freiheitskämpfer werben. Jedoch wie die künstlerische Gestaltungskraft versagt dabei auch die soziale Wirkung. Die Träger republikanischer Tugend haben nicht vom Herzblut des Dichters und nicht v o m sprudelnden Quell des Lebens um ihn getrunken, sie sind auch nicht auf dem Boden einer klaren, gemeisterten Einsicht in die Bedingungen politischen Wesens und Kampfes entstanden. Und sie schritten hinaus in eine Gesellschaft, in der sich die Knechtseligkeit, das Ducken und Bücken spreizte und republikanische Charaktergröße — von 252

Ausnahmen abgesehen — nur als Reminiszenz aus dem Altertum bekannt war. Für die Erneuerung der Menschen und Verhältnisse kämpft Schiller auch in seinem Don Carlos. Auf dem furchtbaren geschichtlichen Hintergrunde, der durch die Inquisition und ihre Greuel blutig gezeichnet ist, zieht er die brutale, Leiber und Geister mordende väterliche, kirchliche und staatliche Autorität vor Gericht. Aber freilich: der Hauptheld des Dramas ist ein ästhetischer Schemen geblieben, weil er politisch nicht über den Schönredner hinaus kam. Nicht ein politischer Kämpfer, dem aus der Klarheit des Erkennens die K r a f t zielsicheren Wollens reift, ist der Träger des Fortschritts- und Freiheitsgedankens. Es ist ein politisierender Schwärmer, der T y p u s des Freimaurers und Illuminatenritters jener Tage, der sich an der glänzenden L u f t spiegelung schöner Abstraktionen, am K l a n g tönender Worte berauscht. „Bürgerglück und Fürstengröße" sieht er vereinigt gehen, und was die politische, revolutionär gebrauchte Macht wirken könnte und wirken müßte, das erhofft er von der sanften Überredung eines fürstlichen Gewaltmenschen und dem Walten eines liberal träumenden Kronprinzen. Marquis Posa ist der Protot y p des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland, der 1848 im Frankfurter Parlament die deutsche Freiheit zu Tode gehofft und geschwätzt und der seither völlig vor Junkertum und Scheinkonstitutionalismus abgedankt hat. Aber vergessen wir nicht über der Verachtung des bürgerlichen Liberalismus, welche die geschichtliche Entwicklung dem deutschen Proletariat aufgezwungen hat, den überquellenden Reichtum an herrlichen Gedanken und Freiheitstönen, mit dem Schiller seinen Helden ausstattete. Unterschätzen wir Posa nicht, indem wir ihn mit dem heutigen jämmerlichen Liberalismus identifizieren, der klaftertief unter dem Träumer aus der Jugendzeit steht. Noch in den Stürmen der vierziger Jahre ließ der bürgerliche Liberalismus einen Johann Jacoby erstehen, der einem preußischen Selbstherrscher das Wort entgegenschleuderte: „Das ist eben das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen." Kein führender bürgerlicher Liberaler würde heute einem preußischen König mit Posa zuzurufen wagen: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit." Die Wallenstein-Trilogie ist die gedankenreichste, künstlerisch vollendetste dramatische Schöpfung Schillers, die in ihrer reifen Meisterschaft Goethes Einfluß verrät. In ihr hat der Dichter den ästhetisch und historisch gleichbedeutenden T y p u s eines ziel253

und wegbewußten politischen Kämpfers großen Stils geschaffen. Wallenstein hat sich ein gewaltiges Ziel gesteckt, für das er große Kräfte einsetzt und das er mit großen Mitteln zu erreichen strebt. Was Kleines und Kleinliches im Kampfe unvermeidlich wird, das läßt er mit stolzer Gebärde die Sache seiner Werkzeuge sein. Die Helden der frühen Dramen hatten — um mit Schiller selbst zu reden - „die Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen herausgesponnen". Wallenstein dagegen spinnt sie aus dem Kopfe. Sein Wille zur Macht ist die vollsaftige Frucht einer klaren, tiefgehenden Erkenntnis. Tragischer als sein Untergang selbst wirkt, daß er, die Verkörperung des konzentrierten Selbstwillens, dem subalternen Gehorsam von Dienern eines fremden Willens unterliegt. Er, der Große und Überragende, wird von dem Kleinen und Alltäglichen gefällt. Der Gestalt des Helden ebenbürtig sind die Charakterköpfe um ihn, ist das geschichtliche Milieu gezeichnet. Ohne jede altertümelnde Kleinlichkeitskrämerei fügt sich alles zum lebensprühenden, farbensatten Weltbild aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zusammen. In seiner Wallenstein-Trilogie hat Schiller die herrliche Ernte seiner ausgedehnten geschichtlichen Studien gegeben, ist er über seine geschichtlichen Abhandlungen weit emporgewachsen und zum großen Historiker geworden. An dramatischem Wurf und künstlerischer Gestaltungskraft, an Gedankentiefe und edlem Schwung der Sprache den besten Shakespeareschen Königsdramen ebenbürtig, an historischem Sinn ihnen überlegen, ist die Trilogie ein einzig dastehendes Monument der Weltliteratur. Schillers dramatische Schöpfungen, von dem unvollendeten Demetrius abgesehen, klangen in einer begeisterten Verherrlichung des Kampfes für die Freiheit aus: im Wilhelm Teil. Und das ist der große Fortschritt geschichtlichen Erkennens, der zwischen ihm und den Räubern liegt: nicht mehr die mächtige Einzelpersönlichkeit ist der Held des Dramas, sondern das Volk, das seiner Knechtschaft müde „ein einig Volk von Brüdern" im Kampfe gegen die Tyrannei zusammensteht. Es bekundet ein feines historisches Empfinden, daß nicht Teils Verzweiflungstat die Freiheit von den Bergen niedersteigen läßt, sondern die vereinbarte Aktion der Gesamtheit. Teils Schuß ist nichts anderes als eines jener symptomatischen Signalfeuer, welche als unabwendbare und sich rechtfertigende Begleiterscheinungen drückender Tyrannei melden, daß diese das Maß des menschlich Erträglichen längst überschritten hat. Unser historisch geschulter, kritisch wägender Verstand mag und muß 254

feststellen, daß die Idylle eines Freiheitsringens, das keine Klassengegensätze kennt, das an den Ausbeutungsverhältnissen nichts ändert, in dem Junker und Knecht sich brüderlich umarmen, ein geschichtliches Unikum ist; daß Teil bei Lichte betrachtet die Züge eines anarchistischen Kleinbürgers trägt. Dem Herzen aller Unterdrückten, aller Freiheitssehnsüchtigen wird trotz allem das Drama unendlich teuer bleiben. Solange der Schmerzens- und Empörungsschrei von Unterjochten und Enterbten an das Himmelsgewölbe schlägt, solange der „Menschheit Odem nach Befreiung lechzt", solange werden wieder und wieder die stolzen Freiheitsgedanken und die leidenschaftlichen Freiheitstöne dieses Werkes den Mut, die Tatkraft, die Begeisterung der Kämpfenden befeuern. In Wilhelm Teil hat Schiller mit hinreißendem Pathos den künstlerisch-moralischen Adelsbrief für die revolutionäre Notwehr des einzelnen, für den revolutionären Kampf der Unterjochten geschrieben: Nein, eine Grenze hat Tyrannenfnacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last — greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveränderlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst — Der alte Urständ der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht — Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben — Die revolutionären Sänger des deutschen Bürgertums der vierziger Jahre - die Freiligrath, Herwegh usw. - haben vom Feuergeist dieses Pathos getrunken. Es ist unmöglich, heute an dieser Stelle auch nur flüchtig die B a l l a d e n zu würdigen, die mit den Dramen zusammen Schillers Volkstümlichkeit begründet haben. Es sei nur betont, daß auch in ihnen die Tendenz stark hervortritt, durch die künstlerische Veranschaulichung der siegreichen Macht einer Idee zu wirken, zu erziehen. Künstlerisch am höchsten stehen wohl Die Kraniche des Ibykus. Wundervoll ist der melodische Fluß dieser Verse, der lebendige, ungekünstelte Rhythmus, die plastische Kraft der Bilder, die mit den einfachsten Worten gestaltet werden. Solange Waldesrauschen Sinn und Geist mit geheimnisvollen Schauern erfüllt, Musik die Seelen in ihren Tiefen erschüttert, wird uns der Zauber dieser Ballade in seinen Bann ziehen. 255

Am schärfsten ausgeprägt erscheint Schillers dualistische Weltanschauung in seinen p h i l o s o p h i s c h e n G e d i c h t e n . Harmonisch stimmt die künstlerisch edle Form und der reiche, tiefe Gedankeninhalt zusammen. Diese philosophische Lyrik hat nicht ihresgleichen. In ihr ist die Kunst, „das Morgentor des Schönen", durch das man in „der Erkenntnis Land" dringt. Konzentrierter noch als in den Dramen, weil in engerem Rahmen zusammengefaßt; tritt uns in diesen Gedichten Schillers Wesenheit entgegen. Sie sind die Bekenntnisse seines Glaubens, unsterbliche Dokumente seines verzehrenden Ringens nach der Wahrheit, die befreit. Deutlich spiegeln sie die Entwicklung wider, die hinüberleitet von dem heißen Bedürfnis des Karlsschülers, die Mittelkraft zu finden zwischen Sinnen- und Geisteswelt, zwischen dem Sollen und Können, zu der Weltanschauung des reifen Mannes. Ihr zentraler Punkt war die Überzeugung, daß der Kunst die historische Mission zufalle, der Menschheit die Wahrheit zu enthüllen und sie zur Freiheit zu führen. An dem Ausgang dieser Entwicklung steht der kirchlich fromme Bibelglaube, der noch in den Räubern und in Kabale und Liebe die Vision des jüngsten Gerichts aufsteigen ließ. Sie ist von den stark wirkenden Einflüssen Rousseauscher Gedankengänge befruchtet worden. Der Tod brach sie frühzeitig ab, nachdem sich der Dichter, von Körner angeregt, in die Kantsche Philosophie vertieft hatte. Die Kantsche Ethik verwarf Schiller entschieden als eine modernisierte Form des Bibelglaubens, die das kirchliche Dogma schützt. Dagegen fand er in Kants Ästhetik die „Mittelkraft", nach welcher er in seinen Jugendabhandlungen gesucht hatte. Kant hatte in seiner Ästhetik der Kunst die Kraft zugesprochen, den Zwiespalt zwischen Sinnenwelt und Sittengesetz zu lösen. Das Reich der Kunst stellte er als verbindendes Glied zwischen die Welt der Erscheinungen, in welcher der Mensch den Gesetzen Untertan ist, und die Welt der Ideen, wo der Wille des Menschen herrscht; zwischen das Reich der Natur, das Reich dessen, was ist, und das Reich der Freiheit, das Reich dessen, was sein soll. Aber so stark war in Schiller neben dem suchenden Philosophen der nach der Praxis des Lebens verlangende Kämpfer, daß er die Kantschen Gedankengänge aus dem Reiche der abstrakten Spekulation auf das der konkreten Gesellschaftsverhältnisse übertrug. Kants Reich der Natur wurde für ihn zum Naturstaat, wie er den absolutistischen Feudalstaat bezeichnete, das Reich der 256

Willensfreiheit, zum bürgerlichen Vernunftstaat, zum „ B a u einer wahren persönlichen Freiheit", wie Schiller selbst sich ausdrückte. Die Kunst aber, die ästhetische Erziehung sollte die Menschheit aus den dumpfigen Niederungen der Knechtschaft in die lichten, sonnigen Höhen der Freiheit emporführen. A b e r die Auffassung, daß die Schönheit zur Freiheit führen müsse, daß die ästhetische Kultur und nicht der politische Kampf der Klassen der Hebel der Menschheitsbefreiung sei, mußte in eine unfruchtbare philosophisch-ästhetische Gedankenspielerei ausmünden. Ihr Ergebnis war eine blendende Ideologie. Das Mittel wurde zum Zwecke. Der politische Freiheitsstaat dankte an den ästhetischen Staat ab als Endziel. Der ästhetische Staat aber ist die W e l t des schönen Scheins, wo das Ideal der Freiheit und Gleichheit für jede „feingestimmte Seele" erfüllt ist, wo ein „liebliches Blendwerk der Freiheit" über die Knechtschaft in der wirklichen Welt hinwegtäuscht. Die philosophischen Abhandlungen Schillers, insbesondere seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts spinnen und weben die gleichen Gedankenfäden. Mit diesem philosophisch-ästhetischen Idealismus klingt für mich Schillers Entwicklung in ergreifender Tragik aus. Der Kämpfer, der stets die T a t vor das Wort gestellt hatte, der dem Sein sein Recht vor dem Scheine eriingen wollte, erklärt: „mein Reich ist nicht von dieser W e l t " , „an dem Scheine mag der Blick sich weiden". Er, der die Menschen zur Freiheit zu führen begehrt, mahnt sie: Werft die Angst des Irdischen von euch! Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben In der Ideale Reich. Der Philosoph, der als „vollkommenstes aller Kunstwerke den B a u einer wahren politischen Freiheit erkannt hatte, bescheidet sich mit dem Kartenhaus des ästhetischen Staats. Der Weltbürger, der „feuertrunken" jubelt: „Seid umschlungen, Millionen", begnügt sich mit der Erkenntnis, daß nur eine kleine Minderheit auserlesener Seelen die Möglichkeit finden könne, in der Welt des schönen Scheins zur Freiheit zu genesen! Dieser tragische Ausgang berührt um so befremdender, wenn man der weltgeschichtlichen Ereignisse gedenkt, in deren Schatten er stand. In Frankreich war die große Revolution am Werk, den barbarischen Naturstaat der Feudalordnung in den bürgerlichen Vernunftstaat des kapitalistischen Regimes umzuschmieden. 19

Jonas, Schiller-Debatte

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Aber was Schiller als Historiker in der Perspektive der Zeiten wahrscheinlich richtig gewürdigt hätte, das vermochte er als Miterlebender, als Zeitgenosse nicht historisch zu beurteilen. Die rückständige Entwicklung Deutschlands, die keine reife, kämpfende Bourgeoisie aufkommen ließ, versperrte ihm den Weg zum Verständnis der Klassengegensätze und Klassenkämpfe undihrer geschichtlichen Rolle. Und so begeistert Schiller den Idealen anhing, mit denen die französische Bourgeoisie ihren Kampf um die Macht schmückte, so entsetzt wendete er sich von den Erscheinungsformen des Kampfes, unter denen sich der bürgerliche Vernunftstaat der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durchsetzte. Er konnte nicht begreifen, daß die Revolution in furchtbarer Herrlichkeit einherschritt, den Mantel blutbefleckt, das Schwert mehr als die Kelle führend, daß sie nicht kam im weißen Feiertagsgewand, den Palmenzweig des Friedens in den Händen. Über den schwelenden Rauch des revolutionären Brandes vergaß er dessen läuternde, lodernde Flamme; er sah nur das Blut, das den Boden düngte, aber nicht seine schöpferische Kraft in der jungen Saat, die lebensstark emporsproßte. Von den oberen Klassen erwartete Schiller keine gesellschaftliche Erneuerung, denn sie zeigten Schlaffheit und Verkommenheit des Charakters, Laster, die ihn um so mehr abstießen, da er mit Rousseau die Kultur als ihre Quelle betrachtete. In den „niederen und zahlreicheren" Klassen wieder sah er „rohe und gesetzlose Triebe" „sinnlos walten". So kam es, daß Schiller, der mit tausend Masten heißen Freiheitssehnens in den Ozean geschifft war, dem weltbürgerlichen „Vernunftstaat" entgegen, still auf dem geretteten Kahn des philosophisch-ästhetischen Idealismus in den engen Hafen des ästhetischen Staats trieb. So kam es, daß der unsterbliche Sänger kraftvollen Rebellentums und revolutionärer Notwehr in der Glocke und anderwärts die Französische Revolution kleinlich schmähte, in der es doch um den „großen Rechtshandel" ging, an dem er alle beteiligt wissen wollte, die sich Menschen nannten. Die Resignation seines philosophischen Idealismus hat sicher Schiller, dem glutvollen Stürmer und Dränger, viele bittere Stunden gebracht. Aus manchen seiner Verse ist herauszulesen, daß in seiner Seele des „Zweifels finstre Wetter" mit dem „Sonnenbild" der errungenen Weltanschauung stritten. Jedoch Schiller war ein kranker und bald ein sterbender Mann. Die Zweifel konnten nicht mehr zu neuen, zu fruchtbaren Erkenntnissen 258

reifen. Es zeugt für Schillers Charaktergröße, daß ihm aus Resignation und Zweifel nicht müde Verzweiflung erwuchs, daß er nicht, den Romantikern gleich, zum Narkotikum des religiösen Mystizismus flüchtete. Er hat sich mutig mit der Tragik seines inneren Geschickes abgefunden. In rastloser Arbeit erschloß er sich die Quellen neuer Lebensstärke, die Kräfte zu weiterem Lebenswerk. In dem wundervollen Gedicht Die Ideale tönt die Klage über den Zusammenbruch der Jugendträume in der erhebenden Verherrlichung der sittlich tragenden Kraft der Arbeit aus, einer Beschäftigung, die nie ermattet, Die langsam schafft, doch nie zerstört, Die zu dem Bau der Ewigkeiten Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, Doch von der großen Schuld der Zeiten, Minuten, Tage, Jahre streicht. Schiller hat die Arbeit nicht bloß als die beglückende, aus innerem Schöpfungsdrang geborene freie Arbeit kennengelernt. Er hat alle Bitternis der unfreien und unfrohen Notarbeit erfahren, die nach Brot gehen muß. Seine Seelengröße hat über das „Niedrige des Zustandes" triumphiert. An ihm selbst hat sich glänzend bewährt, was er in einem ästhetischen Briefe sagt: „Sklaverei ist niedrig, aber eine sklavische Gesinnung in der Freiheit ist verächtlich; eine sklavische Beschäftigung hingegen ohne eine solche Gesinnung ist es nicht, vielmehr kann das Niedrige des Zustandes, mit Hoheit der Gesinnung verbunden, ins Erhabene übergehen." Schillers Schicksal, „hungernd mit dem Hirn pflügen" zu müssen, ist das typische Los aller großen deutschen Künstler gewesen, die der Zufall der Geburt nicht mit Reichtümern gesegnet hatte und denen die Kunst „die hohe, die himmlische Göttin" war, nicht aber „die tüchtige Kuh, die mit Butter versorgt". Albrecht Dürer, Sebastian Bach, Lessing, Beethoven, Hölderlin, Feuerbach, Böcklin, Richard Wagner und der einzige Komponist unserer Zeit, der ebenbürtig neben ihm steht, Hugo Wolf, um nur diese zu nennen. Ihnen allen hat der Hunger ihre Kunst streitig gemacht, sie alle haben um des Lebens äußere Notdurft fronen müssen, statt vom schöpferischen Reichtum ihres inneren Lebens spenden zu können, es sei denn, daß verständnisvolle Freundschaft bot, was der Flügelschlag des Genius nicht brachte. 19*

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Jedoch nur einer von ihnen allen hat die sozialen Zusammenhänge erkannt, welche die Kunst zur brotheischenden und dienenden Magd erniedrigen: Richard Wagner. Ihm war klar, daß die Kunst die soziale Unfreiheit nicht aufzuheben vermag, vielmehr selbst ihrem giftigen, mörderischen Bann unterliegt. Als Künstler rang er sich daher zu einer Auffassung durch, die dem Schillerschen Idealismus diametral entgegensteht. In seiner hochbedeutenden Abhandlung Die Kunst und die Revolution bekennt er sich unumwunden zum Evangelium der Revolution. Das Ziel des geschichtlichen Werdeganges ist ihm der starke Mensch, der schöne Mensch. Aber erst nachdem die Revolution dem Menschen die Stärke gegeben, vermag ihn die Kunst mit Schönheit zu begnaden. Nur eine Revolution, welche alle sozialen Unterschiede aufhebt und alle Menschen zu Freien und Glücklichen macht, schafft die Vorbedingungen für eine großzügige, freie Nationalkunst, die nicht nach Brot geht, die nicht „kriechende Lohnkunst" ist, um ein Wort Schillers zu gebrauchen. Wagner ruft mit leidenschaftlicher Inbrunst die Revolution, damit sich alle „aus dem entehrenden Sklavenjoch des allgemeinen Handwerkertums mit seiner bleichen Geldseele" aufschwingen „zum freien künstlerischen Menschentum mit seiner strahlenden Weltseele", damit alle „aus mühselig beladenen Tagelöhnern der Industrie . . . zu schönen starken Menschen werden, denen die Welt gehört als ein ewig unversiegbarer Quell höchsten künstlerischen Genusses". Wagner stand mit dieser seiner Überzeugung auf dem gleichen Boden, auf dem dank der materialistischen Geschichtsauffassung, dank Marx und Engels das klassenbewußte Proletariat steht. Wie der geniale Tonkünstler spannt es nicht, wie Schiller dies tat, den feurigen Renner hinter den Sonnenwagen der Zukunft, sondern vor ihn. Der politische Kampf und nicht die ästhetische Kultur muß die Menschen zur Freiheit führen, die soziale Revolution muß wie die Arbeit und zusammen mit ihr auch Wissenschaft und Kunst befreien. Die geschichtliche Entwicklung hat das deutsche Proletariat sowohl zum Erben der klassischen Philosophie wie der hehren weltbürgerlichen Ideale der klassischen Literatur gemacht. Aber wie die Arbeiterklasse das Erbe der klassischen Philosophie nur antreten konnte, indem sie diese, wie Engels sich ausdrückt, vom Kopf auf die Füße stellte, so muß sie auch die Hinterlassenschaft des Schillerschen Idealismus von dem Kopfe auf die Füße stellen. Nur der proletarische Klassenkampf schafft mit der sozialen Re260

volution den „Bau einer wahren politischen Freiheit", in welchem auch die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in ihr Recht tritt, nicht um ihm ein Reich herrlichen Scheins vorzugaukeln, vielmehr um ihm die Welt zu erschließen, als reichsten Born gesunden, die Schöpferkraft beflügelnden Genusses. An die Proletarier richtet sich daher heute vor allem Schillers Mahnung: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Noch heißt es um diese Würde kämpfen, sie erobern, sie dem „Niedrigen des Zustandes" abzutrotzen. In diesem Ringen und Kämpfen kann Schiller dem Proletariat kein Pfadweisender und Richtunggebender sein. Wohl aber bleibt er ihm ein gewaltig Fördernder als Erzieher zu den höchsten Bürgertugenden, den erhabensten Menschheitsidealen, die in unserer Zeit unter dem Wettern und Flammen des proletarischen Emanzipationskampfes auf dem Boden der sozialistischen Weltanschauung erwachsen. Aus seinem Leben und seinen Schöpfungen können die Kämpfer wertvollste, unschätzbare geistige und sittliche Kräfte schöpfen, die zum rastlosen Einsatz der ganzen Persönlichkeit für unser hehres sozialistisches Ziel befeuern. Der proletarische Befreiungskampf verheißt allen das reichste, blühendste Leben. Aber von ihm gilt für uns: Und setzet ihr nicht das Leben ein, Nie wird euch das Leben gewonnen sein. Das kämpfende Proletariat kann Schillers weltbürgerliches Ideal nur aus den Wolken auf die Erde niederzwingen, wenn ihm die Kraft zur sozial befreienden, zur revolutionären Tat eignet. Seien wir darum stark im Ringen mit uns selbst gegen das „ewig Gestrige"; seien wir stark im Kampfe gegen die drückende Enge der Lebensverhältnisse, seien wir stark im Ansturm gegen unsere Feinde, die Stützen und Schützer der kapitalistischen Ordnung. Denn: Nur der Starke wird das Schicksal zwingen, Wenn der Schwächling untersinkt.

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ANMERKUNGEN DER HERAUSGEBERIN

Orthographie und Interpunktion der Texte, der Zitate in den Texten und der Zitate in der Einleitung wurden — behutsam und unter Wahrung des Lautstandes — nach dem neuesten Duden korrigiert. Wo eine Sinnveränderung nicht auszuschließen war, wurde auf die Korrektur verzichtet. Problematische oder falsche Zitierungen in den Texten wurden nicht korrigiert. Alle Titel wurden kursiv gesetzt, alle Hervorhebungen erscheinen gesperrt. Rein formale, nicht sinntragende Hervorhebungen wurden beseitigt. Alle Anmerkungen und Fußnoten in den Quellen wurden unverändert beibehalten und erscheinen als Fußnoten zu den Texten. Weglassungen sind durch drei Punkte in eckigen Klammern markiert. Eckige Klammern beinhalten Feststellungen oder Zusätze der Herausgeberin dieses Bandes. Auf Quellenangaben für Zitate in der Einleitung aus Texten, die in diesem Band abgedruckt sind, wurde verzichtet.

Abkürzungen Eisner Lassalle

Kurt Eisner: Gesammelte Schriften. 2 Bde. Berlin 1919. Ferdinand Lassalle: Gesammelte Reden und Schriften. Vollständige Ausgabe in 1 2 Bdn. Hg. u. eingel. v. Eduard Bernstein. Berlin 1919—1920. Mehring Franz Mehring: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Höhle/Hans Koch/Josef Schleifstein. 1 5 Bde. Berlin 1960—1967. NW Die Neue Welt. Illustriertes Unterhaltungsblatt. Hamburg. NZ Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens; seit 1 9 0 1 : Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie. Stuttgart. SAZ Sächsische Arbeiter-Zeitung. Organ zur Wahrung der Interessen der Arbeiterklasse. Dresden. SchillerSchiller [Festschrift]. Verlag Buchhandlung Vorwärts. Festschrift Redaktion: Ernst Preczang. Berlin [1905].

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Tagwacht Vorwärts WB

Schwäbische Tagwacht. Organ der Sozialdemokraten Württembergs. Stuttgart. Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin. Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. Berlin.

Anmerkungen zur Einleitung 1 Ein markantes Beispiel für die bourgeoise Schiller-Deutung wie für die Kritik an der Interpretation seiner Dichtung insbesondere durch die Autoren der ScAt'Wir-Festschrift ist die Broschüre von Georg Haase: Der politische Schiller. Hamburg 1905. Haase versuchte in seiner Schrift besonders den Sozialdemokraten nachzuweisen, daß sie die Tendenz der Werke Schillers „falsch auffassen". Er unterstellte ihnen darüber hinaus, „Wahrheitsfälscher" zu sein, die „die Schwäche ihrer Position und die Kläglichkeit ihrer Versuche", Schiller sozialdemokratisch umzubiegen, „denn doch zu deutlich selbst" fühlen würden. Haase wertete die Festschrift als Beweis dafür, daß „sich der Riese von Marbach beim besten Willen nicht in das rote Prokrustesbett hineinzwängen" ließe, weil er „der Dichter des Bürgertums, nicht der des Proletariats" sei, wie die Autoren der Festschrift „notgedrungen" zugeben müßten (S. 29). Die Tatsache, daß Schiller ein Dichter des Bürgertums war, bestritten sie nicht. Allerdings veranlaßte sie ihre Auffassung von der Identität der Ideale des Dichters mit den politischen Zielvorstellungen der deutschen Sozialdemokratie, von Schiller als einem Künstler zu sprechen, der im Jahre 1905 nur der revolutionären Arbeiterklasse noch etwas zu sagen habe und auch allein von ihr verstanden werde; insofern betrachteten sie ihn als „Dichter des Proletariats" und nicht der Bourgeoisie. Zwar war Haases Kritik an der vor allem in der Frühphase der deutschen Arbeiterbewegung, doch auch im Jahre 1905 oft noch gebräuchlichen Praxis, Zitate aus Schillers Dichtungen gemäß ihren revolutionären Idealen abzuwandeln, einzelne Verszeilen in einen proletarisch-revolutionären Sinnzusammenhang zu stellen, nicht völlig unberechtigt, dennoch lag gerade in dieser Rezeptionsweise für das klassenbewußte Proletariat eine der Möglichkeiten, mit Schillers Kunst als lebendigem Literaturerbe umzugehen. 2 Vgl. Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981, S. 128 bis 138. (Literatur und Gesellschaft. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte). 266

3 Schillerbilder und Schillerbücher. In: Tagwacht 25 (1905) 90, v. 17. 4., 1. Blatt, S. 1. 4 Otto Güntter: Friedrich Schiller. In: Schillers Gedichte und Dramen. Im Auftrage des Schwäbischen Schillervereins hg. v. Otto Güntter. Stuttgart o. J . , S. 6. 5 Schillerbilder und Schillerbücher. A. a. O. 6 Vgl. Schiller und die Rekruten. In: Vorwärts 22 (1905) 107, v. 9. 5., 3. Beil.. S. 3. 7 Vgl. Naturalismus-Debatte 1891—1896. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Hg. v. Norbert Rothe. Berlin 1986. (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Hg. v. Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. XXV). 8 Zur Rezeption Schillers durch die deutsche Arbeiterbewegung sowie durch die in ihr entstandene frühe sozialistische Literatur vgl. Ursula Münchow: Arbeiterbewegung und Literatur 1860 bis 1914. Berlin — Weimar 1981, S. 172—194. (Beiträge zur Geschichte der deutschen sozialistischen Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. v. Friedrich Albrecht/Irmfried Hiebel/Alfred Klein. Bd. 7. — Veröffentlichungen der Akademie der Künste der DDR). 9 Vgl. Hans Jürgen Friederici: Ferdinand Lassalle. Eine politische Biographie. Berlin 1985. 10 Lassalle, Bd. 3, S. 356. 1 1 Ebd., Bd. 4, S. 28 u. 166. 12 Ursula Münchow: Arbeiterbewegung und Literatur 1860—1914. A. a. O., S. 172. 13 Ernst Bloch: Schiller und Weimar als seine Abbiegung und seine Höhe. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur. Berlin 7 (1955) 2, S. 175. 14 Franz Mehring: Jesuitisches. In: NZ 1 1 (1892/93) Bd. 2, Nr. 32, S. 132. 15 Zur Tätigkeit der Arbeiterbibliotheken vgl. Kristina Zerges: Was haben Arbeiter gelesen? In: Veröffentlichungen des Forschungsschwerpunkts Massenmedien und Kommunikation an der Gesamthochschule Siegen. Siegen [1979] 3, S. 1—34. 16 Franz Mehring: Proletarische Ästhetik. In: Die Volksbühne. Berlin 2 (1893) 2, Oktober, S. 9. 17 Heinrich Braulich: Die Volksbühne. Theater und Politik in der deutschen Volksbühnenbewegung. Berlin 1976, S. 48. 18 Franz Mehring: Proletarische Ästhetik. A. a. O., S. 8. 19 Mehring, Bd. 9: Die Lessing-Legende, S. 364—365. 20 Ebd., Bd. 10: Aufsätze zur deutschen Literatur von Klopstock bis Weerth, S. 640, 642 u. 643. 21 Eisner, Bd. 2, S. 153. 267

22 Kurt Eisner: Goethefest. In: Feste der Festlosen. Hausbuch weltlicher Predigtschwänke. Dresden [1905], S. 248—250. 23 Eisner, Bd. 2, S. 154. 24 Vgl. Hans Koch: Franz Mehrings Beitrag zur marxistischen Literaturtheorie. Berlin 1959. (Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D ) ; Josef Schleifstein: Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen 1891—1919. Berlin 1959. (Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte an der Karl-MarxUniversität Leipzig. Hg. v. Ernst Engelberg, Bd. 5). 25 Silvia Schlenstedt: Literaturgeschichtlicher Überblick. I n : Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Von den Anfängen bis 1945. Monographisch-biographische Darstellungen. Leipzig 21964, S. 26. — Eine etwas differenziertere Wertung der Problematik der Schiller-Debatte in: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 9: Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Hg. unter der Leitung v. Hans K a u f mann unter Mitarbeit v. Silvia Schlenstedt. Berlin 1974, S. 57—58. 26 Georg Fülberth: Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie der 2. Internationale über Möglichkeiten und Grenzen einer sozialistischen Literaturpolitik. Neuwied — Berlin 1972, S. 74. (Sammlung Luchterhand 60. Collection alternative. Bd. 4). 27 Dieter Schiller: Rosa Luxemburg in der Schiller-Debatte des Jahres 1905. Zu ideologischen Grundfragen der Erbe-Rezeption in der deutschen Sozialdemokratie. In: W B 23 (1977) 8, S. 5 u. 7. 28 Ursula Miinchow: Arbeiterbewegung und Literatur 1860—1914. A. a. O., S. 175. 29 Wolfgang Hagen: Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie. Zur ideologischen Formation proletarischer Kulturpolitik vor 1914. Stuttgart 1977, S. 164, 172 u. 167. (Literaturwissenschaft u. Sozialwissenschaft. Bd. 9). 30 Im Gegensatz zu Conrad Schmidt kennzeichnete eine Gruppe jüngerer westdeutscher Kultur-, Kunst- und Literaturwissenschaftler, darunter auch Vertreter der „Neuen Linken", bereits die Orientierung der Arbeiter auf das klassische Kunsterbe durch linke Sozialdemokraten dahingehend, daß sie damit zur Verbürgerlichung des Proletariats beigetragen und es bürgerlichen Standards und Werten angepaßt hätten. Uta Burggraf wies die Verbürgerlichungsthese entschieden zurück. Sie wertete den von Mehring intendierten Gebrauch von Kunst, insbesondere des klassischen Kunsterbes, „ f ü r eine Verstärkung der politischemotionalen Engagiertheit, zur Aktivierung und Stabilisierung von im Klassenkampf notwendigen Haltungen" als „eine richtige Orientierung" für die damalige Situation in der deutschen Arbeiterbewegung. Siehe Uta Burggraf: Kunst und Proletariat. 268

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Zur D i f f e r e n z i e r u n g einiger t h e o r e t i s c h e r P o s i t i o n e n a m E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s . I n : W B 24 (1978) 8, S. 1 1 1 . K u r t E i s n e r : Die H e i m a t d e r N e u n t e n . I n : Die N e u e Gesellschaft. Sozialistische W o c h e n s c h r i f t . Berlin (1905) B d . 1, N r . i , S. 10. K u r t E i s n e r : L i e b k n e c h t s E r b e . I n : Sozialistische M o n a t s h e f t e . I n t e r n a t i o n a l e R e v u e des Sozialismus. Berlin 4 (1900) 9, S. 5 2 1 . Vgl. D i e t e r Schiller: R o s a L u x e m b u r g in d e r Schiller-Debatte des J a h r e s 1905. A. a. O., S. 7. Vgl. F r a n z M e h r i n g : Schiller. E i n Lebensbild f ü r d e u t s c h e Arbeiter. Leipzig 1905. I n : D e r Menschheit W ü r d e . D o k u m e n t e z u m Schiller-Bild der d e u t s c h e n Arbeiterklasse. Mit A u f s ä t z e n , R e d e n u n d Briefen v o n K a r l Marx, F r i e d r i c h Engels, F r a n z Mehring, R o s a L u x e m b u r g , Clara Zetkin, O t t o Grotewohl, J o h a n n e s R . Becher, A l e x a n d e r Abusch. Ausgew. u. eingel. v. G ü n t h e r D a h l k e . I m A u f t r a g des Schiller-Komitees der D D R . H g . v. d e n N a t i o n a l e n F o r s c h u n g s - u n d G e d e n k s t ä t t e n der klassischen d e u t s c h e n L i t e r a t u r in W e i m a r u n d d e m I n s t i t u t f ü r Gesells c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n b e i m Z K der S E D . W e i m a r 1959, S. 51 bis 180; F r a n z M e h r i n g : Schiller u n d die G e g e n w a r t , ebd., S. 194 bis 198; F r a n z M e h r i n g : Schiller u n d die großen Sozialisten, ebd., S. 198—201; F r a n z M e h r i n g : Schiller u n d die Arbeiter, ebd., S. 210—212; R o s a L u x e m b u r g : F r a n z Mehrings Schiller-Biographie, ebd., S. 239—241; Clara Z e t k i n : Friedrich Schiller, ebd., S. 245 bis 258.

35 Vgl. F r a n z Diederich: Schillers Volkstümlichkeit. I n : W o l f g a n g H a g e n : Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie. A. a. O., S. 202—208; [Friedrich S t a m p f e r ] : Schiller/Rosa L u x e m b u r g : Gegen sozialdemokratische Juliane, ebd., S. 208—214; K u r t Eisn e r : Ü b e r Schillers Idealismus, ebd., S. 216—219; H e r m a n n M o l k e n b u h r : Schillers E i n f l u ß auf die A g i t a t i o n der Sozialdemok r a t e n , ebd., S. 219—221; K a r l K a u t s k y : Die Rebellionen in Schillers D r a m e n , ebd., S. 222—234; [Franz Mehring]: Schiller u n d die Arbeiter, ebd., S. 236—239.

Anmerkungen zu den Texten S. 3 [Franz Mehring]: Schiller und die Gegenwart. I n : N Z 23 (1904/05) Bd. 2, Nr. 3 i , S. 129—132. S. 8 Max Maurenbrecher: Was ist uns Schiller? I n : Die N e u e Gesellschaft. Sozialistische W o c h e n s c h r i f t 1 (1905/06) 1. Bd., N r . 6, v. 10. 5., S. 62—64. Max Maurenbrecher (1874—1930) Theologe, S c h r i f t s t e l l e r ; Mitglied des Nationalsozialen Vereins u n d 1899—1903 S c h r i f t 269

leiter der nationalsozialen Wochenschrift Die Zeit; 1903—1916 Sozialdemokrat. S. 13 [Franz Mehring]: Schiller und die Arbeiter. In: Leipziger Volkszeitung 10 (1905) 104, v. 8. 5. , S. 1—2. S. 17 Kurt Eisner: Schiller-Baalsdienst. In: N W 28 (1905) 19, S. 151-152. Kurt Eisner (1867—1919) sozialdemokratischer Historiker, Publizist, Schriftsteller und Politiker; studierte Philosophie und Germanistik in Berlin; in den neunziger Jahren journalistische Tätigkeit für eine Reihe bürgerlicher Zeitungen, u. a. die Frankfurter Zeitung und die Hessische Landzeitung', Mitbegründer der Volksbühnenbewegung in Berlin; 1897 im Prozeß wegen „Majestätsbeleidigung" zu neun Monaten Gefängnis verurteilt; seit 1898 Mitglied der SPD und Redakteur beim Vorwärts; im Ergebnis des „ Korwär/s-Streites" 1905 aus der Redaktion ausgeschlossen; 1907—1910 Chefredakteur der opportunistisch orientierten Fränkischen Tagespost; seit 1910 in München als freier Schriftsteller; parlamentarischer Berichterstatter; politischer Mitarbeiter und Theaterkritiker der Münchner Post, eines Organs der süddeutschen Opportunisten; von 1910—1916 Herausgeber des wöchentlich erscheinenden Arbeiter-Feuilleton, das von vielen sozialdemokratischen Organen verwendet wurde; zwischen 1914 und 1918 aktive Beteiligung am Kampf um die revolutionäre Beendigung des Krieges; ab 1917 Mitglied der U S P D ; 1918 in führender Position an der Vorbereitung und Durchführung der Revolution in München beteiligt; Vorsitzender des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrates und Ministerpräsident der von U S P D und SPD gebildeten Regierung der Republik Bayern; 1919 Opfer eines konterrevolutionären Attentats in München; beschäftigte sich als Historiker mit der Geschichte Preußens und mit der Außenpolitik des deutschen Imperialismus; war Autor biographischer Studien zu Wilhelm Liebknecht; bevorzugte literarische Kurzformen wie Märchen, Kurzerzählungen, Szenen und Anekdoten, wie sie in der feuilletonistischen Tagespublizistik dieser Zeit verwendet wurden. S. 25 Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. Leipzig 1905. — Für diesen Band gekürzt. S. 90 R[osa] Luxemburg: Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. In: NZ 23 (1904/05) Bd. 2, S. 163—165. S. 94 Max Adler: Ein Schillerbuch für Arbeiter. In: Vorwärts 22 (1905) 104, v. 5. 5., 1. Beil., S. 1. Max Adler (1873—1937) österreichischer sozialdemokratischer Philosoph und Soziologe, Theoretiker des Austromarxismus, 270

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Neukantianer; Dr. jur., 1921 ao. Prof., Prof. der Soziologie an der Universität Wien; W e r k e : Marx als Denker (1908), Der Marxismus als proletarische Lebenslehre (1922), Die Staatsauffassung des Marxismus (1922). . . . Schillers Nachruhm. In: T a g w a c h t 25 (1905) 106, v. 9. 5., S. 1. — Mehrings Schiller-Buch fand in dem sozialdemokratischen Organ Schwäbische Tagwacht, das seit 1902 Wilhelm Keil redaktionell leitete, ein lebhaftes Echo. E s wurde darin in seinen wesentlichen Positionen den proletarischen Lesern nicht nur mehrmals vorgestellt, sondern über die Expedition dieses Parteiblattes auch vertrieben.

S. 103 H. D.: Das Schillerbuch des deutschen Proletariats. In: Tagw a c h t 25 (1905) 114, v. 18. 5., 1. Blatt, S. 1. — Die Frage nach der Autorschaft dieser Rezension ist noch ungeklärt. Der Verfasser des Beitrages könnte J. H. W. Dietz sein, der Artikel auch nur mit Heinrich Dietz, oder H. D., signierte, zudem mit dem leitenden Redakteur der Schwäbischen Tagwacht, Wilhelm Keil, in Stuttgart eng zusammenarbeitete, diese regionale Parteizeitung in seiner Druckerei setzen ließ und mit Mehring durch dessen Mitarbeit an der Neuen Zeit persönlich bekannt war. — Die Rezension könnte auch aus der Feder von Hermann Duncker stammen, der ebenfalls oft mit H. D. signierte, zudem seit 1903 gemeinsam mit Mehring in der Redaktion der Leipziger Volkszeitung arbeitete und außerdem Artikel in der Schwäbischen Tagwacht um 1905 veröffentlichte. S. 106 Wichgram: vermutlich Jakob W y c h g r a m . S. 109 Friedrich Stampfer: Werden und Vergehen. I n : Schiller-Festschrift, S. 2—4. Friedrich Stampfer (1874—1957) rechter sozialdemokratischer Journalist, Politiker und Publizist; Studium der Nationalökonomie und Staatswissenschaften in Wien; 1900 —1902 Redakteur der Leipziger Volkszeitung', danach Redakteur des Zentralorgans Vorwärts; 1903—1916 Herausgeber der rechtsopportunistischen Privatkorrespondenz, die Rosa L u x e m b u r g als „Groß-Lichterfelder Meinungsfabrik zur Verkleisterung der Proletarierhirne" bezeichnete; ab 1916 Mitglied des S P D Parteivorstandes und Chefredakteur des Vorwärts, den er mit kurzer Unterbrechung bis zum Verbot 1933 leitete; galt in den zwanziger Jahren als der führende Journalist der S P D und ab 1925 im Parteivorstand als „graue E m i n e n z " ; 1920 bis 1933 Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion; von 1933 bis 1938 Chefredakteur des in K a r l o v y V a r y erscheinenden Neuen Vorwärts', veröffentlichte 1936 sein B u c h Die vierzehn Tage der ersten deutschen Republik', 1938—1940 Emigration in Paris; ab 1940 in N e w Y o r k Mitglied der German

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Labor Delegation und Mitarbeiter der Neuen Volkszeitung; 1948 Rückkehr nach Westdeutschland; ab 1950 Herausgeber einer Artikelkorrespondenz mit dem Titel Stampfer-Dienst, bis 1955 Dozent an der Akademie der Arbeit in Frankfurt a. M. S. 117 Lily Braun: Schiller und Charlotte von Kalb. I n : Schiller-Festschrift, S. 5—7. Lily Braun (1865—1916) sozialdemokratische Publizistin, Schriftstellerin, Frauenrechtlerin; entstammte altadliger preußischer Offiziersfamilie derer von Kretschmann; 1893 E h e mit Kathedersozialisten Prof. Georg von Gizycki, 1895 Zweitehe mit sozialdemokratischem Publizisten Heinrich Braun (1854—1927); seit 1895 Mitglied der S P D , publizierte Aufsätze im Vorwärts und in der Gleichheit ; ihr Wirken in der proletarischen Frauenbewegung wurde anfangs von Clara Zetkin begrüßt, später jedoch b e k ä m p f t ; 1903 und 1905—1908 gab sie gemeinsam mit H. Braun die opportunistische Zeitschrift Die Neue Gesellschaft heraus; erzielte literarische Wirkungen mit ihren in zwei Bänden erschienenen Memoiren einer Sozialistin (Lehrjahre, 1909; Kampfjahre, 1911). S. 125 Kurt Eisner: Über Schillers Idealismus. I n : Schiller-Festschrift, S. 7—12. S. 138 John Schikowski: Schiller auf dem Theater. I n : Schiller-Festschrift, S. 13. John Schikowski (1867—1934) sozialdemokratischer Publizist, Theater- und Kunstkritiker; Dr. phil.; begann seine Tätigkeit als Redakteur an der Leipziger Volkszeitung-, w a r befreundet mit den Dichtern Detlev von Liliencron, O. E . Hartleben und Arno Holz; Mitbegründer der in den neunziger Jahren in Leipzig bestehenden literarischen Tafelrunde „Die Ballonmützen", der u. a. Gustav Morgenstern, Hans Merian und Edgar Steiger angehörten; 1905 Redakteur des Wahren Jacob; wirkte seit 1906 an der Freien Volksbühne in Berlin; 1916 bis 1933 Redakteur des Vorwärts; veröffentlichte u. a. folgende W e r k e : Über Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenstatistik (1894), Die Entwicklung der deutschen Bühnenkunst (1905), Charakterund Sittenbilder der französischen Revolution (1920), Der neue Tanz (1924), Stürmer gegen das Philistertum (1925), Geschichte des Tanzes (1926) und Kunstschaffen und Kunsterleben (1926). S. 141 Eduard David: Schiller und die Schule. I n : Schiller-Festschrift, S. 1 4 - 1 5 . Eduard David (1863—1930) sozialdemokratischer Redakteur, Publizist und Politiker; Besuch des Gymnasiums in Gießen, kaufmännische Lehre in Berlin; studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Gießen; Dr. phil.; wurde nach dem Fall des Sozialistengesetzes Mitglied der S P D ; seit 1897

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sozialdemokratischer Parteisekretär für das Großherzogtum Hessen; 1896—1908 Mitglied der zweiten hessischen Ständekammer; war Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte; David betrachtete in seinem Buch Sozialismus und Landwirtschaft (1903), das Lenin 1908 als „Hauptwerk des Revisionismus in der Agrarfrage" bezeichnete, die gesellschaftliche Entwicklung auf dem Lande vom Standpunkt des Kleinproduzenten; trat seit 1907 gemeinsam mit Bernstein und dem Holländer Henri van Kol für die Anerkennung „sozialistischer" Kolonialpolitik und „positiver Reformarbeit" in den Kolonien ein; unterstützte unverhüllt die imperialistische Kolonialpolitik, die nach seiner Meinung die rasche Entwicklung des Kapitalismus und die Interessenharmonie von Bourgeoisie und Proletariat fördere; 1903—1918 und 1920 bis 1930 Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion; wirkte im Oktober 1918 als Unterstaatssekretär im Kabinett des Prinzen Max von Baden. S. 145 H[ermann] Molkenbuhr: Schillers Einfluß auf die Agitation der Sozialdemokraten. In : Schiller-Festschrift, S. 15—16. Hermann Molkenbuhr (1851—1927) Zigarrenmacher, rechter sozialdemokratischer Redakteur und Politiker; 1872 Mitglied des A D A V ; 1875 Mitglied der S A P D ; 1881 wegen politischer Tätigkeit aus Hamburg und Umgebung ausgewiesen, bis 1884 Emigration in Nordamerika; 1891—1904 Redakteur des Hamburger Echos; 1904—1927 Mitglied des SPD-Parteivorstandes; 1907—1916 Stadtverordneter und seit 1915 Stadtrat in BerlinSchöneberg; wirkte vorwiegend auf dem Gebiet der Sozialpolitik, der Arbeiterschutz- und Arbeiterversicherungsgesetzgebung; 1890—1918 und 1920—1927 Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion; 1919 —1920 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung. S. 149 Karl Kautsky: Die Rebellionen in Schillers Dramen. In: NZ 23 (1904/05) Bd. 2, S. 133-153Karl Kautsky (1854—1938) einflußreicher sozialdemokratischer Theoretiker, Redakteur und Publizist; studierte 1874—1879 Geschichte, Nationalökonomie, Philosophie und Jura in Wien; seit 1875 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs; war 1880—1882 in Zürich Mitarbeiter des sozialreformistischen Verlegers und Publizisten Karl Höchberg (1853—1885), lernte dort A. Bebel, W. Liebknecht und E. Bernstein kennen und wurde Mitglied der deutschen Sozialdemokratie; 1881 persönliche Bekanntschaft mit Marx und Engels in London; unter seiner Mitwirkung wurde 1882 die theoretische Zeitschrift Die Neue Zeit gegründet, deren Chefredakteur er von 1883 bis 1917 war; 1885—1890 enger Mit30

Jonas, Schiller-Debatte

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arbeitet von Engels in London, wurde einer der namhaftesten Interpreten und Propagandisten des Marxismus; 1891 Mitverfasser des Erfurter Programms; veröffentlichte bedeutende marxistische Schriften, in denen er die materialistische Geschichtsauffassung in vieler Hinsicht selbständig auf historische, ökonomische und politische Prozesse anwandte, wie Karl Marx' ökonomische Lehren. Gemeinverständlich erläutert (1887), Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert (1892), Vorläufer des neueren Sozialismus (2 Bde., 1895), die gegen den Revisionismus gerichtete Arbeit Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik (1899), Die Agrarfrage (1899), Die soziale Revolution (1902), Ethik und materialistische Geschichtsauffasssung (1906), Der Ursprung des Christentums (1908), Der Weg zur Macht (1909), Der politische Massenstreik (1914) und sein Hauptwerk Die materialistische Geschichtsauffassung (2 Bde., 1927); gab in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg nach und nach marxistische Positionen auf; entfernte sich dabei zunehmend von der revolutionären Praxis des Klassenkampfes und versuchte, die beiden Klassenlinien in der deutschen Arbeiterbewegung durch eine sophistische Auslegung der Auffassungen von Marx und Engels zu versöhnen; diese Haltung führte ihn noch im ersten Weltkrieg zu sozialpazifistischen Anschauungen; 1917 Mitbegründer der USPD, ab 1922 wieder Mitglied der S P D ; verstarb in der Emigration in Holland, wohin er 1938 vor den Faschisten geflohen war. S. 163 Kurt Eisner in der März-Schillernummer: Kurt Eisner: Über Schillers Idealismus. In: Schiller-Festschrift, S. 7—12; vgl. vorl. Bd., S. 125-138. S. 178 Franz Mehring: Schiller und die großen Sozialisten. In: NZ 23 (1904/05) Bd. 2, S. 153-156. S. 182 Friedrich Stampfer: Der klassische Idealismus und der historische Materialismus. In: Vorwärts 22 (1905) 107, v. 9. 5.,S. 3. S. 185 geschützt: Statt dessen muß es heißen: gestürzt (Marx). S. 185 in denen der Mensch ein geknechtetes [. . .] Wesen ist: Der Text lautet im Original: „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1, Berlin 1981, S. 385). S. 185 Die Emanzipation der Deutschen ist die Emanzipation des Menschen: Der Text lautet im Original: „Die E m a n z i p a t i o n d e s D e u t s c h e n ist die E m a n z i p a t i o n d e s M e n s c h e n " (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1, Berlin 1981,

s. 391). 274

S. 185 Die Philosophie kann nicht verwirklicht werden ohne die Aufhebung des Proletariats: Der Text lautet im Original: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats" (KarlMarx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1, Berlin 1981, S. 391). S. 187 Max Maurenbrecher: Der Geschichtsschreiber Schiller. I n : Vorwärts 22 (1905) 107, v. 9. 5. , S. 3-4. S. 192 EdfuardJ Bernstein: Schiller und die Revolution. I n : Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Berlin 1 (1905) 16, v. 4. 5., S. 754-759Eduard Bernstein (1850—1932) führender sozialdemokratischer Theoretiker, Politiker und Publizist; Besuch des Gymnasiums und kaufmännische Lehre in Berlin; seit 1871 Sozialdemokrat; seit 1880 mit Marx und Engels bekannt, redigierte unter ihrem Einfluß 1881—1890 erst in Zürich und später in London die illegale Parteizeitung Der Sozialdemokrat; 1890—1901 Emigration in London; 1896—1900 ständiger Mitarbeiter der Neuen Zeit; seit 1896 Theoretiker des Revisionismus und Reformismus; 1901—1905 Herausgeber der Documenta des Socialismus. Hefte für Geschichte, Urkunden und Bibliographie des Socialismus; seit 1906 Lehrer an der Gewerkschaftsschule in Berlin; ständiger Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte; nach dem 4. August 1914 aus der SPD ausgetreten; ab 1917 Mitglied der USPD, 1919 wieder Mitglied der SPD; Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 1902—1906, 1912 bis 1918 und 1920—1928; im letzten Lebensjahrzehnt hauptsächlich publizistisch tätig. S. 199 Ffriedrich] SftampferJ: Schillers Auffassung von Staat und Gesellschaft. I n : Tagwacht 25 (1905) 94, v. 22. 4., 2. Blatt, S. 5. S. 208 sobald der Blitz des Gedankens in diesen naiven Volksboden eingeschlagen hat: Der Text lautet im Original : „sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist" (Karl Marx/Friedrich Engels : Werke. Bd. 1, Berlin 1981, S. 391). S. 209 Conrad Schmidt: Schiller. I n : Vorwärts 22 (1905) 107, v. 9. 5., S. 1 - 3 . Conrad Schmidt (1863—1932) sozialdemokratischer Redakteur und Publizist; Neukantianer; Bruder von Käthe Kollwitz; studierte Nationalökonomie ; Promotion mit der als Buch erschienenen Arbeit Der natürliche Arbeitslohn (Berlin 1887); Korrespondenz mit Engels, den er während eines Studienaufenthaltes in England kennengelernt hatte; Habilitationsschrift zum Thema „Das Verhältnis von Profit und Mehrwert" wurde in Halle und Leipzig aus politischen Gründen abgelehnt; Redakteur der Vossischen Zeitung in Berlin; gegen

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Ende des Sozialistengesetzes schloß er sich der sozialistischen Bewegung an; veröffentlichte 1889 die Schrift Die Durchschnittsprofitrate auf der Grundlage des Marx'sehen Wertgesetzes, die Engels anerkannte, worin er aber das Problem nicht gelöst fand; redigierte lange Zeit den Vorwärts; seit 1897 auf Vorschlag Mehrings Vorsitzender der wiedererrichteten Freien Volksbühne und Redakteur der gleichnamigen Zeitschrift; Mitbegründer der Sozialistischen Monatshefte, deren Sparte „Sozialwissenschaften" er 1908—1930 redigierte. S. 223 Franz Diederich: Schillers Volkstümlichkeit. In: N W (1905) 19, S. 145-147Franz Diederich (1865—1921) sozialdemokratischer Redakteur und Publizist; Studium der Naturwissenschaften und Ethnographie in Jena und Leipzig; Dr. phil. ; kam über Darwins Entwicklungslehre zur sozialistischen Bewegung; wurde um 1885 Mitglied der S A P D ; in den neunziger Jahren Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen in Dortmund und Bremen; Mitglied der Bremer Goethe-Gesellschaft ; Kulturpolitiker der SPD ; seit 1900 Mitarbeiter der NeuenZeit; veröffentlichte zwei Gedichtbände: Worpsweder Stimmungen (1901) und Die weite Heide", 1903 Feuilletonredakteur der Sächsischen Arbeiter-Zeitung in Dresden; Publikation des dritten Gedichtbandes unter dem Titel Die Hämmer dröhnen und 1911 der Anthologie Von unten auf; in Unterm Brennglas legte er einen Auswahlband des Vormärz-Satirikers Glaßbrenner vor; förderte besonders junge Talente aus der Arbeiterbewegung; 1913 Lektor im Parteiverlag Vorwärts Berlin, wo er u. a. Die Zarengeißel (1914), Herzen im Kriege (1915), Verbrechergeschichten, Wir weben! Wir weben! (Heines politische Gedichte) und die Goethe-Ausgabe edierte; 1916 kurze Zeit politischer Redakteur des Vorwärts, dann wieder Feuilletonredakteur; 1919 Mitglied des Zentralbildungsausschusses der SPD. S. 231 [Friedrich Stampfer]: Schiller. In: Volks-Bote. Stettin 21 (1905) 107, v. 9. 5., S. 1 - 3 . S. 240 Rosa Luxemburg: Gegen sozialdemokratische Juliane. In: SAZ 16 (1905) 111, v. 16. 5., S. 1—2. S. 244 [Rosa Luxemburg]: Sozialdemokratische Juliane. In: SAZ 16 (1905) 116, v. 22. 5., S. 2. S. 245 Clara Zetkin: Friedrich Schiller. In: Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen. Stuttgart 20 (1909/10) 3, S. 34—36; 20 (1909/10) 4, S. 50—52 und 20 (1909/10) 5, S. 66-67.

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PERSONENREGISTER

Adler, Max 270 Aschylos 252 Alembert, Jean Le Rond d' Alexander I. 166 Auerswald, Rudolf v. 19

Cervantes Saavedra, Miguel de 28 246 Cotta, Johann Friedrich v. 18 196 205 Cotta, Johann Georg v. 114

Bach, Johann Sebastian 259 Baggesen, Jens Immanuel 143 Bakunin, M. A. 154 Bauer, Bruno 183 Bauer, Edgar 183 Bebel, August 273 Beethoven, Ludwig van 214 259 Bernhard von Sachsen-Weimar 50 191 Bernstein, Eduard I X XXI X X V I X X X 273 275 Beulwitz, Caroline v. 112 Bismarck, Otto v. 105 Blum, Robert 91 Bode, Johann Joachim Christoph 45-46 Boeckh, Philipp August 23 Böcklin, Arnold 259 Börne, Ludwig 81 192 Bonger, Willem Adriaan 173 Brahm, Otto 3 Braun, Heinrich 272 Braun, Lily I X X X X I 272 Brutus 161 Bucher, Lothar 181 Büchner, Georg X I V Burggraf, Uta 268

Dacheröden, Karoline v. 57 Dahlke, Günther X I X X X X I Dalberg, Wolfgang Heribert v. 42—44 111 113 212 249 Darwin, Charles 87 276 Dau, Rudolf XXXII David, Eduard I X X X I V XXVI XXVIII XXXI 272-273 Demetrius (d. i. Grigorij Otrepjew) 67 82 Diderot, Denis 38 Diederich, Franz I X X X I V bis X X V X X I X X X X I 276 Dietz, Johann Heinrich Wilhelm 271 Dohm, Ernst 24 Droysen, Johann Gustav 189 Dürer, Albrecht 259 Duncker, Hermann 271 Dunois, Jean de 73 Eckermann, Johann Peter 192 Eisner, Kurt I X - X X V I I X I X XXIV XXVI-XXVIII X X X I 163 270 274 Engels, Friedrich X I V X V I I 277

X X I X 88 i6g 1 7 8 - 1 8 0 182 bis 183 205 260 273—276 Erhard, Benjamin v. 199

Hagen, Wolfgang XX-XXI XXXI Hartleben, Otto Erich 272 Hauptmann, Gerhart 157 Feuerbach, Ludwig 87 259 Hebbel, Christian Friedrich 36 Fichte, Johann Gottlieb X V I I 3 8 - 3 9 4 1 50 59 66-68 77 86 88 1 1 4 124 178—180 196 8 2 - 8 5 225 201—202 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Fourier, Charles 174 X V I I 88 1 7 8 - 1 8 0 Freiligrath, Ferdinand 23 255 Heine, Heinrich 177 276 Friedrich I I . 105 136 162 250 Hellen, Eduard von der X I Friedrich Christian von Schles- Herder, Johann Gottfried X V I I wig-Holstein-Augustenburg 27 49 5 1 84-86 124 132 1 1 4 1 9 4 - 1 9 5 2 1 9 250 Herwegh, Georg 23 236 255 Friedrich Wilhelm IV. 17 ig Hiesel (d. i. Mathias KlosterFülberth, Georg XX meier) 153 Höchberg, Karl 273 Gemmingen, Otto Heinrich v . Hölderlin, Johann Christian 38 Friedrich 259 Gerlach, Leopold v. 17 23 Hohenheim, Franziska v. 42 Gerstenberg, Heinrich WilHolbach, Paul Heinrich Diethelm v. 110 rich v. 246 Gervinus, Georg Gottfried 6 86 Holz, Arno 272 Gizycki, Georg v. 272 Homer 233 242—243 Glaßbrenner, Adolf 276 Huber, Ludwig Ferdinand 44 Goethe, Johann Wolfgang X I V bis 45 X V I - X V I I 6 - 7 14 27 2 9 - 3 1 33 51 5 6 - 5 9 6 1 - 6 4 6 7 - 6 8 Hugo, Gustav 184 70 75 78—79 84—86 105—106 Humboldt, Wilhelm v. 57 59 61—62 64 77 85 1 1 4 — 1 1 5 124 1 1 0 1 1 4 — 1 1 7 122 124 1 3 1 181—182 227 138 140 1 4 4 - 1 4 5 179 188 192—193 2 1 0 2 1 4 221—223 2 2 5 - 2 2 7 2 4 9 - 2 5 0 253 276 Gorki, M. 157 Gottschall, Rudolf v. 230 Gozzi, Carlo 82 Grimm, Friedrich Melchior v. 246 Grimm, Jacob 22—23 Grimm, Wilhelm 23 Grün, K a r l 180—182 Güntter, Otto X I Gustav I I . Adolf 50 1 9 1 Haase, Georg 266 Haeckel, Ernst 87

278

Ibsen, Henrik 142 Iffland, August Wilhelm 82

38 65

Jacoby, Johann 23 253 Jeanne d'Arc 72—73 J e a n Paul 124 Jesus Christus 201 Jonas, Fritz XI Kalb, Charlotte v. 44 1 1 3 118—124 Kalb, Heinrich v. 119 K a n t , Immanuel X I I I X V I I

X X V I I 11-12 5 1 - 5 3 57-58 62 86—87 1 1 2 x l 4 132—134 139 171 174 184 198 201—202 204 214 218—221 235 237 242-244 256 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 85 106 1 1 5 194 250 Karl Eugen von Württemberg 28 35 8 5 1 8 1 2 1 0 2 1 2 2 4 8 Kautsky, Karl I X XV X V I I I XX XXII-XXIII XXVI X X V I I I X X X - X X X I 100 2 73 Keil, Wilhelm 271 Kleist, Heinrich v. 84 Klinger, Friedrich Maximilian v. 30 33 248 Klopstock, Friedrich Gottlieb 29—30 86 127 210 Koch, Hans X V I I I Kodweiß, Friedrich 27 Kodweiß, Elisabetha Dorothea 27 Körner, Christian Gottfried 45 bis 46 48—52 62—63 68 70—71 75 78 84-85 1 1 3 122 132 134 136 1 9 5 - 1 9 6 213 218 224—225 229 249 256 Kol, Henri van 273 Kollwitz, Käthe 275 Kolumbus, Christoph 25 99 Kotzebue, August v. 65 198 Lange, Albert 6 57 Lassalle, Ferdinand X I I I - X I V 12 23 145—146 178 180—182 199 244 Leibniz, Gottfried Wilhelm 10 Leisewitz, Johann Anton 30 33 43 n o 248 Lengefeld, Caroline v. (siehe auch: Wolzogen, Caroline v.) 114 Lengefeld, Charlotte v. (siehe

auch : Schiller, Charlotte) 1 1 4 123 Lenin, W. I. 273 Lenz, Jakob Michael Reinhold 30 Leo, Heinrich 18 Lessing, Gotthold Ephraim XVI 4 27 29-30 3 2 36—38 41 43 53 84-85 105 129 138 210 226 252 259 Lette, Wilhelm Adolf 19 Lewald, Otto 19 Liebknecht, Wilhelm 270 273 Liliencron, Detlev v. 272 Ludwig XVI. 9 168 194 196 218 Ludwig Eugen von Württemberg 29 Lukàcs, Georg X V I I I Luther, Martin 51 105 189 Luxemburg, Rosa I X X I V bis XV X V I I - X I X X X I - X X I I I XXVI XXVIII X X X - X X X I 271 Märker (d. i. Maercker, Friedrich Adolph) 19 Maria Paulowna (Pawlowna) von Sachsen-Weimar-Eisenach 166 Maria Theresia 27 Marx, Karl X I V X V I I X I X X X I X X V I I I - X X I X 87 bis 88 91—92 100 104 1 7 1 178 bis 180 182—185 208 218 260 2 73_275 Maurenbrecher, Max I X X I X XXIV-XXV XXVIII XXX bis X X X I 269 Max von Baden 273 Mehring, Franz I X - X I X I V bis X X I I I X X V I - X X V I I I X X X - X X X I 90 9 2 - 1 0 6 150 168 245 268 271 276 Merian, Hans 272

279

Middell, Eike XXXII Minor, J a k o b 3 Molkenbuhr, Hermann IX X X I V - X X V X X V I I bis X X V I I I X X X I 273 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de 49 Montmartin, Friedrich Samuel v. 33 35 Morgenstern, Gustav 272 Moritz, K a r l Philipp 127 Moser, Johann J a k o b 34 2 1 0 Münchow, Ursula XX

Schikowski, John I X X X X I 272 Schiller, Charlotte 115 Schiller, Dieter X X X X X Schiller, Johann Kaspar 27 39 44 2 1 2 Schimmelmann, Heinrich Ernst v. 250 Schinderhannes (d. i. Johann Bückler) 1 5 3 Schlegel, August Wilhelm 59 Schlenstedt, Silvia XIX Schlüter, Andreas 10 Schmidt, Conrad I X X X I V Napoleon I. Bonaparte 66 165 bis X X V X X V I I - X X V I I I 268 bis 166 198 249 275 Nathusius, Philipp v. 17 Schmidt, Julian X I V 1 8 1 bis Nikolaus II. 167 182 244 Niebuhr, Barthold Georg 48 Schneider, Ludwig 17 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 53 Schubart, Christian Friedrich 140 Daniel 30—32 34 42 1 1 1 2 1 0 227 249 Owen, Robert 174 Schwab, Gustav 18 Schwan, Christian Friedrich Pallaske, Adolf 19 111 Paulus 1 1 Schwan, Margarete 113 Pfau, Ludwig 23 Schwerin, Maximilian Heinrich Philipp I I . 44 1 6 1 K a r l Anton Kurt v. (genannt: Plutarch 28 2 1 1 227 Schwerin-Putzar) 20—21 Shakespeare, William X I V 28 Ranke, Leopold v. 189 32 37 43 68 72 82 210 254 Raumer, Friedrich v. 141—142 Sonnenwirt (d. i. Friedrich Reinicke, Ludwig 1 4 1 Schwan) 1 5 3 Reinwald, Wilhelm Friedrich Spinoza, Baruch 1 7 3 Hermann 36 43 Rieger, Philipp Friedrich v. 39 Stampfer, Friedrich I X — X XIV-XV XXI XXIV XXVI 48 bis X X V I I I X X X - X X X I Rousseau, Jean-Jacques 28 bis 2 4 4 - 2 4 5 271 29 36 1 1 0 1 1 8 127 140 202 2 1 1 214 226—227 229 235 Steiger, Edgar 272 Stein, Charlotte v. 1 1 4 122 246 256 258 Stein, Fritz v. 115 Rudenwaldt XII Stolberg, Friedrich Leopold zu 130 Sachs, Hans 232 241 243 Streicher, Andreas 1 1 1 249 Scharffenstein, Georg Friedrich v. 6 37

280

Talleyrand-Perigord, CharlesMaurice de 48 Thorwaldsen (Thorvaldsen), Bertel 18 Trotha, Lothar A. D. v. 201 Tschudi, Ägidius 78 Vilmar, August Friedrich Christian 81 86 Voltaire 49 72—73 136 Vulpius, Christiane 193

Wieland, Christoph Martin 30 48 Wilhelm I. 17 20—22 Wilhelm IV. von Hessen-Kassel 191 Wilhelm I. von Oranien 161 Winckelmann, Johann Joachim 53 215 Wittleder, Lorenz 33 35 Wolf, Hugo 259 Wolzogen, Henriette v. 42 1 1 1 1 1 9 132 212 249 Wolzogen, Caroline v. 85 Wolzogen, Wilhelm v. 83 Wuttke, Johann Karl Heinrich 23 Wychgram, Jakob (siehe auch: Wichgram) 271

Wagner, Heinrich Leopold 30 38 248 Wagner, Richard 259—260 Wallenstein, Albrecht Eusebius Wenzel von Friedland und Mecklenburg 67 69 93 191 Warbeck, Perkin 83 Weishaupt, Adam 45 Zetkin, Clara I X X V X V I I Weltrich, Richard 3 bis X I X X X I I - X X V X X I X Wichgram (siehe auch: Wychbis X X X I 272 gram, Jakob) 106 271

In der Reihe „TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN D E U T S C H L A N D " sind erschienen: B a n d I : Gedichte über Marx und Engels Herausgegeben von M A N F R E D H Ä C K E L (1963, vergriffen) B a n d I I : Robert Schweichel Erzählungen Herausgegeben von E R I K A P I C K (1964, vergriffen) B a n d I I I : A u s den Anfängen der sozialistischen Dramatik I Herausgegeben von U R S U L A MÜNCHOW (1964, 1973, 1986) B a n d I V : Minna K a u t s k y Auäwahl aus ihrem Werk Herausgegeben von CÄCILIA F R I E D R I C H (1965, vergriffen) B a n d V : A u s den Anfängen der sozialistischen Dramatik II Herausgegeben von U R S U L A MÜNCHOW (1965, 1973, 1986) B a n d V I : Rudolf L a v a n t Gedichte Herausgegeben von H A N S U H L I G (1965) B a n d V I I : August Otto-Walster Leben und Werk Eine Auswahl mit unveröffentlichten Briefen an Karl Marx Herausgegeben von W O L F G A N G F R I E D R I C H (1966, vergriffen) B a n d V I I I : A u s dem Schaffen früher sozialistischer Schriftstellerinnen Herausgegeben von CÄCILIA F R I E D R I C H (1966) 282

B a n d I X : E r n s t Preczang Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von H E L G A H E R T I N G (1969) B a n d X : Leopold J a c o b y Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von M A N F R E D H Ä C K E L (1971) B a n d X I : A u s den A n f ä n g e n der sozialistischen D r a m a t i k I I I Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W (1972) B a n d X I I : Frühes Leipziger Arbeitertheater Friedrich Bosse Herausgegeben von G U S T A V S C H R Ö D E R (1972, vergriffen) B a n d X I I I : Max Kegel Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von K L A U S V Ö L K E R L I N G (1974, vergriffen) B a n d X I V : Kalendergeschichten u n d kleine Erzählstücke Herausgegeben von C Ä C I L I A F R I E D R I C H (1975, vergriffen) B a n d X V : O t t o Krille U n t e r dem Joch Die Geschichte einer Jugend Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W (1975) B a n d X V I : E i n deutscher Chansonnier Aus dem Schaffen Adolf Lepps Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W und K U R T L A U B E (1976) B a n d X V I I : Werner Möller Sturmgesang — K r i e g und K a m p f Gedichte Herausgegeben von M A T H I L D E D A U (1977) B a n d X V I I I : A u s dem Klassenkampf Herausgegeben von K L A U S V Ö L K E R L I N G (1978) 283

B a n d X I X : Frühe sozialistische satirische Lyrik Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (1977)

B a n d X X : G. M. Scaevola Gedichte und Stücke Herausgegeben von G U D R U N und H A N S H E I N R I C H K L A T T (1977)

B a n d X X I : Das lyrische Feuilleton des „Volksstaat" Gedichte der Eisenacher Partei Herausgegeben von R E I N H A R D W E I S B A C H (1979, vergriffen) Band X X I I : Frühe sozialistische satirische Prosa Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (1981, vergriffen) Band X X I I I : Josef Schiller Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (1982) B a n d X X I V : Deutsch-amerikanische sozialistische Literatur 1865—1900 Anthologie Herausgegeben von CAROL POORE (1987) B a n d X X V : Naturalismus-Debatte. 1891—1896 Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (1986, vergriffen) B a n d X X V I I : Tendenzkunst-Debatte. 1 9 1 0 - 1 9 1 2 Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie Herausgegeben von T A N J A B Ü R G E L (1987)

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