Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917: Dokumente zur innen- und außenpolitischen Strategie und Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches [Reprint 2022 ed.] 9783112617526, 9783112617519


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German Pages 296 [299] Year 1978

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Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917: Dokumente zur innen- und außenpolitischen Strategie und Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches [Reprint 2022 ed.]
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Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER

DDR

SCHRIFTEN DES ZENTRALINSTITUTS FÜR GESCHICHTE BAND 53

H err schaftsmethoden des deutschen Imperialismus

Dokumente zur innen- und außenpolitischen Strategie und Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches

Herausgegeben und eingeleitet von Willibald Gutsche unter Mitarbeit von Baidur Kaulisch

A K A D E M I E - V E R L A G • B E R L I N 1977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/115/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4857 Einbandgestaltung: R. Kunze Bestellnummer: 7 531 618 (2083/53) • LS V 0265 Printed in GDR DDR 2 8 , - M

Inhalt

I. Einleitung : Zur imperialistischen Herrschaftsmethodik im allgemeinen und zur Herrschaftsmethodik des deutschen Imperialismus im besonderen 1. Zur aktuellen politischen Bedeutung des Erforschens und Darstellens imperialistischer Strategie und Taktik 2. Grundprobleme imperialistischer Herrschaftsmethodik 3. Grundtendenzen der Entwicklung der Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917 4. Zur innenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus vor 1914 5. Zur außenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus vor 1914 < 6. Zur Kriegszielpolitik des deutschen Imperialismus 1914 bis 1917 7. Zur innenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus 1914 bis 1917 - • • • 8. Zur Auswahl der Dokumente 9. Zur Bearbeitung der Dokumente II. Dokumententeil 1. Verzeichnis der Dokumente 2. Verzeichnis der Abkürzungen 3. Dokumente III. Registerteil 1. Personenregister 2. Sachregister

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1. Zur aktuellen politischen Bedeutung des Erforschens und Darstellens imperialistischer Strategie und Taktik Die Erforschung und Darstellung des raffinierten Systems imperialistischer Herrschaftsausübung ist politisch höchst aktuell. Bei der Errichtung, Aufrechterhaltung und Erweiterung ihrer Klassenherrschaft bedient sich die Monopolbourgeoisie sowohl innenals auch außenpolitisch verschiedenartiger Methoden. Diese lassen sich — ungeachtet vielfältiger, in den konkreten 1 Bedingungen des Klassenkampfes verwurzelter Unterschiede im einzelnen — auf zwei Grundmethoden reduzieren: auf die Methode offener, direkter innen- und außenpolitischer Gewaltanwendung einerseits und auf die Methode einer durch Zugeständnisse, durch „friedliche" Expansion sowie durch Heuchelei, Lüge und andere ideologische Verwirrungsmanöver verschleierten Machtausübung andererseits. Der Erfolg des antiimperialistischen Kampfes der unterdrückten Klassen und Schichten um ihre Befreiung, um Frieden, Demokratie und Sozialismus hängt in hohem Maße auch davon ab, inwieweit diese die Strategie und Taktik der einheimischen und fremden Klassenfeinde zu durchschauen und in ihrer eigenen Strategie und Taktik zu berücksichtigen vermögen. Das gilt auch für die Gegenwart, in der der Sozialismus/Kommunismus den Imperialismus nicht nur immer stärker zur Anerkennung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung zwingt, sondern auch immer mehr den Platz, die Formen und Methoden der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus bestimmt. Nach wie vor ist die Politik des Imperialismus äußerst widerspruchsvoll. Da er sich beider Methoden bedient, vermischen sich in seiner Politik realistische Tendenzen und Abenteurertum, die keineswegs in streng abgegrenzten Fraktionen der Bourgeoisie wirken, sondern — unterschiedlich ausgeprägt — in allen imperialistischen Kreisen anzutreffen sind. 1 Die herrschenden Klassen der imperialistischen Staaten modifizieren angesichts der Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus und i m Zuge ihrer durch die wachsende Stärke der sozialistischen Staatengemeinschaft erzwungenen Anpassung an die Politik der friedlichen Koexistenz ihre innenpolitischen Herrschaftsmethoden. Außenpolitisch bedienen sie sich in ihrem Kampf gegen den Sozialismus/ Kommunismus wie bei ihren neokolonialistischen Bestrebungen neben offener, direkter Machtausübung in zunehmendem Maße schwerer durchschaubarer Methoden versteckter, indirekter Gewaltanwendung. Deshalb kommt der historischen Analyse der Strategie und Taktik der herrschenden Klassen durch die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung erhöhte Bedeutung zu. Das gilt insbesondere für die historische Entwicklung .seit dem Übergang des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus. Viele Grundtendenzen in der Methodik imperialistischer Machtausübung bildeten sich zu Beginn des Imperialismus heraus. Deshalb vermag das Erforschen ihrer Ursachen 1

Vgl. Honecker, Erich, Zunehmende Verantwortung für den Schutz des Sozialismus, in: Berliner Zeitung Nr. 217 v. 12. 9. 1975.

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Einleitung

und Folgen zur Enthüllung des Charakters der Strategie und Taktik der herrschenden Klassen in der Gegenwart und so zur Aufdeckung der verborgenen Prozesse des Imperialismus 2 sowie zur weiteren wissenschaftlichen Fundierung der Strategie und Taktik der marxistisch-leninistischen P a r t e i e n 3 beizutragen. Die vertiefende Analyse der imperialistischen Herrschaftsmethodik durch die marxistisch-leninistische Historiographie ist auch deshalb höchst aktuell, weil sich die bürgerliche und die sozialreformistische Historiographie — vor altem in der B R D — verstärkt bemühen, das imperialistische deutsche Herrschaftssystem zu verteidigen und zu rechtfertigen. So wird die reformcrische Variante der Machtausübung als „demokratische" Alternative idealisiert u n d — so verfälscht — als „normale" imperialistische Politik gedeutet. Ihre Repräsentanten werden als Vorkämpfer f ü r eine „Politik der Mitte" glorifiziert, während die dieser Politik ebenso immanente andere Variante der offenen Gewalt als dem Imperialismus fremd, keinesfalls durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung verursacht erklärt wird. Erscheinungsformen offener, brutaler Methoden der Herrschaftsausübung interpretiert m a n als „unnormale" Störungen, Entgleisungen oder Übergangs' erscheinungen, die primär in der Ideologie und in vorindustriellen Sozialstrukturen verwurzelt oder sozialpsychologisch bedingt seien, nicht aber letztlich aus den monopolkapitalistischen Produktionsverhältnissen erwüchsen. 4 Dabei rücken in jüngster Zeit Erklärungsmodelle in den Vordergrund, die die sogenannten Auswüchse des deutschen Imperialismus als vor allem durch präkapitalistische Faktoren verursacht hinstellen. Die marxistisch-leninistische Historiographie hat mit dem Nachweis des spezifisch junkerlich-bürgerlichen Charakters des deutschen Imperialismus dessen historische Entwicklungsbedingungen schon immer berücksichtigt und in ihnen eine wichtige Ursache seiner besonderen Aggressivität und Volksfeindlichkeit erk a n n t . Zugleich h a t sie jedoch deutlich gemacht, d a ß die historisch bedingten nationalen Spezifika die Herrschaftsmethodik nur modifizieren und deshalb nicht ausreichen, das zutiefst antidemokratische, expansive und aggressive Wesen des imperialistischen Herrschaftssystems zu erklären. Die entscheidende Wurzel dieser immer wieder gewalt' samen Politik m u ß vielmehr im Monopolkapitalismus gesucht werden. Die gründliche Analyse der Herrschaftsmethodik und ihrer Ursachen erhärtet diese f ü r das Verständnis des Imperialismus grundlegende Erkenntnis.

2. Grundprobleme

imperialistischer

Herrschaftsmethodik

„. . . zwei Methoden des Kampfes f ü r ihre Interessen u n d f ü r die Verteidigung ihrer Herrschaft", die „bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen 2

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Jerussalirmki, A. S., Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Probleme und Quellen, in: ZfG 3/1962, S. 597. — Siehe dazu auch Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L., Aktuelle Probleme der politischen Ökonomie des heutigen Kapitalismus, Berlin 1975, S. 13 ff. Vgl. Hager, Kurt, Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften, in: Einheit 2/1975, S. 142. Siehe dazu Gutsche, Willibald, Zur Imperialismus-Apologie in der BRD. „Neue" ImperialismusDeutungen in der BRD-Historiographie zur deutschen Geschichte 1898—1917, Berlin 1975 ( = Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, hrsg. von Manfred B'uhr, Heft 63).

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Einleitung

und Folgen zur Enthüllung des Charakters der Strategie und Taktik der herrschenden Klassen in der Gegenwart und so zur Aufdeckung der verborgenen Prozesse des Imperialismus 2 sowie zur weiteren wissenschaftlichen Fundierung der Strategie und Taktik der marxistisch-leninistischen P a r t e i e n 3 beizutragen. Die vertiefende Analyse der imperialistischen Herrschaftsmethodik durch die marxistisch-leninistische Historiographie ist auch deshalb höchst aktuell, weil sich die bürgerliche und die sozialreformistische Historiographie — vor altem in der B R D — verstärkt bemühen, das imperialistische deutsche Herrschaftssystem zu verteidigen und zu rechtfertigen. So wird die reformcrische Variante der Machtausübung als „demokratische" Alternative idealisiert u n d — so verfälscht — als „normale" imperialistische Politik gedeutet. Ihre Repräsentanten werden als Vorkämpfer f ü r eine „Politik der Mitte" glorifiziert, während die dieser Politik ebenso immanente andere Variante der offenen Gewalt als dem Imperialismus fremd, keinesfalls durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung verursacht erklärt wird. Erscheinungsformen offener, brutaler Methoden der Herrschaftsausübung interpretiert m a n als „unnormale" Störungen, Entgleisungen oder Übergangs' erscheinungen, die primär in der Ideologie und in vorindustriellen Sozialstrukturen verwurzelt oder sozialpsychologisch bedingt seien, nicht aber letztlich aus den monopolkapitalistischen Produktionsverhältnissen erwüchsen. 4 Dabei rücken in jüngster Zeit Erklärungsmodelle in den Vordergrund, die die sogenannten Auswüchse des deutschen Imperialismus als vor allem durch präkapitalistische Faktoren verursacht hinstellen. Die marxistisch-leninistische Historiographie hat mit dem Nachweis des spezifisch junkerlich-bürgerlichen Charakters des deutschen Imperialismus dessen historische Entwicklungsbedingungen schon immer berücksichtigt und in ihnen eine wichtige Ursache seiner besonderen Aggressivität und Volksfeindlichkeit erk a n n t . Zugleich h a t sie jedoch deutlich gemacht, d a ß die historisch bedingten nationalen Spezifika die Herrschaftsmethodik nur modifizieren und deshalb nicht ausreichen, das zutiefst antidemokratische, expansive und aggressive Wesen des imperialistischen Herrschaftssystems zu erklären. Die entscheidende Wurzel dieser immer wieder gewalt' samen Politik m u ß vielmehr im Monopolkapitalismus gesucht werden. Die gründliche Analyse der Herrschaftsmethodik und ihrer Ursachen erhärtet diese f ü r das Verständnis des Imperialismus grundlegende Erkenntnis.

2. Grundprobleme

imperialistischer

Herrschaftsmethodik

„. . . zwei Methoden des Kampfes f ü r ihre Interessen u n d f ü r die Verteidigung ihrer Herrschaft", die „bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen 2

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Jerussalirmki, A. S., Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Probleme und Quellen, in: ZfG 3/1962, S. 597. — Siehe dazu auch Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L., Aktuelle Probleme der politischen Ökonomie des heutigen Kapitalismus, Berlin 1975, S. 13 ff. Vgl. Hager, Kurt, Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften, in: Einheit 2/1975, S. 142. Siehe dazu Gutsche, Willibald, Zur Imperialismus-Apologie in der BRD. „Neue" ImperialismusDeutungen in der BRD-Historiographie zur deutschen Geschichte 1898—1917, Berlin 1975 ( = Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, hrsg. von Manfred B'uhr, Heft 63).

Einleitung

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Kombinationen verflechten" 5 , hatte die Bourgeoisie bereits vor dem imperialistischen Stadium des Kapitalismus praktiziert. Lenin charakterisierte diese beiden grundlegenden Herrschaftsmethoden, die von der deutschen Sozialdemokratie seit der Ergänzung des Sozialistengesetzes durch die sogenannte Sozialgesetzgebung unter der Kanzlerschaft Otto von Bismarcks mit den Schlagworten ^Peitsche und Zuckerbrot" treffend gekennzeichnet wurden 6 , 1910 unter innenpolitischem Aspekt folgendermaßen: „Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Aufrechterhaltung aller alten und überlebten Institutionen, die Methode der unnachgiebigen Ablehnung von Reformen . . . Die zweite Methode ist die Methode des 'Liberalismus', der Schritte in der Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw." 7 Bereits 1899 hatte er die differenzierte Zielsetzung dieser beiden miteinander verschlungenen Methoden umrissen: „Das Zuckerbrot soll Schwache ködern, bestechen und demoralisieren; die Peitsche soll ehrliche und bewußte Kämpfer für die Sache der Arbeiter und des ganzen Yolkes einschüchtern und 'unschädlich machen'." 8 Diese „zwei Systeme des Regierens" 9 , die — wie noch zu zeigen sein wird — in ähnlicher Weise auch in der Außenpolitik angewandt wurden, erfuhren mit der Umwandlung des Staates in eine Diktatur der Monopolbourgeoisie eine besondere Ausprägung und wurden deshalb für den antiimperialistischen Kampf der Arbeiterklasse äußerst bedeutungsvoll. Daß die Monopolbourgeoisie in der Anwendung der beiden Methoden zunehmende Meisterschaft entwickelte, hatte, wie Lenin nachwies, objektive Ursachen. Diese ergaben sich aus der Verschärfung des Antagonismus zwischen dem die Demokratie negierenden Imperialismus und den zur Demokratie strebenden Massen. 10 Die dem Imperialismus immanente Verschärfung der beiden widersprüchlichen Tendenzen bestimmte nunmehr dessen Herrschaftsmethodik. Einerseits erstrebten die herrschenden Klassen die Negation der Demokratie durch verstärkte offen gewaltsame Unterdrückung, andererseits sahen sie sich zugleich unter dem Üruck des Kampfes der Arbeiterklasse und im Interesse der für sie erforderlichen und besonders im Krieg unabdingbaren Massenbasis in der Arbeiterklasse, aber auch in den rasch anwachsenden bürgerlichen Mittelschichten in zunehmendem Maße zu dem Versuch genötigt, die anschwellenden antiimperialistischen Bestrebungen der Volksmassen auch mit Hilfe der „liberalen" Methode in Bahnen zu lenken, die ihre Herrschaft nicht gefährdeten. Diese zweite Tendenz wurde durch das auf dem gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Imperialismus und Opportunismus beruhende Vordringen des Opportunismus in der Arbeiterbewegung begünstigt. Im Opportunismus erblickten allmählich immer mehr Teile der herrschenden Klassen die Möglichkeit einer Integration der Arbeiterbewegung in den Staat und damit ihrer „friedlichen" Unterwerfung. Ahnlich wie die Innenpolitik wurde auch die grundsätzlich expansive Außenpolitik Lenin, W. / . , Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Werke, B d . 16, Berlin 1962, S . 356. 6 W. I. Lenin verwies ausdrücklich auf diese Charakterisierung durch die deutschen Genossen (Lenin, W. / . , Entwurf eines P r o g r a m m s unserer Partei, i n : Werke, B d . 4, Berlin 1955, S. 230). 7 Ders., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, i n : Werke, B d . 16, S. 356. 8 Ders., Entwurf eines P r o g r a m m s unserer Partei, i n : Werke, B d . 4, S. 231. 9 Ders., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, i n : Werke, B d . 16, S. 356. » Ders., Antwort an P . Kijewski ( J . Pjatakow), i n : Werke, B d . 23, Berlin 1957, S . 14. 5

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Einleitung

von zwei widersprüchlichen Tendenzen b e s t i m m t : Einerseits drängten die herrschenden Klassen der Großmächte u m der Erzielung v o n Maximalprofiten willen u n d angesichts der durch die ungleichmäßige Entwicklung der kapitalistischen S t a a t e n zunehmenden Widersprüche nach gewaltsamem, offen annexionistischem, erforderlichenfalls militärischem K a m p f u m die Neuaufteilung der Macht- u n d Einflußsphären der E r d e . Andererseits sahen sie sich durch d a s wechselnde Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Rivalen und durch den K a m p f der Arbeiterklasse gegen die Kriegsgefahr in ihren eigenen Ländern gezwungen, sich zeitweilig vorwiegend auf die Methode „friedlicher", ökonomischer E x p a n s i o n zu beschränken. Sie ergänzten auch ihre Methode der „ P e i t s c h e " durch „ Z u c k e r b r o t " , wenn sie die Bevölkerung unterjochter Gebiete oder für die ökonomische bzw. politische Annexion vorgesehener Territorien „gewinnen" wollten. Zu diesen unterschiedlichen außenpolitischen Methoden bemerkte Lenin 1916: „ D a s große Finanzkapital eines L a n d e s ist stets in der L a g e , seine Konkürrenten auch in einem fremden, politisch unabhängigen L a n d a u f z u k a u f e n , und t u t dies auch ständig . . . Die ökonomische 'Annexion' ist durchaus 'realisierbar' ohne die politische und begegnet u n s s t ä n d i g . " 1 1 (Vgl. z. B . Dok. 4, 9, 10, 51, 52, 53, 63, 69, 85, 103) Zugleich verwies er d a r a u f , d a ß auch die „ ö k o n o m i s c h e " E x p a n s i o n in letzter K o n s e q u e n z auf die direkte politische Inbesitznahme abzielt: „Aber selbstverständlich bietet d e m F i n a n z k a p i t a l die meisten 'Annehmlichkeiten' und die größten Vorteile eine solche Unterwerfung, die mit d e m Verlust der politischen U n a b h ä n g i g k e i t der L ä n d e r und Völker, die unterworfen werden, verbunden i s t . " ( V g l . z. B . Dok. 11, 19, 42, 53, 60, 61, 65, 71, 83, 97, 101, 115, 117, 121) Diese beiden E x p a n s i o n s m e t h o d e n analysierten auch die Linken in der deutschen Arbeiterbewegung. S o enthüllten sie während des ersten Weltkrieges, daß die bürgerlichen Gruppen keineswegs geschlossen für Annexionen einträten, denn f ü r einige von ihnen könne eine „wirtschaftliche V e r k n ü p f u n g " vorteilhaft sein. Zugleich betonten sie jedoch — z. B . im Hinblick auf die Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden K l a s s e n u m die F o r m der Unterjochung Belgiens — d a s grundlegende gemeinsame politische Ziel beider Methoden: „ D e r Unterschied ist, d a ß im ersten Falle Belgien im scharfen F e u e r gebraten, im zweiten auf l a n g s a m e m F e u e r geschmort w ü r d e . " 1 3 Zwischen der bevorzugten Anwendung einer dieser beiden Methoden in der Innenund in der Außenpolitik bestanden .vielfältige Wechselwirkungen. Einerseits bedingten bestimmte e x p a n s i v e Ziele in der Außenpolitik die stärkere Berücksichtigung einer der beiden Methoden im Inneren, setzte die imperialistische E x p a n s i o n insgesamt, vor allem hinsichtlich ihrer kriegerischen Verwirklichung, eine innenpolitische Methodik voraus, durch welche die Volksmassen für eine „freiwillige" Unterstützung der Eroberungspolitik gewonnen werden sollten. Andererseits sahen sich die herrschenden Klassen auf Grund von innenpolitischen Notwendigkeiten, vor allem mit Rücksicht auf K a m p f a k t i o n e n der revolutionären Arbeiterbewegung, zur Modifizierung ihrer außenpolitischen Strategie und T a k t i k gezwungen. Die objektiven Erfordernisse der kapitalistischen Entwicklung und die Widersprüche

Ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus, in: Werke, Bd. 23, S. 36. — Vgl. dazu (lers., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 264. . « Ebenda, Bd. 22, S. 264. )3 Spartakusbriefe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der S E D , Berlin 1958, S. 30ff., Spartakusbrief Nr. 6 vöm September 1915. 41

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im eigenen Lager zwangen die Bourgeoisie bereits vor dem imperialistischen Stadium, verstärkt auch reformerische Methoden anzuwenden. Im Zeitalter des Buchdrucks und des Parlamentarismus konnten die Volksmassen nicht mehr ohne ein weitverzweigtes, systematisch angewandtes, solide ausgerüstetes System von Schmeichelei, Lüge und Gaunerei geführt werden, „das mit populären Modeschlagworten jongliert, den Arbeitern alles mögliche, beliebige Reformen und beliebige Wohltaten verspricht — wenn diese nur auf den revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie verzichten" 1 4 . „Die normale kapitalistische Gesellschaft kann sich nicht erfolgreich entwickeln ohne ein gefestigtes Repräsentativsystem, ohne gewisse politische Rechte der Bevölkerung, die selbstverständlich verhältnismäßig hohe Ansprüche in 'kultureller' Hinsicht stellt. Diese Ansprüche auf ein bestimmtes Minimum an Kultur werden erzeugt durch die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise selbst mit ihrer hohen Technik, ihrer Kompliziertheit, Elastizität, Beweglichkeit, mit der raschen Entwicklung der Weltkonkurrenz u s w . " 1 5 Deshalb mußte die Bourgeoisie, anstatt offen, prinzipiell und direkt alle Grundsätze des Sozialismus im Namen der absoluten Unantastbarkeit des Privateigentums zu bekämpfen, häufiger dazu übergehen, die sogenannte soziale Reform gegen die Idee der sozialen Revolution zu verfechten. „Nicht Liberalismus gegen Sozialismus, sondern Reformismus gegen sozialistische Revolution — das ist die Formel der modernen 'fortgeschrittenen', gebildeten Bourgeoisie." 1 6 Die Tendenz zur verstärkten Anwendung der „liberalen" Methode ergab sich vor allem in der Zeit der Kriegsvorbereitung und der Kriegführung. (Vgl. Dok. 89, 91, 92, 93, 99, 100, 108, 120, 122, 133) „Nie", schrieb Lenin, „ist eine Regierung auf die Zustimmung aller Parteien der herrschenden Klassen und auf die 'friedliche' Unterwerfung der unterdrückten Klassen unter diese Herrschaft so sehr angewiesen wie während eines Krieges." 1 7 Diese objektiven Zwänge nahmen mit dem Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus durch die Verschärfung aller Widersprüche des Kapitalismus weiter zu, insbesondere durch die Erfordernisse der Führung imperialistischer Kriege. Der imperialistische Krieg bezog die Volksmassen auf Grund der modernen Kriegstechnik, der darauf beruhenden ökonomischen Anforderungen und des Einsatzes von Massenheeren in bisher nie gekanntem Ausmaß unmittelbar ein. Die daraus resultierende Bedeutung des moralisch-politischen Faktors zwang die Herrschenden zu dem Versuch, die Arbeiterklasse vor allem durch „liberale" Methoden für den Krieg zu mobilisieren. Mit dem Übergang zum Imperialismus verschob sich durch die großen Wandlungen in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen die Klassengrundlage der Herrschaftsmethoden. Machte Lenin einerseits auf die wachsende Bedeutung der bisher von der Bourgeoisie getragenen „liberalen" Methode gegenüber der ursprünglich allein von der Großgrundbesitzerklasse getragenen Methode offener Gewalt aufmerksam, so verwies er andererseits auf die für das monopolistische Stadium des Kapitalismus wesentliche Erscheinung, daß die „konservative Politik, die Methode der unnachgiebigen Ablehnung von Reformen", in Westeuropa immer mehr aufhöre, die Politik der Großgrundbesitzerklassen zu sein.

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Lenin, H. /., Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: Werke, Bd. 23, S. 114f. Ders., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung in: Werke, Bd. 16, S. 356f. Ders., Der Reformismus in der russischen Sozialdemokratie, in: Werke, Bd. 17, Berlin 1963, S. 216. Ders., Zusammenbruch der II. Internationale, in: Werke, Bd. 21, Berlin 1960, S. 208.

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Diese entwickle sich „immer mehr zu einer der Spielarten der allgemeinen bürgerlichen Politik"«. • Mit Herausbildung des junkerlich-bürgerlichen Ausbeuterblocks im Deutschen Reich traten auch kapitalistisch wirtschaftende Junker häufiger als Verfechter „liberaler" Unterdrückungsmethoden auf. Unter den neuen monopolkapitalistischen Bedingungen wurden die beiden Herrschaftsmethoden zu Varianten imperialistischer Politik. Für deren bevorzugte Anwendung plädierten — durch die Besonderheiten der Klassenstruktur des jeweiligen Staates modifiziert — vor allem zwei auf Grund unterschiedlicher ökonomischer und politischer Interessen sich herausbildende Hauptströmungen der Monopolbourgeoisie. Durch den zutiefst reaktionären Charakter des Imperialismus bedingt, wurde die Methode der offenen Gewalt — ungeachtet der weiteren Ausprägung der reformerischen Variante imperialistischer Machtausübung — zu einem Mittel der Politik, dessen sich alle Monopolgruppen mehr oder weniger bedienten. Jürgen Kuczynski hat für den deutschen Imperialismus festgestellt: „Es besteht für den Historiker die Gefahr, bei näherem Studium der Linien der beiden Monopolgruppen aus der größeren Gerissenheit und auf Grund der schlaueren Taktik von Elektro—Chemie gegenüber Kohle—Eisen—Stahl in der Vorbereitung des ersten Weltkrieges auf mindere Barbarei der ersten Gruppe zu schließen. Rathenau forderte jedoch genau wie Stinnes und Krupp die Deportation von 700000 Belgiern zur Zwangsarbeit nach Deutschland . . . " J 9 Und man kann im Hinblick auf die Außenpolitik hinzufügen: Auch Rathenau t r a t im Falle einer militärischen Niederlage Englands wie die Alldeutschen für eine „politische und wirtschaftliche Deklassierung Frankreichs und Englands" und für „bedeutende Veränderungen der Landkarte" Europas ein. 20 Stets miteinander verbunden und sich gegenseitig durchdringend und ergänzend, kommt es in der Entwicklung der imperialistischen Herrschaftsmethodik — kurzfristig und langfristig — zu Kursänderungen dergestalt, daß auch „die verschiedenen Länder in bestimmten Perioden vorwiegend die eine oder die andere Methode entwickeln" 2 1 . Diese „Schwankungen in der Taktik der Bourgeoisie", diese „Zickzackwege der bürgerlichen Taktik", werden letztlich durch objektive Ursachen bedingt. „Nicht aus böser Absicht einzelner Personen und nicht zufällig", bemerkte Lenin 1910, „geht die Bourgeoisie von der einen Methode zur anderen über, sondern infolge der radikalen Widersprüche ihrer eigenen Lage." 2 2 Die Wandlungen in der Strategie und Taktik dei' herrschenden Klassen werden vor allem durch das sich verändernde Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, insbesondere durch den antiimperialistischen Kampf der Arbeiterklasse, sowie durch Veränderungen 18 19

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Ders., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Werke, Bd. 16, S. 356. Kuczynski, Jürgen, Die Barbarei — extremster Ausdruck der Monopolherrschaft in Deutschland, in: ZfG 7/1964, S. 1499f. Weltherrschaft im Visier. Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945, hrsg. u. eingel. von Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler unter Mitarbeit von Willibald Gutsche und Wolfgang Rüge, Berlin 1975, Dok. 25, S. 83, W. Rathenau an Th. v. Bethmann Hollweg, 7. 9. 1914. Lenin, W. / . , Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Werke, Bd. 16, S. 357. Ebenda, S. 356. — Lenin unterschied, insbesondere vor 1917, selten zwischen den Begriffen „Strategie" und „Taktik". Er verwandte den Begriff der Taktik häufig zur Kennzeichnung der gesamten politischen Linie.

Einleitung

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im internationalen Kräfteverhältnis verursacht. Dabei gilt es zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich zwischen der Ebene der längerfristig wirksamen strategischen Grundtendenz der gesamten Herrschaftsmethodik des Staates, die durch langfristige Prozesse des Klassenkampfes, durch grundlegende, qualitative Verschiebungen im politischen Kräfteverhältnis der Klassen und in der internationalen Arena bedingt wird, und der Ebene der kürzerfristig wechselnden stärkeren Bevorzugung der einen oder der anderen Methode innerhalb dieser längerfristigen Grundtendenz, der taktischen Ilerrschaftsmethodik, die sich aus kürzerfrisligen Veränderungen quantitativer Art im Klassenkampf und im internationalen Rahmen ergibt. Da sich strategische und taktische Zielsetzungen nicht nur bedingen, sondern häufig auch durchdringen, wird eine genaue Analyse der imperialistischen Herrschaftsmethodik stets beide Ebenen in ihrer dialektischen Beziehung zu beächten haben. Die aus dem längerfristig wirksamen, letztlich in den Produktionsverhältnissen verwurzelten politischen Kräfteverhältnis der Klassen und dem internationalen Kräfteverhältnis resultierende strategische Grundtendenz der gesamten Ilerrschaftsmethodik des imperialistischen Staates für einen längeren Zeitraum findet ihren höchsten Ausdruck in einem Herrschaftssystem, das in der Regel auf einer bestimmten, verfassungsmäßig verankerten Staatsform basiert bzw. diese benutzt. Eine Änderung des Herrschaftssystems kann auch eine Veränderung der verfassungspolitischen Form verursachen. Der sich ohne verfassungsändernde Folgen vollziehende Sturz des bonapartistischen Systems Ende der neunziger J a h r e des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich 2 3 zeigt jedoch, daß sich voneinander unterscheidende Herrschaftssysteme durchaus auch der gleichen Staatsform bedienen können. Dabei entsprechen den dem Imperialismus immanenten widersprüchlichen Tendenzen — dem Drang zur Negation der Demokratie durch offene Gewalt und dem Zwang zur reformerischen Reaktion auf den zunehmenden Kampf der Volksmassen gegen Imperialismus und Krieg — zwei Grundtypen von Staatsformen, mit deren Hilfe die herrschenden Klassen ihre Diktatur ausüben: die bürgerlich-parlamentarische Demokratie einerseits und die offene Diktatur andererseits. Zwischen diesen beiden Grundtypen gibt es — entsprechend der jeweiligen Situation — weitere spezifische Staatsformen in verschiedenen Abstufungen und Mischungsverhältnissen. Indem das Herrschaftssystem und die ihm adäquate Staatsform längerfristig auch die Mittel und Methoden der Ausübung der Staatsgewalt fixieren, präjudizieren sie die „Zickzackwege" der Herrschaftsmethodik auf der zweiten Ebene insofern, als sie für einen längeren Zeitraum den Rahmen für die Relationen zwischen den beiden Methoden abstecken und den Spielraum — gleichsam die Amplituden — der Zickzackwege der kürzerfristigen Herrschaftsmethodik abgrenzen. Veränderungen in der längerfristigen strategischen Herrschaftsmethodik ergeben sich dann, wenn sich im Kräfteverhältnis der Klassen grundlegende Wandlungen vollziehen. Diese zwingen die Herrschenden, ihre bisherige Politik generell zu überprüfen und die strategischen Ziele zu ändern. Entweder kommt dies im Übergang zu einem neuen Herrschaftssystem unter der bisherigen Staatsform zum Ausdruck oder — wenn dies in dem durch die bisherige Staatsform abgesteckten Rahmen bzw. durch ihre Modifizierung nicht möglich ist — in einer veränderten Staatsform. Praktisch vollzieht sich der Wechsel in der strategischen Herrschaftsmethodik über 23

Siehe dazu Engelberg, Ernst, Deutschland von 1871 bis 1897 (Deutschland in der Übergangsperiode zum Imperialismus), Berlin 1965, S. 297 f.

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einen Wandel im Kräfteverhältnis zwischen den Hauptströmungen innerhalb der herrschenden Klassen, die auf Grund unterschiedlicher ökonomischer und politischer Sondern interessen längerfristig Konzeptionen verfechten, die mehr der einen oder der anderen Methode zuneigen. Während die längerfristige strategische Grundtendenz die gesamte Herrschaftsmethodik des Staates erfaßt, berührt der kurzfristige Wechsel in der Bevorzugung der einen oder anderen Methode nicht unbedingt alle Bereiche der staatlichen Politik, sondern häufig nur Teilbereiche. Dieser Wechsel vollzieht sich praktisch zumeist dadurch, daß — bedingt durch innenoder außenpolitische Krisen — die Mehrheit der herrschenden Klassen zeitweilig für die stärkere Anwendung einer der beiden Methoden plädiert. Dabei übernimmt jene Strömung, deren Konzeption dem imperialistischen Gesamtinteresse in der gegebenen Situation am ehesten entspricht oder zu entsprechen scheint und die auf diese Methode konzeptionell am besten vorbereitet ist, die Führung. Diese Führungsrolle muß nicht mit der dominierenden ökonomischen oder politischen Machtstellung der betreffenden Strömung identisch sein. Unabhängig von der zeitweiligen Bevorzugung dieser oder jener Methode in der offiziellen Politik oder in den verschiedenen bürgerlichen Parteien verfechten längerfristig zwei Hauptströmungen der herrschenden Klassen, die auch innerhalb der Parteien in abgestufter, mehr oder weniger ausgeprägter Form präsent sind, vorwiegend eine der beiden Methoden und tragen zur Modifizierung der offiziellen Taktik bei. 24 Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß bei der Analyse dieses Prozesses sorgfältig zwischen den beiden Methoden imperialistischer Herrschaft und den in diesem Band nicht dokumentierten progressiven bürgerlich-demokratischen, antimilitaristischen und antiimperialistischen Tendenzen innerhalb der Bourgeoisie — sie sind für die Bündnispolitik der revolutionären Arbeiterbewegung sehr bedeutungsvoll — unterschieden werden muß. Lenin analysierte die zwei Methoden imperialistischer Herrschaft vor allem unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Kampf der Arbeiterklasse. Objektiv ist die häufig kurzfristig wechselnde Anwendung der beiden Methoden stets ein Spiel mit verteilten Rollen. Unmittelbar kann diese politische Praxis — z. B. die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Linken in der Arbeiterbewegung und die Unterstützung opportunistischer Parteiund Gewerkschaftsführer während des ersten Weltkrieges durch die deutsche Reichsleitung — ganz gezielt als demagogisches Manöver angelegt sein. (Vgl. z. B. Dok. 100, 115, 130) Zumeist ergibt sie sich jedoch — gewissermaßen ungeplant — aus unterschiedlichen ökonomischen und politischen Sonderinteressen und daraus abgeleiteten scharfen Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Strömungen oder Gruppierungen innerhalb der herrschenden Klassen über die für sie beste Reaktion auf Kampfaktionen der Unterdrückten bzw. über die erfolgreichste Art und Weise der Expansion. Das war z. B. während des ersten Weltkrieges bei den Auseinandersetzungen um den Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges der Fall, den die Spartakusgruppe als „einen Kampf verschiedener 24

Siehe dazu Gutsche, Willibald, Zum Funktionsmechanismus zwischen S t a a t und Monopolkapital in Deutschland in den ersten Monaten des ersten Weltkrieges (1914—1915), in: J f W , Teil 1/1973, S . 63 ff.; Gossweiler, Kurt, Großbanken, Industriemonopole, S t a a t . Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914—1932, Berlin 1971, S. 56.

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Kapitalistenfraktionen um die Herrschaft in der Kriegspolitik", als ein „Stück innenpolitischen Machtkampfes" charakterisierte, der zugleich ein „Spiel mit verteilten Rollen" sei, um die Verräterpolitik der rechten Partei- und Gewerkschaftsführer zu erleichtern. 2 5 (Vgl. dazu Dok. 124, 127, 137, 140, 141) Es traf auch für den Streit um die Kriegsziele zu. (Vgl. dazu Dok. 100, 105, 110, 117, 119, 121) Letztlich entscheidend sind aber in beiden Fällen die bereits genannten objektiven Faktoren, wobei die infolge andersgearteter Sonderinteressen unterschiedliche Beurteilung innen- und außenpolitischer Ereignisse und Prozesse eine Rolle spielt, wie sie z. B. den Meinungsverschiedenheiten der deutschen Imperialisten über die Stellung des Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung und über die anzuwendenden Unlerdrückungsmelhoden gegenüber der Sozialdemokratie zugrunde lagen. (Vgl. z. B. Dok. 14, 15, 16, 29, 37, 38, 43, 47, 48) Aber „erst die gleichzeitige Existenz verschiedener Linien imperialistischer Politik gibt dieser die Elastizität, sich an neue Situationen anzupassen und eine kompromittierte und festgefahrene Politik gegen eine 'neue' auszutauschen, die dasselbe Ziel auf geschicktere Weise zu erreichen sucht". Dem Gegeneinander verschiedener imperialistischer Linien wohnt „objektiv stets auch das Moment der gleichzeitigen Arbeitsteilung" inne, „unabhängig davon, ob sich die imperialistischen Politiker dessen bewußt sind oder nicht" 2 6 . Diese Elastizität ist um so größer, je größer die relative Selbständigkeit des Staates bei der Wahrnehmung des imperialistischen Gesamtinteresses ist. Der Rahmen dieser Selbständigkeit ist um so weiter, je stärker die Sonderinteressen innerhalb der herrschenden Klassen bei einem relativ ausgeglichenen Kräfteverhältnis zwischen ihnen und den unterdrückten Klassen sowie zwischen den Strömungen innerhalb der herrschenden Klassen divergieren. Im Zusammenhang mit der Frage nach den klassenmäßigen Ursachen bonapartistischer Herrschaftsmethoden stellte Lenin 1912 fest, daß eine Regierung — natürlich in einem gewissen, ziemlich engen Rahmen — durch „die Herausbildung eines Gleichgewichts der Kräfte einander feindlicher oder miteinander konkurrierender Klassen" und „bei einem gewissen Ausgleich der Kräfte dieser Konkurrenten mehr Selbständigkeit erhalten" könne als „bei entscheidendem Übergewicht einer dieser Klassen". Die Grenzen dieser Selbständigkeit seien dabei „um so weiter, je mehr die Regierung historisch an besonders 'klare' Formen" des Absolutismus, an Traditionen des Militarismus und Bürokratismus gebunden ist. 27 Die relative Selbständigkeit des Staates in der praktischen Anwendung der beiden Linien der Herrschaftsmethodik, die im Deutschen Reich vor 1918 durch solche Faktoren begünstigt wurde, nahm aber mit der besonders seit dem Beginn des ersten Weltkrieges sich verstärkenden Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus wieder ab. Sie spielte jedoch auch im staatsmonopolistischen Herrschaftsmechanismus angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen und des Vordringens des Opportunismus in der Arbeiterbewegung in dem hier behandelten Zeitraum weiterhin eine gewichtige Rolle. 28 2« Spartakusbriefe, 26

Gossweiler,

S. 30ff., Spartakusbrief Nr. 16 v. 30. 3. 1916.

Kurt, S. 57.

Lenin, IV. /., Die Geistlichkeit bei den Wahlen und die Wahlen mit der Geistlichkeit, in: Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 334. — Zur Gesetzmäßigkeit der relativen Selbständigkeit des Staates vgl. Marx/Engels, Werke, Bd. 37, Berlin 1967, S. 490, Engels an Schmidt, 27. 10. 1890. 28 Siehe dazu Gutsche, Willibald, Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in:

27

2 Gutsche, Strategie

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Für die Beurteilung durch die revolutionäre Arbeiterbewegung entscheidend sind die letzten Endes objektiv gleichartige politische Zielsetzung und Wirkung beider Methoden, das grundlegende, gemeinsame Interesse aller Strömungen der herrschenden Klassen, das sich unter den Bedingungen des Imperialismus und der allgemeinen Krise des Kapitalismus gegenüber den spezifischen Interessen verstärkt. 2 9 Deshalb gilt es vor allem den gleichermaßen reaktionären Charakter beider Methoden imperialistischer Politik zu enthüllen. Doch dürfen bei der Analyse der Herrschaftsmethoden und bei den Schlußfolgerungen für die Strategie und Taktik des antiimperialistischen Kampfes die Unterschiede im Hinblick auf deren Ursachen nicht übersehen werden. Das bewußt angelegte Spiel mit verteilten Rollen verlangt andere strategisch-taktische Konsequenzen als die ungeplante Praxis beider Methoden im Ergebnis von objektiven Interessengegensätzen innerhalb der herrschenden Klassen, die für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse ausgenutzt werden können. Wolle jemand, schrieb Lenin 1908, aus der konterrevolutionären Gesinnung der bürgerlichen Liberalen folgern, „ihre Opposition und Unzufriedenheit, ihre Konflikte mit den reaktionären Gutsbesitzern oder überhaupt die Konkurrenz und der Kampf der verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie gegeneinander würden im Prozeß des Heranreifens eines neuen (revolutionären — d. Verf.) Aufschwungs ohne jede Bedeutung sein, so wäre dies ein sehr schwerer Fehler, regelrechter Menschewismus mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Erfahrungen der russischen Revolution wie auch die Erfahrungen anderer Länder erweisen unwiderleglich: Wenn die objektiven Voraussetzungen für eine tiefe politische Kvise gegeben sind, dann können auch die kleinsten, vom wirklichen Herd der Revolution scheinbar weit weg liegenden Konflikte größte Bedeutung haben — als Anlaß, als der Tropfen, der den Becher zum Überlaufen bringt, als Beginn eines Umschwungs in der Stimmung usw." 3 0 Lenin schenkte den verschiedenen imperialistischen Herrschaftsmethoden vor allem aus zwei Gründen große Aufmerksamkeit: Erstens erblickte er in ihrer ständigen Analyse eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer erfolgreichen Strategie und T a k t i k der revolutionären Arbeiterbewegung. „Wäre die Taktik der Bourgeoisie immer die gleiche oder zumindest immer gleichartig, so würde die Arbeiterklasse rasch lernen, sie mit einer ebenso gleichbleibenden oder gleichartigen Taktik zu beantworten." 3 1 Deren Meinungsverschiedenheiten über die Zweckmäßigkeit einzelner Maßnähmen hielt er ebenso lehrreich für das Proletariat wie jeden anderen „häuslichen" Streit im Lager der Ausbeuter, weil bei diesen Streitigkeiten „der Unterschied zwischen den gemeinsamen Interessen der ganzen Klasse der Kapitalisten oder der Grundbesitzer und den Interessen einzelner Personen oder einzelner Gruppen anschaulich zutage" trete und „nicht selten ausgeplaudert" werde, „was man sonst sorgfältig zu verbergen pflegt" 3 2 . Studien zum deutschen Imperialismus vor 1914, hrsg. von Fritz Klein, Berlin 1976, S. 64 ff., 72ff. — Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L. (S. 107ff.) konstatieren für den heutigen staatsmonopolistischen Kapitalismus eine im Vergleich zum Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte relative Selbständigkeit des Staates, die vor allem durch dessen gewachsene ökonomische Potenz bedingt sei. 29 Siehe dazu Fricke, Dieter, Methodologische Probleme der Erforschung der Geschichte der bürgerlichen Parteien, in: ZfG 2/1965, S. 206f. 30 Lenin, W. I., Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage, in: Werke, Bd. 15, S. 273. 31 Ders., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Werke, Bd. 16, S. 356. 32 Ders., Zufällige Notizen, in: Werke, Bd. 4, S. 408.

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Eindringlich warnte Lenin davor, derartigen „Familienstreitigkeiten" eine eigenständige Bedeutung zuzuweisen. Mit Nachdruck forderte er jedoch, „jegliche Konflikte auszunutzen, sie anzufachen, ihre Bedeutung zu erweitern", die „eigene Agitation für die revolutionären Losungen mit ihnen zu verbinden, die Kunde von diesen Konflikten in die breiten Massen zu tragen, diese zu selbständigen und offenen Aktionen mit eigenen Forderungen aufzurütteln usw." 3 3 und den Massen den „Zusammenhang der Reformen der Regierung mit dem Kampf der Arbeiter" zu zeigen, das Proletariat zu lehren, „sich jede Reform zunutze zu machen, um seine Kampfpositionen zu stärken, um die Arbeiterbewegung auszubreiten und zu vertiefen". 3 4 Zweitens erblickte Lenin in der ständigen Analyse der verschiedenen Tendenzen imperialistischer Herrschaftsmethodik eine unabdingbare Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf gegen alle Versuche, „das politische Bewußtsein des Volkes durch bürokratische Bevormundung und Scheinalmosen zu korrumpieren und zu trüben" 3 5 . Dabei enthüllte er insbesondere den für die Entwicklung vor der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution charakteristischen Zusammenhang zwischen der bürgerlichen Strategie und T a k t i k und der Begünstigung des Revisionismus. In den „Veränderungen in der Taktik der herrschenden Klassen im allgemeinen und der Bourgeoisie im besonderen" sah er eine wichtige Ursache für Differenzen in der Arbeiterbewegung. Während die Methode der offenen Gewalt am Ende des 19. Jahrhunderts das Anwachsen des Anarchosyndikalismus begünstigt habe, bestehe der Widerhall auf das bürgerliche Reformertum nun in einer Begünstigung des Opportunismus. Wegen der Stärkung des Revisionismus bezeichnete Lenin die „liberale" Herrschaftsmethode der „intelligenten" Bourgeoisie als die im Vergleich zur Methode der offenen Gewalt größere Gefahr für die Arbeiterbewegung. „Die Zickzackwege der bürgerlichen T a k t i k " , schrieb er 1910 resümierend, „haben eine Stärkung des Revisionismus in der Arbeiterbewegung zur Folge und steigern nicht selten die Differenzen innerhalb der Arbeiterbewegung bis zur direkten Spaltung." 3 0 Durch die „liberale", die „schlauere" bürgerliche Politik ließen sich ein Teil der Arbeiter, ein Teil ihrer Vertreter täuschen. „Die Revisionisten erklären die Lehre vom Klassenkampf für 'veraltet' oder schlagen eine Politik ein, die in der Praxis die Abkehr vom Klassenkampf bedeutet." 3 7 Lenin bezeichnete die „liberale" Methode für die Arbeiterklasse deshalb als bedrohlicher, weil die Kraft der proletarischen Kämpfer nur dann als wirkliche Kraft wirksam werde, „wenn es die Kraft der klassenbewußten Arbeitermassen" sei. Das Bewußtsein der Massen werde nicht durch Gewaltakte und Zuchthausgesetze getrübt, sondern durch „falsche Freunde der Arbeiter, durch die liberalen Bourgeois, die die Massen vom wirklichen Kampf durch hohle Phrasen über den Kampf ablenken" 3 8 . Diese Erkenntnis, die der konkreten Situation entsprach, schloß die Ausnutzung der Ders., Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage, in: Werke, Bd. 15, S. 274; ders., Die Bedeutung der Wahl Poincares, in: Werke, Bd. 18, S. 479. 34 Ders., Entwurf eines Programms unserer Partei, in: Werke, Bd. 4, S: 231. 35 Ebenda, S. 230. 36 Ders., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Werke, Bd. 16, S. 357. 37 Ebenda. 38 Ders., Vorwort zur russischen Ausgabe der Broschüre Wilhelm Liebknechts „Kein Kompromiß, kein Wahlbündnis", in: ders., Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung. Aus Schriften, Reden, Briefen, besorgt vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1957, S. 149ff.; ders., Werke, Bd. 11, Berlin 1958, S. 40211. 33

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strategisch-taktischen Differenzen im Lager der Imperialisten nicht aus. Im Gegenteil! Gerade in der Ausnutzung des durch „liberale" Methoden sich bietenden Spielraums erblickte Lenin zugleich die Möglichkeit, die Kampfpositionen des Proletariats zu stärken. Da eine solche erfolgreiche Strategie und Taktik aber ein klares Klassenbewußtsein der Arbeitermassen voraussetzte, hob er die Gefahren der liberalen Methode für das Klassenbewußtsein besonders hervor, betonte er immer wieder die Notwendigkeit einer gründlichen konkreten Analyse der Herrschaftsmethodik als Voraussetzung für die Gewinnung eines proletarischen Klassenstandpunktes: „Was das Resultat dieser entgegengesetzten Tendenzen ist, welches Wechselverhältnis zwischen der konservativen und der liberalen Stimmung oder Richtung in der Bourgeoisie im gegebenen Zeitpunkt besteht — das kann man nicht aus ein paar allgemeinen Thesen schließen; das hängt von allen Eigentümlichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Lage im gegebenen Zeitpunkt ab. Um das zu bestimmen, muß man diese Lage genau kennen und alle Zusammenstöße zwischen der Regierung und ganz gleich welcher Gesellschaftsschicht aufmerksam verfolgen." 39

3. Grundtendenzen der Entwicklung der Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917 Wurde bisher auf grundlegende, übergreifende Probleme der Thematik hingewiesen, so zielen die folgenden Ausführungen darauf ab, die Einordnung und die kritische Auswertung der vielschichtigen zeitgenössischen Zeugnisse zu erleichtern. Die von Lenin erkannte allgemeine Gesetzmäßigkeit, daß der Imperialismus den Antagonismus zwischen der Negation der Demokratie und den zur Demokratie strebenden Massen verschärft, 40 bestimmte auch die Entwicklung der Herrschaftsmethoden im Deutschen Reich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend der Oktoberrevolution. „Im deutschen Imperialismus gipfelte alles Reaktionäre und Fortschrittsfeindliche der bisherigen deutschen Geschichte. Die traditionelle Volksfeindlichkeit und Aggressivität des preußisch-deutschen Militarismus des 18./19. Jahrhunderts verschmolzen mit dem neuen, für den Imperialismus allgemein charakteristischen Drang zur Negation der Demokratie im Innern, zur Aggression und zur bewaffneten Auseinandersetzung um eine Neuaufteilung der Welt. Gerade diese spezifische Verbindung gab dem junkerlich-bourgeoisen Imperialismus sein besonders gewalttätiges und aggressives Gepräge." 4 1 Es verstärkte sich zunehmend mit dem rapid fortschreitenden Monopolisierungsprozeß und mit der Herausbildung eines in den Hauptfragen der Klassenauseinandersetzung sowie im Streben nach einer Neuaufteilung der Erde einheitlich handelnden Ausbeuterblocks. 42 39 40

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Ders., Politische Agitation und „Klassenstandpunkt", in: Werke, Bd. 5, S. 348. Ders., Antwort an P. Kijewski (J. Pjatakow), in: Werke, Bd. 23, S. 14. — Vgl. dazu: Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L., S. 108 f. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß (im folgenden: Grundriß), hrsg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1974, S. 317. Siehe dazu Klein, Fritz, Deutschland von 1 8 9 7 / 9 8 bis 1917 (Deutschland in der Periode des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution), 3., Überarb. u. erw. Aufl.,

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strategisch-taktischen Differenzen im Lager der Imperialisten nicht aus. Im Gegenteil! Gerade in der Ausnutzung des durch „liberale" Methoden sich bietenden Spielraums erblickte Lenin zugleich die Möglichkeit, die Kampfpositionen des Proletariats zu stärken. Da eine solche erfolgreiche Strategie und Taktik aber ein klares Klassenbewußtsein der Arbeitermassen voraussetzte, hob er die Gefahren der liberalen Methode für das Klassenbewußtsein besonders hervor, betonte er immer wieder die Notwendigkeit einer gründlichen konkreten Analyse der Herrschaftsmethodik als Voraussetzung für die Gewinnung eines proletarischen Klassenstandpunktes: „Was das Resultat dieser entgegengesetzten Tendenzen ist, welches Wechselverhältnis zwischen der konservativen und der liberalen Stimmung oder Richtung in der Bourgeoisie im gegebenen Zeitpunkt besteht — das kann man nicht aus ein paar allgemeinen Thesen schließen; das hängt von allen Eigentümlichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Lage im gegebenen Zeitpunkt ab. Um das zu bestimmen, muß man diese Lage genau kennen und alle Zusammenstöße zwischen der Regierung und ganz gleich welcher Gesellschaftsschicht aufmerksam verfolgen." 39

3. Grundtendenzen der Entwicklung der Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917 Wurde bisher auf grundlegende, übergreifende Probleme der Thematik hingewiesen, so zielen die folgenden Ausführungen darauf ab, die Einordnung und die kritische Auswertung der vielschichtigen zeitgenössischen Zeugnisse zu erleichtern. Die von Lenin erkannte allgemeine Gesetzmäßigkeit, daß der Imperialismus den Antagonismus zwischen der Negation der Demokratie und den zur Demokratie strebenden Massen verschärft, 40 bestimmte auch die Entwicklung der Herrschaftsmethoden im Deutschen Reich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend der Oktoberrevolution. „Im deutschen Imperialismus gipfelte alles Reaktionäre und Fortschrittsfeindliche der bisherigen deutschen Geschichte. Die traditionelle Volksfeindlichkeit und Aggressivität des preußisch-deutschen Militarismus des 18./19. Jahrhunderts verschmolzen mit dem neuen, für den Imperialismus allgemein charakteristischen Drang zur Negation der Demokratie im Innern, zur Aggression und zur bewaffneten Auseinandersetzung um eine Neuaufteilung der Welt. Gerade diese spezifische Verbindung gab dem junkerlich-bourgeoisen Imperialismus sein besonders gewalttätiges und aggressives Gepräge." 4 1 Es verstärkte sich zunehmend mit dem rapid fortschreitenden Monopolisierungsprozeß und mit der Herausbildung eines in den Hauptfragen der Klassenauseinandersetzung sowie im Streben nach einer Neuaufteilung der Erde einheitlich handelnden Ausbeuterblocks. 42 39 40

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Ders., Politische Agitation und „Klassenstandpunkt", in: Werke, Bd. 5, S. 348. Ders., Antwort an P. Kijewski (J. Pjatakow), in: Werke, Bd. 23, S. 14. — Vgl. dazu: Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L., S. 108 f. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß (im folgenden: Grundriß), hrsg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1974, S. 317. Siehe dazu Klein, Fritz, Deutschland von 1 8 9 7 / 9 8 bis 1917 (Deutschland in der Periode des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution), 3., Überarb. u. erw. Aufl.,

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Dabei sahen sich Junkertum und Monopolbourgeoisie durch den weltweiten Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung, der nationalen Befreiungsbewegungen und der allgemein-demokratischen Bewegung, aber auch durch die darauf beruhenden Widersprüche in ihren eigenen Reihen und durch die wachsenden Widersprüche zwischen den Großmächten zu einem raffinierten System der innen- und außenpolitischen Machtansübung genötigt. 43 Die neuen, durch den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus bewirkten objektiven innen- und außenpolitischen Bedingungen verstärkten die Tendenz zur offenen Gewalt nach innen und außen beträchtlich. Sie bedingten aber zugleich auch die Tendenz zur stärkeren Anwendung der Methode reformerischer Zugeständnisse, der Schmeichelei, Gaunerei sowie indirekter Expansion. 4 4 Beide Methoden dienten den gleichen Zielen: der Aufrechterhaltung der imperialistischen Herrschaft durch die Unterdrückung der Arbeiterklasse und aller anderen antiimperialistischen Kräfte im Inneren und der Sicherung der Expansion nach außen. Dabei führte der wachsende ökonomische und politische Einfluß der Monopolbourgeoisie innerhalb des junkerlich-bürgerlichen Ausbeuterblocks zu Wandlungen im Charakter der Auseinandersetzungen um die imperialistische Strategie und Taktik. Überwogen in den ersten Jahren der imperialistischen Herrschaft noch mehr die Widersprüche zwischen Junkern und Bourgeoisie, zwischen monopolisierter Grundstoffindustrie und nichtmonopolisierter Fertigwarenindustrie sowie zwischen monopolisierter und nichtmonopolisierter Großbourgeoisie, so traten diese Widersprüche allmählich in den Hintergrund. Mit der Herausbildung einer mehrere Industriezweige umfassenden und in den entscheidenden Grundfragen übereinstimmenden Monopolbourgeoisie, ihrer zunehmenden ökonomischen, sozialen und politischen Verflechtung mit den Großgrundbesitzern, des wachsenden Anteils der noch nicht monopolisierten Großbourgeoisie am Monopolprofit und der objektiven Verschärfung des Widerspruchs zwischen der kleinen Minderheit von Monopolbourgeoisie und J u n k e r t u m einerseits und den Volksmassen andererseits verlagerte sich das Schwergewicht der strategisch-taktischen Auseinandersetzungen innerhalb des Ausbeuterblocks mehr und mehr auf Meinungsverschiedenheiten über Inhalt und Form der gemeinsamen imperialistischen Politik gegenüber den Volksmassen, insbesondere der Arbeiterklasse, und der imperialistischen Expansionspolitik. Unter Führung der großen Monopole und des kapitalistisch wirtschaftenden und mit der Großbourgeoisie verschmelzenden Großgrundbesitzes bildeten sich auf Grund von ökonomischen und politischen Sonderinteressen zwei in strategisch-taktischen Fragen konkurrierende, sich aber zunehmend auf der Grundlage gemeinsamer Interessen annähernde Hauptströmungen der herrschenden Klassen heraus. 45 Durch den noch relativ starken politischen Einfluß des Junkertums, der sich aus dem Scheitern der Revolution von 1848/49 und durch die Gründung des Deutschen Reiches Berlin 1969, S. 17 ff.; Gutsche, Willibald, Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und S t a a t . . ., S. 54ff. « Vgl. Klein, Fritz, S. 42 ff. « Vgl. ebenda, S. 48, 105, 127; Grundriß, S. 324 f. 45 Siehe dazu Gutsche, Willibald, Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und S t a a t . . ., a. a. O., S. 34ff., 72ff.; vgl. dazu Semjenow, W. S., Kapitalismus und Klassen. Die Erforschung der Sozialstruktur in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1972, S. 172 ff.

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unter preußischer Führung ergeben hatte, wurde dabei die Tendenz zu einer Herrschaftsmethodik begünstigt, die den Bestrebungen der reaktionärsten Kreise entsprach. Dabei blieben die Widersprüche zwischen Junkertum und Bourgeoisie, wenn auch in sich abschwächender und mit den neuen für den Imperialismus charakteristischen Widersprüchen sich verflechtender Form, weiterhin latent. Das Herrschaftssystem, das zur Zeit des Übergangs zum Imperialismus im Deutschen Reich bestand, entsprach dem junkerlich-bürgerlichen Charakter des deutschen Imperialismus. Es trug halbabsolutistische Züge, war noch kraß vom preußischen Militarismus bestimmt und von starken Rudimenten der Selbstherrschaft Wilhelms II. und des Bismarckschen Bonapartismus geprägt. 4 6 Zwischen den beiden Grundtypen der Staatsform angesiedelt, die den zwei widersprüchlichen Tendenzen des Imperialismus entsprachen, enthielt die spezifische Form der konstitutionellen Monarchie im Deutschen Reich mehr zur offenen Diktatur als zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie tendierende Elemente, d. h., sie begünstigte viel stärker konservativ-imperialistische als liberalisierende imperialistische Herrschaftsmethoden. Deshalb gehörte das Wilhelminische Deutschland nicht zu den Ländern, in denen die Formel „Reform gegen Revolution!" breite Anwendung finden konnte. 47 Das in zunehmendem Maße von der Monopolbourgcoisie beeinflußte junkerlich-bürgerliche Herrschaftssystem und die ihm entsprechende halbabsolutistische Staatsform boten aber auch einen gewissen Spielraum für die Anwendung der „liberalen" Methode, den die herrschenden Klassen unter dem Druck des sich verstärkenden Kampfes der Volksmassen, insbesondere der Arbeiterklasse, neben der Methode der offenen Gewaltanwendung in wachsendem Maße zu benutzen genötigt waren. Hier gilt es zu beachten, daß elastischere, reformerische Methoden der Innenpolitik nicht mit Schritten in Richtung auf wirkliche Demokratisierung gleichgesetzt werden dürfen, sondern stets mit dem Ziel praktiziert werden, eine wirkliche Demokratisierung zu verhindern. Daß Reformen unter Umständen den Demokratisierungsprozeß begünstigen, ist nicht subjektive Absicht ihrer Initiatoren, sondern ihre objektive Folge. Diese ergibt sich primär aus dem erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse und deren Verbündeten und durch die Ausnutzung der so erzwungenen Reformen durch die revolutionäre Arbeiterbewegung. Für die Entwicklung der Zickzackwege der innenpolitischen Strategie und Taktik der herrschenden Klassen zwischen 1897/98 und 1917 war es nicht nur charakteristisch, daß sich die „liberale" Methode des Regierens nicht auf breiter Front durchsetzte. Ebenso kennzeichnend war es, daß die Vertreter der Methode der offenen Gewalt, die ihre Anstrengungen verstärkten, ebenfalls nicht auf breiter Front die Oberhand zu gewinnen vermochten. Dies wurde durch das spezifische Kräfteverhältnis der Klassen im junkerlichbürgerlichen deutschen Staat bedingt. Unter dem Eindruck des Erstarkens der Arbeiterklasse entbrannten um die J a h r hundertwende in den Reihen der Herrschenden Auseinandersetzungen darüber, welcher der beiden Methoden bei der Verwirklichung der gemeinsamen politischen Ziele der Vorzug 46

Vgl. Fricke, Dieter, Zur Epoche des Imperialismus und des Vorabends der proletarischen Revolution (Hauptperiode XVI), in: Wissenschaftliche Mitteilungen, hrsg. vom Büro des Präsidiums der Historikergesellschaft der D D R , 11/1975, S. 77. 4 < ScheUenberg, Johanna, Die Herausbildung der Militärdiktatur in den ersten Jahren des Krieges, in: Politik im Krieg 1914-1918, hrsg. von Fritz Klein, Berlin 1964, S. 27.

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gebühre/»8 Einig darin, die Arbeiterklasse zu unterdrücken und die revolutionäre Arbeiterbewegung zu vernichten (Dok. 20, 64), traten vor allem die Mehrzahl der Junker sowie der Monopolisten der Montanindustrie für die vorrangige Anwendung der Methode der offenen Gewalt, der Verweigerung aller Reformen ein. (Dok. 7, 16, 23, 24, 33, 36, 48, 54) Nur im Hinblick auf patriarchalisch-sozialfürsorgerische Maßnahmen zu gewissen Zugeständnissen bereit, lehnten diese Kreise alle politischen Zugeständnisse ab. Von der Ausbreitung des Opportunismus erwarteten sie keine „Mauserung" der sozialdemokratischen Partei und der freien Gewerkschaften zu bürgerlichen Organisationen, die man in den Staat hätte einordnen können. 49 Solche Erwartungen hielten sie für illusionär. Auf dem Herr-im-HauseStandpunkt verharrend, erblickten ihre extremsten Vertreter — völlig abwegig — in der opportunistischen Politik der rechten Arbeiterführer lediglich den raffinierten Versuch, den Sturz des Kapitalismus durch innere Reformen zu erreichen. Eine Zusammenarbeit mit diesen rechten Führern lehnten sie nicht zuletzt auch deshalb ab, weil sie den Preis für eine „liberale" Unterwerfung der Arbeiterbewegung nicht zu zahlen bereit waren. Eine revolutionäre Umgestaltung hielten sie in absehbarer Zeit nicht für möglich. (Dok. 16, 23, 24, 38) In ihren Augen waren die Opportunisten noch viel zu demokratisch, als daß sie in deren Politik eine Hilfe für die Erhaltung und Befestigung des imperialistischen Herrschaftssystems zu erblicken vermochten. Demgegenüber befürworteten realistischer urteilende Kreise, hinter denen vor allem Herren der jüngeren Monopole der Elektro- und der Chemieindustrie, der Schiffahrtsunternehmungen sowie der Großbanken im Bunde mit großen Teilen der noch nicht monopolisierten Fertigwarenindustrie standen, eine bevorzugte Anwendung reformerischer Methoden. Diese Tendenz fand ihren Ausdruck z. B. in den — zunächst allerdings wenig erfolgreichen — Bestrebungen des von Friedrich Naumann geführten National-Sozialen Vereins (1896—1903). (Dok. 5, 9) Dieser setzte sich dafür ein, den rechten Flügel der Sozialdemokratie zu unterstützen, und forderte Machtpolitik nach außen und Reformpolitik nach innen. Ähnliche Bestrebungen verfolgten die Freisinnige Vereinigung (1893—1910) (Dok. 35), die 1901 gegründete Gesellschaft für Soziale Reform (Dok. 14) und die Fortschrittliche Volkspartei (1910—1918) sowie die linken Flügel des Zentrums und der Nationalliberalen Partei. (Dok. 15) Die Verfechter einer solchen Konzeption wollten — den Polizeiknüppel natürlich stets parat (vgl. Dok. 21) — die offene Gewalt nur im äußersten Falle angewandt wissen. Durch eine fortschreitende opportunistische „Mauserung" der sozialdemokratischen Partei und der freien Gewerkschaften hofften sie die ihres revolutionären Charakters beraubte Arbeiterbewegung in den Staat einordnen und den Prozeß der Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung durch politische Zugeständnisse fördern zu können. (Dok. 35, 67, 68, 70, 82) In der unüberlegten Verweigerung von Reformen oder in der unangebrachten Anwendung offener Gewalt sahen diese Kreise ein ernstes Behindern des „Mauserungs"-Prozesses der Arbeiterbewegung. (Dok. 17) 48

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Stenkewilz, Kurt, Gegen Bajonett und Dividende. Die politische Krise in Deutschland a m Vorabend des ersten Weltkrieges, Berlin 1960, S. 281 ff.; Gutsche, Willibald, Bethmann Hollweg und die Politik der „Neuorientierung". Zur innenpolitischen Strategie und T a k t i k der deutschen Reichsregierung während des ersten Weltkrieges, i n : ZfG 2/1965, S. 211. Siehe dazu Kaulisch, Baidur, Auseinandersetzungen um die T a k t i k gegenüber der Arbeiterbewegung, i n : J f G , B d . 15, Berlin 1977, S . 293ff., 3 1 1 f f .

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Einteilung

Erwägungen der liberalisierenden imperialistischen Kreise über eine Integration der Arbeiterbewegung in den Staat standen häufig mit der Spekulation in Zusammenhang, mit einer verbürgerlichten Arbeiterbewegung auch den politischen Einfluß der Junker und der Montanmonopolisten zurückdrängen zu können. (Dok. 47, 86) Dabei entstanden jedoch weitere Meinungsverschiedenheiten über Art, Ausmaß und Zeitpunkt entsprechender „Almosen" 5 0 . (Dok. 67, 68, 86) Die zunehmende Tendenz einer bevorzugten Anwendung „liberaler" innenpolitischer Methoden war vor allem darauf zurückzuführen, daß immer größere Teile der erstarkenden Großbourgeoisie und dadurch bedingt auch die Staatsorgane, die das imperialistische Gesamtinteresse vertraten, auf Grund der Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz und in der Einsicht, daß die Volksmassen im Falle eines Krieges nicht gewaltsam zum Kriegsdienst genötigt werden könnten, die überwiegende Anwendung der Methode offener Gewalt auf breiter Front für ungeeignet, ja für riskant hielten. Im Vordringen des Opportunismus erblickten sie eine Möglichkeit, die Unterdrückung der Arbeiterbewegung und deren Unterordnung unter die imperialistische Kriegspolitik unter Vermeidung eines solchen Risikos zu erreichen. Derartigen Auffassungen neigten in den letzten Vorkriegsjahren auch führende Militärs zu. Keine der beiden Methoden erlangte jedoch in der deutschen Innenpolitik ein solches Übergewicht, wie es Lenin z. B. für das England der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der „liberalen" Methode oder für das Deutschland der siebziger und achtziger Jahre im Hinblick auf die Methode der Gewalt halte feststellen können. Das war einmal auf die grundlegenden Widersprüche des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus und auf den Aufschwung der Arbeiterbewegung zurückzuführen, zum anderen auf den noch starken politischen Einfluß der Junker und die daraus resultierenden Spannungen zwischen Junkertum und Bourgeoisie. (Dok. 2,13, 29, 75), auf die divergierenden Sonderinteressen von Monopolen der Schwerindustrie einerseits und Monopolen der Fertigwarenindustrie andererseits (Dok. 39, 40) sowie zwischen monopolisierter und nichtmonopolisierter Großbourgeoisie 51 . (Dok. 86) Infolgedessen war das Kräfteverhältnis zwischen den für die bevorzugte Anwendung einer der beiden Methoden plädierenden Strömungen der herrschenden Klassen verhältnismäßig ausgeglichen, vermochte sich keine von ihnen völlig durchzusetzen. Es sei nur auf das Scheitern der Kanalvorlage 1899 und 1901 und der Versuche einer Wahlrechtsänderung in Preußen 1906 (Dok. 28, 29) und 1910 durch junkerlichen Widerstand (Dok. 51) einerseits sowie auf das Scheitern des sogenannten Kleinen Sozialistengesetzes 1897 und der sogenannten Zuchthausvorlage 1899 (Dok. 6, 8) im Reichstag durch bürgerlichen Widerstand andererseits hingewiesen. Diese spezifische Lage in der Frage der bevorzugten Anwendung der einen oder der anderen Methode in der Innenpolitik, die zeitweilig einem Patt ähnelte, begünstigte jedoch nicht, wie bürgerliche Historiker behaupten, die Tendenz zur Demokratie, die Herausbildung einer „Politik der Mitte" 5 2 , sie förderte vielmehr gerade die Tendenz zur Reaktion. Das hatte vor allem zwei Ursachen. Einmal suchten Junker und Bourgeoisie stets „ihre Auseinandersetzungen auf Kosten Dritter zu schlichten: durch verschärfte Ausbeutung 6« Ebenda, S. 297ff., 317ff. Siehe dazu Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, Berlin 1966. 6 2 Vgl. z. B. Schmidt, Gustav, Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des ersten Weltkrieges, in: Das Parlament, Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte", Nr. 20/1972, v. 13. 5. 1972, S. 2 ff.; Gutsche, Willibald, Zur Interpretation der Anfänge des deutschen Imperialismus in der Historiographie der B R D , in: ZfG 11/1975, S. 1285f. 51

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der Arbeiterklasse, Steigerung der Rüstungen und expansionistische Zuspitzung der Außenpolitik" 53 . Diese wachsende Interessensölidarität im Ausbeuterblock kam — ungeachtet weiterer „Familienstreitigkeiten", z. B. um den Zolltarif von 1902 (Dok. 13) und um die Integration des Mittelstandes (Dok. 74, 75) — im engeren Zusammenschluß von Junkern und entscheidenden Teilen der Großbourgeoisie auf der Grundlage der sogenannten Sammlungspolitik (Dok. 2) zum Ausdruck. Sie offenbarte sich z. B . in der Gründung des Wirtschaftlichen Ausschusses 1897 (Dok. 1) und im Zusammenrücken der beiden großen zentralen Unternehmerverbände, des Zentralverbandes deutscher Industrieller und des Bundes der Industriellen, nach dem Crimmitschauer Textilarbeiterstreik 1903 in Form einer engen Zusammenarbeit ihrer 1904 gebildeten.Arbeitgeberzentralen, der Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände (Zdl) und des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände (Bdl) 5 4 , sowie in der Gründung des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie im Mai des gleichen Jahres. (Dok. 20) Auf der Grundlage einer zunehmenden Orientierung der freisinnigen Parteien nach rechts und einer wachsenden Verflechtung zwischen Junkertum und Großbourgeoisie entstand 1907 der konservativ-liberale Bülow-Block 55 , der 1909 infolge der nach wie vor latenten Widersprüche zwischen Junkertum und Bourgeoisie wieder zerfiel. E r wurde von einem Block der konservativen Parteien, des Zentrums und der Fraktion der polnischen Großgrundbesitzer abgelöst. 56 Das Zusammengehen in Hauptfragen des gemeinsamen Klasseninteresses setzte sich aber mit der Gründung der „Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände", den Bemühungen um ein „Kartell der schaffenden Stände" (vgl. z. B. Dok. 74) und schließlich mit der Konstituierung des Kriegsausschusses der deutschen Industrie 'sowie einer einheitlichen Front der konservativen und liberalen Parteien für die imperialistische Kriegspolitik (vgl. z. B. Dok. 106) im August 1914 fort. Zum anderen verhinderte das relativ ausgeglichene Kräfteverhältnis nicht nur die breite Durchsetzung der Methode offener Gewalt, es ermöglichte dem Staat auch die Verhinderung einer breiten Anwendung der „liberalen" Methode. Für die Organe des Staates, die den Forderungen ihrer Auftraggeber nach Unterdrückung der Arbeiterklasse und nach Expansion zu entsprechen suchten, waren bei der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der beiden Herrschaftsmethoden zumeist andere Motive maßgebend als bei den verschiedenen Strömungen und Gruppierungen der herrschenden Klassen, deren Konzeptionen in hohem Maße von ökonomischen und politischen Sonderinteressen bestimmt wurden.57 Die Staatsorgane gingen bei ihren strategisch-taktischen Erwägungen und Entscheidungen vor allem vom objektiven bzw. vermeintlichen imperialistischen Gesamtinteresse aus. Auf Grund dieses Aspektes waren für ihre Herrschaftsmethodik in erster Linie zwei Faktoren bestimmend: erstens das Kräfteverhältnis der Klassen insgesamt, insbesondere das zwischen Arbeiterklasse und herrschenden Klassen, sowie das internationale Kräfteverhältnis. Zweitens die vom Kräfteverhältnis der Klassen beeinflußte Kräftekonstellation innerhalb der herrschenden Klassen, wobei angesichts des halbabsolutistischen Charakters » Klein, Fritz, a. a. O., S. 44. » Ebenda, S. 119. 55 Ebenda, S. 183 f. 5® Ebenda, S. 218 ff. 57

Siehe dazu Gutsche, Willibald, Zum Funktionsmechanismus zwischen Staat und Monopolkapital . . ., S. 95ff.; vgl. Grundriß S. 347. — Vgl. dazu: Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. /_,., S. 10, 119ff.

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des Reiches nicht zuletzt auch die Position des Kaisers maßgebliches Gewicht besaß. (Dök. 26, 55) Das Ergebnis war eine Herrschaftsmethodik, die weder voll mit der Konzeption der einen noch mit jener der anderen Strömung der herrschenden Klassen identisch war, vielmehr eine Diagonale zwischen beiden Konzeptionen darstellte, die langfristig mehr zur konservativ-imperialistischen Machtausübung, im kürzerfristigen Zickzackkurs der Herrschaftsmethodik jedoch dabei zunehmend stärker zur Anwendung liberalisierender Methoden neigte. Diese Politik der Diagonalen wurde nicht nur durch das Kräfteverhältnis innerhalb des Ausbeuterblocks bedingt, sie wurde zugleich — besonders kurz v o r dem ersten Weltkrieg — durch die voranschreitende Ausbreitung des Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung begünstigt. Für diese Situation traf in gewissem Maße Lenins Feststellung zu, daß Methoden des Bonapartismus historisch unvermeidlich sind, wenn der Regierung „eine feste, stabile, erprobte einheitliche soziale Stütze f e h l t " , wenn sie „zwischen ungleichartigen Elementen lavieren" muß. Solche Methoden können v o r allem dann einige Jahre lang von Erfolg begleitet sein, wenn „die demokratischen Klassen ohnmächtig oder durch zeitweilige Ursachen besonders geschwächt" sind. 58 Waren 1890 mit der Herausbildung einer revolutionären Massenpartei des Proletariats die Existenzbedingungen und -möglichkeiten für den Bonapartismus als Herrschaftssystem endgültig verschwunden 5 9 , so war doch die spätere gelegentliche

Anwendung

bonapartistischer Methoden bei einer sich z. B. im Deutschen Reich zu Beginn des I m perialismus durch eine neue Klassenkräftekonstellation ergebenden Situation nicht ausgeschlossen. Dabei wurde auch hier der „Schritt voran auf dem W e g e der Umwandlung in eine bürgerliche Monarchie' . . . durch die Übernahme bonapartistischer

Methoden

kompliziert" 6 0 . Alle genannten Faktoren bildeten die entscheidenden objektiven Ursachen für die politisch letztlich relevante Entwicklung der Herrschaftsmethodik des imperialistischen deutschen Staates. I m konkreten Einzelfall und bei der Modifizierung der Herrschaftsmethodik spielten natürlich auch subjektive Faktoren eine gewisse Rolle, doch kam ihnen untergeordnete Bedeutung zu. Auch im Staatsapparat gab es Wortführer, welche stärker die eine oder die andere Methode angewandt wissen wollten: „ I n allen Ländern — und j e zivilisierter, j e freier ein Land ist, desto stärker — sind zwei T y p e n v o n bürgerlichen Politikern zu beobachten. Der eine T y p neigt . . . zum offenen Kampf gegen die Demokratie und bemüht sich, diese Neigung theoretisch konsequent zu begründen. Der andere T y p spezialisiert sich darauf, eben diese Neigung durch Liebäugeln mit der Demokratie zu verbergen. Es gibt überall diplomatische Miljukows 6 1 , und die Arbeiter müssen es verstehen, 'den Fuchs sofort am Schwanz zu erkennen'." 6 2 58 Lenin, W. /., Die Ergebnisse der Wahlen, in: Werke, Bd. 18, S. 487. 59

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Seeber, Gustav, Preußisch-deutscher Bonapartismus und Bourgeoisie. Bemerkungen zu Ausgangspositionen und Forschungsproblemen, unveröff. Mskr., S. 44. Lenin, VI . I., Die Geistlichkeit bei den Wahlen und die Wahlen mit der Geistlichkeit, in: Werke, Bd. 18, S. 335. Pawel Nikolajewitsch Miljukow, Begründer und Führer der konstitutionell-demokratischen Partei Rußlands (Kadettenpartei), März bis Mai 1917 Außenminister der russischen bürgerlichen Provisorischen Regierung, typischer Vertreter der von Lenin charakterisierten zweiten Variaute. Lenin, XV. /., Politische Auseinandersetzungen unter den Liberalen, in: Werke, Bd. 20, Berlin 1961, S. 123.

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Die wechselnden Kräfteverhältnisse ließen einmal diesen, einmal jenen „ T y p " stärker in den Vordergrund treten, zum Zuge kommen oder scheitern. So waren vor 1914 angesichts der Kräftekonstellation den ohnehin dürftigen reformerischen Bestrebungen Theobald von Bethmann Hollwegs -r z. B . in der Wahlrechtsfrage 1906 und 1910 (Dok. 28, 29, 50) enge Grenzen gesetzt, weil die Macht der junkerlich-schwerindustriellen Kreise, die einer solchen Methode erbitterten Widerstand entgegensetzten, zu groß war; 1916/17 vermochte er einige begrenzte Reformen zu verwirklichen, weil die Mehrheit der herrschenden Klassen sie angesichts der anwachsenden Antikriegsbewegung für unumgänglich hielt. (Dök. 136, 153, 154, 157, 158) Vertreter eines harten innenpolitischen Kurses waren insbesondere die meisten preußischen Staatsminister (Dok. 8, 31, 43, 134,142) und — vor allem zu Beginn des Jahrhunderts — die preußischen Militärs (Dok. 36), während die Vertreter der Reichsleitung — auch wenn sie zugleich Funktionen in der preußischen Regierung bekleideten — mit Rücksicht auf die Führungsrolle im Reich in wachsendem Maße reformerische Untcrdrückungsmethoden bevorzugten. (Dok. 22, 25, 34, 37, 135) Oft wurden jedoch beide Methoden — gleichzeitig oder abwechselnd — von derselben Person vertreten. Zum Beispiel war es der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, Arthur Graf von PosadowskyWehner (1897—1907), der 1897 für die verschärfte, offen gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung mit Hilfe der sogenannten Zuchthausvorlage eintrat (Dok. 6), 1906 aber die Aufnahme von zwei revisionistischen Führern der Arbeiterbewegung in den „Wirtschaftlichen Ausschuß" empfahl. (Dok. 30) Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1909—1917), der einerseits mit seinen elastischen Methoden und Manövern „den Schwamm ins Haus der deutschen Arbeiterbewegung setzte" und so den „sozialdemokratischen Wolf zum wedelnden Hund des Kapitals" dressierte und die Volksmassen durch Redewendungen über angebliche „Neuorientierung" für die imperialistische Kriegspolitik gefügig machte, betrieb andererseits die „außen- und innenpolitische Dekapitierung" aller Gegner und verkörperte so die „Dreieinigkeit des deutschen Dreschers, der deutschen Krämerseele und des deutschen Professors von der Leibgarde der Hohenzollern".«« (Dok. 27, 28, 29, 37, 39, 44, 50, 58, 64, 78, 91, 92, 99, 115, 135, 136) Die Zwistigkeiten zwischen den Fraktionen und Schichtcn innerhalb des junkerlichbürgerlichen Ausbeuterblocks boten jedoch der Reichsleitung einen ziemlich großen Spielraum bei der relativ selbständigen Bestimmung der Zickzackwege ihrer Taktik im imperialistischen Gesamtinteresse. Dieser Zickzackkurs trug dazu bei, die breite Durchsetzung der Bestrebungen ultrareaktionärer Kreise zu verhindern, die für eine Dominanz der Methode offener Gewalt eintraten. Mit der fortschreitenden Monopolisierung und Integration innerhalb des junkerlich-bürgerlichen Ausbeuterblocks — besonders deutlich erkennbar seit 1909/10 — erlangten in der Politik der Reichsleitung die spezifischen Interessen der Monopolbourgeoisie zunehmend größeres Gewicht. Die Herausbildung einer einheitlichen Front der herrschenden Klassen auf der Basis der Interessen der erstarkenden Monopolbourgeoisie verringerte dann wieder den Spielraum des Staates für eine relativ selbständige Politik. Die durch das innenpolitische Kräfteverhältnis begünstigte „Äquilibristik" des Staats63

Liebknecht, Karl, Kanzlerapologie, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. I X , Berlin 1968, S. 226 ff.; Spartakusbriefe, S. 222, Spartacus Nr. 1 vom 20. 9. 1916.

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apparates verschleierte die wirklichen Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft, verwirrte die Volksmassen über die wahren Ziele der herrschenden Klassen, indem sie den Eindruck einer Schiedsrichterfunktion des Staates erweckte und die Illusion eines friedlichen Hinüberwachsens in den Sozialismus nährte. Damit diente sie in hohem Grade dem Ziel, die Arbeiterklasse und die anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Ausbeutung zu unterwerfen und für die Kriegspolitik zu mißbrauchen. Karl Liebknecht hat diese „Äquilibristik" während des ersten Weltkrieges eindrucksvoll enthüllt. In seiner Stellungnahme zu Thesen des Sozialchauvinisten Eduard David schrieb er am 16. August 1915 an den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion: „Die Spiele mit verteilten Rollen, in denen gerade jetzt auch in Deutschland Regierung und herrschende Klassen Meister sind, die Bemühungen, in allerhand ad usum delphini zurechtgemachten ganz 'vertraulichen' Enthüllungen Angst und Vertrauen zu wecken und so die Sozialdemokratie an der Regierungsstange zu halten, dürfen nicht verwirren. Die wirklichen Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind entscheidend, nicht irgendwelche Reichskanzler-Kulissen oder Geheimrats-Atrappen und offiziöser "Mäßigkeits'-hokuspokus; auch keine schönklingenden nichtssagenden Einschläferungsworte, wie sie der Reichskanzler jüngst, just vor der neuern Kreditvorlage, von sich gab; noch rasselnde Theaterkämpfe vor dem Publikum, die den Kanzler in der Pose des von Annexionswüterichen gesteinigten Märtyrers zeigen. Es handelt sich um denselben Kanzler, der im August 1914 den Reichstag durch Verschweigung des Ultimatums an Belgien hinters Licht führte, dessen Annexionspläne der Reichstagsfraktion so offiziell wie möglich bekannt sind. Das ist für unsere politische Haltung das Wesentliche." 64 Bereits während der Marokkokrise hatte Rosa Luxemburg festgestellt: „Während die Richtung der junkerlichen Reaktion brutal-geradlinig und zynisch-konsequent ist, ist die Politik des persönlichen Regiments von Haus aus eine Zickzackpolitik, voller Sprunghaftigkeit, Widersprüche und Unberechenbarkeiten. So kann und muß sie sich gelegentlich auch mit der junkerlichen Reaktion unter einem schroffen Winkel schneiden. Trotzdem bleiben jedoch beide in ihrem innersten Wesen einander vollkommen gleich." 65

4. Zur innenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus vor 1914 Im Hinblick auf die Innenpolitik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches markierte Lenin 1910 unter dem Aspekt der vorwiegenden Entwicklung der einen oder der anderen Methode in verschiedenen Ländern in bestimmten Perioden den Fall des Sozialistengesetzes 1890 als Beginn einer neuen Periode, als „eine Wendung zu 'Zugeständnissen'", 66 die sich z. B. in einigen Verbesserungen der Arbeitsgesetzgebung unter der Kanzlerschaft Leo von Caprivis (1890—1894) äußerte. Mit dem endgültigen Ubergang zum monopolistischen Stadium des Kapitalismus forderten die konservativ-imperialistischen Kreise, bei der Unterdrückung der Arbeiterbewegung 64 65

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Spartakusbriefe, S. 13, Spartakusbrief Nr. 4 vom August 1915. Luxemburg, Rosa, Das Marokkoabkommen im Reichstag, in: dies., Gesammelte Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED, Bd. 3 : Juli 1911 bis Juli 1914, Berlin 1973, S. 67. Lenin, W. / . , Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung in: Werke, Bd. 16, S. 357.

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apparates verschleierte die wirklichen Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft, verwirrte die Volksmassen über die wahren Ziele der herrschenden Klassen, indem sie den Eindruck einer Schiedsrichterfunktion des Staates erweckte und die Illusion eines friedlichen Hinüberwachsens in den Sozialismus nährte. Damit diente sie in hohem Grade dem Ziel, die Arbeiterklasse und die anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Ausbeutung zu unterwerfen und für die Kriegspolitik zu mißbrauchen. Karl Liebknecht hat diese „Äquilibristik" während des ersten Weltkrieges eindrucksvoll enthüllt. In seiner Stellungnahme zu Thesen des Sozialchauvinisten Eduard David schrieb er am 16. August 1915 an den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion: „Die Spiele mit verteilten Rollen, in denen gerade jetzt auch in Deutschland Regierung und herrschende Klassen Meister sind, die Bemühungen, in allerhand ad usum delphini zurechtgemachten ganz 'vertraulichen' Enthüllungen Angst und Vertrauen zu wecken und so die Sozialdemokratie an der Regierungsstange zu halten, dürfen nicht verwirren. Die wirklichen Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind entscheidend, nicht irgendwelche Reichskanzler-Kulissen oder Geheimrats-Atrappen und offiziöser "Mäßigkeits'-hokuspokus; auch keine schönklingenden nichtssagenden Einschläferungsworte, wie sie der Reichskanzler jüngst, just vor der neuern Kreditvorlage, von sich gab; noch rasselnde Theaterkämpfe vor dem Publikum, die den Kanzler in der Pose des von Annexionswüterichen gesteinigten Märtyrers zeigen. Es handelt sich um denselben Kanzler, der im August 1914 den Reichstag durch Verschweigung des Ultimatums an Belgien hinters Licht führte, dessen Annexionspläne der Reichstagsfraktion so offiziell wie möglich bekannt sind. Das ist für unsere politische Haltung das Wesentliche." 64 Bereits während der Marokkokrise hatte Rosa Luxemburg festgestellt: „Während die Richtung der junkerlichen Reaktion brutal-geradlinig und zynisch-konsequent ist, ist die Politik des persönlichen Regiments von Haus aus eine Zickzackpolitik, voller Sprunghaftigkeit, Widersprüche und Unberechenbarkeiten. So kann und muß sie sich gelegentlich auch mit der junkerlichen Reaktion unter einem schroffen Winkel schneiden. Trotzdem bleiben jedoch beide in ihrem innersten Wesen einander vollkommen gleich." 65

4. Zur innenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus vor 1914 Im Hinblick auf die Innenpolitik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches markierte Lenin 1910 unter dem Aspekt der vorwiegenden Entwicklung der einen oder der anderen Methode in verschiedenen Ländern in bestimmten Perioden den Fall des Sozialistengesetzes 1890 als Beginn einer neuen Periode, als „eine Wendung zu 'Zugeständnissen'", 66 die sich z. B. in einigen Verbesserungen der Arbeitsgesetzgebung unter der Kanzlerschaft Leo von Caprivis (1890—1894) äußerte. Mit dem endgültigen Ubergang zum monopolistischen Stadium des Kapitalismus forderten die konservativ-imperialistischen Kreise, bei der Unterdrückung der Arbeiterbewegung 64 65

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Spartakusbriefe, S. 13, Spartakusbrief Nr. 4 vom August 1915. Luxemburg, Rosa, Das Marokkoabkommen im Reichstag, in: dies., Gesammelte Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED, Bd. 3 : Juli 1911 bis Juli 1914, Berlin 1973, S. 67. Lenin, W. / . , Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung in: Werke, Bd. 16, S. 357.

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wieder verstärkt zu den Methoden des Sozialistengesetzes zurückzukehren. (Dok. 7, 16, 26, 31, 38) Auch in der politischen Praxis nahm die Anwendung gewaltsamer Methoden zeitweilig wieder zu. (Dok. 12, 18, 36, 41, 54) Diese Tendenz trat während der Kanzlerschaft des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1894—1900) deutlich hervor 6 7 und setzte sich unter den Reichskanzlern Bernhard von Bülow (1900—1909) und Theobald von Bethmann Hollweg (1909—1917) fort. Sie zeigte sich konzeptionell z. B . in der sogenannten Umsturzvorlage 1894, die eine Verschärfung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und der Pressegesetzgebung vorsah, in der Vorlage eines Gesetzentwurfes „zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses", der sogenannten Zuchthausvorlage 1899 (Dok. 6) sowie in den Staatsstreichplänen 1913/14 (Dok. 77). Praktisch kam sie u. a. in dem rücksichtslosen Vorgehen der Justiz gegen Streikteilnehmer (Dok. 17, 76), im sogenannten Königsberger Prozeß gegen Mitglieder der sozialdemokratischen Partei im J u l i 1904, in den scharfen ideologischen Angriffen auf die sozialdemokratische Partei während der Vorbereitung der sogenannten Hottentottenwahlen 1907 (Dok. 33, 34), im Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht im Oktober 1907, im Polizeiterror gegen Wahlrechtsdemonstrationen Anfang 1908 und Anfang 1910, in der Verabschiedung des Reichsvereinsgesetzes von 1908 (Dok. 41), bei der blutigen Unterdrückung der sogenannten Moabiter Unruhen im Herbst 1910 (Dok. 54) und bei der Niederschlagung des Ruhrbergarbeiterstreiks im Frühjahr 1912 zum Ausdruck. Die in bestimmten Situationen des Klassenkampfes immer wieder hervortretende Tendenz zur offenen, brutalen innenpolitischen Methode wurde begünstigt durch die militaristischen Traditionen preußischer Prägung, die besonders prononciert in der Äußerung Wilhelms I I . ihren Ausdruck fanden: „Erst die Sozialisten] abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht ä tempo!" (Dok. 26) Dennoch erlangte, insgesamt gesehen, die Methode der „Schritte in Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw. im Vergleich zur Methode offener Gewalt allmählich größeres Gewicht. Das zeigte sich z. B . im gesetzgeberischen Bereich in der Ablehnung der Umsturzvorlage im Mai 1895 und der Zuchthausvorlage im November 1899 (Dok. 8) durch Reichstagsmehrheiten, im erneuten Versuch Reichskanzler Bülows, auf außerordentliche gesetzgeberische bzw. polizeiliche Unterdrückungsmaßnahmen zu verzichten und „durch die Fortführung der staatlichen Sozialpolitik den Kampf der Arbeiterbewegung gegen die junkerlich-bürgerliche Klassenherrschaft in Bahnen zu lenken, die für diese Klassenherrschaft ungefährlich waren". 6 8 Weitere Beispiele sind die Berggesetz-Novelle 1905 (Dok. 25) und der vergebliche Versuch einer Reform des preußischen Wahlrechts 1906 (Dok. 28). Diese Tendenz setzte sich — in wachsendem Maße unter dem Aspekt der innenpolitischen Vorbereitung eines Eroberungskrieges — unter der Kanzlerschaft Bethmann Hollwegs fort 6 9 (Dok. 50, 64, 78, 89, 91, 92), z. B . in dessen vergeblichem Versuch einer Reform des preußischen Wahlrechts und in der Annahme des Arbeitskammergesetzes 1910 (Dok. 44). Die zunehmend stärkere Bevorzugung „liberaler" Methoden äußerte sich auch nach dem Crimmitschauer Textilarbeiterstreik 1903/04, 7 0 bei der Unterdrückung des Ruhrberg67 Klein, Fritz, S. 48, 51 f. «8 Ebenda, S. 103 f. 6 9 Siehe dazu Gutsche, Willibald, Aufstieg und Fall eines kaiserlichen Reichskanzlers. Theobald von Bethmann Hollweg 1856-1921. Ein politisches Lebensbild, Berlin 1073, S. 67ff., 82ff. 70 Grundriß, S. 324.

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arbeit'erstreiks im F r ü h j a h r 1905 7 1 (Dok. 25) und in den auf das Vordringen des Opportunismus in der Arbeiterbewegung gestützten Erwägungen im S t a a t s a p p a r a t , eine „gemauserte" Sozialdemokratie in den S t a a t zu integrieren (Dok. 30, 34, 37), ja vielleicht eines Tages auch m i t einer solchen verbürgerlichten Arbeiterpartei zu regieren. (Dok. 58) Wenn die herrschenden Klassen auch in bestimmten Situationen immer wieder zu offenen Gewaltmaßnahmen Zuflucht nahmen (Dok. 17, 22, 26, 27, 36, 54, 79, 80), zu der während der Zeit des Sozialistengesetzes praktizierten bevorzugten Anwendung dieser Methode auf breiter F r o n t kehrten sie bis 1914 nicht zurück. Das galt jedoch nicht f ü r die Politik der deutschen Imperialisten gegenüber den nationalen Minderheiten im Deutschen Reich und gegenüber der einheimischen Bevölkerung der deutschen Kolonien. 72 Bei deren Unterdrückung dominierte weiterhin die Methode der unverhüllten Gewalt. Das kam u. a. in der rücksichtslosen Germanisierungspolitik in den polnischen Gebietsteilen Preußens, z. B. in der Änderung des Ansiedlungsgesetzes im November 1907, u n d in der preußischen Verwaltungspraxis (Dok. 12) zum Ausdruck. Es offenbarte sich in der Ausrottungspolitik bei der Niederwerfung des Aufstandes der Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika in den J a h r e n 1904 bis 1907 und im brutalen Vorgehen preußischer Soldaten gegen die Bevölkerung des Reichslandes Elsaß-Lothringen, wie es die Zabern-Affäre 1913 schlaglichtartig erhellte. (Dok. 79, 80)

5. Zur außenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus vor 1914 Stärker als die Innenpolitik tendierte die Außenpolitik zur Methode der offenen Gewalt. Bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen und deshalb von seiner Geburtsstunde an vom Widerspruch zwischen seiner wachsenden ökonomischen Macht und den mangelnden Möglichkeiten ihrer politischen, expansiven Ausnutzung zu besonderer Aggressivität getrieben, verfolgte das Deutsche Reich Ziele, die angesichts der weltweiten imperialistischen Widersprüche letztlich nur mit militärischer Gewalt durchsetzbar waren. (Dok. 26) Diese Tendenz verstärkte sich in dem Maße, in dem die anfänglichen Versuche, die weitgespannten Eroberungsziele vor allem mit Hilfe einer pénétration pacifique (Dok. 3, 4, 9, 10) und durch Verhandlungen und Kompromisse mit seinen Rivalen (Dok. 46, 51, 52, 65, 82) zu erreichen, scheiterten (Dok. 53), sich die Möglichkeiten der Profitsteigerung mit Hilfe dey ökonomischen Expansion angesichts des immer schärferen Konkurrenzkampfes verringerten und die herrschenden Klassen glaubten, die militärische und politische Unterlegcnheit, vor allem den Widerstand der Arbeiterbewegung, überwunden zu haben. (Dok. 42, 45, 49, 59, 60, 61, 62, 69, 70, 71, 72, 73, 84, 85, 88) Auch in der Außenpolitik wurde die bevorzugte Anwendung einer der beiden Methoden — neben dem internationalen Kräfteverhältnis — vom Kräfteverhältnis der Klassen bestimmt, 'i Klein, Fritz, S. 127. 72 Ebenda, S. 105 f. — Vgl. dazu z. B. Nussbaum, Manfred, Togo — eine Musterkolonie? Berlin 1962 ; Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, hrsg. von Helmuth Stoecker, Bd. 1, Berlin 1960; Drechsler, Horst, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884—1915), Berlin 1966; Loth, Heinrich, Griff nach Ostafrika. Politik des deutschen Imperialismus und antikolonialer Kampf. Legende und Wirklichkeit, Berlin 1968.

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arbeit'erstreiks im F r ü h j a h r 1905 7 1 (Dok. 25) und in den auf das Vordringen des Opportunismus in der Arbeiterbewegung gestützten Erwägungen im S t a a t s a p p a r a t , eine „gemauserte" Sozialdemokratie in den S t a a t zu integrieren (Dok. 30, 34, 37), ja vielleicht eines Tages auch m i t einer solchen verbürgerlichten Arbeiterpartei zu regieren. (Dok. 58) Wenn die herrschenden Klassen auch in bestimmten Situationen immer wieder zu offenen Gewaltmaßnahmen Zuflucht nahmen (Dok. 17, 22, 26, 27, 36, 54, 79, 80), zu der während der Zeit des Sozialistengesetzes praktizierten bevorzugten Anwendung dieser Methode auf breiter F r o n t kehrten sie bis 1914 nicht zurück. Das galt jedoch nicht f ü r die Politik der deutschen Imperialisten gegenüber den nationalen Minderheiten im Deutschen Reich und gegenüber der einheimischen Bevölkerung der deutschen Kolonien. 72 Bei deren Unterdrückung dominierte weiterhin die Methode der unverhüllten Gewalt. Das kam u. a. in der rücksichtslosen Germanisierungspolitik in den polnischen Gebietsteilen Preußens, z. B. in der Änderung des Ansiedlungsgesetzes im November 1907, u n d in der preußischen Verwaltungspraxis (Dok. 12) zum Ausdruck. Es offenbarte sich in der Ausrottungspolitik bei der Niederwerfung des Aufstandes der Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika in den J a h r e n 1904 bis 1907 und im brutalen Vorgehen preußischer Soldaten gegen die Bevölkerung des Reichslandes Elsaß-Lothringen, wie es die Zabern-Affäre 1913 schlaglichtartig erhellte. (Dok. 79, 80)

5. Zur außenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus vor 1914 Stärker als die Innenpolitik tendierte die Außenpolitik zur Methode der offenen Gewalt. Bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen und deshalb von seiner Geburtsstunde an vom Widerspruch zwischen seiner wachsenden ökonomischen Macht und den mangelnden Möglichkeiten ihrer politischen, expansiven Ausnutzung zu besonderer Aggressivität getrieben, verfolgte das Deutsche Reich Ziele, die angesichts der weltweiten imperialistischen Widersprüche letztlich nur mit militärischer Gewalt durchsetzbar waren. (Dok. 26) Diese Tendenz verstärkte sich in dem Maße, in dem die anfänglichen Versuche, die weitgespannten Eroberungsziele vor allem mit Hilfe einer pénétration pacifique (Dok. 3, 4, 9, 10) und durch Verhandlungen und Kompromisse mit seinen Rivalen (Dok. 46, 51, 52, 65, 82) zu erreichen, scheiterten (Dok. 53), sich die Möglichkeiten der Profitsteigerung mit Hilfe dey ökonomischen Expansion angesichts des immer schärferen Konkurrenzkampfes verringerten und die herrschenden Klassen glaubten, die militärische und politische Unterlegcnheit, vor allem den Widerstand der Arbeiterbewegung, überwunden zu haben. (Dok. 42, 45, 49, 59, 60, 61, 62, 69, 70, 71, 72, 73, 84, 85, 88) Auch in der Außenpolitik wurde die bevorzugte Anwendung einer der beiden Methoden — neben dem internationalen Kräfteverhältnis — vom Kräfteverhältnis der Klassen bestimmt, 'i Klein, Fritz, S. 127. 72 Ebenda, S. 105 f. — Vgl. dazu z. B. Nussbaum, Manfred, Togo — eine Musterkolonie? Berlin 1962 ; Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, hrsg. von Helmuth Stoecker, Bd. 1, Berlin 1960; Drechsler, Horst, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884—1915), Berlin 1966; Loth, Heinrich, Griff nach Ostafrika. Politik des deutschen Imperialismus und antikolonialer Kampf. Legende und Wirklichkeit, Berlin 1968.

Einleitung

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standen sich auch hier zwei Hauptströmungen gegenüber. Deren Meinungsverschiedenheiten bezogen sich nicht auf die Expansion an sich, sondern auf die Beantwortung der Frage, wie sich dies gemeinsame Ziel am erfolgreichsten und schnellsten verwirklichen lassen würde. Junker und Montanmonopolisten drängten — besonders vernehmbar durch die Verlautbarungen des Alldeutschen Verbandes und seiner Tochterorganisationen — auf Krieg, auf annexionistische Methoden der Landnahme. (Dok. 11, 19, 32, 60, 70, 71, 78, 83, 84) Die flexibleren Kreise der Monopolbourgeoisie, vor allem der Großbanken, der Elektromonopole und'der noch nicht durchmonopolisierten Fertigwarenindustrie, empfahlen demgegenüber indirekte Formen der Expansion, nicht zuletzt in Gestalt eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes unter deutscher Führung. Dabei entstanden weitere Meinungsverschiedenheiten über dessen Ausmaß und Form. (Dok. 9, 42, 46, 69, 82, 84, 85) Für die Tendenz der zunehmenden außenpolitischen Gewaltanwendung bedeutsam war, daß sich die Anzahl derer vergrößerte, die auch diese indirekte Expansion angesichts des Scheiterns aller Bemühungen, sie auf friedlichem Wege zu erreichen, mit Hilfe militärischer Gewalt durchzusetzen strebten. (Dok. 82, 88) Zwischen den beiden Hauptströmungen bestanden infolge gemeinsamer Klasseninteressen auch auf dem Gebiet der Außenpolitik viele Berührungspunkte, die vor allem in politischen Krisensituationen wirksam wurden. Bereits um die Jahrhundertwende, als sich der deutsche Imperialismus am Beginn seiner „Weltpolitik" noch vorwiegend auf die pénétration pacifique beschränkte, wie sie mit wachsender Intensität im Vorderen Orient — insbesondere mit dem Bau der Bagdadbahn — und auf dem Balkan (Dok. 3, 4, 9, 10,11, 42), gegenüber Österreich-Ungarn, Rußland, England, Frankreich, Belgien, Holland und anderen mittel- und westeuropäischen Staaten, in Südamerika, Asien und Afrika mit Erfolg betrieben wurde, meldeten Junker und Großbourgeoisie nicht nur immer vernehmlicher ihren Anspruch auf einen noch größeren, unmittelbaren Anteil an den Einflußsphären und Rohstoffgebieten der Erde an (Dok. 32, 60, 69, 70, 71, 82, 85, 88). In wachsendem Maße bediente sich der deutsche Imperialismus in seinem Kampf um den „Platz an der Sonne" auch der Politik der Stärke. Sie fand ihren Ausdruck in der gewaltsamen Inbesitznahme fremder Stützpunkte und Territorien oder in militärischen Interventionen wie 1897/98 bei der Inbesitznahme Kiautschous durch einen „Pachtvertrag" auf 99 Jahre, 1899 bei der Gewinnung der Karolinen, der Palauinseln und der Marianen und 1900 bei der Beteiligung an der Unterdrückung des Ihotuan-Aufstandes in China. Sie wurde aber auch durch die Drohung mit militärischer Gewalt und durch militärische Erpressungen verwirklicht, wie 1901/02 bei dem gemeinsam mit dem englischen Imperialismus unternommenen erfolgreichen Versuch, Venezuela durch eine militärische Blockade zur Zahlung von Schulden an die deutschen Gläubiger zu zwingen,' 3 in der ersten Marokkokrise 105 (Dok. 26), bei der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn 1908 (Dok. 42), beim „Panthersprung" nach Agadir, der 1911 die zweite Marokkokrise auslöste (Dok. 59,61,62), und während der Balkankriege 1912/13. Dok. 69, 72, 73) Diese Tendenz zur Methode offener Gewalt äußerte sich schließlich in der forcierten Aufrüstung, in den Flottenverstärkungen und Heeresvorlagen sowie in Plänen und Maß3

Siehe Vagts, Alfred, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, Bd. 2, London 1935, S. 1525 ff. ; Hallgarten, Georges W. F., Imperialismus vor 1914, Bd. 1, 2. Aufl., München 1963, S. 561 f.

Einleitung

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nahmen zur Vorbereitung der Jugend auf den Eroberungskrieg (Dok. 87), und in der anschwellenden chauvinistischen Propaganda, die den Krieg verherrlichte. (Dok. 83) So waren auch in der deutschen Außenpolitik zwei Methoden der Machtausübung miteinander verbunden und ergänzten einander. Neben der offenen Gewaltanwendung oder -androhung suchten die Imperialisten ihre Expansionsgelüste durch die Methode der „friedlichen" Durchdringung mittels Staatsanleihen, Kompensationen oder staatlicher Garantien zur Förderung des Kapital- und Warenexportes (Dok. 4, 42, 51, 52, 53, 63, 69) sowie durch den „Kulturimperialismus" zu verwirklichen. 74 Letztlich dienten aber auch diese Methoden nur der Vorbereitung der lediglich auf einen günstigeren Zeitpunkt vertagten vollständigen Inbesitznahme fremder Gebiete (Dok. 48, 53, 59, 69, 72) oder der erstrebten politischen Hegemonie. Beispiele dafür sind: die „friedliche" Durchdringung des Osmanischen Reiches und französischer Erzgebiete oder die diplomatische Absicherung des später geplanten kriegerischen Vorgehens, wie bei den vergeblichen Versuchen, Englands Neutralität im Falle eines Krieges durch Zugeständnisse zu erlangen. (Dok. 46, 53, 61, 65) Und dort, wo sich die deutschen Imperialisten zunächst noch mit der „ökonomischen'^ Expansion begnügten, waren sie bereit, bedenkenlos zum Schwert zu greifen, wenn wichtige wirtschaftliche Einflußsphären verlorenzugehen drohten. (Dok. 69, 88)

6. Zur Kriegszielpolitik 1914

bis

des deutschen

Imperialismus

1917

Das allen Kreisen des junkerlich-bürgerlichen Ausbeuterblocks gemeinsame Ziel, dem deutschen Imperialismus den „Platz an der Sonne" zu erzwingen, bedingte eine zunehmende Orientierung auf die Methode der offenen Gewalt. Diese Politik, die von Bethmann Hollweg im nachhinein beschönigend, aber nicht unzutreffend als „Politik äußersten Risikos, und zwar eines sich mit jeder Wiederholung steigernden Risikos", umschrieben worden ist 7 5 (Dok. 123), führte schließlich im J u l i 1914 zum ersten Weltkrieg, für dessen E n t fesselung der deutsche Imperialismus die Hauptverantwortung trug. 7 6 (Dok. 89, 91, 92) Damit nahmen J u n k e r und Monopolbourgeoisie einheitlich Kurs auf die gewaltsame Neuaufteilung der Erde. Die Meinungsverschiedenheiten über die Form der Expansion und über deren Ausmaß, die weiterbestanden, beruhten auf diesem Konsensus. Sie traten jedoch stärker hervor, nachdem die Blitzkriegsstrategie im Herbst 1914 gescheitert war. (Dok. 109) Während die konservativ-imperialistischen Kreise um Junker und Montanmonopolisten weiter auf der Forderung nach einer umfassenden Verwirklichung vorwiegend annexionistischer E x 74

Gutsche, Willibald ¡Klein, Fritz/ Petzold, Joachim, Von Sarajewo nach Versailles. Deutschland im ersten Weltkrieg, Berlin 1974, S. 102 ff. 75 ZStA Potsdam, Nachlaß Otto Hamann, Nr. 4, Bl. 13, Th. v. Bethmann Hollweg an B. v. Bülow, 10. 6. 1915 (Dok. 123). — Siehe dazu Gutsche, Willibald, Aufstieg und Fall eines kaiserlichen Reichskanzlers, S. 82 ff. 76 Siehe dazu Deutschland im ersten Weltkrieg, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Zentralinstitut für Geschichte, Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg, Leitung: Fritz Klein, Bd. I: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein, 3. durchges. Aufl., Berlin 1971, S. 209 ff.; Gutsche, Willibald/Klein, Fritz/Petzold, Joachim, Von Sarajewo nach Versailles, S. 11 ff.

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nahmen zur Vorbereitung der Jugend auf den Eroberungskrieg (Dok. 87), und in der anschwellenden chauvinistischen Propaganda, die den Krieg verherrlichte. (Dok. 83) So waren auch in der deutschen Außenpolitik zwei Methoden der Machtausübung miteinander verbunden und ergänzten einander. Neben der offenen Gewaltanwendung oder -androhung suchten die Imperialisten ihre Expansionsgelüste durch die Methode der „friedlichen" Durchdringung mittels Staatsanleihen, Kompensationen oder staatlicher Garantien zur Förderung des Kapital- und Warenexportes (Dok. 4, 42, 51, 52, 53, 63, 69) sowie durch den „Kulturimperialismus" zu verwirklichen. 74 Letztlich dienten aber auch diese Methoden nur der Vorbereitung der lediglich auf einen günstigeren Zeitpunkt vertagten vollständigen Inbesitznahme fremder Gebiete (Dok. 48, 53, 59, 69, 72) oder der erstrebten politischen Hegemonie. Beispiele dafür sind: die „friedliche" Durchdringung des Osmanischen Reiches und französischer Erzgebiete oder die diplomatische Absicherung des später geplanten kriegerischen Vorgehens, wie bei den vergeblichen Versuchen, Englands Neutralität im Falle eines Krieges durch Zugeständnisse zu erlangen. (Dok. 46, 53, 61, 65) Und dort, wo sich die deutschen Imperialisten zunächst noch mit der „ökonomischen'^ Expansion begnügten, waren sie bereit, bedenkenlos zum Schwert zu greifen, wenn wichtige wirtschaftliche Einflußsphären verlorenzugehen drohten. (Dok. 69, 88)

6. Zur Kriegszielpolitik 1914

bis

des deutschen

Imperialismus

1917

Das allen Kreisen des junkerlich-bürgerlichen Ausbeuterblocks gemeinsame Ziel, dem deutschen Imperialismus den „Platz an der Sonne" zu erzwingen, bedingte eine zunehmende Orientierung auf die Methode der offenen Gewalt. Diese Politik, die von Bethmann Hollweg im nachhinein beschönigend, aber nicht unzutreffend als „Politik äußersten Risikos, und zwar eines sich mit jeder Wiederholung steigernden Risikos", umschrieben worden ist 7 5 (Dok. 123), führte schließlich im J u l i 1914 zum ersten Weltkrieg, für dessen E n t fesselung der deutsche Imperialismus die Hauptverantwortung trug. 7 6 (Dok. 89, 91, 92) Damit nahmen J u n k e r und Monopolbourgeoisie einheitlich Kurs auf die gewaltsame Neuaufteilung der Erde. Die Meinungsverschiedenheiten über die Form der Expansion und über deren Ausmaß, die weiterbestanden, beruhten auf diesem Konsensus. Sie traten jedoch stärker hervor, nachdem die Blitzkriegsstrategie im Herbst 1914 gescheitert war. (Dok. 109) Während die konservativ-imperialistischen Kreise um Junker und Montanmonopolisten weiter auf der Forderung nach einer umfassenden Verwirklichung vorwiegend annexionistischer E x 74

Gutsche, Willibald ¡Klein, Fritz/ Petzold, Joachim, Von Sarajewo nach Versailles. Deutschland im ersten Weltkrieg, Berlin 1974, S. 102 ff. 75 ZStA Potsdam, Nachlaß Otto Hamann, Nr. 4, Bl. 13, Th. v. Bethmann Hollweg an B. v. Bülow, 10. 6. 1915 (Dok. 123). — Siehe dazu Gutsche, Willibald, Aufstieg und Fall eines kaiserlichen Reichskanzlers, S. 82 ff. 76 Siehe dazu Deutschland im ersten Weltkrieg, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Zentralinstitut für Geschichte, Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg, Leitung: Fritz Klein, Bd. I: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein, 3. durchges. Aufl., Berlin 1971, S. 209 ff.; Gutsche, Willibald/Klein, Fritz/Petzold, Joachim, Von Sarajewo nach Versailles, S. 11 ff.

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pansionsmethoden beharrten (Dok. 96, 97, 98, 106, 114, 117, 121), plädierten die Iiberalisierenden imperialistischen Kreise um Elektromonopole, Großbanken und Schiffahrtsunternehmen sowie große Teile der Fertigwarenindustrie im Hinblick auf die kontinentalen Expansionsziele erneut für vorwiegend indirekte Formen der Hegemonie. (Dok. 119, 125, 131, 145) Die Reichsleitung, in deren Kriegszielprogramm vom 9. September 1914 77 die verschiedenen Expansionselemente des junkerlich-bürgerlichen deutschen Imperialismus miteinander verschmolzen, neigte hinsichtlich der taktischen Planung stärker der elastischen Methode zu. 78 Während sie in Afrika die direkte Annexion großer Gebiete mit dem Ziel eines zusammenhängenden deutschen Kolonialreiches erstrebte (Dok. 94, 95, 103) und in Europa z. B. Longwy-Briey und einen polnischen Grenzstreifen (Dok. 101, 129) annektieren wollte, beabsichtigte sie die Hegemonie über Europa vor allem mit Hilfe eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes unter deutscher Führung (Dok. 95, 99, 100, 103, 115, 107, 110, 112, 113, 116,118, 128, 129, 131,132, 138,145) zu realisieren; dies vor allem deshalb, weil sie einen vollständigen Sieg über die Ententemächte, vor allem über England, bezweifelte und die vorwiegende Form der unmittelbaren politischen Einverleibung fremder Völker auf dem europäischen Kontinent auf Grund der Erfahrungen der Vorkriegszeit innenpolitisch für bedrohlich hielt. Deshalb suchte sie, neben brutalen Methoden wie der Deportation Zehntausender Belgier zur Zwangsarbeit in die deutsche Rüstungsindustrie und der drakonischen Unterdrückung jedes Widerstandes in den Okkupationsgebieten (Dok. 149), die geplante direkte und indirekte Vorherrschaft über andere Länder auch durch „liberale" Methoden vorzubereiten, welche die Bevölkerung der betreffenden Gebiete deutschfreundlich stimmen sollten (Dok. 111,139), und in Separatfriedensverhandlungen die erstrebte Beute durch „Frisieren" handfester Expansionsziele als „Selbstbestimmung" einzutreiben (Dok. 156). Dabei stieß die Reichsleitung jedoch auf den Widerstand der konservativ-imperialistischen Kreise und der militärischen Führung, die ohne Rücksicht auf solche Erwägungen ihre harte Linie zu verwirklichen suchten. (Dok. 101, 106, 117, 121, 124, 126, 137, 140) Die flexibleren Methoden stärker zuneigenden Kreise, die angesichts der Mißerfolge der deutschen Kriegführung seit der Jahreswende 1916/17 für gewisse Abstriche am Kriegszielprogramm eintraten und einem imperialistischen Verständigungsfrieden das Wort redeten, um eine völlige Niederlage zu verhindern, wenigstens die wichtigsten Expansionsziele zu verwirklichen und durch Friedensbeteuerungen die Volksmassen zum Durchhalten zu bewegen (Dok. 160), vermochten sich aber auch jetzt nicht auf breiter Front durchzusetzen.

7. Zur innenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus 1914 bis 1917 Innenpolitisch verstärkten die Bedingungen des Krieges die dem Imperialismus immanenten gegensätzlichen Tendenzen, den Drang zur Negation der Demokratie einerseits und den Drang der Volksmassen zur Demokratie andererseits, beträchtlich. Diese Bedingungen 77 78

3

Weltherrschaft im Visier, Dok. 26, S. 86 ff. Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2: Januar 1915 bis Oktober 1917, von einem.Autorenkollektiv unter Leitung von Willibald Gutsche, 2., durchges. Aufl., Berlin 1970, S. 371 ff. Gutsche, Strategie

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pansionsmethoden beharrten (Dok. 96, 97, 98, 106, 114, 117, 121), plädierten die Iiberalisierenden imperialistischen Kreise um Elektromonopole, Großbanken und Schiffahrtsunternehmen sowie große Teile der Fertigwarenindustrie im Hinblick auf die kontinentalen Expansionsziele erneut für vorwiegend indirekte Formen der Hegemonie. (Dok. 119, 125, 131, 145) Die Reichsleitung, in deren Kriegszielprogramm vom 9. September 1914 77 die verschiedenen Expansionselemente des junkerlich-bürgerlichen deutschen Imperialismus miteinander verschmolzen, neigte hinsichtlich der taktischen Planung stärker der elastischen Methode zu. 78 Während sie in Afrika die direkte Annexion großer Gebiete mit dem Ziel eines zusammenhängenden deutschen Kolonialreiches erstrebte (Dok. 94, 95, 103) und in Europa z. B. Longwy-Briey und einen polnischen Grenzstreifen (Dok. 101, 129) annektieren wollte, beabsichtigte sie die Hegemonie über Europa vor allem mit Hilfe eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes unter deutscher Führung (Dok. 95, 99, 100, 103, 115, 107, 110, 112, 113, 116,118, 128, 129, 131,132, 138,145) zu realisieren; dies vor allem deshalb, weil sie einen vollständigen Sieg über die Ententemächte, vor allem über England, bezweifelte und die vorwiegende Form der unmittelbaren politischen Einverleibung fremder Völker auf dem europäischen Kontinent auf Grund der Erfahrungen der Vorkriegszeit innenpolitisch für bedrohlich hielt. Deshalb suchte sie, neben brutalen Methoden wie der Deportation Zehntausender Belgier zur Zwangsarbeit in die deutsche Rüstungsindustrie und der drakonischen Unterdrückung jedes Widerstandes in den Okkupationsgebieten (Dok. 149), die geplante direkte und indirekte Vorherrschaft über andere Länder auch durch „liberale" Methoden vorzubereiten, welche die Bevölkerung der betreffenden Gebiete deutschfreundlich stimmen sollten (Dok. 111,139), und in Separatfriedensverhandlungen die erstrebte Beute durch „Frisieren" handfester Expansionsziele als „Selbstbestimmung" einzutreiben (Dok. 156). Dabei stieß die Reichsleitung jedoch auf den Widerstand der konservativ-imperialistischen Kreise und der militärischen Führung, die ohne Rücksicht auf solche Erwägungen ihre harte Linie zu verwirklichen suchten. (Dok. 101, 106, 117, 121, 124, 126, 137, 140) Die flexibleren Methoden stärker zuneigenden Kreise, die angesichts der Mißerfolge der deutschen Kriegführung seit der Jahreswende 1916/17 für gewisse Abstriche am Kriegszielprogramm eintraten und einem imperialistischen Verständigungsfrieden das Wort redeten, um eine völlige Niederlage zu verhindern, wenigstens die wichtigsten Expansionsziele zu verwirklichen und durch Friedensbeteuerungen die Volksmassen zum Durchhalten zu bewegen (Dok. 160), vermochten sich aber auch jetzt nicht auf breiter Front durchzusetzen.

7. Zur innenpolitischen Strategie und Taktik des deutschen Imperialismus 1914 bis 1917 Innenpolitisch verstärkten die Bedingungen des Krieges die dem Imperialismus immanenten gegensätzlichen Tendenzen, den Drang zur Negation der Demokratie einerseits und den Drang der Volksmassen zur Demokratie andererseits, beträchtlich. Diese Bedingungen 77 78

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Weltherrschaft im Visier, Dok. 26, S. 86 ff. Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2: Januar 1915 bis Oktober 1917, von einem.Autorenkollektiv unter Leitung von Willibald Gutsche, 2., durchges. Aufl., Berlin 1970, S. 371 ff. Gutsche, Strategie

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zwangen den deutschen Imperialismus in noch höherem Grade als zuvor zu paradoxen Folgerungen in der innenpolitischen Herrschaftsmethodik. Einerseits konnte er seine Kriegspolitik nur durch Verschärfung der offenen Gewalt, durch verstärkte künstliche Autorität und brutal erzwungene Disziplin sichern. Andererseits war er aber wie nie zuvor auf die Unterstützung durch die Volksmassen angewiesen und sah sich deshalb gleichzeitig verstärkt zu Methoden indirekter Gewaltanwendung und reformerischer Zugeständnisse genötigt. Dieser Zwang wirkte um so stärker, je länger der Krieg währte, je deutlicher es wurde, daß an einen Blitzsieg nicht zu denken war. Dabei setzte sich in der Regierungspolitik eine Linie der beiden stets in irgendeiner Form miteinander verbundenen Varianten imperialistischer Innenpolitik durch, die stärker der harten Methode entsprach, in der jedoch auch die reformerische Methode einen den neuen Anforderungen entsprechenden hervorragenden Platz einnahm. Der Krieg f ü h r t e innenpolitisch zu einer potenzierten Tendenz zur „Verletzung der Demokratie, zur Reaktion".' 9 Formen der Militärdiktatur, die sich mit der Errichtung der I I I . Obersten Heeresleitung 1916 noch erheblich verstärkten, entstanden bereits unmittelbar bei Kriegsbeginn. 80 Entgegen Einwänden des Reichskanzlers veranlaßte das preußische Kriegsministerium den Belagerungszustand über das ganze Reichsgebiet. (Dok. 90) Abgesichert durch dieses Damoklesschwert, das die herrschenden Kreise erbarmungslos auf alle niedersausen ließen, die die Kriegspolitik offen bekämpften (Dok. 130, 133, 142, 144), bediente sich die Reichsregierung in verstärktem Maße auch der „liberalen" Methode. Diese Tendenz offenbarte sich unmittelbar bei Kriegsbeginn in der sogenannten Burgfriedenstaktik. 8 1 (Dok. 93) Mit dieser spezifischen Form des Klassenkampfes suchten J u n k e r und Bourgeoisie die Arbeiterbewegung, die anderen Werktätigen, aber auch bürgerliche Kriegsgegner ihrer Kriegspolitik unterzuordnen. 8 2 Diese Taktik wurde den herrschenden Klassen durch den offenen, endgültigen Ubergang der rechtsopportunistischen Parteiund Gewerkschaftsführer auf ihre Seite ermöglicht. Sie wurde auch von den konservativimperialistischen Kreisen gebilligt, weil sie durch den Verrat der rechten F ü h r e r der Arbeiterbewegung ohne irgendein nennenswertes Zugeständnis ermöglicht worden war und die Anwendung offener Gewalt gegen die revolutionär gebliebenen Kräfte der Arbeiterbewegung und andere Friedenskämpfer einschloß. Begünstigte einerseits die „liberale" Methode — wie Lenin feststellte — den Revisionismus, so erleichterte andererseits die Ausbreitung des Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung den herrschenden Klassen verstärktes Anwenden sowohl „liberaler" als auch offener brutaler Methoden bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse. (Dok. 130, 142) Auch die „Neuorientierung" der inneren Politik, auf die die Reichsregierung nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie und in E r w a r t u n g einer längeren Kriegsdauer Mitte September 1914 Kurs n a h m (Dok. 99, 100, 108, 120, 122), wurde durch die Verschärfung der widersprüchlichen Tendenzen unter den Bedingungen des Krieges verursacht. Sie k n ü p f t e an Vorkriegserwägungen über die spätere Integration einer verbürgerlichten Arbeiterbewegung in den imperialistischen S t a a t an. Zugleich wurde sie unter dem eberi™ Lenin, W. /., Über eine Karikatur auf den Marxismus, in: Werke, Bd. 23, S. 24; Grundriß, S. 350. 80 Weber, Hellmuth, Ludendorff und die Monopole. Deutsche Kriegspolitik 1916—1918, Berlin 1966 j Schellenberg, Johanna, Die Herausbildung der Militärdiktatur . . ., S. 22 ff. Gutsche, Willibald, Bethmann Hollweg und die Politik der „Neuorientierung", S. 212 ff. 82 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, S. 221.

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falls bereits vor 1914 erörterten Aspekt konzipiert, daß die vorwiegend indirekte F o r m der Hegemonie des deutschen Imperialismus über Mitteleuropa, der auch die Reichsregierung zuneigte, durch gewisse innenpolitische Reformen abgesichert werden müsse (Dok. 100, 162), zumal sie sich nur gestützt auf eine Reichstagsmehrheit der linken bürgerlichen Parteien und der opportunistisch geführten Sozialdemokratie werde verwirklichen lassen. 8 3 (Dok. 135, 136) Das für die Reichsregierung entscheidende Motiv bestand jedoch in der Überlegung, daß eine „Neuorientierung" unumgänglich sei, um die Volksmassen während des Krieges bei der Stange zu halten und ein weiteres Erstarken der revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung zu verhindern. (Dok. 135, 136) Unter diesem Aspekt war die sogenannte Neuorientierungspolitik in gewissem Maße Konsequenz und Fortsetzung der Burgfriedenstaktik. Sie ging jedoch insofern über diese hinaus, als sie zum Unterschied von der Burgfriedenstaktik letztlich auf die Unterwerfung der Arbeiterbewegung mit vorwiegend reformerischen Methoden abzielte. Dies läßt z. B . die Begründung einer Änderung des Reichsvereinsgesetzes von 1908 (vgl. dazu Dok. 41) durch den Reichskanzler deutlich werden. (Dok. 136) Infolgedessen wurde die Neuorientierungspolitik nicht von den konservativimperialistischen Kräften unterstützt, die der Burgfriedenstaktik noch zugestimmt hatten. Die Meinungsverschiedenheiten über die innenpolitische Herrschaftsmethodik im junkerlich-bürgerlichen Ausbeuterblock entbrannten nunmehr erneut, j a sie nahmen erheblich schärfere Formen an, weil die Kontrahenten angesichts der zugespitzten Klassengegensätze unter den Bedingungen des Krieges ihre Forderungen weitaus vehementer verfochten und j e t z t viel entschiedener eine praktische Verwirklichung ihrer Konzeptionen erstrebten. (Dok. 96, 102, 104, 126, 134) Sie nahmen in dem Maße weiter zu, in dem das Scheitern der deutschen Kriegspolitik immer sichtbarer Ii er vor trat und die Antikriegsbewegung der Volksmassen anschwoll. 8 4 Angesichts der Mißerfolge der Kriegspolitik wurden die Befürworter vorwiegend gewaltsamer Methoden auch von jener Strömung unterstützt, die bisher mehr einer „liberalen" Herrschaftsausübung zuneigten. (Dok. 147, 148) Dies führte zu einer allseitigen Verschärfung der Kriegspolitik. Sie äußerte sich in der immer offeneren gewaltsamen Unterdrückung der Linken in der deutschen Arbeiterbewegung (Dok. 115, 130, 142, 144, 161) sowie aufrechter bürgerlich-pazifistischer Friedenskämpfer (Dok. 133)'. Aus F u r c h t vor der anschwellenden revolutionären Massenbewegung gegen den Krieg orientierte die Reichsregierung jedoch darauf, möglichst keine Märtyrer zu schaffen (Dok. 130). Zugleich sah sie sich dazu genötigt, ihr Neuorientierungsprogramm zu konkretisieren. (Dok. 120, 122, 134, 135) Die allseitige Verschärfung der Kriegspolitik fand ihren deutlichsten Ausdruck in der Errichtung der I I I . Obersten Heeresleitung unter den Generalen Ilindenburg und Ludendorff (Dok. 146), im Hindenburgprogramm und im Hilfsdienstgesetz 1916 (Dok. 151), im uneingeschränkten U-Boot-Krieg F r ü h j a h r 1917 (Dok. 137, 140, 141, 143) und in der Unterdrückung der revolutionären Mannschaftsbewegung in der deutschen Kriegsflotte im August 1917 (Dok. 161). Aber auch dieser verschärfte Kurs mußte angesichts des zuGutsche, Willibald, Der Einfluß des Monopolkapitals auf die Entstehung der außenpolitischen Konzeption der Regierung Bethmann Hollweg zu Beginn des ersten Weltkrieges, in: JfG, Bd. 5, Berlin 1971, S. 119 ff., bes. S. 169 ff. M Grundriß, S. 356. 3* 83

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nehmenden Antikriegskampfes der Volksmassen mit sozialpolitischen Zugeständnissen, z. B . beim Hilfsdienstgesetz (Dok. 151), und mit verstärkter Friedensheuchelei, z. B . in Form des sogenannten Friedensangebotes der Mittelmächte (Dok. 150, 152) und der Friedensresolution des Reichstages (Dok. 159, 160), gekoppelt werden. Im Frühjahr 1917 entschloß sich die Reichsregierung aus Furcht vor dem Übergreifen der russischen Februarrevolution auf Drängen flexiblerer Kreise der herrschenden Klassen (Dok. 153, 157) zu konkreteren Verlautbarungen zur Neuorientierung, vor allem im Hinblick auf eine Reform des preußischen Wahlrechts nach dem Kriege. Rosa Luxemburg schrieb: „Unter dem Eindruck der russischen Revolution fängt Preußen-Deutschland an, sich zu 'modernisieren'. Und was wird da an 'Neuorientierung' zutage gefördert? Ein Rest Jesuitengesetz und der famose Sprachenparagraph des Vereinsgesetzes (vgl. Dok. 136) werden abgeschafft. Also ein Vermächtnis aus Bismarcks seligen Zeiten der Ausnahmegesetze von 1872 und ein anderes aus den schönen Zeiten des Bülowschen Hottentottenblocks . . . Nichts hat plötzlich die erschreckende starre Reaktion, in der Deutschland versinkt, so grell beleuchtet wie gerade diese grotesken 'Reform'versuclie im Feuerschein des russischen Brandes. Wer denkt da nicht an jene alte Tante, die bei der Nachricht vom bevorstehenden Zusammenprall der Erde mit dem Kometen schleunigst ihre ältesten Mantillen aus der Truhe hervorholte, um die Motten aus ihnen auszuklopfen." 8 5 Die Osterbotschaft Wilhelms I I . (Dok. 154) wie der sogenannte Julierlaß 1917 (Dok. 158) waren, wie Karl Liebknecht feststellte und wie es zeitgenössische Dokumente beweisen (Dok. 153, 157), in Wahrheit ein „großer scheinparlamentarischer Kriegsschwindel", ein „Durchhaltetrick nach innen", eine „Verwirrungsspekulation nach außen", ein „Mittel zur Herstellung und Befestigung des neuen Durchhalteburgfriedens". 8 6 Die gewaltsame Unterdrückung der revolutionären Matrosen im Sommer 1917 bestätigt dies. (Dok. 161) Obgleich die Regierung Bethmann Hollweg nur strategisch-taktische Meinungsverschiedenheiten von der konservativ-imperialistischen Strömung trennten (Dok. 94, 95, 100, 101, 110, 112, 116, 118 u. a.), betrieb diese im Bunde mit den führenden Militärs deren Sturz. Damit sollte die bevorzugte Anwendung der „liberalen" Methode nach innen und außen verhindert werden (Dok. 126, 155), die dem deutschen Imperialismus nur auf andere Weise zu dienen hatte, aber an der politischen Machtstellung der konservativ-imperialistischen Kreise, besonders der Junker, innerhalb des Ausbeuterblocks rüttelte. Die liberalisierende imperialistische Strömung ließ diesen Kanzler fallen, weil er — wie sie nun aus Furcht vor der drohenden Niederlage meinte — die Verwirklichung gewisser Teilzugeständnisse zu zögernd und unvollkommen betrieben habe. 8 7 (Dok. 162) Die aus Elementen brutaler Gewalt und reformerischer Zugeständnisse bestehende raffinierte imperialistische Herrschaftsmethodik hatte es Junkern und Monopolbourgeoisie ermöglicht, den Eroberungskrieg vorzubereiten, zu entfesseln und so lange zu führen, große Teile der Volksmassen zu verwirren und — gestützt auf die rechten Partei- und Gewerkschaftsführer — große Teile der Arbeiterklasse als Kanonenfutter zu mißbrauchen. Den objektiven Gesetzmäßigkeiten unterworfen, setzten auch die Nachfolger Bethmann HollLuxemburg, Rosa, Zwei Osterbotschaften, in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 4: August 1914 bis Januar 1919, Berlin 1974, S. 265 f. 86 Liebknecht, Karl, Politische Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß. Unter Mitwirkung von Sophie Liebknecht hrsg., mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Franz Pfemfert, Berlin 1921, S. 11. 8? Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2, S. 202 ff. 85

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wegs den alten strategisch-taktischen Kurs fort, bis militärische Niederlage und revolutionäre Erhebung der Volksmassen im Herbst 1918 die Herrschenden zwangen, den Krieg zu beenden. Durch eine Revolution „von oben", durch eine neue Strategie, r e t t e t e n sie das imperialistische Herrschaftssystem über Niederlage u n d Revolution hinweg. Die Arbeiterklasse erzwang jedoch in der Novemberrevolution den Sturz der Monarchie u n d die Schaffung einer bürgerlich-parlamentarischen Republik und d a m i t eine imperialistische Herrschaftsform, die f ü r ihren weiteren Kampf u m Frieden, Demokratie u n d Sozialismus günstigere Kampfbedingungen bot.

8. Zur Auswahl

der

Dokumente

Die in diesem Band veröffentlichten 162 Dokumente zur Strategie u n d Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches aus den J a h r e n 1897/98 bis 1917 sollen dazu beitragen, Kenntnisse u n d Erkenntnisse über den reaktionären Charakter der Politik des deutschen Imperialismus zu erweitern und zu vertiefen. Bei der Auswahl der Dokumente waren die Herausgeber darauf bedacht, sowohl zeitgenössisches Material, das die konzeptionellen Erwägungen u n d Planungen imperialistischer Methoden innerhalb der verschiedenen Strömungen der herrschenden Klassen (vgl. Dok. 1, 5, 7, 9, 11, 14, 16, 19, 66, 98, 102,148, 160 u. a.) und im S t a a t s a p p a r a t (vgl. Dok. 2, 6, 8, 26, 27, 30, 61, 65, 7 8 , 1 0 0 , 1 3 7 , 1 5 6 u. a.), als auch solches, das deren praktische Anwendung zeigt (vgl. Dok. 3, 4, 10,12, 22, 31, 41, 90,142, 144,149 u. a.), zu veröffentlichen. Um die Vielschichtigkeit der Problematik transparent zu machen, wurden D o k u m e n t e sehr unterschiedlicher H e r k u n f t ausgewählt. Sie erfassen f ü r die politische Praxis des Staates verbindliche Weisungen und Entscheidungen des Kaisers, der Reichskanzler, der Staatssekretäre und der militärischen Führer, deren konzeptionelle Erörterungen u n d Planungen, Auffassungen und Forderungen einzelner Strömungen, Gruppierungen, Verbände oder Parteien der herrschenden Klassen sowie strategisch-taktische Äußerungen von Presseorganen u n d Einzelpersonen. Bei der Auswertung der Dokumente m u ß deshalb unbedingt ihr unterschiedliches politisches Gewicht berücksichtigt werden. Eine Anzahl von Dokumenten zur Strategie und T a k t i k der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches in diesem Zeitraum sind in der D D R bereits in anderen Quellensammlungen publiziert worden. 8 8 Außerdem wurden in den letzten J a h r e n — vor allem im Zusammenhang mit Untersuchungen über die Differenzierung innerhalb der herrschenden 88

Vor allem sei verwiesen auf: Weltherrschaft im Visier; Dokumente zur deutschen Geschichte, hrsg. von Dieter Fricke: 1898 bis 1903, bearb. von Dieter Fricke; 1904 bis 1909, bearb. von Dieter Fricke; 1910 bis 1914, bearb. von Annelies Laschitza; 1914 bis 1917, bearb. von Willibald Gutsche, Berlin 1976; Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Reihe I, Bd. IV: März 1898—Juli 1914, Berlin 1967; Reihe[II, Bd. 1: Juli 1914-Oktober 1917, Berlin 1958 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 2: Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin 1966, Dokumentenanhang, S. 327—503; Handbuch der Verträge 1871—1964. Verträge und andere Dokumente aus der Geschichte der internationalen Beziehungen, hrsg. von Hellmuth Stoecker unter Mitarbeit von Adolf Rüger, Berlin 1968, S. 35-166.,

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wegs den alten strategisch-taktischen Kurs fort, bis militärische Niederlage und revolutionäre Erhebung der Volksmassen im Herbst 1918 die Herrschenden zwangen, den Krieg zu beenden. Durch eine Revolution „von oben", durch eine neue Strategie, r e t t e t e n sie das imperialistische Herrschaftssystem über Niederlage u n d Revolution hinweg. Die Arbeiterklasse erzwang jedoch in der Novemberrevolution den Sturz der Monarchie u n d die Schaffung einer bürgerlich-parlamentarischen Republik und d a m i t eine imperialistische Herrschaftsform, die f ü r ihren weiteren Kampf u m Frieden, Demokratie u n d Sozialismus günstigere Kampfbedingungen bot.

8. Zur Auswahl

der

Dokumente

Die in diesem Band veröffentlichten 162 Dokumente zur Strategie u n d Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches aus den J a h r e n 1897/98 bis 1917 sollen dazu beitragen, Kenntnisse u n d Erkenntnisse über den reaktionären Charakter der Politik des deutschen Imperialismus zu erweitern und zu vertiefen. Bei der Auswahl der Dokumente waren die Herausgeber darauf bedacht, sowohl zeitgenössisches Material, das die konzeptionellen Erwägungen u n d Planungen imperialistischer Methoden innerhalb der verschiedenen Strömungen der herrschenden Klassen (vgl. Dok. 1, 5, 7, 9, 11, 14, 16, 19, 66, 98, 102,148, 160 u. a.) und im S t a a t s a p p a r a t (vgl. Dok. 2, 6, 8, 26, 27, 30, 61, 65, 7 8 , 1 0 0 , 1 3 7 , 1 5 6 u. a.), als auch solches, das deren praktische Anwendung zeigt (vgl. Dok. 3, 4, 10,12, 22, 31, 41, 90,142, 144,149 u. a.), zu veröffentlichen. Um die Vielschichtigkeit der Problematik transparent zu machen, wurden D o k u m e n t e sehr unterschiedlicher H e r k u n f t ausgewählt. Sie erfassen f ü r die politische Praxis des Staates verbindliche Weisungen und Entscheidungen des Kaisers, der Reichskanzler, der Staatssekretäre und der militärischen Führer, deren konzeptionelle Erörterungen u n d Planungen, Auffassungen und Forderungen einzelner Strömungen, Gruppierungen, Verbände oder Parteien der herrschenden Klassen sowie strategisch-taktische Äußerungen von Presseorganen u n d Einzelpersonen. Bei der Auswertung der Dokumente m u ß deshalb unbedingt ihr unterschiedliches politisches Gewicht berücksichtigt werden. Eine Anzahl von Dokumenten zur Strategie und T a k t i k der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches in diesem Zeitraum sind in der D D R bereits in anderen Quellensammlungen publiziert worden. 8 8 Außerdem wurden in den letzten J a h r e n — vor allem im Zusammenhang mit Untersuchungen über die Differenzierung innerhalb der herrschenden 88

Vor allem sei verwiesen auf: Weltherrschaft im Visier; Dokumente zur deutschen Geschichte, hrsg. von Dieter Fricke: 1898 bis 1903, bearb. von Dieter Fricke; 1904 bis 1909, bearb. von Dieter Fricke; 1910 bis 1914, bearb. von Annelies Laschitza; 1914 bis 1917, bearb. von Willibald Gutsche, Berlin 1976; Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Reihe I, Bd. IV: März 1898—Juli 1914, Berlin 1967; Reihe[II, Bd. 1: Juli 1914-Oktober 1917, Berlin 1958 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 2: Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin 1966, Dokumentenanhang, S. 327—503; Handbuch der Verträge 1871—1964. Verträge und andere Dokumente aus der Geschichte der internationalen Beziehungen, hrsg. von Hellmuth Stoecker unter Mitarbeit von Adolf Rüger, Berlin 1968, S. 35-166.,

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Einleitung

Klassen — eine Reihe Spezialstudien, Monographien und Dokumentationen veröffentlicht. 89 Eine umfassende Gesamtdarstellung der imperialistischen Herrschaftsmethoden von 1897/98 bis 1917 steht jedoch noch aus. Ebenso wurde bisher eine umfangreiche Dokumentensammlung unter einem solch spezifischen Aspekt nicht herausgegeben. Aus einigen der hier angeführten Quellen sind bereits kleinere Passagen in Arbeiten marxistischer und bürgerlicher Historiker zitiert worden. Einzelne für die Beurteilung der Strategie und Taktik der herrschenden Klassen besonders wichtige Dokumente fanden Berücksichtigung, obwohl sie bereits an anderer Stelle abgedruckt worden sind. Die überwiegende Mehrzahl der Dokumente wurde jedoch in der DDR bisher noch nicht publiziert. Die meisten Dokumente werden auszugsweise wiedergegeben, um möglichst viele einschlägige Belege unterbreiten zu können. Bei allen Kürzungen ist jedoch darauf Bedacht genommen worden, die für die Thematik des Bandes bedeutsamen Aussagen nicht zu beeinträchtigen. Die Dokumente dieses Bandes sollen die weitere Erforschung der imperialistischen Herrschaftsmethoden erleichtern. 90 Kritisch ausgewertet, bieten sie allen histo89

Siehe z. B. Basler, Werner, Deutschlands Annexionspolitik in Polen und im Baltikum 1914 bis 1918, Berlin 1962, bes. Anhang ,S. 359 ff.; Kuczynski, Jürgen, Zur Soziologie des imperialistischen Deutschland, in: J f W , Teil 11/1962, S. 68ff.; ders., Die Barbarei — extremster Ausdruck der Monopolherrschaftin Deutschland, S. 1484ff; Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole; dies., Zur Imperialismustheorie W. I. Lenins und zur Entwicklung staatsmonopolistischer Züge des deutschen Imperialismus bis 1914, in: J f W , Teil IV/1970, S. 25ff.; dies., Sozialgeschichte der Bourgeoisie, in: J f W , Teil IV/1968, S. 303ff.; Gutsche, Willibald, Zum Funktionsmechanismus zwischen Staat und Monopolkapital in Deutschland in den ersten Monaten des ersten Weltkrieges (1914—1915), in: J f W , Teil 1/1973, S. 63ff. (in ungarischer Sprache erstmals veröff. in: Szäzadok, Budapest, 2/1970, S. 251 ff.; ders., Bethmann Hollweg und die Politik der „Neuorientierung", S. 209 ff.; ders., Der Einfluß des Monopolkapitals auf die Entstehung der außenpolitischen Konzeption der Regierung Bethmann Hollweg zu Beginn des ersten Weltkrieges, S. 119 ff.; ders., Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, S. 34 ff.; ders., Die Auseinandersetzungen zwischen Falkenhayn und Bethmann Hollweg um das Kriegsziel „Mitteleuropa" im Spätsommer 1915 (Dokumentation), in: ZfM 6/1965, S. 672ff.; ders., Mitteleuropaplanungen in der Außenpolitik des deutschen Imperialismus vor 1918, in: ZfG 5/1972, S. 533 ff.; Schellenberg, Johanna, Probleme der Burgfriedenspolitik im ersten Weltkrieg, phil. Diss., Berlin 1967; dies., Die Herausbildung der Militärdiktatur in den ersten Jahren des Krieges, S. 22 ff.; dies., Immediatbericht des preußischen Ministers des Innern v. Loebell vom 22. November 1915 (Dokumentation), in: JfG, Bd. 1, Berlin 1967, S. 254ff.; Schröter, Alfred, Einige methodologische Fragen der Entstehung und Entwicklung monopolistischer Gruppierungen in Deutschland, in: J f W , Teil IV/1966, S. 127ff.; Gossweiler, Kurt, S. 15 bis 94; Kaulisch, Baidur, Die Auseinandersetzungen um den uneingeschränkten U-Boot-Krieg innerhalb der herrschenden Klasse während des ersten Weltkrieges, phil. Diss., Berlin 1970; ders., Die Auseinandersetzungen über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg innerhalb der herrschenden Klassen im zweiten Halbjahr 1916 und seine Eröffnung im Februar 1917, in: Politik im Krieg 1914—1918, S. 90 ff.; ders., Auseinandersetzungen um die Taktik gegenüber der Arbeiterbewegung, in JfG, Bd. 15, Berlin 1977, S. 289ff.; Fricke, Dieter, Methodologische Probleme der Erforschung der Geschichte der bürgerlichen Parteien, S. 189 ff.; ders., Der deutsche Imperialismus und die Reichstagswahlen von 1907 (Dokumentation), in: ZfG 3/1961, S. 538ff.; ders., Bürgerliche Sozialreformer und die Zersplitterung der antisozialistischen Arbeiterorganisationen vor 1914, in: ZfG 10/1975, S. 1177ff.

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Vgl. Fricke, Dieter, Zur Epoche des Imperialismus und des Vorabends der proletarischen Revolution (Ilauptperiode XVI), S. 70ff., bes. S. 75 und 77ff.

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risch Interessierten die Möglichkeit, die verschiedenartigen Methoden der Unterdrückungsund Expansionspolitik besser in ihrer Wechselbeziehung zu durchschauen und die Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes sowie den reaktionären Charakter aller Spielarten imperialistischer Politik an Hand zeitgenössischer Zeugnisse beweiskräftiger zu erläutern.

9. Zur Bearbeitung der Dokumente Die Dokumente des Bandes sind chronologisch geordnet und durchgehend numeriert. Dokumente, die nur das Monats- bzw. Jahresdatum tragen, wurden in der Regel am Ende des jeweiligen Monats bzw. Jahres eingeordnet. Die von den Herausgebern verfaßten Überschriften enthalten Angaben über Art des Dokuments, Verfasser, Empfängerund deren zeitgenössische Funktionen bzw. Dienstränge oder akademische Grade, Zeitpunkt der Entstehung des Schriftstücks und einen kurzen Hinweis auf seinen Inhalt bzw. den Inhalt des abgedruckten Auszugs. Soweit es zum Verständnis unbedingt erforderlich erschien, sind zu jedem Dokument nähere Angaben über Ereignisse, Personen, nicht ohne weiteres verständliche Bezüge des Verfassers usw., Erklärungen von Fremdwörtern sowie Verweise auf andere Dokumente angemerkt. Randbemerkungen der Empfänger bzw. Bearbeiter werden vollständig in den Anmerkungen wiedergegeben, wenn sie sich unmittelbar auf das Dokument beziehen. Bei der Wiedergabe der Texte sind — mit Ausnahme solcher Angaben, die für die Dokumentenausgabe bedeutsam waren — Aktenzeichen, Sachbetreffe, Anreden, Grußformeln, Unterschriften, Bearbeitungsvermerke, Verteiler und Schlußformeln privater Natur sowie protokollarische Vermerke über Beifallsäußerungcn weggelassen worden. Soweit es angezeigt war, wurde der offizielle Titel des Dokuments in der Überschrift verarbeitet; er ist dann in Anführungszeichen gesetzt. Hervorhebungen der Verfasser wurden beibehalten, aber vereinheitlicht: Kursivschrift. Kürzungen des Textes durch die Herausgeber sind durch drei Punkte angezeigt. Bei Dokumenten, die nicht vollständig wiedergegeben werden und durch die Bezeichnung „Aus . . ." in der Überschrift gekennzeichnet sind, wurde am Anfang und am Ende des abgedruckten Auszuges auf Kürzungspunkte verzichtet, wenn dieser mit einem vollständigen Satz beginnt oder endet. Die ursprüngliche Schreibweise in den Dokumenten wurde beibehalten. Offensichtliche Schreib- oder grammatische Fehler, in der Regel auch der heutigen Rechtschreibung nicht entsprechende Schreibweisen wurden korrigiert. Die unterschiedliche Schreibweise von Personennamen wurde vereinheitlicht. Die Schreibweise von geographischen Begriffen, Ortsnamen usw. entspricht, wenn sie nicht der heutigen Schreibweise angeglichen wurde, jener in den Dokumenten. Wiederholt auftretende, nicht ohne weiteres verständliche Abkürzungen sind in einem Abkürzungsverzeichnis erklärt. Einfügungen im Text der Dokumente, die in eckigen Klammern stehen, stammen von den Herausgebern. Die Herkunft der Dokumente ist jeweils hinter der Überschrift verzeichnet. Dabei wird bei unpaginierten Aktenstücken nur die Aktennummer genannt. Die Herausgeber danken allen Archiven und Institutionen, die freundlicherweise Einsicht in ihre Bestände gewährten und die Anfertigung von Abschriften oder Kopien für die Veröffentlichung gestatteten. Ihr Dank gilt Kurt Gossweiler, Fritz Klein und Gustav Seeber für wertvolle Anregungen. Nicht zuletzt danken sie Jenny Röser und Hannelore Rothenburg für die bei Herstellung des umfangreichen Manuskripts bzw. bei der Erarbeitung der Register geleistete Unterstützung.

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risch Interessierten die Möglichkeit, die verschiedenartigen Methoden der Unterdrückungsund Expansionspolitik besser in ihrer Wechselbeziehung zu durchschauen und die Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes sowie den reaktionären Charakter aller Spielarten imperialistischer Politik an Hand zeitgenössischer Zeugnisse beweiskräftiger zu erläutern.

9. Zur Bearbeitung der Dokumente Die Dokumente des Bandes sind chronologisch geordnet und durchgehend numeriert. Dokumente, die nur das Monats- bzw. Jahresdatum tragen, wurden in der Regel am Ende des jeweiligen Monats bzw. Jahres eingeordnet. Die von den Herausgebern verfaßten Überschriften enthalten Angaben über Art des Dokuments, Verfasser, Empfängerund deren zeitgenössische Funktionen bzw. Dienstränge oder akademische Grade, Zeitpunkt der Entstehung des Schriftstücks und einen kurzen Hinweis auf seinen Inhalt bzw. den Inhalt des abgedruckten Auszugs. Soweit es zum Verständnis unbedingt erforderlich erschien, sind zu jedem Dokument nähere Angaben über Ereignisse, Personen, nicht ohne weiteres verständliche Bezüge des Verfassers usw., Erklärungen von Fremdwörtern sowie Verweise auf andere Dokumente angemerkt. Randbemerkungen der Empfänger bzw. Bearbeiter werden vollständig in den Anmerkungen wiedergegeben, wenn sie sich unmittelbar auf das Dokument beziehen. Bei der Wiedergabe der Texte sind — mit Ausnahme solcher Angaben, die für die Dokumentenausgabe bedeutsam waren — Aktenzeichen, Sachbetreffe, Anreden, Grußformeln, Unterschriften, Bearbeitungsvermerke, Verteiler und Schlußformeln privater Natur sowie protokollarische Vermerke über Beifallsäußerungcn weggelassen worden. Soweit es angezeigt war, wurde der offizielle Titel des Dokuments in der Überschrift verarbeitet; er ist dann in Anführungszeichen gesetzt. Hervorhebungen der Verfasser wurden beibehalten, aber vereinheitlicht: Kursivschrift. Kürzungen des Textes durch die Herausgeber sind durch drei Punkte angezeigt. Bei Dokumenten, die nicht vollständig wiedergegeben werden und durch die Bezeichnung „Aus . . ." in der Überschrift gekennzeichnet sind, wurde am Anfang und am Ende des abgedruckten Auszuges auf Kürzungspunkte verzichtet, wenn dieser mit einem vollständigen Satz beginnt oder endet. Die ursprüngliche Schreibweise in den Dokumenten wurde beibehalten. Offensichtliche Schreib- oder grammatische Fehler, in der Regel auch der heutigen Rechtschreibung nicht entsprechende Schreibweisen wurden korrigiert. Die unterschiedliche Schreibweise von Personennamen wurde vereinheitlicht. Die Schreibweise von geographischen Begriffen, Ortsnamen usw. entspricht, wenn sie nicht der heutigen Schreibweise angeglichen wurde, jener in den Dokumenten. Wiederholt auftretende, nicht ohne weiteres verständliche Abkürzungen sind in einem Abkürzungsverzeichnis erklärt. Einfügungen im Text der Dokumente, die in eckigen Klammern stehen, stammen von den Herausgebern. Die Herkunft der Dokumente ist jeweils hinter der Überschrift verzeichnet. Dabei wird bei unpaginierten Aktenstücken nur die Aktennummer genannt. Die Herausgeber danken allen Archiven und Institutionen, die freundlicherweise Einsicht in ihre Bestände gewährten und die Anfertigung von Abschriften oder Kopien für die Veröffentlichung gestatteten. Ihr Dank gilt Kurt Gossweiler, Fritz Klein und Gustav Seeber für wertvolle Anregungen. Nicht zuletzt danken sie Jenny Röser und Hannelore Rothenburg für die bei Herstellung des umfangreichen Manuskripts bzw. bei der Erarbeitung der Register geleistete Unterstützung.

1. Verzeichnis der Dokumente

1. Aus der Denkschrift des Geschäftsführers des Zentralverbandes deutscher Industrieller Henry Axel Bueck „betreffend die Errichtung einer Stelle zur Vorbereitung des Abschlusses handelspolitischer Verträge mit dem Auslande" vom 13. Juni 1897 über Hauptgesichtspunkte künftiger Handelsverträge und die Schaffung einer Zentralstelle zur Vorbereitung von Handelsverträgen 57 2. Rede des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel auf dem Festmahl im Kaisersaal zu Solingen anläßlich der Einweihung der Müngstener Eisenbahnbrücke am 15. Juli 1897 über die Notwendigkeit, Gegensätze zwischen Industrie und Landwirtschaft auszugleichen und eine Wirtschafts- und Handelspolitik zu treiben, die den Interessen der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer Rechnung trägt 60 3. Aus dem Schreiben des Direktors der Deutschen Bank Georg von Siemens an den Direktor der Deutschen Bank Arthur von Gwinner vom 20. Oktober 1898 über die Fortsetzung des Baues der Bagdadbahn 62 4. Aus dem Schreiben des deutschen Botschafters in Konstantinopel Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein an das Auswärtige Amt vom 3. Februar 1899 über die Bagdadbahn 63 5. Aus dem Artikel von Friedrich Naumann, erster Vorsitzender des Nationalsozialen Vereins, „Was will die Sozialdemokratie?" in der Zeitschrift „Die Hilfe" vom 14. Mai 1899 über sein Ziel, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in eine kleinbürgerlich-reformistische, den kapitalistischen Staat bejahende Arbeiterpartei zu verwandeln 64 6. Entwurf eines „Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses", die sogenannte Zuchthausvorlage, vom 26. Mai 1899 65 7. Resolution der Mitgliederversammlung des Zentralverbandes deutscher Industrieller vom 17. November 1899 für die sogenannte Zuchthausvorlage 67 8. Aus dem Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 21. November 1899 über das weitere Verhalten nach der Ablehnung der sogenannten Zuchthausvorlage durch den Reichstag 68 9. Aus dem 1899 erschienenen Buch „Asia" von Friedrich Naumann über die indirekte Expansion des deutschen Imperialismus in der Türkei 69 10. Ganz geheimes Schreiben des Vortragenden Rates im Auswärtigen Amt Otto von Mühlberg an den Ersten Sekretär bei der Botschaft in London, Hermann Freiherr von Eckardstein, vom 31. J a n u a r 1900 über die finanzielle und diplomatische Absicherung des Baues der Bagdadbahn 71 11. Aus dem Artikel des Philosophen Eduard von Hartmann „Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert" in den „Alldeutschen Blättern" vom 11. Februar 1900 über einen mitteleuropäischen Zollverein unter deutscher Führung 72 12. Aus dem Schreiben des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin Läszlö Szö-

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gyeny—Marich an den österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren Agenor Graf von Goluchowski vom 2. Januar 1901 über die Forderung der Junker nach Erhöhung der Getreidezölle und die Haltung des Reichskanzlers und des preußischen Finanzministers 74 13. Aus der Ansprache des Mitglieds der polnischen Fraktion Ludwik Jazdzewski in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses am 15. Januar 1901 über die Germanisierungspolitik des deutschen Imperialismus gegenüber der polnischen Bevölkerung 74 Aus dem Vortrag „Warum betreiben wir die soziale Reform" des Vorsitzenden der 14. Gesellschaft für soziale Reform Hans Freiherr von Berlepsch vom 18. September 1903 über die Notwendigkeit, mit sozialen Reformen die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine reformistische Arbeiterpartei zu erreichen und den Klassenkampf zu entschärfen 76 Aus dem Artikel des nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Hugo Böttger „Der 15 sozialdemokratische Parteitag und die deutsche Scharfmacherei" in der Zeitung „Der Tag" vom 23. September 1903 über die Absicht der Revisionisten, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in opportunistische und damit für die herrschenden Klassen weniger gefährliche Bahnen zu lenken 79 Aus dem Artikel „Soziale Reform" von Henry Axel Bueck, Geschäftsführer des Zentral16. verbandes deutscher Industrieller, in der „Deutschen Industrie-Zeitung" vom 6. November 1903 gegen neue soziale Zugeständnisse an die Arbeiter 80 17. Aus dem Artikel „Crimmitschau" von Friedrich Weinhausen in der Zeitschrift „Die Nation" vom 12. Dezember 1903 gegen das die opportunistische Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hemmende behördliche Vorgehen gegen Streikende 82 18. Rundschreiben des Zentralverbandes deutscher Industrieller an seine sämtlichen Mitglieder vom Dezember 1903 mit der Forderung nach moralischer und materieller Unterstützung der Crimmitschauer Textilindustriellen gegen die Streikenden 83 19 Aus der von Heinrich Claß verfaßten Flugschrift des Alldeutschen Verbandes „Die Besitzergreifung West-Marokkos, der Anfang und die Voraussetzung praktischer deutscher Weltpolitik" vom 12. März 1904 85

20. Aus dem ersten Aufruf des am 9. Mai 1904 konstituierten Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie vom Herbst 1904 86

Aus der Rede Prof. Gustav Schmollers im preußischen Herrenhaus am 13. Mai 1904 über die Notwendigkeit einer „doppelten" Politik zur Uberwindung der revolutionären Sozialdemokratie 88 22. Information des Reichskanzlers Bernhard von Bülow an den Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes Otto Hammann vom 22. Januar 1905 über seine Maßnahmen zur Unterdrückung des Ruhrbergarbeiterstreiks 90 21.

23. Aus dem Artikel „Der Ausstand der Kohlenarbeiter und die Novelle zum Berggesetz" von Henry Axel Bueck, Geschäftsführer des Zentralverbandes deutscher Industrieller, vom 3. Februar 1905 gegen die Berggesetz-Novelle der preußischen Regierung 91 24. Resolution der Versammlung der Delegierten der bergbaulichen Vereine Deutschlands vom 16. März 1905 gegen die Berggesetz-Novelle der preußischen Regierung 93 25. Weisung des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Bernhard von Bülow an den Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes Otto Hammann

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vom 19. März 1905 über Argumente für die Behandlung der Berggesetz-Novelle im preußischen Abgeordnetenhaus 94 26. Reichskanzler Bernhard von Bülow über die von Kaiser Wilhelm II. in seinem sogenannten Silvesterbrief vom 31. Dezember 1905 geäußerten Gedanken zur außenund innenpolitischen Vorbereitung eines Krieges des Deutschen Reiches 95 27. Schreiben des preußischen Ministers des Innern Theobald von Bethmann Hollweg an das preußische Staatsministerium vom 18. Januar 1906 über den Kampf gegen die Auswirkungen der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland 96 28. Aus der Rede des preußischen Innenministers Theobald von Bethmann Hollweg im preußischen Abgeordnetenhaus am 23. März 1906 zur Begründung einer geringfügigen Reform des preußischen Wahlrechts und gegen die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts 97 29. Aus dem Privatbrief des preußischen Ministers des Innern Theobald von Bethmann Hollweg an seinen Jugendfreund Wolfgang von Oettingen vom 4. April 1906 über die Schwierigkeiten einer Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts 99 30. Schreiben des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Arthur Graf von Posadowsky-Wehner an den Reichskanzler Bernhard von Bülow vom 16. Oktober 1906 über die Zuziehung von zwei Arbeitervertretern zu den Beratungen des Wirtschaftlichen Ausschusses 99 31. Aus dem Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 30. Oktober 1906 über Maßnahmen zur Unterdrückung der Sozialdemokratie 101 32. Aus dem Artikel „Der Wille zur Weltgeltung" in den „Alldeutschen Blättern" vom 5. Januar 1907 mit der Forderung, die imperialistische Weltpolitik im bevorstehenden Wahlkampf als nützlich für die besitzlosen Klassen hinzustellen 111 33. Glückwunschschreiben des Zentralverbandes deutscher Industrieller an Reichskanzler Bernhard von Bülow vom 6. Februar 1907 zum Ergebnis der „Hottentottenwahlen" mit der Forderung, den Kampf gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands fortzusetzen 111 34. Schreiben des Reichskanzlers Bernhard von Bülow an das Direktorium des Zentralverbandes deutscher Industrieller vom 7. Februar 1907 anläßlich des Ergebnisses der „Hottentottenwahlen" über sozialpolitische Mittel und Reformen zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 113 35. Aus der Rede des Reichstagsabgeordneten der Freisinnigen Vereinigung Friedrich Naumann im Reichstag vom 11. April 1907 über eine Milderung der Klassengegensätze durch einen sogenannten Industrieparlamentarismus 113 36. Aus dem geheimen Erlaß des Kommandierenden Generals des VII. Armeekorps Moritz Ferdinand Freiherr von Bissing über das Verhalten der Truppen „bei inneren Unruhen" vom 30. April 1907 115 37. Aus der Rede des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Theobald von Bethmann Hollweg auf dem 2. Kongreß Christlich-Nationaler Arbeiter am 22./23. Oktober 1907 über sein Ziel einer Integration der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Staat 116 38. Aus der Rede des Generaldirektors der Gelsenkirchener Bergwerks AG Emil Kirdorf auf dem Festmahl des Zentralverbandes deutschet Industrieller am 28. Oktober 1907 über die Notwendigkeit des Kampfes gegen die „Umsturzparteien" und für die Wahrung des „Herrenstandpunktes" sowie über sein Selbstverständnis als eines „ersten Arbeiters" in seinem Betrieb 116

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39. Aus der Reichstagsrede des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Theobald von Bethmann Hollweg am 6. März 1908 zur Frage einer Kontrolle der Kartelle und Syndikate 119 40. Aus der Reichstagsrede des nationalliberalen Abgeordneten Johannes Junckh vom 11. März 1908 über eine gewisse staatliche Kontrolle der Kartelle und Syndikate 119 41. Aus dem Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908 120 42. Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Bernhard von Bülow an den österreichischungarischen Minister des Äußeren Freiherr Alois Aehrenthal vom 30. Oktober 1908 über die Interessen des deutschen Imperialismus an den Orientbahnen und in Serbien 122 43. Aus den Erinnerungen des ehemaligen preußischen Kriegsministers Generaloberst Karl von Einem über Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Staatsapparates in der Frage eines neuen Gesetzes zur direkten Bekämpfung der sozialdemokratischen Propaganda im Jahre 1908 122 44. Aus der Rede des Staatssekretärs des Innern Theobald von Bethmann Hollweg im Reichstag vom 15. Januar 1909 anläßlich der ersten Beratung des Entwurfs eines Arbeitskammergesetzes über die „ausgleichende" Funktion von Arbeitskammern 123 45. Aus dem Schreiben des Generals der Infanterie Helmuth Graf von Moltke, Chef des kaiserlich-deutschen Generalstabes, an den General der Infanterie Franz Conrad von Hötzendorff, Chef des österreichisch-ungarischen Generalstabes, vom 21. Januar 1909 über das Vorgehen bei einem künftigen Zweifrontenkrieg Deutschlands und Österreich-Ungarns gegen Rußland und Frankreich 125 46. Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Wilhelm Freiherr von Schoen vom 14. August 1909 über die Ziele eines deutsch-englischen Flotten- bzw. Neutralitätsabkommens 126 47. Aus dem Artikel „Der Sieg des Revisionismus" im „Berliner Tageblatt" vom 16. September 1909 anläßlich des Leipziger Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands über die Entwicklung der Sozialdemokratie zu einem „positiven politischen Faktor" durch das Vordringen des Opportunismus 128 48. Aus dem Artikel „Kampf bis zum Ende!" in der dem Bund der Landwirte nahestehenden „Deutschen Tageszeitung" vom 18. September 1909 anläßlich des Leipziger Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands über die Notwendigkeit des Kampfes mit allen Mitteln sowohl gegen eine revolutionäre als auch gegen eine revisionistisch geführte sozialdemokratische Partei 129 49. Schreiben des Chefs des österreichisch-ungarischen Generalstabes Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf an den österreichisch-ungarischen Minister des k. und k. Hauses und des Äußeren Alois Graf Lexa von Aehrenthal vom 7. Februar 1910 über die Kriegsvorbereitungsarbeiten des deutschen Generalstabes für das J a h r 1910 130 50. Aus der Rede des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Theobald von Bethmann Hollweg im preußischen Abgeordnetenhaus am 10. Februar 1910 gegen die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus 131 51. Schreiben der Disconto-Gesellschaft an das Auswärtige Amt vom 12. März 1910 über Schwierigkeiten der Disconto-Gesellschaft und der Gelsenkirchener Bergwerks AG bei ihrer ökonomischen Expansion im französischen Erzgebiet von Briey 133 52. Schreiben des Botschaftsrates an der deutschen Botschaft in Paris Oskar Freiherr

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von Lancken-Wakenitz an den Reichskanzler Theobald von Belhmann Hollvveg vom 15. Juni 1910 über seine Intervention bei der französischen Regierung zugunsten der Expansionsinteressen der Disconto-Gesellschaft und der Gelsenkirchener Bergwerks AG im französischen Erzgebiet von Briey 134 Schreiben des deutschen Konsuls in Le Havre, von Haeften, an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 6. Juli 1910 über die ökonomische Expansion des Thyssenkonzerns und der Gutehoffnungshütte AG, Oberhausen, in der Normandie und über die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und politischen Konfliktmöglichkeiten 135 Aus dem Artikel „Die Unruhen in Berlin" von Henry Axel Bueck, Geschäftsführer des Zentralverbandes deutscher Industrieller, in der Zeitung „Der Tag" vom 2. Oktober 1910 über die Unterdrückung der Arbeiterbewegung durch drakonische Gesetze im Stile der „Zuchthausvorlage" 137 Aus der Ansprache des Generaldirektors der Farbenfabriken, vorm. Friedrich Bayer & Co., Carl Duisberg, beim ersten Jubilarfest der Farbenfabrikeil am 17. Oktober 1910 über die Bindung der Arbeiter an den Betrieb mit Hilfe von Fabrikfesten 139 Schreiben Kaiser Wilhelms II. an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 23. Januar 1911 mit der Forderung, den Beschluß des Reichstages, die Reiclisfürsten mit zur Steuer heranzuziehen, sofort rückgängig zu machen 140 Aus der Ansprache des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg auf dem Festmahl des Deutschen Handelstages in Heidelberg am 16. Mai 1911 über das „Ineinanderlaufen der Interessen der Privatbetriebe und des Staates" 140 Tagebuchaufzeichnung von Kurt Riezler, Mitarbeiter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, vom 17. Mai 1911 über dessen Erwägung, später mit einer opportunistisch geführten sozialdemokratischen Partei zusammenzuarbeiten 141 Aus den Tagebuchaufzeichnungen von Kurt Riezler, Mitarbeiter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom Mai, Juli und August 1911 über die Marokkopolitik 142 Aus einem unveröffentlichten Teil der vom Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß verfaßten Flugschrift „Westmarokko deutsch!" von Anfang Juli 1911 mit der Forderung nach Annexion großer Teile Frankreichs im Ergebnis eines Krieges 144 Aus dem Schreiben des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Alfred von KiderlenWaechter an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 17. Juli 1911 über seine mit der Marokkopolitik verfolgten Expansionsziele 145 Aus den Tagebuchaufzeichnungen Wolfgang von Oettingens, eines Jugendfreundes des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, vom 14. November 1911 über vertrauliche Äußerungen Bethmann Hollwegs zu den mit dem „Panthersprung" vom 1. Juli 1911 verfolgten Plänen 146 Aus dem streng geheimen Schreiben des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe Reinhold Sydow an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 1. Januar 1912 über die wirtschaftspolitische Sicherung des steigenden deutschen Exports 146 Aus der Erklärung „Zur Reichstagswahl" der Reichsleitung vom 2. Januar 1912 über die endliche Überwindung der Sozialdemokratie als „Lebensfrage" 147 Aus einer Tagebuchaufzeichnung des Chefs des kaiserlichen Marinekabinetts Admiral

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Georg Alexander von Müller vom 11. Januar 1912 über Pläne des Reichskanzlers Theobald von Belhmann Hollweg, seine kolonialpolitischen Ziele mit Hilfe gewisser rüstungspolitischer Zugeständnisse gegenüber Großbritannien zu verwirklichen 147 66. Aus einer am 27. Januar 1912 in der „Kreuzzeitung" veröffentlichten Zuschrift „Was uns die Wahlen lehren" von Generalleutnant z. D. Waldemar Graf von Roon, Mitglied des preußischen Herrenhauses, zum Ergebnis der Reichstagswahlen, über die Bekämpfung der Sozialdemokratie durch Ausnahmegesetze und rigorosen Abbau aller demokratischen Rechte 148 67. Aus dem Brief des bürgerlichen Sozialreformers Prof. Lujo Brentano an den Vorsitzenden des Vereins für Sozialpolitik Prof. Gustav Schmoller vom 8. Oktober 1912 über die Ergebnisse seines Kampfes um sozialpolitische Reformen und die indifferente Stimmung im Verein für Sozialpolitik 149 68. Aus dem Artikel des Vorsitzenden des Vereins für Sozialpolitik Prof. Gustav Schmoller „Demokratie und soziale Zukunft" in der „Sozialen Praxis" vom 7. November 1912 über die angebliche Unfähigkeit der werktätigen Massen, den Staat und die Wirtschaft zu leiten 150 69. Aus der Reichstagsrede des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg am 2. Dezember 1912 über die Sicherung der Interessen des deutschen Finanzkapitals in Südosteuropa und im Vorderen Orient 152 70. Aus der 1912 erschienenen Schrift des Generals Friedrich von Bernhardi „Unsere Zukunft. Ein Mahnwort an das deutsche Volk" über die Notwendigkeit eines militärischen Kampfes um die Weltmacht 153 71. Aus dem 1912 erschienenen Buch des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß „Wenn ich der Kaiser wär'" über die innen- und außenpolitischen Vorstellungen der reaktionärsten Kreise der herrschenden Klassen 154 72. Aus einem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren Leopold Graf Berchtold vom 10. Februar 1913 über die Austragung eines Krieges um die Vormachtstellung des Deutschen Reiches unter günstigeren außenpolitischen Bedingungen 159 73. Aus dem Schreiben des deutschen Botschafters in Wien Heinrich von Tschirschky an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 4. April 1913 über seine Bemühungen, im Falle eines kriegerischen Konfliktes Rußland als schuldigen Teil erscheinen zu lassen 161 74. Aus dem Bericht eines Mitarbeiters der Reichskanzlei über den dritten Reichsdeutschen Mittelstandstag am 24. August 1913 in Leipzig, mit dem die konservativimperialistischen Kreise der herrschenden Klassen ein „ Kartell der schaffenden Stände" erstrebten 161 75. Aus der Stellungnahme des Vorsitzenden des Bundes der Industriellen Heinrich Friedrichs auf der 17. Ordentlichen Generalversammlung des Bundes der Industriellen in Leipzig am 11. September 1913 gegen die auf dem dritten Reichsdeutschen Mittelstandstag am 24. August 1913 von Vertretern des Zentralverbandes deutscher Industrieller und des Bundes der Landwirte abgegebenen Erklärungen über eine Gemeinschaftsarbeit von Industrie, Landwirtschaft und Mittelstand 163 76. Aus dem Schreiben des preußischen Ministers des Innern Johann von Dallwitz an die preußischen Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin vom 4. Oktober 1913 über Maßnahmen zur wirksameren Unterdrückung des Streikposten-

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steliens mit einem Auszug aus der beigefügten Polizeiverordnung des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen vom 11. Juli 1908 166 77. Aus der Denkschrift „Gedanken über einen notwendigen Fortschritt in der inneren Entwicklung Deutschlands" des alldeutschen Generals Konstantin Freiherr von Gebsattel von 1913 über die Ersetzung des geltenden Reichstagswahlrechtes durch ein Pluralwahlrecht mit Hilfe eines Staatsstreiches 167 78. Aus dem vertraulichen Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Kronprinzen Wilhelm vom 15. November 1913 mit seiner Stellungnahme zu der in der Denkschrift des Generals Konstantin Freiherr von Gebsattel aufgeworfenen Frage eines Staatsstreichs zur Änderung des Reichstagswahlrechtes 16S 79. Aus dem Brief des Barons Hugo von Türckheim aus Trubenhausen im Elsaß an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 25. November 1913 über die Stimmung und die politischen Zustände in Elsaß-Lothringen 170 80. Aus einem Bericht des Geheimen Regierungsrates Pauli von Ende November 1913 über das brutale und willkürliche Vorgehen des Militärs am 28. November 1913 in Zabern 171 81. Aus dem Schreiben des Aufsichtsratsvorsitzenden der Fried. Krupp AG Gustav Krupp von Bohlen und Halbach an den preußischen Gesandten in Karlsruhe Karl von Eisendecher vom 3. Dezember 1913 über den innenpolitischen Kurs der Reichsleitung 174 82. Aus dem Artikel „Das Eumenidenopfer" des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft Walther Rathenau vom J a h r 1913 über den Zusammenhang von erfolgreicher Expansion und innenpolitischen Reformen 175 83. Aus dem Artikel „Irrlehren" des Vorsitzenden des Deutschen Wehr-Vereins Generalmajor a. D. August Keim in der Flugschrift des Deutschen Wehr-Vereins „Die Friedensbewegung und ihre Gefahren für das deutsche Volk" von Anfang 1914 176 84. Schreiben des Grafen Albrecht zu Stolberg-Wernigerode an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 12. Februar 1914 über die Schaffung eines Großdeutschen Reiches 178 85. Aus dem Schreiben des österreichisch-ungarischen Botschafters in Konstantinopel Janos Markgraf von Pallavicini an den österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren Leopold Graf Berchtold vom 23. März 1914 über die „Interessensphärenpolitik" des Deutschen Reiches im Osmanischen Reich 180 86. Artikel „Hansabund und erwerbstätiges Bürgertum" in den „Hamburger Nachrichten" vom 9. Juli 1914 zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Hansabundes über dessen Haltung zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und zu den Großgrundbesitzern 181 87. Aus dem Gesetzentwurf des preußischen Kriegsministeriums betreffend „die Hebung der sittlichen und körperlichen Kräfte der deutschen Jugend" vom Sommer 1914 nebst den dazugehörigen Vorschlägen für die Durchführung eines solchen Gesetzes zur Unterbindung der sozialdemokratischen Agitation unter der Jugend und zu deren zielgerichteter Vorbereitung auf den Heeresdienst 184 88. Aus dem Artikel des Historikers und Herausgebers der „Preußischen Jahrbücher" Hans Delbrück „Die Kriegsgefahr" vom 26. Juli 1914 über die bedingungslose Unterstützung Österreich-Ungarns im Kampf gegen Serbien selbst um den Preis eines Weltkrieges 186 4

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89. Aus dem Schreiben des ehemaligen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow an den Oberarchivar im Reichsarchiv Wolfgang Foerster. vom 21. Juni 1926 über die Strategie und Taktik der Reichsleitung bei der Entfesselung des ersten Weltkrieges 187 90. Bekanntmachung des Oberbefehlshabers in den Marken vom 31. Juli 1914 über Strafbestimmungen des Gesetzes über den Belagerungszustand 188 91. Aus dem Schreiben des ehemaligen Oberquartiermeisters im Generalstab Georg Graf von Waldersee an den ehemaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow vom 8. Oktober 1920 über die Rolle der Taktik des Reichskanzlers gegenüber der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei der Kriegserklärung an Rußland am 1. August 1914 189 92. Aus dem Schreiben des ehemaligen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow an den ehemaligen Oberquartiermeister imGeneralstab Georg Graf von Waldersee vom Juni 1926 über die Rolle der Strategie und Taktik gegenüber der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei der Kriegserklärung des Reichskanzlers an Rußland am 1. August 1914 189 93. Aus dem Protokoll über die Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 15. August 1914 zur Stellung des Staates gegenüber der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 190 94. Schreiben des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann an den deutschen Gesandten in Lissabon F. Rosen vom 25. 8.1914 über das Ziel, Portugal bei einem siegreichen Kriegsverlauf auf Seiten der Entente in den Krieg zu treiben 191 95. Schreiben des Staatssekretärs des Reichskolonialamtes Wilhelm Solf an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow vom 28. August 1914 über die kolonialen Kriegsziele und über die Nützlichkeit einer indirekten Expansion in Europa 192 96. Schreiben des einen Vorsitzenden des Bundes der Landwirte Gustav Roesicke an den anderen Vorsitzenden Conrad Freiherr von Wangenheim vom 28. August 1914 über die Notwendigkeit eines Vorgehens der konservativ-imperialistischen Kreise der herrschenden Klasse gegen die Politik der Reichsleitung 193 97. Aus dem Schreiben Conrad Freiherr von Wangenheims an Gustav Roesicke vom 31. August 1914 über die Notwendigkeit einer vollständigen „Abrechnung" mit Großbritannien 195 98. Schreiben von Conrad Freiherr von Wangenheim an Gustav Roesicke vom 9. September 1914 über ein scharfes Vorgehen der konservativ-imperialistischen Kreise der herrschenden Klassen gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und gegen einen „übereilten Frieden" 196 99. Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums und Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Clemens Delbrück vom 12. September 1914 über die Notwendigkeit einer Neuorientierung der inneren Politik nach dem Kriege 197 100. Schreiben des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Clemens Delbrück an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 13. September 1914 über die äußeren und inneren Kriegsziele 198 101. Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann vom 14. September

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1914 über die Enteignung der französischen Gruben und Hütten im okkupierten französischen Erzgebiet von Longwy-Briey 2 0 1 102. Aus dem Schreiben des einen Vorsitzenden des Bundes der Landwirte Gustav Roesicke an den anderen Vorsitzenden Conrad Freiherr von Wangenheim vom 20. September 1914 über die angebliche Förderungo der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands o durch die Reichsleitung 2 0 2 103. Aus dem Schreiben des Staatssekretärs des Reichskolonialamtes Wilhelm Solf an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von J a g o w vom 25. September 1914 gegen die Annexion großer Gebiete mit fremden Völkern und für indirekte „staatsrechtliche" Formen der Expansion in Europa 204 104. Aus dem Schreiben von Kurt Riezler, Mitarbeiter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, an den Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes Otto Hammann vom 10. Oktober 1914 über die Schwierigkeiten, die sogenannte Neuorientierungspolitik zu verwirklichen 2 0 5 105. Ganz geheimes Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann vom 18. Oktober 1914 über die wirtschaftliche und militärische Bindung Belgiens an das Deutsche Reich 2 0 5 106. Schreiben des Kriegsausschusses der deutschen Industrie an den Reichskanzler Theobald von B e t h m a n n Hollweg vom 21. Oktober 1914 gegen einen Frieden im E r gebnis internationaler Verhandlungen 2 0 5 107. Schreiben des Reichskanzlers Theobald von B e t h m a n n Hollweg an den S t a a t s sekretär des Reichsamtes des Innern Clemens Delbrück vom 22. Oktober 1914 über wirtschaftspolitische und finanzielle Kriegsziele 2 0 6 108. Programm einer „Neuorientierung der inneren Politik" des Reichsamtes des Innern vom 27. Oktober 1914 207 109. Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann vom 19. November 1914 über einen Separatfrieden mit Rußland als Voraussetzung für eine siegreiche Beendigung des Krieges 2 1 0 110. Aus der Aufzeichnung des sächsischen Ministerpräsidenten Christoph J o h a n n Friedrieh Graf Vitzthum von E c k s t ä d t über sein Gespräch m i t dem Reichskanzler Theobald von B e t h m a n n Hollwego am 3. Dezember 1914 in Berlin über die Kriegsziele 212 o 111. Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den kaiserlichen Generalgouverneur des okkupierten Belgien Moritz Ferdinand Freiherr von Bissing vom 16. Dezember 1914 über die Gewinnung der flämischen Bevölkerung durch Förderung ihrer nationalen Bestrebungen 214 112. Nicht abgesandter Brief des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß vom Dezember 1914 über taktische Erfordernisse bei der Kriegszielpropaganda 2 1 5 113. Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß vom 27. Dezember 1914 2 1 6 114. Aus dem Schreiben des Mitglieds des Präsidiums des Bundes der Industriellen und Geschäftsführers des Verbandes Sächsischer Industrieller Gustav Stresemann an den Fabrikbesitzer Friedrich Uebel, Plauen im Vogtland, vom 16. J a n u a r 1915 über die Kriegsziele 2 1 6

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115. Aus der Tagebuchaufzeichnung von Kurt Riezler, Mitarbeiter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, vom 20. Januar 1915 über das geplante Vorgehen gegen Karl Liebknecht 219 116. Aus der Aufzeichnung des Unterstaatssekrelärs in der Reichskanzlei Arnold Wahnschaffe für den Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes Otto Hammann vom 30. Januar 1915 über das Vorgehen gegen die Kriegszieldenkschrift des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß 219 117. Aus dem Schreiben des Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der Deutschkonservativen Partei Kuno Graf von Westarp an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Holl weg •vom 17. April 1915 über die vollständige Einverleibung Belgiens 219 118. Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der Deutschkonservativen Partei Kuno Graf von Westarp vom 23. April 1915 über die militärische und wirtschaftliche Abhängigkeit Belgiens 220 119. Aus dem Schreiben des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei Arnold Wahnschaffe an den Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Paketfahrt AG Albert Ballin vom 28. April 1915 über die Expansionspläne des Reichskanzlers gegenüber Belgien 221 120. Aus der Erklärung des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Clemens Delbrück im preußischen Staatsministerium am 8. Mai 1915 zur sogenannten Neuorientierung der inneren Politik 222 121. Aufzeichnung des Mitglieds des Präsidiums des Bundes der Industriellen Gustav Stresemann über die Audienz einer Delegation der großen Wirtschaftsverbände bei Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg am 17. Mai 1915 zur Kriegszielfrage 222 122. Aus der Denkschrift des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Clemens Delbrück an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 23. Mai 1915 über die Notwendigkeit einer Klärung des Inhalts der verkündeten „Neuorientierung" der inneren Politik 225 123. Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den deutschen Sonderbotschafter in Rom und ehemaligen Reichskanzler Bernhard von Bülow vom 10. Juni 1915 über die vom Deutschen Reich seit 1905 betriebene „Politik wachsenden Risikos" 229 124. Aus der Rede des Vorsitzenden des Bundes der Landwirte Conrad Freiherr von Wangenheim auf dem Verbandstage der Pommerschen Genossenschaften am 17. Juni 1915, keinen „schwächlichen Frieden" zu schließen und einem Krieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht aus dem Wege zu gehen 230 125. Aus dem Bericht des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin Gottfried Prinz zu Hohenlohe-Schillingfürst an das österreichisch-ungarische Ministerium des k. u. k. Hauses und des Äußeren vom 23. Juni 1915 über die interne Generalversammlung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins am 18. Juni 1915 231 126. Aus dem Schreiben des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei Arnold Wahnschaffe an Rudolf von Valentini, Chef des Geheimen Zivilkabinetts Kaiser Wilhelms II., vom 29. Juni 1915 über die wachsende Fronde gegen den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg 232 127. Aus dem Artikel „Deutschland und die Vereinigten Staaten" von Admiral z. D. Oskar

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von Truppel in der Zeitung „Der Tag" vom 4. Juli 1915 über die möglichen Auswirkungen eines amerikanischen Kriegseintritts als Folge neuer U-Boot-Zwischenfälle 233 Schreiben des ungarischen Ministerpräsidenten Graf Istvan Tisza an den österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren Stephan Baron Buriän vom 16. J u l i 1915 über die vom Deutschen Reich mit einem wirtschaftlichen Zusammenschluß der beiden Mittelmächte verfolgten Hegemonialbestrebungen 235 Aufzeichnung des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 13. August 1915 über sein Gespräch mit dem österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren Stephan Baron Buriän über das künftige Schicksal Polens 236 Aus dem Schreiben des stellvertretenden preußischen Kriegsministers Franz G. von Wandel an obere Militärbehörden vom 31. August 1915 über Methoden zur Unterdrückung der Liebknecht-Gruppe 237 Geheimes Schreiben des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Clemens Delbrück an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow vom 29. September 1915 über das Ergebnis der Beratungen des Wirtschaftlichen Ausschusses zur Frage der wirtschaftspolitischen Ziele des Krieges 238 Aus dem Schreiben des österreichisch-ungarischen Botschafters in Konstantinopel Jänos Markgraf von Pallavicini an den österreichisch-ungarischen Außenminister Stephan Baron Buriän vom 2. November 1915 über die vom deutschen Imperialismus in der Türkei verfolgte Politik 243 Geheimer Erlaß des preußischen Kriegsministeriums vom 7. November 1915 über verschärfte Maßnahmen zur Unterdrückung der bürgerlich-pazifistischen Antikriegsbewegung 243 Aus dem Immediatbericht des preußischen Ministers des Innern Friedrich Wilhelm von Loebell vom 22. November 1915 über die innenpolitischen Aufgaben der Regierung im Ergebnis des Krieges 245 Aus dem Immediatbericht des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 9. Dezember 1915 zu dem Immediatbericht des preußischen Ministers des Innern Friedrich Wilhelm von Loebell vom 22. November 1915 über die „Eingliederung der Sozialdemokratie in den staatlichen Organismus" 250 Aus den Ausführungen des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Theobald von Bethmann Hollweg in der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 11. Dezember 1915 über die Notwendigkeit einer baldigen Abänderung des Reichsvereinsgesetzes zur Unterstützung der revisionistischen Führer in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 251 Aus der sogenannten Weihnachtsdenkschrift des Chefs des Generalstabes des Feldheeres General der Infanterie Erich von Falkenhayn vom Dezember 1915 über seine militärstrategischen Pläne 1916 252 Leitsätze der deutschen Reichsleitung für die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn über ein Zollbündnis vom Januar 1916 253 Aus dem Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den deutschen Generalgouverneur von Warschau Hans Hartwig von Beseler vom 6. Januar 1916 über die Methoden, Polen in den Machtbereich des deutschen Imperialismus einzubeziehen 255 Streng geheimes Schreiben des Chefs des Generalstabes des Feldheeres General der

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Verzeichnis der Dokumente Infanterie Erich von Falkenhayn an den Reichskanzler Theobald von Bethmann IIolIwcg vom 13. Februar 1916 über , die militärische Beherrschung Belgiens und den Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges 256 Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann vom 19. Februar 1916 über seine Vorstellungen zur Führung des U-Boot-Krieges 258 Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow an den preußischen Minister des Innern Friedrich Wilhelm von Loebell vom 26. Februar 1916 über die Verhängung der militärischen Sicherheitshaft über Julian Borchardt und Joachim Kluß 259 Aus den Erklärungen des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg in der 51. Sitzung-der Kommission für den Reichshaushaltsetat am 28. und 29. März 1916 über den Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges 260 Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow an den preußischen Minister des Innern Friedrich Wilhelm von Loebell vom 2. Mai 1916 über die Verhaftung und Vernehmung Karl Liebknechts 261 Niederschrift über die Besprechung des Direktors der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes Paul von Koerner mit Vertretern der führenden Wirtschaftsverbände am 31. Mai 1916 im Hotel Adlon in Berlin über die Neugestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Österreich-Ungarn 261 Schreiben des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an Rudolf von Valentini, Chef des geheimen Zivilkabinetts Wilhelms II., vom 14. Juni 1916 über seinen Plan, Paul von Hindenburg die Gesaintleitung der deutschen Streitkräfte an der Ostfront zu übertragen 263 Aus dem Schreiben des Direktors der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellscliaft Wichard von Moellendorff an den Präsidenten der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellscliaft Walther Rathenau vom 29. August 1916 mit der Forderung nach sofortigem Eingriff „starker Männer" 265 Schreiben des Direktors der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaf t Wichard von Moellendorff an Prof. Fritz Haber, Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie, vom 5. September 1916 über die Einführung eines Arbeitszwanges 265 Schreiben des Spionage- und Pressechefs der I I I . Obersten Heereseleitung Major Walter Nicolai an den Verbindungsoffizier der Obersten Heeresleitung im Auswärtigen Amt Oberstleutnant Hans von Haeften vom 20. September 1916 über die Verurteilung eines französischen Pfarrers zu 10 Jahren Zuchthaus 267 Aus der Aufzeichnung des österreichisch-ungarischen Ministers des Äußeren Stephan Baron Buriän vom 18. November 1916 über die Verhandlungen mit der deutschen Reichsleitung am 15. und 16. November 1916 zum Vorgehen beim sogenannten Friedensangebot der Mittelmächte 268

Aus dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916 270 151 Aus der „ausschließlich persönlichen, streng vertraulichen Information" des Reichs152 kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den preußischen Gesandten in Karlsruhe Karl von Eisendecher vom 5. Dezember 1916 über den Zweck des Friedensangebotes der Mittelmächte 272 153 Aus dem Schreiben des Vorsitzenden der nationalliberalen Fraktion des Reichstages Gustav Stresemann an den Vorsitzenden der: Nationalliberalen Partei Ernst Basser-

Verzeichnis der Dokumente

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mann vom 31. März 1917 über die Notwendigkeit einer sofortigen Wahlrechtsreform in Preußen 273 Aus der Osterbotschaft des deutschen Kaisers Wilhelm II. vom 7. April 1917 über eine Wahlrechtsreform in Preußen nach Beendigung des Krieges 274 Rundschreiben des Unabhängigen Ausschusses für einen Deutschen Frieden vom 22. April 1917 gegen einen imperialistischen Verständigungsfrieden 275 Telegramm des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg und des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Arthur Zimmermann an den Vertreter des Reichskanzlers im Allerhöchsten Gefolge Kurt Freiherr von Grünau vom 7. Mai 1917 über das Vorgehen bei den erhofften Verhandlungen über einen Separatfrieden mit1 der bürgerlichen provisorischen Regierung Rußlands 276 Aus dem Schreiben des Historikers Prof. Hans Delbrück an Rudolf von Valentini, Chef des Geheimen Zivilkabinetts Kaiser Wilhelms II., vom 1. Juli 1917 über die Notwendigkeit der sofortigen Durchführung einer Wahlrechtsreform in Preußen zur Abwendung einer innenpolitischen Krise 277 Aus dem sogenannten Julierlaß Kaiser Wilhelms II. an den Präsidenten des preußischen Staatsministeriums vom 11. Juli 1917 über die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen bei den nächsten Landtagswahlen 278 Aus der sogenannten Friedensresolution des Deutschen Reichstages vom 19. Juli 1917 278 Aus der vom Reichstagsabgeordneten des Zentrums, Matthias Erzberger, Anfang 1918 verfaßten Begründung der Friedensresolution vom 19. Juli 1917 als Voraussetzung für einen imperialistischen Verständigungsfrieden 279 Ganz geheime Mitteilung des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes Eduard von Capelle an den Reichskanzler Georg Michaelis vom 11. September 1917 über die Vollstreckung des Todesurteils an den Matrosen Max Reiclipietsch und Albin Köbis

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162. Schreiben des ehemaligen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an den Reichstagsabgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei und Vorsitzenden des „Arbeitsausschusses Mitteleuropa" Friedrich Naumann vom 13. November 1917 über die während seiner Amtszeit verfolgte Strategie und Taktik 280

2. Verzeichnis der Abkürzungen

BA Koblenz Bdl DMA

Bundesarchiv Koblenz Bund der Industriellen Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutsehen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED GdA Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in 8 Bänden, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED GP Die große Politik der europäischen Kabinette 1871—1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, im Auftrage des Auswärtigen Amtes hrsg. von Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Friedrich Thimme JfG Jahrbuch für Geschichte, hrsg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR JfW Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, hrsg. vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R ÖStA Wien, HHStA Österreichisches Staatsarchiv, Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv OHL Oberste Heeresleitung PA Bonn Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn Rdl Reichsamt des Innern StA Dresden Staatsarchiv Dresden StA Potsdam Staatsarchiv Potsdam UStA Budapest Ungarisches Staatsarchiv, Budapest Zdl Zentralverband deutscher Industrieller ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZfM Zeitschrift für Militärgeschichtc ZStA Potsdam Zentrales Staatsarchiv, Historische Abteilung I, Potsdam ZStA Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Historische Abteilung II, Merseburg

3. Dokumente

1 Aus der Denkschrift des Geschäftsführers des Zentralverbandes deutscher Industrieller Henry Axel Bueck „betreffend die Errichtung einer Stelle zur Vorbereitung des Abschlusses handelspolitischer Verträge mit dem Auslande" vom 13. Juni 1897 über Hauptgesichtspunkte künftiger Handelsverträge und die Schaffung einer Zentralstelle zur Vorbereitung von Handelsverträgen1 Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centraiverbandes Deutscher Industrieller, Nr. 76, Berlin 1897, S. 7, 16 ff., 25 f.

Am 31. Dezember 1903 werden die von Deutschland geschlossenen Handelsverträge ablaufen, soweit eine Kündigung derselben nicht bereits früher erfolgen kann und stattfinden sollte. Gegen die Wirtschafts- und Handelspolitik der verbündeten deutschen Regierungen, die in dem Abschluß jener Handelsverträge gipfelte, wird von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Parteien bereits seit Jahren ein lebhafter, fast leidenschaftlicher Kampf gef ü h r t ; dieser Umstand, die bei der ersten Serie der Handelsverträge 2 vorgenommenen Mißgriffe, die Wahrnehmung, daß bei dem Vertragsabschlüsse mit Rußland solche Mißgriffe haben vermieden werden können, haben auf den verschiedensten Seiten ein lebhaftes Interesse der Frage zugewendet, was zu geschehen habe, um den eventuellen künftigen Abschluß von Handelsverträgen so gut als irgend möglich vorzubereiten. Bei der Vorbereitung für den künftigen Abschluß von Handelsverträgen treten zwei Gesichtspunkte besonders hervor. Zunächst würde die Wirkung unserer Zölle auf die Einfuhr zu prüfen sein in der Richtung, wie die einzelnen Industrien und die Zweige derselben durch die fremde Einfuhr beeinflußt werden. Aus dieser Prüfung muß sich die Bemessung des für den Bestand und das Gedeihen unserer gewerblichen Tätigkeit erforderlichen Mindestbetrages der deutschen Zölle ergeben. Von fast noch höherer Bedeutung ist es, zu ermitteln, bei welchem von dem anderen vertragschließenden Lande festzustellenden höchsten Zollsatze noch auf die Möglichkeit einer diesseitigen Ausfuhr des betreffenden Artikels zu rechnen wäre. Die Ermittelungen nach diesen beiden Richtungen bilden die Grundlage für die bei den Verhandlungen zu machenden Zugeständnisse und zu stellenden Forderungen. Es ist nun zu erwägen, wie es möglich sein würde, in diesen Beziehungen die tatsächlichen Verhältnisse richtig zu ermitteln und klar darzustellen . . . Bei den Arbeiten des Zollbeirats 3 für den deutsch-russischen Handelsvertrag konnte in den meisten Fällen die Erfahrung gemacht werden, daß die Interessenten, und unter diesen auch viele solche, die in hohem Maße als sachverständig angesehen werden mußten, wohl sehr schnell bereit sind, ihre meistens sehr weitgehenden, häufig auf den ersten Blick un-

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schwer als unerfüllbar zu erkennenden Wünsche in Bezug auf die Feststellung def sie interessierenden Tarifpositionen des Auslandes zu äußern, daß sie aber nur in den seltensten Fällen geneigt sind, die bezüglich ihrer eigenen Artikel gestellten Fragen genau und den Tatsachen entsprechend zu beantworten . . . Eine andere vom Zollbeirat gemachte Erfahrung ist höchst charakteristisch. Wenn nach hartem Kampfe mit den russischen Unterhändlern die Ermäßigung der russischen Tarifposition in vorläufiger Feststellung zwar gelungen, dabei aber Zweifel entstanden war, ob der Betrag der Ermäßigung Bedeutung für die betreffende Industrie habe, so wurde fast regelmäßig-bei den Interessenten angefragt. Fast mit gleicher Regelmäßigkeit ging die Antworf ein, daß die Ermäßigung nicht ausreiche, um irgendwelchen Export nach Rußland zu ermöglichen, daß jede Aussicht auf ein Geschäft nach dort schwinden müsse, wenn es nicht gelingen sollte, eine weitere Ermäßigung zu erringen. In sehr vielen Fällen mußte der Zollbeirat im Auftrage der deutschen Unterhändler antworten, d a ß die Erlangung eines weiteren Zugeständnisses aussichtslos sei; hieran wurde die Bemerkung geknüpft, daß man bei der behaupteten Bedeutungslosigkeit der Ermäßigung für die Industrie auf dieselbe verzichten werden, um sie gewissermaßen als Kompensation zur Erreichung wirksamerer Zugeständnisse bei einer anderen Tarifposition zu benutzen. Dann lief gewöhnlich auf schnellstem Wege die Bitte ein, wenn mehr nicht zu erreichen sei, doch nur nicht auf die Ermäßigung zu verzichten, da die Hoffnung, zu dem erreichten Satze in das russische Geschäft zu kommen, doch nicht ganz ausgeschlossen sei. Diese Versuche, günstigere Bedingungen zu erreichen, sind . . . sehr naheliegend und erklärlich, in ihrer Gesamtheit sind sie aber dahin zu charakterisieren, daß die von ihnen beeinflußten schriftlichen Gutachten der Interessenten nur wenig geeignet sind, zur Klärung und Orientierung beizutragen, daß sie im Gegenteil die wahre Gestaltung der Dinge verschleiern und daher leicht irreführen können. Dieses Urteil muß im Durchschnitt auch über die schriftlichen Gutachten der Vereine, Verbände, Handelskammern und kaufmännischen Korporationen gefällt werden. Dabei soll durchaus nicht behauptet werden, daß, wo die Vorstände in irgend einer geeigneten Form eigene eingehende Ermittelungen anstellen, nicht auch die Berichte der erwähnten Körperschaften höchst brauchbares Material bieten können. Im Durchschnitt der Fälle aber werden solche Vereinigungen sich darauf beschränken, Gutachten von ihren Mitgliedern einzufordern und auf Grund dieser dann den Hauptbericht zu erstatten; diesem werden die geschilderten Mängel, aus naheliegenden, bereits angedeuteten Gründen vielleicht noch in höherem Maße anhaften, wobei sich besonders die Scheu betätigen wird, den in den Körperschaften befindlichen Konkurrenten einen Einblick in die eigene Geschäftstätigkeit zu gewähren. Nach den vom Zollbeirat gemachten Erfahrungen treten diese Mängel entweder gar nicht oder in weit geringerem Maße hervor, wenn die Sachverständigen im persönlichen Verkehr von Männern vernommen werden, die durch ihre Stellung, ihren Charakter, ihre praktische Auffassung und Handhabung der zu erörternden Fragen den Sachverständigen Vertrauen einflößen. Es hat sich gezeigt, daß unter diesen Umständen die Vernommenen geneigt sind, selbst weitgehende Mitteilungen, auch solche sehr vertraulicher Art, über ihre geschäftlichen Verhältnisse zu machen und dadurch zur Klarlegung der Tatsachen beizutragen. Dabei kann freilich nicht unterlassen werden, die Angaben der vernommenen Sachverständigen tunlichst genau und sorgfältig an der Hand des vorhandenen Materials wie der Statistik oder durch Vergleich mit den bereits vorliegenden Aussagen anderer Sachverstän-

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diger zu prüfen und im Zweifclsfalle durch Vernehmung weiterer Interessenten die Sache gänzlich zu klären. Um in dieser Weise vorzugehen, muß die Zentralstelle wissen, wo die geeigneten Sachverständigen für jede Tarifposition zu finden sind. Diese Aufgabe ist recht schwierig, sie gehört zu den sorgfältig zu behandelnden Vorarbeiten, und bei ihrer Lösung wird die Zentralstelle wesentlich auf die Mitwirkung der industriellen und wirtschaftlichen Verbände, Handelskammern und kaufmännischen Korporationen angewiesen sein. Wann und in welchem Umfange Sachverständige zu berufen, wie sie in Bezug auf den Abschluß kommender Handelsverträge zu vernehmen sind, wird Sache reiflichster Überlegung sein müssen. Dabei ist die Berufung von Sachverständigen zur Mitwirkung bei der Umgestaltung des deutschen Zolltarifs als eine besondere Angelegenheit zu betrachten. Es ist jedoch sehr zu bezweifeln, ob es zweckmäßig sein würde, bereits bald, nachdem die vorstehend bezeichneten Vorbereitungen getroffen sind, mit der Vernehmung der Sachverständigen zu beginnen und dieselben „zur Fortführung des Materials" nach gewissen Zeitabschnitten zu wiederholen. Auf diesem Wege würde die Willfährigkeit der Interessenten ziemlich nutzlos erschöpft werden und der Apparat im bedeutungsvollen Augenblick voraussichtlich versagen. Es dürfte sich daher empfehlen, die Vernehmung von Sachverständigen erst eintreten zu lassen, wenn der Zeitpunkt für die Erneuerung bzw. den Neuabschluß der Handelsverträge gekommen ist. In der Zwischenzeit würde die Zentralstelle vollauf und ganz im Sinne ihrer Aufgabe beschäftigt sein durch Sammlung, Sichtung und Zusammenstellung des ihr sonst zugänglichen Materials zur Beurteilung der betreffenden Verhältnisse sowohl im Inlande wie im Auslande. Auf den vorbesprochenen Gebieten liegen die Arbeiten, die im eigentlichen Sinne als Vorbereitungen zu bezeichnen sein würden; ihre hauptsächlichste Tätigkeit würde die Zentralstelle zu entwickeln haben unmittelbar vor und besonders während der Verhandlungen über den Abschluß handelspolitischer Beziehungen mit dem Auslande . . . Eine weitere wichtige Aufgabe besteht in der Durcharbeitung und Zusammenstellung der Vernehmungsprotokolle, so daß sie ein handliches und übersichtliches Material für die deutschen Unterhändler bieten. Mit diesen wird die Zentralstelle im Verlaufe der Vertragsverhandlungen unausgesetzt Fühlung zu unterhalten haben und sie wird stets bereit sein müssen, die ihr von den deutschen Unterhändlern behufs weiterer Aufklärung von Tatsachen oder Schaffung neuen Materials erteilten Aufträge zu erfüllen. Dies würden in großen allgemeinen Zügen die der Zentralstelle zu überweisenden Aufgaben sein . . . Daß die Zentralstelle ihre wichtigen Aufgaben in befriedigender Weise nur wird lösen können, wenn sie in innigster Fühlung mit den maßgebenden Behörden steht, ist selbstverständlich, daher ist die fortdauernde Mitwirkung von Vertretern derselben ein unbedingtes Erfordernis. Da aber der Schwerpunkt der Tätigkeit der Zentralstelle unzweifelhaft in der Mitarbeit der Vertreter von Landwirtschaft, Handel und Industrie zu erblicken sein wird, so wird Sorge zu tragen sein, diesen, den eigentlichen Zollbeirat bildenden Personen, in ihrer Gesamtheit sowohl, wie in den von ihnen gebildeten Abteilungen eine gewisse Selbstständigkeit zu sichern. 1

Im Herbst 1897 wurde auf maßgebliche Initiative des Zentralverbandes deutscher Industrieller und in Zusammenarbeit mit dem Reichsamt des Innern der „Wirtschaftliche Ausschuß zur Vor-

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bereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen" geschaffen. Hinsichtlich seiner Bildung, Zusammensetzung und Arbeitsweise wurden Vorschläge Buecks in mehr oder weniger modifizierter Form berücksichtigt. 2 Kern der wirtschaftspolitischen Neuorientierung des „Neuen Kurses" unter Reichskanzler Leo Graf v. Caprivi waren die anfangs der 90er Jahre abgeschlossenen Handelsverträge. In Wahrnehmung der unmittelbaren Interessen der Großbourgeoisie verfolgte die Regierung Caprivi dabei das Ziel, durch eine Herabsetzung der agrarischen Zölle die Vertragspartner für einen erhöhten Import deutscher Industrieerzeugnisse, für Zollherabsetzungen und für langfristige Zollbindungen zu gewinnen. 1891 wurden Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien und der Schweiz, 1893 mit Spanien, Serbien, Rumänien, 1894 mit Rußland abgeschlossen. 3 Der sogenannte Zollbeirat war ein von der Regierung berufenes Gremium von über hundert Großagrariern, Großindustriellen und Großkaufleuten. Er tagte nur einmal und wählte aus seiner Mitte einen neunköpfigen Ausschuß, der dann der Regierung beim Abschluß der Handelsverträge beratend und begutachtend zur Seite stand. Wegen der starken Gegensätze in der Frage der 'Herabsetzung der Agrarzölle enthielten sich jedoch die drei agrarischen Vertreter der Mitarbeit.

2 Rede des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel auf dem Festmahl im Kaisersaal zu Solingen anläßlich der Einweihung der Müngstener Eisenbahnbrücke am 15. Juli 1897 über die Notwendigkeit, Gegensätze zwischen Industrie und Landwirtschaft auszugleichen und eine Wirtschafts- und Handelspolitik zu treiben, die den Interessen der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer Rechnung trägt 1 Johannes von Miquels Reden, hrsg. v. W. Schultze und Fr. Thimme, Bd. 4: 1892 bis 1901, Halle a. d. S. 1914, S. 279ff. Dem hochverehrten Herrn Vorredner 2 sage ich namens der hier anwesenden Gäste unsern verbindlichsten Dank für den freundlichen Gruß, welchen er uns entgegengebracht hat, aber uns liegt es vor allem ob, unsern Dank u n d unsere Freude auszusprechen, daß wir an diesem herrlichen Fest teilnehmen d u r f t e n . Wir sahen hier Wunder der Technik und der angewandten Naturwissenschaften, ein blühendes Land, eine gewaltige Industrie, getragen von hoher Intelligenz und Unternehmungsgeist, vor allem feste kerndeutsche königstreue Männer dieser alten märkischen Lande, welche auch in der Industrie und im Gewerbe den Wahlspruch verfolgen: „Wägen und Wagen!" Wir werden dieses Land mit der freudigen Zuversicht verlassen, daß hier ein mächtiger Fortschritt auf allen Gebieten herrscht und das Ende noch längst nicht erreicht ist. Ich komme eben erst hergefahren aus dem Osten 3 , aus einem Kreise, wo fast kein Schornstein in die Lüfte ragt u n d kein H a m m e r das Eisen reckt, wo weder Erze noch Kohlen die Industrie großziehen, wo allein Getreidebau und Viehzucht die Bevölkerung ernährt. Wenn man auch dort gegen die Schwierigkeiten der Zeiten tapfer kämpfende Männer findet, so sieht man doch nicht so frohe und zufriedene Gesichter wie hier. Unser Preußen und ganz Deutschland ist weder ein Industrieland noch ein Land des Ackerbaues, es ist beides. Weite Distrikte im Osten und Westen, z u m Teil obendrein unter der Ungunst des Klimas, oft auch der Bodenverhältnisse und der Entfernung von den Absatzgebieten stehend, sind

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ausschließlich auf die Früchte des Bodens angewiesen und haben wenig Aussicht, hierin durch eigene Kraft Wandel zu schaffen; andere Gebiete, im Besitze von Erzen und Kohlen, besserer Verkehrsverhältnisse, größeren Wohlstandes und Kapitalreichtums, suchen und finden die Grundlage ihrer Existenz und der Volksernährung wesentlich in der Industrie, andere im Handel und der Schiffahrt. Alle drei großen Erwerbszweige sind gleich notwendig. Jede Wirtschafts- und Handelspolitik Deutschlands muß dies beachten. Wir können keinen großen Erwerbszweig, auf welchem die Wohlfahrt unseres Volkes beruht, entbehren, aber der Staat hat die Aufgabe, soweit seine oft überschätzten Kräfte überhaupt reichen, denjenigen vor allem seine Fürsorge zuzuwenden, welche sich in schwieriger Lage befinden und unter besonderer Ungunst der Zeiten leiden. Eine objektive und gerechte Beurteilung wird nicht leugnen, daß heute die Mittelklassen in Stadt und Land, daß vor allem die Landwirtschaft treibende Bevölkerung zu letzteren gehören. Selbstverständlich hat die Fürsorge des Staates ihre Grenzen nicht bloß in seiner Macht, auf die wirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt entscheidend einzuwirken, sondern auch in dem Grundsatze, daß eine einseitige Berücksichtigung der Interessen eines Berufszweiges nicht die Lebensbedingungen der anderen gefährden dürfe. Aber im großen ganzen sind doch die Interessen aller arbeitenden und erwerbenden Klassen gemeinsam und wesentlich die gleichen; in einigen Fragen laufen sie wohl auseinander, aber alle produzierenden Klassen erstreben doch gemeinsam den berechtigten Schutz ihrer Arbeit gegenüber den in der Konkurrenz begünstigten ausländischen Mitbewerbern. Landwirtschaft und Industrie stehen in wechselseitigem Verhältnis von Produzenten und Abnehmern; je kaufkräftiger beide sind, je besser wird es beiden ergehen, und der solide Handel, der diesen Wechselverkehr vermittelt, kann von der Blüte beider nur Vorteil ziehen. Das Kleingewerbe und der Kleinhandel in den kleineren Städten müssen verkümmern, wenn es die ländliche Nachbarschaft tut. So notwendig schon zur Ernährung unserer wachsenden Bevölkerung uns der Export der Waren, die das Inland nicht mehr allein aufnehmen kann, und der Mitbewerb auf dem Weltmarkte ist, so wahr ist doch, daß der Absatz im Innern, insbesondere gegenüber den Plänen und Bestrebungen bei anderen Völkern, der sicherste ist. Diese große Gemeinsamkeit der Interessen sollte bei allen Kämpfen und Differenzen der Gegenwart nicht vergessen und von allen Teilen beachtet werden.. Selbst Opfer, welche der eine Berufszweig bringt, sind nicht verloren und kommen schließlich doch allen zugute. Das begreifen auch sehr wohl die einsichtigen Männer auf beiden Seiten, und das berechtigt die Staatsregierung, der es vor allem an der Versöhnung der Gegensätze, an Ruhe und Frieden im Lande liegen muß, zu der Hoffnung, daß es gelingt, die abweichenden Meinungen auszugleichen, wenn alle Maß halten und wenigstens auf eine künstliche Erweiterung wirklicher oder vermeintlicher Gegensätze verzichten. Wir dürfen nicht aufhören, uns als eine große Volksgemeinschaft zu fühlen, welche keinen Teil des Ganzen entbehren kann, ohne das Ganze zu gefährden. Der Osten ist dem Westen ebenso notwendig, wie der Westen dem Osten. Wir müssen alle Kräfte zusammenhalten und können insbesondere ebensowenig wie Frankreich und die übrigen kontinentalen Staaten Europas die Landwirtschaft, diese feste Säule von Staat und Gesellschaft, so gleichgültig behandeln, wie England, dessen Macht und Reichtum auf der Industrie, dem Handel und der Schiffahrt und seinen gewaltigen Kolonien beruht, welche ihm dort eine Art Monopol sichern. Meine Herren! Kein Volk hat wohl soviel Ursache, mit seiner Entwicklung in den letzten Jahrzehnten vollauf zufrieden zu sein als das deutsche. Die Alteren unter uns, die noch die Zeiten vor der Wiederaufrichtung unseres Deutschen Reiches sahen, und die letzten Jahrzehnte mit Bewußtsein und offenen Augen

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durchlebt haben, können doch nur mit Stolz und innerer Freude auf den gewalligen Aufschwung, welchen die Nation an Macht und Unabhängigkeit, Ehre und Wohlstand seitdem gewonnen hat, zurückblicken u n d sehen mit Vertrauen in die Zukunft. Aber auch die Jüngeren wissen es wohl, was Kaiser und Reich uns bedeuten an geistigen und materiellen Gütern, sie streben vorwärts mit frohem Mute und fester Zuversicht. Sie wollen es den Älteren gleichtun im Stolze auf ihr Vaterland, in Liebe und Treue zu Kaiser und Reich. Ich bin sicher, daß in diesem patriotischen Lande auch solche Gedanken vollen Widerhall finden, und so fordere ich Sie auf, diesen Gefühlen lauten Ausdruck zu geben in dem Rufe: Hoch Kaiser und Reich! 1

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Mit der nachstehend abgedruckten Rede trug Miquel den Gedanken einer maßgeblich von ihm initiierten „Sammlungspolitik" in die Öffentlichkeit.. Mit dieser Politik sollte der Versuch unternommen werden, die wirtscliaftspolitischen Differenzen zwischen Junkertum und Bourgeoisie beizulegen und eine gemeinsame Front aller Fraktionen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der Arbeiterbewegung, zur Durchsetzung der Flottenrüstung und zur Durchführung der aggressiven Weltmachtpolitik zu schaffen. — Eine von dem hier gebrachten Text der Miquelschen Rede stark abweichende Fassung brachte der Bericht der „Westdeutschen Zeitung". Oberbürgermeister v. Bohlen aus Remscheid. Miquel war aus familiären Gründen am 10. und 11. 7. 1897 in Zessel b. Ols in Schlesien gewesen.

3 Aus dem Schreiben des Direktors der Deutschen Bank Georg von Siemens an den Direktor der Deutschen Bank Arthur von Gwinner vom 20. Oktober 1898 über die Fortsetzung des Baues der Bagdadbahn Helfferich, Karl, Georg von Siemens. Ein Lebensbild aus Deutschlands großer Zeit, 3. Bd., zweite Aufl., Berlin 1923, S. 87 ff. Anatolisclie B a h n 1 betreffend, habe ich heute Gelegenheit gehabt, mit dem Staatssekretär von Bülow 2 zu sprechen. Derselbe teilte mir mit, d a ß ihm gegenüber Aliquel3 ganz feste Zusicherungen gemacht habe (in Sachen der Mitwirkung der Seehandlung 4 ), und er warf ihm geradezu eine Art von Wortbruch vor. E r fragte mich, ob er noch einen Versuch beim Kaiser machen solle, dem die Bahn ganz ausgezeichnet gefallen hat. Auf meine Bemerkung, daß er dies tun möge, k a m Bülow nach einiger Zeit vom Kaiser zurück mit dem Bemerken, daß Miquel einen neuen Immediatbericht gemacht habe, in dem er von einer Beteiligung abgeraten, daß er (Bülow) aber während der Reise noch einmal einen Versuch machen wolle. Auf den Kaiser habe Miquels Bericht großen Eindruck gemacht. Ich präzisierte unseren S t a n d p u n k t dahin, daß wir auf die finanzielle Unterstützung der Seehandlung keinen Wert legten, daß sie die Wahl habe zwischen einer Beteiligung von 50 Pfennigen und mehr. Aber ehe wir Engagements eingingen, m ü ß t e n wir bei der Lage unserer Gesetzgebung eine Rückendeckung haben und sicher sein, daß die Seehandlung hinter uns stehe, wenn wir irgendeinen Vertrag schlössen. Man dürfe uns wohl zutrauen, daß wir keinen ganz dummen Vertrag schließen würden; aber die Entscheidung müsse uns zustehen, ob ein Vertrag geschlossen werden solle oder ob nicht und ob der Inhalt richtig sei oder ob nicht. . . .

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Dem Sultan habe ich bei einer Audienz klipp und klar die Frage vorgelegt, ob er die Linie Konia-Alexandrette-Aleppo-Bagdad (Euphratlinie) oder die Linie Angora-DiarbekirMossul-Bagdad (Tigrislinie) vorziehe, welche beide ziemlich gleich lang sind. Erstere geht 950 km lang durch die Wüste (Aleppo-Bagdad), letztere 800 bis 900 km lang durch die Gebirge (Angora-Diarbekir). Der Sultan antwortete ebenso bestimmt, daß er die Fortsetzung über Angora vorziehe. Auf meine weitere Frage, ob er damit einverstanden sei, wenn man von Angora weiterbaue, zugleich aber auch von Bagdad anfange, antwortete er bejahend. Wenn man einige Zehnten der Vilayets Bagdad und Basra locker machen kann, wäre die Sache denkbar. Aber sie ist nach keiner Richtung pressant. Wir sind in einer taktisch ganz guten Lage. Wir haben unsere Bereitwilligkeit erklärt, sowohl den Türken, wenn sie einige Garantien geben, als auch der deutschen Regierung, wenn sie uns offiziell hilft; und es liegt nicht an uns, wenn nichts zustande kommt . . . Jedenfalls können wir nun zusehen. Der Kaiser war sehr vergnügt. Zander 5 ist Geheimer Regierungsrat geworden. Huguenin® und Hagenbeck 7 haben den Roten Adler IV. Klasse bekommen, und ich habe mich gegen den Kronen III. Klasse nicht wehren dürfen. Nach der Art, wie mir die Sache heute früh beim Frühstück im Zuge versetzt wurde, war eine Verteidigung ganz unmöglich. Das hätte selbst Lücke 8 nicht fertig gebracht. 1

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Eisenbahnlinie in der Türkei von Haidar Pascha nach Konia, Teil der Bagdadbahn. Der von deutschen Monopolgesellschaften unter Führung der Deutschen Bank betriebene B a u dieser Strecke war 1896 abgeschlossen worden. Hier ist offensichtlich die Bagdadbahn, die Weiterführung der Anatolischen Bahn, gemeint. Im Oktober/November 1898 leitete die Orientreise Kaiser Wilhelms II. einen neuen Abschnitt der imperialistischen deutschen Expansionspolitik in der Türkei ein. Bernhard v. Bülow, 1897 bis 1900 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, 1900 bis 1909 Reichskanzler. Johannes v. Miquel, 1890 bis 1901 preußischer Finanzminister. Seehandlung, 1772 vom preußischen König Friedrich II. als „See-Handlungs-Gesellschaft" gegründet, seit 1820 selbständige preußische Staatsbank. Kurt Zander, Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahngesellschaft. Eduard Huguenin, stellvertretender Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahngesellschaft. Ilagenbeck, Chefingenieur der Anatolischen Eisenbahngesellschaft. Ludwig Roland—Lücke, Direktor der Deutschen Bank.

4 Aus dem Schreiben des deutschen Botschafters in Konstantinopel Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein an das Auswärtige Amt vom 3. Februar 1899 über die Bagdadbahn Helfferich, Karl, Georg von Siemens. Ein Lebensbild aus Deutschlands großer Zeit. Dritter Bd., zweite Aufl., Berlin 1923, S. 90.

Soll die Bahn Angora-Bagdad das werden, was die Anatolische Bahn heute ist, nämlich ein deutsch-nationales Unternehmen, das als solches durchgeführt, verwaltet und betrieben

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14. Mai 1899

wird, oder soll sie ein internationales Unternehmen sein, dessen Geist, solange das Aktienmaterial flottiert, durch die wechselnden Mehrheiten der Generalversammlungen bestimmt wird, bis eine fremde Regierung, wie einst beim Suezkanal, die Mehrheit der Aktien an sich bringt und damit dem eigenen Lande die Früchte sichert, zu denen deutsche Arbeit die Saat gelegt hat? . . . Deutschland bedarf zur Lösung seiner großen Aufgaben, zur Entwicklung seiner Kolonien, zur Schaffung neuer Absatzgebiete seiner Arbeit einheimischer Privatkapitalien, die bereit sind, gewisse Risiken zu übernehmen. Die Regierung übernimmt eine große Verantwortung, wenn sie die vorhandenen Kapitalien dieser Art durch ihre Zurückhaltung in gefährliche Anlagen (Portugiesen, Griechen, exotische Werte) hineingehen und dem nationalen Interesse verloren gehen läßt; ihre Verantwortlichkeit ist jedenfalls viel leichter, wenn sie jenen Kapitalisten in vorsichtiger Weise diejenigen Unternehmungen kennzeichnet, welche dem nationalen Interesse dienen . . . Wenn ich ein Zukunftsbild ausmale, wie die Dinge sich einst gestalten werden, wenn Deutschland fortfährt, sich im Orient wirtschaftlich auszustrecken, — der Hafen von Haidar-Pascha, dem zu erheblichem Teil auf deutschen Schiffen deutsche Waren zugeführt werden, die Bahnlinie von dort bis Bagdad ein deutsches Unternehmen, das nur deutsches Material verwendet und zugleich für Güter und Personen die kürzeste Linie bildet aus dem Herzen Deutschlands nach seinen ostasiatischen Besitzungen — so tritt dem vorschauenden Blick der Moment entgegen, in dem der berühmte Ausspruch, daß der ganze Orient nicht die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert sei, eine interessante historische Reminiszenz, aber keine aktuelle Wirklichkeit mehr bildet.

5 Aus dem Artikel von Friedrich Naumann, erster Vorsitzender des Nationalsozialen Vereins, „Was will die Sozialdemokratie?" in der Zeitschrift „Die Hilfe" vom 14. Mai 1899 über sein Ziel, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in eine kleinbürgerlich-reformistische, den kapitalistischen Staat bejahenden Arbeiterpartei zu verwandeln Die Hilfe, N r . 2 0 v . 14. 5. 1899.

Was soll nun aber mit den Menschen geschehen, die sich aus Not und Lust in der Sozialdemokratie zusammengefunden haben? Gibt es für diese Millionenpartei keine großen praktischen Ziele „innerhalb der heutigen Gesellschaft"? Kann man die Fülle von Opfern nicht nützlich machen? Solange man als ersten, einzigen beherrschenden Grundsatz hinstellt „einig um jeden Preis", kann man es nicht, denn so lange bindet man die praktischpolitischen Elemente der sozialen Bewegung an die großen Nebelflecke, die der entschwundene Komet Marx hinterlassen hat und hindert sie, eigene Körper im politischen Weltraum zu werden. Man muß es wagen, alte Traditionen zu verletzen, wenn man die sozialdemokratische Bewegung zu einer Macht in der deutschen Politik werden lassen will. Die sozialistische Bewegung kann etwas großes bedeuten, sie kann eine Periode deutscher Politik machen, wenn sie sich direkte politische Ziele stecken will. Das Ziel, das die Sozialdemokratie erreichen kann, ist folgendes: sie kann der Ausgangspunkt zur Bildung einer großen deutschen Linken werden, die im Stande ist, den Konserva-

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tiven das Heft aus der Hand zu nehmen. Sie kann sich alles angliedern, was freiheitlich und sozial-reformerisch denkt, und das tun, wozu der deutsche Liberalismus zu schwach war: Überwindung des bösen feudalen konservativen Druckes! Gerade in einer Zeit, wo dieser Druck bis zu toller Höhe steigt, ist es angebracht, alles Philosophieren über unerreichbare Endziele zu lassen und kalt rechnend, nüchtern und fest sich zu sagen: wir allein können die deutsche Freiheit retten, aber wir können es nur mit den freiheitlichen bürgerlichen Elementen zusammen! Um mit ihnen gehen zu können, muß ein ganzes Teil unnützen Utopismus und Radikalismus abgestreift werden, es müssen bestimmte nationalpolitische Aufgaben übernommen werden, aus einer reinen Protestpartei muß sich eine schaffende, staatserhaltende sozialistische Partei gestalten — nationaler Sozialismus auf freiheitlicher Grundlage. Wenn der heutige Leiter der Sozialdemokratie nicht spräche „Einheit um jeden Preis", sondern Erfolg für die arbeitende Massel, dann würde er seine Partei einer Zeit der Gärung und Verwirrung entgegenführen, aber aus der Gärung heraus würde sich eine starke Kraft für wirkliche Politik entwickeln. Er müßte darin Bernsteins Buch 1 benutzen, um die Geister zu wecken. Daß Bernstein allein noch kein Programm für die deutsche Linke ist, liegt auf der Hand, aber er ist gerade in seiner Halbheit überaus geeignet, den Übergang zu erleichtern. Es würde eine schwere, aber in ihren Folgen große Aufgabe sein, die der Kapitän der Sozialdemokraten haben könnte, wenn er mehr sein wollte, als ein großer Taktiker, wenn er den Ehrgeiz und die Kraft hätte, umwandelnder Politiker zu sein. Er wird es nicht wollen. Gewohnheit, Arbeit, Tagesverhältnisse sind mächtig, wer in der Mitte sitzt, ist tausendfältig gebunden, er wird fortfahren, das zu tun, was jetzt geschieht. Möglichst viel materielle und geistige Vorteile für die lohnarbeitende Bevölkerung werden aber auf diesem Wege nicht errungen. Es wird Zeit und Kraft verloren. Will das eigentlich die Sozialdemokratie? 1

G e m e i n t ist d a s 1899 erschienene B u c h „ D i e V o r a u s s e t z u n g e n d e s S o z i a l i s m u s u n d die A u f g a b e n der S o z i a l d e m o k r a t i e " , in d e m E d u a r d B e r n s t e i n seine revisionistischen A u f f a s s u n g e n z u s a m menfassend darlegte.

6 Entwurf eines „Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses", die sogenannte Zuchthausvorlage, vom 26. Mai 1899 1 Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte, I. S e s s i o n 1898/1900, 3. A n l a g e n b a n d , N r . 347, B l . 2 2 3 8 f.

10.

Legislaturperiode,

§ 1 Wer es unternimmt, durch körperlichen Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur Teilnahme an Vereinigungen oder Verabredungen, die eine Einwirkung auf Arbeits- oder Lohnverhältnisse bezwecken, zu bestimmen oder von der Teilnahme an solchen Vereinigungen oder Verabredungen abzuhalten, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe bis zu eintausend Mark zu erkennen. 5 Gutsche, Strategie

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2 6 . Mai 1899

§ 2 Die Strafvorschriften des § 1 finden auch auf denjenigen Anwendung, welcher es unternimmt, durch körperlichen Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung 1. zur Herbeiführung oder Förderung einer Arbeiteraussperrung Arbeitgeber zur Entlassungo von Arbeitnehmern zu bestimmen oder an der Annahme oder Heranziehungo soleher zu hindern, 2. zur Herbeiführung oder Förderung eines Arbeiterausstandes Arbeitnehmer zur Niederlegung der Arbeit zu bestimmen oder an der Annahme oder Aufsuchung von Arbeit zu hindern, 3. bei einer Arbeiteraussperrung oder einem Arbeiterausstande die Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur Nachgiebigkeit gegen die dabei vertretenen Forderungen zu bestimmen. § 3 W e r es sich zum Geschäft macht, Handlungen der in den §§ 1, 2 bezeichneten Art zu begehen, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. § 4 Dem körperlichen Zwange im Sinne der §§ 1 bis 3 wird die Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial, Arbeitserzeugnissen oder Kleidungsstücken gleichgeachtet. Der Drohung im Sinne der §§ 1 bis 3 wird die planmäßige Überwachung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitsstätten, Wegen, Straßen, Plätzen, Bahnhöfen, Wasserstraßen, Hafen- oder sonstigen Verkehrsanlagen gleichgeachtet. Eine Verrufserklärung oder Drohung im Sinne der §§ 1 bis 3 liegt nicht vor, wenn der T ä t e r eine Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, insbesondere wenn er befugterweise ein Arbeits- oder Dienstverhältnis ablehnt, beendigt oder kündigt, die Arbeit einstellt, eine Arbeitseinstellung oder Aussperrung fortsetzt, oder wenn er die Vornahme einer solchen Handlung in Aussicht stellt. § 5 Wird gegen Personen, die an einem Arbeiterausstand oder einer Arbeiteraussperrung nicht oder nicht dauernd teilnehmen oder teilgenommen haben, aus Anlaß dieser Nichtbeteiligung eine Beleidigung mittelst Tätlichkeit, eine vorsätzliche Körperverletzung oder eine vorsätzliche Sachbeschädigung begangen, so bedarf es zur Verfolgung keines Antrags. § 6 Wer Personen, die an einem Arbeiterausstand oder einer Arbeiteraussperrung nicht oder nicht dauernd teilnehmen oder teilgenommen haben, aus Anlaß dieser Nichtbeteiligung bedroht oder in Verruf erklärt, wird mit Gefängnis bis zu einem J a h r bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe bis zu eintausend Mark zu erkennen. § 7 W e r an einer öffentlichen Zusammenrottung, bei der eine Handlung der in den §§ 1 bis 6 bezeichneten Art mit vereinten Kräften begangen wird, teilnimmt, wird m i t Gefängnis bestraft. Die Rädelsführer sind mit Gefängnis nicht unter drei Monaten zu bestrafen. § 8 Soll in den Fällen der §§ 1, 2, 4 ein Arbeiterausstand oder eine Arbeiteraussperrung herbeigeführt oder gefördert werden und ist der Ausstand oder die Aussperrung mit R ü c k sicht auf die Natur oder Bestimmung des Betriebs geeignet, die Sicherheit des Reichs oder eines Bundesstaats zu gefährden oder eine gemeine Gefahr für Menschenleben oder für das Eigentum herbeizuführen, so t r i t t Gefängnisstrafe nicht unter einem Monate, gegen die Rädelsführer Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Ist infolge des Arbeiterausstandes oder der Arbeiteraussperrung eine Gefährdung der Sicherheit des Reichs oder eines Bundesstaats eingetreten oder eine gemeine Gefahr für

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Menschenleben oder das E i g e n t u m herbeigeführt worden, so ist auf Zuchthaus bis zu drei J a h r e n , gegen die Rädelsführer auf Zuchthaus bis zu fünf J a h r e n zu erkennen. Sind in den Fällen des Abs. 2 mildernde U m s t ä n d e vorhanden, so t r i t t Gefängnisstrafe nicht u n t e r sechs Monaten, für die Rädelsführer Gefängnisstrafe n i c h t u n t e r einem J a h r e ein. § 9 Soweit nach diesem Gesetz eine gegen einen Arbeitgeber gerichtete Handlung m i t S t r a f e b e d r o h t ist, findet die Strafvorschrift auch d a n n Anwendung, wenn die Handlung gegen einen V e r t r e t e r des Arbeitgebers gerichtet ist. § 10 Die Vorschriften dieses Gesetzes finden Anwendung 1. auf Arbeits- oder Dienstverhältnisse, die unter den § 152 der G e w e r b e o r d n u n g 2 fallen, 2. auf alle Arbeits- oder Dienstverhältnisse in solchen Reichs-, S t a a t s - oder K o m m u n a l betrieben, die der Landesverteidigung, der öffentlichen Sicherheit, dem öffentlichen Verkehr oder der öffentlichen Gesundheitspflege dienen, 3. auf alle Arbeits- oder Dienstverhältnisse in E i s e n b a h n u n t e r n e h m u n g e n . § 11 D e r § 1 5 3 der Gewerbeordnung 3 wird aufgehoben. 1

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Die Vorlage wurde von der Reichstagsmehrheit am 20. 11. 1899 in zweiler Lesung zu Fall gebracht. - Vgl. Dok. 7 u. 8. § 152 der Gewerbeordnung gewährte gewerblichen Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeitern die Koalitionsfreiheit, indem alle Verbote und Slrafbestimmungen „wegen Verabredungen und Vereinigungen zum liehufe der Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen" aufgehoben wurden. § 153 der Gewerbeordnung lautete: „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt."

Resolution der Mitgliederversammlung des Zentralverbandes deutscher

vom 17. November 1 8 9 9 für die sogenannte

Industrieller

Zuchthausvorlage 1

Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centraiverbandes Nr. 84, Berlin 1899, S. 75 ff.

Deutscher

Industrieller,

D e r Zentralverband deutscher Industrieller erkennt an, d a ß die B e s t i m m u n g e n der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich und des Reichsstrafgesetzbuchs einen wirksamen S c h u t z des gewerblichen Arbeitsverhältnisses n i c h t gewährleisten. Diese B e s t i m m u n g e n bedürfen vielmehr einer Abänderung und Ergänzung in dem Sinne, d a ß das zur Zeit bestehende K o a l i t i o n s r e c h t der Arbeiter voll aufrecht erhalten, eine mißbräuchliche Ausnutzung desselben aber unter S t r a f e gestellt und nach Möglichkeit verhindert werde. Von diesem G e s i c h t s p u n k t e ausgehend sind ebensowohl B e s t i m m u n g e n zu treffen, welche die freie Ausübung des Koalitionsrechts der Arbeiter in ihrem Verhältnisse zu ihren Arbeitgebern sichern, als auch solche, welche die Arbeiter, die sich einer Koalition n i c h t 5*

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anschließen oder von einer solchen zurücktreten wollen, in der Betätigung dieser Absicht gegen den Zwang und eine mit unerlaubten Mitteln versuchte Einwirkung ihrer Mitarbeiter erfolgreich schützen. Der Zentralverband deutscher Industrieller erkennt an, daß die Absicht, nach der vorbezcichneten Richtung hin Abhilfe zu schaffen, dem dem Reichstage vorgelegten „Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses" zu Grunde liegt und daß, wenngleich mehrfache Bestimmungen des Entwurfs Bedenken erregen und zu weit gehend erscheinen, der Entwurf doch eine geeignete Grundlage für den Versuch einer gesetzlichen Regelung gibt. Ob diese letztere in Form eines besonderen Gesetzes oder in Form einer Novelle zur Gewerbeordnung oder zu dem Strafgesetzbuch erfolge, darf als nebensächlich bezeichnet werden. Der Zentralverband deutscher Industrieller hält sich für verpflichtet, auf die schwere Gefahr hinzuweisen, welche dem gesamten Erwerbsleben der deutschen Nation aus einem Fortbestehen des dermaligen Zustandes droht. Unter der Herrschaft des letzteren gewinnt der seitens der sozialdemokratisch organisierten Arbeiter auf andere Arbeiter, welche den sozialdemokratischen Organisationen nicht beitreten wollen, geübte Einfluß an Stärke, und die unausbleibliche Uberzeugung der arbeitswilligen, dem Koalitionszwange abgeneigten Arbeiter, daß der S t a a t sie in ihrem guten Rechte, zu arbeiten, wann und wo und unter welchen Bedingungen es ihnen beliebt, zu schützen nicht gewillt oder nicht im Stande sei, kann nur die Zahl derjenigen vermehren, welche den Umsturz der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung sich zum Ziele gesetzt haben. i Vgl. Dok. 6 u. 8.

8 Aus dem Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 21. November 1899 über das weitere Verhalten nach der Ablehnung der sogenannten Zuchthausvorlage durch den Reichstag 1 ZStA Merseburg, Staatsministerium, Rep. 90a, Tit. III, 2b, Nr. 6, Bd. 139, Bl. 82f. Der Herr Minister-Präsident 2 teilte mit, daß er, nachdem vom Reichstag in der gestrigen Sitzung der Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses in 2. Lesung abgelehnt worden sei 3 , Seiner Majestät dem Kaiser und König über diese Tatsache durch ein Telegramm berichtet habe, dessen Wortlaut verlesen wurde. E s frage sich, wie das Staatsministerium sich weiter in der Angelegenheit verhalten solle. Der Herr Staatsminister Graf Posadowsky 4 gab einen Überblick über den geschichtlichen Verlauf der Sache von der ersten Beratung des Staatsministeriums über den Gesetzentwurf bis zu der gestrigen Abstimmung des Reichstags, durch die entgegen den von den Führern des Zentrums bestimmt eröffneten Aussichten und trotz ihrer Kenntnis von der Absicht der Regierung, in der Kommissionsberatung Konzessionen zu machen, die Vorlage ohne Verweisung an eine Kommission abgelehnt worden sei. Er kam zu dem Ergebnisse, daß eine Auflösung des Reichstags bei der gegenwärtigen politischen Lage, insbesondere mit Rücksicht auf die in Vorbereitung begriffene Flotten-

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vorläge 5 , die dadurch wahrscheinlich zum Scheitern gebracht werden würde, untunlich sei und daß m a n vorerst die weitere Entwicklung der Dinge abwarten müsse, bei der allmählich ein besseres Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft von den ihr durch die Sozialdemokratie drohenden Gefahren zu erhoffen sei. Dem Reichstage gegenüber werde bis auf Weiteres eine ablehnende Haltung bei allen das Gebiet der Vorlage, insbesondere den Ausbau des Arbeiter-Koalitionsrechts berührenden Anträgen, einzunehmen sein. Nach kurzen Bemerkungen einiger anderer Herren Staatsminister, insbesondere des Herrn Staatsministers Tirpitz 6 , der einen Zusammenhang der zu erwartenden Flottenvorlage mit dem Schicksal des in Rede stehenden Gesetzentwurfs nicht zugeben wollte und darauf hinwies, daß eine Auflösung des Reichstags auch abgesehen von der Flottenvorläge wegen des vorauszusehenden ungünstigen Ergebnisses von Neuwahlen wohl nicht in Frage kommen würde, trat das Staatsministerium bezüglich des einzuschlagenden Verhaltens der Auffassung des Herrn Staatsministers Grafen Posadowsky bei. 1 Vgl. Dok. 6 u. 7. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst. 3 Am 20.11.1899 wurde der „Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses", die sogenannte Zuchthausvorlage, unter dem Eindruck der gewaltigen Massenproteste der Arbeiter von der Mehrheit des Reichstages gegen die Stimmen der Deutschkonservativen Partei, der Reichspartei und des rechten Flügels der Nationalliberalen Partei abgelehnt. 4 Arthur Graf v. Posadowsky-Wehner, preußischer Staatsminister und Staatssekretär des Reichsamtes des Innern. 5 Gemeint ist das 2. Flottengesetz von 1900. 6 Alfred v. Tirpitz, preußischer Staatsminister und Staatssekretär des Reichsmarineamtes. 2

9 Aus dem 1899 erschienenen Buch „Asia" von Friedrich Naumann über die indirekte Expansion des deutschen Imperialismus in der Türkei Naumann, Friedrich, „Asia". Eine Orientreise über Athen, Konstantinopel, Baalbek, Nazareth, Jerusalem, Kairo, Neapel, 7. unveränderte Aufl., Berlin-Schöneberg 1909, (1. Aufl. 1899), S. 159, 162 ff.

Unsere erste Aufgabe im Orient ist demnach: Staatserhaltung des Osmanischen Reiches. Dieser Aufgabe müssen wir unter Führung unseres Kaisers ohne zu großen Enthusiasmus, der sich von selbst verbietet, mit Zähigkeit dienen. Mit der Staatserhaltung ist die beständige Stärkung des deutschen Elementes im Orient notwendig verbunden, denn ohne diese Stärkung verliert die politische Erhaltungsarbeit für uns an Interesse, und es fehlt zu ihr auch das Menschenmaterial, da mit osmanischen Kräften das Osmanische Reich nicht mehr erhalten werden kann. Heute können wir kein Land von der Türkei brauchen, denn wir sind noch nicht stark genug, ein etwa gewonnenes Territorium zu kolonisieren und zu verteidigen. Die Zeit, wo wir große Griffe in die Weltgeschichte hinein tun können, ist noch nicht da. Überall aber und besonders in der Osthälfte der Mittelmeerländer müssen wir uns auf diese Zeit vorbereiten und dürfen keinen Mann für verloren halten, den wir

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an den Jordan oder an die Maritza werfen. Wir können es jetzt England und Rußland nicht gleich tun, aber wir besetzen Stationen für die Zukunft. Dieses muß planmäßig geschehen. Unsere direkten Interessen im türkischen Reich sind zweifacher Art: Schutz der dort lebenden Deutschen und Vermehrung des deutschen Absatzes. Inbezug auf den Schutz der Deutschen erinnern wir an das, was wir über die Rechtsverhältnisse der Deutschen in Palästina sagten. Es bedarf sehr straffer, eifriger konsularischer Vertretung, wenn der türkische Beamte den Deutschen achten soll. Verbindliche Form und unerbittliche Konsequenz gehören zusammen. Da der Türke selbst etwas auf Form gibt, so muß er sich in dieser Hinsicht verstanden fühlen, zugleich aber muß er wissen, daß in dem Germanen ein Wille existiert, der schließlich stärker ist, als alle Bummelei und Dreherei orientalischer Faulheit und Schlauheit. Die Deutschen, die im Osmanischen Reich sitzen, sind für uns ein nationaler Besitz, denn sie sind die lebendigen Anknüpfungspunkte unseres weiter zu pflegenden Handels. Es ist bis jetzt nicht übermäßig viel, was in der Handelsstatistik zwischen Deutschland und der Türkei verzeichnet steht, aber die Ziffern können wachsen . . . Die Türkei ist also jetzt noch lange kein großer Markt im Vergleich zu unserer Gesamtproduktion 1 , aber sie hat Vorteile, die uns wenige andere Länder bieten: sie ist für uns ansiedlungsfähig und kann bei verändertem Wirtschaftssystem ihren Bedarf und ihre Leistungen ungeheuer vermehren. J e mehr sie gut agrarisch verwaltet wird, desto größer wird ihr Industriebedarf werden. Wir haben die Menschen, die zur besseren agrarischen Ausnutzung des türkischen Bodens helfen können, wie es in Palästina die Templer 2 getan haben, und wir können die gewonnenen Produkte gern als Zahlung für Maschinen, Kleiderstoffe und Luxusartikel annehmen, da wir doch einmal Zufuhr von Roggen, Weizen, Kaffee, Tabak und südlichem Wein brauchen . . . Wenn die Deutschen den Osmanenstaat stützen wollen, so müssen sie arbeitende Kraft in ihn hineinwerfen. Diese Kraft ist Kapitalanlage im weitesten Sinne des Wortes: Menschen und Geld, Bauern, Handwerker, Militärs, Verwaltungsbeamte, Schienen, Banken, Maschinen. Alle diese Anlage muß, wie der Kaiser in Bethlehem sagte 3 , in gewissem Sinn selbstlos gemacht werden, das heißt mit dem vollen Bewußtsein, daß sie sich gar nicht sofort rentieren kann. Wenn wir aber unseren jetzt starken Einfluß nicht zu Reformen benutzen, so wird er sich bald abnutzen. Es ist ein altes Diplomatenwort, daß es leicht sei, sich am Goldenen Horn festzusetzen, aber schwer, sich dort zu halten. Die Zielpunkte unseres Arbeitens scheinen zu sein: Militärreform, Finanzreform, Agrarreform. In der ersten Hinsicht ist schon viel geschehen, in der zweiten etwas, in der dritten so gut wie nichts. Dem Türken selber ist natürlich jede Reform unheimlich. Er wird sie nur ertragen können, wenn sie von seinem absolut sicheren politischen Freunde ausgeht, und auch dann kann er sie nur als das kleinere Übel im Vergleich zum Untergange seines Staates sich gefallen lassen. Es muß also eine Art freundschaftlicher Diktatur angebahnt werden, bei der es bisweilen heißt: „Vogel, friß oder stirb!" . . . Der Anfang des deutschen Verwaltungslebens im Osmanischen Reich kann nur mit Straßen und Eisenbahnen gemacht werden. Es gilt, die Luft des Abendlandes in die alten dumpfen Räume hineinzulassen. J e t z t hat die kleinasiatische Bahn noch immer ihre Konzession nicht erhalten. In dieser Angelegenheit dreht es sich keineswegs nur um das Geld der betreffenden Bahngesellschaft. Man denke sich ein deutsch geleitetes Bahnsystem von Konstantinopel über Kleinasien hin zum Euphrat und zum Roten Meer! Das wäre das Erwachen alter versunkener Länder. Wenn ein solches System von uns geschaffen ist,

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werden wir im eigenen Interesse dem Armeniermord 4 nicht mehr ruhig zusehen müssen, wie wir es jetzt mußten, wo wir zu schwach sind, um die Armenier zu schützen, ohne sie damit den Engländern auszuliefern. Wir müssen das Land wirtschaftlich von uns abhängig machen, um es später politisch ,.kontrollieren" zu können. 1

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Naumann nahm zum Beleg die Statistik von 1896 (das Buch erschien in 1. Aufl. 1899). Danach führte Deutschland von der Türkei Waren im Werte von 5,6 Millionen M ein und Waren im Werte von 16,8 Millionen M nach dorthin aus. Templer — Tempelbrüder, Tempelherren, Tempelorden; geistlicher Ritterorden, gegründet während der Kreuzziige zu Beginn des 12. Jh. Von Mitte Oktober bis Mitte November 1898 machte Wilhelm II. eine pompöse Orientreise, die ihn nach Konstantinopel, Jerusalem und Damaskus führte. Am 30. 10. 1898 war er in Bethlehem. (Siehe dazu Dok. 3) Gegen die türkische Fremdherrschaft richtete sich eine nationale Bewegung des armenischen Volkes. 1895/96 verübten die Türken blutige Massaker unter der armenischen Bevölkerung.

10 Ganz geheimes Schreiben des Vortragenden Rates im Auswärtigen Amt Otto von Mühlberg an den Ersten Sekretär bei der Botschaft in London Hermann Freiherr von Eckardstein vom 31. Januar 1900 über die finanzielle und diplomatische Absicherung des Baues der Bagdadbahn GPj Bd. 17, Nr. 5213, S. 374 f.

In dem an Seine Exzellenz den Herrn Staatssekretär gerichteten Privatschrcihen vom 22. d. Mts. 1 haben Sie unter anderem auch erwähnt, daß man dort Herrn von Siemens 2 erwartete, welcher beabsichtigte, mit Londoner Bankhäusern über eine englische Beteiligung an der Finanzierung der Bagdadbahn persönlich Fühlung zu nehmen. Wie mir Herr von Siemens mitteilt, ist diese Nachricht verfrüht. Er ist allerdings willens, sich zu dein angegebenen Zwecke nach London zu begeben, hält aber den richtigen Zeitpunkt hierfür noch nicht gekommen. Sobald die Reise des Herrn von Siemens feststeht, werden wir es nicht übersehen, Sie davon zu verständigen und Ihnen etwa notwendige Instruktionen zukommen zu lassen. Jetzt schon möchte ich aber zu Ihrer Information bemerken, daß wir die Absicht des Herrn von Siemens, auch englisches Kapital für das Bagdadunternehmen zu interessieren und flüssig zu machen, durchaus billigen. Ihm ist dieselbe sogar von uns nahegelegt worden. Denn wir glauben, daß mit der Beteiligung des englischen Geldmarkts einerseits das abgünstige Gefühl, die Bahn in deutschen Händen zu wissen, in London etwas paralysiert und andererseits das finanzielle Risiko auf internationale Schultern verteilt wird. Freilich ist Herrn von Siemens große Vorsicht und die möglichste Geheimhaltung seiner Be« mühungen angeraten worden, um den Sultan, welcher die englische Heranziehung nicht gern sehen wird, nicht vor der Zeit darauf aufmerksam werden zu lassen und eine Verstimmung bei ihm hervorzurufen, welche in weiteren dem definitiven Zustandekommen des Bahnbaus bereiteten Hindernissen einen uns unfreundlichen Ausdruck finden würde. Auf einen zweiten Punkt möchte ich bei dieser Gelegenheit noch Ihre Aufmerksamkeit lenken.

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Wenn man in offiziellen englischen Kreisen das deutsche Projekt der Bagdadbahn nicht mehr mit so scheelen Augen ansieht wie früher und sich vielmehr den Anschein gibt, als wären wir willkommene Pioniere in Kleinasien, so hängt dies wohl mit dem geheimen Wunsche zusammen, in uns einen kräftigen Bundesgenossen gegen die russischen Begehrlichkeiten auf Persien zu gewinnen. Der Glaube und die Hoffnung machen auch im politischen Leben manchmal selig. Wir haben keinen Grund, diese ersprießlichen Kräfte zu zerstören, solange sie sich auf platonischem Gebiet bewegen und uns nicht in reale Verdrießlichkeiten mit Rußland stürzen, dem wir in Persien freie Hand zu lassen wünschen. Es gilt also, die asiatische Rivalität Englands und Rußlands so für uns auszunutzen, daß wir bald mit einer Verbeugung vor dem britischen Löwen, bald mit einem Knix vor dem russischen Bären unsere Bahn bis Kuweit am Persischen Golfe hindurchschlängeln. In großen Umrissen ist Herr von Siemens von diesen Gedanken unterrichtet worden, welche unseren Herrn Staatssekretär auf diesem Gebiete leiten, und von welchen ich Sie auf sein Geheiß verständigen darf. Dabei wurde Herr von Siemens indes besonders gewarnt, sich mit der sogenannten persischen Finanzgruppe in London einzulassen, weil dies in St. Petersburg den Verdacht erwecken könnte, als wollten wir unsere Eisenbahnpläne, was tatsächlich nicht der Fall ist, auch auf Persien ausdehnen. Ich hoffe, Ihnen ein ausreichendes Bild gezeichnet zu haben, um danach mit Herrn von Siemens, wenn derselbe in London eintrifft, arbeiten zu können. 1

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Privatschreiben des Ersten Sekretärs bei der Botschaft in London Hermann Frhr. v. Eckardstein an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Bernhard Graf v. Bülow vom 22. 1. 1900. (GP, Bd. 17, Nr. 5212, S. 372 ff.). Georg v. Siemens, Direktor der Deutschen Bank.

11 Aus dem Artikel des Philosophen Eduard von Hartmann „Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert" in den „Alldeutschen Blättern" vom 11. Februar 1900 über einen mitteleuropäischen Zollverein unter deutscher Führung Alldeutsche Blätter, hrsg. vom Alldeutschen Verband, Nr. 7 vom 11. 2. 1900.

Wir Deutschen leben der Hoffnung, daß unser Vaterland neben den Vereinigten Staaten, Rußland und England sich die Stellung als vierte Weltgroßmacht werde erringen und behaupten können . . . Es bleibt das Bedenken bestehen, daß Deutschland mit unzureichenden eigenen Kolonien und angewiesen auf die ergänzende Zufuhr aus Südamerika und der asiatischen Türkei sich doch in einer sehr prekären Lage befinden würde im Vergleich mit den drei ersten Weltgroßmächten, deren jede aus eigenem Kolonialbesitz ihren ganzen Bedarf zu decken vermag. Aber wir dürfen darum nicht verzagen. Schon mehren sich die Anzeichen, daß den abgesprengten Gliedern des ehemaligen Reiches in der schutzlosen Selbständigkeit ihrer kleinstaatlichen Existenz bange wird, und daß sie sich mit dem Gedanken einer politischen und wirtschaftlichen Anlehnung an die deutsche Großmacht beschäftigen. Nachdem die törichte Annexionsfurcht der 70er J a h r e in Holland gewichen ist, hat man dort mit Schrecken wahrgenommen, wie kurzen Prozeß Amerika mit den spanischen Kolo-

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nien gemacht h a t 1 und wie liebreich und milde England gegen die stammverwandten Glaubensgenossen in Südafrika vorgeht 2 . Man weiß ganz genau, daß man die holländischen Kolonien gegen den räuberischen Griff einer Weltgroßmacht noch weniger zu schützen vermag als Spanien die seinigen. Der Dortmund-Ems-Kanal, der in kurzem zu einem Rhein-Ems-Kanal vervollständigt werden wird und leicht für die größten Fahrzeuge benutzbar gemacht werden kann, führt den Holländern vor Augen, wie leicht Deutschland seinen Rheinverkehr nach der Ems ablenken und durch Zollschranken von der Rheinmündung abschneiden kann, womit dann Holland die Hauptquelle seines Wohlstandes abgegraben wäre. Ebenso gut weiß man, daß die Kräfte eines Kleinstaates nicht ausreichen, um so bedeutende Kolonien wie Java und die Nachbarinseln voll auszunützen, daß es dafür des Zuflusses von Kapital und Arbeitskräften aus einem größeren Vorratsbehälter bedürfte. Alle jene Gefahren ließen sich abwenden und alle diese Vorteile sich erlangen, wenn Holland ein Schutz- und Trutzbündnis und eine Zolleinigung mit Zollparlament von Deutschland nachsuchte, also in ein ähnliches Verhältnis zum Reiche träte, wie die süddeutschen Staaten von 1866 bis 1870 zum Norddeutschen Runde. Deutschland wird sicherlich nichts tun, ihm solchen Entschluß aufzudrängen, sondern kann abwarten, bis er sich von selbst durch die Logik der Tatsachen in den Köpfen der Holländer Bahn bricht. Daß durch solchen Zusammenschluß die Großmachtstellung Deutschlands ebenso gewinnen würde wie seine Seegeltung und sein koloniales Wirtschaftsgebiet, ist unzweifelhaft; aber ein sich selbst genügendes Wirtschaftsgebiet würde auch damit noch nicht erreicht werden . . . Die Aufgabe (ein deutsches geschlossenes Wirtschaftsgebiet zu gründen) kann in der Tat nur durch einen mitteleuropäischen Zollverein gelöst werden, der außer Deutschland und Holland auch Frankreich und Belgien mit ihren Kolonien umfassen müßte. Je mehr sich die drei ersten Weltgroßmächte in ihrem Wirtschaftsgebiet abschließen, desto dringender wird der handelspolitische Zusammenschluß der vier kontinentalen Nordseestaaten im Interesse ihrer Selbsterlialtung. Der Zug der Zeit geht nun einmal auf Beseitigung der kleinlichen Zollschranken zu Gunsten großer Zollgebiete. Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland, Deutschösterreich und die Schweiz stehen sich in wirtschaftlicher Hinsicht so nahe, daß sie keinen vernünftigen wirtschaftlichen Grund mehr haben, ihre Grenzen durch Zölle gegeneinander abzusperren. In finanzieller Hinsicht aber würden sie allen Bedenken zum Trotz durch Verteilung der gemeinsamen Zollvereinseinnahmen nicht verlieren, sondern gewinnen, gerade so wie die deutschen Kleinstaaten dereinst durch Anschluß an den preußischen Zollverein gewonnen haben. Ein solcher mitteleuropäischer Zollverein wäre zugleich die beste Vorbereitung auf eine Zeit, wo ein bedenkliches Ubergewicht Rußlands die Selbständigkeit der europäischen Staaten in Gefahr bringen könnte, wenn sie nicht durch Einigkeit ersetzen, was ihnen an natürlichen Machtgrundlagen fehlt. Der Zollverein wäre zugleich der Friedensbund, der den europäischen Kulturvölkern die Bürgschaft gewährte, ihren großen Aufgaben in friedlichem Wettbewerb ungestört durch Kriegsgefahren nachgehen zu können.

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Im Ergebnis des spanisch-amerikanischen Krieges von 1898 mußte Spanien Puerto Rico, die Philippinen und Guam an die USA abtreten. Kuba wurde formell selbständig, geriet aber praktisch unter die politische, ökonomische und militärische Herrschaft der USA. 1899 bis 1902 Kolonialkrieg des britischen Imperialismus gegen die Burenrepubliken Oranjefreistaat und Transvaal. Im Frieden zu Pretoria (31. 5. 1902) wurden die Burenrepubliken britische Kolonien.

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12 Aus dem Schreiben des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin Läszlo Szögyeny-Marich an den österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren Agenor Graf von Goluchowski vom 2. Januar 1901 über die Forderung der Junker nach Erhöhung der Getreidezölle und die Haltung des Reichskanzlers und des preußischen Finanzministers UStA Budapest, ME - K 26 - 1901 - IV - res. 407, Bl. 10 f. In den hiesigen Blättern ist ein Ausspruch eines hervorragenden Mitgliedes der deutschen Agrarpartei, Graf Klinkowström 1 , vielfach erörtert worden, worin derselbe sich geäußert hatte, daß in der Frage der künftigen Getreide-Zölle die Agrarier m i t dem Grafen Bülow 2 eins seien. Diese Behauptung wurde zwar sofort von den verschiedensten Seiten als unrichtig bezeichnet, doch ist es sehr wohl möglich, daß zwischen dem gemäßigten Teil der Agrarier und der Regierung bezüglich Regelung der Zollfragen f ü r die wichtigsten agrarischen Erzeugnisse tatsächlich ein Einvernehmen bestellt. Jedenfalls aber war es den extremen Elementen der Agrar-Partei nicht angenehm, daß das Bestehen eines derartigen Einvernehmens schon jetzt an die große Glocke gehängt werde. Ich h a t t e vor einigen Tagen Gelegenheit, den Herrn Finanzminister und Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, von Miquel 3 , zu sprechen, und auch seine Äußerungen ließen auf die Richtigkeit der Behauptung Graf Klinkowströms schließen. Herr von Miquel gab mir zu, daß die Regierung sich den übereinstimmenden Forderungen der Landwirtschaft nicht werde verschließen können und daß in Folge dessen eine mäßige Erhöhung der Getreidezölle werde Platz greifen müssen. Die Agrarparteien h ä t t e n es seinerzeit als ein schweres, der deutschen Landwirtschaft zugefügtes Unrecht empfunden, als der Zollsatz auf Getreide, kurz nachdem er auf 5 Mark erhöht worden war, wieder auf 3 M. 50 Pf. ermäßigt wurde, und sie haben seit dieser Zeit nicht aufgehört, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit dieses ihnen angeblich zugefügte Unrecht wieder gutgemaehtwerde. 1 2 3

Clemens Karl Klinkowström. Bernhard Graf v. Bülow, deutscher Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Johannes v. Miquel, preußischer Minislerpräsident und Vizepräsident des preußischen Staalsministeriums.

13 Aus der Ansprache des Mitglieds der polnischen Fraktion Ludwik Jazdzewski in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses am 15. Januar 1901 über die Germanisierungspolitik des deutschen Imperialismus gegenüber der polnischen Bevölkerung Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordnelen, 19. Legislaturperiode, III. Session 1901, Bd. 1, Berlin 1901, Sp. 173f. Meine Herren, wenn man einer Bevölkerung, welche dem preußischen S t a a t e auf Grund von internationalen Staatsverträgen einverleibt worden ist 1 mit der Zusage, mit dem feierlich abgegebenen königlichen Versprechen, daß ihre Nationalität geschützt und gepflegt werden soll im preußischen S t a a t , daß ihre Sprache im amtlichen und im Privatleben eine

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Schonung und einen sicheren Schutz erhalten soll, — wenn man dieser Bevölkerung, die schon unglücklich genug gewesen ist, daß sie ihre staatliche Unabhängigkeit verloren hat, alle diese Versprechen und Zusagen vorenthält und ins Gegenteil verkehrt, so kann m a n sich nicht wundern, daß diese unsere Bevölkerung, die eine tausendjährige Geschichte und Kultur hinter sich hat, über die geradezu feindlichen Maßnahmen der Regierung unzufrieden, ja geradezu empört ist, und bei ihrem lebhaften Naturell dieser Unzufriedenheit und tiefem Mißbehagen einen entsprechend lebhaften Ausdruck gibt. Ich will Ihnen nur kursorisch eine kurze, lange nicht erschöpfende Zusammenstellung dessen vorlegen, was alles dieser unserer Bevölkerung in den letzten Zeiten widerfahren ist, um sie aufzureizen und zu schädigen. Althergebrachte Namen, die eine tausendjährige Geschichte haben, werden durch die von Landräten, den Regierungen und dem Ministerium vorgeschlagenen und Allerhöchst genehmigten Anträge einfach beseitigt; Familiennamen werden vielfach durch Behörden verfälscht; jede fachmännische Versammlung wird polizeilich überwacht; jede Versammlung unter freiem Himmel wird untersagt; Aufzüge mit Musik werden verboten; polnische Theateraufführungen werden meistens verboten oder verhindert. Was tut nicht alles die Ansiedlungskommission, um die Bevölkerung zu kränken? 2 Die Ansiedlungskommission — das kann der Herr Minister 3 nicht leugnen — ist im Jahre 1886 auf seine eigene Anregung, wie er noch Abgeordneter war, ins Leben gerufen worden; er war es selbst, der zu dieser unglückseligen Maßregel drängte. Und worauf zielt sie hin? Auf das Verdrängen der polnischen Besitzer und Arbeiter von der väterlichen Scholle mit dem Vorbehalt, daß eine Parzelle aus Staatsfonds von den angekauften Gütern an einen Polen, der doch auch ein gleichberechtigter Staatsbürger sein soll wie jeder andere, nie und nimmer verkauft werden darf. Die verschiedenen Ankäufe und Verkäufe dieser Kommission regen tagtäglich die Bevölkerung auf, und nachdem das geschieht, klagt man darüber, daß die Bevölkerung sich beunruhigt fühlt, und daß eine gewisse Agitation im Lande sich zeigt, die solchen Maßnahmen entgegenarbeitet. Man läßt die Polen bei der Vergebung öffentlicher Arbeiten so gut wie niemals zu; es gibt keinen einzigen polnischen Domänenpächter im ganzen preußischen Staat, so wie es keinen einzigen polnischen Verwaltungsbeamtert und keinen einzigen polnischen Richter an leitender Stelle gibt, ,1a selbst dort, wo die verschiedenen Vertretungen gewisser Korporationen, z. B. die Schulvertretungen, ein Grundstück verpachten wollen an einen Angehörigen ihres Stammes und ihrer Relegion, tritt die Regierung hindernd dem Beschlüsse der Schulvorstände entgegen und drängt darauf, daß selbst die eigenen Ländereien katholischer Schulsozietäten nur evangelischen deutschen Besitzern verpachtet werden, um das Erwerbsleben eines Polen zu unterbinden, wie das jüngst bei mir in Schroda geschehen ist. Meine Herren, vor Gericht darf kein Pole seine Sache in eigener Sprache vertreten; vor den Verwaltungsbehörden findet er kein Gehör in seiner Muttersprache. Kurz und gut, auf jedem Gebiet wird der Pole zurückgedrängt, auf jedem Schritt und Tritt wird er gekränkt; und nachdem das tagtäglich geschieht, klagt man über Agitation, über Unruhe und über eine polnische Gefahr und spricht von der Bedrängung des Deutschtums! Meine Herren, nun die Schule! Ist denn bei uns die Volksschule ein Bildungsinstitut, eine Bildungsanstalt im erhabenen Sinne des Wortes? Nein, sie ist geradezu eine Verbildungsanstalt, sie ist nichts weiter wie ein Abriclitungsinstitut. Den Vorwurf muß ich der Schulverwaltung in der schärfsten Weise entgegenhalten, daß sie nicht dafür Sorge trägt, was ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, daß der Bevölkerung ihre Muttersprache, die Sprache der Familie und der Kirche, in der Schule nicht gehörig beigebracht wird, daß das pol-

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nische Kind in der Volksschule meistens nicht einmal leidlich polnisch lesen u n d schreiben lernen kann. Meine Herren, das sind alles Zustände, die die polnische Bevölkerung t a g t ä g lich vor Augen h a t , u n d m i t welchen sie tagtäglich in Berührung k o m m t ; u n d da spricht nun das angezogene Ministerialorgan 4 von einer durch Agitation gezeitigten polnischen Gefahr! Diese polnische Gefahr haben Sie sich, meine Herren am Ministertische, selbst heraufbeschworen und großgezogen. Sie ist ihr eigenstes W e r k . 1

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Auf dem Wiener Kongreß 1815 war Polen erneut zwischen Rußland, Preußen und Österreich geteilt worden. Preußen erhielt Westpreußen mit Danzig, Posen und den Netzedislrikt. Am 7. 4. 1886 nahm das preußische Abgeordnetenhaus das Ansiedlungsgesetz für die Provinzen Westpreußen und Posen an. Im Rahmen dieses Gesetzes wurde eine Ansiedlungskommission geschaffen, die mit bedeutenden Mitteln polnische Güter aufkaufen sollte, um die Germanisierungspolitik durchzusetzen. Gemeint ist Johannes v. Miquel, preußischer Finanzminister und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums. Die ministerielle Berliner Korrespondenz hatte im Jahre 1900 eine mehrteilige Artikelserie unter der Überschrift „Die polnische Gefahr" gebracht. Diese „Gefahr" erblickte das Blatt u. a. in der großen Kopfzahl der polnischen Bevölkerung und deren rascher Zunahme, ferner darin, daß Landwirtschaft, Industrie und Handel in den Ostprovinzen in polnische Hände übergingen, schließlich in der sogenannten großpolnischen Agitation, dem entwickelten Vereinswesen und der energischen polnischen Presse.

14 Aus dem Vortrag „Warum betreiben wir die soziale Reform" des Vorsitzenden der Gesellschaft für soziale Reform Hans Freiherr von Berlepsch vom 18. September 1903 über die Notwendigkeit, mit sozialen Reformen die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine reformistische Arbeiterpartei zu erreichen und den Klassenkampf zu entschärfen 1 Soziale Praxis, Zentralblatt für Sozialpolitik, Nr. 2 v. 8. 10. 1903. Was m a c h t denn die Sozialdemokratie gefährlich f ü r die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung? Sind das ihre Theorien, die sog. Endziele, die Ausschaltung des privaten Unternehmers, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Erzeugung und Verteilung aller Bedarfsgegenstände ausschließlich durch die Organe des gemeinen Wesens? O nein, es gibt heute keinen denkenden Sozialdemokraten, der die Verantwortung auf sich nehmen wollte, all diese Dinge in Bälde durch gewaltsam-revolutionäre Schläge herbeizuführen, keinen, der nicht wüßte, daß solch gewaltige Änderungen des Wirtschaftslebens sich nur in langfristigen Ubergangsperioden vollziehen können. Uber diese Enziele, die ja keineswegs unmoralische sind, ließe sich in aller R u h e mit der Sozialdemokratie diskutieren. So gut wie über Änderung von Verfassungs- und Verwaltungsgrundsätzen diskutiert wird, ohne d a ß das staatliche Leben in Gefahr gerät, so gut könnte man die Änderung von wirtschaftlichen Grundsätzen erörtern, ob u n d in welchem Maße und in welchem Tempo wirtschaftliche Bildungen neuen zu weichen haben, u m den Anforderungen fortschreitender Kultur gerecht zu werden, wo u n d wann der private Unternehmer dem öffentlichen in S t a a t , Provinz, Gemeinde zu weichen hat, inwieweit die Menschheit dazu reif ist, den Gewinn als den wesentlichsten Antrieb zur Gütererzeugung aufzugeben

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und ob sie hierzu überhaupt in absehbarer Zeit reif sein wird. Wie wünschenswert wäre es, mit der Sozialdemokratie über -diese Frage in aller Ruhe zu diskutieren, von deren Bejahung oder Verneinung die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Einführung des Zukunftsstaates, der Verwirklichung der sog. Endziele, offenbar abhängt! Im einzelnen hat man sich doch schon lebhaft mit solchen Fragen beschäftigt, so seinerzeit mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen in Preußen oder mit der Verstärkung des staatlichen Besitzes von Steinkohlengruben, so mit der Frage, ob die private Unternehmung ausgeschaltet werden soll für die Wasser- und Lichtversorgung, die Verkehrsanstalten in den Gemeinden, wie man auch in aller Ruhe über den sog. Antrag Kanitz 2 diskutiert hat, der die Versorgung Deutschlands mit ausländischem Getreide dem privaten Händler entziehen und dem Staat übertragen wollte. Alles Schritte, theoretisch gedacht, in sozialistischer Richtung. Nein, das, was die Sozialdemokratie gefährlich macht, das sind nicht die Ziele, sondern die Wege, auf welche sie ihre Anhänger verweist, das ist die absolute Absonderung der Arbeiterschaft von allen anderen Bevölkerungsklassen, von der Gemeinsamkeit des Vaterlandes, der staatlichen Ordnung, das ist die Erbitterung, die sie erzeugt, das ist der Klassenkampf und der Klassenhaß, den sie braucht, das ist das Streben nach der ausschließlichen politischen Herrschaft des Proletariats. Mit dem Manne, der mich für seinen geborenen Feind hält, der annimmt, daß mein Vorteil unter allen Umständen sein Nachteil, mein Nachteil unter allen Umständen sein Vorteil sein muß, kann ich über nichts mit Erfolg diskutieren, über nichts mich verständigen. In dieser Scheidung liegt die Ursache der tiefen Kluft, welche die Lohnarbeiter, soweit sie der sozialdemokratischen Partei angehören, von allen anderen Klassen der Bevölkerung trennt, ohne deren Ausfüllung wir allerdings in ständiger Gefahr leben würden. Und nun frage ich: gibt es wohl ein besseres Mittel, denen das Geschäft zu erleichtern, die den Lohnarbeitern wieder und wieder predigen, daß sie bei der bürgerlichen Gesellschaft, den Regierungen keine Hilfe, keine Gerechtigkeit fänden, daß sie alle miteinander die eine reaktionäre Masse bildeten, die trachte, sich auf Kosten der Arbeiter zu bereichern, — als wenn man den Arbeitern den Weg der Selbsthilfe verschränkt, den einzigen Weg, auf dem sie zu einer dem Unternehmertum gleichberechtigten Stellung in dem wirtschaftlichen Kampf um die Arbeitsbedingungen gelangen können? Als wenn man auf die Koalitionen und die Arbeiterberufsvereine eine Gesetzgebung anwendet, die nicht f ü r sie gedacht war, und noch dazu in einer Weise anwendet, die bei den Betroffenen notwendigerweise das Gefühl ungerechter Behandlung wachrufen muß? Ich kenne kein wirksameres Mittel, die Sozialdemokratie zu stärken, als dies Verfahrendes sei denn das der Anwendung von polizeilicher, gewaltsamer Unterdrückung. Wer heute noch nicht begriffen hat, daß für absehbare Zeit mit der Sozialdemokratie als der Vertreterin des größten Teils der industriellen Arbeiterschaft gerechnet werden muß, wer heute noch sich einbildet, die Herrschaft der Sozialdemokratie über die Arbeitschaft brechen zu können durch Gewalt oder durch kleinliche polizeiliche Mittel, .der ist nicht nur mit Blindheit geschlagen, sondern, wenn er Einfluß auf die Leitung der Politik im Staatsleben hat, auch in hohem Grade gefährlich, weil er auf Grund einer falschen Diagnose zu falschen Mitteln greifen wird. Nicht die Sozialdemokratie zu beseitigen, kann die Aufgabe umsichtiger Politiker sein, weil sie hieran umsonst arbeiten würden, sondern die Hindernisse zu beseitigen, die der Umwandlung der Sozialdemokratie, wie sie jetzt ist, in eine Arbeiterpartei entgegenstehen, die ohne Klassenhaß und ohne Vernichtungskrieg gegen das Bestehende, im Wege der Re-

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form und der Entwicklung den Arbeitern den Platz an der Sonne zu erkämpfen sucht, auf den sie Anspruch haben, wie jeder andere Staatsbürger . . . W e n n wir u n s n u n noch eirimal die Lage d e r gewerblichen L o h n a r b e i t e r in d e r j e t z i g e n Zeit z u s a m m e n f a s s e n d v e r g e g e n w ä r t i g e n , so k o m m e n wir zu d e m R e s u l t a t , d a ß zwar eine f o r t s c h r e i t e n d e Besserung a u ß e r Zweifel s t e h t , d a ß a b e r noch i m m e r ein e r h e b l i c h e r Teil der A r b e i t e r in N o t u n d E l e n d lebt, d a ß ein g r o ß e r Teil n u r ein E i n k o m m e n h a t , d a s zur Befriedigung d e r d r i n g e n d s t e n L e b e n s b e d ü r f n i s s e g e r a d e h i n r e i c h t , d a ß es n u r ein verh ä l t n i s m ä ß i g kleiner Teil ist, dein sein E i n k o m m e n einen Anteil a n d e n F r e u d e n d e s Lebens, a n d e n S e g n u n g e n einer f o r t s c h r e i t e n d e n K u l t u r u n d B i l d u n g g e w ä h r t , d a ß sie s ä m t l i c h u n t e r d e m D a m o k l e s s c h w e r t d r o h e n d e r Arbeitslosigkeit leben. Die A r b e i t e r s c h a f t ist in ihrer G e s a m t h e i t u n z u f r i e d e n m i t dieser Lage, sie s t r e b t , sie zu verbessern d u r c h E i n f l u ß n a h m e auf die G e s t a l t u n g der A r b e i t s b e d i n g u n g e n u n d d u r c h die F o r d e r u n g s t a a t l i c h e n Eingreifens. Weil ihrer Meinung n a c h ihr die b e a n s p r u c h t e Hilfe in der b e s t e h e n d e n S t a a t s - u n d G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g n i c h t n u r n i c h t g e w ä h r t wird, s o n d e r n auch d e r v e r l a n g t e n G l e i c h b e r e c h t i g u n g im w i r t s c h a f t l i c h e n K a m p f e H i n d e r n i s s e b e r e i t e t werden, so stellt sich ein g r o ß e r Teil d e r L o h n a r b e i t e r dieser O r d n u n g u n d ihren T r ä g e r n feindlich g e g e n ü b e r . E r s o n d e r t sich a b als Klasse v o n allen a n d e r e n sozialen G r u p p e n i m S t a a t u n d f ü h r t d e n K l a s s e n k a m p f in der B e h a u p t u n g , d a ß eine Besserung seiner L a g e n u r d u r c h die A r b e i t e r s c h a f t selbst u n d n u r d u r c h sie allein h e r b e i g e f ü h r t w e r d e n k ö n n e . Zwischen diesem Teil d e r L o h n a r b e i t e r s c h a f t u n d d e n ü b r i g e n B e v ö l k e r u n g s t e i l e n u n s e r e s V a t e r l a n d e s ist eine tiefe K l u f t e n t s t a n d e n , die ein gegenseitiges V e r s t e h e n f a s t u n m ö g l i c h m a c h t , u n d erst i m l e t z t e n J a h r z e h n t sind hin u n d wieder einige B r ü c k e n geschlagen worden, auf d e n e n eine W i e d e r a n n ä h e r u n g möglich wird. Kein Zweifel, d e r innere F r i e d e in u n s e r e m V a t e r l a n d e ist auf d a s e r n s t e s t e e r s c h ü t t e r t u n d g e f ä h r d e t . Wir, die wir u n s in der Gesellschaft für Soziale Reform z u s a m m e n g e f u n d e n h a b e n , stellen u n s d e m g e g e n ü b e r die d o p p e l t e A u f g a b e : E r s t e n s auf eine Besserung der u n g e n ü g e n d e n Lage der L o h n a r b e i t e r in ü b e r l e g t e r , a b e r k o n s e q u e n t e r u n d energischer Weise h i n z u w i r k e n , d a s E l e n d a u s d e n Kreisen d e r A r b e i t e r s c h a f t zu v e r b a n n e n , in f o r t s c h r e i t e n d e r Progression die Zahl derer zu v e r m e h r e n , d e r e n Leben n i c h t n u r d u r c h d e n K a m p f u m die E x i s t e n z a u s g e f ü l l t wird, u n d so Zweitens d u r c h Beseitigung d e r U r s a c h e n der U n z u f r i e d e n h e i t diese selbst zu beseitigen, der A r b e i t e r s c h a f t die Ü b e r z e u g u n g zu geben, d a ß sie in d e m Ringen u m eine bessere E x i s t e n z n i c h t allein s t e h t wider alle a n d e r e n sozialen Klassen, k u r z d e m V a t e r l a n d e d e n inneren F r i e d e n wieder zu bringen. W i r lehnen alle Mittel der G e w a l t u n d des Zwanges g e g e n ü b e r d e r A r b e i t e r b e w e g u n g , soweit sie n i c h t gegen d a s b e s t e h e n d e S t r a f g e s e t z v e r s t ö ß t , a b u n d wollen sie u n t e r d a s gem e i n e R e c h t gestellt wissen in der Ü b e r z e u g u n g , die d u r c h die E r f a h r u n g , die wir in D e u t s c h l a n d selbst m i t d e m s o g e n a n n t e n Sozialistengesetz g e m a c h t h a b e n , g e s t ü t z t w i r d , d a ß m a n m i t Z w a n g u n d G e w a l t wohl v o r ü b e r g e h e n d e E r f o l g e erreichen, wohl ä u ß e r e S y m p t o m e t r e f f e n , niemals a b e r G e s i n n u n g e n ä n d e r n k a n n . Die soziale Reform ist unsere Waffe und unsere Hoffnung. 1

Der Vortrag wurde vor der Ortsgruppe Hamburg der Gesellschaft für soziale Reform gehalten. — Die Gesellschaft für soziale Reform war am 6. 1. 1901 als Sammelbecken bürgerlicher Sozialreformer unterschiedlicher sozialer Herkunft und parteipolitischer Zugehörigkeit gegründet worden. (Vgl. dazu: Fricke, Dieter, Bürgerliche Sozialreformer und die Zersplitterung der antisozialistischen Arbeiterorganisationen vor 1914, in: ZfG 10/1975, S. 1177ff.).

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A m 7. 4. 1894 hatte Hans Wilhelm Alexander Graf v. K a n i t z den Antrag im Reichstag eingebracht, den Ein- und Verkauf des im deutsehen Zollgebiet z u m Verbrauch bestimmten ausländischen Getreides zu verstaatlichen. Die Annahme des Antrages hätte eine wesentlich« Erhöhung der Getreidepreise und als zwangsläufige Folge die E r h ö h u n g der Preise für wichtige Grundnahrungsmittel zugunsten der Junker zur Folge gehabt. Der Antrag, in abgeänderter Form wiederholt, wurde im Januar 1896 v o n der Reichstagsmehrheit abgelehnt.

15 Aus dem Artikel des nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Hugo Böttger „Der sozialdemokratische Parteitag und die deutsche Scharfmacherei" in der Zeitung „Der Tag" vom 23. September 1903 über die Absicht der Revisionisten, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in opportunistische und damit für die herrschenden Klassen weniger gefährliche Bahnen zu lenken Der Tag. Erster Teil: Illustrierte Zeitung, Ausgabe A, Nr. 445 v. 23. 9. 1903.

Eines ist wahr an der Bebeischen Charakteristik, uneinig war der Parteitag 1 in hohem Maße. Die sogenannten Genossen saßen rechts und links geschieden, auf der einen Seite die Männer der schwieligen Faust und der baumstarken Phrase, auf der andern Seite die verschlagenen Akademiker, die Intellektuellen, die da sich duckten und die Ohren anlegten, bis der Sturm über sie hinweg gebraust war . . . Mag nun auch die mit erdrückender Mehrheit angenommene Resolution den Revisionismus erschlagen zu haben sich einbilden, der Revisionismus lebt weiter und wenn man in die Nerven- und Seelenstruktur des sozialistischen Parteikörpers unbefangen hineinschaut, so gewinnt man den Eindruck, daß er trotz alledem der Sieger von Dresden ist. Man wollte die Bernstein 2 und Vollmar 3 jetzt endlich kleinkriegen, sie endlich hinausfliegen lassen, aber der eine nahm die Resolution kalt lächelnd an und steckte sie in die Tasche, und der andere protestierte zwar dagegen, aber das Unglück der vorläufigen Unwirksamkeit seines Protestes weiß ein Philosoph gleich Bernstein mit Gelassenheit zu tragen. Wer sich wie Bebel 4 und Kautsky 5 mit Momenterfolgen begnügt und begnügen muß, der muß alles darauf anlegen, daß ein den Gegner vernichtender, papierner Beschluß auch mit dem erforderlichen Trara durchgeht. Das ist geschehen, und darin hat Bebel gesiegt. Jeder andere Politiker jedoch hält sich an bedeutsamere Realitäten. Für die weitere Entwicklung der Sozialdemokratie ist es jedenfalls von Belang, daß sieh der Revisionismus nicht hat hinausdrängeln lassen, er bleibt mit seinen ungelösten Problemen, mit seinen gewerkschaftlichen Aufgaben, mit seinem Paktieren mit bürgerlicher Sozialreform, mit seinem Opportunismus und Optimismus in der Partei. So wird er fortfahren, das Fundament, auf dem der soziale Radikalismus ruht, die Lehre von Karl Marx, auszuhöhlen und zum Zusammensturz zu bringen. Damit kommt natürlich die Arbeiterfrage und der Radikalismus nicht aus der Welt, nur verliert möglicherweise beides den jetzigen Zweck und trostlosen Charakter. Es ist noch nicht das Ende aller Wirren da, und das Bürgertum muß sich auf die Eventualität eines scharfen Zusammenstoßes einrichten, der mit den Desperados der sozialen Heilslehre auszutragen wäre, aber es erhebt sich in nüchterner Realität turmhoch über die Kautskysche Schwarmgeisterei, wenn Kolb G in Dresden es aussprach: „Die sogenannten Revisionisten stehen auf dem Standpunkte, daß das Ziel unserer Bestrebungen das Re-

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sultat einer organischen Entwicklung sein wird, daß wir alle Kräfte anstrengen müssen, um Einfluß zu gewinnen und nach und nach ans Ziel zu kommen." Also ein Ziel, wie hoch es zu stecken ist, darüber wird man sich später noch zu unterhalten haben. 1

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Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Dresden, 13.—20. 9. 1903. Im Mittelpunkt des Parteitages stand der Kampf gegen den Revisionismus. Hauptsprecher der revolutionären Mehrheit des Parteitages war August Bebel, der entschieden für die Erhaltung der Selbständigkeit der Partei als politische Klassenorganisation der Arbeiterklasse auf der Grundlage des Erfurter Programms von 1891 eintrat. In einer Resolution, die mit 288 gegen 11 Stimmen angenommen wurde, verurteilte der Parteitag alle revisionistischen Bestrebungen. Eduard Bernstein, ständiger Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte", des Organs der Rechtsopportunisten. Stammvater des Revisionismus, dem er „den geschlossensten Ausdruck verlieh" (W. I. Lenin). Versuchte die Sozialdemokratie aus einer politischen Klassenorganisation des Proletariats in eine kleinbürgerlich-liberale Reformpartei umzuwandeln. Georg v. Vollmar, sozialdemokratischer Abgeordneter des Reichstages und des bayerischen Landtages. Einer der einflußreichsten Wortführer des Opportunismus, strebte die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine kleinbürgerlich-reformistische Volkspartei an. August Bebel, seit 1892 einer der beiden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Karl Kautsky, Chefredakteur des theoretischen Organs der deutschen Sozialdemokratie „Neue Zeit", verließ nach der ersten Revolution in Rußland 1905/07, die Grundfragen des Kampfes der Arbeiterklasse um die Macht aufwarf, seine marxistische Position und entwickelte sich zum Führer der zentristischen Strömung. Wilhelm Kolb, einer der Hauptverfechter des Revisionismus, Chefredakteur des sozialdemokratischen „Volksfreund" in Karlsruhe, Leiter der Karlsruher Parteiorganisation und Mitglied der Karlsruher Gemeindevertretung.

16 Aus dem Artikel „Soziale Reform" von Henry Axel Bueck, Geschäftsführer des Zentralverbandes deutscher Industrieller, in der „Deutschen Industrie-Zeitung" vom 6. November 1903 gegen neue soziale Zugeständnisse an die Arbeiter1 Deutsche Industrie-Zeitung, Organ des Centraiverbandes deutscher Industrieller, Nr. 45 v. 6. 11. 1903. In meinem ersten Artikel 2 habe ich ausgeführt, daß die Lage der unteren Klassen sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung fortlaufend gebessert hat und daß diese Besserung besonders schnell und wirkungsvoll in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingetreten ist. Das ist die Zeit, in der in unserem Vaterlande die industrielle Tätigkeit sich ausbreitete, zur hohen Blüte gelangte und die Kapitalbildung früher nicht geahnte, gewaltige Ziffern aufwies. Die hier vorliegende Wechselwirkung ist nicht zu verkennen. Neben anderen, unwesentlicheren Faktoren ging die Kapitalbildung hauptsächlich aus den Unternehmergewinnen hervor. Das erübrigte Kapital befruchtete wiederum die Industrie, so daß sie in den bestehenden, wie in den neu geschaffenen Betrieben immer leistungsfähiger, für die Interessen der Gesamtheit immpr ertragreicher wurde. Das ist eben die zur Hebung der unteren Klassen führende Entwicklung. Ertragreicher für den einzelnen

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Unlernehmener ist die industrielle Tätigkeit nicht geworden. Im Gegenteil, die Erträge sind im allgemeinen geringer geworden und sie werden weiter gemindert durch den mit Ausbreitung der Industrie und fast grenzenloser Steigerung der Erzeugung stetig verschärften Wettbewerb im Inlande wie auf dem Weltmarkt. Das heißt, der Unterschied zwischen den Selbstkosten und den Verkaufspreisen wird immer geringer. Dieser unaufhaltsam fortschreitende Prozeß bildet heute den Gegenstand der größten Sorge in allen Industrieländern. Sie gipfelt in der Frage, ob es möglich sein wird, im Wettbewerb mit den anderen jenen Unterschied soweit auf der Gewinnseite aufrecht zu erhalten, daß die Industrien bestehen können. Erscheint der Unterschied erst dauernd auf der Verlustseite, so müssen die Industrien stille stehen und untergehen. Damit würde auch jene Entwicklung aufhören, die so sicher zur Besserung der Lage der arbeitenden Klassen führt. Um diesen Gang der Ereignisse abzuwenden, ist das energische Streben aller in der Industrie vorhandenen Intelligenz auf die Minderung der Selbstkosten gerichtet. In diesen bilden die Einwirkungen der sozialen Reformen einen nicht unwesentlichen Faktor. Sie bestehen in baren Auflagen verschiedener Art und in Entziehung von Arbeitskräften, teils durch Verkürzung der Arbeitszeit, teils durch direkte Ausschaltung. Von alledem hat die Industrie willig auf sich genommen, was sie im Interesse der Arbeiter für recht und notwendig ansah. Sie hat Einspruch gegen Maßnahmen erhoben, die über diese Kriterien hinausgingen. Ich möchte den gesetzgebenden Gewalten anheimgeben, recht reiflich und ernst zu prüfen, ob die unbedingte Notwendigkeit vorliegt, bevor sie dem Drängen nach neuen sozialen Reformen im Sinne des Herrn von Berlepsch 3 nachgibt. Man möge dabei vor allem nicht übersehen, daß jede dieser Reformen unmittelbar und mittelbar eine Erhöhung der Selbstkosten bedingt, durch welche die für die unteren Klassen so segensreiche Entwicklung aufgehalten wird oder gar gänzlich gestört werden kann. Die Hebung der unteren Klassen, insbesondere der Lohnarbeiter, läßt sich ebensowenig wie die berufene „Lösung der sozialen Frage" durch Gewaltmittel vom Schlage jener sozialen Reformen erzwingen. Viel weniger durch diese, als dadurch vollzieht sich die Besserung in der Lage der Lohnarbeiter, daß, wie ich schon sagte, der Anteil des Arbeiters an dem Ergebnis des Zusammenwirkens von Intelligenz, Kapital und Arbeit immer größer geworden ist und größer werden wird. In diesem Prozeß liegt die Lösung der sozialen Frage. Er kann und wird sich aber nur vollziehen, wenn die zu seiner Wirksamkeit notwendige wirtschaftliche Entwicklung nicht durch unberechtigte und unnötige Eingriffe aufgehalten oder gestört wird. 1 Entgegnung auf den Artikel „Warum betreiben wir die soziale R e f o r m ? " von Hans F r h . v. Berlepsch, in: Soziale Praxis. Zentralblau für Sozialpolitik, Nr. 1 und 2 v. 1. u. 8. 10. 1903. — Vgl. dazu Dok. 14. 2 Deutsche Industrie-Zeitung, Nr. 44 v. 30. 10. 1903. 3 Hans Frh. v. Berlepsch, 1890 bis 1896 preußischer Minister für Handel und Gewerbe. Seit 1901 Vorsitzender der Gesellschaft für soziale Reform.

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17 Aus dem Artikel „Crimmitschau" von Friedrich Weinhausen in der Zeitschrift „Die Nation" vom 12. Dezember 1903 gegen das die opportunistische Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hemmende behördliche Vorgehen gegen Streikende Die Nation, Nr. 11 v. 12. 12. 1903. Indessen so lehrreich eine Verfolgung dieser Seite des Ringens* sein könnte, möchten wir heute die Aufmerksamkeil auf eine andere weit wichtigere richten, nämlich auf die Haltung der Behörden in dem Kampfe. Es ist eine bekannte Tatsache, daß in den wirtschaftlichen Kämpfen die Behörden immer behaupten, neutral zu sein, in Wirklichkeit aber oft Maßnahmen ergreifen, die eine Begünstigung der Arbeitgeber bedeuten. Niemals ist das in den letzten größeren Kämpfen so deutlich zutage getreten wie in Crimmitschau. Von kühler Objektivität bis zu einseitiger, seither unerhörter Parteinahme gegen die Arbeiter und für die Unternehmer hat sich dort die Behörde hinreißen lassen. Mit der Verfolgung der Streikposten fing es — wie gewöhnlich — an. Aus „verkehrstechnischen Gründen" wurde ihnen zunächst das Postenstehen vor den Fabriken und auf den Bürgersteigen untersagt. Als sie patrouillierten, wies man sie von der Straße weg. Als sie sich in die Hauseingänge stellten, wurde ihnen das verboten. Die Wirtschaften, aus deren Fenstern sie nunmehr auf vorüberziehende Arbeitswillige einzuwirken versuchten, erhielten den polizeilichen Befehl, die Fenster geschlossen zu halten. Der Bahnhof wurde für die Streikposten gesperrt, während die Fabrikanten in dem Wartesaal II. Klasse ein Bureau einrichten durften. So war jede Einwirkung auf die sogenannten Arbeitswilligen, von denen es übrigens nach sechzehn Wochen insgesamt nur zehn Prozent der beteiligten Arbeiter gibt, unmöglich gemacht. Wenn man diese Maßregel allenfalls noch mit dem pflichtmäßigen „Schutz der Arbeitswilligen" entschuldigen will, den sich seit dem Begräbnis der Zuchthausvorlage anscheinend die Behörden besonders glauben angelegen lassen sein zu müssen, so hat man auch nicht die allergeringste Entschuldigung für das weitergehende Eingreifen der Polizei, das in den letzten Tagen bekannt wurde. Weil einige Belästigungen Arbeitswilliger vorgekommen sind, die nicht einmal genügend Stoff zur Ausbeutung für die Scharfmacherpresse boten, und mit gerichtlicher Ahndung hinreichend gesühnt worden wären, hat die Amtshauptmannschaft Zwickau für Crimmitschau alle öffentlichen Auf- und Umzüge, Tanzvergnügungen und Versammlungen (auch nichtöffentliche) verboten und alle Gastund Schankwirtschaften um 12 Uhr abends geschlossen. Das Versammlungsverbot trifft die kämpfenden Arbeiter an der empfindlichsten Stelle. Es macht ihnen nämlicli die Kontrolle über die Arbeitslosen und damit über den Stand der ganzen Bewegung nahezu unmöglich. Streikunterstützungen können nicht mehr ordnungsmäßig ausgezahlt werden, weil auf polizeiliche Verfügung hin immer höchstens sechs Personen in einem Lokal gleichzeitig anwesend sein dürfen. Beruhigungen aufgeregter Gemüter, wie sie in Streikzeiten in den täglichen Versammlungen gang und gäbe sind, werden unmöglich gemacht, Unbesonnenheiten einzelner können weniger als früher verhindert werden. Die Mutlosen können nicht aufgerichtet und zum unverzagten Aushalten ermuntert werden. Das ist eine bisher auch bei den erbittertsten wirtschaftlichen Kämpfen unerhörte Polizeipraxis. Natürlich haben die Arbeiter sich nicht ruhig diesen vernichtenden Schlag gefallen lassen wollen, sondern sie sind den letzten Weg gegangen, der ihnen noch offen blieb, sie haben eine Deputation an den sächsischen Minister des Innern von Metzsch 2 nach Dresden

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abgeordnet. Sie sollte sieh über die Maßnahmen der Polizei beschweren und um Abhilfe ersuchen. Der Minister hat die Arbeiterdeputation nicht einmal vorgelassen. Zwei Geheimräte haben die Leute auf den Instanzenweg verwiesen, d. h. sie haben ihnen klar gemacht, daß jeder einzelne Fall etwa vorkommender Polizeiwillkür im langsamen Instanzenzug zu verfolgen sein würde. Natürlich ist das ein geradezu hohnvoller R a t für die Arbeiter. Und die Erbitterung ist durch diese sächsische Regierungsweisheit ins Unermeßliche gesteigert worden, die Verantwortung von den unteren Verwaltungsbehörden auf die höchsten Regierungsstellen übergegangen. Die Arbeilgeber können auch fernerhin ohne Versammlungen auskommen, denn sie können gelegentlich privater Hausbesuche oder vermittels des Fernsprechers sich sehr leicht untereinander verständigen. Die Arbeitnehmer sind aber ohne Versammlungen gar nicht in der Lage, den wirtschaftlichen Kampf auf die Dauer fortzuführen. Man muß infolgedessen, selbst wenn man über die Berechtigung des Kampfes in Crimmitschau verschiedener Meinung sein sollte, aus Gründen der Gerechtigkeit aufs lebhafteste mit den betroffenen Arbeitern protestieren gegen die einseitige parteiische Stellungnahme der sächsischen Polizeiorgane. Auch aus politischen Gründen ist scharfer Protest hier geboten. Die scharfmacherischen Elemente innerhalb der Sozialdemokratie müssen durch Erfahrungen, wie sie Crimmitschau bietet, in ihrer Position gestärkt werden. Die gesunde Entwicklung dieser Partei aus einer revolutionären zu einer reformerischen wird durch die Crimmitschauer Vorgänge weit mehr gestört, als etwa durch die Zänkereien des Dresdener Parteitages 3 . Nur die Scharfmacher der Reaktion haben allen Grund, mit Crimmitschau zufrieden zu sein. Bezeichnenderweise sind das dieselben Scharfmacher, die dann wieder sich moralisch furchtbar entrüsten, wenn berichtet wird, daß gelegentlich sozialdemokratische Wähler einen Landrat öffentlich verhöhnt und ihm auf jede Weise ihre Geringschätzung bezeugt haben. Wie kann man aber von der Masse der Arbeiter verlangen, daß sie Respekt vor den Personen haben soll, die ihnen jenes Polizeisystem verkörpern, das so offenkundig Partei gegen sie in den wirtschaftlichen Kämpfen ergreift? 1

2 3

G e m e i n t ist die T a t s a c h e , d a ß siel» in C r i m m i t s c h a u e r s t m a l s seit l i e g i n n der i m p e r i a l i s t i s c h e n E p o c h e in D e u t s c h l a n d U n t e r n e h m e r v e r b ä n d e u n d organisierte A r b e i t e r k l a s s e g e g e n ü b e r s t a n den. Karl Georg v. Metzsch-Reichenbach. G e m e i n t sind die A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n zwischen den r e v o l u t i o n ä r e n u n d den revisionistischen K r ä f t e n in der S o z i a l d e m o k r a t i e a u f d e m Dresdener P a r t e i t a g v o n 1903.

18 Rundschreiben des Zentralverbandes deutscher Industrieller an seine sämtlichen Mitglieder vom Dezember 1903 mit der Forderung nach moralischer und materieller Unterstützung der Crimmitschauer Textilindustriellen gegen die Streikenden Deutsche

Industrie-Zeitung,

Organ des Centralverbandes Deutscher

Industrieller,

N r . 5 1 v . 18. 12. 1903.

Seit siebzehn Wochen stehen die Fabriken in Crimmitschau in der Hauptsache still; seit dieser Zeit befinden sich die Arbeiter der Textilindustrie dort im Ausstand. Der Ausgang 6*

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Nr. 18 Dezember 1903

der Bewegung, das Verlangen des zehnstündigen Arbeitstages, unter zehnprozentiger Lohnerhöhung, ist längst überholt; heute handelt es sich in dem Kampfe d a r u m , ob der industrielle Unternehmer die freie Selbstbestimmung über seinen Betrieb behalten soll oder ob er sich dem Willen sozialdemokratischer Gewerkschaften beugen m u ß . Die sozialdemokratische Partei in ganz Deutschland ist sich der grundsätzlichen Wichtigkeit des Kampfes, der in Crimmitschau ausgefochten wird, voll bewußt. Die gesamte sozialdemokratische Organisation, ihre Presse, die reichen Parteimittel, zu denen die deutschen Arbeiter fronden müssen, sie sind den Ausständigen zur Verfügung gestellt. Einschüchterung und jede Art von sozialdemokratischem Terrorismus suchen die Arbeitswilligen abzuschrecken. Seit siebzehn Wochen halten die wackeren Fabrikanten Crimmitschaus dem sozialdemokratischen Ansturm stand. Nicht allein f ü r sich, f ü r die gesamte deutsche Industrie stehen sie im Kampf und unterliegen sie, so bricht sicherlich der Kampf alsbald an vielen anderen Orten mit vermehrter K r a f t wieder aus. Ein Sieg der Ausständigen würde das Selbstbewußtsein der sozialdemokratischen Partei ins Ungemessene steigern, schwere Erschütterungen des deutschen Wirtschaftslebens würden von solchem Ausgang des Kampfes zu befürchten sein. Diesem Vorstoße, der durch die sozialdemokratischen Organisationen aus ganz Deutschland Unterstützung gefunden hat, muß der unbeugsame Widerstand weitester industrieller Kreise entgegentreten, die an dem Selbstbestimmungsrecht des Unternehmers in seinem Betriebe als einer Grundbedingung aller industriellen Tätigkeit festhalten. Einig und treu halten die Crimmitschauer Industriellen zusammen. Aber ihre Opfer sind groß und ihre Verluste sind schwer. Ihre schnelle und reichliche Unterstützung ist notwendig. Wie sie im Vorkampfe f ü r die deutsche Industrie gegen die Sozialdemokratie stehen, so muß die deutsche Industrie ihnen Sympathie und tatkräftige Hilfe bieten. Jedes einzelnen Industriellen Sache wird in Crimmitschau ausgefochten, jeden geht der Ausgang dieses Kampfes an. In ernster Stunde wendet sich daher das Direktorium des Zentralverbandes deutscher Industrieller an alle Mitglieder, in erster Reihe an die Angehörigen der Textilindustrie, und bittet sie dringend, ihm schnell und reichlich Geldmittel zur Unterstützung der Crimmitschauer Fabrikanten zur Verfügung zu stellen. Um der grundsätzlichen Wichtigkeit des Kampfes willen halten wir es f ü r nötig, d a ß nicht die einzelnen Industriellen, nicht der einzelne Industrieverein, sondern der Zentral verband, als die Gesamtvertretung der großen Mehrzahl deutscher Industrieller, die Hilfe f ü r die Arbeitgeber in Crimmitschau organisiert und zur Durchführung bringt. Es gilt, den Versuch gewissenloser Agitatoren, die ruhige und erfolgreiche Entwicklung der deutschen Industrie wieder und wieder zu stören, mit machtvoller Energie der geeinten Industriellen zurückzuweisen. Die betreffenden Gelder bitten wir unter der Bezeichnung: „Für den Zentralverband deutscher Industrieller" an die Direktion der Diskontogesellschaft zu Berlin W., Unter den Lind&n 35, überweisen und dem mitunterzeichneten Generalsekretär Bueck schriftlich von der Einzahlung Kenntnis geben zu wollen. Über die Verwendung der Gelder wird das Direktorium nach eingehender P r ü f u n g der Verhältnisse Verfügung treffen.

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12. März 1904

D a s Direktorium des Zentralverbandes deutschier Industrieller. Der Vorsitzende: I.V.: R. Vopelius

85 Der G e s c h ä f t s f ü h r e r : H.A.Bueck

19 Aus der von Heinrich Gaß verfaßten Flugschrift des Alldeutschen Verbandes „Die Besitzergreifung West-Marokkos, der Anfang und die Voraussetzung praktischer deutscher Weltpolitik" vom 12. März 1904 ZStA Potsdam, Alldeutscher Verband, 61 Vc 1, Bl. 3ff. Die nachstehende Darlegung verzichtet d a r a u f , d a s vvirtschaftsstatistische, geographische, flottentechnische Material zu bieten; sie ist nur für politische Kenner b e s t i m m t und h a t sich die A u f g a b e gestellt, in großen Zügen die B e d e u t u n g des atlantischen Marokko für eine t a t k r ä f t i g e , ausblickende deutsche Weltpolitik auseinanderzusetzen und d a r a u f hinzudrängen, d a ß d a s , was wir notwendig in Marokko t u n müssen, j e t z t tun, wo alle Aussicht auf Erfolg gegeben e r s c h e i n t . . . E s bleiben, soweit m a n die Weltkarte betrachten m a g , wenn wir es nicht auf einen unsittlichen R a u b k r i e g a n k o m m e n lassen wollen, wie E n g l a n d ihn gegen die Burenrepubliken wobei sofort b e m e r k t sei, geführt hat, nur zwei Gebiete übrig: Marokko u n d Süd-Amerika, d a ß zunächst ersteres in B e t r a c h t k o m m t und d a ß sein Besitz die Vorbedingung der Fußf a s s u n g in S ü d a m e r i k a sein wird . . . Der Besitz W e s t m a r o k k o s wird die F u ß f a s s u n g in Süd-Amerika vorbereiten u n d erst ermöglichen, und zugleich die dabei nötig werdende Auseinandersetzung mit den Vereinigten S t a a t e n strategisch und technisch möglich machen, wobei wir gleichzeitig v o m g u t e n oder bösen Willen E n g l a n d s unabhängig g e m a c h t wären. Unsere Zukunft liegt in Südamerika in dem Sinne als hier reiches L a n d in gemäßigter Zone dünn bevölkert vorhanden ist, d a s für eine deutsche Volksbesiedlung wie geschaffen erscheint: dort wird sich allein d a s NeuDeutschland begründen lassen, d a s Millionen von Volksgenossen A u f n a h m e gewährt, d a s — als Tochterland des Deutschen Reichs — sie im staatlichen Verbände behält, sie ihrem Volkstum erhält, und so einen gewaltigen Machtzuwachs herbeiführt. Bei der F u ß f a s s u n g in Süd-Amerika werden wir, aller Voraussicht nach, E n g l a n d nicht zum Feinde haben . . . Der Widerstand der in B e t r a c h t kommenden südamerikanischen S t a a t e n k a n n uns nicht abhalten, d a s Nöt ige zu t u n ; ebensowenig die Abneigung des dort schon ansässigen Deutscht u m s gegen eine staatliche Besiedlung durch d a s Deutsche Reich. E s bleiben nur die Vereinigten S t a a t e n , mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben werden: für diesen Krieg ist der Besitz der atlantischen Küste Marokkos unentbehrlich . . . Die augenblickliche Weltlage ist für uns so günstig, daß wir uns an der Zukunft versündigen würden, wenn wir sie nicht ausnützten. Wer k o m m t als Gegner in B e t r a c h t : Spanien bleibt als wehrlos aus d e m S p i e l ; also nur Frankreich und E n g l a n d . Beide sind in Ostasien nächstbeteiligte und können jeden Augenb l i c k in den K r i e g 1 hereingezogen werden.

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9. Mai 1904

England ist zudem, da wir die Mittelmeerküste nicht haben wollen, minder interessiert. I Frankreich meint zwar, es habe den Anspruch auf ganz Marokko; es wird aber bei der Sacliläge froh sein, wenn ihm von uns überlassen wird, was wir nicht brauchen; und es mag seine Aufgabe sein, wegen der Mittelmeerküste sich mit England und Spanien auseinanderzusetzen. Auf keinen Fall darf die deutsche Staalsleitung die Gelegenheit vorübergehen lassen; sie darf auch Frankreich nicht die Initiative überlassen — sie muß selbständig und selbstbewußt vorgehen und die marokkanische Frage im deutschen Sinne lösen, ehe der ostasiatische Krieg beendet ist. Eine etwaige Auseinandersetzung mit Frankreich würde auf französischem Boden stattfinden. Es bleibt nur die Frage: in welchem Umfang soll die Besitzergreifung stattfinden? Nun, das wird nach den obigen Ausführungen klar sein: mit ein, zwei Häfen ist uns nicht gedient; wir müssen die ganze atlantische Küste haben, weil wir uns sonst nicht entwickeln können, weil wir sonst nicht unabhängig, von den Mitbesitzern der Küste sind, weil wir damit keine weltpolitische Operationsbasis erhalten würden; die Zukunftsaufgabe der marokkanischen Stellung wäre damit von vornherein unterbunden. Der Besitz der ganzen Küste verlangt naturgemäß aus wirtschaftlichen, politischen, militärischen Gründen das entsprechende Hinterland, schon um deswillen, weil wir es für Volksbesiedlung, zum Baumwollbau und als Absatzgebiet benutzen wollen. Eine taugliche Grenze bildet die Wasserscheide des Atlas, so daß alles südwestlich gelegene Land von uns zu besetzen wäre. Das Ergebnis dieser Darlegung ist: Die deutsche Staatsleitung ist verpflichtet, von sich aus sofort die marokkanische Frage dadurch für uns zur Erledigung zu bringen, daß sie alles südwestlich der Wasserscheide liegende Land einschließlich der ganzen atlantischen Küste Marokkos für das Deutsche Reich in Besitz nimmt. Und das deutsche Volk? Es dürstet in seinen besten, zuverlässigsten Teilen danach, aus den elenden Parteistreitigkeiten, aus dem öden Pessimismus befreit zu werden — es dürstet nach einer großen Aufgabe, die befreiend und gesundend wirken m u ß : dort in Marokko winkt sie! Sache der Staatsleitung ist es, an diese Aufgabe heranzutreten — das deutsche Volk wird sie bei der Lösung nicht im Stiche lassen! 1

Gemeint ist der Russisch-Japanische Krieg 1904/05.

20 Aus dem ersten Aufruf des am 9. Mai 1904 konstituierten Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie vom Herbst 1904 10 Jahre Reichsverband. Festgabe der Ilauptstelle des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie" in Berlin zum 9. Mai 1914, Berlin 1914, S. 17 f. Die Reichstagswahlen des Jahres 1903 haben blitzartig die Gefahr beleuchtet, die den Bestand des Deutschen Reiches, die Zukunft des deutschen Volkes bedroht: nicht weniger

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als 3 01Ü 771 Stimmen sind für die Kandidaten der Sozialdemokratie abgegeben Wörden, das heißt, die Zahl derjenigen, die sozialdemokratisch wählten, h a t sich seit 1871 verdreißigfacht, seit 1881 verzehnfacht. Allein seit den Wahlen von 1898 betrug die Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen nahezu eine Million oder 462 vom Hundert, und in einer Stärke von 81 Mann ist die sozialdemokratische Partei in den neuen Reichstag eingezogen. Um der sozialdemokratischen Gefahr entgegenzutreten, ist am 9. Mai 1904 in Berlin von Männern der verschiedensten politischen und wirtschaftlichen Anschauungen, der verschiedenen Berufs- und Lebensstellungen und von Angehörigen aller Bundesstaaten und Landesteile der „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie" begründet worden, der es sich zur Aufgabe gestellt hat, alle nicht sozialdemokratisch gesinnten Staatsbürger in Stadt und Land ohne Unterschied der Partei und Religion zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie zusammenzuschließen. Diese Aufgabe des Reichsverbandes schließt jede Tendenz zur Bildung einer neuen Partei aus, fordert vielmehr den bestehenden bürgerlichen Parteien gegenüber grundsätzlich volle Neutralität. Der Reichsverband wird lediglich die verhetzende, den Klassenhaß schürende und die Entwicklung Deutschlands lähmende Sozialdemokratie bekämpfen. Der Reichsverband wird daher insbesondere ein Ziel verfolgen: die Herbeiführung geschlossenen Vorgehens gegen die Sozialdemokratie bei den Wahlen seitens aller treu zu Kaiser und Reich stehenden Parteien und Personen . . . Der Reichsverband wird aber auch alle diejenigen Kreise, die unter dem Drucke des sozialdemokratischen Terrorismus seufzen und durch rücksichtslosen Boykott und ähnliche Gewaltmaßregeln unter das sozialdemokratische Joch gezwungen werden sollen, insbesondere also die Arbeiterschaft, Kleinhandel, Gewerbe und Industrie, gegen sozialdemokratische Anmaßungen zu schützen und vor wirtschaftlichen Schädigungen zu bewahren suchen. Die Lösung dieser großen Aufgaben wird aber nur dann möglich sein, wenn alle Deutschen ohne Unterschied der Partei und Religion mit allen ihren moralischen und materiellen Machtmitteln den Reichsverband in seiner vaterländischen Arbeit unterstützen. Wir richten daher an alle patriotisch fühlenden Deutschen, die den Ernst der Zeit klar erkennen, die dringende Bitte, sich dem Reichsverbande anzuschließen und mit uns sich zu vereinigen unter dem Feldgeschrei: Mit vereinten Kräften vorwärts für Kaiser und Reich, für die nationale Zukunft des deutschen Volkes und Vaterlandes gegen die internationale, revolutionäre Sozialdemokratie! Der Reichsverband ist auf namhafte, außerordentliche Spenden angewiesen, da der jährliche Mitgliedsbeitrag nur gering ist.

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13. Mai 1904

21 Aus der Rede Prof. Gustav Schmollers im preußischen Herrenhaus am 13. Mai 1904 über die Notwendigkeit einer doppelten" Politik zur Überwindung der revolutionären Sozialdemokratie Stenographische Berichte über die Session 1904/05, 1. Bd., Bl. 307 f.

Verhandlungen

des

Preußischen

Herrenhauses,

Meine Herren, daß die Sozialdemokratie eine große Gefahr ist, das erkenne ich mit den Herren 1 vollständig an. Aber ich gehe von dem Standpunkt aus, daß die Sozialdemokratie selbst nur eine Teilerscheinung von der notwendigen und heilsamen Hebung der unteren Klassen, der Arbeiterschaft ist, daß diese Hebung mit der heutigen Volksbildung, mit dem heutigen Wohlstande, mit unserer Rechtsgleichheit, mit der Ausdehnung politischer Reife auf alle Bürger kommen mußte. Damit wuchs das Selbstgefühl der gesamten unteren Klassen, und das war ein Fortschritt; damit mußten nun aber auch gewisse Reibungen, Überhebungen, falsches Selbstgefühl und Anmaßung, allerlei Gefahren und Schattenseiten einer solchen großen Veränderung in Kauf genommen werden. Wir haben eine technische und wirtschaftliche Revolution erlebt, wie die Menschheit sie in Jahrtausenden nicht erfahren hat. Da ist es kein Wunder, daß über die Neuverteilung der neuen Reichtümer, über die ganzen sich von Grund aus umbildenden Rechtskonstruktionen, um Lohn und Arbeitsordnung, Arbeitsvertrag und Arbeitsvereins- und Koalitionsrecht insbesondere Streit und Reibung entstand und daß diese Reibungen so vielfach zu •falschen oder gar utopischen Forderungen führten. Immer aber erklären diese in allen Ländern gleichmäßig zu Tage getretenen Erscheinungen nicht, daß gerade die deutsche Arbeiterschaft die radikalste wurde. Es bleibt ein eigentümlicher, nicht ohne weiteres leicht erklärbarer Umstand, und es ist das Beklagenswerteste, daß der größte Teil unserer gewerblichen Arbeiter unter die Leitung und Herrschaft einer Organisation gekommen ist, die ganz revolutionär ist, die schroffer als die Leitung irgend einer Arbeiterschaft der übrigen Welt die ganze heutige Staats- und Gesellschaftsordnung bekämpft. In dem Urteil, daß dies für Deutschland tief beklagenswert sei, stehe ich ganz auf demselben Boden wie die Herren. Das ist das Unglück für Deutschland, und, meine Herren, wenn ich diese Gefahr noch etwas spezialisieren soll: Das Gefährliche sind nicht die wirtschaftlich-sozialistischen Pläne; diese Pläne und Hoffnungen werden an der realen Wirklichkeit von selbst zerschellen. Das Gefährliche ist die politische Theorie, die sich daran bei den Sozialdemokraten knüpfte, der Gedanke der Volkssouveränität, der einjährigen Parlamente, des imperativen Mandats, das Verlangen der jährlichen Wahl aller Beamten durch das Volk, daß die unteren Klassen viel besser und gerechter seien als die oberen, die Erwartung, daß man mit solch radikal politischen Rezepten ganze große, von außen bedrohte Völker regieren, umbilden, dauernd und gerecht regieren könne. Aber auch das ist noch nicht das größte Unglück und die größte Gefahr. Die größte Gefahr ist die, daß die Führer der Sozialdemokratie unter die geistige Herrschaft eines Mannes gekommen sind, der als Privatmann rein dastand, der auch ein großer Gelehrter war, der aber von einer Leidenschaft des blinden Hasses beseelt war, Karl Marx. Das Unglück war, daß er diese reine starke Leidenschaft des Hasses hineingetragen hat in die Klassenverhältnisse Deutschlands und daß der Gedanke Platz greifen konnte, alle sozialen Beziehungen seien immer nur Kampf, könnten nur durch Kampf, durch den Klassenkampf gebessert werden, daß der Gedanke in breiten Schichten siegen konnte, die Staats- und Gesellschaftsordnung sei

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keine Friedensordnung, sondern ein Kampf- und Schlachtfeld. Das ist der absolute Wahn, das ist das Schlimme an unserer modernen deutschen Entwicklung . . . meine Herren, solche Gefühlsimponderabilien heilt man nicht mit der Polizei, am allerwenigsten durch eine gewaltsame Unterdrückungspolitik. Herr Freiherr von Man teuffei hat gestern gesagt: der geistige Kampf nutzt nichts. Der geistige Kampf im Sinne von gelehrten Schriften nutzt natürlich gar nichts, er hat gar keine Bedeutung, denn das dringt nicht in das Volk. Aber in der Welt dieser geistigen Imponderabilien, in der Gefühlswelt, wie sie heute zwischen den sozialen Klassen sich entwickelt hat, da ist wohl eine Änderung und Besserung mit der Zeit möglich. Da handelt es sich um Wellen des Volksgeistes, die kommen und gehen. Man muß ihnen nur Zeit lassen. Und vor allem, man muß vorsichtig auf sie wirken. Man muß die weite Verstimmung, das wachsende Mißverständnis und Mißtrauen bannen durch eine absolut gerechte Regierung, die über den Klassen steht; man macht die Sache nur schlimmer durch eine Gewaltpolitik, durch Tendenzen, die als ein feudal-aristokratisches Klassenregiment aufgefaßt werden. Dies würde am schroffsten die Dinge vergiften, und am allerwenigsten käme man zum Ziele durch Ausnahmegesetze, durch einen Staatsstreich, durch Änderung des Wahlrechtes; alle solche Versuche würden nur Wasser auf die Mühle der Sozialdemokratie gießen, würden diese verstärken und innerlieh festigen und eine ähnliche Folge haben"wie das Sozialistengesetz. Bei Erlaß desselben, als 1878 in der Tat eine revolutionäre Bewegung zu kommen schien, konnte man ja zweifelhaft sein, ob es nicht notwendig sei; wäre ich damals Abgeordneter gewesen, ich hätte vielleicht dafür gestimmt. Aber nachträglich muß ich sagen — was ja immer leicht ist, meine Herren —, das Sozialistengesetz hat mehr geschadet als genülzt, vor allem dadurch, daß es die emsige Gewerkvereinsentwicklung unterband, daß es von den Arbeitern als ein großes Unrecht empfunden wurde, und weiter dadurch, daß es falsche Bestimmungen hatte, daß es durch den Ausweisungsparagraphen die sozialdemokratische Gefahr über ganz Deutschland verbreitete, dadurch, daß es nur auf drei Jahre bewilligt w a r . Und, meine Herren, als 1890 sein Termin abgelaufen war, da war das Sozialistengesetz ja zu erhalten, freilich ohne den in meinen Augen törichten Ausweisungsparagraphen, und die konservative Partei ist schuld, daß es damals fiel. .letzt jedenfalls liegen die Dinge anders als 1878 und als 1890; jetzt würde eine Erneuerung des Sozialistengesetzes noch viel schlimmer wirken, und ich würde eine solche Erneuerung für den größten Fehler halten, den es geben kann . . . Meine Herren, ich gebe Ihnen vollständig zu, wenn ich sage, eine gerechte Regierung über die Klassen bringe Besserung und Versöhnung, und wenn die heutigen Bundesregierungen im Deutschen Reich auf einem ähnlichen Standpunkte stehen und mit einer Politik der Mäßigkeit und Gerechtigkeit, mit einer Politik der Fortführung der sozialen Reformen an das Problem herantreten: Ich gebe Ihnen vollständig zu, eine absolute Sicherheit, daß das zum Ziele führt, kann kein Mensch in der Welt übernehmen, noch weniger aber kann einer eine absolute Sicherheit dafür übernehmen, daß eine brutale Gewaltpolitik die Sozialdemokratie beseitige. Zuletzt handelt es sieh um so schwierige, komplizierte, historische Prozesse, zuletzt hat niemand die Gesamtheit der Ursachen so in seinem Kopf, daß er ganz Sicheres prophezeien kann. Jeder urteilt eben nach seinen Lebenserfahrungen, nach seinen historischen Kenntnissen, nach seiner ganzen Weltanschauung. Aber ich möchte sagen, alle historischen Erfahrungen der Welt gehen dahin, daß die großen Sozialreformatorcn im Altertum von Solon 2 und Julius Cäsar 3 an bis in die neuere Zeit, bis zu den Tudors'', den Hohenzollern 5 , den Napoleons 6 , immer eine doppelte Politik verfolgten; auf der einen

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Seite haben sie natürlich mit äußerster Energie gesucht, den besitzenden Klassen die absolute Sicherheit beizubringen, daß ihr Eigentum geschützt sei. Eine solche Regierung müssen wir haben, und die haben wir aber auch; aber daneben muß die gleiche Regierung, die jeden Aufstand niederschlägt, die keine Revolutionsbewegung duldet, mit gerechter Hand den Arbeitern, ob Sozialdemokraten oder nicht, zeigen, daß sie ihr Wohl im Auge hat, daß sie auch sie fördern und heben will, daß sie auch ihnen gegenüber eine gerechte, monarchische, eine billige, schiedsrichterliche Obergewalt sei. Ohne diese Doppelrolle ist das Ziel der Versöhnung nicht zu erreichen. Nur mit einer solchen Politik ist für mich die größere Wahrscheinlichkeit vorhanden, nicht daß die Sozialdemokratie verschwinde, aber daß sie sich umbilde zu einer zwar radikalen, aber doch zu einer Parteimacht, mit der die Regierungen und Unternehmer verhandeln können, mit der man schiedlich friedlich auskommen kann, wenn man von beiden Seiten guten Willen hat und alle unbilligen, verletzenden Forderungen aufgibt. Derartiges kann nicht schnell, aber in einem bis zwei Menschenaltern gelingen, und es muß gelingen. Meine Herren, die alten Führer, die aus der Zeit vor 1870 stammen, haben die alten Marxschen Traditionen, sie wissen nichts als Klassenkampf und Klassenhaß wie Marx; die jüngeren sind alle revisionistisch, und keiner von ihnen glaubt unter vier Augen noch an die Dogmen von Marx. Die alte Generation ist im Absterben, und sie wird von dem sozialistischen Oberpriester Kautsky 7 bald selig gesprochen werden; sie werden in den sozialdemokratischen Himmel als Heilige versetzt, und ihre Heiligenverehrung h a t schon begonnen. Aber damit wird Platz für die jüngere Generation von Führern, und in dieser waltet doch ein wesentlich anderer Geist. 1

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Gemeint sind Otto Karl Gottlob Frli. v. Manteuffel, seit 1896 Landesdirektor der Provinz Brandenburg, und Julius Graf v. Mirbach, seit 1879 erster Vorsitzender der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer und Mitglied der Parteileitung der Deutsch konservativen Partei. Solon, um 640 bis um 560 v. u. Z., athenischer Gesetzgeber. Gajus Julius ("äsar, Staatsmann, Feldherr und Alleinherrscher des römischen Imperiums im 1. Jh. v. u. Z. Tudor, englische Königsdynastie 1485 bis 1603. Holienzollern, nach der Stammburg Hohenzollern benannte deutsche Herrscherdynastie, seit der Reichseinigung 1871 bis 1918 im Besitz der deutschen Kaiserkrone. Napoleon I., urspr. Napoleon Bonapartc, 1804 bis 1814/15 Kaiser der Franzosen; Napoleon III., urspr. Napoleon Louis Bonaparte, 1852 bis 1870 Kaiser der Franzosen. Karl Kautsky.

22 Information des Reichskanzlers Bernhard von Bülow an den Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes Otto Hammann vom 22. Januar 1905 über seine Maßnahmen zur Unterdrückung des Ruhrbergarbeiterstreiks ZStA Potsdam, Nachlaß Otto Ilammann, Nr. 10, Bl. 14 f.

Velsen 1 glaubt, daß die Arbeitgeber vorläufig sich nicht zu Konzessionen] bezw. gemeinsamen Verhandlungen bereit finden lassen würden. Er ist der Ansicht, man müsse den Streik noch 8 bis 14 Tage weitergehen lassen, um beide Teile mürbe zu machen. Dann

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würden die Arbeiter ihre Forderungen ermäßigen, die Unternehmer die Gelegenheit benutzen, um die ausgesprochenen Sozialisten unter den Arbeiterführern zu entlassen und die Regierung mit berggesetzlichen Reformen (gegen Nullen-Seilfahrt, Überschicht usw.) eingreifen. — Ich habe Velsen angewiesen, 1. die Lokalbehörden im Sinne großer Mäßigung und Ruhe zu instruieren; , 2. dem Syndikat 2 zu sagen, daß, falls es nicht alles täte, um ein Steigen der Kohlenpreise zu verhindern, ihm dies sehr schlecht bekommen würde; 3. das Herbeiholen fremder Arbeiter als Streikbrecher zu verhindern. 1 2

Wilhelm v. Velsen, Oberberghauptmann. Gemeint ist das Rheinisch-westfälische Kohlensyndikal.

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Aus dem Artikel „Der Ausstand der Kohlenarbeiter und die Novelle zum Berggesetz"

von Henry Axel Bueck, Geschäftsführer des Zentralverbandes deutscher Industrieller, vom 3. Februar 1905 gegen die Berggesetz-Novelle der preußischen Regierung Deutsche Industrie-Zeitung, Nr. 5 v. 3. 2. 1905.

Orgau des Contralverbandes Deutscher Industrieller

Von den Vertretern der Ausständigen 1 ist das Bestehen haarsträubender Mißstände im Bergwerksrevier behauptet worden. Auf Grund dieser Schilderungen ist die öffentliche Meinung einig darüber, daß die Bergarbeiter im Ruhrrevier ein elendes Leben führen, tief unter der Erde, im Wasser liegend, oder von qualvoller Hitze gemartert, ihre schwere Arbeit verrichten müssen bei kümmerlichem Lohn, um den sie noch oft genug durch das Wagennullen betrogen, dabei auch noch mit Gummischläuchen verprügelt werden. Man hätte annehmen können, daß die Königliche Staatsregierung die Verpflichtung hätte erkennen müssen, solchen schweren Beschuldigungen gegenüber zunächst ihre örtliche Bergbehörde zur Berichterstattung aufzufordern und, vorbehaltlich der anzustellenden Untersuchung und deren Ergebnisse, diese Berichte zu veröffentlichen. Das ist nicht geschehen. Die Vertreter der Regierung haben das Bestehen solcher Mißstände ernstlich und entschieden nicht in Abrede gestellt, es vielmehr durch ihr Verhalten und besonders durch den angekündigten Inhalt einer Novelle zum Berggesetz zum bedeutendsten Teile zugegeben. Dadurch wesentlich ist die öffentliche Meinung zu ihrer feindseligen Stellungnahme den Arbeitgebern gegenüber geführt worden. Dabei muß es das höchste Erstaunen erregen, daß die öffentliche Meinung das Bestehen einer staatlichen Aufsichtsbehörde für den rheinisch-westfälischen Bergbau, das Oberbergamt in Dortmund, gänzlich zu übersehen scheint. König Friedrich Wilhelm I., der früher in den Schulen nur gezeigt wurde in dem Schatten seiner angeblichen Tyrannei dem Sohne gegenüber und seiner Vorliebe für die „langen Kerle", dieser lange Zeit schwer verkannte Fürst hat einen der stärksten Grundpfeiler für die spätere Größe und Macht des preußischen Staates errichtet in der Begründung eines Beamtentums, um dessen opferwillige, unentwegte Arbeitswilligkeit, Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue Preußen von der ganzen Welt beneidet wird,

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3. Februar 1905

Im Oberbergamtsbezirk Dortmund sind 15 mit der höchsten bergmännischen Ausbildung ausgestattete Revierbeamte, jeder mit 1 bis 2 Hilfsarbeitern mit gleicher Ausbildung und einige 30 im praktischen Bergbau erprobte sogenannte „Einfahrer", also etwa 7CT Staatsbeamte angestellt, die zum Ressort des Oberbergamts Dortmund gehören und lediglich die Aufgabe haben, die in dem Bezirke vorhandenen rund 250 selbständigen Tiefbaua n l a g e n z u ü b e r w a c h e n . Ein

Kohlen-Industrie,

solch peinlicher Überwachungsdienst, wie in Preußen für die ist für keine andere Industrie in Deutschland und überhaupt in. der ganzen

Welt eingerichtet. Wenn die behaupteten und, wenigstens zum bedeutenderen Teile, von der Regierung mittelbar zugegebenen Mißstände im rheinisch-westfälischen Kohlenbergbau t a t s ä c h l i c h b e s t ä n d e n , so müßte jene

Aufsichtsbehörde seit Jahren von der guten preußischen Beamtentradition gänzlich abgewichen, ungetreu und pflichtvergessen gewesen sein und es würde, nach unserem Ermessen, die zunächstliegende Aufgabe des betreffenden Ministers gewesen sein, eine strenge Disziplinaruntersuchung gegen sie einzuleiten.

Am 27. J a n u a r ließ die Regierung durch d a s Wolff'sche Tclegraphen-Burcau die Mitteilung verbreiten, daß sie beabsichtige, außer den bereits früher angekündigten Änderungen des Berggesetzes, dem Landtage demnächst den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, durch welchen der 3. Abschnitt des 3. Teiles des Allgemeinen Berggesetzes, soweit er von den Bergleuten handelt, einer Abänderung unterworfen werden soll. Diese Abänderungen würden sich auf die folgenden Gegenstände erstrecken: 1. Gesetzliche Regelung der Arbeitszeit beim Steinkohlenbergbau einschließlich der Seilfahrt, soweit dies durch sanitäre Rücksichten geboten ist; 2. gesetzliche Regelung des Über- und Nebenschichtwesens; 3. obligatorische Einführung von Arbeiterausschüssen; 4. Verbot des Nullens; 5. Begrenzung der Höhe der Strafen auf einen bestimmten Zeitraum . . . Im allgemeinen muß aber durch das Vorgehen der Königl. Staatsregierung bei der Sozialdemokratie und den Organisationen der Arbeiter überhaupt die Überzeugung hervorgerufen werden, daß sie mit ihrer Hetzarbeit, mit ihrem eisernen Willen und zuletzt mit dem inszenierten Ausstande die Königl. Staatsregierung bezwungen, gebeugt und unter ihr J o c h gebracht habe. Das Selbstbewußtsein und d a s Machtgefühl der Sozialdemokratie wird dadurch unendlich steigen und ihr Ansehen bei den übrigen Arbeitern ungemein wachsen; sie werden ihr in Scharen zuströmen. Diese gewaltige Errungenschaft wird die Organisationen der Arbeiter anderer Industrien unzweifelhaft anspornen, die Erreichung ähnlicher Erfolge anzustreben; daher sind infolge des Vorgehens der Königl. Staatsregierung weitere große und verheerende K ä m p f e in den anderen Industrien zu erwarten. Der Eindruck auf die deutschen Arbeitgeber wird, wie heute schon zu übersehen ist, ungemein deprimierend sein. Sie müssen gewärtig sein, daß bei den voraussichtlichen künftigen Kämpfen die Regierung bezw. die Gesetzgebung sich auch in die Ordnung ihrer Arbeitsverhältnisse einschieben wird. Sie haben das E n d e des Bestimmungsrechtes in ihren eigenen Unternehmen, das Aufhören ihrer Autorität vor Augen. Diese Befürchtung wird durch die obligatorische Einführung der Arbeiterausschüsse wesentlich gesteigert werden, denn es würde nicht möglich sein, sie auf die Werke der Kohlenindustrie zu beschränken . . . Bis jetzt hatte sich die Königl. Staatsregierung immer überzeugen lassen, daß die Arbeiterausschüsse nur Konventikel der Sozialdemokratie werden und daher gleichbedeutend sein würden mit einer staatlichen Organisation der Sozialdemokratie. Die Staatsregierung hat selbst bei dem großen Ausstande der Bergarbeiter im Saarrevier im J a h r e 1893 erfahren, daß die dort gebildeten Arbeiterausschüsse sofort

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willige Werkzeuge des sozialdemokratischen Rechtsschutzvereins wurden. Diese Erfahrungen scheinen vergessen zu sein. Solche Aussichten f ü r die künftige Gestaltung der Arbeiterverhältnisse in Preußen und dem entsprechend auch im Reiche, müssen die verhängnisvolle Folge haben, d a ß jeder, der es anders kann, sich hüten wird, Kapital in deutschen gewerblichen Unternehmungen anzulegen. Deutschland h a t einen gewaltigen Aufschwung genommen, sein Nationalvermögen ist in großen Dimensionen gewachsen. Aber so reich ist Deutschland doch noch nicht, d a ß es die werbende K r a f t seiner industriellen produktiven Tätigkeit entbehren könnte. Ein Stillstand und Rückschritt auf diesem Gebiete würde nicht nur die Machtstellung unseres Vaterlandes, sondern auch seine in der allgemeinen Kultur eingenommene Stellung nachhaltig gefährden. Der Ausstand im Ruhrgebiet schlägt unserem Wirtschaftsleben Wunden, die mit jedem weiteren Tage seiner Dauer schwerer werden. Wunden sind aber gewöhnlich zu heilen. Der angekündigte gesetzgeberische Eingriff der Regierung droht aber den Keim eines dauernden Siechtums in unseren Wirtschaftskörper zu pflanzen, an dem er zu Grunde gehen könnte. 1

Der Artikel bezieht sich auf den Ruhrbergarbeiterstreik vom 7. 1. bis 19. 2. 1905.

24 Resolution der Versammlung der Delegierten der bergbaulichen Vereine Deutschlands vom 16. März 1905 gegen die Berggesetz-Novelle der preußischen Regierung Deutsche Industrie-Zeitung, Nr. 11 v. 17. 3. 1905.

Organ des Centraiverbandes Deutscher Industrieller,

Die heutige Versammlung der bergbaulichen Vereine Deutschlands spricht sich einmütig dagegen aus, daß in den tatsächlichen Arbeiter- und Arbeitsverhältnissen des preußischen Bergbaues irgendwelche berechtigte Veranlassung d a f ü r vorhanden sei, die in der neuesten Berggesetznovelle vorgeschlagenen besonderen gesetzlichen Maßnahmen bezüglich der Bergarbeiterverhältnisse zu treffen. Sie wird diesen S t a n d p u n k t in einer ausführlichen Denkschrift dem Landtage darlegen und hierbei noch ganz besonders auf die schwerwiegenden prinzipiellen Bedenken hinweisen, daß die vorgeschlagenen Gesetzesbestimmungen in erheblicher Weise einerseits die Sozialdemokratie und das Großpolentum fördern, u n d andererseits durch Verteuerung der Kohlen-Selbstkosten, und damit auch der Kohlenpreise, die weitesten Kreise der Kohlenkonsumenten und insbesondere die deutsche Ausfuhrindustrie schädigen würden.

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19. Marz 1905

Weisung des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Bernhard von Bülow

an den Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes Otto H a m m a n n vom 19. März 1 9 0 5 über Argumente für die Behandlung der Berggesetz-Novelle im preußischen Abgeordnetenhaus1 ZStA Potsdam, Nachlaß Ollo Ilammaim, Nr. 10, 131. 34 ff. Am Donnerstag dem 23. k o m m t die Berggesetz-Novelle im Abgeordnetenhaus auf die Tagesordnung. E s wäre mir von größtem W e r t gegen die Angriffe, welche die Novelle von R e c h t s ( K o n s e r vative u. Nationalliberale) erfahren wird, einige gute und schlagende Argumente an der I l a n d zu h a b e n . E s wird sich namentlich um nachstehende Vorwürfe handeln: 1. W a r u m h a t die Regierung die Novelle gerade j e t z t e i n g e b r a c h t ? 2 W a r dies wirklich geb o t e n ? Lagen wirklich sachliche Gründe für die Einbringung vor oder war es nur N a c h giebigkeit gegenüber einer (irregeleiteten) öffentlichen Meinung? 2. Nicht die Ankündigung der Novelle, sondern lediglich3 zur Wiederaufnahme der Arbeit bewogen.

Geldmangel h a t die S t r e i k e n d e n

3. Die Novelle stelle die Arbeiter doch nicht zufrieden. Die sozialdemokratische Presse verh ö h n t sie, die christlichen Gewerkschaften finden die Novelle ungenügendDas übereilte gesetzgeberische E n t g e g e n k o m m e n der Regierung h a t auf die Arbeiter lediglich den E i n druck der S c h w ä c h e g e m a c h t . 4. Durch die gesetzgeberische Nachgiebigkeit der Regierung wird die S t r e i k l u s t Arbeiter angefacht.

der

5. Insbesondere die Arbeiter-Ausschüsse k o m m e n nur der Sozialdemokratie zu G u t e . 6. Die Sozialpolitik im R e i c h geht zu weit, die Regierung gibt dem Drängen der P a r t e i e n in dieser R i c h t u n g zu weit n a c h 5 . — Ich füge den B e r i c h t über eine Sitzung der bergbaulichen deutschen Vereine bei, welche[r] die betreffenden Einwürfe gegen die Novelle aufführt, einen in demselben Sinne gehaltenen Artikel der „Schlesischen Zeitung" sowie zwei Auslassungen des „ T a g " und der „ K ö l n i s c h e n Zeitung", welche namentlich hinsichtlich der Arbeiter-Ausschüsse den S t a n d p u n k t der Regierung verteidigen 6 . — E s k o m m t mir darauf an, d a ß meine Repliken K e n n t n i s der S a c h e zeigen und sich n i c h t in Phrasen bewegen; andererseits a b e r darf ich n i c h t auf zuviele Details eingehen, sondern m u ß allgemeine Gesichtspunkte aufstellen u. alles vom allgemein politischen, großzügigsozialpolitischen S t a n d p u n k t behandeln. R e c h t kurze S ä t z e ! ! r e c h t g e m e i n v e r s t ä n d l i c h ! E s wäre mir überaus erwünscht, die betreffenden Ausführungen bis spätestens morgen, Montagabend zu h a b e n . 1

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Randvermerk Bülows: „bitte bringen Sie heule nachmittag bei Ihrem erwünschten Besuche einiges Material mit. Ich leide an einem mißglückten Vergiftungsversuche . . . " Randvermerk Hammanns: „Reichsarbeitsblatt 21. Februar Rg. R. Leo" — „Seit lange vorbereitet". Die weiteren Stichworte nicht sicher zu entziffern:" S. 8 der Mot" oder „S. E . der Mot.". — „Angem. — Arbeitszeit etc. — jetzt durch Gesetz." Hervorhebung offenbar von Hammann. Randvermerk Hammanns: „Nicht lediglich. Sondern Hoffnung Massen über Führer hinweggetragen [?], wenn — Genau wie am Anfang. Sachse [vermutlich Hermann Sachse, Bergarbeiterverband] u. Hue [Otto Hue, Sprecher der sozialdemo-

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kralischcn Reichstagsfraktion in Bergarbeiterfragen] gegenüber Bebel. Christi. Bergarb. gleichberechtigt behandelt, Führung. Christi, die eingesessenen Familien. Verhinderung des tumultuar[ischen] Charakters. Polizcimaßn. aus Langerweile gestorben." — Weitere Stichworte nicht zu entziffern. * Hervorhebung offenbar von Hammann. Randvermerk Hammanns: „Staat hat zu machen, was er für notwendig. Welche Partei zufrieden, Handelsverträge, Kanalvorlage Gcwerkschaftsblätter zitieren. Nicht wahr, daß Schwäche. Aber auch keine einseitige ungerechtf. Nachgiebigkeit. Mißstände aus den Protokollen. Psycholog. Momente. Löhne von 1900, Kostensped. Stillegen. Mißtrauen. Arbeiterausschüsse . . . Bernhard." 6 Randvermerk Ilammanns: „Konkurrenzfähigk. nicht gelitten. Aufschw. nicht gehindert. Ihr treibt Schulzpolitik, betont die Bedeutung des innern Marktes, Hebung der Lage der Arbeiter läuft auf dasselbe hinaus." 6 Randvermerk Hammanns: „Bismarck: Tropfen sozial. Öls, Patrimonium der Enterbten, Recht auf Arbeit, Botschaft 1881, 'roi des gueux' [König der Bettler]"

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Reichskanzler Bernhard von Bülow über die von Kaiser Wilhelm II. in seinem so-

genannten Silvesterbrief v o m 31. Dezember 1 9 0 5 geäußerten Gedanken zur außen- und innenpolitischen Vorbereitung eines Krieges des Deutschen Reiches Bülow, Bernhard Fürst v., Denkwürdigkeiten, Bd. 2: Von der Marokkokrise bis zum Abschied, Berlin (1930), S. 197 f. I n dem erwähnten Silvesterbrief schrieb mir derselbe hohe H e r r 1 . . . er h a b e bei J a h r e s schluß sich die W e l t l a g e durch den Kopf gehen lassen unter dem wiederangezündeten T a n n e n b a u m . E r wolle keinen Krieg, bevor wir nicht ein festes B ü n d n i s m i t der T ü r k e i geschlossen h ä t t e n . E i n e Allianz m i t dem S u l t a n müsse c o û t e que c o û t e 2 erreicht werden, ebenso m i t „allen arabischen und maurischen H e r r s c h e r n " . B e v o r ein solches B ü n d n i s m i t dem Islam nicht perfekt wäre, dürften wir nicht losgehen. Allein k ö n n t e n wir ü b e r h a u p t nicht gegen E n g l a n d und Frankreich Krieg führen, wenigstens n i c h t zur See. Die letzten vier W o r t e h a t t e Seine M a j e s t ä t dick unterstrichen. Übrigens sei das J a h r 1 9 0 6 zum Kriegführen besonders ungünstig, weil wir gerade in der Neubewaffnung unserer Artillerie begriffen wären, die mindestens ein J a h r in Anspruch nehmen würde. Auch die I n f a n t e r i e sei in der Neubewaffnung begriffen, bei Metz wären viele unvollendete F o r t s und B a t t e r i e n . Die H a u p t s a c h e aber wäre, d a ß wir wegen unserer Sozialisten keinen Mann aus d e m Lande nehmen könnten ohne äußerste Gefahr für Leben und B e s i t z der Bürger. „ E r s t die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich m a c h e n , wenn nötig per B l u t b a d , und dann Krieg nach außen. Aber n i c h t vorher und n i c h t à t e m p o ! " Der Kaiser forderte mich in diesem B r i e f schließlich auf, die auswärtige Politik so zu führen, d a ß uns „so weit als irgendmöglich und jedenfalls für jetzt" die Kriegsentscheidung erspart würde. E s dürfe a b e r nicht aussehen „wie ein F a s c h o d a " . 1 Kaiser Wilhelm II. coûte que coûte — um jeden Preis.

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27 Schreiben des preußischen Ministers des Innern Theobald von Bethmann Hollweg an das preußische Staatsministerium vom 18. Januar 1906 über den Kampf gegen die Auswirkungen der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland ZStA Merseburg, Ministerium für Landwirtschaft und Forsten, Rep. 87 B, Sekrets, Nr. 7, Bd. 3, Bl. 16 f.

Dem Herrn Kriegsminister trete ich darin bei, daß die revolutionäre Richtung, welche die sozialdemokratische Agitation seit einiger Zeit eingeschlagen hat, zu den ernstesten Erwägungen Anlaß gibt, in welcher Weise den sozialdemokratischen Bestrebungen entgegenzuwirken sei. Wie der Herr Justizminister in seinem Votum vom 3. d. Mts. bemerkt, sind zwischen den Ministerien der Justiz und des Innern bereits kommissarische Beratungen darüber verabredet worden, ob und wie auf Grund der bestehenden Gesetze den teils offenen, teils versteckten Aufforderungen der Sozialdemokratie, das revolutionäre Treiben in Rußland nachzuahmen und bei etwaigen äußeren Krisen die Machtstellung des Reiches durch Massenausstände und durch einen im Heer zu organisierenden Widerstand gegen die militärische Disziplin zu untergraben, entgegengetreten werden kann. Der Gegenstand dieser Beratungen berührt sich mit der von dem Herrn Kriegsminister angeregten Beratung auf das engste. Abweichend von der Auffassung des Herrn Justizministers glaube ich indessen die Äußerung des Herrn Kriegsministers dahin auslegen zu sollen, daß dieser nicht die Zulänglichkeit unserer gegenwärtigen Gesetze gegen das staatsgefährliche Treiben der Sozialdemokratie überhaupt, sondern nur die Zulänglichkeit der Vorschriften zur Unterdrükkung derjenigen Agitation erörtern will, welche auf die Wehr- und Militärpflichtigen berechnet ist. Dagegen befinde ich mich mit dem Herrn Justizminister darin in Übereinstimmung, daß es unter allen Umständen wünschenswert ist, die von dem Herrn Kriegsminister beantragte Erörterung im Königlichen Staatsministerium bis zum Abschlüsse jener kommissarischen Beratungen auszusetzen. Ich halte es ferner gleich dem Herrn Justizminister für ratsam, die von dem Herrn Kriegsminister zur Sprache gebrachten Fragen, ehe sie im Staatsministerium zur Besprechung gelangen, durch Kommissare der beteiligten Ressorts erörtern zu lassen. Diese Erörterungen würden aber m. E. zweckmäßig mit den oben erwähnten kommissarischen Beratungen zu verbinden sein. In der Kommission wäre alsdann auch das nach Ansicht des Herrn Justizministers von dem Herrn Kriegsminister ins Auge gefaßte Einschreiten gegen das staatsgefährliche Treiben der Sozialdemokratie überhaupt, das auch auf andere Weise, z. B. in der Verhetzung der Volksklassen, in der Herabwürdigung staatlicher Einrichtungen, der Beschimpfung der Regierungen und Behörden, der Verherrlichung revolutionärer Verbrechen usw., sich äußert, zu erörtern, insbesondere aber wäre die Frage einer Ergänzung der Gesetzgebung zu prüfen. Im Hinblick auf die neuerliche sozialdemokratische Propaganda für den politischen Generalstreik erscheint es mir aber auch wünschenswert, die gesetzlichen Bestimmungen mit Rücksicht auf die Eventualität eines Generalstreiks — abgesehen von den Fällen des Krieges und der Kriegsgefahr — zu besprechen.

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In dieser Hinsicht käme vor allem die Sicherung des Post-, Telegraphen- und Eisenbahnverkehrs, die Versorgung mit Licht und Wasser in Frage. Entsprechend dem erweiterten Beratungsgegenstande darf den beteiligten Herren Ressortchefs die Abordnung von Kommissaren zu den Beratungen anheimgestellt werden. Als meine Kommissare benenne ich die für die ersten Beratungen bestimmten Beamten, nämlich den Geheimen Oberregierungsrat Dr. Maubach, den Geheimen Oberregierungsrat Dr. Herrmann, den Regierungsassessor Dr. von Brandt und den Pölizeidirektor Eckhardt. Abschrift des Votums habe ich sämtlichen Herren Staatsministern mitgeteilt.

28 Aus der Rede des preußischen Innenministers Theobald von Bethmann Hollweg im preußischen Abgeordnetenhaus a m 23. März 1906 zur Begründung einer geringfügigen Reform des preußischen Wahlrechts und gegen die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts Stenographische

Berichte

über die Verhandlungen

des Preußischen

Hauses

der Ab-

geordneten, 20. Legislaturperiode, II. Session 1905/06, Bd. 3, Berlin 1906, Sp. 3743 ff. Nun, meine Herren, hat der Herr Abgeordnete Broemel 1 bereits bei einer anderen Gelegenheit auf eine scherzhafte Bemerkung von mir erwidert, daß ich diese Anträge der liberalen Seite 2 dieses Hauses doch nicht zu ernst nehmen möchte, daß er und seine Freunde ein weit besseres Verlangen trügen: die Adoption des Reichstagswahlrechtes auch in Preußen. Meine Herren, ich darf auch hierzu einige Ausführungen machen, nicht so sehr, um es bei dieser Gelegenheit noch einmal und ausdrücklich festzustellen und zu wiederholen, daß die Adoption des Reichstagswahlrechts für uns unannehmbar ist, sondern um einige Bemerkungen allgemeineren Inhalts daran zu knüpfen . . . In gewissem Sinne beneide ich die Anhänger des Reichstagswahlrechts. E s ist so furchtbar einfach, es zu fordern, ohne sich Sorgen über seine Wirkung zu machen. Die Schablone ist vorhanden, nach der man ohne sehr viel Arbeit ein neues Gesetz würde formulieren können, und man kann sich dabei auf Deutschlands größte Zeiten und auf Deutschlands größten Staatsmann berufen 3 . J a , meine Herren, wie waren denn damals die Zeiten? Eine Nation, bis dahin zerklüftet, in Uneinigkeit und Unentschlossenheit, belastet auch mit manchen Vorurteilen, hatte sich endlich auf sich selbst besonnen; und dem Kraftgefühl, das alle seine Schichten durchströmte, vor allem die Reihen derer, die auf den Schlachtfeldern die größten Opfer gelassen hatten, diesem Kraftgefühl entsprach das unbedingte Vertrauen, mit dem die Geschicke des Reiches in die Hände gleichberechtigter Wähler gelegt wurden. Und heute, meine Herren? Man muß offen und ehrlich sein: es wäre Heuchelei, es zu leugnen, daß ein bitteres Gefühl der Unlust auf unserem öffentlichen Leben lastet. Aber rührt denn dieses Gefühl der Unlust etwa davon her, daß wir in Preußen noch nicht das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht haben? Besteht denn diese Unlust nicht auch im Reich, wo wir doch dieses angebliche Ideal eines Wahlrechts besitzen? Meine Herren, ein Zusammenhang besteht aber meiner Überzeugung nach in einem ganz anderen Sinne. Wenn die Geschichte einmal das Verdikt über unser letztes Zeitalter ab7 Gutsche, Strategie

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23. März 1906

geben wird, dann wird sie es rühmend hervorheben, daß es ein Grundzug unserer Zeit war, die niederen und armen Schichten der Bevölkerung in erhöhtem Grade an den Segnungen der Kultur und der Zivilisation teilnehmen zu lassen; aber sie wird uns nicht den Tadel ersparen, daß wir bei diesem Streben in eine Abhängigkeit von den Stimmungen der Masse geraten sind, die wie ein Alp auf unserem gesamten öffentlichen Leben lastet. Es ist etwas durchaus Ungesundes, es ist ein Unheil, daß wir jede politische Aktion abhängig machen müssen von den Wirkungen, die sie auf die Sozialdemokratie ausüben wird; es ist ein Unheil, daß großartige sozialpolitische Institutionen in parteipolitischem Interesse mißbraucht werden; es ist ein Unheil, daß unsere parteipolitische Presse nicht mehr, wenigstens nicht mehr in ihrer großen Gesamtheit das Echo einer selbständigen und unabhängigen Parteipolitik bildet, sondern daß sie umgekehrt, wenigstens teilweise, eine Diktatur über die Parteien auszuüben beginnt, die nicht frei von Rücksichten auf die aura popularis 4 ist. Meine Herren, ich möchte nicht mißverstanden werden. Ich erblicke in dem Bestrebeö, die Schwachen des Volkes emporzuheben, ein großes, vielleicht das größte und edelste Gesetz der Menschheit; auch ich will an seiner Verwirklichung mitarbeiten; und an ihr mitzuarbeiten muß ein Stolz für jeden Starken sein. Aber dieses Streben darf nicht den alleinigen und ausschließlichen Inhalt unseres Schaffens und Wirkens bilden. Parallel mit ihm muß das Streben gehen, die besten und idealsten Kräfte, die ein Volk, ja darüber hinaus: die die Menschheit zu produzieren vermag, zu Führern des Lebens zu machen; . . . nur aus dem Zusammenwirken beider Strömungen geht für das Ganze die Richtungslinie hervor, die nach oben weist; und es ist hohe Zeit, daß die Kräfte, die nach aufwärts ziehen, wieder frei werden . . . Und wohin streben denn nun diese Kräfte? Wenn man lediglich auf die Stimmen hört, die sich auf dem Markte der Öffentlichkeit hervordrängen, dann müßte man vielleicht besorgen, daß wir einer allmählichen Nivellierung des Besten, was wir haben, rettungslos entgegeneilten. Aber das ist ja gerade das Verderbliche unserer Zustände, daß diejenigen Kräfte, welche die Produzenten unserer materiellen und geistigen Güter sind, welche das wirkliche Leben schaffen,. . . daß diese Kräfte vielfach seitab stehen, daß von dem, was sie wollen, was sie anstreben, so unendlich wenig hinüberdringt in das Gewoge unserer politischen Kämpfe. Und doch sind diese Kräfte vorhanden, und was sie wollen, meine Herren, bei Gott, es ist nicht demokratische Gleichmacherei! Die Fortschritte unserer Industrie, die Erfindungen auf dem Gebiete der Technik, der Chemie, der Physik, der erobernde Fleiß unseres Kaufmanns, die Entwicklung unserer Landwirtschaft und, so paradox es klingen mag, das gewaltige Aufstreben unserer Arbeiterschaft, meine Herren, was sind denn diese Dinge anderes als Zeichen dafür, daß Triebkräfte in unserem Volke arbeiten, welche nicht schematisch nivellieren, welche nicht gleichmachen wollen, sondern höher hinaus, welche das Beste auslesen wollen? 1 2

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Max Broemel, Freisinnige Vereinigung. Es handelte sieh um Gesetzentwürfe, betr. Vermehrung der Mitglieder des Abgeordnetenhauses und Änderungen der Landtagswahlbezirke und Wahlorte bzw. betr. Abänderung der Vorschriften über das Verfahren bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Gemeint sind die Zeiten der Reichsgründung und Fürst Otto v. Bismarck. Bismarck hatte 1883 den Gedanken ventiliert, für die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus ein allgemeines und direktes Wahlrecht einzuführen, an der Öffentlichkeit des Wahlrechtes aber festzuhalten. In diesem Sinne schrieb er am 3. Dezember 1883 an den damaligen Vizepräsidenten des preußi-

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4. April 190'6/Nr. 30

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sehen Staatsministeriums Robert von Piittkamer (Bismarck, Otto von, Die gesammelten Werke, o. 0 . , o. J „ Bd. 6 c, S. 288). * aura popularis — Volksgunst.

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Aus dem Privatbrief des preußischen Ministers des Innern Theobald von Bethmann

Hollweg an seinen Jugendfreund Wolfgang von Oettingen vom 4. April 1906 über die Schwierigkeiten einer Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts BA- Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 517/1, Bd. 1. Unser preußisches Wahlrecht ist auf die Dauer unhaltbar, und wenn es auch ein an sich aktionsfähiges Parlament liefert, so ist doch dessen konservative Mehrheit so banausisch gesinnt und in dem satten Gefühl ihrer unantastbaren Macht für jeden vorwärts Wollenden so demütigend, daß wir neue Grundlagen suchen müssen. Aber schon für diesen Grundgedanken finde ich weder im Staatsministerium noch auch wahrscheinlich bei S [einer] M[ajestät] und natürlich unter keinen Umständen bei der Majorität des Landtages irgendwelches Verständnis . . . ob ich erreichen werde, was ich anstrebe, bleibt mir sehr zweifelhaft . . . die Konservativen vorwärts treiben und die Liberalen von Parteifragen und Parteischablonen abdrängen — ich verzweifle an der Möglichkeit . . . © o

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Schreiben des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern Arthur Graf von Posadowsky-

Wehner an den Reichskanzler Bernhard Von Bülow vom 16. Oktober 1906 über die Zuziehung von zwei Arbeitervertretern zu den Beratungen des Wirtschaftlichen Ausschusses ZStA Potsdam, Auswärtiges Amt, Nr. 3430, Bl. 50f. Bereits anläßlich der Beratung des Zolltarifs ist im Reichstag dem Wunsche Ausdruck verliehen worden, es möchten in den Wirtschaftlichen Ausschuß zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen 1 auch Vertreter aus dem Arbeiterstande berufen werden. Zur Zeit setzt sich der Wirtschaftliche Ausschuß aus 34 Vertretern von Landwirtschaft, Industrie und Handel zusammen, welche nach territorialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten von der Rcichsverwaltung im Einvernehmen mit den Bundesregierungen ausgewählt worden sind, und zwar etwa die Hälfte auf Vorschlag des Deutschen Landwirtschaftsrates, des Zentralverbandes deutscher Industrieller und des Deutschen Handelstags, so daß von jeder dieser Körperschaften annähernd 1/6 vorgeschlagen war. Wenn von der Zuziehung von Arbeitervertretern bisher Abstand genommen wurde, so ist dies unter anderem darauf zurückzuführen, daß der Wirtschaftliche Ausschuß seit 1901nicht mehr zusammengetreten ist. Neuerdings ist jedoch anläßlich der Beratung des deutsch-schwedischen Handelsvertrags im Reichstage — Sten. Berichte der 112. Sitzung vom 26. Mai 1906, Seite 3522 — in der Kommission und im Plenum dem entschiedenen 7*

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Verlangen Ausdruck gegeben worden, daß in Zukunft der Wirtschaftliche Ausschuß bei den noch ausstehenden Handelsverträgen zur Begutachtung herangezogen und dahin ergänzt werden möge, daß alle Interessen der deutschen Produktion möglichst gleichmäßig in ihm vertreten seien. Der Reichstag hat eine dahingehende Resolution angenommen, und ich war in die Lage versetzt, namens der Reichsverwaltung eine entgegenkommende Erklärung abzugeben, von der die Mehrheitsparteien die Annahme des deutsch-schwedischen Vertrags abhängig machten. Da somit der Wirtschaftliche Ausschuß wieder häufiger zusammentreten wird, wie dies vor kurzem schon behufs Beratung der deutsch-spanischen Handelsbeziehungen geschehen ist, so wird es auch notwendig sein, auf seine Ergänzung Bedacht zu nehmen. Während ich eine solche Ergänzung nach verschiedenen anderen Richtungen alsbald in die Wege leiten zu können geglaubt habe, möchte ich die wichtigste der gegebenen Anregungen, nämlich die Berufung von Arbeitern in den Wirtschaftlichen Ausschuß, nicht ohne die Entscheidung Euerer Durchlaucht erledigen. Der dahingehende Wunsch wurde in der Reichstagskommission nicht nur von der Sozialdemokratie, sondern besonders auch vom Zentrum vertreten und fand auf keiner Seite Widerspruch. Sachlich entbehrt er insofern nicht der Berechtigung, als in der T a t die Arbeiter an den im Ausschusse zur Beratung gelangenden Materien wenn auch meist nur mittelbar so doch nicht unerheblich interessiert sind. Um den fortgesetzten Bemängelungen wegen unzureichender Besetzung des Wirtschaftlichen Ausschusses die Spitze abzubrechen, scheint es mir nicht unerwünscht, andererseits auch nicht bedenklich, zwei Vertreter aus dem Arbeiterstand in den Ausschuß, zu berufen, und zwar einen aus den Kreisen der christlichen Arbeitervertretungen, während ich als zweiten den Reichstagsabgeordneten Molkenbuhr 2 in Aussicht nehmen würde. Molkenbuhr, ein Angehöriger der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstags, ist vom Reichstage zum Mitgliede des Beirats für Arbeiterstatistik erwählt worden und gehört dieser Kommission bereits seit einer Reihe von Jahren an. Er gehört ferner der Kartellenquetekommission seit ihrem Bestehen 3 an. In beiden Kommissionen hat er gleich den übrigen Mitgliedern des Reichstags lebhaften Anteil an den Verhandlungen genommen. Seine Teilnahme hat von keiner Seite zu Beanstandungen Anlaß gegeben. Eure Durchlaucht bitte ich um geneigte Verständigung, ob gegen das geplante Vorgehen Bedenken obwalten. 4 1 2

3 4

Dieser Ausschuß war am 25. 9. 1897 gegründet worden. — Vgl. Dok. 1. Hermann Molkenbuhr, seit 1904 Sekretär im Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, seit 1907 einer der Vorsitzenden der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, gehörte seit 1893 der amtlichen Reichskommission für Arbeiterstatistik an. Rechtsopportunistisch orientiert, hatte er sich auf den Parteitagen in Bremen 1904 und in Mannheim 1906 gegen die Forderung Karl Liebknechts nach spezieller antimilitaristischer Propaganda und gegen die Selbständigkeit der proletarischen Jugendorganisationen gewandt. Die Kartellenquetekommission des Reichstags war 1903 konstituiert worden. Der Vorschlag Posadowskys wurde nicht verwirklicht.

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31 Aus dem Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 30. Oktober 1906 über Maßnahmen zur Unterdrückung der Sozialdemokratie Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2/1: Die Auswirkungen der ersten russischen Revolution von 1905—1907 auf Deutschland, hrsg. von Leo Stern, Berlin 1954, Dok. 100, S. 266 ff. Der Herr Justizminister 1 hielt Vortrag über die zur Beratung stehende Frage der zur Abwehr der sozialdemokratischen Bestrebungen zu treffenden Maßnahmen. E n d e vorigen J a h r e s habe der Herr Kriegsminister 2 die Notwendigkeit einer B e k ä m p f u n g der von der sozialdemokratischen Partei eingeleiteten antimilitaristischen Propaganda b e t o n t und dabei insbesondere auf die Verhandlungen des vorjährigen Parteitages in J e n a 3 hingewiesen, in denen eine planmäßige Agitation unter den Wehrpflichtigen gegen den Dienst im Heer und der Marine empfohlen und beschlossen worden sei, die Militärpflichtigen insbesondere über das ihnen zustehende Beschwerderecht aufzuklären. U n t e r diesem Deckm a n t e l werde dahin gearbeitet, sie zu ungerechtfertigten Beschwerden aufzuhetzen u n d bei ihnen Widerwillen und Abscheu gegen die militärische Dienstpflicht zu erregen. Infolge der Anfang des Jahres besonders heftigen, durch die revolutionären Ereignisse in Rußland'* geschürten Agitation der sozialistischen Parteien, die sich insbesondere gegen das preußische Landtagswahlrecht richtete u n d in der sozialdemokratischen Presse in aufhetzendster Weise betrieben wurde, habe der Herr Minister des I n n e r n 5 ferner seinerseits eine P r ü f u n g der Frage angeregt, ob die bestehenden Gesetze gegenüber den sozialdemokratischen Bestrebungen genügende Handhaben zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung böten oder ob eine Ergänzung und Verschärfung derselben herbeizuführen sein würden. Auch in dem am 13. Februar d. Js. abgehaltenen Kronrat seien diese Fragen zum Gegenstand der Besprechung gemacht, und von Seiner Majestät dem Kaiser sei auf die Notwendigkeit einer Bekämpfung dieser destruktiven Bestrebungen hingewiesen worden. In der zur Vorberatung der zu treffenden Maßnahmen demnächst eingesetzten, aus Vertretern sowohl der preußischen Ressorts wie der beteiligten Reichsbehörden gebildeten Kommission seien die schwebenden Fragen nach einem von dem Herrn Minister des Innern aufgestellten Programm, nachdem m a n einzelne P u n k t e zunächst einer Subkommission überwiesen habe, gemeinsam erörtert worden. Das Ergebnis der kommissarischen Beratungen sei ein ziemlich dürftiges gewesen und habe zu positiven Vorschlägen über zu ergreifende gesetzliche Maßnahmen im allgemeinen nicht •geführt. Nur zur Bekämpfung der gegen die Armee u n d Marine gerichteten Bestrebungen sei die Einbringung eines Gesetzes empfohlen und ein entsprechender Entwurf formuliert worden. Die Arbeiten der Kommission seien in den beteiligten Ressorts nachgeprüft worden, wobei grundsätzliche Übereinstimmung darüber bestanden habe, d a ß ein legislatives Vorgehen zum Schutze der Armee nicht m i t der in Aussicht stehenden Reform des Strafrechts zu verbinden sei, weil dies eine im Interesse der Aufrechterhaltung des guten Geistes und der Disziplin im Heere und in der Marine untunliche Verzögerung des Eingreifens bedeuten würde, d a ß vielmehr die B e k ä m p f u n g der antimilitaristischen Agitation durch ein besonderes Gesetz zu erfolgen haben werde. Auf dieser Grundlage seien 3 E n t w ü r f e , und zwar von dem Herrn Kriegsminister, dem Herrn Minister des Innern und ihm selbst, aufgestellt worden.

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Der Herr Minister, ging sodann auf die einzelnen Entwürfe, die in der Fassung mehr oder weniger voneinander abwichen, über und unterzog zunächst den Vorschlag des Herrn Ministers des Innern als den weitgehendsten einer Besprechung, dem er nicht beizutreten vermöge, weil, ihm die Formulierung eine zu allgemeine sei und sie einen zu starken Eingriff in das Leben der Bevölkerung bedeute. Sie werde, indem sie dem strafrechtlichen Einschreiten zu weite Grenzen ziehe, auf lebhaften Widerspruch stoßen und im Reichstag kaum auf Annahme rechnen können. Der Herr Minister verlas sodann den Vorschlag des Herrn Kriegsministers, der von dem seinigen nur unerheblich abweiche, und begründete sodann des näheren seinen dem Staatsministerium mit dem Votum vom 24. d. Mts. vorgelegten Entwurf, den er zur Annahme empfahl. Entschließe sich die Reichsregierung zu einem entsprechenden gesetzgeberischen Vorgehen, so entstehe die Frage, welche Aufnahme ein solches in der Presse und im Parlament finden und welche Wirkung man mit dem Gesetz im Falle seiner Annahme erzielen werde. Nach beiden Richtungen gebe er sich keinen großen Erwartungen hin. Zunächst müsse die Regierung nach den Erfahrungen, welche sie mit ihren letzten sich auf ähnlichem Gebiet bewegenden Vorlagen gemacht habe, selbst, bei großer Vorsicht in der Formulierung ihrer Vorlage auf eine starke Opposition im Reichstage rechnen. Wenn es demungeachtet gelinge, das Gesetz durchzubringen, so entstehe die Frage, ob mit ihm der Staatsgewalt ein taugliches und durchgreifendes Kampfmittel in die Hand gegeben werde. Er seinerseits sei zu einer skeptischen Beurteilung der voraussichtlichen Wirkung derselben geneigt, denn die von der Sozialdemokratie betriebene antimilitaristische Agitation werde zwar nicht mehr öffentlich, desto intensiver aber im geheimen und von Mund zu Mund betrieben werden. Der Nachweis einer Gesetzesverletzung werde ferner schwierig zu erbringen sein, zumal Familienmitglieder von dem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch machen würden, und eine Bestrafung werde deshalb verhältnismäßig selten erfolgen. Sei sonach der Erfolg des gesetzgeberischen Vorgehens nur gering, andererseits aber eine Erregung der öffentlichen Meinung und starke Opposition im Reichstag zu erwarten, so stelle er der Erwägung anheim, ob nicht zur Zeit von einem Vorgehen im Wege der Gesetzgebung ganz abzusehen sei. Sollte das Staatsministerium sich dahin entscheiden, so sei es angezeigt, Seiner Majestät, der Sein Interesse für diese Angelegenheit bereits im Kronrat und anderweit bekundet habe, über die Ergebnisse der Beratungen Vortrag zu halten. Der Herr Kriegsminister betonte, daß die zweifellos wichtigste Frage die sei, ob das Gesetz einzubringen sein werde oder nicht, während seine Formulierung erst in zweiter Linie in Betracht komme. Er sei durch die Verhandlungen auf den letzten sozialdemokratischen Parteitagen bewogen worden, im Staatsministerium die Frage zur Erörterung zu stellen, ob in den bestehenden Gesetzen dem Staate bei energischer Handhabung derselben ausreichende Mittel zur Abwehr der die Armee gefährdenden Bestrebungen zur Verfügung ständen oder ob eine.Erweiterung der Sträfvorschriften vorzunehmen sein werde. Auf dem Dresdener Parteitag 6 habe man bereits darauf hingewiesen, daß die einzige Säule des Königtums und der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die Armee, gestürzt werden müssö, in Jena sei dann die planmäßige Propaganda gegen den Militarismus und den Marinismus gefordert, und auch auf dem diesjährigen Parteitag in Mannheim seien diese Forderungen wiederholt worden. Habe man auch aus opportunistischen Gründen diese Anträge nicht voll angenommen, sondern nur,beschlossen, die Militärpflichtigen durch Flugblätter und auf sonstige Weise über ihr Beschwerderecht aufzuklären, so sei doch das

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Essenliale dieser Bestrebungen: die Erregung des Abscheus vor dem Dienst im Heere und des Widerwillens gegen die militärische Dienstzucht. Bisher sei man seitens der Parteileitung mit großer Vorsicht zu Werke gegangen, und selbst das im Herbst vorigen Jahres in 100000 Exemplaren an die Gestellungspflichtigen verteilte Flugblatt würde strafrechtlich auch mit dem geplanten Gesetzentwurf kaum zu fassen sein. Wenn Bebel'' auf den Parteitagen die weitergehenden Anträge seiner Parteigenossen bekämpft habe, so sei dies lediglich deshalb geschehen, weil er der Regierung noch die Kraft zutraue, gegen Angriffe auf die Armee mit Energie einzuschreiten. Die Beschlüsse der Parteitage bedeuteten also nur Vorsicht bei der Agitation, nicht aber ein Aufgeben derselben. Wenn auch gegenwärtig noch kaum Erfolge dieses Vorgehens nachweisbar seien, so müsse man doch damit rechnen, daß die Verhetzung so lange weiterbetrieben werden würde, bis die Führer der Partei den Zeitpunkt für gekommen erachteten, offen und ohne Scheu mit der Propaganda der Tat vorzugehen. Es stehe die Frage zur Entscheidung, ob man mit einer Bekämpfung der sozialdemokratischen Bestrebungen so lange warten solle, bis sie weitere Fortschritte gemacht hätten und in der Armee deutlich Anzeichen sozialistischer Gesinnung hervorgetreten seien, oder ob man nicht vielmehr möglichst bald dem Treiben Einhalt gebieten solle. Wenn auch die Armee bisher von Exzessen und Meutereien freigeblieben sei, so habe sich doch in den letzten Monaten bereits in verschiedenen — von dem Herrn Minister mitgeteilten — Fällen ein gewisses Nachlassen guter soldatischer Eigenschaften gezeigt. Unter diesen Umständen müsse man sich fragen, ob man nicht im Wege gesetzgeberischen Vorgehens weiteren Vorkommnissen vorbeugen solle, und er sei geneigt, diese Frage zu bejahen. Auch in bürgerlichen Kreisen werde vielfach die Ergreifung von Abwehrmaßregeln gegen diese Minierarbeit der Sozialdemokraten erwartet, und andere Länder, so u. a. die republikanische Schweiz, hätten bereits gesetzliche Maßnahmen ergriffen. Beweise die Staatsregierung durch ihr Vorgehen nicht, daß sie eine Aufhetzung gegen die Armee nicht dulde, so gehe allmählich das Gefühl verloren, daß die Verteidigung des Vaterlandes die erste und köstlichste Pflicht des Mannes sei. Er verkenne nicht, daß sich gegen eine derartige Gesetzesvorlage eine heftige Opposition erheben werde, aber sei der Überzeugung, daß der Regierung bei ihrem Vorgehen auch viele Stimmen beipflichten würden. Er schlage deshalb vor, zunächst die Frage zu erörtern, ob ein Abwehrgesetz einzubringen sei. Der Herr Minister des Innern stimmte dem Herrn Kriegsminister bei und betonte, daß in weiten Kreisen der Bevölkerung von den verbündeten Regierungen ein energisches Vorgehen gegen die antimilitaristischen Bestrebungen der Sozialdemokratie erwartet würde. Eine gewisse Beunruhigung werde nicht ausbleiben, aber er könne die Bedenken und Befürchtungen des Herrn .Justizministers nicht in vollem Umfange teilen. Je energischer die Regierungen die Angriffe auf das Heer abwehrten, um so besser würden sie im Reichstag über die sonstigen dort bestehenden Mißstimmungen hinwegkommen. Nach dem Entwürfe eines Gesetzes über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine sollten Mitglieder dieser Vereine alle Personen über 16 Jahre werden dürfen. Diese Vorschriften werden es schwer machen, bei einer Revision des preußischen Vereins- und Versammlungsrechtes, für die von ihm Vorarbeiten gemacht würden, die Minderjährigen von den Vereinen und Versammlungen auszuschließen. Dränge hiernach die Entwicklung dahin, die allgemeine Bewegungsfreiheit jugendlicher Personen zu erweitern, so sei es auf der anderen Seite dringend geboten, die Jugend vor der antimilitaristischen Verführung zu schützen. Aus diesen Gründen spreche er sich für ein gesetzgeberisches Vorgehen aus. Beschreite man diesen Weg, so müsse das Gesetz ein wirksames Sein und seinen Zweck er-

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reichen. Es müsse seitens der verbündeten Regierungen vom Reichstag gefordert werden, was sie zu einer erfolgreichen Bekämpfung der Agitation für notwendig erachteten. Aus dieser Erwägung habe er seiner Vorlage eine schärfere Fassung gegeben wie der Herr Kriegsminister und der Herr Justizminister den ihrigen, die er für nicht genügend wirksam halte. Der Herr Minister ging sodann näher auf die Entwürfe ein und legte einerseits die Gründe, welche ihn bei der Formulierung seiner Vorlage geleitet hätten, und andererseits die Bedenken dar, welche gegen die Fassung der beiden anderen Entwürfe obwalteten. Da eine Feststellung des Wortlauts bei den vorhandenen Meinungsverschiedenheiten in der heutigen Sitzung sich nicht ermöglichen lassen werde, mache er den Vorschlag, daß die Chefs der beteiligten Ressorts demnächst persönlich mit ihren Kommissarien zu einer Besprechung zusammentreten möchten, um eine Vereinbarung über die Formulierung der Vorlage zu erzielen. Herr Staatsminister von Tirpilzs wies darauf hin, daß eine gewisse Wirkung der sozialdemokratischen Verhetzung sich bei Soldaten und Reservisten, insbesondere solchen, die aus industriellen Gegenden stammten, ebenso wie ein Nachlassen soldatischer Gesinnungen auch in der Marine bereits bemerkbar mache. Er halte deshalb ein gesetzgeberisches Vorgehen für geboten und sei ebenfalls der Ansicht, daß ein solches in weiten Kreisen der Bevölkerung gebilligt werden würde. Allerdings sei es zweifelhaft, ob der Reichstag einem solchen Gesetz zustimmen werde. Verhalte sich dieser, wie er annehmen zu sollen glaube, ablehnend, so entstehe für die Reichsregierung die Frage, ob sie die Ablehnung hinnehmen könne. Verneine man sie, so werde die Auflösung des Reichstags in Erwägung gezogen werden müssen. Dabei werde der taktische Gesichtspunkt zu prüfen sein, ob ein vorzeitiges Sterben demselben für die Regierung opportun wäre. Rechne man damit, daß auf die jetzigen günstigen wirtschaftlichen Verhältnisse ein Rückschlag eintreten und dieser zeitlich mit dem Ablauf der Legislaturperiode zusammenfallen werde, so würde die Opposition bei den Neuwahlen durch die alsdann zahlreich vorhandenen mißvergnügten Elemente verstärkt werden. Dieser Umstand spreche vielleicht dafür, den Reichstag schon vorzeitig aufzulösen. Wenn man sich zu legislativen Maßnahmen entschließe, so müsse auch nach seiner Ansicht das Gesetz eine wirksame Fassung erhalten, so daß es seinen Zweck erreiche. Es würde dann auch eine bessere Handhabe bieten, die Auflösung des Reichstages herbeizuführen; werde letztere nicht für opportun gehalten, so werde man sich immer noch auf die mildere Formulierung des Herrn Justizministers zurückziehen können. Herr Staatsminister Graf von Posadowsky9 bemerkte, wie in der Diskussion mehrfach auf die Verminderung des Pflichtbewußtseins und der patriotischen Gesinnung der zum Heere Ausgehobenen hingewiesen worden sei. Leider beschränkten sich diese Erfahrungen nicht auf die unteren Volksschichten, sondern machten sich auch in anderen Kreisen bemerkbar, und die Presse, und nicht allein die sozialdemokratische, wirke auch hier verderblich. Trotzdem die äußerste Notwendigkeit dargelegt worden sei, das Reich durch Aufbringung neuer Steuern auf eine gesicherte finanzielle Basis zu stellen, habe man sich nicht gescheut, die Bevölkerung zu leidenschaftlicher Opposition aufzureizen, obgleich für die Befriedigung des persönlichen Luxus ungezählte Summen hingegeben würden. Die Veröffentlichung der Hohenloheschen Denkwürdigkeiten 1 0 sei zu maßlosen Angriffen gegen die Staatsregierung ausgebeutet worden. In dem Köpenicker Fall 1 1 werde ein alter Zuchthäusler von der bürgerlichen Presse in allen Tonarten gefeiert. Es sei ein Zustand der Perversität, der nicht

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nur auf der sozialdemokratischen Agitation, sondern auch auf dem Verhalten anderer Kreise beruhe. Er sei mit dem Herrn Staatsminister von Tirpitz darin einverstanden, daß die Reichsregierung, wenn sie der Ansicht sei, daß das wichtigste Instrument staatlicher Macht, die Armee, in Gefahr sei, auch mit aller Energie die Konsequenzen hieraus ziehen müsse. Der Entwurf des Herrn Ministers des Innern, der die Strafbarkeit einer Handlung an ganz positive Tatsachen knüpfe und sich nicht als ein gegen die Sozialdemokratie allein gerichtetes Ausnahmegesetz charakterisiere, schiene ihm den Vorzug vor den beiden anderen Vorlagen zu verdienen und sei vielleicht im Reichstag durchzubringen. Er biete auch die Möglichkeit, gegen die Vergiftung des Volkes, wie sie von Blättern wie der „Simplizissimus" systematisch betrieben werde und auch auf die Jugend verderblich wirke, einzuschreiten. Lege man den Entwurf vor, so sei auch nach seiner Ansicht die Reichsregierung mit ihm auf Gedeih und Verderb verbunden und dürfe eine Ablehnung nicht hinnehmen. Der Herr Redner ging sodann auf eine Erörterung der parlamentarischen Situation, wie sie sich nach Wiederzusammentritt des Reichstages gestalten würde, ein und brachte insbesondere den bereits von dem Herrn Minister des Innern erwähnten Gesetzentwurf über die gewerblichen Berufsvereine zur Sprache, der vom Staatsministerium und Bundesrat bereits genehmigt und dem Reichstag in der Thronrede in Aussicht gestellt worden sei. Seine Einbringung werde nunmehr zu erfolgen haben, wobei er gegenüber den mehrfach gegen die Vorlage vorgebrachten Bedenken, daß sie den Einfluß der Sozialdemokratie stärken werde, bemerke, daß er diese Ansicht nicht, teile, vielmehr annehme, daß die Sozialdemokratie von dem Gesetz, das die Vereinsorganisationen unter eine stärkere Aufsicht bringe, voraussichtlich nicht viel Gebrauch machen würde; dagegen werde es den christlichen Gewerkschaften einen festeren Rückhalt geben. Wenn ferner jugendlichen Personen über 16 Jahre die Mitgliedschaft gestattet sei, so werde diese auf wohlerwogenen Gründen beruhende Vorschrift einer anderen Behandlung der Minderjährigen in dem geplanten preußischen Vereinsgesetz keineswegs präjudizieren. Der Herr Staatssekretär des Reichsjustizamtes 12 hielt die Annahme eines gegen die antimilitaristischen Bestrebungen gerichteten Gesetzes im Reichstag nicht für aussichtslos, wenn dasselbe sich in vorsichtigen Grenzen bewege und seitens der verbündeten Regierungen den Wünschen des Parlaments auf dem Gebiet der Änderung der Strafprozeßordnung Entgegenkommen gezeigt würde. In der Umsturzvorlage von 1895 habe sich bereits eine auf den Schutz des Heeres und der Marine gerichtete Strafbestimmung befunden, mit der sich der damalige Kriegsminister von Bronsarta einverstanden erklärt habe, und sie sei nur gefallen, weil das ganze Gesetz schließlich abgelehnt worden sei. Die Vorlage könne, wenn man bei ihrer Fassung nicht mit großer Vorsicht verfahre, ein gefährlicher Agitationsstoff für die Neuwahlen werden, und es sei jedenfalls zu empfehlen, vor ihrer Einbringung mit den Parteien im Reichstag Fühlung zu nehmen. E r trete ferner der Ansicht bei, daß die Reichsregierung die Vorlage, wenn sie sich einmal zu ihrer Einbringung entschlossen habe, nicht fallen lassen dürfe. Entweder müsse sie ihre Annahme durchsetzen oder den Reichstag auflösen. Darin liege der Schwerpunkt der Entscheidung. Den Entwurf des Herrn Ministers des Innern halte er für nahezu aussichtslos und die weite Fassung desselben nicht für annehmbar, wenn man auch die Tendenz derselben billige. Er empfehle dringend, die Entschließung des Staatsministeriums zu vertagen, bis über die Formulierung des Entwurfs im Wege nochmaliger kommissarischer Beratungen zwischen den beteiligten Ressorts in Anwesenheit der Chefs derselben Einverständnis erzielt worden sei.

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Der Herr F i n a n z m i n i s t e r ä u ß e r t sicli zunächst über die Frage der Einbringung des Gesetzentwurfs über die gewerblichen Berufsvereine und regte eine nochmalige Beratung desselben im Staatsministerium an, nachdem sich die Verhältnisse durch die Verhandlungen auf dem letzten Parteitag in Mannheim in der Richtung einer engeren Verbindung der Gewerkschaften mit der sozialdemokratischen Partei geändert hätten. In weiten Kreisen verlange man ein energisches Vorgehen gegen den durch die Sozialdemokratie geübten Terrorismus. Dieser Stimmung gegenüber sei es bedenklich, allein den Entwurf über die Berufsvereine zu bringen, der von der Sozialdemokratie, wie er im Gegensatz zu dem Herrn Staatssekretär des Innern befürchte, zur Förderung ihrer Zwecke ausgenutzt werden würde. Wenn für die Vorlage geltend gemacht werde, daß sie zur Stärkung der christlichen Gewerkschaften gegenüber den sozialdemokratischen Organisationen beitragen solle, so weise er darauf hin, daß die politische Haltung der ersteren sich in den jüngsten Lohnbewegungen wenig von der der letzteren unterschieden habe. Aus diesen Gründen halte er eine wiederholte Prüfung des Entwurfs im Staatsministerium vor seiner Einbringung im Reichstag für geboten. Was den Gesetzentwurf gegen die antimililaristischen Bestrebungen anbetreffe, so stimme er der Ansicht zu, daß er eine erfolgreiche Waffe in der Bekämpfung derselben bieten müsse. Der Vorschlag des Herrn Justizministers erscheine ihm nicht wirksam genug, während die von dem Herrn Minister des Innern gewählte Fassung allerdings heftigen Widerstand im Parlament finden werde. Er halte es deshalb in Übereinstimmung mit dem bereits von anderer Seite gemachten Vorschlag für richtig, eine zweckentsprechende Formulierung im Wege erneuter Beratung zu vereinbaren. Vor Einbringung der Vorlage würde dann mit den maßgebenden Parteien Fühlung zu nehmen sein, um festzustellen* ob Aussicht auf Annahme derselben vorhanden sei. Die Staatsregierung würde übrigens dem verhetzenden Treiben der Sozialdemokratie und ihrer Presse nicht so wehrlos gegenüberstehen, wenn die Gerichte die bestehenden Strafvorschriften straffer handhabten. Er wisse wohl, daß dem Herrn Justizminister kein Einfluß auf die Rechtsprechung der Gerichte zustände, aber er sei in der Lage, eine Einwirkung auf die Zusammensetzung der Strafkammern auszuüben. Gegenwärtig würden die befähigtsten Elemente den Zivilkammern zugeteilt, die minder tüchtigen den Strafkammern überwiesen und die abständigsten mit der Ausübung der freiwilligen Gerichtsbarkeit betraut. Er richte an den Herrn Justizminister die Frage; ob es sich nicht ermöglichen lasse, frische und energische Kräfte in die Strafkammern zu bringen. Herr Staatsminister Graf on Posadowshy glaubt einer erneuten Beratung des Gesetzentwurfs über die Berufsvereine im Staatsministerium widersprechen zu müssen. Nicht nur vom Reichstag sei das Verlangen nach gesetzlicher Regelung der rechtlichen Stellung der Berufsvereine seit Jahren mit immer wachsender Mehrheit gestellt worden, sondern auch Seine Majestät der Kaiser habe wiederholt, zuletzt in seiner Neujahrsansprache im Jahre 1903, den Wunsch ausgesprochen, daß den Arbeitern die bereits in Seiner Botschaft vom 4. Februar 1890 zugesagte Schaffung einer geordneten Vertretung ihrer Interessen gewährt werden möge. Diesen Anregungen entsprechend sei dann der Gesetzentwurf ausgearbeitet und im Staatsministerium wie im Bundesrat angenommen worden. Die Haltung der christlichen Arbeitervereine werde allerdings von der Großindustrie bemängelt, weil sie im Lohnkampf die Forderungen nach Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft vertreten hätten, aber es sei nicht gerechtfertigt, sie dieserhalb den sozialdemokratischen Organisationen gleichzustellen, da sie doch die Grundlage der bestehenden

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Staats- und Gesellschaftsordnung nicht verleugneten. Es sei Aufgabe der Regierungen, jeden Keim von Organisationen, die nicht der sozialdemokratischen F ü h r e r s c h a f t bedingungslos folgten, zu stärken u n d ihren berechtigten W ü n s c h e n entgegenzukommen-. Erfülle sie diese nicht, so erwecke sie bei diesen Arbeitervereinigungen E n t t ä u s c h u n g und Mißstimmung u n d triebe sie d a d u r c h der Sozialdemokratie in die Arme. Der Herr Minister ging sodann auf einige Bestimmungen des Gesetzes ein, welche wirksame Kautelen gegen einen Mißbrauch der den Arbeiterorganisationen gewährten Rechte d u r c h die Sozialdemokratie bieten u n d eine bessere staatliche Aufsicht über die Berufsvereine, als sie bisher bestanden habe, gewährleisten würden, u n d betonte nochmals, d a ß er die Einbringung der von der Mehrzahl der Parteien geforderten Vorlage f ü r dringend geboten erachte, d a anderenfalls der H e r r Reichskanzler dem P a r l a m e n t e gegenüber in die schwierigste Lage k o m m e n würde. Der H e r r Handelsminister 1 5 ä u ß e r t e sich dahin, d a ß m a n hinsichtlich der Organisation der Berufsvereine auf G r u n d der zwischenzeitlichen E r f a h r u n g e n vielleicht zu einer Modifikation des Vorgehens h ä t t e gelangen können. N a c h d e m aber einmal die alsbaldige Einbringung des Gesetzes seitens der v e r b ü n d e t e n Regierungen zugesagt worden sei u n d die Presse der meisten Parteien die Sache wieder aufgenommen habe u n d auf eine Erfüllung der Zusage dränge, werde m a n die Vorlage des Gesetzes nicht m e h r dilatorisch behandeln können; Seiner Ansicht nach werde die Sozialdemokratie von dem Gesetz n u r wenig Gebrauch machen, da sie ihren als nicht eingetragene Vereine organisierten Vereinigungen; wie sie h e u t e beständen, größere Bewegungsfreiheit behalte u n d sich den Kontrollvorschrift e n des Gesetzes nicht werde fügen wollen. E r s t i m m t e d e m H e r r n Finanzminister darin bei; d a ß die christlichen Arbeitervereine in der Lohnbewegung einen s t a r k agitatorischen Charakter gezeigt h ä t t e n , doch seien sie demungeachtet grundsätzlich anders zu behandeln als die sozialdemokratischen Gewerkschaften, da m a n b e s t r e b t sein müsse, sie von den Sozialdemokraten zu trennen u n d ein Verhalten zu vermeiden, das sie auf diese zurückwerfen müsse. Im übrigen müsse m a n bei den katholischen bzw; christlichen Arbeitervereinigungen unterscheiden die interkonfessionellen, aber nicht katholisch g e f ü h r t e n christlichen Gewerkschaften u n d die konfessionellen katholischen Fachabteilungen. W ä h r e n d die ersteren von dem Arbeiterstande e n t s t a m m e n d e n Agitatoren geleitet würden, demokratische F ä r b u n g z.eigten u n d in ihren Forderungen u n d in ihrer Agitationsweise den Sozialdemokraten nicht viel nachgäben, v e r t r ä t e n die letzteren, meist u n t e r geistlicher Leitung stehend, eine gemäßigte Richtung. Das treffe insbesondere bei den v o m Kaplan Dasbach g e f ü h r t e n Fachabteilungen des Saarreviers zu. Seines E r a c h t e n s würden übrigens die Bedenken gegen den Gesetzentwurf zu hoch bewertet, u n d es sei a n z u n e h m e n , d a ß die in ihm e n t h a l t e n e n Kautelen gegen einen Mißbrauch der den Berufsvereinen gewährten Rechte ausreichen würden. W a s den Gesetzentwurf zur Abwehr der gegen die Armee gerichteten Bestrebungen anbetreffe, so werde m a n sich die politischen Konsequenzen desselben vor seiner Einbringung völlig klarmachen müssen. Es sei ihm sehr fraglich, ob gerade dies Gesetz geeignet sei, gegebenenfalls die Auflösung des Reichstags herbeizuführen. Auch er empfehle nochmaligte B e r a t u n g des E n t w u r f s , wobei keine zu weite Fassung zu wählen sein werde, u n d alsdann zunächst Verhandlungen m i t den F ü h r e r n der Parteien, möglichst in Verbindung mit der Besprechung anderer Vorlagen der Reichsregierung. Der Herr K u l t u s m i n i s t e r 1 6 e m p f a h l auch seinerseits im Hinblick auf die innerhalb der beteiligten Ressorts bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die Formulierung d