Ideologie, Literatur, Kritik: Französische Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie [Reprint 2021 ed.] 9783112472002, 9783112471999


144 30 85MB

German Pages 416 [408] Year 1978

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Ideologie, Literatur, Kritik: Französische Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie [Reprint 2021 ed.]
 9783112472002, 9783112471999

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Ideologie — Literatur — Kritik

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Ideologie - Literatur Kritik Französische Beiträge %ur marxistischen Literaturtheorie Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von

Karlheinz Barck und Brigitte Burmeister

Akademie-Verlag • Berlin 1977

Aus dem Französischen übersetzt von Karlheinz Barck Brigitte Burmeister Ute Harz Dagmar Klein Werner Nitsch Eckart Richter Elin Sanders Irene Seile Johanna Wördemann Vincent von Wroblewsky

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/356/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz« 445 Gräfenhainichen/DDR • 4771 Bestellnummer: 752 997 2 (2150/43) • LSV 8051 Printed in GDR DDR 1 3 - M

Inhalt

Einleitung

7

1. Roland Leroy 25 Jahre „Nouvelle Critique". Kultur, sozialer Fortschritt und Demokratie gehen historisch Hand in Hand

69

2. Gerard Belloin Opfer des gleichen Systems

89

Probleme marxistischer Literaturtheorie in Frankreich und Wege %u ihrer Lösung 3. André Gisselbrecht Marxismus und Literaturtheorie

103

4. Christine Glucksmann Über die Beziehung von Literatur und Ideologien . .

115

5. Claude Prévost Literatur und Ideologie. Vorschläge für eine theoretische Überlegung

130

6. Pierre Macherey Lenin als Kritiker Tolstois

152 5

7. Louis Althusser Das „Piccolo", Bertolazzi und Brecht. Bemerkungen über materialistisches Theater 8. Catherine

187

B.-Clement

Freud und die künstlerische Praxis 9. Elisabeth Roudinesco Katharsis, Verfremdung, Identifizierung Aspekte

209 . . . . .

221

der Realismustheorie

10. Louis Aragon Das Ende der „Wirklichen Welt"

237

11. Pierre Barberis Bausteine für eine marxistische Lektüre des literarischen Faktes

249

12. ]ean Thibaudeau Lukäcs, „Der historische Roman" und Flaubert . .

267

Der Klassencharakter der

'Literaturvermittlung

13. France Vernier Affirmative Funktionsweise und Funktionsveränderung in der Literatur

301

14. Roger Fayolle Über die Herkunft unserer literarischen Ansichten. Zur Problematik des Literaturunterrichts in Frankreich

335

Anhang Zu diesem Band

343

Anmerkungen

344

Zu den Autoren

403

Personenregister

407 6

Einleitung

In Frankreich hat sich in den letzten fünfzehn Jahren auf dem Gebiet der Literaturtheorie und -kritik eine Entwicklung vollzogen, die mit zum Teil richtungweisenden Impulsen auch auf andere Länder gewirkt hat. Dabei fanden freilich die in einem kollektiven Prozeß der Auseinandersetzung erreichten Positionen m a r x i s t i s c h e r Literaturtheorie und -kritik a u ß e r h a l b Frankreichs bislang nur ungenügende Beachtung; wurden sie doch durch den zuweilen spektakulären Charakter der internationalen Diskussion um den Nouveau roman, die Nouvelle Critique oder den Strukturalismus beschattet. 1 Die französischen Beiträge zur Theorie der marxistischen Literaturbetrachtung sind für uns von besonderem Interesse. Sie haben sich in der Konfrontation mit den genannten und anderen Richtungen entwickelt und dabei neue Wege beschritten. Nimmt man die zentrale Rolle der Kritik in den französischen Debatten beim Wort und erinnert daran, daß Kritik heißt, etwas in die Krise bringen, dann ließe sich sagen, daß die Krisenpunkte in der Diskussion um eine Neue Kritik und um den Strukturalismus in den Problemstellungen und Neuansätzen dieser marxistischen Theoriebildung markiert und aufgehoben sind. Das wichtigste Kennzeichen in den marxistischen Stellungnahmen zur gegenwärtigen Problematik der Literaturtheorie ist jedoch ihre Verbindung mit einer politischen Problematik, die sich auf neue und dringliche Weise in der gegenwärtigen Situation der Klassauseinandersetzung für alle marxistischen Gesellschaftswissenschaften stellt. Der Auswahl der Beiträge haben wir einen auf diesen politischen und theoretischen Kontext bezogenen Gesichtspunkt zugrunde gelegt: das Problem, auf welche Weise in einer spezifi7

sehen Situation der ideologischen Auseinandersetzung Gegenstand und Status marxistischer Literaturtheorie selbst neu reflektiert und (unter Einbeziehung ihrer eigenen Geschichte) präzisiert werden. Durch diese Problemstellung in den einzelnen Beiträgen gewinnt der Sammelband seinen inneren Zusammenhang wie andererseits seinen Bezug zu Literaturgeschichte und -kritik. Wenn sich heute die marxistische Literaturtheorie mit dem Argument (oft auch dem Einwand) auseinandersetzen muß, sie könne (wolle sie keine normativen Rezepte verkünden) sich eigentlich nur im Nachhinein der literarischen Produktion entfalten, die sie bestenfalls zu interpretieren in der Lage sei, dann sind Versuche von besonderem Interesse, die diesem Einwand auf dialektische Weise begegnen. Wir sehen die Aufgabe marxistischer Literaturtheorie darin, die Gegenstandsbestimmung der Literaturgeschichte und -kritik ständig zu orientieren und die dabei auftretenden, aus der literaturgeschichtlichen u n d der gegenwärtigen literarischen Praxis erwachsenden Probleme zu f o r m u l i e r e n . In dieser Hinsicht hat die marxistische Literaturtheorie in jüngster Zeit das allgemeine Problem gestellt, die geschichtlich-gesellschaftliche Determination aller Literatur unter f u n k t i o n a l e m Gesichtspunkt neu zu durchdenken. Literatur im Zusammenhang von Produktion und Rezeption als eine besondere gesellschaftliche Praxis zu verstehen heißt, die permanente Veränderung ihres Begriffs und damit des Gegenstandes der Literaturwissenschaft in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses zu stellen. Insofern verweisen alle Beiträge dieses Bandes immer auch auf die literaturgeschichtliche und literaturkritische Praxis zurück. Dieser Bezug manifestiert sich auch darin, daß die Autoren, kommunistische Intellektuelle verschiedener Disziplinen, mit ihren Beiträgen auf eigenen literaturgeschichtlichen und literaturkritischen Arbeiten aufbauen. Einbezogen wurden von uns auch Texte von Autoren, die keine Literaturwissenschaftler sind, die aber mit ihren Beiträgen in diesem Band Nahtstellen der Beziehungen der Literaturwissenschaft zu anderen Wissenschaftsdisziplinen und Theoriebereichen (z. B. zur Linguistik, zur Philosophie in der Widerspiegelungsfrage, zur Psychoanalyse) kenntlich machen und gleichzeitig erkennen lassen, daß diese - heute mehr denn je - notwendige Beziehung 8

für die Literaturwissenschaft nur dann produktiv wird, wenn sie die Spezifik ihres eigenen Gegenstandes genau bestimmt. Unsere Auswahl impliziert eine doppelte Beschränkung. Sie umfaßt nur ausdrücklich theoretisch orientierte Texte. Der gewichtige Beitrag marxistischer Literaturgeschichtsschreibung in Frankreich wird hier nicht berücksichtigt. Ferner ist nicht beabsichtigt, das g e s a m t e Spektrum marxistischer Literaturtheorie in Frankreich vorzustellen. Dies würde eine historische Aufarbeitung voraussetzen, die gegenwärtig auch in Frankreich eine noch zu lösende Aufgabe ist. Diese in thematische Komplexe gegliederte Auswahl will dem Leser einen ersten Einblick in einen unabgeschlossenen Prozeß der theoretischen Arbeit ermöglichen, der hier in einem synchronen Schnitt dokumentiert wird - in einen Prozeß, der durch die Entwicklung der Klassenkämpfe in Frankreich, durch die Politik der Kommunistischen Partei und durch den Meinungsstreit unter Marxisten entscheidende Impulse erhalten hat. Obwohl zum größten Teil Anfang der siebziger Jahre verfaßt, sind die Beiträge des Bandes Ergebnis und Ausdruck politischer und ideologischer Veränderungen, die sich im Laufe der sechziger Jahre vollzogen haben.

Aspekte der gegenwärtigen Kulturkrise in Frankreich Der Charakter der Klassenkämpfe wird auch in Frankreich heute durch den globalen Charakter der Krise des staatsmonopolistischen Kapitalismus bestimmt, die alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich des kulturellen Bereichs, erfaßt hat. Der Ursprung dieser Krise liegt in dem „Uberschuß der Kapitalakkumulation durch die großen kapitalistischen Gruppen. Diese äußerst tiefgreifende ,Uberakkumulation' bremst den Fortschritt der Arbeitsproduktivität. Sie ruft beschleunigte Preissteigerungen hervor, um die Profitraten der kolossalen Kapitalien zu erhöhen. In ihr schlagen sich die neuen Tendenzen zur Überproduktion und zu wachsender Arbeitslosigkeit nieder. Die Kaufkraft der Massen kann in der Tat mit dem aufgeblähten Preisniveau der Produkte nicht Schritt halten. Die Auswirkungen der Überproduktion auf die 9

Investitionen, vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen, verschlimmert die Arbeitslosigkeit, ohne daß die Monopolgruppen aufhören, die Überakkumulation weiter voranzutreiben."1*1 Mit dieser Krise hat sich zugleich der Grundwiderspruch des Kapitalismus, der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital verschärft. Das drückt sich z. B. in der beständig wachsenden Zahl der Lohnabhängigen aus. Sie ist in Frankreich von 1954-1974 von 60 Prozent auf 80 Prozent, das heißt um 6 Millionen gestiegen und umfaßt heute 18 Millionen Menschen2. Gegenwärtig (1975) gibt es in Frankreich 1 400 000 Arbeitslose, darunter zahllose Intellektuelle, die Studenten nicht eingerechnet, die sich, vor allem in den gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen, als chomeurs en sursis (Arbeitslose auf Abruf) bezeichnen und in der Tat niemals wissen, ob sie nach abgeschlossenem Studium einen Arbeitsplatz finden werden. Mit dieser Entwicklung, die zur massenhaften Proletarisierung - auch intellektueller Schichten - führt, wächst die Rolle der Arbeiterklasse als Motor des revolutionären Prozesses und damit die objektive Basis für ein breites Bündnis aller arbeitenden Schichten der französischen Bevölkerung. Der Ausbau und die ständige Festigung dieses Bündnisses stehen daher im Zentrum der Politik der FKP als der organisierten Avantgarde der fanzösischen Abeiterklasse. Die Bündnispolitik der FKP drückt sich in der auf ihrem XXI. Außerordentlichen Parteitag (24.-27. 10. 1974) begründeten Losung aus: „Für die Union des französischen Volkes, für eine demokratische Veränderung." „Frankreich ist nicht in zwei Hälften geteilt, deren Interessen diametral entgegengesetzt wären", hieß es in der Entschließung dieses Parteitages der FKP. „Die Trennungslinie verläuft zwischen der kleinen Clique, die den Staat und die Ökonomie beherrscht, auf der einen, und der großen Masse der Franzosen, die von ihrer Arbeit leben und dem Land dienen, auf der anderen Seite. Diese Franzosen können sich einigen, weil sie heute ein wesentliches gemeinsames Interesse haben: das Joch des Großkapitals abzuschütteln, um Frankreich aus festgefahrenen Gleisen herauszuführen, um besser leben und in Sicherheit und Frieden arbeiten zu können." 3 Da die FKP in ihrer marxistischen Analyse der gegen10

wärtigen Krisensituation von dem Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital ausgeht, besteht für sie das Zentrum der Klassenkämpfe im Kampf zwischen der Kapitalistenklasse einerseits und der Arbeiterklasse andererseits. „Deshalb ist die Arbeiterklasse der Motor der Union", 4 die als eine „große nationale Volksbewegung" zur organisierenden Kraft eines stufenweisen Übergangs zum Sozialismus auf dem Wege einer Demokratisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wird. „Die Kommunistische Partei versteht die Union des französischen Volkes als eine große nationale Volksbewegung, die sich auf das Bündnis der verschiedenen Parteien und Organisationen gründet, die an demokratischen Veränderungen interessiert sind. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, mit den Berufsverbänden, den verschiedensten sozialen Organisationen, die alle um das Programm geschart sind, für das sie heute kämpfen, und dessen Verwirklichung morgen die großen sozialen und humanitären Errungenschaften ermöglichen wird. In der Union behält jede Organisation ihre Eigenständigkeit und ihre Unabhängigkeit bei Gegenseitigkeit der Rechte und der Pflichten. Die Kommunistische Partei ist der Meinung, daß die Verschiedenheit der Organisationen und der geistigen Strömungen, die die französische Wirklichkeit kennzeichnen, sich fruchtbar auswirkt, wenn diese Vielfalt in den Dienst der gemeinsamen großen Ziele gestellt wird." 5 D a ß dieses breite Bündnis sich nicht spontan und automatisch herstellt, ist selbstverständlich. Die kapitalistische Krise erzeugt zwar einerseits die objektiven Voraussetzungen für dieses Bündnis, gleichzeitig konzentriert die herrschende Klasse aber auch alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um es zu verhindern und die Kräfte zu spalten. Die Bündnisfrage ist daher heute nicht nur in Frankreich selbst zum Feld verschärfter Klassenkämpfe geworden. Mit besonderem Nachdruck hat die F K P daher seit dem XXI. Außerordentlichen Parteitag dazu aufgerufen, den K a m p f um die Festigung und Sicherung des Bündnisses zu verstärken und das „Eintreten der Massen für die Aktionseinheit" zu organisieren. In diese hier nur angerissenen allgemein politischen Zusammenhänge gehört auch jener Bestandteil der Bündnispolitik der Französischen Kommunistischen Partei, der die Verbindung 11

zwischen Politik und Kultur fundiert: das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz. Die Veränderung der Rolle und des sozialen Status der Intelligenz unter dem staatsmonopolistischen Kapitalismus ist zum Gegenstand einer scharfen ideologischen Auseinandersetzung geworden, die nach wie vor anhält. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage, ob die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer politischen Avantgarde durch die Veränderungen im sozialen Status der Intelligenz und infolge deren Stellung im Produktionsprozeß nicht hinfällig geworden sei. Ob man wie Serge Mallet von einer „neuen Arbeiterklasse" spricht, die sich infolge des Verschwindens des Gegensatzes zwischen manuellen und intellektuellen Arbeitern herausbilde6, oder wie Roger Garaudy von einem „historischen Block", der manuelle und intellektuelle Arbeiter zusammenschweiße7 - in jedem Fall wird mit solchen Konzeptionen, in denen oft die Selbstdarstellung eines Krisenbewußtseins der Intelligenz an die Stelle wissenschaftlicher Analyse tritt, zu begründen versucht, daß die Arbeiterklasse im Verschwinden begriffen sei und daß sich eine Art „Umverteilung der revolutionären Kräfte um die ,Klasse der Intellektuellen'" vollziehe, durch welche dieser eine Führungsrolle im revolutionären Prozeß zufalle. 8 Diese Konzeptionen basieren im allgemeinen auf der These, daß der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital infolge der wissenschaftlich-technischen Revolution von einem anderen, neu entstandenen Grundwiderspruch verdrängt werde: von dem Widerspruch zwischen Wissenschaft und Kapital. Eine solche Bestimmung des Grundwiderspruchs im Kapitalismus widerspricht jedoch allen Tatsachen. Wenn unter den heutigen Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus breite Teile der Intelligenz „revolutionär sind im Hinblick auf ihren bevorstehenden oder bereits vollzogenen Übergang ins Proletariat" 9 , so ist dieser Vorgang nicht Ausdruck eines neuen Grundwiderspruchs, sondern der quantitativen und qualitativen Veränderung der Arbeiterklasse selbst. Der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital erfaßt gegenwärtig soziale Schichten, deren objektive Proletarisierung mit einem einschneidenden ideologischen Umwandlungsprozeß verbunden ist. Dadurch entstehen neue Bedingungen des ideo12

logischen Klassenkampfes, denen die FKP mit ihrer Bündnispolitik Rechnung trägt. Die den Proletarisierungsprozeß der intellektuellen Schichten erzeugende Systemkrise verändert nicht nur deren sozialen Status, sie wirkt zugleich auch auf Inhalt und Gegenstand ihrer Tätigkeit. Die Unterordnung der Kultur unter das kapitalistische Profitstreben hat ein Ausmaß erreicht, das es erlaubt, von einer drohenden Gefahr für den kulturellen Bestand der französischen Gesellschaft zu sprechen. Das französische Kultur- und Bildungswesen befindet sich seit Jahren in einer permanenten Krise. Sie äußert sich nicht allein im Rückgang der für diese Bereiche zur Verfügung gestellten öffentlichen Mittel und damit in steigender Arbeitslosigkeit der in diesem Sektor Tätigen (oder für ihn Ausgebildeten), sondern auch in einer manifesten Bedrohung kultureller und wissenschaftlicher Entwicklung überhaupt (s. Text 1) und in einer sogenannten kulturellen Ségrégation, die den reaktionären Klassencharakter der offiziellen Kultur- und Schulpolitik besonders offen zum Ausdruck bringt. Das französische Schulwesen soll, den letzten Bildungsplänen der Regierung zufolge, nach einem Stufenplan so organisiert werden, daß vom Kindergarten bis zur Universität die der Funktion einer jeden Bildungsstufe entsprechenden genormten Lehr- und Wissensinhalte zur Verfügung stehen und eine kontinuierliche Begabtenauslese erfolgt. Der VI. Plan (1974) ging z. B. davon aus, daß 31,7 Prozent der Schüler als ungelernte Arbeiter ins Berufsleben treten würden, und daß daher auf dieser Bildungsstufe die Schüler nur mit einem entsprechend minimalen Wissen ausgestattet zu werden brauchen. Dieses Selektionsprinzip basiert auf der ausdrücklichen, demagogischen Leugnung der sozialen Ursachen unterschiedlicher Leistungen, die einseitig als „Folge der Unterschiedlichkeit von Fähigkeiten, Anstrengungen und Erfolgen" definiert werden. 10 Parallel zum Filtersystem des Bildungswesens vollzieht sich auch auf anderen kulturellen Gebieten eine soziale „Ségrégation", die Trennung der Kultur in verschiedene Sparten für verschiedene „Konsumenten": Der Profit bringenden Massenkultur steht eine höhere Kultur als „Seelenersatz" (supplément d'âme) gegenüber. 13

Indem die „Segregation" die wichtigste Klassenfunktion der Schule im Kapitalismus, nämlich die Reproduktion des bürgerlichen Bildungsmonopols, auf neue Weise sichern soll, ist sie auf der Ebene der Wissensvermittlung mit einem radikalen Abbau kritischen Denkens verbunden, das heißt mit dem Versuch, die Gefahrenzone für den Bestand der bürgerlichen Klassenherrschaft einzudämmen oder überhaupt zu beseitigen. So sieht z. B. die im Rahmen des VII. Plans (1975) von dem Minister für Nationale Erziehung, René Haby, vorgesehene neuerliche Reform des Bildungswesens u. a. vor, den Philosophieunterricht und den Literaturgeschichtsunterricht gänzlich aus dem Lehrprogramm an den Schulen zu streichen. 11 Dieses neue Programm, das auf den scharfen Protest führender Pädagogen und Wissenschaftler gestoßen ist, orientiert auf die Vermittlung eines sogenannten Bagage Culturel Global, das heißt einer Art eiserner kultureller Notstandsration, deren Zweck darin gesehen wird, „vor allem Grundlagen für das Verhalten im täglichen Leben zu vermitteln" 12 . Die hier am Beispiel des Bildungswesens skizzierte, zunehmende Einfunktionierung der kulturellen Bereiche (sie betrifft gleicherweise die Massenmedien - man denke an die Anfang 1975 erfolgte Teilprivatisierung der O.R.T.F. - , das Verlagswesen, die Theater) hat zu Konsequenzen geführt, die für die Entwicklung von alternativen Lösungen, wie sie die F K P im Rahmen ihrer Bündnispolitik vorsieht, bestimmend wurden. So wurde im Verlaufe dieses Krisenprozesses, der sich in Frankreich (wie — unter anderen Voraussetzungen - in allen Ländern des staatsmonopolistischen Kapitalismus) seit den sechziger Jahren über verschiedene Phasen vollzieht, weitgehend die Vorstellung von kultureller Autonomie zerstört. Wie die Klassenfunktion von Literatur heute in den verschiedenen institutionellen Zusammenhängen, vor allem im schulischen Bereich, zutage tritt, wird in den Beiträgen von France Vernier und Roger Fayolle (s. Texte 13 und 14) untersucht. Dabei knüpfen die Autoren an den in Frankreich erreichten Stand marxistischer Theoriebildung in bezug auf die Funktionsweise bürgerlicher Ideologie an. Der marxistische Philosoph Louis Althusser hat in einem Aufsatz über Ideologie und ideologische Staatsapparate (1969/1970) eine theoretische 14

Skizze zur Untersuchung dieser Problematik veröffentlicht, auf die hier kurz eingegangen werden soll, weil Althusser gerade mit diesem Aufsatz eine ganze Richtung neuer Forschungen in den einzelnen Gesellschaftswissenschaften, darunter besonders in der Literaturwissenschaft, angeregt hat. Althusser geht von der marxistischen Erkenntnis aus, daß jede Gesellschaftsformation in ihrer Produktion zugleich ihre Produktionsbedingungen reproduzieren muß, um existieren und fortbestehen zu können. Das heißt, sie muß dafür Sorge tragen, daß die Produktivkräfte u n d die bestehenden Produktionsverhältnisse reproduziert werden. In diesem Reproduktionsprozeß geschieht die Reproduktion der Arbeitskraft über die Sicherung der m a t e r i e l l e n Mittel zur Reproduktion der Arbeitskraft (Lohn) u n d über das System der unterschiedlichen Qualifizierung der Arbeitskraft. Eben diese Reproduktion durch Qualifizierung erfolgt im Kapitalismus „mehr und mehr außerhalb der Produktion durch das kapitalistische Schulsystem und durch andere Instanzen und Institutionen" 13 des Überbaus. Um die Funktion und die Wirkungsweise der verschiedenen Überbaubereiche bei der Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse genauer bestimmen zu können, schlägt Althusser eine Differenzierung des Staatsapparates vor. Einen Gedanken von Gramsci aufgreifend, der im Staat nicht nur den repressiven Staatsapparat sah, sondern zugleich eine Reihe von auf andere Weise fungierenden Institutionen - wie Kirche, Schule, Gewerkschaften spricht Althusser einerseits vom repressiven Staatsapparat (Armee, Polizei, Gerichte, Verwaltung usw.) und andererseits von i d e o l o g i s c h e n S t a a t s a p p a r a t e n (Kirchen, Bildungseinrichtungen, Familie, politische Organisationen, Informationswesen, Kultur u. a.). Die Unterscheidung zwischen ideologischer und repressiver Funktion der Staatsapparate bezeichnet nur die jeweils dominierende Funktionsweise. Sie bedeutet nicht, daß zwischen diesen Formen der Staatsapparate, die ja beide die Reproduktion der Produktionsverhältnisse sichern, eine chinesische Mauer bestünde, das heißt, daß die Institutionen der ideologischen Staatsapparate nicht auch repressive Funktionen übernehmen können und umgekehrt. In den ideologischen Staatsapparaten realisiert die herr15

sehende Klasse ihre ideologische Herrschaft, indem sie die bürgerliche Ideologie sozusagen interessen- und gruppenspezifisch verteilt. Althusser betont, daß in diesen Staatsapparaten ein ständiger und scharfer ideologischer Klassenkampf stattfindet, weil die herrschende Klasse hier immer auch mit dem Widerstand der Gegenkräfte konfrontiert ist. Dieser Gedanke scheint uns wichtig, weil er auf einen wesentlichen Aspekt der gegenwärtigen Funktionsweise bürgerlicher Ideologie verweist. Die Monopolbourgeoisie richtet, wie Roland Leroy schreibt, „eine ganze Skala von Ideologien, die an jedes Milieu, an jede Schicht angepaßt werden, gegen die wissenschaftliche Weltanschauung der revolutionären Arbeiterbewegung"14. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse geschieht, so Althusser, auf dem Wege einer Art Arbeitsteilung zwischen den beiden Formen der Staatsapparate. Innerhalb der ideologischen Staatsapparate kommt dabei im heutigen Kapitalismus der Schule eine Schlüsselstellung zu. „Es gibt gute Gründe dafür, daß das, was die Bourgeoisie hinter dem Spiel ihres politischen ideologischen Staatsapparates, der den Vordergrund der Szene beherrschte, als ihren ideologischen Staatsapparat Nr. 1 aufbaute, das Schulwesen war, das faktisch in seinen Funktionen den früheren dominierenden ideologischen Staatsapparat, nämlich die Kirche, ersetzt hat. Man kann sogar hinzufügen: Das Gespann Schule-Familie hat das Gespann Kirche-Familie ersetzt."15 Die Beschreibung, die Althusser seinerseits von der ideologischen Reproduktionsfunktion der Schule gibt, spiegelt ziemlich genau den Kern der Sache wider. Sie macht zugleich den Zusammenhang zwischen der institutionellen Form bürgerlicher Klassenherrschaft und ihren je verschiedenen ideologischen Inhalten kenntlich, die sich als Varianten einer einheitlichen Grundstruktur der bürgerlichen Ideologie erweisen. Durch diese Betonung des Zusammenhangs von materieller und ideeller Realität wird der Punkt markiert, von dem aus jede marxistische Ideologiekritik sich ihrer politischen Voraussetzung versichern muß. „Die Schule", schreibt Althusser, „nimmt vom Kindergarten an Kinder aller sozialen Klassen auf, und vom Kindergarten angefangen prägt sie ihnen mit neuen wie mit alten Methoden jahrelang - Jahre, in denen das Kind am leichtesten .verwund16

bar' ist, weil eingeklemmt zwischen Staatsapparat Familie und Staatsapparat Schule - .Fähigkeiten' ein, die in herrschender Ideologie verpackt sind (Französisch, Rechnen, Naturkunde, Naturwissenschaften, Literatur), oder aber ganz einfach die herrschende Ideologie im reinen Zustand (Moral, Staatsbürgerkunde, Philosophie). Ungefähr mit sechzehn Jahren ,fällt' eine enorme Masse von Kindern ,in die Produktion', die Arbeiter oder kleinen Bauern. Ein anderer Teil der Schuljugend macht weiter: Und koste es, was es wolle, kommen sie ein Stück weiter, um unterwegs zu fallen und die Posten der unteren und mittleren Kader, der Angestellten, der unteren und mittleren Beamten, von Kleinbürgern jeder Art zu besetzen. Ein letzter Teil erreicht die Gipfel, entweder um in intellektuelle Halbarbeitslosigkeit zu verfallen oder um außer den .Intellektuellen des Gesamtarbeiters' die Träger der Ausbeutung (Kapitalisten, Manager), die Träger der Unterdrückung (Militärs, Polizisten, Politiker, Verwaltungsfachleute usw.) und die Berufsideologen (Priester aller Art, deren Mehrheit überzeugte ,Laien' sind) zu stellen. Jede Gruppe, die unterwegs fällt, ist praktisch mit der Ideologie versehen, die ihrer Rolle in der Klassengesellschaft entspricht: der Rolle des Ausgebeuteten (mit stark .entwickeltem', .professionellem', .moralischem', .staatsbürgerlichem', .nationalem' und unpolitischem Bewußtsein); der Rolle des Trägers der Ausbeutung (Fähigkeit zu befehlen und zu Arbeitern zu sprechen: der .menschlichen Beziehungen'), der Rolle der Träger der Unterdrückung (Fähigkeit zu befehlen, sich ,ohne Diskussion' Gehorsam zu verschaffen und mit der Demagogie der Rhetorik von politischen Führern umzugehen), oder der Berufsideologen (fähig, die Gewissen mit dem notwendigen Respekt zu behandeln, das heißt mit Verachtung, Erpressung, Demagogie, angepaßt den Werten der Moral, der Tugend, der .Transzendenz', der Nation, der Rolle Frankreichs in der Welt usw.). Sicherlich, viele von diesen kontrastierenden Tugenden (Bescheidenheit, Resignation, Unterwerfung einerseits; Zynismus, Verachtung, Hochmut, Sicherheit, Größe, ja, Schönrederei und Geschicklichkeit andererseits) lassen sich auch in den Familien, in der Kirche, in der Armee, in Schönen Büchern, in Filmen und selbst auf den Sportplätzen erlernen. Aber kein 2 Burmei6tei/Bafck

17

ideologischer Staatsapparat verfügt so viele Jahre über die obligatorische Zuhörerschaft (die immerhin kostenlos ist . . .) der Gesamtheit der Kinder der kapitalistischen Gesellschaftsformationen - fünf bis sechs Tage pro Woche und acht Stunden am Tag. Gerade durch das Erlernen einiger Fähigkeiten, das stets an eine massive Einhämmerung der Ideologie der herrschenden Klasse gebunden ist, werden zu einem Großteil die P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e einer kapitalistischen Gesellschaftsformation reproduziert, das heißt die Verhältnisse von Ausgebeuteten zu Ausbeutern und Ausbeutern zu Ausgebeuteten. Die Mechanismen, die dieses für das kapitalistische Regime lebensnotwendige Ergebnis produzieren, werden natürlich verdeckt und verschleiert durch eine Ideologie der Schule, die allgemein vorherrscht, weil sie eine der wesentlichen Formen der herrschenden bürgerlichen Ideologie ist: eine Ideologie, die die Schule als ein neutrales Feld darstellt, das ohne Ideologie (weil . . . weltlich) ist, wo Lehrer, die das .Gewissen' und die .Freiheit' der Kinder achten, die ihnen (vertrauensvoll) anvertraut sind durch deren .Eltern' (welche ebenfalls frei sind, das heißt Besitzer ihrer Kinder), sie durch das eigene Vorbild, die Kenntnisse, die Literatur und ihre .befreienden' Tugenden hinführen zur Freiheit, zur Moralität und zur Verantwortlichkeit von Erwachsenen."16 Der Kern des von Althusser unternommenen Versuchs besteht darin, die Kritik der bürgerlichen Ideologie nicht nur auf deren explizite Inhalte, sondern zugleich auf die impliziten Strukturen ihrer Funktionsweise zu lenken. Daß, solange die Klassenherrschaft dauert, die Gedanken der herrschenden Klasse immer zugleich auch das Naturgesetz des geistigen Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft darstellen und repräsentieren, darauf hat Lenin immer wieder die Aufmerksamkeit gelenkt.17 Die Arbeiterklasse ist daher in jedem Augenblick gezwungen, sich mit allen Kampfformen und mit der gesamten Praxis des Klassengegners vertraut zu machen, um den eigenen proletarischen Standpunkt und ihre Klassenziele behaupten und verwirklichen zu können. Unter diesem Gesichtspunkt wurde die Skizze Althussers in Frankreich von vielen Marxisten positiv aufgenommen. Insofern auch, so scheint uns, ist 18

seinem Ausgangspunkt zuzustimmen, als er unterstreicht, daß jede Ideologie als eine gesellschaftliche Erscheinung begriffen werden muß, die sowohl eine materielle institutionelle Existenz hat, als auch auf spezifische Weise Elemente oder Ausschnitte von Wirklichkeit widerspiegelt. In den neuen Bedingungen des ideologischen Klassenkampfes, die Althussers Skizze widerspiegelt und auf die sie die Waffe der Kritik richtet, in der hier sichtbaren Verzahnung des Gegenstandes der Kritik mit dem politischen Kontext der Klassenkämpfe, sehen wir den roten Faden, der sich durch alle in diesem Band vorgestellten Aufsätze zieht. Daß dabei die Diskussion im einzelnen nicht außerhalb der Wissenschaftsentwicklung selbst geführt wird, daß sie vielmehr Bestandteil eines Feldes der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften und anderen Konzeptionen ist, darauf wird weiter unten noch genauer einzugehen sein. Zuvor muß jedoch kurz auf die besondere Situation eingegangen werden, in der sich die Kulturpolitik der FKP seit den sechziger Jahren entwickelt hat, die in den Beiträgen der Autoren nicht nur widergespiegelt, sondern durch sie mit repräsentiert wird.

Argenteuil und die Kulturpolitik der FKP Die von der FKP entwickelte Politik einer demokratischen Alternative, die im Programm der Partei Changer de cap C.Für eine demokratische Regierung der Volkseinheit", 1971) niedergelegt ist, schließt eine ausgearbeitete Kulturpolitik ein.18 In diesem Programm fixierte die FKP ihren Standpunkt zu den Voraussetzungen und Grundlagen des Programme Commun (Juni 1972) der französischen Linksparteien (FKP, SP, Linke Radikale). Es enthält auf kulturpolitischem Gebiet ein aus der Analyse der globalen Krise entwickeltes umfassendes Konzept für die Demokratisierung der Kultur. Die Kulturpolitik der FKP ist in einem materialistischen, umfassenden Kulturbegriff fundiert. „Sie ist nicht nur auf Literatur und Schöne Künste beschränkt. Sie umfaßt die politische Kultur und die Entwicklung des Bürgersinns (was etwas anderes ist 2*

19

als „Staatsbürgerkunde"), die wissenschaftlich-technische Kultur und die schon von der Schule an betriebene Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens gegen das nicht-wissenschaftliche; ferner gehören dazu die Körperkultur (die wiederum die intellektuellen Tätigkeiten fördert - die DDR dient auf diesem Gebiet als Vorbild), die Kenntnis ökonomischer und produktiver Prozesse, die Beziehungen Mensch-Natur (Wohnund Lebensverhältnisse), die Mode und - warum nicht - die Gastronomie. In diesem Zusammenhang sind die Gemeinsamkeiten frappierend, die sich zwischen den oben angeführten Positionen und denen der DDR ergeben, wie sie aus dem Bericht Kurt Hagers über die Kultur auf dem 6. Plenum der SED (Juli 1972) hervorgehen." 19 Diese Kulturpolitik, deren Prinzipien in dem Beitrag von Roland Leroy erörtert werden (s. Text 1), ist eine Politik der Aktion, die von dem Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz auf der Basis ihrer objektiven Interessengleichheit getragen wird. „Die Partei der Arbeiterklasse kann ihren Kampf nicht wissenschaftlich begründet führen, wenn sie den Beitrag der Intellektuellen, kommunistische oder nicht-kommunistische, nicht in Rechnung stellt. Die Umrisse der sozialistischen Zukunft Frankreichs lassen sich nicht bestimmen, ohne die schöpferischen Arbeiten aller Intellektuellen zu integrieren. Die Intellektuellen sind keine sekundären Bündnispartner der Arbeiterklasse. Das Bündnis der Arbeiterklasse und der Intellektuellen ist im heutigen Frankreich genauso wichtig wie das Bündnis der werktätigen Bauernschaft mit der Arbeiterklasse. Die Masse der Intellektuellen kann, ja muß zu einem festen Bestandteil der revolutionären Kräfte werden." 20 Diese Bündnispolitik hat in Frankreich ein Feld der produktiven Konfrontation und Auseinandersetzung geschaffen, das für die Entwicklung der marxistischen Wissenschaften und Kritik bestimmend geworden ist. Die Öffnung der marxistischen Intellektuellen für die Auseinandersetzung bedeutet zugleich eine Bewährung für den Marxismus und seine Anwendung auf den verschiedensten Wissensgebieten. Der französische marxistische Philosoph Jacques Milhau hat die Situation, vor der die Marxisten als streitbare Materialisten stehen, einmal so gekennzeichnet: „Der dialektische und historische 20

Materialismus muß ohne Zeitverlust seine Fähigkeit unter Beweis stellen, alle Strömungen .unter dem Banner des Marxismus' zu vereinen, die tendenziell, obgleich in Widersprüchen, für den Rationalismus gegen den Mystizismus, für die Dialektik gegen die Metaphysik Partei ergreifen. Genauso wie die Arbeiterklasse konkret beweisen muß, daß sie fähig ist, die Grundprobleme der Gesellschaft im Interesse des Volkes zu lösen, indem sie schon jetzt beginnt, die Kämpfe zu führen und um sich breite Schichten des arbeitenden Volkes zu sammeln. Die Führungsrolle muß erworben werden, in der Theorie wie in der Praxis [. . .] Vom politischen Standpunkt würde ein Einschließen in das ideologische Ghetto bedeuten, die Arbeiterklasse in einem Augenblick zu isolieren, wo die Bedingungen für die Einheit der Volkskräfte und für das aktive Eingreifen des Marxismus auf philosophischem Gebiet heranreifen." 21 Die hier benannte Herausforderung an die Marxisten auf dem Gebiet der Theorie und Wissenschaft, denen ja im Kampf um das Bündnis mit breiten Schichten der Intelligenz die führende Rolle zufällt, ihre Aufgabe, für die Auseinandersetzung eine gesicherte theoretische Grundlage zu schaffen, sind selbst das Ergebnis eines Prozesses, der ein wichtiges Kapitel der jüngsten Geschichte der Kulturpolitik der FKP darstellt. In dieser Geschichte markiert die Tagung des ZK der FKP, die im März 1966 in Argenteuil stattfand, einen Einschnitt. Auf dieser ZK-Tagung über ideologische und kulturelle Probleme, der ein vorher in der Partei breit diskutierter Resolutionsentwurf über die Kommunistische Partei, die Intellektuellen und die Kultur zugrunde lag22, fand eine dreitägige Debatte über die unter veränderten Bedingungen des Klassenkampfes zu befolgende Grundlinie der Kulturpolitik der Partei statt. Die Tagung von Argenteuil war indes kein absoluter Neubeginn, sondern die Fortführung einer Kulturpolitik, die in den Kämpfen der französischen Volksfront entwickelt und auf der Tagung des ZK vom Oktober 1936 erstmals umfassend dargestellt worden war. Ausgehend von einem Kulturbegriff, der „die Gesamtheit der produktiven Arbeit des Menschen" umfaßte, betonte Paul Vaillant-Couturier dort die Wichtigkeit des 21

Beitrages der Intelligenz zum Kampf der Arbeiterklasse ebenso wie die Bedeutsamkeit dieses Kampfes für die Standortbestimmung der Intelligenz. Diese Ausführungen griffen weit über ihren unmittelbaren Anlaß, den Kampf um die Weiterführung der Volksfrontpolitik, hinaus, indem sie Grundlagen des Bündnisses von Arbeiterklasse und Intelligenz im Imperialismus zusammenfassend darstellten und dabei besonders das Verständnis der Partei für die Anliegen der Intelligenz, die objektive Gemeinsamkeit demokratischen und sozialistischen, nationalen und internationalistischen, humanistischen und marxistischen Wollens und Handelns betonten: „Die Kommunistische Partei hört die Intellektuellen. Sie versteht sie [. . .] Das ist mehr als ihre Aufgabe, es macht einen Teil ihrer Daseinsberechtigung aus. Die Sorgen der Intellektuellen sind Teil ihres Anliegens, sie klären und vervollständigen es." 23 Es war die auf diesen Grundlagen entwickelte Politik, die die Bedeutung der FKP für die Intelligenz in der Résistance und nach der Befreiung verständlich machte und Grundfragen der marxistischen Theorie einen festen Platz im Denken der progressiven französischen Intelligenz sicherte. „Die ZK-Tagung von Argenteuil war weder ein Beginn sie ist ohne die gesamte Praxis der Partei in der Vergangenheit undenkbar - noch ein Endpunkt, mit dem die Partei ein für allemal ein Dogma fixiert hätte. Die ZK-Tagung von Argenteuil legte eine Linie fest, deren grundsätzliche Gültigkeit weiterbesteht und die zugleich in Abhängigkeit von neuen Fragen, die seither aufgetaucht sind, präzisiert werden muß," schrieb Roland Leroy im Juli 1972.24 Die Partei beschäftigte sich auf dieser Tagung mit theoretischen Fragen, deren Klärung durch die neuen Bedingungen des Klassenkampfes zu Beginn der sechziger Jahre dringlich geworden war. Erwuchs doch aus der politischen Praxis des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz die „Notwendigkeit der theoretischen Bildung und der ständigen Weiterentwicklung der marxistischen Theorie." 25 Man hat die Debatte von Argenteuil als einen Kampf an zwei Fronten bezeichnet26, als einen Kampf gegen den rechten und linken Opportunismus in seinen ideologischen Voraussetzungen und politischen Konsequenzen. Ein Kampf, bei dem 22

es darum ging, die Trennungslinie zwischen der marxistischen Theorie und der bürgerlichen Ideologie in allen ihren Formen zu markieren. Seit ihrem XV. Parteitag (1959) hatte die FKP die Bedingungen für den friedlichen Übergang zum Sozialismus in Frankreich analysiert und ein Aktionsprogramm für die Demokratisierung der französischen Gesellschaft entwickelt. Ein wichtiger Bestandteil dieser nationalen Politik war die Verstärkung der theoretischen Arbeit in der und durch die FKP. Mit der Gründung des Marxistischen Forschungszentrums der FKP, des CERM, im Jahre 1960 und des MauriceThorez-Instituts im Jahre 1964, mit den seit 1960 jährlich von der FKP veranstalteten "Wochen des marxistischen Denkens, erhielt diese Aufgabenstellung auch organisatorische und institutionelle Formen. Gleichzeitig entwickelte sich die theoretische Diskussion unter den französischen Kommunisten damals, an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren, unter den Bedingungen eines verschärften internationalen Klassenkampfes. Dabei spielten einige Folgen des XX. Parteitages der KPdSU innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung und ihre Ausbeutung durch die imperialistischen Kräfte, die in erster Linie gegen die Kommunisten gerichtet war, eine bestimmende Rolle. In Frankreich (wie in anderen Ländern auch) hatte sich seit 1956 innerhalb des Marxismus eine revisionistische Tendenz herausgebildet, die aus einer unspezifischen, wissenschaftlich nicht begründeten Kritik am „Personenkult der Stalin-Epoche" eine Ideologie der „Freiheit" und des „demokratischen Sozialismus" ableitete. „Es ist eine Tatsache, daß die Kritik des .Personenkults* in den auf dem XX. und XXII. Parteitag der KPdSU vorgenommenen bekannten Formen eine sehr tiefgreifende ,Reaktion' bei vielen kommunistischen Intellektuellen in unseren westlichen wie auch in den sozialistischen Ländern zur Folge hatte. Diese .Reaktion' wurde .erlebt', was normal und unvermeidlich ist, als die große Hoffnung auf .Befreiung', als das Versprechen eines großen Wandels in den bis dahin herrschenden Praktiken. Jedoch hat diese .Reaktion' besondere Formen angenommen, zu denen man etwas sagen muß. In breiten Kreisen, und selbst innerhalb der Kommunisti23

sehen Parteien, hat diese Reaktion zu einer nicht anders zu bezeichnenden ,Freiheits'-Ideologie geführt. Was Wunder? Wenn man von den schwierigen Bedingungen a b s t r a h i e r e n kann, in denen die kommunistischen Intellektuellen früher gelebt haben (und ich gestehe zu, daß das nicht einfach ist), so sind sie in ihrer Masse doch .Intellektuelle', das heißt nach Lenin .Kleinbürger'; und zwar Kleinbürger i n i h r e r I d e o l o g i e . Die Kritik an der Periode des .Personenkults', das muß man wissen und den Mut haben, es anzuerkennen, hat auch diese kleinbürgerliche Ideologie freigesetzt', die auf spontane Weise in jedem .Intellektuellen' drinsteckt."27 Eine Bündnispolitik, die die notwendige Korrektur gewisser sektiererischer Tendenzen und die Überwindung eines gewissen theoretischen Rückstandes des Marxismus verlangte, mußte in dieser Situation daher der neuen Gefahr begegnen, den Marxismus pluralistisch aufzulösen und damit dem Klassenkampf der Arbeiterklasse die revolutionäre Spitze abzubrechen. Diese Gefahr war durch die von Roger Garaudy repräsentierte Tendenz deutlich erkennbar geworden. In seinem Referat in Argenteuil Dogmatismus, Pluralismus, Probleme der Religion sowie in dem ein Jahr zuvor erschienenen Buch Vom Anathema zum Diolog28 entwickelte und verteidigte Garaudy eine politische Taktik, die darauf hinauslief, der revolutionären Partei der Arbeiterklasse und ihrer Theorie dadurch den Boden zu entziehen, daß man sie sozusagen als diskutierende Klasse in ein Dauergespräch mit allen möglichen Kräften und Tendenzen verwickelt. Überdies enthielt Garaudys idealistische und humanistische Kritik am Dogmatismus eine fatalistische Perspektive, indem er mit der Behauptung von „einem Vierteljahrhundert geistiger Sklerose des Marxismus" diesen auf einen Nullpunkt zurückwarf. Gegenüber Garaudys Dialogkonzeption markierte Lucien Sève die dialektische Einheit zwischen Bündnispolitik und revolutionärer Prinzipientreue auf theoretischem und praktischem Gebiet. Er konstatierte in den Arbeiten Garaudys eine dreifache Gefahr: erstens „die Tendenz, das Klassenkriterium in der Analyse der verschiedenen philosophischen Richtungen zu verwischen", zweitens „die Tendenz, die Stalinschen Schematisierungen auf eine gleichfalls schematische Weise zu diskutieren", drittens und vor allem „die Tendenz, die Suche nach 24

Gemeinsamkeiten (auf dem Wege des Dialogs) zwischen Marxisten und Nicht-Marxisten - wobei ja die gemeinsame Aktion Ziel sein muß - mit der Suche nach der Konvergenz der Weltanschauungen um ihrer selbst willen zu verwechseln" und damit letzten Endes, gewollt oder ungewollt, Weltanschauungsgegensätze für wichtiger als Klassengegensätze zu nehmen, das heißt, den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus in Frage zu stellen. 29 „Wollte man unsere Prinzipienfestigkeit und unsere kritische Wirksamkeit verwässern, so wäre das der Entwicklung der Einheit nicht dienlich." 30 In Argenteuil ging es darum, die Bündnispolitik der F K P theoretisch zu begründen und damit einen Standpunkt zu fundieren, der - gegenüber anderen weltanschaulichen und ideologischen Positionen - keine den Charakter einer marxistisch-leninistischen Partei in Frage stellenden Kompromisse zuließ. Die Dringlichkeit einer solchen theoretischen Fundierung im Interesse der von der Partei verfolgten Politik war durch die Humanismus-Diskussion, die der Tagung von Argenteuil unmittelbar vorausging, besonders deutlich geworden. 31 Auf theoretischem Gebiet war die Situation unter den französischen Marxisten damals so, „daß eine anthropologische Konzeption des Marxismus unsere Debatten beherrschte; die Anstrengungen um die Wiederherstellung der Theorie waren davon beeinflußt" 32 . Gegen diese anthropologische Auflösung des Marxismus, in der neben den Arbeiten Garaudys auch Sartre eine gewichtige Rolle spielte (seine Kritik der dialektischen Vernunft war 1960 erschienen) wie die französische Lukäcs- und Korsch-Rezeption (1960 erschien die erste französische Übersetzung von Geschichte und Klassenbewußtsein, 1964 Korschs Marxismus und Philosophie), wandte sich seit Beginn der sechziger Jahre Louis Althusser mit seinen philosophischen Arbeiten, in denen er Probleme der materialistischen Dialektik und damit das Verhältnis des Marxismus-Leninismus zum Hegeischen Erbe behandelte. Althusser betonte vor allem die entscheidende Rolle der theoretischen Arbeit für die politische Praxis einer revolutionären Kommunistischen Partei. Die philosophischen Implikationen der von Althusser ausgelösten, in Frankreich nach wie vor weitergeführten Diskussion können hier nicht erörtert werden. Sie 25

gehören in einen eigenen Zusammenhang, dessen Datstellung auch die permanente Präzisierung und Kritik seiner Positionen durch Althusser selbst umfassen müßte. Wir verweisen den Leser auf die schon erwähnte Arbeit von Lucien Sève, die auch in der D D R erschienen ist, sowie auf neuere sowjetische Arbeiten. 33 Eine entscheidende Rolle in der erwähnten Debatte spielte das von Althusser entwickelte Konzept des „theoretischen Anti-Humanismus", mit dem er den wissenschaftlichen Status des Marxismus gegen jede Form der revisionistischen Abweichung verteidigen wollte. Dabei muß die zentrale Stelle vergegenwärtigt werden, die das Humanismusproblem in Verbindung mit den Auseinandersetzungen um die Marxschen Frühschriften damals in der gesamten französischen philosophischen Diskussion spielte (Garaudys Buch Perspektive des Menseben war 1961 in dritter Auflage erschienen.) In Argenteuil, wo ja zu der Humanismusdebatte und zu ihrer Bedeutung in einem übergreifenden politischen Kontext Stellung genommen wurde, fand diese Grundintention Althussers daher weitgehende Zustimmung. So betonte Lucien Sève mit dem Hinweis auf Garaudys praxisphilosophische Umdeutung des Marxismus in eine „Methodologie der historischen Initiative", die in der Theorie die materialistische Dialektik durch Empirismus ersetzte und in der Praxis jeden Voluntarismus ermächtigte: „Louis Althusser reagiert auf jene empiristische, wenn nicht pragmatistische Reduktion, wenn er nachdrücklich die Selbständigkeit des theoretischen Moments unterstreicht. Er tut dies allerdings so nachdrücklich, daß er das theoretische Moment isoliert und es in eine doktrinäre Richtung lenkt. Es ist jedoch klar, daß ohne die richtig verstandene und angewandte Theorie der Marxismus als Wissenschaft sich nicht weiterentwickeln könnte."34 Das Konzept des „theoretischen Anti-Humanismus" wurde in Argenteuil in zweierlei Hinsicht kritisiert. Da es bei Althusser auf einer (inzwischen korrigierten) prinzipiellen Unterscheidung von Wissenschaft und Ideologie basierte, lag die Gefahr nahe, daß es den Unterschied zwischen der Ideologie der Arbeiterklasse, das heißt ihrer wissenschaftlich begründeten Weltanschauung und den verschiedenen Formen bürgerlicher und vorbürgerlicher Ideologie unter dem gleichen Begriff eines 26

„falschen", das heißt nicht-wissenschaftlichen Bewußtseins verwischte. Des weiteren sah man in diesem Konzept die Gefahr, daß mit der als unbedingt notwendig erachteten (anerkannten) Kritik an dem bürgerlichen Klasseninhalt des Humanismusbegriffes und seiner Ideengeschichte zugleich die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Gesamtinteresses durch die Arbeiterklasse in Frage gestellt werden könnte. In der gesamten Auseinandersetzung zeigte sich vor allem die ungeheure Last durch die Wirkungsmacht der bürgerlichen Ideologie, die mit der humanistischen Idee des AllgemeinMenschlichen ihre Klassenherrschaft in den Köpfen verankerte, so daß gerade die Kritik an einer ihrer Wurzeln innerhalb des Marxismus anfänglich mehr Verwirrung als Klärung brachte. Im weiteren Verlauf der kollektiven Diskussion, die vor allem mit den Erfahrungen der Klassenkämpfe im Mai 1968 eine neue Stufe erreichte, wurde jedoch das Wesen der Frage, nämlich die Abgrenzung des Marxismus von der bürgerlichen Ideologie, immer genauer bestimmt, wie u. a. in Lucien Sèves ausführlichem Nachwort zur dritten Auflage seines Buches Marxismus und Theorie der Persönlichkeit (1974) und in Louis Althussers Éléments d'autocritique (1974) zum Ausdruck kommt. Zum Humanismusproblem schreibt Sève: „Wenn man unter H u m a n i s m u s nichts anderes versteht als das idealistische Primat ,des Menschen', der über der Geschichte steht, dann darf man wie Althusser nicht zögern zu sagen, daß der Marxismus einen t h e o r e t i s c h e n Anti-Humanism u s voraussetzt, das heißt eben eine radikale Kritik jenes Humanismus. In dieser Frage gibt es zwischen Althusser und mir k e i n e r l e i Meinungsverschiedenheit, und ich behaupte, daß es in Marxismus und Theorie der Persönlichkeit keine einzige Spur dieses Humanismus gibt (was Althusser Sève in seiner Antwort an ]ohn Lewis, 1972, vorgeworfen hatte - d. Hg.), u. a. deswegen, weil ich, bevor ich das Buch schrieb, meinen Nutzen aus den bedeutenden Arbeiten von Althusser gezogen habe." Sève hält von dieser Position aus an dem Begriff eines „wissenschaftlichen Humanismus des Marxismus" fest: „Det Marxismus ist g l e i c h z e i t i g Negation des abstrakten, spekulativen, philosophischen Humanismus im alten Sinn des 27

Wortes u n d Begründung eines neuen, höheren Humanismus, der mit dem wissenschaftlichen Sozialismus zusammenfällt." 35 Nicht isoliert von diesen Problemen behandelte die Debatte in Argenteuil auch Fragen der Literatur und Kunst. Man kann sagen, daß gerade durch die Integration dieser Fragen in den übergreifenden politischen Zusammenhang von der Tagung entscheidende Impulse für die Entwicklung marxistischer Literaturtheorie und -kritik ausgegangen sind. Der äußere Anlaß für eine Erörterung ästhetischer Fragen war auch hier die Herausforderung durch die revisionistische These, derzufolge die Stellung zur Ästhetik der Prüfstein für den Status der marxistischen Theorie sei. 36 So wie Garaudy diese These entwickelte, bedeutete sie faktisch, daß der Marxismus, statt auf diesem Gebiet a n g e w a n d t zu werden, vielmehr an ästhetisch begründete philosophische Fragestellungen a n g e p a ß t wurde. Garaudy hatte den Realismusbegriff in den Mittelpunkt seiner ästhetischen Reflexion gestellt. In dem Bestreben, diesen Begriff aus seiner dogmatischen Eingrenzung zu erlösen, kehrte er diese Eingrenzung einfach um, wie Claude Prévost (s. Text 5) unterstreicht, und befreite ihn (in einer Wendung gegen den Lukäcs der dreißiger Jahre) von jedem Wertkriterium und von jeder g e s c h i c h t l i c h e n Fundierung, weil er d e n Realismus mit d e r Kunst identifizierte. „Es gibt keine Kunst, die nicht realistisch ist; das heißt die sich nicht auf eine von ihr unabhängige und äußere Wirklichkeit bezieht." 37 Damit hat sich, wie allein die Erläuterung des Hauptsatzes anzeigt, das Widerspiegelungsproblem erledigt. Im Gegensatz zu der alten, deduktiv vorgehenden Realismustheorie betonte Garaudy, daß der „Realismus von den Werken her definiert wird, nicht vor ihnen" 38 . Entsprechend dieser Auffassung wollte er Lukäcs und seine Anhänger überrunden, indem er ihrer realistischen via regia der Literatur- und Kunstgeschichte demonstrativ die Namen Kafka, Saint-John Perse und Picasso hinzufügte. Diese Garaudysche „Öffnung" des Realismusbegriffs verschloß sich sowohl dem Problem des Klassencharakters der Literatur und Kunst (souverän verkörpert das Schöpfer-Subjekt mit seiner Werk-Schöpfung die „ständige Erzeugung des Menschen durch den Menschen als der höchsten Form der Freiheit" 39 ) als auch der Frage nach den funktiona28

len Beziehungen in der Gesellschaft und innerhalb der Literatur selbst (Literatur hat als produktive Tätigkeit keine kategoriale Stelle, ist nur individuell bestimmte Schöpfung40). Garaudy, der in seinem Beitrag zu der Debatte von Argenteuil alle Thesen seines Realismus ohne Ufer (1963) wiederholte und in seinem Nachtrag zu der Debatte, Marxismus des XX. Jahrhunderts (1966), erneut bekräftigte, hatte das Realismusproblem lediglich ideologisch neu belastet, nicht aber wissenschaftlich neu gestellt. Die auf dem Feld der Ästhetik vorgenommene Revision des Marxismus in Gestalt einer idealistischen Umkehrung dogmatischer Positionen wurde an drei Prinzipienfragen exemplifiziert: 1. Am Ideologiecharakter der Kunst und Literatur mit der These, Kunst sei m e h r als Ideologie, nämlich „Schöpfung" von Mythen, die sich nicht ideologisch verrechnen lassen. 2. An der Widerspiegelungsfunktion mit der These, Kunst sei nicht simpler Reflex der objektiven Wirklichkeit (was gewiß richtig ist). Man könne „die Überbauten weder aus der Basis ableiten, noch die Überbauten auf die Basis reduzieren."41 (Was eine zumindest eigenwillige Auslegung der marxistischen BasisÜberbau-Theorie ist.) Die relative Autonomie der Kunst müsse daher als eine „Geschichte der Selbstverwirklichung" d e s Menschen42 verstanden werden (was vor allem deswegen falsch ist, weil bei Garaudy in dieser „Geschichte" die Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen nicht vorkommt.) 3. An der Erbefrage mit der These, daß die „übergeschichtliche" Dauer der Kunstwerke (und -werte) zeige, daß sie weder in ihrem Klassencharakter noch in ihrer Erkenntnisfunktion aufgehen. „Das Besondere der Kunst ist, daß sie sowohl durch ihren Gegenstand (den Menschen als Schöpfer - d. Hg.) wie durch ihre Sprache unerschöpflich ist." 43 Womit auch nur wieder idealistisch ein „Wesen" fixiert wurde, das von den Problemen der k r i t i s c h e n A n e i g n u n g und der Veränderung von Funktionsweisen gänzlich abstrahiert. Auf diese dreifache und prinzipielle Herausforderung mußten die Marxisten antworten. Denn bei der von Garaudy in die Partei hineingetragenen ästhetischen Diskussion, die ja das Symptom einer Tendenz war, handelte es sich keineswegs um eine rein akademische Frage. In dem Garaudyschen Realis29

muskonzept drückte sich vielmehr die Tendenz aus, eine sich über den Klassen und den politischen Kämpfen stehend dünkende künstlerische Intelligenz zu legitimieren. Diese mußte daher bei der Bestimmung der Konsequenzen, die durch die Veränderungen in ihrem sozialen Status und in der Funktion ihrer Praxis notwendig geworden waren (Solidarisierung mit der Arbeiterklasse, Schaffung neuer Kunst in neuer Funktion) völlig desorientiert werden. Die Unterstützung der revolutionären Bewegung durch die künstlerische (und alle andere) Intelligenz geriet dadurch ernsthaft in Gefahr, lediglich als eine Frage der Gewissensentscheidung angesehen zu werden, die den Bereich der künstlerischen Praxis selbst überhaupt nicht zu tangieren brauchte. So wurde im Unterschied zu dieser Auffassung und angesichts dieser Gefahr in Argenteuil völlig zu Recht unterstrichen, daß das Problem weder durch eine absolute Unterordnung der Kunst unter die Politik (wie in linksradikalen Konzepten) noch durch die Errichtung einer pluralistischen Scheinfreiheit zu lösen sei. Vielmehr mußte das gemeinsame Ringen (unter Respektierung und auch Voraussetzung aller künstlerischen Experimente) um eine mit der revolutionären Bewegung verbundene, vom Kampf der Arbeiterklasse nicht isolierte, künstlerische Praxis im Vordergrund stehen. Denn die Arbeiterklasse braucht die künstlerische Intelligenz nicht als Sprecher, der ihre politischen Ziele artikuliert, sondern als gleichberechtigten Partner, der a u f s e i n e W e i s e und a u f s e i n e m G e b i e t denselben Kampf führt. „Wir lehnen es ab, Kunst und Politik mechanisch gleichzusetzen, ihre Funktion auf die Illustration der Politik zu reduzieren [. . .] Wir sind gegen jede utilitäre und normative Kunstauffassung. Gleichzeitig bekämpfen wir jede Absicht, die darauf hinausläuft, der Kunst die Erkundung irgendeines Gebietes der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verbieten. Wir kämpfen dafür, daß die Künstler in freier Entfaltung ihrer Phantasie, ihres Geschmacks und ihrer Besonderheit alle Aspekte der zeitgenössischen Wirklichkeit ausdrücken können, einschließlich all dessen, worin sich der wichtigste Zug dieser Wirklichkeit manifestiert: der weltweite Zerfall der alten kapitalistischen Ordnung, der Ausbeutung, des Elends und der 30

Ignoranz und die Tatsache, daß immer breitere Massen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Wir fordern auch nicht vom Künstler, daß er sich als gesellschaftlicher Mensch, der er ist, aufgibt. Wir wünschen vielmehr, daß die Kulturschaffenden die weltanschaulichen und politischen Positionen der Arbeiterklasse verstehen und unterstützen. Das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Intellektuellen wird immer wichtiger, und wir fordern die Künstler und alle Intellektuellen auf, ihren Teil zu den sozialen und politischen Kämpfen unseres Volkes beizutragen. Wir wissen, daß man den Künstler nicht in einen politischen und einen künstlerischen Menschen spalten kann. Die philosophischen, ethischen und politischen Gedanken, die ihn bewegen, beeinflussen ihn auch als Künstler. Aber niemand kann und darf an seiner Statt die ästhetischen Probleme lösen."44 Aus dieser Auffassung ergibt sich auch, auf welcher Ebene und in welcher Richtung die marxistische Theorie und Kritik in die Prozesse eingreifen muß. Sie entwickelt in jeder Phase den marxistischen Standpunkt zu den künstlerischen Bestrebungen (und ihrer Geschichte), indem sie sie mit dem wissenschaftlich begründeten Bewußtsein der geschichtlichen Bewegung konfrontiert. Die Entwicklung dieser von Argenteuil ausgegangenen kulturpolitischen Orientierung ist der eigentliche Konzentrationspunkt in allen Beiträgen dieses Bandes.

Von der „engagierten Literatur" %um „revolutionären Text": Etappen literaturtbeoretischer Entwicklung im Frankreich der sechziger Jabre Im folgenden werden einige theoretische Positionen umrissen, auf die die ausgewählten Beiträge sich beziehen, indem sie sich mit ihnen auseinandersetzen oder auf sie anspielen, sie implizit zur Voraussetzung haben oder sie kritisieren. Mit diesen Skizzen, die weder den Charakter detaillierter Einzelanalysen noch den eines vollständigen Überblicks, geschweige denn einer historischen Analyse haben, wollen wir lediglich auf jenen 31

Umbruch h i n w e i s e n , der sich in Frankreich seit Beginn der sechziger Jahre auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft vollzieht und in dem auch die Texte dieses Bandes ihre Funktion haben. Unter dem Druck politischer Verhältnisse (Manifestwerden der Krise der bürgerlichen Kultur, s. Texte 1 und 2), wissenschaftlicher und philosophischer Neuansätze an den Universitäten (wachsender Einfluß des Marxismus; wachsender Einfluß einer strukturalistischen Anthropologie, Psychoanalyse, Wissenschaftstheorie, Linguistik) sowie literarischer Prozesse (neue Schreibweisen: Nouveau roman und „avantgardistischer Text") wurde die universitäre Disziplin der Literaturvermittlung in Frage gestellt. Genauer: In Frage gestellt wurde ihr Gegenstand (Erkenntnisobjekt) „Literatur", als Menge empirischer Objekte, die durch bestimmte inhärente Merkmale (literarische bzw. ästhetische Qualitäten) zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen qualifiziert seien. Unter Voraussetzung dieses Gegenstandes würde man auf idealistische und ahistorische Weise fragen: „Was ist Literatur?", „Was gehört zur Literatur (zur großen, zur minderen usw.)?" anstatt zu untersuchen, unter welchen Bedingungen bestimmte Texte in einer bestimmten Gesellschaft als „literarische" gelten und funktionieren und w i e das, was als literarisch gilt, funktioniert. Die - hier stark schematisierte - Veränderung des Gegenstandes einer Disziplin und die damit zusammenhängenden Veränderungen der Theorien über ihren Gegenstand und der Methoden zu seiner Erforschung haben auch ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaftsdisziplinen (Linguistik, Semiotik, Soziologie, Psychologie) verändert und zu einer Situation geführt, die gegenwärtig gekennzeichnet ist durch eine „Überfülle von theoretischen Ansätzen [ . . . ] , die mehr oder weniger aufwendig Konzepte und Methoden miteinander zu verbinden suchen: soziologische und psychologische, .marxistische' und .psychoanalytische', .formale', .strukturelle' und .thematische', Theorien des .Diskurses' (oder der .Schrift') und Theorien des .Imaginären' usw." 45 . Aus diesem komplexen Zusammenhang heben wir einige „Stationen" hervor, die wir als Versuche ansehen, aus der Kritik an der bürgerlichen Literaturideologie Ansätze für eine 32

neue Art, Literatur zu schreiben, zu lesen und zu interpretieren, zu entwickeln. Die ausgewählten Positionen beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf den Marxismus, zum Teil (Sartre, Tel Quel) beanspruchten sie eine revolutionäre Funktion. Ihnen geht es darum, die Beziehungen zwischen einer bestimmten (vor allem natürlich der eigenen) Gesellschaftsordnung und literarischer Produktion und Rezeption zu erkennen und, in der gegenwärtigen Lage, zu verändern. Dieses Interesse verbindet sie mit den Beiträgen des Bandes, die jcdoch - und das macht den grundlegenden Unterschied aus - ihre theoretische Arbeit mit der Kulturpolitik der Partei der Arbeiterklasse verbunden haben, so daß an ihnen das Problem einer zu verändernden Literaturpraxis sich nicht nur als ideologiekritisches oder wissenschaftliches, sondern selbst als ein praktisches stellt, dessen Lösung von der Theorie bestimmte Orientierungen erfordert: vor allem die Einbeziehung des praktischen und institutionellen Charakters der Literatur in die Bestimmung ihrer gesellschaftlichen Funktionsweise und damit in die Literaturtheorie.

1. Sartre Sartres Theorie der engagierten Literatur hat lange Zeit hindurch, und nicht nur in Frankreich, die Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Funktion der Literatur - die Frage nach ihrem „Wesen", ihrem „Vermögen", ihrem Verhältnis zur Politik und zu sozialen Veränderungen - entscheidend beeinflußt. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte Sartre in Was ist Literatur'? (1947) eine Literaturkonzeption, mit der er ein rein ästhetisches oder immanentes Verständnis literarischer Prosa zurückwies und die gesellschaftliche Verantwortung des Schriftstellers zu begründen suchte - in erster Linie durch die der literarischen Prosa (nicht der Poesie, die deshalb außer Betracht bleibt) eigene Fähigkeit, den Menschen die Welt zu enthüllen. In der Prosa, argumentiert Sartre, fungieren die Wörter als Z e i c h e n (in der Poesie dagegen sind sie, analog dem Material der Musik und der bildenden Kunst, Objekte). In dem sie also auf etwas v e r w e i s e n - auf Dinge, Situa3

Burmeister/Barck

33

tionen, Absichten usw., kurz: auf das, was sie b e z e i c h n e n - werden sie zum Instrument der Vermittlung oder Mitteilung des anderen. Der Schriftsteller b e d i e n t sich der Wärter wie ein Sprecher, in kommunikativer Absicht. E r hat dem Leser etwas zu sagen, und er wählt die Tätigkeit, einen Roman zu schreiben, um dies zu tun. Sein Engagement entspringt dem Bewußtsein, daß er im Akt des Bezeichnens die Dinge sichtbar macht, enthüllt - und zwar in ihrer Veränderbarkeit und Veränderungswürdigkeit. Über einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit zu schreiben, bedeutet somit, sich für seine Veränderung zu engagieren. Die Autonomie, die die Literatur im Jahrhundert der Aufklärung erworben hätte (ihre Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Institutionen und Ideologien) , kraft deren sie als Kritik, als moralisches u n d politisches Korrektiv wirken könne, müsse vom Schriftsteller im Nachkriegsfrankreich in der Weise verteidigt und eingesetzt werden, daß die Literatur ein revolutionäres Bewußtsein erzeuge, das heißt den Willen, die Verwirklichung „authentischer menschlicher Werte" in einer neuen Gesellschaft zu erreichen, die Sartre als sozialistische bezeichnet. Für wen aber soll der bürgerliche Schriftsteller schreiben? Seiner eigenen Klasse könne er nichts geben als das Spiegelbild ihres Untergangs, vom Proletariat - seinem virtuellem Publikum - sei er abgeschnitten durch die Kommunistische Partei, die von ihm den Verzicht auf seine Unabhängigkeit und Freiheit zur Kritik verlange. So habe der engagierte Schriftsteller durch seine Werke ein neues Publikum heranzubilden (aus den kleinbürgerlichen Schichten und den nichtkommunistischen Arbeitern), das er, über das ästhetische Erlebnis, welches die Lektüre vermittelt, zu der Erkenntnis führen werde, daß Humanität ohne sozialistische Revolution nicht möglich und daß eine sozialistische Revolution ohne die Erhebung des Menschen zum obersten Zweck nichts sei. In Sartres Theorie der engagierten Literatur ist die Literatur freie Schöpfung par excellence, Modell für die Aufhebung von Verdinglichung und Entfremdung, ist sie auf Grund ihrer kommunikativen Kraft privilegiertes Instrument der Bewußtseinsbildung, und das „Engagement" der Literatur ist Ausdruck und Kriterium der Moral des Schriftstellers, der mit seinem 34

Werk eine Botschaft, einen Appell an den Leser richtet. Damit werden die Schriftsteller zur eigentlichen politischen Avantgarde (nicht zufällig ist für Sartre das verlorene Paradies die Situation der Schriftsteller im 18. Jahrhundert - allerdings die Situation so, wie sie sich in der Ideologie der Aufklärung selbst darstellte 46 ). Mit der Einschränkung nur, daß ihre Wirksamkeit abhängt vom freien Entschluß der Leser, den Angeboten der Literatur zu folgen. Wird die Literatur nicht gehört - erhört, hat sie nicht (den von Sartre ihr zugeschriebenen) Einfluß auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, wird der Schriftsteller, sofern er an seinen politischen Zielen - sozialistische Revolution: Errichtung des Reiches der Freiheit - festhält, gezwungen sein, das literarische mit dem direkten politischen Engagement zu „vertauschen", wird er aufhören, Romane zu schreiben, wie Sartre im Laufe der sechziger Jahre.

2. Barthes Wenn Roland Barthes seit etwa Mitte der sechziger Jahre mit seinen Arbeiten die Rolle eines wichtigen Anregers für die Literaturtheorie und die literarische Kritik zufiel, so war dafür auch ein soziologischer Hintergrund ausschlaggebend. Er repräsentierte das Krisenbewußtsein der linken bürgerlichen Intelligenz, Ausdruck der Veränderung ihres sozialen Status, in Gestalt einer radikalen Selbstkritik. Neu war dabei, daß die Bestimmung einer möglichen revolutionären Funktion dieser Intelligenz nicht mehr nur als eine Frage der Moral angesehen wurde, sondern vorrangig als bewußte Veränderung ihrer Praxis. Am Anfang steht daher eine andere Bestimmung der Theorie der engagierten Literatur; Barthes legte sie 1953 vor - in der Auseinandersetzung mit Sartre und zugleich noch unter dessen Einfluß stehend, der damals die französische Literaturideologie beherrschte. Dem richtungsweisenden Buch Am Nullpunkt der Literatur, über ein Jahrzehnt älter als die massiv einsetzende Wirkung Barthes auf die französische literarische Szene, lag der Anspruch zugrunde, Sartres Konzept mit Marx zu verbinden. 47 Dies geschah durch eine neue Bestimmung des Gegenstandes „Literatur" und durch eine entsprechende neue 35

Methode als Mittel zu deren Erkenntnis. Die é c r i t u r e , die Praxis des Schreibens und des Schreibenden, ist dieser neue Gegenstand, eine auf der Basis der Saussureschen Linguistik entwickelte Zeichentheorie das Fundament des methodischen Verfahrens. Barthes kommt auf dem Wege einer soziologischen Analyse der Situation des Schriftstellers und der Funktion der Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft im Unterschied zu Sartre zu der These, daß die Entwicklung des bürgerlichen Schriftstellers als eines „Verräters an seiner Ursprungsklasse" (Aragon) zu einem spezifischen „Engagement für die literarischen Formen" 48 geführt habe. Dieser Entwicklung können die idealistisch vom „Wesen der Literatur", vom Schriftsteller als einem Demiurgen ausgehenden bürgerlichen Literaturideologien (Sartre inbegriffen) nicht Rechnung tragen. Sie beschreiben niemals ihren Gegenstand, sondern immer nur sich selbst. Man müsse daher der „Literatur das Individuum amputieren" und eine „Geschichte der Funktion der Literatur" betreiben. „Die Literaturgeschichte kann sich nur auf die Ebene der literarischen F u n k t i o n e n (Produktion, Kommunikation, Konsumtion) begeben, nicht aber auf die der Individuen, die diese Funktionen ausgeübt haben. Anders gesagt: Literaturgeschichte ist nur möglich, wenn sie sich für die Tätigkeiten und Institutionen, nicht aber für die Individuen interessiert." 49 Diese Kritik an dem von der bürgerlichen Literaturideologie privilegierten Status des Autors (seines „Bewußtseins" und seiner „Originalität") brachte in die Literaturtheorie (auch durch ihre Anleihe bei der Psychoanalyse) eine neue Frage ein: die nach der Rolle des schreibenden Subjekts in der Literatur. Sie impliziert die Verlagerung des Gegenstandes „Literatur" auf die Ebene der literarischen Produktion, des Schreibaktes: der é c r i t u r e . Barthes bestimmt sie als einen am Schnittpunkt von Sprache (der vorhandenen Norm) und Stil (der individuellen Mitgift des Schriftstellers) gelegenen Akt der Entscheidung, durch den sich das schreibende Subjekt in einem „Akt geschichtlicher Solidarität" vergegenständlicht: „Sprache und Stil sind blinde Mächte; die Schreibpraxis ist ein Akt geschichtlicher Solidarität. Sprache und Stil sind Objekte; die Schreibpraxis ist eine Funktion: sie ist die Beziehung zwischen Schöpfung und Gesellschaft, ist die durch ihre soziale Bestimmung 36

transformierte Literatursprache, sie ist die in ihrer menschlichen Bestimmung ergriffene Form, die sich so mit den großen Krisenpunkten der Geschichte verknüpft." 50 D a diese Verknüpfung weder willkürlich noch „unschuldig" sei, da sie in literarischen Texten nicht auf der flachen Hand liege, sondern als „Schweigen" (als das Nicht-Gesagte) anwesend sei, brauche man ein besonderes Verfahren, um den auf je besondere Weise verschlüsselten Sinn zu entschlüsseln. Über verschiedene Etappen der Aneignung von Erkenntnissen der modernen Linguistik, der strukturalen Anthropologie und der Psychoanalyse gelangte Barthes zur Ausarbeitung eines solchen Verfahrens, das pauschal als „Neue Kritik" der Literatur in die Geschichte eingegangen ist 51 , genauer aber wohl als eine Semiologie der Bedeutungen definiert werden müßte. Barthes faßt nämlich „Literatur" als ein besonders strukturiertes Zeichensystem auf. Das „Werk" (dessen Ideologie den Text verdeckte) ist darin erstens ein immer mehrdeutiges „Zeichen für etwas jenseits von ihm Liegendes" 52 und zweitens ist sein „Inhalt", besser sein Sinn, nicht eine linear lesbare Botschaft, sondern besteht vielmehr in der Art der Verschlüsselung dieser Botschaft, die Barthes den Code des Werkes nennt. 53 In dieser Auffassung liegt der Ausgangspunkt für die semiotischen Differenzierungen (Oppositionen), die es ermöglichen sollen, die literarischen Bedeutungen zu ermitteln: Zwischen Bezeichnendem (signifiant) und Bedeutetem (signifié) (die Bedeutung ist die „ V e r b i n d u n g zwischen dem, was bezeichnet und dem, was bedeutet wird, das heißt [. . .] weder die Formen noch der Inhalt, sondern der zwischen beiden verlaufende Prozeß.") 54 , zwischen Denotation und Konnotation (gegen Sartre, für den die Sprache nur ein Mittel der Denotation ist, geht Barthes davon aus, daß gerade ihre literarische Verwendung immer konnotativ ist. Die „Literatur" wird daher definiert als ein „doppeltes System von Denotationen und Konnotationen" 55 ), zwischen paradigmatischer und syntagmatischer Ebene des Diskurses. Wichtig an dieser Konzeption ist der Punkt, an dem sie die strukturalistisch vermittelte Erneuerung formalistischer Traditionen überwindet. Gegen diese geht Barthes nämlich davon aus, daß n i c h t die Kommunikation die wesentliche Funktion 37

der Sprache ist (die daher auch nicht nach dem klassischen Modell von Jakobson von der intentional bedingten Gleichheit zwischen Sender und Empfänger als ein geschlossenes und wesentlich neutrales, ideologiefreies System untersucht werden könne), sondern ihre Bedeutungen schaffende Funktion. Der von der strukturalen Linguistik festgehaltenen Trennung zwischen Kommunikation und Bedeutung hält Barthes entgegen, daß beide Funktionen in der Sprache (und ganz besonders in der Literatursprache) koexistieren, wobei die bedeutungsschaffende Funktion dominiert. Durch diese im Ansatz richtige Kritik am linguistischen Strukturalismus, die gerade am Beispiel literarischer Texte die Spannung zwischen „Abbild" und „Bedeutung" als konstitutiv für die Text-Leser-Beziehung betont, war u. a. das Interesse der Marxisten an Barthes' Theorie begründet, deren ausgesprochen ideologiekritischer Ansatz darauf abzielt, den der bürgerlichen Ideologie auch in Gestalt ihrer Zeichenformen und Bedeutungsweisen anhaftenden Schein der Natürlichkeit zu nehmen. Im Widerspruch von offenbarem und latentem Sinn, von dem, was in den Texten gesagt und verschwiegen wird (hier macht Barthes Anleihen bei der Freudschen Theorie der Traumdeutung), sieht Barthes die Verbindung zur Ideologie und zu den Klassenkämpfen in einer Gesellschaft. Dabei muß die marxistische Kritik sich freilich jener unübersehbaren Leerstelle vergewissern, die im Charakter der Barthesschen Theorie als Selbstkritik der bürgerlichen Ideologie enthalten ist. Denn die Freilegung des ideologischen Kerns in den Zeichensystemen bleibt als sprachkritisch vermittelte Bewußtseinskritik solange noch immer idealistisch, wie sie nicht gleichzeitig den Ursprung dieser „Nebelbildungen" „aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen" 56 kritisch nachweist.

3. Goldmann Der französische Soziologe Lucien Goldmann hat mit seinem „genetischen Strukturalismus" eine Methode der Bedeutungskritik vorgeschlagen, die davon ausgeht, daß die Bedeutung eines literarischen Werkes nicht auf der Ebene des Textes allein 38

zu suchen ist, sondern in Relation zu einem „kollektiven Bewußtsein", dessen Ausdruck oder Manifestation das literarische Werk ist, und in Relation zu der historischen Situation, auf die das kollektive Bewußtsein eine „sinnvolle Antwort" zu geben sucht. „Alle Menschen streben danach, ihr Denken, Empfinden und Verhalten zu einer sinnvollen und kohärenten Struktur zu verbinden. Unter diesem Aspekt stellt die kulturelle Schöpfung in ihren verschiedenen Formen - der religiösen, philosophischen, künstlerischen und natürlich auch literarischen insofern ein besonderes, privilegiertes Verhalten dar, als sie auf einem speziellen Gebiet eine beinahe kohärente und sinnvolle Struktur schafft, das heißt insofern sie sich einem Ziel nähert, dem alle Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe zustreben." 57 Die Beziehung literarisches Werk / Bewußtsein einer sozialen Gruppe sei nicht auf der Ebene der manifesten Inhalte zu suchen, sondern in den tiefer reichenden Strukturen. In seinem Buch Der verborgene Gott58 hatte Goldmann versucht, eine Strukturentsprechung zwischen der jansenistischen Weltanschauung und gerade den als atheistisch oder heidnisch geltenden Tragödien Racines nachzuweisen. Die Strukturen der literarischen Werke entsprächen nicht dem empirisch gegebenen Bewußtsein der sozialen Gruppe, sondern dem möglichen, „zugerechneten" Bewußtsein, das heißt dem Maximum an Realitätsentsprechnung, das das Gruppenbewußtsein prinzipiell zu erreichen imstande sei, ohne seine Struktur zu verändern. In den großen literarischen Werken (sie sind daher der eigentliche Untersuchungsgegenstand des genetischen Strukturalismus) finde dieses mögliche Bewußtsein seinen kohärenten Ausdruck, wodurch den Meisterwerken, wie schon bei Lukäcs, das Privileg einer expressiven Totalität zukommt. Für den kritischen bürgerlichen Roman jedoch postuliert Goldmann eine d i r e k t e Homologie zwischen den Romanstrukturen (das heißt der Struktur der Gattung Roman) und der sozialökonomischen Struktur der „kapitalistischen Tauschgesellschaft". Der große bürgerliche Roman (Cervantes - Stendhal - Flaubert bis hin zum Nouveau roman) drücke eine „Suche nach Werten" aus, „die keine soziale Gruppe (in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung - d. Hg.) tatsächlich verteidigt und die das ökonomische Leben bei allen Mitgliedern der Gesellschaft implizit zu 39

machen tendiert". 59 Die mit der kapitalistischen Warenproduktion einhergehende „Verdinglichung" - die Dominanz des Tauschwertes über den Gebrauchswert, der quantitativen über die qualitativen sozialen Beziehungen - schaffe „problematische Individuen", die in den Romanen wiederkehren, nicht aber im Kollektivbewußtsein, das zum passiven Reflex der ökonomischen Beziehungen geworden sei. Dieses bürgerliche Bewußtsein habe einzig im Werk Balzacs eine adäquate und zugleich große literarische Form erzeugt. Goldmann strebt mit seinem genetischen Strukturalismus eine Verbindung zwischen Strukturalismus und Marxismus an mit dem Ziel, bestimmte „Einseitigkeiten" beider Richtungen durch eine Strukturgeschichte der Literatur zu überwinden. Damit will er einen Beitrag zur Weiterentwicklung marxistischer Theoriebildung leisten, stellt er seinen Versuch doch ausdrücklich in die Traditionslinie Hegel - Marx - Lukäcs, an dessen frühe Werke (Theorie des Romans und Geschichte und Klassenbewußtsein) er anknüpfte und den er auf diesem Wege in die französische literaturtheoretische Diskussion einführte. Indem Goldmann von der Ermittlung der Textstrukturen - von ihm „Verstehen" genannt - zu deren Eingliederung in übergeordnete Struktureinheiten (die Weltanschauung einer bestimmten sozialen Gruppe; die sozialökonomische Realität, auf die das kollektive Bewußtsein „zu antworten trachtet") weitergeht - von ihm „Erklären" genannt - , will er sowohl einen unhistorischen, formalistischen Strukturbegriff, als auch die vulgärsoziologische Suche nach Äquivalenten auf der Ebene der manifesten Inhalte überwinden. Damit setzen Goldmanns Arbeiten genau an dem Problem an, um dessen Klärung es in mehreren der hier ausgewählten Beiträge geht (s. Text 3, 4, 5, 11). Die von Goldmann entwickelte Methode ist jedoch selbst unhistorisch und formalistisch. Ihr wurde, auch von marxistischer Seite, zu Recht vorgeworfen, daß sie den kritisierten literaturwissenschaftlichen Soziologismus nicht überwunden, sondern lediglich neu instrumentiert habe. (Hinweise in Text 3 und 5). 60 Es scheint in der Tat fraglich, ob der von Goldmann intendierte „dynamische", Struktur und Funktion als Einheit fassende Strukturbegriff als Kritik am strukturalistischen Strukturbegriff fungieren kann und ob der genetische Strukturalismus einen Beitrag zur Wei40

terentwicklung der marxistischen Literaturtheorie geleistet hat. Goldmanns Methode des Verstehens-Erklärens trägt auf der Ebene der Textanalyse kaum zur Verbesserung oder zur Kritik Strukturalistischer Interpretationsverfahren bei bzw. unterbietet sie bei weitem; die von Goldmann postulierte Struktur d e s Romans als Gattung reduziert diesen auf ein paar aus Lukacs' Theorie des Romans übernommene Kategorien - problematisches Individuum, Suche nach authentischen Werten und dergleichen. Während der strukturalistische Strukturbegriff mehrere Relationen in Rechnung stellt - Äquivalenz, Opposition, Transformation - , geht Goldmann von einem einzigen Beziehungstyp aus: Entsprechung oder Nicht-Entsprechung. Dies auf Grund seiner (Lukacs entlehnten) Prämisse, daß die großen literarischen Werke (nur sie sind ja der Untersuchungsgegenstand des genetischen Strukturalismus) der kohärente Ausdruck des Bewußtseins bzw. der Weltanschauung einer sozialen Gruppe seien. Aus dieser Perspektive taucht lediglich das Problem der „Zurechnung" auf, nicht aber die Frage nach der A r t der jeweiligen Beziehungen zwischen literarischen Texten und Ideologien. Das „Schachtelprinzip" des genetischen Strukturalismus (kleine Struktureinheiten in größere, übergeordnete zu integrieren) kann sich auf eine Gesellschaftskonzeption stützen, die die Beziehungen zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen und ideologischen Überbau als lineare oder expressive Kausalität faßt, es ist aber mit dem marxistischen Konzept der ökonomischen Gesellschaftsformationen nicht vereinbar. Dieses hat denn auch keinerlei theoretische oder methodologische Funktion in seiner „Soziologie des Romans", in deren gesellschaftswissenschaftlicher Fundierung Begriffe wie Determination in letzter Instanz durch die ökonomische Basis, relative Autonomie und Rückwirkung des gesellschaftlichen Überbaus auf die ökonomische Basis, gesellschaftliche (Haupt- und Neben-) Widersprüche und Klassenkampf keine Rolle spielen. Von der Feststellung, daß zwischen dem großen bürgerlichen Roman und der gleichzeitigen bürgerlichen Ideologie „keine Entsprechung" bestehe, kommt Goldmann nicht zu der Frage nach der spezifischen „Aneignungsweise", der Transformation und Kritik von Ideologien in den und durch die literarischen 41

Texte, sondern er läßt das „Bindeglied", das sogenannte Kollektivbewußtsein, fallen und behauptet Strukturhomologie zwischen Roman und „kapitalistischer Tauschgesellschaft". Hier zeigen sich die Grenzen des genetischen Strukturalismus, der seinem Anspruch, Mechanismen des Aufbaus ideologischer und literarischer Strukturen aus der sozial-ökonomischen Analyse abzuleiten, nicht gerecht wird. 4. Tel Quel Die Gruppe Tel Quel61 repräsentierte eine Zeitlang den am meisten exponierten, diskutierten und auch geschlossensten Versuch (trotz interner Differenzen und Abspaltungen wurde die Linie der um die gleichnamige Zeitschrift gescharten Gruppe von Schriftstellern und Wissenschaftlern während mehr als einem Jahrzehnt durchgehalten und weiterentwickelt), eine neue, „revolutionäre" Literaturpraxis zu konstituieren. Ihr revolutionäres Selbstverständnis basierte darauf, daß sie die von der bürgerlichen Kultur aufgerichtete und zugleich mystifizierte Trennung von Literatur und Wissenschaft zu überwinden sich anschickte und daß sie den literarischen Texten ihren Schein freier, inspirierter Schöpfung nehmen wollte. Damit werde das herrschende System in seinem wesentlichen ideologischen Interesse bedroht, verschleiere es doch auf allen gesellschaftlichen Ebenen - in erster Linie auf der ökonomischen - den Produktionsprozeß zugunsten des (tauschbaren) Produktes. So beruhe die bürgerliche Literaturideologie auf der Voranstellung des fertigen, zu konsumierenden, ganzheitlichen Produktes „Kunstwerk" und des Kanons aller als „literarisch" zu konsumierenden „Werke": „Literatur", hiermit universale Wertmaßstäbe unterstellend und sich - wie alle bürgerliche Ideologie - gegen ihre eigene Historisierung, gegen die Aufdeckung ihres Klassencharakters und ihrer gesellschaftlichen Funktion zur Wehr setzend. Zum Gegenstand der Zurückweisung, ja Diffamierung durch die herrschende Ideologie werde daher eine Aktivität, die die Mechanismen der Sinnerzeugung in geschriebenen Texten aufdeckt - durch eine neue Schreibweise (den avantgardistischen Text) u n d durch die sie begleitende theoretische Aktivität (Erarbeitung geeigneter Termini, Konzepte, Modelle), die 42

dem „Produkt" vorangegangene Arbeit - seine Produktion also - zu untersuchen. Dieser Untersuchungsgegenstand, genannt „Text" - ein komplexes System mit vielfältigen verschiedenen Ebenen (ideologische, semantische, phonetische usw.), das nicht auf dieses oder jenes bevorzugte Niveau hin zu lesen sei, sondern gemäß den Konnexionen, die die verschiedenen Ebenen vereinen und/oder einander entgegenstellen62 - wird von Tel Quel definiert als eine besondere „Praxis" (pratique signifiante: Praxis der Zeichengebung), die ihre Spezifik durch ihre Beziehungen zur „potentiellen Unendlichkeit der Sprache" u n d zu anderen Praxisarten (ökonomische, politische, ideologische) erhalte. Das Modell dieser Beziehungen - und die Theorie der Modellbildung selbst - zu liefern, ist der Anspruch der mit Tel Quel verbundenen Spielart der Semiotik: der von Julia Kristeva entwickelten „Semanalyse". Deren kritische Analyse wäre von wissenschaftstheoretischer (die „Semanalyse" versteht sich als Kritik der Wissenschaften und ihrer selbst) und von linguistischer Seite (Kristeva kombiniert unterschiedliche, generative bzw. transformationelle linguistische Theorien zu einem Modell für die eigene Theorie der „textuellen Produktion") zu leisten. Anknüpfend an den Versuch der russischen Formalisten (die französische Rezeption setzte 1965, nach Veröffentlichung einer Textsammlung63, massiv ein), die s p r a c h l i c h e Gegebenheit literarischer Texte zum Ausgangspunkt einer W i s s e n s c h a f t von der Literatur zu machen, grenzt Tel Quel sich gleichwohl ab vom literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. So versteht sich die „Semanalyse" nicht als Beitrag zu einer Literaturtheorie, die als deduktives System aufgebaut wird, „das - unter Voraussetzung einer gültigen Grammatiktheorie die abstrakte hierarchische Struktur für eine unendliche Menge von abstrakten Gebilden festlegt, also eine rekursive Definition des Ausdrucks „literarischer Text" liefert und die Voraussetzung für die literaturwissenschaftlichen Teiltheorien (LiteraturGeschichte, Literatur-Soziologie, Literatur-Psychologie) bildet, die die aktualen Prozesse beim Bilden und Erkennen von literarischen Texten beschreiben."64 Die „Semanalyse" soll vielmehr „als grundlegender und unentbehrlicher Zweig" in die materialistische Erkenntnistheorie 43

integriert werden und zur Entwicklung des dialektischen Materialismus beitragen, indem sie „seine Aufmerksamkeit auf von ihm bisher unerforschte Gebiete lenkt: auf die verschiedenen Weisen der Zeichengebung (modes de signifier) in ihrer konkreten und historischen Materialität" 65 . „Die Konstituierung dieser Semanalyse als Hebel für eine materialistische Erkenntnistheorie hat zur Voraussetzung, - daß der literarische Text, als spezifische Zeichenpraxis, nicht reduziert wird auf die wissenschaftlichen Kategorien, Modelle und Verfahren, deren man sich bedient, um das Erkenntnisobjekt Text zu konstituieren; - daß diese Zeichenpraxis spezifiziert wird unter Berücksichtigung der Topologie des Subjektes, die - wie die Freudsche Analyse gezeigt hat - sich in der Sprache konstituiert; - daß die so spezifizierte Zeichenpraxis in Beziehung gesetzt wird zur Produktionsweise, die sie begleitet." 66 Von dieser Position aus kam es zwischen 1967 und 1970 zu Kontakten und Zusammenarbeit zwischen Tel Quel und Mitarbeitern der Nouvelle Critique. Auf den beiden Kolloquien in Cluny zu Problemen der Beziehungen zwischen Literatur und Linguistik (1968) und Literatur und Ideologien (1970) - mehrere der von uns ausgewählten Texte waren Beiträge zu dem 2. Kolloquium (so Texte 3, 4, 11, 12) - zeichneten sich, vor allem 1970, schon prinzipielle Unterschiede zwischen der TelQuel-Gtuppe und den Marxisten ab. Die von Tel Quel angestrebte „Verwissenschaftlichung" der Literaturpraxis a l s Kritik an der bürgerlichen Literaturideologie, a l s Einsatz im ideologischen Klassenkampf auf dem Feld der Literatur und a l s Versuch der Integration in den Marxismus bedingte das Interesse der Marxisten an einer Zusammenarbeit, deren politische Ursachen und theoretischer Ertrag in einem bilanzierenden Rückblick von marxistischer Seite folgendermaßen charakterisiert werden: „Da für uns als a k t i v e M i t g l i e d e r d e r P a r t e i die Politik immer eine sehr große Rolle spielt, war unsere Reaktion gegenüber Tel Quel etwa folgende: Da sind Leute, die sich im wesentlichen als Weggenossen verstehen und die, z. B. im Mai 1968, als es bei den Intellektuellen so starke Schwankungen gab, die politische Linie der Partei unterstützten; selbst wenn man mit der billigen Weisheit unserer Sicht 44

von heute erkennt, daß in ihrer Festigkeit während dieser entscheidenden Zeit eine V e r b o h r t h e i t lag, die die spätere Entwicklung vielleicht ankündigte. Wir hatten folglich auf dieser weitgehend positiven Grundlage die Tendenz, ihre Arbeiten nicht mit genügender Vorsicht aufzunehmen. Gleichzeitig muß man erkennen, daß Tel Quel damals auf dem Gebiet der Literaturtheorie neue Elemente in die Reflexion einbrachte und dabei auf ein gewisses ideologisches und theoretisches Vakuum stieß. Zwar gab es auch in der Partei Forscher, die fruchtbare Gedankengänge verfolgten, jedoch befanden sich die meisten von ihnen noch in der Phase der Erarbeitung, des Abtastens: Sie waren vom einseitigen Dogmatismus abgestoßen und blieben angesichts des ,Garaudysmus' unbefriedigt. So kam es, ob uns das gefällt oder nicht, daß die Gruppe Tel Quel einen wichtigen Platz besetzte und daß ihr Einfluß bei vielen Jugendlichen, auch unter unseren Lesern, groß war. Uns scheint, daß die Beziehungen zu Tel Quel auch die Kommunisten ,bereichert' haben - und daß sie die Partner nicht .verarmten', selbst wenn für sie der Kontakt mit dem streitbaren Marxismus etwas Flüchtiges und Äußerliches blieb. A b e r n i c h t f ü r a l l e !"67 Der Anspruch von Tel Quel, sich durch Schreibpraxis und Texttheorie in den Marxismus zu integrieren und im revolutionären Prozeß eine Vorhutstellung einzunehmen, erwies sich in folgender Hinsicht als problematisch: An Stelle einer Theorie über die A r t d e r B e z i e h u n g e n zwischen literarischen Texten und der Produktionsweise, „die sie begleiten", stehen in den Arbeiten von Tel Quel Verallgemeinerungen (d i e bürgerliche Schreibweise, d e r revolutionäre Text u. a.), die man schwerlich als historisch-materialistisch fundiert bezeichnen kann. Auch fungieren marxistische Begriffe wie Praxis, Produktion, Revolution in den theoretischen Texten von Tel Quel vorwiegend im übertragenen Sinn, als Analogien. Ausgehend von der Barthesschen These, daß es keine unschuldige Sprache gibt, daß die Ideologie in der Form steckt und daß jede Klasse eine bestimmte „Aneignungsweise der Sprache" installiert (die Bourgeoisie den Roman und die Rhetorik), werden „die Formen" „des" bürgerlichen Romans (gemeint sind: Figuren, Fabel, Darstellung) als „Träger" bürger45

licher Ideologie „entziffert" und wird daher die Beibehaltung der Romanform pauschal als Konservierung bürgerlicher Weltanschauung, somit als reaktionär abgetan: „Was die Schriftsteller betrifft, die man sozialistische Realisten genannt hat, so ist ihnen keineswegs gelungen, in ihren Romanen einen neuen Inhalt in eine alte Form einzuführen, weil ja diese Form gänzlich bürgerlich geblieben ist. Der typischste Fall dieses Scheiterns einer sich als proletarisch ausgebenden bürgerlichen Literatur, die sich auf eine Theorie des sozialistischen Realismus hinbewegt und dabei ihr bürgerliches Gegenstück wiederfindet, das sie in Wahrheit nie verlassen hat, ist Aragon." 6 8 Die Auflösung der Erzählformen, die Konstituierung einer nicht-expressiven, nicht-abbildenden „Schreibpraxis" gilt dementsprechend als revolutionär, weil sie - im Gegensatz zum bürgerlichen Roman - den „fundamentalen Ereignissen" unserer Epoche Rechnung zu tragen vermöge, als da seien: „Entwicklung der Wissenschaften", Entdeckung der Wirkungsweisen des Unbewußten und der gesellschaftlichen Rolle der Sexualbeziehungen sowie „die Weltgeschichte in ihrer Entwicklung", das heißt „das Auftauchen neuer Widersprüche überall in der Welt". 6 9 Dem derart „verstandenen" Epochencharakter soll eine Schreibweise entsprechen, in der sich das Neue manifestiert, eine „den bürgerlichen Code" „unterhöhlende", „überschreitende" Sprache, wie sie schon in den Texten von Mallarmé, Lautréamont, Artaud, Bataille am Werke gewesen sei, die denn auch prompt von der Bourgeoisie als unlesbar, dunkel, hermetisch diffamiert wurden. Das gleiche geschehe mit den avantgardistischen Texten, die Teil jener sich überstürzenden, neuen Erscheinungen seien, die - evident seit Mai 1968 - „aus dem Überbau einen besonders revolutionären Bereich" und gegenwärtig „den entscheidenden Ansatz einer möglichen Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen" 70 machen, (was die „politischen Kräfte" - gemeint ist insbesondere die F K P - auf Grund ihrer ökonomistischen Borniertheit nicht sehen wollen). Dem Einwand, daß die Texte der Avantgarde ja nicht nur von der Bourgeoisie als unlesbar verschrien, sondern daß sie vom Proletariat auf Grund der existierenden Bildungs- und Literaturpraxis erst recht nicht gelesen werden können, daß ihre revolu-

46

tionäre Leistung das gehütete Geheimnis einer Elite bleibt, wird von Tel Quel entgegengehalten, dies sei ein falsch gestelltes Problem. „Elitär ist es, wenn man verhindert, daß das Buch überall gelesen, überall auf lebendige, nicht universitäre Weise gelehrt wird, daß man überall davon spricht, in den Betrieben, den Schulen, und daß jedermann darangeht, es zu erklären." 71 „Explosion der spontanen Kreativität der Massen" im Mai 1968, „sexuelle Revolution", Kampf „des avantgardistischen Textes" gegen „den bürgerlichen Code" und Kampf gegen die „elitäre Verhinderung" eines breiten und spontanen Umgangs mit der modernen Literatur - in dieser Sprache stellt sich für Tel Quel, vielmehr: stellt Tel Quel den revolutionären Prozeß dar, in dem sich die Gruppe selbst die Funktion einer Avantgarde zuerkennt. In Tel Queis Theorie der „textuellen Produktivität" haben sich die zugrunde gelegten marxistischen Bestimmungen der „relativen Autonomie des Überbaus" und seiner „Rückwirkung" auf die Basis unter der Hand, im Sog jener vorhin genannten theoretischen Leerstelle, in „Autonomie" und „eigentlich treibende Kraft" gewandelt. Die im übertragenen Sinn gebrauchten marxistischen Termini „Produktion" (bei Tel Quel: Hervorbringung von Bedeutung durch die Aktivität des Textes), „Praxis" (Schreib- und Leseakte, Intertexualität), „revolutionär" (Eigenschaft der anti-bürgerlichen, subversiven Schreibweise des modernen Textes) erhalten insofern etwas von ihrem ursprünglichen „Stellenwert" zurück, indem für Tel Quel die P r o d u k t i v i t ä t der avantgardistischen Schreib p r a x i s die R e v o l u t i o n - die eigentliche, die im Uberbau stattfindet! - vorantreibt. Die politischen Konsequenzen einer solchen Gleichsetzung von sozialistischer Revolution und Revolutionierung der bürgerlichen Kultur wurden von Tel Quel schließlich selbst gezogen und somit klar erkennbar. Die maoistische Wende der Gruppe im Sommer 1971 ging einher mit einer offenen politischen Konfrontation, das heißt mit Angriffen von Tel Quel auf die Politik der Kommunistischen Partei in Frankreich. Damit machte die Gruppe ihren eigenen Anspruch fragwürdig, den Gegensatz zwischen politischer und literarischer Avantgarde zu überwinden; vollzog sie doch diese „Wende" in einer 47

Situation, in der es darum ging, alle antimonopolistischen Kräfte im Kampf für eine demokratische Alternative zu mobilisieren.

5. Exkurs: Die „andere Szene". Psychoanalyse und marxistische Literaturtheorie - Aspekte einer Grenzbestimmung Wir hatten darauf hingewiesen, daß die Literaturwissenschaft in Frankreich, als eine im Umbruch befindliche Disziplin, durch eine Fülle theoretischer Neuansätze gekennzeichnet ist, die auf „Verbindungen" von Methoden und Konzepten verschiedener wissenschaftlicher und philosophischer Richtungen basieren (was auch an den Positionen von Goldmann und Tel Quel deutlicher zu zeigen wäre, als hier geschehen). Dabei ist neben dem Rekurs auf die strukturale Linguistik der auf die Psychoanalyse vorherrschend. Wegen der Relevanz, die der Psychoanalyse in Frankreich auch in der marxistischen Diskussion zukommt, scheint es angebracht, auf dieses Problem hier näher einzugehen - in Form eines Exkurses, der das in den „Stationen" literaturtheoretischer Entwicklung verfolgte Darstellungsprinzip verläßt. Die Installierung der Psychoanalyse als therapeutische Praxis und ihr Einfluß auf bestimmte Wissenschaftsdisziplinen (insbesondere die Kunst- und Literaturkritik) und auf die Philosophie (u. a. Merleau-Pontys Phänomenologie, Sartres Existentialismus) datieren in Frankreich nicht erst seit den sechziger Jahren - ebensowenig wie die Erarbeitung einer marxistischen Position gegenüber dem Werk Freuds. Jedoch machten ideologische Prozesse dieser Zeit die Wiederaufnahme einer marxistischen Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Theorie notwendig. Besonders seit den Mai-Ereignissen 1968, die eine Flut psychoanalytischer „Erklärungen" hervortrieben, wurde offenkundig, daß der Protest kleinbürgerlicher, anti-autoritärer und linksradikaler Strömungen gegen die kapitalistische Entfremdung sich im Felde einer Ideologie der Freiheit und des Glückes artikulierte, die dem historischen Materialismus eine freudo-marxistische72 (Reich, Marcuse) Kulturkritik substituierte und den ökonomischen und politischen Kampf der 48

Arbeiterklasse in einen emanzipatorischen Elan ummünzte, dem die Freisetzung der in der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückten Triebpotentiale, des Luststrebens und der Sexualität „d e s Menschen" als Motor der geschichtlichen Bewegung und als Basis der zu erkämpfenden neuen Gesellschaft gelten. Diese Bestrebungen - wie alle Spielarten des Freudo-Marxismus charakterisiert das Verfahren, den historischen Materialismus in die Sprache der Psychoanalyse zu „übersetzen", ganz als gäbe es eine direkte Kopplung zwischen der Struktur des Unbewußten und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen: „Das Inzestverbot gilt demnach als Urform und Mittelpunkt jeglicher gesellschaftlicher Frustration, das Realitätsprinzip als die allgemeinste Erklärung der Klassenherrschaft, die sexuelle Verdrängung als Entsprechung zur Ausbeutung der Lohnarbeit, die Arbeitskraft als sublimierte Libido. Diese Homologien am laufenden Band gipfeln in der Proklamation der .sexuellen Revolution' als Seitenstück oder sogar als Kriterium der wahren sozialistischen Revolution." 73 Eine solche Psychologisierung der Geschichte ist kein harmloses theoretisches Spiel ; ihre ideologischen Themen haben einen unabweisbaren politischen Sinn: gegen die marxistische Lehre vom Klassenkampf den alten Standpunkt „d e s Menschen", das heißt des bürgerlichen Individuums aufzuwerten, und die Befreiung dieses Menschen durch eine „Revolution" anzustreben, die nichts von dem revolutioniert, worauf die bürgerliche Klassenherrschaft tatsächlich beruht. In der notwendigen Zurückweisung dieser psychoanalytischen Ideologie übersahen die Marxisten jedoch nicht die Selbstkritik und Weiterentwicklung, die die Theorie Freuds im Laufe der sechziger Jahre erfahren hatte. Unter der Parole „Zurück zu Freud" hatte der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan 74 versucht, die authentischen wissenschaftlichen Entdeckungen Freuds aus ihrer ideologischen Vernebelung (auch im Werke Freuds selbst) und Verfälschung, aus ihrer Einverleibung in eine reaktionäre psychoanalytische Praxis herauszuholen. Lacans Neu-Lektüre der Werke Freuds lebt von einer „wechselseitigen Befruchtung von Psychoanalyse, Linguistik und Ethnologie unter dem Vorzeichen strukturalistischer Interpretation, die auch im Namen einer noch so berechtigten dialektischen Wachsamkeit nicht a p r i o r i zurückgewiesen 4

Burmeister/Barck

49

werden darf." 75 Nach Lacan besteht Freuds revolutionäre Leistung in der Konstituierung einer neuen Wissenschaft. Ihr Gegenstand: das Unbewußte oder „die .Auswirkungen' (auf den erwachsenen Menschen) [ . . . ] jenes außerordentlichen Abenteuers [ . . . ] der Menschwerdung des kleinen biologischen Wesens, das aus der Vereinigung eines Mannes und einer Frau hervorgegangen ist." 76 Diese Menschwerdung vollziehe sich unter dem „Gesetz der Kultur", das heißt unter dem Gesetz einer Symbolordnung, die f o r m a l identisch sei mit der Ordnung der Sprache. Daher das Primat der Sprache in der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Der Freud-Interpretation Lacans folgend, gelangten einige Marxisten (zuerst Louis Althusser in Freud et Lacan, 1964) zu einer Neubegründung der alten Parallele Marx-Freud, die auf gänzlich andere Weise vom sogenannten Freudo-Marxismus etabliert worden war. „Seit Marx", schreibt Althusser, „wissen wir, daß das menschliche Subjekt, das ökonomische, politische, philosophische Ich nicht das .Zentrum' der Geschichte ist; mehr noch, wir wissen gegen die Philosophen der Aufklärung und gegen Hegel - , daß die Geschichte kein .Zentrum' hat [ . . . ] Freud seinerseits hat uns gezeigt, daß [ ] das menschliche Subjekt dezentriert ist, konstituiert durch eine Struktur, die selbst kein .Zentrum' besitzt."77 Obgleich nicht immer in der Form einer so strikten Homologisierung ihrer theoretischen Leistungen, ist doch die Verbindung der Namen Marx und Freud unter französischen Marxisten geläufig geworden (vgl. den Beitrag von Roland Leroy, S. 69). Wurde damit die „klassische" marxistische Kritik an der Psychoanalyse in Frankreich, Georges Politzers La fin de la psychanalyse78 negiert? Marxistische Philosophen wie z. B. Lucien Sève - haben versucht, die Gültigkeit des K e r n s der Politzerschen Kritik nachzuweisen, zugleich aber die in vielfältigen Polemiken (Marx o d e r Freud) verdunkelte Frage zu formulieren und neu zu beantworten: „Welches ist genau das Verhältnis zwischen der Wissenschaft vom Unbewußten, die zu begründen die Psychoanalyse in Anspruch nimmt, und der Wissenschaft von den gesellschaftlichen Beziehungen, als deren Grundlage der historische Materialismus sich anbietet? Und welches ist ihre jeweilige Stellung innerhalb des Ensembles der Wissenschaften vom Menschen?"79 Auf e i n e 50

marxistische Antwort auf diese Frage sei im folgenden hingewiesen, die - ohne endgültig oder erschöpfend zu sein - theoretische und methodologische Anhaltspunkte bietet, die in Debatten über die „Anwendung" der Psychoanalyse auf andere Gegenstände (so auch auf die Literatur) eingebracht werden sollten. In dem von Cathérine Clément, Pierre Bruno und Lucien Sève verfaßten Beitrag zu einer marxistischen Kritik der psychoanalytischen Theorie bestimmt der oben formulierte Ansatzpunkt die Ebene der Argumentation. Die Autoren diskutieren nicht die Frage, ob die Psychoanalyse in ihrem gegenwärtigen Zustand wirklich jene wohlkonstituierte Wissenschaft ihres Gegenstandes ist, als die sie der Lacan-Schule zufolge gilt. Was nicht heißt, daß sie diese Frage für entschieden halten; schon die psychologischen Kontroversen um das Verhältnis der Psychoanalyse zu einer naturwissenschaftlich fundierten Psychologie und um das Verhältnis der psychoanalytischen Theorie zu ihrer vielfach adaptiven therapeutischen Praxis lassen eine solche Festlegung als problematisch erscheinen. Den Autoren geht es um die Klärung des Verhältnisses von historischem Materialismus und Psychoanalyse, um eine durch die historische Entwicklung notwendig gewordene Modifizierung und Präzisierung (nicht Negierung) der Kritik Politzers. Diese Modifizierung betrifft im wesentlichen: - die Kennzeichnung der historischen Leistung Freuds und Unterscheidung des rationalen, wissenschaftlichen Kerns von seiner ideologischen Hülle, von deren reaktionärer politischer Funktion ; - die Kennzeichnung der Grenzen der Freudschen Entdekkung: Kritik an der anthropologischen Fundierung der Psychoanalyse und an ihrem Anspruch auf Erklärung gesellschaftlicher Tatsachen; Kennzeichnung des Realitätsbereiches, über den die Psychoanalyse Erkenntnisse zu produzieren in der Lage ist, bzw. dies getan hat ; - die Herausarbeitung der Unvereinbarkeit der Freudschen Anthropologie mit dem historischen Materialismus ; Kennzeichnung der ideologischen und politischen Konsequenzen einer psychoanalytischen „Übersetzung" (somit Ersetzung) des historischen Materialismus. Lacan folgend, stellen die Autoren fest, daß Freuds Entdeckung „die Funktion der Sprache in unserer Kultur" betrifft. 4*

51

Bei der Behandlung von Hysterikern erkannte Freud die Wirksamkeit und die Modalitäten des Einwirkens der Sprache auf den Körper. 81 Die psychoanalytische Therapie interveniert nicht anders als nur über die Sprache. Diese Praxis ist vollkommen individuell (der Patient ist allein mit seiner Sprache, die der Analytiker ihm zurückspiegelt). Jedoch, weil die Sprache nicht unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Funktion existiert, reflektiert der einsame, scheinbar zusammenhanglose Bericht des Patienten die Gesellschaft und den Ort, den sie demjenigen zuweist, der da spricht. Von dieser Praxis ausgehend, erbrachte die Psychoanalyse, in Freuds Theorie vom Unbewußten, Elemente einer neuen Sicht der Subjektivität und ihrer kulturell-sprachlichen Determiniertheit. Eine fortschrittliche Sicht, insofern sie mit dem Konzept des homo psychologicus brach - jenem psychologischen Subjekt, „begriffen als abstrakte Zusammenfassung der allen realen Menschen gemeinsamen Eigenschaften und als ausgestattet mit angeborenen psychischen Qualitäten" 82 . Freud faßt das menschliche Wesen als Ensemble intersubjektiver Beziehungen (im familiären Dreieck), so wie sie durch den Ödipuskomplex strukturiert sind. Mit der Entdeckung der „Uberdeterminierung" aktueller Konflikte durch Kindheitserlebnisse gelangt Freud zu einer Auffassung von der Rolle der Vergangenheit in der gegenwärtigen Geschichte des Individuums, derzufolge „zwei Geschichten gleichzeitig existieren: die Geschichte des bewußten, imaginären, romanhaften biographischen Erlebens und die Geschichte des Verdrängten, das einbricht auf die Szene der Gegenwart, ganz so wie der Alp vergangener geschichtlicher Ereignisse auf der gegenwärtigen Geschichte lastet - eine von Marx und Engels wiederholt entwickelte Idee" 83 . Durch die Verdrängung lebt das Individuum in einem imaginären oder illusorischen Verhältnis zu seiner eigenen Realität: die Wirklichkeit, das also, was verdrängt wurde und die Erzeugung sichtbarer Manifestationen des Unbewußten (Symptome, Träume, Versprecher, Fehlleistungen, Witze) determiniert hat, „ist endgültig unzugänglich, verdeckt durch die imaginären Bildungen, die fortan das Subjekt seine eigenen Ursachen verkennen lassen". Von hier ergibt sich eine Parallele zur marxistischen Ideologiekonzeption („Das biographische Erleben des Individuums deckt sich also nie mit den 52

Ursachen, die es determiniert haben, ganz so wie das ideologische Erleben sich nicht deckt mit der materiellen Realität und mit der ökonomischen Basis, dessen nachträgliches Ergebnis es ist" 84 ), aber auch ein grundsätzlicher Unterschied, begründet durch das „totale Fehlen von Dialektik in Freuds Denken. Die entstellten Bildungen des Unbewußten wirken nicht zurück auf die Wirklichkeit, und diese - für immer verloren - bleibt definitiv unveränderbar" 85 . So produktiv der Freud-Lacansche Beitrag zur Untersuchung „des spezifischen Vermögens der Sprachen" 86 für die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie der Ideologien und ihres Funktionierens werden kann und so sicher die Psychoanalyse „ein Wort mit-zu-reden hat in den meisten anthropologischen Fragen, insofern sie auf die eine oder andere Weise eine psychologische, individuelle Dimension haben, also unter anderem die Spur des Nachwirkens kindlicher Erlebnisse tragen" 87 - ist doch die Bedingung ihrer wissenschaftlichen Verwertung, daß die G r e n z e n der Freudschen Entdeckung und ihrer gegenwärtigen Theoretisierung durch Lacan erkannt werden: „ [ . . . ] die Psychoanalyse bleibt [ . . . ] befangen in einer Logik der Konstituierung und Entwicklung des Subjekts, die von den Determinationen abstrahiert, die durch die Eingliederung des Subjekts in konkrete soziale Praktiken stattfinden." 88 Sie trägt nicht der Tatsache Rechnung, daß die Subversion des Subjekts durch die Sprache selber Teil jenes Prozesses, also untergeordnet, der gesellschaftlichen Entäußerung des menschlichen Wesens ist, für die der Marxismus mit der sechsten Feuerbach-These die Formel geliefert hat. Die Auffassung des menschlichen Wesens als Ensemble intersubjektiver, nicht aber sozialer und sozial determinierter, Beziehungen führt bei Freud zur Psychologisierung gesellschaftlicher Phänomene (vgl. seine Erklärung der Religion, der Kriege, der Kunst), zu einer Biologisierung des Psychischen (vgl. seine Instinkt-Lehre) und somit letztlich zur Annahme einer in ihrem Grund unveränderlichen menschlichen Natur. Entsprechend dieser Logik der psychoanalytischen Theorie, hat ihre Anwendung auf die Literatur zu einer enthistorisierenden Betrachtung geführt: Literarische Werke wurden auf ein psychodramatisches Substrat (Inzestverbot, Vatermord) oder auf die psychische Entwicklung ihres Autors - mit Vorliebe auf 53

psychopathologische Symptome - reduziert, wobei gegenüber der von Freud ja auch problematisierten wirkungsästhetischen Komponente die genetische Beziehung (zwischen der Biographie des Autors und seinem Werk) dominierte, so z. B. in den Richtungen der „Psychokritik" und „Psychobiographie".89 Die Konstruktion einer psychoanalytischen Theorie d e r Kunst ebenso wie die Verkürzung literarischer Produktion und Rezeption auf ihre psychologische Dimension müssen jedoch nicht notwendig jeden Versuch, psychologische Konzepte für die marxistische Literaturkritik und -theorie produktiv zu machen, diskreditieren. Daß in Frankreich dabei speziell auf die Psychoanalyse rekurriert wird, erklärt sich aus der Kritik am Subjektbegriff der gegenwärtigen Psychologie (s. Text 9), aus der sprachphilosophisch und linguistisch fundierten Neu-Lektüre der Freudschen Theorie vom Unbewußten (Freud selbst hatte schon „das Interesse des Sprachforschers für die Psychoanalyse" postuliert) und schließlich aus der Tatsache, daß Freud sich ausdrücklich mit Problemen des künstlerischen Schaffensprozesses und der Wirkung von Kunstwerken befaßt hat (s. Text 8). Seine Überlegungen können für die Literaturwissenschaft sowohl unter wirkungs- wie unter produktionsästhetischem Aspekt genutzt werden. Freud hatte sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, wieso und auf welche Weise Kunstwerke beim rezipierenden Subjekt bestimmte Affekte hervorrufen: „Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen so zu ergreifen".90 Er sieht in literarischen Werken (so im ödipus des Sophokles und in Shakespeares Hamlet) psychische Grundkonflikte gestaltet, also individuelle und zugleich kollektive Phänomene, die - anthropologisch konstant das Resultat der durch die Kulturentwicklung bedingten Unterdrückung libidinöser und aggressiver Triebe, ihrer Verdrängung ins Unbewußte seien. Ihr kollektiver und transhistorischer Charakter erkläre die Wirkung bestimmter Mythen, literarischer Stoffe und Kunstwerke auf die rezipierenden Subjekte und dies über ihre Entstehungszeit hinaus. Die verdrängten infantilen Wünsche manifestieren sich für Freud in (literarischen und anderen) Texten vor allem in der Form der „Textentstellung". In 54

den Lücken, Brüchen, Deformationen von Texten dränge die „andere Szene", das Unbewußte - der von der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossene „private" und latente Inhalt im manifesten Texte zum Durchbruch. Freud praktiziert ein Interpretationsverfahren, das - anders als die philologische Hermeneutik - davon ausgeht, daß das Subjekt in seinen bewußten, intendierten Äußerungen sich über sich selber täuscht, weil es seine eignen Ursachen (die zur Bildung des Unbewußten geführt haben) nicht kennt. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation ist gebunden an die Annahme einer (psychischen) Logik der Imagination oder des Phantasierens. Für die Literaturwissenschaft in Frankreich wurde sie interessant unter dem Gesichtspunkt einer „Theorie des schreibenden Subjekts." Es war ja das Problem aufgetaucht: Wenn man die Idee vom Autor als „Quelle" oder „Ursprung" des Werkes zurückweist, wie ist dann der Status des schreibenden Subjektes zu fassen; wer spricht im Text? Angesichts dieser Probleme ergibt sich für die marxistische Literaturwissenschaft in Frankreich die Aufgabe, den Erklärungswert der Freudschen Theorie vom Unbewußten für die psychologische Dimension der literarischen Produktion und Rezeption theoretisch und methodologisch zu situieren. Dies ist unseres Wissens bisher in systematischer Form nicht geschehen. Verschiedene Beiträge unseres Bandes (insbesondere Texte 8 und 9, des weiteren Texte 5, 7, 12) zeugen in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise von der Dringlichkeit dieser Aufgabe, zugleich aber von dem vorerst sporadischen und theoretisch noch wenig gesichertem Charakter des Bemühens, psychoanalytische Konzepte für eine marxistische Literaturbetrachtung produktiv zu machen.

Lernprozesse marxistischer Literaturtheorie in Frankreich: Zu einigen Problemen in den Beiträgen Wenn wir auf die literaturtheoretischen Zusammenhänge, in denen die Texte dieses Bandes stehen, auch nur punktuell verwiesen haben, so glauben wir doch, daß an den dargestellten Positionen eine Entwicklung abzulesen ist - oder zumindest 55

ein theoretischer Abstand - , betrachtet man die beiden Eckpunkte: Sartres Theorie der „engagierten Literatur" und Tel Queis Theorie der „textuellen Produktivität". Aber gerade hier wird zugleich eine eigentümliche Nähe erkennbar: da nämlich, wo in einem Fall das Engagement der Schriftsteller (ihr Gewissen), im anderen die „subversive Kraft des avantgardistischen Textes" zum Motor revolutionärer Veränderungen wird (daher schließlich ähnliche politische Entscheidungen bei einigen Vertretern von Tel Quel und dem von ihnen seinerzeit heftig bekämpften Sartre). Dagegen begreifen die Autoren dieses Bandes - und das ist für den theoretischen Ansatz der meisten Beiträge entscheidend - die sozialistische Revolution als einheitlichen Prozeß, „dessen verschiedene Komponenten sich nicht gleichmäßig entwickeln, dessen Ausgangspunkt aber in letzter Instanz in der Revolution der Produktionsverhältnisse auf der Basis einer Entwicklung der Produktivkräfte liegt, die objektiv zur umfassendsten Vergesellschaftung der Produktion führt. Es gibt niemals eine Kulturrevolution allein, ebensowenig wie eine Revolution mit einer Kulturrevolution beginnt. Ideologie und Kultur entspringen der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens. Die Revolution in den Produktionsverhältnissen reicht nicht aus, um Ideologie und Kultur zu revolutionieren, aber sie ist die notwendige Bedingung dafür, ohne sie wäre jede ideologische oder kulturelle Revolution nur Traum oder Spiel." (S. 79/ 80 dieses Bds.) Wie die Kulturrevolution im Gesamtprozeß der sozialistischen Revolution, so hat die Weiterentwicklung einer marxistischen Literaturtheorie ihren Platz im Prozeß der Errichtung einer Kultur neuen Typus. Die Prinzipien der Kulturpolitik der FKP, wie sie auf der ZK-Tagung in Argenteuil formuliert wurden, 91 legten die A r t der Zusammenarbeit zwischen der kommunistischen Partei und den Intellektuellen und Künstlern dar, ausgehend von der objektiven Interessenübereinstimmung zwischen Arbeiterklasse und Mehrzahl der Intellektuellen, von der Tatsache, daß die Kultur ein Feld ideologischen Klassenkampfes ist und schließlich davon, daß die Vorhut der Arbeiterklasse a u f s p e z i f i s c h e W e i s e in den ideologischen Klassenkampf auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst eingreift, nämlich 56

über die Aktivität ihrer Intellektuellen und Kulturschaflenden, über die Anwendung und Weiterentwicklung ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung. In diesem Kampf erhält die marxistische Theorie Autorität allein durch ihr eignes Entwicklungsniveau, das im wesentlichen durch zweierlei bestimmt wird: durch die politische Praxis des Klassenkampfes und durch die Art und Weise, wie die Theorie von der Politik, von den Massen lernt; durch die theoretische Arbeit, das heißt durch das Entwicklungsniveau der Wissenschaften und durch die Art und Weise, wie die marxistische Theorie von ihnen lernt. Als Elemente und Resultate dieses doppelten Lernprozesses sind die Beiträge dieses Bandes zu verstehen. Wir haben den Band so komponiert, daß der Leser sich ein Bild von diesem unabgeschlossenen Prozeß machen kann. Jeder einzelne Beitrag sollte daher immer auch im Kontext aller anderen Beiträge gelesen werden, denn ihre gemeinsame politische Orientierung bestimmt ihr gemeinsames Erkenntnisinteresse: Auf welche Weise ist eine bestimmte literarische Praxis (das System der Literaturverhältnisse: literarische Produktion, Literaturvermittlung und -aneignung) mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden? Wie manifestiert sich auf dem Gebiet der Literatur die Krise der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, welche Widersprüche entstehen hier und wie kämpft das Neue (wo entsteht es) gegen das Alte, oder anders gesagt: Welche Ansätze einer revolutionären Literaturpraxis gibt es (was ist überhaupt unter revolutionärer Literatur zu verstehen), wie sind sie zu fördern? Diese Fragen verweisen auf das grundlegende theoretische Problem: den Status von Literatur als einer spezifischen Form des gesellschaftlichen Bewußtseins und somit des ideologischen Uberbaus zu bestimmen, das heißt ein theoretisches und methodisches Instrumentarium zu erarbeiten, das gestattet, gegebene literarische Texte sowie Texte über Literatur als spezifische Umgangsformen mit Ideologie zu lesen sowie die ideologischen und letzten Endes politischen Implikate und Funktionen, kurz: den Klassencharakter einer gegebenen literarischen Praxis aufzudecken. Mit dieser Problemstellung integrieren sich die Beiträge dieses Bandes in die Tradition marxistischer Literaturtheorie und Ästhetik, in der ja erstmals der ideologische Status literarischer Texte als Problem gestellt 57

wurde, durch die Kennzeichnung der Literatur als besonderer ideologischer Form. In Frankreich hat dabei besonders Louis Althussers Auffassung von der spezifischen (im Unterschied zur wissenschaftlichen Erkenntnis und zur künstlerischen Darstellung) Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität durch Ideologien und seine Hervorhebung des praktischen Charakters der Ideologien auf die Erarbeitung und Entwicklung bestimmter theoretischer Ansätze eingewirkt: Dies betrifft das Problem der institutionellen Existenz von Literatur und Literaturideologie, so im schulischen Apparat, sowie die Abbildtheorie. Für Althusser ermöglicht die Literatur Einblicke in die gesellschaftliche Realität, weil sie in der Lage ist, Ideologien zu kritisieren: „Was Kunst ,uns s e h e n macht' und uns daher in der Form von ,Sehen', von .Wahrnehmen' und von .Fühlen' gibt, (was nicht die Form von E r k e n n e n ist), ist die I d e o l o g i e , aus der sie entsteht, - von der sie umgeben ist, von der sie sich als Kunst a b s o n d e r t und auf die sie a n s p i e 11." (S. Texte 6 und 7) 9 2 Es scheint uns im Hinblick auf unsere eigenen Diskussionen besonders interessant, daß die von einem konsequenten materialistischen Kulturbegriff ausgehenden Problemstellungen der französischen Marxisten (so unterschiedlich auch im einzelnen die Fassung des Ideologieproblems ist) gerade mit der Bestimmung der dialektischen Beziehungen zwischen Literatur und Ideologie(n) einen eigenen Beitrag zur Lösung dieser Grundfrage marxistischer Literaturtheorie darstellen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß die besonderen Funktionsweisen der bürgerlichen Ideologie in der staatskapitalistisch regulierten französischen Gesellschaft auch den Begriff der Ideologie in der marxistischen Kritik prägen. Die Autoren etablieren den Standpunkt marxistischer Kritik, indem sie die Geschichtlichkeit der Wertungskriterien und der die Literatur beschreibenden Kategorien selbst in die Theoriebildung integrieren. Daher die Unterscheidung und die Verbindung von Ideologie i n der Literatur und der Ideologie d e r (oder ü b e r die) Literatur. Das Plädoyer für eine neue Praxis der Literatur (s. Text 4) muß zwangsläufig jede idealistische Wesensbestimmung der Literatur erst einmal radikal kritisieren. Und diese Kritik setzt folgerichtig 58

dort an, wo das Wissen über Literatur (und seine Ideologisierung) erzeugt und verbreitet wird: auf dem Gebiet der idealistischen Literaturtheorien und ihrer Methoden sowie der sie tragenden institutionellen Praxis. Die Beiträge gehen von der Voraussetzung aus, daß man Literatur nicht auf Ideologie reduzieren kann, was jedoch keineswegs heißt, sie sei ideologiefrei. Gegenüber der überholten Auffassung marxistischer Literaturtheorie, die Literatur wesentlich als ästhetische Umsetzung von Ideen begriff, weil Ideologie (n) auf reine Ideen-Systeme reduziert wurden, wird hier durchgehend auf die materiellen Erscheinungsformen der Ideologie verwiesen 93 . Denn nur auf diese Weise läßt sich ja die aktive, wirkende Rolle der Literatur materialistisch begründen. Das Herausarbeiten genau dieses Gesichtspunktes wurde für die französischen Marxisten vor allem in einer offenen Situation der Auseinandersetzung mit revisionistischen Tendenzen wichtig, die gerade die aktive Rolle der Literatur und die künstlerische Subjektivität von ihren materiellen Voraussetzungen gelöst hatten. In dem unverkennbaren Bemühen, den Anschluß an die internationale marxistische Diskussion herzustellen (wobei durch fehlende Übersetzungen wichtiger Forschungsergebnisse aus den sozialistischen Ländern notwendig Informationslücken entstehen), gehen die Versuche einer Bilanz dessen, was in der Tradition marxistischer Literaturtheorie und Ästhetik zur Klärung der genannten Probleme beigetragen wurde (s. Text 3 und Texte 4 und 5) ihrerseits von einem theoretischen Kontext aus, den die Erforschung der Mechanismen und der Wirkungsweise der Sprache (und der sogenannten sozialen Symbolsysteme, im Sinne der strukturalen Anthropologie) geprägt hat. In dieser Hinsicht hat die strukturale Linguistik Saussurescher Provenienz und haben die auf nivellierende Weise unter den Sammelbegriff Strukturalismus subsumierten Arbeiten von Lévi-Strauss, Lacan, Foucault, Barthes, Derrida über die strukturalistische Mode hinaus nachhaltig produktiv gewirkt. Dies manifestiert sich in den genannten Texten vor allem in einer bestimmten Perspektive, aus der das „Vorbeisehen" daran, daß die Sprache literarische Werke dergestalt konstituiert, daß man sie nicht lediglich als Medien von Ideen oder Aussagen, 59

als Form eines Inhalts auffassen kann, als die entscheidende „Lücke" des lange Zeit als einzige kohärente marxistische Literaturtheorie geltenden Werkes von Georg Lukäcs erscheint. Das heißt nicht als etwas, das lediglich fehlt, sondern als etwas, dessen Abwesenheit das ganze Gebäude gewissermaßen organisiert (s. Texte 3 und 4). Aus eben dieser Perspektive wird eine „zweite Linie" marxistischer Literaturtheorie, für die Namen wie Eisenstein, Tretjakow, Pachtin, Benjamin und vor allem Brecht stehen, mehreren Autoren dieses Bandes zum eigentlichen Bezug und die Untersuchung der Korrelationen zwischen „Literatur" und „gesellschaftlichem Leben" auf der Ebene der literarischen Sprache selbst, das heißt auf der Ebene dessen, was in einer bestimmten Gesellschaftsformation als literarischer Text funktioniert, zur Aufgabe. Die mit unterschiedlichen Akzentuierungen geführte LukäcsKritik in mehreren Beiträgen läßt sich in ihrer zuweilen vehementen Zuspitzung nur richtig orten, wenn man berücksichtigt, daß sie in Frankreich ohne den gleichen intensiven wirkungsgeschichtlichen Hintergrund wie bei uns geführt wird. Lukäcs ist in Frankreich eine relativ späte Entdeckung. Daß er in der Tradition der französischen sozialistischen Literatur und marxistischen Literaturtheorie mit seinem Werk zu keiner tiefer greifenden Wirkung gelangte, hängt u. a. damit zusammen, daß die französischen Kommunisten immer einen die modernen literarischen Richtungen einschließenden Begriff des Erbes hatten. Aber auch damit, daß das Verhältnis des sozialistischen Realismus in Frankreich zur Avantgarde, zum künstlerischen Experiment durch die Teilnahme eines großen Teiles der künstlerischen Avantgarde an der Ausarbeitung der kommunistischen Kulturpolitik, dadurch, daß die „Revolutionäre der Form" auch „Revolutionäre in der Politik" waren, bedeutend beeinflußt wurde. 94 Daher mußte die späte französische Begegnung mit dem Werk von Georg Lukäcs zwangsläufig zu einer scharfen Kritik jenes Punktes seiner ästhetischen Theorien führen, der ihre Anwendung für Frankreich völlig unbrauchbar machte (auch aus bündnispolitischen Gründen): auf seine Modernismus- und Dekadenzkonzeption bzw. auf sein „klassizistisches Vorurteil" (Werner Krauss), wonach jeder Abfall von einer klassischen 60

Linie vollendet realistischer Gestaltung einfach als Dekadenz verbucht wurde. Dabei - so scheint uns gewinnt auch unsere eigene LukäcsKritik, in der die Frage noch unentschieden ist, 9 5 ob die Lukäcssche Dekadenztheorie lediglich eine zeitbedingte Randerscheinung des theoretischen Gebäudes ist oder ob nicht vielmehr (wie Thibaudeau in seinem Beitrag meint) sich gerade darin der idealistische Kern des seine Ästhetik fundierenden Literaturbegriffs auf signifikante Weise offenbart. Für wichtig halten wir den in den französischen LukäcsDebatten dominierenden Gesichtspunkt einer p r o d u k t i v e n Kritik am Werk Georg Lukäcs', der für die marxistische Literaturtheorie von genereller Bedeutung ist: der Gedanke nämlich (implizit in allen diesbezüglichen Beiträgen vorhanden), daß der Dekadenzbegriff von Lukäcs vor allen Dingen eine Fehlinterpretation der Leninschen Imperialismustheorie anzeigt. Denn er unterschlägt, daß die Dekadenz des Kapitalismus durch die wachsende Spannung und Zuspitzung aller i n n e r e n Widersprüche des imperialistischen Systems begleitet wird, wodurch immer zahlreichere Schriftsteller und literarische Richtungen eine der herrschenden Klasse entgegengesetzte Funktion bekommen können. Und hier liegt gerade das in der Gegenwart des weltrevolutionären Prozesses immer wichtiger werdende bündnispolitische Problem. Dies bewußt zu machen, die eine wichtige Aufgabe marxistischer Kritik, der dabei eine ; besondere Verantwortung gegenüber den literarischen und künstlerischen Richtungen zufällt. In dieser Hinsicht bietet die Lukäcssche Ästhetik heute weniger denn je eine theoretische Basis. 9 6 Wenn der Marxismus Literatur als eine ideologische Form (unter anderen: politischen, rechtlichen, religiösen, moralischen Formen) bezeichnet, heißt das, daß der Literatur ein bestimmter Ort innerhalb des ideologischen Überbaus im Gesamtsystem einer Gesellschaftsformation zugewiesen wird. (Hier operieren die Bestimmungen „Determination in letzter Instanz durch die ökonomische Basis", „relative Autonomie des Überbaus" gegenüber der Basis und „Wechsel-Wirkung" zwischen Basis und Überbau.) Wenn weiterhin der ideologische Überbau nicht lediglich als System von Ideen oder „Diskursen" aufzufassen ist, 61

sondern wenn er eine praktische und institutionelle Realität besitzt in den „Ideologischen Staatsapparaten", dann ist Literatur nicht allein als bestimmtes und von anderen gnoseologisch zu unterscheidendes Zeichensystem zu betrachten, sondern auch als soziale Praxis (s. Text 4). Ist doch die Produktionsstätte dessen, was jeweils als literarisch wirkt, nicht allein „der" Text, vielmehr die Gesamtheit der literarischen Praxis und ihrer „Apparate" (in Frankreich also in erster Linie der Schule und der Universität). Wenn man davon ausgeht, daß „die Literatur" nicht immer existiert hat und daß ihr nicht die Evidenz eines aus Formen und Gattungen konstituierten, zeitlosen und unveränderlichen Systems zukommt, muß man - anstatt auf ästhetisch-normative Weise „das Wesen der Literatur" zu bestimmen oder ein Modell der Literarität (der formalen Eigenschaften, die ein gegebenes Werk zu einem literarischen machen) zu konstruieren - die Grenzen dessen befragen, was sich in einer konkreten Gesellschaft als Literatur behauptet, das heißt als l i t e r a r i s c h e r Text eine selbständige Existenz und damit eine bestimmte gesellschaftliche Funktion erlangt hat (s. Text 4). Wie aber ist die gesellschaftliche Determinierung literarischer Texte in deren Innerem aufzudecken? Auf welche Weise sind die gesellschaftlichen Widersprüche als ideologische Widersprüche in literarischen Texten „am Werke"? Dies ist die ausgesprochene oder stumme Frage der meisten Beiträge dieses Bandes. Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen hierzu wird deutlich, wenn man z. B. die Interpretationen der Leninschen Tolstoi-Kritik in den Texten 5 und 6 vergleicht. Während in dem einen von einer Kombination unterschiedlicher Ideologien im Werk Tolstois gesprochen wird (s. Text 5), bezeichnet es der andere als imaginäre Lösung gegensätzlicher Positionen, und zwar nicht in dem Sinne, daß eine solche Lösung bereits real existierte und im Werk auf imaginäre Weise, mit den Mitteln literarischer Fiktion „abgebildet" würde, sondern vielmehr im Sinne einer „Inszenierung", der D a r s t e l l u n g a l s L ö s u n g . Mit der Auffassung der „Darbietung", des „SehenLassen" widersprüchlicher ideologischer Positionen in literarischen Werken - oder auf dem Theater an dem paradigmatischen Fall Brecht (s. Text 7) - ist die Kritik an einer empiristi62

sehen Interpretation der philosophischen Kategorie der Widerspiegelung (verstanden als Spiegelreflex oder Wieder-Erkennen, nicht als Erkenntnis) sowie an ihrer Leugnung überhaupt verbunden. Damit zielen diese Beiträge (s. Texte 6, 7, 10 und 12) zugleich in das Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzung um das Realismusproblem, bei dessen Behandlung der marxistisch-leninistischen Kategorie der Widerspiegelung die entscheidende Bedeutung zukommt.97 Machereys Analyse und Verteidigung des Widerspiegelungsbegrifies ist hochaktuell. Sieht sich doch die marxistische Literaturtheorie in dieser Frage erneut durch die zunehmenden Behauptungen herausgefordert, daß „eine im Rahmen der Widerspiegelungstheorie formulierte ästhetische Theorie den Aspekt der Wirkung der Kunst nicht konsequent aus ihren Begriffen ableiten kann."98 Parallel dazu wird die Anwendung des Begriffes der Identifizierung (verstanden als psychologischer Spiegelreflex) zur Beschreibung der Vorgänge im Zuschauerbewußtsein auf dem Theater problematisiert (s. Texte 7 und 9) - unter Berufung auf Brecht und seine Forderung, im Zuschauer soziale Impulse zu wecken, sein Bewußtsein zu verändern. Eine neue Sehweise produzieren, neu lesen lehren: Hierin wirken Literatur und Literaturkritik als verändernde Praxis. Der Roman, sagt Aragon, ist eine Maschine, dazu bestimmt, das menschliche Bewußtsein auf der Stufe der Sprache zu verändern (s. Text 10). Der entscheidendste Aspekt der Freudschen Entdeckungen, heißt es in Text 8, sei „eine neue Art, die Sprache zu lesen, auf die Worte zu achten". „Ein wirklicher Literaturkritiker, ein wahrer Literaturhistoriker ist weder ein Essayist noch ein Chronist, sondern ein Spezialist für eine neue Art zu lesen" (s. Text 11).Thibaudeaus Kritik an Lukäcs' Historischem Roman (s. Text 12) ist die Lektüre einer Lektüre (Wie hat Lukäcs Flaubert gelesen?), die - aus der Sicht einer Tradition, in der Lukäcs wegen seiner Moderneauffassung nie zu einer tiefgreifenden Wirkung gelangt ist - an Lukäcs' Flaubert-Interpretation jene „Lücke" markiert, von der oben die Rede war. Texte 13 und 14 schließlich beziehen sich auf eine Schulpraxis, in deren uneingestandenen „Lesecodes" und „literarischen Ansichten" sich bürgerliche Klassenherrschaft realisiert. Woraus nicht folgt, daß literarische Texte in der bürgerlichen 63

Gesellschaftsordnung in jedem Fall ungebrochen „affirmativ" wirken, daß nicht der herrschenden Ideologie entgegenwirkende Lektüreweisen entwickelt worden seien und werden könnten sei es durch Nutzung alter Texte in neuer Weise, sei es durch Produktion neuer Texte. Für die Schule bedeutet dies, nicht „allgemein die .Zerstörung der Schule' zu fordern, wie es heute gewisse Leute tun", sondern „den i n n e r e n Herrschaftsmechanismus der bürgerlichen Ideologie in der Schule zu begreifen, weil nur so schrittweise die Kampfformen entwickelt, festgelegt, erprobt und wirksamer gemacht werden können. Die bürgerliche Herrschaft innerhalb ihres Schulapparates bekämpfen (was andere Kämpfe vorbereitet u n d voraussetzt), heißt mit den .pädagogischen' Illusionen der schulischen Ideologie brechen. Der Kampf kann aber nicht von einer fiktiven antibzw. außerschulischen Position aus aufgenommen werden (was stets nur ein politischer oder literarischer Mythos ist): der Kampf beginnt mit dem, was man widersprüchlicherweise eine n i c h t s c h u l i s c h e Position nennen muß, die sich i n n e r h a l b des schulischen Apparates und seiner ideologischen Praxis von der schulischen Ideologie zu befreien sucht." 99 Im Kampf um eine neue Praxis gesellschaftlichen und individuellen Umgangs mit Literatur wird die Theorie ihre Wirksamkeit erweisen müssen. Wir haben die Beiträge dieses Bandes als Elemente und Resultate eines doppelten Lernprozesses bezeichnet. Mit ihrem vielfach abstrakten Charakter, dem Übergewicht allgemeiner Bestimmungen, theoretischer Programme, Postúlate und offener Fragen, sind sie Ausdruck eines bestimmten Entwicklungsstandes der Theoriebildung und einer bestimmten historischen Situation. Ging es doch in dem Zeitraum, in dem die Mehrzahl der Texte entstanden ist, um die Erarbeitung bzw. Klärung von Grundpositionen im Interesse „eines nicht dogmatischen Vorgehens", das jedoch der Gefahr einer im Namen des AntiDogmatismus vorgehenden pluralistischen Auflösung oder „Ergänzung" des Marxismus begegnet. Um nicht in einfacher Umkehrung einer normativen Realismuskonzeption die Vielfalt des Erbes und die Experimente aller Avantgarden gleichermaßen „offen" (das heißt kritiklos) zu begrüßen, müssen alle Anstrengungen auf die Erarbeitung und Verteidigung eines

64

marxistisch-leninistischen Standpunktes gegenüber der Vielfalt aktueller ideologischer und künstlerischer Strömungen bzw. auf eine „ T h e o r i e der Öffnung" (s. Text 5) gerichtet sein, für die die Anwendung des Leninschen Prinzips der kritischen Aneignung in ähnlicher Weise wie in unserer Erbediskussion den Ausgangspunkt der Überlegungen darstellt. Daher mußte auch auf dem Gebiet der Literaturtheorie und Ästhetik das Verhältnis zur marxistischen Tradition neu durchdacht und „geordnet" werden. Eine solche Sondierung des Terrains ist verbunden mit Risiken, Unsicherheiten, Widersprüchen, mit vorschnellen Verallgemeinerungen und Aburteilungen, auch mit problematischen „Anleihen". Zugleich wurden jedoch unseres Erachtens Positionen abgesteckt, hinter die eine marxistische Literaturtheorie im Interesse ihrer eigenen Entwicklung, und das heißt im Interesse der Lösung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben, nicht zurückgehen darf. Beide Aspekte stehen zur Diskussion. Sind doch die Beiträge dieses Bandes auf Grund der Fragen, die sie behandeln, und der Antworten, die sie vorschlagen, nicht als Nachrichten aus einem fremden Land zu lesen. Die auf a n d e r e n Erfahrungen (Traditionen) nationaler Literatur- und Wissenschaftsentwicklung basierenden theoretischen Überlegungen in die e i g e n e Arbeit kritisch einzubeziehen, ist für eine internationalistisch orientierte marxistische Literaturwissenschaft unerläßlich. Juni 1975

5

Burmciatcr/Barck

Karlheinz Barck/Brigitte Burmeister

1. Roland Leroy

25 Jahre „ Nouvelle Critique " Kultur, sozialer Fortschritt und Demokratie gehen historisch Hand in Hand Den 25. Jahrestag der Gründung der Nouvelle Critique1 begehen, heißt für das Zentralkomitee der Französischen Kommunistischen Partei vor allem, seine Zeitschrift einmal mehr zur Fortsetzung der Ausarbeitung und Verbreitung der Kulturpolitik der Partei, zur Fortsetzung und Entwicklung ihrer Tätigkeit zur Sammlung der Intelligenz zu ermutigen. Das heißt außerdem, einmal mehr die Bedeutung der Kulturpolitik der Kommunistischen Partei als wesentlichen Teil ihrer gesamten Politik hervorzuheben. Vor fast vierzig Jahren schon wies die Französische Kommunistische Partei in dem Bericht von Maurice Thorez auf dem Parteitag von Villeurbanne2 auf die Folgen der antinationalen Politik der Großbourgeoisie hin und zeigte sich besorgt um die Reichhaltigkeit, die Qualität, die Ausstrahlung, die Demokratisierung der Kultur unseres Landes. Vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren beschloß unsere Partei die Schaffung von Organisationen und Publikationsorganen, darunter die der Nouvelle Critique, in denen immer mehr kommunistische und fortschrittliche Intellektuelle daran arbeiten, die Entwicklung der Kultur in den Perspektiven der demokratischen Entwicklung der ganzen Gesellschaft zu verankern und die Intellektuellen mit den anderen Werktätigen zu vereinen. Vor nunmehr sieben Jahren widmete das Zentralkomitee unserer Partei in Argenteuil3 eine zweitägige Sitzung der gründlichen Debatte über Probleme der Kultur und des Bündnisses zwischen Intelligenz und Arbeiterklasse. Es gibt keine von Kommunisten geleitete Gemeindeverwaltung, die nicht einen bedeutenden Teil ihrer Mittel, trotz der Widerstände der Staatsmacht, für die Kultur ausgibt, insbesondere für die lebendige Kultur, die hier und heute geschaf69

fen wird. Es gibt kein Fest der Partei, das nicht 2ugleich eine kulturelle Demonstration von hohem Niveau wäre, abwechslungsreich, anregend und aktuell. Die Partei ermutigt und unterstützt die Tätigkeit der kommunistischen Intellektuellen im Marxistischen Studien- und Forschungszentrum (CERM) 4 , in den Fédérations (Föderationen)5, am Maurice-Thorez-Institut6. Sie ermutigt und unterstützt ihre wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit in ihrem Beruf, ihrer Disziplin, mit einem Wort ihre Tätigkeit als Intellektuelle. Für die Kommunistische Partei ist die Kultur durchaus kein schmückendes Beiwerk, kein Balsam für Weltschmerz, kein Moment des Vergessens, der Ablenkung, der Vereinigung der Seelen, auf die sie mancher Minister oder der Präsident der Republik 7 selbst mit empörendem Zynismus in gewissen Interviews in Le Monde8 oder Artikeln in der Revue des Deux Mondes9 reduzieren wollen. Für die Kommunistische Partei ist die Kulturpolitik ebenso wichtig wie die Wirtschafts- oder die Sozialpolitik, ihre Politik bildet eine Einheit, und das aus Gründen, die aus der Natur des gesellschaftlichen Lebens selbst herrühren. In dürftigen Konzeptionen noch allzuoft allein auf Literatur und Kunst reduziert, ist die Kultur in Wahrheit im Ensemble der gesellschaftlichen Aktivitäten verwurzelt, wie es die komplexen Beziehungen zwischen der allgemeinen historischen Entwicklung und der literarischen und künstlerischen Entwicklung bezeugen. Auch Wissenschaft, Technik, Berufsausbildung, Sport, alltägliche Beziehungen zwischen den Menschen gehören zur Kultur. Weil all diese Bereiche in einer Klassengesellschaft in letzter Instanz durch die Ausbeutung bestimmt werden, wird auch die Kultur davon betroffen, wird sie unvermeidlich ihre Orientierung, ihre Wesensmerkmale durch die Ausbeutung erhalten. Es liegt folglich in der Natur einer kommunistischen Partei, der revolutionären Partei einer revolutionären Klasse, auf allen Gebieten dafür zu kämpfen, alle gesellschaftlichen Beziehungen der Degradierung und Verstümmelung durch die Ausbeutung zu entziehen. Heute hat dieser Prozeß in unserem Land einen Punkt erreicht, an dem die Verantwortung für die Nation von einer

70

Klasse auf eine andere übergeht, an dem für die französische Arbeiterklasse die Öffnung des Weges zum Sozialismus und Kommunismus eine historisch nahe Perspektive und Aufgabe darstellt. Die Revolution, die sich in der Entwicklung der Produktivkräfte, in der Erkenntnis von Natur und Gesellschaft vollzieht, verlangt eine beispiellose Horizonterweiterung von jedem Werktätigen, jedem Bürger; eine Vergesellschaftung und Verallgemeinerung ihrer Beziehungen. Eine außerordentliche Entwicklung der Kultur steht auf der Tagesordnung. All dies bestätigt die bewundernswerte Analyse von Marx: „Das Kapital treibt [ . . . ] seiner Tendenz nach ebensosehr hinaus über nationale Schranken und Vorurteile, wie über Naturvergötterung und überlieferte, in bestimmte Grenzen selbstgenügsam eingepfählte Befriedigung vorhandener Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweisen. Es ist destruktiv gegen alles dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die Entwicklung der Produktivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannigfaltigkeit der Produktion und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen. Daraus aber, daß das Kapital jede solche Grenze als Schranke setzt und daher i d e e l l darüber weg ist, folgt keineswegs, daß es sie r e a l überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. Noch mehr. Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintritt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben." 10 Die Krise der Gesellschaft entsteht gerade aus der Einschränkung der wissenschaftlich-technischen Revolution durch ein überholtes Gesellschaftssystem. Auf dem Gebiet der Kultur manifestiert sie sich durch einen außerordentlich verschärften Malthusianismus. 11 Alle Anzeichen weisen in dieselbe Richtung: Erstmals wird 1973 die Schulzeit verkürzt statt verlängert, wie es notwendig wäre. Kinder von vierzehn Jahren werden ohne jede Entlohnung den Unternehmern ausgeliefert; 71

und gewisse Leute versuchen unter dem Vorwand der Verschiedenheit der kindlichen Fähigkeiten und Entwicklungsphasen die soziale Ungleichheit des Unterrichtswesens zu rechtfertigen. Erstmals wird in Frankreich das Budget für die wissenschaftliche Forschung im Staatshaushalt verringert. Große wissenschaftliche Einrichtungen - das Institut Pasteur12, die École Normale Supérieure13, das Atomenergiekommissariat, das Muséum14, das Collège de France 15 - sind gezwungen, eine Reihe ihrer Vorhaben einzustellen oder zu verlangsamen. Das gleiche gilt für die meisten der französischen Universitäten. Ein ständig verschärfter Numerus clausus begrenzt den Zugang zum Medizinstudium, obwohl Frankreichs Gesundheitswesen zu den schlechtesten in Europa zählt. Der Besuch der Filmtheater ist in den letzten fünfzehn Jahren ständig zurückgegangen ; der Theaterbesuch fällt - nach einem Ansteigen, das allein den Bemühungen einzelner Theaterschaffender, Gemeindeverwaltungen und Betriebskomitees, nicht aber der Staatsmacht zu verdanken war - seit fünf Jahren deutlich ab. Jeder zweite Franzose liest kein Buch. Die Anzahl der veröffentlichten Titel stagniert (das ist einmalig in ganz Europa), Zeitungen und Zeitschriften haben in den letzten fünfundzwanzig Jahren ein Viertel ihrer Leser verloren. Es wurden nicht nur mehrere Übertragungsstationen von France-Culture16 geschlossen oder umgestaltet, die Gesamtheit der Radio- und Fernsehsendungen ist in den letzten zwei Jahren wesentlich vermindert worden. Acht von zehn Schauspielern sind ständig arbeitslos. Es gibt höchstens einige Dutzend französischer Schriftsteller, die von ihrem Beruf leben können. So haben die „soziale Auslese" auf dem Gebiet der Kultur und die Verschlechterung der Arbeitsund Lebensbedingungen Rückwirkungen auf das kulturelle Schaffen selbst. Die Energiekrise hat gezeigt, daß der kulturelle und wissenschaftliche Malthusianismus die nationale Unabhängigkeit, die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung wie auch das tägliche Leben eines jeden bedroht. Frankreich war anscheinend dasjenige kapitalistische Land mit der sichersten Energieversorgung, sowohl kurz- als auch langfristig, was insbesondere auf die Nationalisierung der Kohlevorkommen und der Elektrizitätserzeugung sowie auf die Anstrengungen auf atomarem 72

Gebiet nach der Befreiung zurückzuführen war. Dieses Erbe ist buchstäblich verschleudert worden, wie auf der letzten Sitzung des Zentralkomitees unserer Partei unterstrichen worden ist. Es gibt kein einziges Anzeichen, das diese nicht mehr relative, sondern absolute Krise der kulturellen Entwicklung widerlegt; nicht einmal gewisse Prestigeunternehmungen, deren Zahl übrigens immer geringer wird, und die sämtlich schon, bevor sie das Licht der Welt erblicken, von Geschäftemacherei und Umgehung ihrer kulturellen Zwecke durchsetzt sind [ . . . ] Unter diesen Krisenbedingungen weist das Großkapital, von dem Marx in dem oben zitierten Text sagt, es treibe über Vorurteile, Naturvergötterung und alte Sitten hinaus, Rationalismus und Optimismus vollständig zurück. Seine Ideologen und seine Politiker, selbst die einflußreichsten, verleumden Wissenschaft, Erziehung, Kultur, Verstand, Intellektuelle, jegliche wissenschaftliche Weltsicht. Sie entwickeln eine Ideologie und Moral des Weltuntergangs, die gleichzeitig von Senilität und selbstmörderischen Tendenzen, von Rückzug in die Vergangenheit und Utopismus zeugen, die nicht das Zeichen erfolgreicher Forschung sind, wie in anderen Zeiten, sondern das Symptom einer angstvollen Flucht vor einer Welt, in der sich die Anklagen der Revolutionäre erheben. So ist die Ernennung Maurice Druons 17 zum Kulturminister, so ist seine Politik kein Zufall. Autoritäres Auftreten, Repression, Kürzung der Mittel sind für die Großbourgeoisie nicht nur notwendig, sie entsprechen, in der Epoche der Krise ihres Systems, ihrer Natur. Die gegenwärtige Regierung des Großkapitals brauchte einen Kulturminister wie jenen, den sie sich gegeben hat, ganz wie sie einen Polizeiminister und einen Armeeminister in der Art jener brauchte, die diese Funktionen ausüben. Gewiß, die herrschende Bourgeoisie wendet sich besonders gegen die Intellektuellen, die sie direkt kritisieren, aber heute bilden in Wahrheit alle Kulturschaffenden, wenn sie die Bindung an das Regime ablehnen, alle ernsthaften kulturellen Aktivitäten, ein Hindernis für das Großkapital, erscheinen sie ihm wie „MolotowCocktails"18. Die Logik des Systems selbst führt zum Rücktritt aller Mitglieder des Rates für kulturelle Entwicklung, die doch einmal durch die Staatsmacht benannt wurden. Die 73

Logik des Systems selbst zwingt den Generalbeauftragten für die wissenschaftliche und technische Forschung dazu, seine Verwaltungsfunktionen wegen Geldmangel nicht mehr wahrnehmen zu können. Die Logik des Systems führt die Inspektoren des technischen Bildungswesens dazu, in den Streik zu treten. Es liegt in der Logik des Systems, daß es nie genug Unterwürfigkeit bei seinen Angestellten findet, wie kürzlich der Vorgang um den P.-D.-G. der O.R.T.F. 19 zeigte. Die Logik des Systems selbst führt zur Generalisierung der Zensur und der Selbstzensur, zur Generalisierung der politischen, juristischen und polizeilichen Anschläge auf die Freiheit des Schaffens und der Meinungsäußerung, unter Bedingungen, die auf den ersten Blick selbst vom Standpunkt der Staatsmacht her irrig erscheinen. [ . . . ] Das ist ein Zeichen tiefer Schwäche, zugleich aber birgt es die Risiken politischer und ideologischer Einschüchterung und Beunruhigung in sich. Die Großbourgeoisie kann keine großen ideologischen Systeme mehr entwickeln. In die Defensive gedrängt, bemüht sie sich, die Entwicklung eines Bewußtseins der Krise zu desorientieren und hinauszuzögern, Zweifel und Schuldgefühl zu säen, nihilistische Revolten zu ermutigen. Wenn Generationen junger Menschen davon bedroht sind, eine immer weniger brauchbare Ausbildung zu erhalten; wenn die kapitalistische Anarchie zu immer größerer Verschwendung, zu regionalen Ungleichheiten, zu einem absurden Städtebau führt, die nur um den Preis gewaltiger Anstrengungen wiedergutzumachen sind, so wiegt die Verantwortung der dekadenten herrschenden Klasse für diese Versuche der Pervertierung des gesellschaftlichen Bewußtseins schwer. Diesem Regime muß dringend ein Ende gemacht werden. Es ist an der Zeit, Frankreich auf den Weg zum Sozialismus über die unerläßliche Übergangsphase der fortgeschrittenen Demokratie zu bringen. Dringlicher denn je ist es, die kulturelle Entwicklung wieder in Gang zu bringen, in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten, die das Bewußtsein und die Bedürfnisse der Volksmassen eröffnen, in Übereinstimmung mit dem nationalen Interesse. [ . . . ] Hier ist der Ansatzpunkt für das Bündnis von Intellektuellen und Werktätigen. Beide, die ganze Nation, brauchen eine bei74

spiellose kulturelle Entwicklung: Die Meisterung der Natur und der Gesellschaft mit Hilfe von Wissenschaft und Technik, mit Hilfe des künstlerischen Schaffens, mit Hilfe der vorausschauenden Phantasie muß die Angelegenheit aller sein. Haben doch Marx, Einstein, Freud, Picasso, Brecht und so viele andere gezeigt: Die Menschen können hinter der Erscheinung, der Gewohnheit, der etablierten Ordnung, dem angeblich Natürlichen die Gründe und die Mittel revolutionärer Umgestaltung entdecken. Noch während einer langen historischen Periode werden die Arbeiterklasse und die Intelligenz in diesem revolutionären Bemühen sicher unterschiedliche Funktionen wahrnehmen, die jedoch im Grundlegenden übereinstimmen. Es ist, so glauben wir, ein Verdienst unserer Partei, gegen Ouvrierismus 20 und gegen Elitetum, gegen alle Versuche, Verwirrung zu stiften, die objektiven und konkreten Bedingungen des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz durch die Erkenntnis ihrer Rolle in der Produktion, ihrer Stellung in den Klassenbeziehungen, der genauen Art ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit immer klarer herausgearbeitet zu haben. Unter den Intellektuellen sind besonders die Ingenieure, leitenden Angestellten und Techniker, die wie die Arbeiterklasse mitten in der kapitalistischen Produktion stehen, in der Lage, deren Wesen zu erkennen, gegen Verschwendung, Bürokratismus und autoritäre Leitung des Produktionsprozesses zu kämpfen und damit ihren Platz im Kampf für die Entwicklung der Produktivkräfte einzunehmen. Es ist, wie wir meinen, ein Verdienst unserer Partei, ständig eben das zum Inhalt des Bündnisses gemacht zu haben, was nach dem Stand der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, nach dem erreichten Niveau des Klassenkampfes als Etappe auf dem Weg zum Sozialismus zu verstehen war. So handelte unsere Partei, als sie die Teilnahme an der antifaschistischen Sammlung vor dem Krieg 2 1 und die Teilnahme an der nationalen und demokratischen Sammlung während der Résistance, der Befreiung und der Jahre des kalten Krieges vorschlug. So handelte sie, als sie begann, unter der Leitung von Laurent Casanova 22 den Bemühungen um das Bündnis von Intelligenz und Arbeiterklasse ihre geistigen und organisatorischen Mittel zur Verfügung zu stellen. 75

Der Charakter, die Notwendigkeit, die realen Möglichkeiten des politischen Bündnisses zwischen der großen Masse der Intellektuellen und der Arbeiterklasse haben sich mit dem Anwachsen der Zahl der Arbeiter, der entscheidenden Rolle ihrer Klasse wie auch des Platzes, der Bedeutung und Anzahl der Intellektuellen und der Ausdehnung der negativen Folgen der kapitalistischen Ausbeutung auf die große Masse der Intellektuellen bedeutend entwickelt. Waldeck Röchet hat 1968 darauf hingewiesen,23 daß wir diesem Bündnis eine für die Zukunft der demokratischen und revolutionären Bewegung entscheidende Bedeutung zumessen. Das bewahrheitet sich mit jedem Tag mehr, erleben wir doch eine Periode des Anwachsens jener sozialen und politischen Kräfte, die für die Sammlung der Mehrheit der Werktätigen und damit für den Sieg über die Großbourgeoisie und ihre Staatsmacht notwendig sind. Wo soll man die Grenze zwischen den Kräften des sozialen Fortschritts und dessen Feinden suchen? Wo, wenn nicht in der Situation, wie sie Georges Marchais in den ersten Zeilen der Demokratischen Herausforderung beschreibt: „In Frankreich gibt es heute diejenigen Menschen, die die gesellschaftlichen Reichtümer produzieren, und diejenigen, die davon profitieren. Es sind nicht die gleichen."24 Die Konturen und die Ziele des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz sind heute also genauer abgesteckt und weiter gespannt als früher. Gewiß, einige nicht sehr zahlreiche Intellektuelle bedienen und verteidigen bewußt die Interessen des Großkapitals und seiner Staatsmacht. Die anderen, und damit meinen wir in der Tat: A l l e anderen, sind interessiert am Sieg einer großen demokratischen Bewegung, am Aufbau eines sozialistischen Frankreich. Und das aus materiellen, intellektuellen und moralischen Gründen. Die übergroße Mehrzahl der Intellektuellen sind heute Lohnempfänger, die, wie die anderen Werktätigen, nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft leben können. Auch für sie gehören Probleme des Arbeitsplatzes, der Berufsbildung, der ständigen Weiterbildung zum täglichen Leben; auch sie sind einer großen Steuerbelastung, den Wohnungsschwierigkeiten und Verkehrsproblemen, der Verschlechterung der äußeren Lebensumstände unterworfen. Die sogenannten freischaffenden Intellektuellen genießen 76

oft nur noch eine durch Banken und Geschäftsleute überwachte Freiheit. Aber auch die Entwicklung ihres Berufes, ihrer Disziplin, ihrer Wissenschaft selbst erfordert tiefe Umwandlungen der ganzen Gesellschaft. Die zunehmende Arbeitsteilung betrifft tatsächlich die Mehrzahl der intellektuellen Tätigkeiten: naturwissenschaftliche und technische, medizinische, juristische, gesellschaftswissenschaftliche wie künstlerische; interdisziplinäre Arbeitsweise - eine gleichzeitig breite und variable Bildung, die laufende Anpassung und das Verständnis wesentlicher Grundlagen anderer Wissensgebiete ermöglicht - und die Bildung von Forschungskollektiven, die Nutzung von Mitteln zur Einstellung veralteter und langwieriger Verfahren werden von allen als notwendig betrachtet. Ein auf Profit ausgerichtetes System antwortet darauf im Gegenteil mit der Zersplitterung und Beschränkung der Ausbildung, mit der Ausrichtung auf unmittelbare Rentabilität, mit Knauserei und verstärkter gesellschaftlicher Arbeitsteilung, wo doch der notwendigen technischen Arbeitsteilung des gesamten Forschungs- und Überführungsprozesses gerade die Vergesellschaftung seiner Beherrschung zur Seite gestellt werden müßte. Von diesen Erfahrungen her erkennen die Intellektuellen wie die anderen Werktätigen auf spezifische, aber nicht weniger wesentliche Art den Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems. Schließlich treffen sich die Forderungen der Volksmassen nach anderen und besseren Lebensbedingungen mit den Forderungen der Intellektuellen nach anderen und besseren Arbeitsbedingungen. Der Kampf für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (Wohnungen, Verkehrsmittel, Gesundheit, Städtebau, Schulwesen) öffnet der Tätigkeit der Intellektuellen weite Möglichkeiten. Deshalb haben wir oft gesagt, daß das gemeinsame Regierungsprogramm den Forderungen entspricht, die in diesen Kämpfen formuliert wurden, daß es in seiner Gesamtheit ein Programm ist, das auf die Entwicklung der Kultur gerichtet ist und den Interessen der Intellektuellen entspricht. Denn für uns bilden, wie Marchais in der Demokratischen Herausforderung schreibt, Produktion, Wissenschaft und Technik „keinen Selbstzweck. Sie sind nur sinnvoll, wenn sie in den Dienst des Menschen gestellt werden, zur Entfaltung aller seiner Fähigkeiten beitragen. Außerdem kann nur die Herausbildung dieser 77

Fähigkeiten die Quelle für eine stete Entwicklung von Produktion, Wissenschaft und Technik sein." 25 Deshalb haben wir gesagt, daß die Verwirklichung dieses Programms den Intellektuellen eine bisher ungekannte Schaffensfreiheit geben würde: Das demokratische Frankreich wird notwendigerweise die ganze Erfindungs- und Entdeckungsgabe der Intellektuellen zur Lösung der überall auftretenden • Probleme der Bedürfnisbefriedigung brauchen. Demgegenüber wird heute vom Arzt gefordert, nicht über das unbedingt Notwendige hinaus zu behandeln, vom Städteplaner, nicht zu großzügig zu entwerfen, vom Ingenieur, nicht über die finanziellen Zwänge des Unternehmens hinaus zu planen. Heute kann man nicht laut genug warnen: Die französische Wissenschaft ist in Gefahr! Der Anteil der Forschung am Bruttosozialprodukt ist nicht nur geringer als in der Sowjetunion, sondern auch geringer als in allen hochentwickelten kapitalistischen Ländern. Um es nochmals zu sagen: Die Beeinträchtigung der Wissenschaftsentwicklung betrifft nicht nur das heutige Leben, sie verlangsamt auch das Entwicklungstempo der Gesellschaft, für die die Wissenschaft immer unentbehrlicher wird. Daraus entstehen schwerwiegende Konsequenzen für die nationale Unabhängigkeit, die ökonomische und soziale Entwicklung, den Inhalt der Forschung selbst, für die Schulbildung und die Freiheit der Forschung. Antiwissenschaftlicher Nihilismus und Pessimismus nähren einen Malthusianismus, der in der gegenwärtigen Periode der beginnenden wissenschaftlich-technischen Revolution nur um so vernichtender ist. Die Perspektive einer gewaltigen Veränderung der Arbeit wird geopfert. Um so mehr wäre der Sozialismus, der ein hohes Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte, ein hohes Niveau der gesellschaftlichen Nachfrage erfordert, dazu in der Lage, das zu entwickeln, was in einem demokratischen Frankreich entstehen soll. Das Beispiel der Länder, in denen der Sozialismus aufgebaut wird, zeigt das deutlich. So sind Lehrende, Pädagogen und Psychologen in allen sozialistischen Ländern angehalten, Mittel zu suchen, die gesamte Bevölkerung bis zum achtzehnten

78

Lebensjahr zu schulen und auch danach ihre ständige Weiterbildung zu sichern. D e r Antisowjetismus wird das zweifellos Zwang nennen. Ich glaube, die Intellektuellen, die darüber B e scheid wissen, werden es im Gegenteil Freiheit nennen. E i n anderes Beispiel: Alle Forscher und Wissenschaftler der Naturund Gesellschaftswissenschaften in der Sowjetunion sind aufgefordert, an der Ausarbeitung eines Perspektivplanes der nationalen Entwicklung bis in die neunziger Jahre dieses Jahrhunderts teilzunehmen, eines Planes, der eine beispiellose Beherrschung der harten natürlichen Bedingungen in der Sowjetunion und die Aufhebung der sozialen, technischen und kulturellen Niveau-Unterschiede zwischen den Bauern und den Werktätigen in den Städten vorsieht. D e r Antisowjetismus wird das zweifellos Zwang nennen. Ich glaube, die Intellektuellen werden es im Gegenteil Freiheit nennen, und so wird es auch von den sowjetischen Intellektuellen empfunden. Ganz natürlich werden bei diesem Unternehmen, das dem Wesen des entwickelten Sozialismus entspricht, Hypothesen, Ideen, Konzeptionen diskutiert, deren Reichtum und Verschiedenheit jeden in Erstaunen versetzen, der darüber Bescheid weiß und die die schwarzen Legenden des Antisowjetismus und Antikommunismus über die totalitäre Uniformität der sozialistischen Länder Lügen strafen. Den Weg eines Sozialismus zu beschreiten, dessen materielle Basis von jetzt an entwickelt wird, ist also ein Ziel des Bündnisses zwischen der Arbeiterklasse und den anderen werktätigen Schichten, darunter den Intellektuellen. Diese Tatsache ist übrigens ein wesentlicher Punkt, der die Auffassung unserer Partei bestätigt, daß der Sozialismus in Frankreich ein eigenes Antlitz und eigene Formen haben wird. Auf dieser Tatsache beruht außerdem die Notwendigkeit der Kulturrevolution, wie Frankreich sie braucht und die mit mehr oder weniger großer Klarheit bereits viele Intellektuelle anstreben. Die sozialistische Revolution ist nicht die Addition einer ökonomischen, einer politischen und sozialen, einer ideologischen Revolution, von denen je nach den Umständen jede einzeln Bedeutung erlangen würde. Sie ist ein einheitlicher Prozeß, dessen verschiedene Komponenten sich nicht gleichmäßig entwickeln, dessen Ausgangspunkt aber in letzter Instanz in der Revolution der Produktionsverhältnisse auf der Basis einer Entwicklung der Pro79

duktivkräfte liegt, die objektiv zur umfassendsten Vergesellschaftung der Produktion führt. Es gibt niemals eine Kulturrevolution allein, ebensowenig wie eine Revolution mit einer Kulturrevolution beginnt. Ideologie und Kultur entspringen der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens. Die Revolution in den Produktionsverhältnissen reicht nicht aus, um Ideologie und Kultur zu revolutionieren, aber sie ist die notwendige Bedingung dafür, ohne sie wäre jede ideologische oder kulturelle Revolution nur Traum oder Spiel. Versuchen wir, den Inhalt der durch den Sozialismus verwirklichten Kulturrevolution genauer zu beschreiben. Die sozialistische Kulturrevolution befreit die Fähigkeiten aller Werktätigen und damit die der Nation. Sie erlaubt und stimuliert den Zugang der Arbeiterklasse und der Volksmassen zu den verschiedenen Bestandteilen der Kultur. Sie erweitert beständig die soziale Basis der Intelligenz. Sie beginnt damit, die Gesellschaft von der Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zu befreien. In diesem Zusammenhang ist noch nicht genügend bekannt, daß die Werktätigen in den sozialistischen Ländern zusätzlich materiell stimuliert werden, wenn sie an der kulturellen Tätigkeit des Betriebes teilnehmen oder Weiterbildungskurse besuchen. Es ist noch nicht genügend bekannt, daß seit 1972 die Werktätigen in der D D R durch verschiedene Stimuli angeregt werden, die Umgebung ihrer Arbeitsplätze, die Betriebe, die Städte, Gemeinden, das Land schöner zu gestalten. Es ist noch nicht genügend bekannt, daß die Bildungssysteme der sozialistischen Länder in der Praxis bewiesen haben: Jedes Kind kann, entsprechend seinen Fähigkeiten, Zugang zu höchstem Wissen erhalten. Auch die außerordentliche Verbesserung der Qualität der Freizeitgestaltung in den sozialistischen Ländern ist noch nicht genügend bekannt. Zur sozialistischen Kulturrevolution gehört auch die Befreiung der gesamten Gesellschaft durch die Verallgemeinerung wissenschaftlichen Planens und Handelns auf allen Gebieten, durch den Willen, das gesellschaftliche Bewußtsein aller Menschen, ihr Bewußtsein von den allgemeinen Bewegungsgesetzen in Natur und Gesellschaft zu fördern. Die Krise der Kultur im Kapitalismus äußert sich insbesondere auch darin, daß kul-

80

turelle Bewegungen für unfruchtbar erklärt werden, die zu Beginn unseres Jahrhunderts die literarische und künstlerische Vorstellungskraft durch die Kenntnis oder zumindest die Aufgeschlossenheit gegenüber der fortgeschrittensten Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu befruchten vermochten: Die Romanciers haben aus den Entdeckungen der Psychologie Vorteil gezogen, Apollinaire und Léger26 haben Maschinen und Werkzeuge in ihre Kunst einbezogen, die Surrealisten27, z. B. Aragon im Paysan de Paris (Der Bauer von Paris), haben die Poesie der modernen Städte aufgespürt. Picasso führt in sein Werk den Rhythmus von heute, die neuen Möglichkeiten zum Ermessen von Raum und Zeit ein. So entsteht die Kultur von heute zugleich als Bruch mit dem Alten und Fortsetzung des Alten, der Renaissance wie der Enzyklopädisten28 oder Hugos. Das kulturelle Schaffen wird durch moderne technische Mittel bereichert, die ihm übrigens oft eine größere Verbreitung ermöglichen. Lenin und die Surrealisten haben, jeder von seinem Standpunkt, gleichzeitig die Bedeutung des Films erfaßt. Ähnliches ließe sich heute über die Bedeutung des Fernsehens sagen. Die heutige bürgerliche Ideologie ist demgegenüber nur dazu in der Lage, sich der Vergangenheit oder flüchtigen Moden zuzuwenden. Sie geht so weit, einen falschen, lächerlichen Rousseauismus des „Zurück zur Natur"29 oder der Flucht in irgendeinen mythischen Orient zu verkünden. Unfähig, große Systeme zu entwickeln, seien sie apologetisch oder systemkritisch, bezweifelt sie die Notwendigkeit jeder umfassenden Weltanschauung, jeder Philosophie. Es ist wichtig, daß die Marxisten diesem Druck nicht nachgeben und auf schöpferische Art das Feld der Philosophie besetzen. Das erfordert eine wirkliche philosophische Arbeit, die grundlegend und schöpferisch, prinzipiell und weiterführend ist, eine philosophische Arbeit, die sowohl der Konzeption entgegentritt, nach der es Marx und Lenin niemals gegeben hat und alles noch zu erfinden wäre, als auch jener anderen, nach der sich zwischen der Epoche von Marx und Lenin und unserer Epoche nichts ereignet hat und alles schon gesagt ist. Was die Kommunisten betrifft, so werden sie ständig bemüht sein; die revolutionäre Bewegung auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Theorie und Praxis zu entwickeln. Eine solche Theorie und eine solche Praxis haben es der Arbei6

Burmeister/ Barck

81

terbewegung gestattet, sich fortschreitend von der Beherrschung durch die bürgerliche Ideologie zu befreien, einen kurzsichtigen Opportunismus zu überwinden und die allgemeinen Gesetze des Kapitalismus wie die des Sozialismus ständig fest im Auge zu behalten. Diese wissenschaftliche Haltung ist allerdings grundlegend verschieden von jenem Szientismus, mit dem man sie verwechseln wollte, sie ist offen und wird ständig entwickelt, ist niemals abgeschlossen, ist das Gegenteil des Dogmatismus und schließt Initiative und Phantasie in keiner Weise aus; es gibt eine wissenschaftliche Phantasie, Marx und Lenin haben das gegenüber der Realität ihrer Zeit bewiesen. Die Kulturrevolution beinhaltet schließlich die Erkenntnis der wirklichen Beziehungen zwischen intellektueller Arbeit und der Gesamtheit der gesellschaftlichen Bewegung, zwischen der revolutionären Bewegung und der Entwicklung der Kultur. Diese Beziehungen sind niemals unvermittelt, durchsichtig, mechanisch. Die intellektuelle Tätigkeit vermittelt auf spezifische Art, mit ihren Methoden und nach ihren Gesetzen, die produktive Tätigkeit wie die sozialen und politischen Kämpfe, antizipiert sie bisweilen. Dieser notwendige Abstand ermöglicht intellektuelles, wissenschaftliches oder künstlerisches Schaffen, und er ist von höchster Wichtigkeit, damit schließlich die soziale Revolution und die kulturelle Bewegung historisch Hand in Hand gehen; beide Seiten müssen sich dieses Abstandes bewußt sein, der Tatsache, daß es sich um einen Abstand und weder um das Entschweben in ideale Himmel noch um das Festkleben an einer eng verstandenen ökonomischen und politischen Sphäre handelt. Die Französische Kommunistische Partei hat hartnäckig in Experimenten und nicht ohne Irrtümer versucht, eine theoretisch fundierte und praktisch wirksame Kulturpolitik durchzuführen. Sie hat ihre Fehler öffentlich bekannt, sie ist jedoch nicht bereit, den Prinzipien ihrer Politik abzuschwören. Man sagt manchmal, daß man kommunistischer Intellektueller nur sein kann, wenn man nicht mehr liest, was man früher geschrieben hat, oder was die Partei früher über die Intelligenz und die Kultur gesagt hat. Wir glauben im Gegenteil, daß es sehr nützlich ist, diese Politik und ihre einzelnen Stufen einzuschätzen. Man wird dann übrigens überrascht feststellen, daß die Partei heute oft gedrängt wird, auf Konzeptio82

nen zurückzukommen, deren Schädlichkeit sie ausreichend erfahren hat, so daß sie keine Lust verspürt, diesem Drängen (z. B. auf Eklektizismus oder auf Unterordnung der Kultur unter die Politik) irgendwie nachzugeben. Wir weisen den Eklektizismus zurück; unsere Haltung besteht, wie die Lenins, darin hervorzuheben, daß Literatur und Kunst gegenüber dem weltweiten Klassenkampf nicht die Position eines indifferenten Beobachters beziehen können. Gleichzeitig sind wir den Worten Lenins treu, der schrieb: „Kein Zweifel, das literarische Schaffen verträgt am allerwenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Kein Zweifel, auf diesem Gebiet ist es unbedingt notwendig, weiten Spielraum für persönliche Initiative und individuelle Neigungen, Spielraum für Gedanken und Phantasie, Form und Inhalt zu sichern." 30 Stellen wir also die Frage: Wo wird die Kultur bevormundet? Eine normative Auffassung des geistigen Schaffens, die Bürokratisierung der Kultur und ihre Beschneidung durch Zentralismus sind in der heutigen Gesellschaft des Großkapitals eine Tatsache. Wir können feststellen, daß die letzten Jahre durch ein allgemeines Streben der Intellektuellen, insbesondere der jungen Intellektuellen, nach einer Revolution auf dem Gebiet der Kultur gekennzeichnet sind, in welcher Sprache sie dieses Streben auch ausdrücken und wie groß die Illusionen über die dazu vorhandenen Möglichkeiten unter der Herrschaft des Großkapitals auch sein mögen. Es gibt ein Streben nach kollektiver Arbeit, nach der Überwindung der Vorstellung vom Intellektuellen als Held oder einsamer Handwerker: Man versucht, Forschungskollektive, pädagogische Kollektive, interdisziplinäre Gruppen, Theaterkollektive zu schaffen. Es gibt Tendenzen, die Trennung zwischen literarischen und künstlerischen Disziplinen, zwischen diesen und den Naturwissenschaften zu durchbrechen; man versucht z. B. Text, plastischen und musikalischen Ausdruck, Musik und Mathematik in Beziehung zu setzen. Es besteht der Wille, die intellektuelle Arbeit in Beziehung zur Volksbewegung zu setzen, wovon die gesamte Aktivität des sogenannten Jungen Theaters 31 zeugt. Es besteht der 6*

83

Wille zur Aneignung des nationalen und universalen Erbes, zu seiner Konfrontierung mit der Gegenwart, ihrer gegenseitigen Befruchtung. All das erfordert eine gewaltige Arbeit, die enorme Schwierigkeiten zu überwinden hat. Wie armselig ist es demgegenüber, wenn der Kulturminister Druon dem Figaro32 vom 20. Oktober 1973 anvertraut: „Das Wort .Untersuchung' irritiert mich etwas, wenn man es auf das Theater anwendet." Hat er z. B. die letzte Inszenierung von La Dispute (Der Streit) von Marivaux 33 oder von L'Excès (Der Exzeß) nach Bataille 34 oder so vieler anderer Stücke nicht gesehen, hat er alle diese Neuansätze nicht wahrgenommen, die keineswegs von Spontaneität, sondern im Gegenteil von einer enthusiastischen Arbeit zeugen, und das trotz der quantitativen Begrenztheit des Publikums unter diesem System. Gerade diese Art von Aufführungen, gerade solche Bemühungen, wie die des Théâtre de la Salamandre35, das mehr als die Staatsmacht für den Geburtstag Molières getan hat, werden von Leuten, wie Maurice Druon, Jean-Jacques Gautier36 und Marcel Achard37, in Frage gestellt. Man versteht sie von ihrem Standpunkt aus. Es handelt sich hier um etwas Neues, das entsteht, das Forderungen stellt, das nach Veränderungen in der Kultur und in der Gesellschaft ruft, um etwas, das nichts mit elitären oder volkstümelnden, nichts mit formalistischen oder spontanen Erscheinungen zu tun hat. Seht, wie Aragon arbeitet, unser Genosse, Meister seiner Kunst, der aufmerksam alles verfolgt, was neu und produktiv ist, und der unermüdlich gegen jede Verknöcherung und gegen jede normative und abstumpfende Haltung kämpft. [ . . . ] Und Picasso, der unauffällig Kommunist zu sein verstand, durch seine Malerei, eine Malerei, die aus der Kraft seiner Jugend, seiner Wahrheit, seines Kampfes gewachsen ist. Der Maler von Guernica und des Massakers in Korea, der immer aktuell und jung ist. [.. .] Auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der Literatur und Kunst könnte man solche Beispiele finden. Das Leben selbst beginnt jene realen Probleme zu lösen, die noch vor kurzem durch falsches und mechanisches Herangehen künstlich verzerrt wurden, wie z. B. die Frage nach dem Verhältnis von kulturellem Erbe und moderner Kultur, nach dem Ver84

hältnis von künstlerischer und politischer Avantgarde, wie das Problem von Publikum und Nicht-Publikum, von bewußter Arbeit und Spontaneität. Wir glauben, daß die kommunistischen Intellektuellen, daß die Partei hier eine Aufgabe haben. Dies stellt, unserer Meinung nach, einen Beweis für die Gültigkeit des Marxismus-Leninismus in Fragen der Kultur und der Kulturrevolution dar sowie eine Grundlage für den wachsenden Einfluß des Marxismus-Leninismus unter den Intellektuellen und einen Grund für den wachsenden Einfluß der Französischen Kommunistischen Partei unter ihnen. Die Intellektuellen können sich auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen davon überzeugen, in welcher Weise der Marxismus und die Kommunistische Partei lange Zeit verleumdet wurden. Heute können sie die Fähigkeit des Marxismus erkennen, sich den Methoden, Fragen und Errungenschaften der Wissenschaften und anderer Weltanschauungen zu stellen und gleichzeitig seine Prinzipien, den dialektischen und historischen Materialismus, die Verbindung mit der revolutionären Arbeiterbewegung, in der Praxis aufrechtzuerhalten. In der Tat weist der Marxismus-Leninismus z. B. jede Auffassung von einer bürgerlichen oder proletarischen Wissenschaft, Kunst oder Literatur als Norm zurück. Er wertet sie nicht abstrakt. Er betont, daß Forschung und Schöpfung ihrem Wesen nach im Widerspruch stehen zu den Bestrebungen der herrschenden Klasse, die Bewegung der Geschichte über ihre Klassengesellschaft nicht hinausgehen zu lassen. Er stellt dagegen fest, daß die Kultur nicht vom Klassenkampf getrennt ist, daß dieser sie durchdringt, daß die herrschenden Klassen sie mit ihrer Ideologie durchdringen, sie für ihre eigenen Interessen ausnutzen und sie zum Verfall führen können. Daher werden die Marxisten-Leninisten immer jeden Kompromiß mit Konzeptionen zurückweisen, die danach streben, den notwendigen Charakter der Kulturrevolution zu negieren oder zu verwischen. Daher rief unsere Partei die Intellektuellen in der Resolution der ZK-Tagung von Argenteuil auf: „Die Entwicklung der Wissenschaft erfordert Debatten und Forschungen. Der Kommunistischen Partei geht es nicht darum, diese Debatten zu durchkreuzen und eine Wahrheit a p r i o r i zu verkünden, noch weniger darum, in autoritärer Weise laufende Diskussionen von Spezialisten zu entscheiden. 85

Auch das künstlerische Schaffen ist nicht ohne Forschungen, ohne Strömungen, ohne verschiedene Schulen und ihre Konfrontation denkbar. Die Partei schätzt und unterstützt die verschiedenen Formen des Beitrags der Geistesschaffenden zum menschlichen Fortschritt in der freien Entfaltung ihrer Phantasie, ihres Geschmacks und ihrer Originalität. Sie wünscht, daß die Geistesschaffenden die ideologischen und politischen Positionen der Arbeiterklasse verstehen und unterstützen."38 Es ist kaum nötig, daran zu erinnern, daß hier wie anderswo dieses Verständnis des Standpunktes der Arbeiterklasse weder aus einem voluntaristischen Eingriff von seiten der Intellektuellen noch aus einem administrativen Eingriff von Seiten der Partei resultieren kann, sondern nur aus einer Überzeugung, die der Erfahrung der Intellektuellen entspringt. Diese Erfahrung wird heute, unter den Bedingungen der Krise der monopolkapitalistischen Gesellschaft, immer unvermittelter. Deshalb verstärken die Ideologen der Großbourgeoisie ihren Antimarxismus, Antikommunismus und Antisowjetismus. Das stellt eine absolut notwendige politische Linie für eine Klasse dar, die sich in einer verzweifelten Lage befindet. Diese Linie ist auf Biegen und Brechen durch systematisches Verschweigen oder Verfälschen des Marxismus, der Entwicklung der sozialistischen Länder und der Positionen der Partei charakterisiert. Diesen Antimarxismus, Antikommunismus und Antisowjetismus der herrschenden Klasse verwechseln wir nicht mit kritischen Fragen an den Marxismus, an die sozialistischen Länder und die Partei, wie sie von Intellektuellen und von anderen Bürgern in dem Bemühen gestellt werden, besser Bescheid zu wissen, um in den Kampf für Demokratie und Sozialismus besser eingreifen zu können. Wir haben schon des öfteren festgestellt, daß das Bündnis der Arbeiterklasse und der Intelligenz nicht mit der Frage des Beitritts von Intellektuellen zur Kommunistischen Partei identisch ist. Der Antikommunismus verschleiert diese Frage bewußt, weil er das eine wie das andere fürchtet. Es steht allerdings fest, daß es zwischen der ersten und der zweiten Frage keinen unüberwindbaren Gegensatz gibt. Wie könnte unsere Partei nicht den Beitritt vieler Intellektueller wünschen? Als Partei der Arbeiterklasse, als revolutio86

näre Partei, die ihre Tätigkeit auf den Marxismus-Leninismus und die klare Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung gründet, braucht sie das Können der Intellektuellen. Diese wiederum finden hier die Möglichkeit, so wirkungsvoll wie möglich zum Kampf für eine neue Gesellschaft beizutragen und an den Erfahrungen der Arbeiterklasse teilzuhaben. Die Tätigkeit der kommunistischen Intellektuellen, Verschiedenartigkeit und Reichtum ihrer individuellen und kollektiven Arbeiten, der Anteil, den sie an den politischen Kämpfen der Intelligenz nehmen, ihr Platz in der allgemeinen Tätigkeit der Partei, bei der Erarbeitung und Verwirklichung ihrer Politik, zeugen davon, daß der Kommunistischen Partei irgendwelche Vorstellungen von Unterordnung der Intellektuellen unter andere Werktätige wie auch von irgendwelchen Privilegien der Intelligenz völlig fremd sind. Durch ihren gewaltigen Beitrag zur Ausarbeitung und Verbreitung der Kulturpolitik eines demokratischen, in Zukunft sozialistischen Frankreich hilft die Nouvelle Critique vielen Intellektuellen, die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Umwälzung zu ermessen. Aber darüber hinaus verhält es sich mit der Kultur wie mit den anderen Fragen, vor denen das Land steht: Sie werden dauerhaft und tiefgründig nur durch eine Veränderung der Gesellschaftsstrukturen gelöst werden. Nichtsdestoweniger müssen gegenwärtig die brennenden Probleme der kulturellen Entwicklung, die drängenden Fragen nach der Zukunft der Intelligenz sofortigen Lösungen zugeführt werden, die der Kampf der Intellektuellen - in Verbindung mit dem der anderen Werktätigen - erzwingen kann. Das betrifft die Forderung, das Budget des Kulturministeriums auf ein Prozent zu erhöhen. Das betrifft den Kampf gegen jede Art von Angriff auf die demokratischen Freiheiten, betrifft alle unsere Forderungen. Der allgemeine Kampf besteht aus einzelnen Kämpfen. Er wird gleichzeitig an allen Fronten geführt. In diesem Kampf verfügen die Intellektuellen über die Ausdrucksmittel der Partei, vor allem über die Humanité, dann über die Humanité-Dimanche, France Nouvelle, die Cahiers du Communisme, L'École et la Nation, Economie et Politique39 und über ihre spezifische Zeitschrift, die Nouvelle Critique. Die Nouvelle Critique öffnet ihre Spalten immer mehr für 87

Diskussionen, drückt unsere Positionen zu allen Problemen klar aus, greift furchtlos alle neuen Fragen auf und bezieht auf diese Weise Position in den Kämpfen, durch die die Kommunisten dazu beitragen wollen, die Probleme von heute zu lösen und grundlegende Veränderungen vorzubereiten. Für die Intellektuellen wie für die anderen Schichten der Bevölkerung gilt, was in der Demokratischen Herausforderung festgestellt wird: „Wir wollen weder den Lauf der Dinge überstürzen noch die Menschen drängen. Vom historischen Standpunkt aus ist dies übrigens auch gar nicht möglich. Wenn einige es versucht haben, so hat es stets der Sache, der sie dienen wollten, geschadet. Wir leben in der Zeit unseres Landes, im Rhythmus des Herzschlages unseres Volkes; wir sind darauf bedacht, ihm jeweils einen Schritt voraus zu sein, ihm den Weg zu öffnen, aber nicht aufzuzwingen. Manche werden ungeduldig, wenn sie auf diesem Weg Hindernisse finden und feststellen, daß er Kurven und Biegungen hat. Kommt man jedoch etwas höher hinauf, dann sieht man, daß der Horizont klarer wird und näher rückt. Und das ist vielleicht das Neueste: Die Welt kann etwas schneller, mit etwas sichererem Schritt voranschreiten." 40 Ich will noch etwas hinzufügen: Wer könnte in der Welt von heute die Rolle der Intellektuellen in der revolutionären Bewegung der Gesellschaft negieren, wenn der Tod eines Dichters - eines der größten Dichter der Welt - die erste Demonstration des kämpfenden Chile gegen seine Henker hervorruft? Ja, das ist der ganze Sinn unseres Kampfes - Kultur, sozialer Fortschritt, Demokratie und Sozialismus gehen historisch Hand in Hand! Übersetzt von Dagmar Klein

2. Gérard Belloin

Opfer des gleichen Systems

Publikum und Freiheit des Schaffens Der Kapitalismus hat einen erstaunlichen Verbrauch des Wortes „Freiheit". Der „Freiheit des Unternehmens" stellt er die Freiheit der Wahl durch das Publikum auf kulturellem Gebiet an die Seite. Diese sichere gleichzeitig die vollständige Freiheit der Forschung und des Schaffens für den Intellektuellen, speziell für den Künstler. Aber es ist mit der Schaffensfreiheit des Künstlers wie mit der Freiheit des Publikums: Sie wird durch das Zusammenwirken des Spiels der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus und der Politik der Großbourgeoisie ihres Inhalts weitgehend entleert. Das der Bevölkerung auf kulturellem Gebiet bereitete Schicksal ist in sich selbst eine Quelle des Zwangs für den Schriftsteller und Künstler. Die Hindernisse, die das kapitalistische System dem Zugang der großen Mehrheit der Bevölkerung zur Kultur entgegenstellt, und die Grenzen, in die es die Freiheit auf diesem Gebiet einschließt, manifestieren sich als Hindernisse und Grenzen für den Weg des künstlerischen Werkes in die Gesellschaft. Elsa Triolet schreibt zum Problem der Kommunikation des Schriftstellers und Künstlers mit anderen Sterblichen: „Wenn diese Sterblichen antworten: Für das, was ihr gefordert habt, interessiert sich keiner, so ist das Werk nur eine taube Nuß." 1 Wenn so viele Menschen eine solche Antwort geben, so oft deshalb, weil ihr Interesse nicht geweckt worden ist. Aber die Breite des Publikums, das fähig wäre, sich seine Werke anzueignen, betrifft den Schriftsteller und Künstler nicht allein von dem sicher legitimen Standpunkt der Tragweite des Werkes. Es betrifft ihn auch insofern, als es die Koordinaten seiner eigenen Schaffensfreiheit bestimmt. Je breiter das Publikum ist, 89

das sich seine Werke anzueignen vermag, desto größer sind die Chancen für diese Freiheit. Andererseits ist die Begrenzung des Publikums immer eine Gefahr für die Intentionen des Künstlers. Quantität und Qualität des Publikums sowie die Möglichkeiten des Künstlers, das zu sagen, was er zu sagen hat, sind eng miteinander verbunden. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur anzusehen, wie der „Publikumsgeschmack" gegen die Künstler ausgenutzt wird. Hier liegt eine Quelle der Zwänge, unter denen das künstlerische Schaffen steht, die sich oft genug zwischen die ursprünglichen Intentionen des Künstlers und das, was sein Werk schließlich darstellt, drängen. „Ein Film", bemerkt der Filmregisseur René Clair, „existiert nur auf der Leinwand. Zwischen dem Hirn, das entwirft, und der Leinwand, die reflektiert, gibt es jedoch eine ganze industrielle Organisation mit ihren Geldbedürfnissen." Die Künstler reagieren nicht alle gleich auf diese Zwänge. Für einige sind sie das Alibi für jeden Verzicht, die Rechtfertigung aller Seichtheit. Das ist einer der Gründe für die kulturelle Mittelmäßigkeit, die das System erzeugt. Sie desorientieren und entstellen die Funktion der literarischen und künstlerischen Aktivität, die ihr Ziel in sich begründen muß. Wenn das letzte Ziel dieser Tätigkeit darin besteht, „Geld zu machen", werden ihre menschliche Tragweite und Bedeutung eben dadurch verfälscht und entstellt. „Der Schriftsteller muß allerdings erwerben, um existieren und schreiben zu können, aber er darf keineswegs existieren und schreiben, um zu erwerben. Wenn Béranger singt: Ich lebe nur, um Lieder zu machen. Wenn Sie mir meinen Platz nehmen, o Herr, werde ich Lieder machen, um zu leben, so liegt in dieser Drohung das ironische Geständnis, daß der Dichter aus seiner Sphäre herabfällt, sobald ihm die Poesie zum Mittel wird. „Der Schriftsteller betrachtet keineswegs seine Arbeiten als M i t t e l . Sie sind S e l b s t z w e c k e , sie sind

90

sowenig Mittel für ihn selbst und für andere, daß er i h r e r Existenz s e i n e Existenz aufopfert, wenn's not tut, und in anderer Weise, wie der Prediger der Religion zum Prinzip macht: ,Gott mehr gehorchen, denn den Menschen', unter welchen Menschen er selbst mit seinen menschlichen Bedürfnissen und Wünschen eingeschlossen ist." 2

Die tägliche Zensur durch das Geld Aber viele Autoren und Künstler, die sich weigern, „den Menschen" nachzugeben, können trotzdem, wenn sie sich ausdrücken wollen, nicht nur „Gott gehorchen". Sie sind dann gezwungen, mehr oder weniger unterhalb ihrer eigentlichen Intentionen zu bleiben. Um sich dennoch Gehör zu verschaffen, müssen sie versüßen oder glätten, was sie zu sagen haben. Oder etwas anderes sagen. Oder schweigen. Sie verstümmeln sich. Sie greifen auf ein allgemeines, unsichtbares, aber einschneidendes und massives Verfahren zurück: die Selbstzensur. Die Selbstzensur ist die tägliche Zensur durch das Geld. Sie hat für das System den großen Vorteil, lautlos zu funktionieren. Eine Liste der Werke und der Künstler, die der Zensur zum Opfer fielen, ließe sich aufstellen. Für die Opfer der Selbstzensur ist das nicht möglich. Sie sterben schweigend. Meist tötet sie die Werke schon im Keim. Die Zensur ist widerwärtig. Die Selbstzensur fügt dem Widerwärtigen noch die Heuchelei hinzu. Manchmal besteht die Lösung für den Künstler darin, gegenüber den Verboten des Systems eine List zu gebrauchen, zum Schleichhandel zu greifen. Daraus können Werke von großem Interesse hervorgehen. Zahlreiche amerikanische Western oder „Krimis" haben z. B. eine ganz andere Bedeutung als die anekdotische Geschichte nahelegt, die sie vordergründig erzählen. Die wirklichen Intentionen der Autoren, das, was sie tätsächlich ausdrücken wollten, sind nur zwischen den Zeilen lesbar. Aber nur ein begrenzter Teil des Publikums verfügt über den Code, der eine solche Lektüre ermöglicht. Daher bleibt die beabsichtigte Wirkung solcher Werke begrenzt.

91

Die Selbstzensur kann auch auf noch andere Art wirken. Um ihr nicht ausgesetzt zu sein, um er selbst zu bleiben, kann der Autor eine Form oder ein Ausdrucksmittel wählen, mit dem er nur ein begrenzteres Publikum erreicht. Umgeht er so die Selbstzensur bei der Erarbeitung des Inhalts seines Werkes, unterliegt er ihr doch im Hinblick auf seine Verbreitung. Gewiß, dank ihres Talents gelingt es manchen, alle Türen aufzubrechen und ihren Werken eine große Verbreitung zu sichern. Aber dann sehen sie sich der massiven Verbreitung der Massenliteratur - im schlimmsten Sinne des Wortes - gegenüber, die auf dem Publikum lastet und sich wie ein Schirm zwischen Publikum und authentische Schöpfung schiebt. Damit wird die Rolle der Kunst in der Gesellschaft begrenzt und ihre Wirkung verzögert. Die Schöpfung wird in ihrer Gesamtheit direkt oder indirekt durch die Unterordnung der Kultur unter das Geld bestimmt. Indem der Kapitalismus aus der Kultur eine Ware und einen Luxusgegenstand macht, unterwirft er alle Kulturschaffenden direkt oder indirekt und auf vielfältige Weise der Zensur durch das Geld. Gewiß haben sich immer Leute gefunden, über die Tugend der Armut in der Kunst zu theoretisieren. Ein Kulturminister hat diese Debatte sogar neu aufgewärmt, indem er daran erinnerte, was er alles persönlich durch den Verkauf seines Fahrrades hatte realisieren können. Entweder er verwechselt hier verschiedenes, oder er macht sich über die Welt lustig. Eine gewisse Form der Armut, z. B. die Suche nach der Dürftigkeit, kann eine gut überlegte ästhetische Entscheidung sein. Aber die Realisierung solcher Entscheidung erfordert zwangsläufig nicht weniger Mittel als die einer anderen ästhetischen Entscheidung. Und sich eine durch fehlende Mittel diktierte ästhetische Entscheidung aufzuerlegen, erinnert an Zwang und stellt die Qualität der Werke, zu denen sie führen kann, in Frage. Jene Vorstellung, nach der es dem Künstler, der etwas zu sagen hat, immer gelingt, auch die schlimmsten materiellen Schwierigkeiten zu überwinden und darin vielleicht sogar schöpferische Anregungen zu finden, enthüllt lediglich eine sehr seltsame Auffassung vom künstlerischen Schaffen, als sei es letztlich etwas, das die Gesellschaft gar nicht braucht. Sie drückt also nur jene Idee von Überflüssigkeit 92

und Luxus aus, die gewisse Leute von der künstlerischen Tätigkeit haben. Die Zensur durch das Geld ist heute um so schwerwiegender, als die technische Entwicklung immer beachtlichere Mittel erfordert. Unter Handwerksbedingungen konnte es noch vorkommen, daß der Künstler sich trotz großer materieller Schwierigkeiten verständlich machen konnte. Im Zeitalter der Massenmedien ist das nicht mehr möglich. Die Massenmedien verschaffen dem Publikum eine neue Dimension, aber sie fordern auch Kapital oder beachtliche Kredite. Die Vergesellschaftung der Schaffens- und Verbreitungsbedingungen der Werke läßt das Problem der materiellen Mittel, ihrer Zuteilung und ihres Umfangs zu einem Kriterium für das Maß der Freiheit auf kulturellem Gebiet werden. Was bedeutet z. B. das Fehlen von Mitteln für den Filmschaffenden, wenn nicht den erzwungenen Verzicht darauf, sich auszudrücken? Selbst wenn es ihm gelingt, Mittel zu bekommen, ist ihre Unzulänglichkeit in jedem Falle eher ein Hindernis als eine Förderung.

Die Verantwortung der Macht für den Mißstand der Zensur durch das Geld, der die Kulturschaffenden ausgesetzt sind, ist offensichtlich. Das System bringt diese Zensur hervor. Es vertieft ihre Auswirkungen in dem Maße, wie seine Politik darauf gerichtet ist, die Umklammerung des kulturellen Lebens durch das Großkapital zu erleichtern. Das wird auf den Gebieten praktiziert, die von der Finanzierung durch den Staat abhängen: Darauf läuft die Unzulänglichkeit der Mittel hinaus, die der Staat für die Kultur bereitstellt. Aber die Zensur durch das Geld hat jene andere Zensur, die von der Staatsmacht direkt ausgeübt wird, nicht beseitigt. Beide gehen Hand in Hand. Die offiziellen Zensurmaßnahmen verschlimmern die spontanen Folgen der Selbstzensur. Sie verstärken die natürliche Tendenz derjenigen, die die für die Realisierung der Werke nötigen Kapitalien in Besitz haben, sich auf ausgetretene Wege zu beschränken und Themen auszuweichen, 93

die ihnen Ärger mit der Zensur bereiten könnten. Nicht jeder ist dazu bereit, einer eventuellen Verbotsmaßnahme die Stirn zu bieten und die finanziellen Risiken einzugehen, die daraus erwachsen. Die Maßnahmen der Zensur brauchen nicht notwendig sehr zahlreich zu sein, um voll wirksam zu werden. Einige gut kalkulierte Eingriffe reichen aus, um die Gesetze des Systems ohne große Probleme für die Staatsmacht durchzusetzen und um über eine ausreichende Selbstzensur mißliche Themen zu verhindern und sie gleichsam von selbst zum „Torhüter der politischen Windstille" zu machen, wie Jean Vilar 3 es nannte. Wenn nötig, genügt es, daß die Zensur an ihre Existenz erinnert, um ihren ständigen Druck auf die Schaffensfreiheit zu erhalten. Das Verhalten der Staatsmacht in bezug auf das Fernsehen macht augenscheinlich, was von ihrem angeblichen Liberalismus zu halten ist. Die öffentlichen oder verborgenen Zensurmaßnahmen durch die Vertreter der Staatsmacht sind gar nicht mehr zu zählen. Während die Mittelmäßigkeit sich munter entfalten kann, werden Originalität, Reflexion, Widerspiegelung unserer Zeit in ihrer Komplexität verdächtigt und verfolgt. Die Philosophie der französischen Rundfunk- und Fernsehanstalt (O.R.T.F.) in bezug auf die Schaffensfreiheit wurde in dem lapidaren Ausspruch ihres ehemaligen Generaldirektors, de Bresson, zusammengefaßt: „Ein Kulturschaffender ist frei. E r ist nicht gezwungen, bei der O.R.T.F. zu arbeiten." Die Empfehlung des Verwaltungsrates der O.R.T.F. zur sogenannten „Teilung der Gattungen" vermittelt eine Vorstellung von dem Spielraum an Freiheit, den sich die Staatsmacht für die Fernsehschaffenden wünscht. In dieser Empfehlung vom Dezember 1970, die niemals zurückgenommen wurde, kann man lesen, daß außerhalb der Nachrichtensendungen die „anderen Teile des Programms - Umfragen, Dokumentarsendungen, dramatische, historische oder humoristische Fernsehspiele - auf keinen Fall Anlaß oder Vorwand von Polemik oder politischer Propaganda sein dürfen." Chaban-Delmas hatte den Ton angegeben. Bei der Eröffnung eines Kulturzentrums in Saint-Medard-en-Jalles am 19. Dezember 1970 sprach er diese Drohung aus: „Von dem Moment an, 94

wo die Kultur zum Instrument politischer Aktion wird, betritt man das Gebiet des Infamen. Ich sage bewußt infam. Und das ist ein Wort, das ich nicht zurücknehmen werde." Ist die Macht also liberal gegenüber den Künstlern? Gewiß, aber unter der Bedingung, daß sie die Freiheit gebrauchen wie jene gut bekannte Figur Beaumarchais'.. fi

Ein Feld^ug gegen die Intellektuellen Die Schaffens- und Ausdrucksfreiheit des Künstlers ist nicht nur eine Frage der materiellen Mittel. Sie ist auch von dem Bild abhängig, das man von der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft vermittelt. In dieser Hinsicht erleben wir einen wahrhaften Feldzug gegen die Intellektuellen. Da wird ein moralischer Druck ausgeübt, der verschiedene Aspekte aufweist. Zum Beispiel werden die Intellektuellen für die Hindernisse verantwortlich gemacht, die der Kapitalismus dem Zugang der Volksmassen zur Kultur entgegenstellt. Diese Kampagne wird manchmal sehr subtil verkleidet. Zum Beispiel in jenem programmatischen Artikel von Chaban-Delmas in der Revue des Deux Mondes, von dem schon die Rede war. Nachdem Chaban-Delmas richtig festgestellt hat, daß die Kultur „für jeden, dem die Werke zugänglich sind, ein unersetzliches Mittel persönlicher Bildung" ist, fordert er von den Kulturschaffenden, „der Gefahr einer künstlichen oder gefährlichen Unterscheidung zu begegnen: Es kann nicht auf der einen Seite einige Kulturschaffende geben, die am Rande der Gesellschaft arbeiten, und andererseits eine jeder schöpferischen Erfindung gegenüber indifferente Masse. Das Werk ist, selbst im Zustand des fortwährenden Versuchs - um eine der Konzeptionen der zeitgenössischen Literatur aufzugreifen - , nur dann Ausdruck und hat nur dann einen Sinn, wenn es verstanden wird. Der Schöpfer wird eines seiner tiefen Ziele nur erreichen, wenn wir es verstehen, die Verbindung zwischen Werk und Publikum herzustellen, trotz der vorhersehbaren Einwände der Fanatiker und der Ästheten."5 Gewiß, es darf keine isolierten Künstler geben . . . Gewiß, der Schöpfer wird seine Ziele nur erreichen . . . Hier liegen 95

wirkliche und schwerwiegende Probleme. Aber man kann die notwendige Verbindung auf 2weierlei Art herstellen. Entweder „aus dem kleinen Kreis von Kennern einen großen Kreis von Kennern" machen, wie es Brecht fordert. Oder vom Künstler verlangen, sich „auf das Niveau des Volkes zu begeben", das heißt, die Kultur zu verflachen. Wenn man - wie Chaban-Delmas - die Implikationen der ersten Lösung ablehnt, dann erwartet man alles von der zweiten, selbst wenn man das Gegenteil sagt. Scheinbar fordert Chaban-Delmas von den Künstlern, dem Volk die Hälfte des Weges entgegenzukommen. In Wirklichkeit handelt es sich aber um den ganzen Weg. Und nichts ist gefährlicher und künstlicher - um seinen Ausdruck aufzugreifen als diese Konzeption für die Lösung der realen Probleme, die durch die Kluft zwischen Intellektuellen und Volk entstehen. Diese Kluft wird nur durch die Beseitigung der kulturellen Schranken überwunden werden können, das heißt durch die Verwirklichung sozialer Gleichheit in bezug auf den Zugang zur Kultur und zum kulturellen Schaffen. Stellt man das Problem außerhalb dieser Perspektive und versucht man, ihm geschickt auszuweichen, so ist das gefährlich. Davon zeugt die Demarche von de Bresson, der als Direktor der O.R.T.F. weniger zur Vorsicht gehalten ist als der Premierminister und der seine Politik der Qualitätsminderung bei den Programmen so rechtfertigt: „Wir können heute tatsächlich feststellen, daß eine neue nationale und internationale Klasse entsteht, die aus den Intellektuellen als denen, die über alle ideologischen (Presse, Radio, Fernsehen), wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Ausdrucksmittel verfügen, besteht. Wenn die intellektuelle Elite sich nicht ständig ihrer Aufgaben gegenüber dem Publikum bewußt ist, die aus ihrer gegenwärtigen Überlegenheit erwachsen, dann werden wir es zwangsläufig mit Explosionen zu tun bekommen, die unsere gesamte Zivilisation ,in Frage' stellen." 6 Weiter kann man eigentlich nicht gehen. Der Angriff gegen die „Klasse der Intellektuellen" hat kein anderes Ziel, als die sehr reale Klasse der Großkapitalisten vergessen zu machen, die in Wirklichkeit - direkt oder durch ihren Staat (Herr Bresson weiß darüber einiges, soweit es die O.R.T.F. betrifft) - die Ausdrucksmittel in Besitz hält. E r hat zum Ziel, die Verantwortlichkeit für das, was in dieser Gesell96

schaft im argen liegt und für eventuelle „zukünftige Explosionen" den Intellektuellen zuzuschieben. Was die Fernsehprogramme betrifft, die solche Sicht der Dinge uns einbringt, so sagt uns das Pierre Sabbagh, Direktor des Zweiten Programms, ganz nüchtern, der noch weniger an Vorsichtsmaßregeln gebunden ist als de Bresson: „Man muß auch Paris den Rücken kehren, will sagen jenem esoterischen Parisertum, womit dem breiten Publikum eingeredet wird, die Kultur sei den merkwürdigen Tieren vorbehalten, die man Intellektuelle nennt und die die vierundzwanzig Stunden, die der liebe Gott ihnen jeden Tag schenkt, benutzen, um die Kluft zu vertiefen, die sie vom Rest der Nation trennt. Das Fernsehen ist von Natur aus eine Dampframme, die nicht dazu dienen kann und darf, eine N u ß zu knacken [ . . . ] Man sagt mir, daß die guten Programme immer zu spät gesendet werden. Glauben Sie vielleicht, daß das Publikum nach der Arbeit im Büro, in der Fabrik, auf den Feldern, nach dem Berufsverkehr, dem Fußmarsch nach Hause geistig aufnahmefähig genug ist, um Problemsendungen mitdenkend folgen zu können, und das zu Beginn des Feierabends?" 7 Und so kommt eben Arthur Conte 8 , um die „Kräfte der Freude" zu entfesseln. Man muß dieses zynische „Verständnis" für das Volk anprangern, das nur das Zeichen einer tiefen Verachtung ist. Das Volk verstehen, heißt nicht, ihm demagogisch schmeicheln. Das heißt, mit ihm für seine Emanzipation kämpfen. Dieses „Verständnis" zielt darauf, die kulturellen Schranken gleichzeitig zu rechtfertigen und zu verewigen. Sie zu rechtfertigen, indem man die Vorstellung glaubhaft zu machen sucht, wenn es eine Kluft zwischen Volk und Kultur gebe, so liege das einzig an der Kultur und an denen, die sie machen. Sie zu verewigen, indem man die Aktion nicht auf die wirklichen Ursachen dieser Trennung richtet, sondern gegen die Intellektuellen. Dieses „Verständnis" hat eine unmittelbar politische Funktion, denn es ist darauf gerichtet, das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Intellektuellen zu verhindern, ja sogar jene gegen diese aufzubringen.

7

Burmeister/Barck

97

Die Verlockungen der „moralischen Ordnung' Der Feldzug gegen die Intellektuellen verbindet sich mit der allgemeinen Haltung der Macht gegenüber der Krise ihres Systems. Es handelt sich für die Bourgeoisie darum, mit allen Mitteln die wirklichen Ursachen dieser Krise zu verbergen, sie auf ein Problem der Mentalität und des Verhaltens von einzelnen zurückzuführen, um das gesellschaftliche System nicht in Frage zu stellen. Es ist verführerisch, den Künstlern den „schwarzen Peter" zuzuschieben. Sind sie nicht auch mitschuldig, wenn sie zeigen, was nicht geht, und sind sie so - zumindest teilweise - „Helfershelfer intellektueller Unruhe"? Sind sie nicht um so schuldiger, als das künstlerische und literarische Werk über eine besondere Macht zur Aufdeckung der gesellschaftlichen und menschlichen Realität verfügt? In dem Maße, wie sie die Gesellschaft widerspiegeln, sucht man den Spiegel zu zerbrechen, da man die Gesellschaft nicht ändern will. Daher die Verlockungen der „moralischen Ordnung", die in der herrschenden Klasse ans Tageslicht kommen, Verlockungen, die Gefahr laufen, sich mit der Vertiefung der Krise der französischen Gesellschaft und der sie begleitenden Isolierung der Großbourgeoisie in der Nation zu beleben. Der Kampf gegen die Pornografie ist häufig der Vorwand, um die Ausübung repressiver Praktiken zu rechtfertigen. Jean Royer, Abgeordneter, Bürgermeister von Tours und Mitglied der Regierungsmehrheit, der sich Anspruch auf Nachruhm erworben hat, indem er eine - illegale - Filmzensur in seiner Stadt einrichtete, hat deutlich gesagt, welche Art von „Lösung" seinen Wünschen entspricht: „Man muß auf die überholte politische Konzeption der .öffentlichen Ordnung' verzichten, um sie durch die einer ,moralischen Ordnung' zu ersetzen. Unsere Gesellschaft ist krank, ich pflege sie gesund, indem ich gesunde Werte wiederherstelle, sichere Werte wie die Familie, die Achtung vor dem weiblichen Körper. Selbstverständlich muß man zu diesem Zweck auch verbieten." 9 Für Herrn Royer ist es die „schlechte Kultur", die in Frage 98

steht. Man muß, sagt er, „sich der Hoffnungslosigkeit der höheren Kulturen widersetzen". Die Dinge gehen, wie man sieht, weit über den Kampf gegen die Pornografie hinaus. Die Haltung von Royer und denjenigen, die ihm den Weg bereiten, ist um so unannehmbarer, als die negativen und zu verurteilenden Erscheinungen, die sie angeblich bekämpfen, ihre Quelle in deren eigenem System haben. Wird nicht diese Flut von „pornografischen, .freien', ,kulturellen Erzeugnissen' und - allgemeiner - einer ganzen den Menschen entwürdigenden" Umgebung gerade durch die Herrschaft des Geldes, die ihre Produktion und Verbreitung erzeugt, hervorgetrieben? Wer, wenn nicht das kapitalistische System selbst, nährt „dieses ganze Unternehmen der Verderbtheit, das als eine Geldangelegenheit erscheint"? 10 Aber, wird man entgegnen, Herr Royer ist nicht der Kulturminister, und Herr Duhamel 11 ist nicht Herr Royer . . . Gewiß. Nur verhindert das nicht, daß die Staatsmacht geschickt Vorteile aus ihren „Ultras" zu ziehen weiß. Die Agitation von Royer an der Front der Moral und die Repression, zu der er aufruft, gießen zu guter Letzt Wasser auf die Mühlen ihres angeblichen Liberalismus. Um liberal zu scheinen, reicht es aus, nicht ganz so weit zu gehen wie Royer. Es wird sich immer jemand finden, der glaubt, daß die gegenwärtige Staatsmacht den besten Schutz gegen die Willkür darstellt. Und vor allem darf man nicht vergessen, daß Herr Royer kein isolierter Träumer ist. Er ist Mitglied der Regierungsmehrheit. Und von dieser Mehrheit gehen die Anschläge und Drohungen gegen die Freiheit des Schaffens und des Ausdrucks aus.

Ein umfassendes System der Ausbeutung und Unterdrückung In allem, was seine Tätigkeit berührt, macht der Intellektuelle die logische Erfahrung, daß er es mit dem staatsmonopolistischen Kapitalismus zu tun hat. Er wird ständig mit der Gesamtheit der ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen und ideologischen Elemente dieses Systems konfrontiert. Seine materiellen Mittel, der Umfang seiner Freiheit und der ihm gebotenen Wirkungsmöglichkeiten, seine moralische Situation, mit einem Wort, alles, was seine soziale Stellung ausmacht, ergibt 7'

99

sich aus den Zwecken, der Entwicklung und den allgemeinen Eigenschaften dieses Systems. Die Folgen der Ausbeutung und Unterdrückung, die er bei den Arbeitern und der großen Masse des Volkes feststellt, nimmt er auch an sich selbst wahr. Sie stellen nicht nur seine eigene Tätigkeit in Frage, indem sie ihre soziale Wirkung begrenzen, sondern belasten mehr und mehr seine gesamte gesellschaftliche Lage. Ein einziger Grund bildet die Ursache all seiner Leiden: unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung. Jedes Übel dieses Systems ist Teil einer fortlaufenden Kette und weist auf ein und dieselbe Quelle zurück. Der Intellektuelle hat es mit einem umfassenden System der Ausbeutung und Unterdrückung zu tun. Genauso wie alle Mitglieder der nationalen Gemeinschaft, mit Ausnahme der kleinen Minderheit der Nutznießer dieses Systems. „Das gleiche System, das die Arbeiter ausbeutet und sie von der Kultur fernhält, stellt die Schaffensfreiheit der Intellektuellen in Frage und begrenzt die emanzipierende Macht der Wissenschaft und der Kunst." 12 Und dieses System befindet sich in der Krise. Übersetzt von Dagmar Klein

3. André Gisselbrecht

Marxismus und Literaturtheorie

Dieser Beitrag, der weder der eines Schriftstellers noch eines Philosophen noch eines ausgesprochenen Literaturspezialisten ist, will - auf sicher allzu unvollständige und großzügige Art und Weise - der synchronen Betrachtungsweise aktueller Forschung eine diachrone Sicht zur Seite stellen, einen (auf ein paar große ausländische Namen beschränkten) Blick auf Versuche, die seit Marx gemacht wurden, um die Grundlagen für eine marxistische Literaturtheorie zu legen. Durch diese kurze, kritische Bilanz unserer Vergangenheit könnte zumindest der Eindruck verschwinden, daß wir heute auf einer Tabula rasa oder einem Trümmerfeld aufbauen. Eine Vorbemerkung: Häufig werden vier - miteinander zusammenhängende, aber dennoch unterschiedliche - Dinge vermischt oder nicht klar genug voneinander getrennt: erstens die Literaturkritik, die sich vor allem mit der zeitgenössischen Literatur auseinandersetzt und die ständig von Eklektizismus bedroht ist; zweitens die Literaturtheorie, die begann (aber auch nur begann), als die russischen Formalisten1 das literarische Faktum, die „Literarität" 2 von den weitgefächerten Wissenschaften trennten, die sie, wie Tynjanow 3 sagte, auf einen „Kolonialstatus" reduziert hatten; drittens die marxistische Ästhetik, deren Existenz und Möglichkeit noch immer mit Fragezeichen versehen ist und die zwischen einer allgemeinen Theorie der Künste, die seit Hegel problematisch geworden ist (Beispiel: die Ästhetik von Lukäcs) und einer Poetik (wie der des Italieners Deila Volpe4) schwankt, wobei ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit von der philosophischen Position und dem bevorzugten Forschungsgebiet des jeweiligen Theoretikers abhängig gemacht wird; ihr Problem ist: Wie soll man seinen 103

Gegenstand gleichzeitig exakt beschreiben und ihn bewerten, das heißt bestimmen, was zur Bildung gesellschaftlichen Bewußtseins beiträgt? Endlich viertens die Kulturpolitik der Arbeiterparteien vor oder nach der Erringung der Macht; viele Ansichten über Literatur, die sich auf den Marxismus berufen, sind ausgehend von kulturpolitischen Bedürfnissen entstanden. So diejenigen Ansichten, die darauf abzielen, die Eigenständigkeit der Kunst zu erhalten (Lukäcs: Die „Perspektive" des Künstlers ist nicht diejenige der Tagespolitik, die Literatur, als Produzentin von T y p e n , ist die Hüterin der „intellektuellen Physiognomie" des Menschen von morgen; Gramsci: Der Schriftsteller und der Politiker leben nicht auf derselben Wellenlänge, der zweite denkt auf kurze, der erste auf lange Sicht; die Kunst erzieht als Kunst und nicht als Kunst der Erziehung). So diejenigen, die - gegen eine Vorliebe für volkstümelnde Tendenzen gewandt - daran erinnern, daß die Kunst nicht populär i s t , sondern es w i r d (Majakowski), oder daß die Literatur, nach dem Wortspiel von Brecht, sicherlich v o 1 k s , aber gewiß nicht - t ü m l i c h ist. So wollen sich schließlich Ideologien des Realismus ohne Ufer5 oder der Literatur gegen die Mächte (Ernst Fischer in: Kunst und Koexistenz) als die „Ästhetik der (politischen) Einheit" verstanden wissen, die die Literaturtheorie damit auf den Status eines Nachtrages zum Neo-Fichteanismus oder einer allgemeinen vormarxistischen Philosophie der Entfremdung reduzieren: Dies war vorübergehend die, sagen wir, „Ästhetik" der auf den XX. Parteitag folgenden Zeit. Chronologisch gesehen hat das, was den Namen marxistische Literaturtheorie verdient, seine ersten Bausteine aus den Trümmern der Literatursoziologie freigelegt, ob diese nun den Namen Plechanow trug (der das literarische Werk auf seine außerliterarische Genese und seine Untersuchung auf die Entdeckung eines „soziologischen Äquivalentes" r e d u z i e r t e , wobei das schwierige Problem der Vermittlungen von Basis und Überbau durch die Erfindung einer Mischung, „gesellschaftliche Psychologie" genannt, gelöst wird) oder ob sie gegenwärtig den Namen Goldmann 7 trägt, der, ausgerüstet mit der Theorie des Romans des jungen, vormarxistischen Lukäcs und dem Schema der „Verdinglichung", einem vom Corpus der marxistischen Theorie losgelösten Fragment, eine „Homologie der Strukturen" 104

zwischen dem Roman und dem Niedergang der menschlichen Beziehungen im monopolistischen Kapitalismus postuliert, woraus er notwendigerweise schließt, daß die Installierung der Macht der Dinge in den Romanen von Robbe-Grillet den Gipfel des gegenwärtigen Realismus darstellt. Das einzige kohärente theoretische Gebäude, das der Marxismus in der Literaturtheorie hervorgebracht hat, bleibt, trotz Deila Volpe und seiner Kritik des Geschmacks, das Werk von Lukäcs. Obwohl es ein problematischer und für manche überhaupt ein unmöglicher Weg ist, eine marxistische Literaturtheorie auf die verstreuten Hinweise von Marx zu diesem Gegenstand zu stützen, sofern sie die Änderungen des Geschmacks (Marx kannte Sade8 und die „verfehmten Schriftsteller"9 nicht) und die Änderungen des Status der Literatur überleben will, wären Lukäcs' Arbeiten undenkbar ohne die 1937-1938 von Lifschitz10 besorgte Veröffentlichung der Schriften von Marx und Engels (die Lenin nicht gekannt hat), undenkbar vor allem ohne den Abschnitt aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 über das „Theoretischwerden" der fünf Sinne durch die Kunst; undenkbar ohne die Sickingen-Debatte mit Lassalle (man muß, sagt Marx, „shakespearisieren" und nicht „schillern"); ohne den Brief von Engels an Miss Harkness (aus dem Lukäcs seine ganze Theorie über den „Sieg des Realismus" bezog: Balzac z. B., subjektiv Legitimist11, ist sich selbst gegenüber ehrlich und „grausam" genug, um die Anklageschrift gegen den Kapitalismus und seine feudalen Überreste auf den Tisch zu legen) oder ohne Engels' Brief an Minna Kautsky (das Werk ist um so wertvoller, je weniger didaktisch es ist, je versteckter die Überzeugungen des Autors darin sind). Der Abschnitt über die griechische Kunst aus Marx' Einleitung 5\ur Kritik der Politischen Ökonomie von 1857 (von Kautsky 1903 veröffentlicht), der der marxistischen Literaturtheorie ein Sphinxrätsel aufgibt, blieb zunächst unbeachtet; jedoch kommt der Lukäcssche Begriff vom „großen Realismus", der weitgehend tautologisch ist, weil er jedes Werk für „groß" erklärt, das sein Jahrhundert überlebt hat und weil jedes Werk, was sein Jahrhundert überlebt, als groß erklärt wird (mit Ausnahme der zeitgenössischen Werke, die sich vom Kanon jener entfernen, die bereits geheiligt sind!), von diesem berühmten Text her. 105

In derselben Zeit verteidigten Brecht und Anna Seghers, von Aragon ganz zu schweigen, Dos Passos, Joyce und Kafka, die Montage, die Simultaneität, die Reportage, die „Faktographie", die der „Linken Front" 12 und den russischen Formalisten so wichtig waren, gegen das Hegeische Modell der „epischen Totalität", das als Vermächtnis von Lukâcs - selbst nachdem er in Ungnade gefallen war - von der gesamten offiziellen marxistischen Literaturkritik übernommen wurde. Aber außer auf Marx basierte das theoretische Gebäude Lukâcsscher Prägung auf Aristoteles (auf der Mimesis oder Reproduktion, der Identifikation mit dem Helden, der Katharsis) und auf Lessing: Der Marxismus mußte die Integrität der Gattungen verteidigen. Deila Volpe skizzierte einen Laokoon 1960, während Brecht, für den die Formen keine eigene und dauerhafte Wirksamkeit außerhalb ihrer gesellschaftlichen Funktion haben, den Gegensatz episch-dramatisch (man denke an die Erörterungen im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller) in einer ganz neuen (dialektischen) Theaterpraxis auflöste. Vor allem aber basierte das Lukâcssche Gebäude auf Hegel: daher das Bemühen, die Kunst der Wissenschaft gleich, wenn nicht gar überlegen zu machen (Kunst, das ist „Denken in Bildern", wiederholten nach Hegel die „großen russischen Demokraten" 13 des 19. Jahrhunderts, eine Ansicht, von der Leute wie Eichenbaum14, Schklowski15 und Tynjanow, die keine Marxisten waren, die Marxisten befreien sollten). Daher auch Lukâcs* Idee des Romans als Epopöe der modernen Prosa, daher das Ausschließen der B e s c h r e i b u n g zugunsten der E r z ä h l u n g , daher die Verbannung von Flaubert (der rangmäßig unter Scott gestellt wird) wie von Zola (Aragon und Deila Volpe sehen sich gezwungen, ihn zu rehabilitieren) in die tiefste Tiefe der Dekadenz, der von den bürgerlichen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts nur Thomas Mann und Roger Martin du Gard entgehen. Durch den Einfluß von Männern wie Lukâcs und, auf einer ganz anderen Ebene, infolge der bequemen Art der Herstellung literarischer Résumées durch Zeitungskritiker, ist die marxistische Literaturtheorie bis in unsere Tage zum überwiegenden Teil eine Ästhetik des Inhalts geblieben, die den Leninschen Widerspiegelungsbegriff im Sinne von Widerspiegelung ideeller 106

Gehalte im Werke interpretierte. Wobei - paradoxerweise das Verhältnis der Literatur zur Ideologie keineswegs geklärt wurde. Die Theorie von Lukäcs eskamotiert faktisch dieses Problem. Der Romancier, der die Personen dirigiert, ist für Lukäcs kein Realist. Das, würde Bachtin 16 sagen, disqualifiziert den „Polyphonismus" von Dostojewski. Bei Lukäcs wird die Ideologie in die negative Sphäre der Vorurteile geschoben: Gleich einem Medium läßt sich der Schriftsteller, wenn er auch nur ein bißchen „ehrlich" ist, das Diktat der Wirklichkeit auferlegen. Ganz anders dachte Lenin über Tolstoi, auf den sich Lukäcs ja beruft: Das Werk Tolstois ist nicht „Spiegel" des revolutionären Prozesses in Rußland, ohne daß Tolstoi etwas von diesem Prozeß verstanden hätte: es steht aber auch nicht in völligem Widerspruch zu seinem Quietismus und seinem Patriarchalismus. Die Auflösung des normativen, unhistorischen, reichlich moralisierenden theoretischen Gebäudes von Lukäcs, das übrigens in Westeuropa, vor allem in Frankreich, wenig wirksam gewesen ist, läuft Gefahr, den Aspekt zu verdunkeln, der seine Stärke ausmacht und den es besser zu berücksichtigen gilt: Lukäcs hat uns von den Monographien befreit, die die Schriftsteller als kommunikationslose Monaden behandeln; er hat, ohne in die genetische Methode Plechanows zu verfallen, das Werk mit der historischen und philosophischen Entwicklung verbunden, er hat Wertungskriterien vorgeschlagen, hat mit Verfälschungen aufgeräumt (Hölderlin, Kleist . . . ) . Aber sein Gebäude hat eine theoretische Leerstelle gelassen, die vorübergehend - die Ideologie hat Horror vor der Leere! - von einer Metaphysik der Schöpfung oder der Selbstschöpfung ausgefüllt wurde, von sinnlosen Spekulationen über den U r s p r u n g der Kunst („ernsthaftes Spiel", „Magie", „Mythos"), die sich mit einer Wette auf die Zukunft trafen: Vom passiven historischen Dokument, das sie unter marxistischen Federn allzuoft gewesen war, wurde die Literatur nun umgekehrt zur P r o p h e t i e . Diese einfache U m k e h r u n g der Lukäcsschen Normen - mit demselben Titel „große Kunst" wurden Werke ausgezeichnet, die Lukäcs verbissen mit einem negativen Vorzeichen versehen hatte, so z. B. die der Avantgarden des 20. Jahrhunderts - erscheint bereits als metaphysisches Überbleibsel 107

angesichts einer Forschung, die auf den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaften aufbaut, denen gegenüber die vorhergehenden Theorien sich blind und taub verhielten, und die vielleicht schon das Totenglöckchen für jede spekulative oder philosophische „marxistische" Literaturtheorie läutet. Allzulange blieb die marxistische Analyse weitgehend a u ß e r h a l b des eigentlichen literarischen Textes. Während die Stilistik, unter dem Einfluß eines Leo Spitzer 17 , erhebliche Fortschritte machte, verhielt sich Lukäcs gegenüber jeder „Texterklärung" abweisend, gleich, ob sie nun traditionell war oder weiterentwickelt, wie etwa in der bewundernswerten Mimesis von Erich Auerbach 18 , der fähig ist, aus dem Mikrokosmos einer Seite (aus Manon Lescaut19 z. B.) den Makrokosmos der Beziehungen einer ganzen Epoche zu dem, was ihre Sicht des Wirklichen konstituiert, abzuleiten. Nachdem Psychologismus und „Biographismus" einmal überwunden waren, durch die Formalisten ebenso wie durch die Psychologie der Kunst von Wygotski 20 (das literarische Werk ist für ihn ein System von „Reizerregern", die unter dem Blickwinkel ausgewählt werden, einen bestimmten Effekt zu erzielen); nachdem auch polemische Exzesse wie die des frühen Schklowski („das literarische Werk ist nur die Summe seiner Kunstgriffe"), überwunden waren und man anerkennen mußte, daß derselbe Vorgang unterschiedliche Funktionen je nach dem historischen Kontext haben kann; nachdem einmal - von Tynjanow vor allem Übergänge hergestellt worden waren zwischen den verschiedenen historischen Zeiten, zwischen der literarischen „Reihe" und den außerliterarischen Reihen, zumindest den nächstliegenden, konnte der Marxismus mit gutem Recht einen literarischen Text als ein fertiges Produkt mit bestimmten inneren Strukturen und nicht nur als einen Ersatz für den philosophischen Begriff oder die wissenschaftliche Aussage - behandeln, ohne daß die literarische Sphäre deshalb autark und in sich selbst verschlossen wurde. An die Stelle einer vom Inhalt abgeleiteten Ästhetik konnte eine Ästhetik der Verfahrensweisen treten. Diese neue historisch-transhistorische Sicht, die zugleich den Normativismus und den Historismus überwand (als Beispiel sei nur Bachtin genannt, der zeigt, wie unter dem Gesetz der herrschenden Kultur eine volkstümliche „karnevaleske" Literatur aufblüht 108

und wie der Monologismus überwunden wird), blieb dennoch ohne unmittelbare Nachwirkungen, selbst wenn Brecht darauf kam, den Begriff, aber auch nur den Begriff, des „Verfremdungseffektes" von Schklowski zu übernehmen (durch Vermittlung von Tretjakow 21 , den Lukäcs verabscheute). Der angelsächsische New Criticism 22 und die moderne Linguistik (vor allem Hjelmslev 23 ) mußten kommen, damit Deila Volpe, auf den Spuren seines Landsmannes Gramsci und dessen Analyse des Zehnten Gesanges von Dantes Inferno24, nach dem zweiten Weltkrieg eine Ästhetik des literarischen Diskurses entwickeln konnte, die ihn gleichzeitig dem wissenschaftlichen Diskurs annähert (gegen alles „Unausdrückbare") und ihn davon unterscheidet (durch seine „Polysemie"), und die ihn damit seiner eigentlichen, nämlich technisch-semantischen Ordnung zuführt. Was impliziert, daß die Ideologie nicht außerhalb oder über der Form steht. In der Kunst, schrieb schon Tretjakow, „besteht die Ideologie in der Form". Die einzige Realität, die man durch die Werkanalyse erfassen kann, ist die der Ausdrucksmittel; Revolutionen der Formen sind Revolutionen der Ideologien, des Bewußtseins. Die revolutionären Schöpfer unseres „wissenschaftlichen Zeitalters" (Brecht dixit) fühlten sich lange Zeit von der marxistischen Theorie unverstanden, weil sie die technischen Mittel (deren Untersuchung fälschlicherweise mit „mechanistischem Herangehen" gleichgesetzt wurde, wie Brecht bemerkte) unterschätzte. Sie fanden sich daher durch Ansichten wie die von Eisenstein eher bestätigt: „Die Form ist immer Ideologie und zwar wirksame Ideologie". Während für Lukäcs der Inhalt des Werkes sein Gedanke ist, liegt er für Deila Volpe nirgendwo anders als in der Form. Indem er die literarische Sprache als „endgültig, vollkommen, unersetzbar" definierte und dem Werk nur eine innere Kohärenz zugestand, glaubte er gleichzeitig Lenins Abbild- und Lukäcs' Realismuskonzept umgehen zu können: Der literarische Text war für ihn nur der Selbst-, niemals der Fremdbestätigung fähig. An Kant anknüpfend, hoffte Deila Volpe, den literarischen Text vom Zugriff romantischer Intuition zu befreien, wieder einen rationalen Diskurs aus ihm zu machen und seine Fähigkeit zu retten, „unmittelbar zu gefallen". (Besteht nicht auch darin der hervorragende Beitrag Brechts zur Erarbeitung einer marxistischen 109

Literaturtheorie, daß er den Begriff des Vergnügens erneuerte und ihn von dem des produktiven Vergnügens unterschied?) Aber hatte Deila Volpe damit nicht den Neohegelianismus gegen eine Spielart des Neoempirismus, den logischen Positivismus, eingetauscht? Denn was nunmehr in der Literatur zählte, war die Intellektualität, die sie mit dem wissenschaftlichen Diskurs teilt, und nicht mehr nur die Ideen, die sie umsetzt, seien sie nun richtig oder nicht. Mußte daher die Kunst nicht doch wie schon bei Hegel - fürchten, trotz allem die arme Verwandte der Wissenschaft zu bleiben? Es ist Brechts Verdienst, dem Aristotelismus von Lukäcs eine Literaturtheorie als verändernde P r a x i s entgegengesetzt zu haben, eine Aktivierung „sozialer Impulse" beim Leser oder Zuschauer, die sich kritisch gegen alles richten, was durch sympathisierende Einfühlung und versöhnliche Haltung gegenüber den Klassengegensätzen Passivität und die Idee vom natürlichen und unabänderlichen Charakter der menschlichen Beziehungen zu verewigen trachtet. Die in Frankreich bisher nicht veröffentlichten Texte, aus denen die Gegensätzlichkeit zwischen Brecht und Lukäcs hervorgeht, gehen zwar auf Polemiken unter Marxisten in der Zeit der antifaschistischen Emigration zurück, aber die gegenwärtigen Debatten geben ihnen einen mehr als retrospektiven, nämlich einen gleichsam paradigmatischen Wert. Man findet im zweiten Band von Brechts Schriften über Literatur und Kunst folgende Realismusdefinition : „ R e a l i s t i s c h heißt: den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdeckend/, die herrschenden Gesichtspunkte als die Gesichtspunkte der Herrschenden entlarvend/ [ . . . ] das Moment der Entwicklung betonend/ konkret und das Abstrahieren ermöglichend." 25 D a sind also zwei Kinder von Marx, die aus seinem Werk radikal entgegengesetzte Lehren ziehen. Für den einen (Lukäcs) ist der Marxismus wesentlich die Theorie von der relativen Unabhängigkeit der Ideologien, und die Kunst besteht darin, einer sich auflösenden Realität das (Hegeische) I d e a l einer harmonischen T o t a l i t ä t entgegenzus e t z e n . Für den anderen (Brecht) ist der Marxismus im wesentlichen die Entschleierung von feindlichen Ideologien und ihrer Funktion, und die Literatur ist die direkte Umsetzung des dialektischen Materialismus in ein Werk; nicht die Wahr-

110

heit ist problematisch: Alles ist eine Frage der technischen Mittel, um sie an jenen vorbeiziehen zu lassen, die ihre Adressaten sind. Gemessen an den Brechtschen Kriterien, ist Lukâcs ein kontemplativer Geist, der zur Idylle neigt; seine Ästhetik der „Meisterwerke", der Gipfel der Weltliteratur - von Aischylos bis Thomas Mann - ist aristokratisch. Die Literatur bleibt persönliche und passive Erbauung (jouissance), außerdem wird sie immer durch Literatur beurteilt. Wozu soll es gut sein, sagt Brecht, im Namen des Marxismus ein musée Grevin 26 der großen literarischen Gestalten aufzubauen, „die bleiben werden", in dem Antigone an der Seite von Nana und Guido Cavalcanti neben Nechljudow stehen würden? 2 7 Man muß Kafka nicht mit Balzac vergleichen, sondern mit unserer Gesellschaft. Wenn Proust und Joyce etwa verurteilt werden müssen, dann ist es nicht wegen ihrer Art zu s c h r e i b e n . „Was Formfragen anbetrifft, muß man die Realität befragen, nicht die Ästhetik", und: „Bei den reinen Formfragen soll man nicht allzu unbedenklich im Namen des Marxismus sprechen. Das ist nicht marxistisch." 28 Der Realismus selbst ist nicht eine Frage der Form ; wäre er das, dann könnte man - wie es Lukâcs getan hat - den Realismus aus einigen, natürlich literarischen Werken deduzieren, genaugenommen aus dem großen bürgerlichen französischen und russischen Roman des 19. Jahrhunderts, und den Schriftstellern von heute vorschreiben, wenn nicht ganz und gar Tolstoi zu sein, so doch zumindest zu schreiben wie Tolstoi. Der Realismus ist, wie jede literarische Frage, nicht nur eine literarische Frage: Man ist kein Realist in der Literatur, wenn man nicht auf allen Gebieten des Lebens eine realistische Haltung einnimmt ; ebenso ist der „Formalismus" ein falsch gestelltes Problem, solange er nicht auf alle „formalen" Haltungen im alltäglichen Leben bezogen ist, auf Moral, auf Politik . . . Sicherlich, Brecht hat nicht verhindern können, daß seine Technik der „Verfremdung" auf ein literarisches Verfahren reduziert, aus ihrem Kontext gelöst wurde. Aber sein Ziel ist klar: Wir leiten unsereÄsthetik aus den Bedingungen unseres Kampfes ab. „Wenn es F o r m a l i s m u s bedeutet, für immer gleichbleibenden Inhalt immer neue Formen zu suchen, so bedeutet es auch Formalismus, für neuen Inhalt eine alte Form beizubehal111

ten [...] ich verstehe keine Auslassung über Schreibweisen, welche die Bedürfnisse des Kampfes nicht berücksichtigt."29 Diese grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen den Marxisten macht eine zweite deutlich: zwischen denen, die in der literarischen Entwicklung das Moment der Kontinuität betonen und denen, die die Brüche, Einschnitte und Übergänge hervorheben, wie z. B. Brecht und sein Freund und Kommentator Walter Benjamin. Es ist nicht von ungefähr, daß beide zur gleichen Zeit die Veränderungen des Status von Werk und Schriftsteller durch die Entwicklung der Massenmedien, durch die „technische Reproduzierbarkeit" des Kunstwerkes gesehen haben, die (und das ist für Benjamin ein Fortschritt) die Figur des „Schöpfers" zerstört und damit dessen einzigartige und unersetzbare „Aura". Brecht antwortete auf den unerschütterlichen „Humanismus" von Lukäcs: Es gibt keinen Grund dafür, daß das Individuum, die Persönlichkeit, einen größeren Platz im modernen Roman einnimmt, als es in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit innehat; es gibt auch keinen Grund dafür, den Schriftstellern, wie z. B. Kafka und Dos Passos, vorzuwerfen, sie hätten zugunsten der toten Dinge eine Welt „enthumanisiert", die es doch schon durch sich selbst ist. Wenn Brecht, in der Art Majakowskis (Wie man Verse macht), dem „gemeinen Volke" seine Ateliergeheimnisse enthüllte, aus Prinzip zum Plagiat griff, sich als ein produzierender Künstler unter anderen betrachtete und von sich nicht anders sprach als von einem S t ü c k e s c h r e i b e r , war er vielleicht der erste, der das Terrain der Literatur durch die materialistische Untersuchung literarischer Ideologien (vom Schriftsteller als einem Einfältigen, inspiriert von Gottes Gnaden, oder als tröstendem Humanist, als Magier der Illusionen) freigelegt hatte. Aber Brecht hat niemals eine sogenannte proletarische Kultur schaffen wollen, er hat nicht den Fehler begangen, den Lenin am Proletkult30 kritisierte, und den jeder vorrevolutionäre Wendepunkt wieder aufleben läßt. Benjamin war zweifellos dem Gedanken seines Freundes eng verhaftet, als er, mißtrauisch gegenüber der „Beschaulichkeit, die für den Historismus bezeichnend ist" (das zielte auf den sozial-demokratischen Optimismus), dem historischen Materialismus, „den Entsatz des epischen Moments durch das konstruk112

tive" empfahl, denn der historische Materialismus „wendet sich an ein Bewußtsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt." 3 1 Stellt diese marxistische Theorie der literarischen Modernität nicht eine beträchtliche Abweichung von Auffassungen dar, die sozialistische Kulturpolitik allein auf das „klassische E r b e " verpflichten wollen? Widerspricht nicht Majakowski, wenn er darauf besteht, daß es keine für alle Zeiten gültigen Klassiker gibt, den Bemerkungen von Marx über die griechische Kunst, die, obwohl gegen jeden Soziologismus gewandt, doch dessen Eckstein darstellen? E s ist nicht mehr von ungefähr, wenn derselbe Brecht, derselbe Benjamin, die Linie von Tynjanow (der feststellt, daß das, was als literarisch betrachtet wird, mit den Epochen variiert) und von Gramsci (der die Übergänge von der „hohen" zur „niederen" popolare - Literatur freilegte) fortsetzend, den Blick auf die „Trivialliteratur" richteten, auf die sogenannten minderen Gattungen: Brecht auf den Kriminalroman oder das Kabarett (wie Majakowski auf den Zirkus), Benjamin auf Sammlungen und Sittenbilder, „Erotica", Karikaturen eines Eduard Fuchs 3 2 , auf die „minderen Arbeiten" ohne Namen von Meistern. Dies alles widerspricht dem Kult des Schönen Scheins, den man noch bei den Klassikern des Marxismus und bei zahlreichen ihrer Schüler auf dem Gebiet der Literatur antrifft. Sicherlich wird man sich auf die historischen Bedingungen berufen können: auf die Zeit nach 1917, die Zeit der zweiten industriellen Revolution, die, wie u. a. die russischen Futuristen verkündeten, den Akzent von den ästhetischen Werten auf Technik und Wissenschaftlichkeit verschoben hat; daher die Theorie von Kunst als demontierbarem „Verfahren", daher der „Produktionismus" des Opojaz 3 3 , die ungeschickten Versuche von Leuten wie Arwatow 3 4 , der um 1925 die literarische Produktion in ein anderes als nur metaphorisches Verhältnis zur ökonomischen Produktion setzen wollte, daher aber auch die Verwendung von experimentellen „Modellen" des gesellschaftlichen Lebens, um daraus „praktikable" Wahrheiten abzuleiten (wie bei Brecht) usw., ganz zu schweigen von dem Einschnitt durch den Faschismus, der in den Augen der Emigranten das Gefühl, die Theatralität, den Kult der Persönlichkeit und den übermäßigen Gebrauch von „Ideologie" entwertete. 8

Buimeister/Barck

113

Mit diesem theoretischen Horizont sind wir konfrontiert. Das Gebäude von Lukàcs ist, trotz seiner blendenden Analysen, vor allem über die deutsche Literatur, hinfällig. Wenn man diese Bilanz zieht, und wenn die Vulgärsoziologie, die aristotelisch-hegelianische Metaphysik, der linguistische Neo-Empirismus, die Theorie vom Einschnitt zwischen Wissenschaft und Ideologie 35 , einmal ausgeschaltet sind, stellt sich dann noch die willkürliche Entscheidung zwischen einem Dogma des kritischen Realismus, demzufolge künstlerisch unübertrefflich ist, was von der Bourgeoisie kommt, und einer Literatur der Kulturrevolution, für die die Bourgeoisie nichts mehr zu sagen hat? Kann sich eine materialistische Literaturtheorie in der Denunzierung von Literaturideologien erschöpfen? Wenn die Zeit der Literatur sich von der Zeit der Geschichte unterscheidet, auch wenn sie sie hier und dort trifft, wo soll man dann die Zäsuren machen, die „Nullstufen" ansetzen, die die Neuanfänge bedingen: in den großen „geschichtlichen Umbrüchen" Hegels oder in den „Überschreitungen des herrschenden kulturellen Code"? 36 Mit so vielen Fragen mußte ein Exposé enden, das daran erinnern wollte, woher wir kommen, nicht aber bestimmen, wohin wir gehen. Übersetzt von Ute Harz

4. Christine Glucksmann

Über die Beziehung von Literatur und Ideologien

Jede Reflexion über die Beziehung Literatur-Ideologien steht von vornherein in einer theoretischen und politischen Tradition des Marxismus, in der die Literatur als „ideologische Form" aufgefaßt wird, wobei die Ideologie den Platz im Überbau bezeichnet, den die Ideen-Systeme und das gesellschaftliche Bewußtsein als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen einnehmen. Der Literaturprozeß wäre demnach in seinem Verhältnis zu bereits vorhandenen Ideologien stets als sekundär zu denken, und die Literatur wäre nur eine Doublette. Sie mit der Ideologie identifizieren hieße, daß sie diese reproduziert, sie in eine Form bringt: Das Ergebnis ist dann eine eng dirigistische und politische Konzeption der Literatur. Von der Ideologie unterschieden, hebt sie im Hegeischen Sinne (aufbewahrend verneinend) die Klassenpositionen des Autors auf: Sie offenbart sich als e r k e n n e n d e W i d e r s p i e g e l u n g der Wirklichkeit. Allerdings führen die Differenz zwischen Ideologie und Erkenntnis, wie der dritte Bezugspunkt - die Wirklichkeit - zu einem Widerspruch im Status der Literatur: Die Werke der Vergangenheit - als kritisch zu bewertendes Erbe - sind wahr trotz ihrer ideologischen Grenzen (seien sie feudaler oder kapitalistischer Natur), jene der sozialistischen Gesellschaft wären wahr auf Grund ihrer Ideologien und des richtigen Inhalts ihrer Aussagen, was zu einer Theorie der „proletarisch" genannten Literatur oder zu einer normativen Konzeption des sozialistischen Realismus führen kann. In diesem Zusammenhang ist die Ästhetik von Lukdcs bemerkenswert, die zwar mit dem Sektierertum einer vulgärsoziologischen Literaturkonzeption bricht, aber dennoch indirekt den Primat der ideologischen Kriterien wieder einführt. Obwohl 8*

115

Lukäcs in seinen verschiedenen Schriften über den Realismus die genetische, sozialpsychologische Analyse eines Werkes als von der Klassenherkunft seines Autors abhängig (Plechanow) ablehnt und seine Ästhetik auf einen Anti-Psychosoziologismus gründet, macht er aus der Literatur die erkennende Widerspiegelung der Wirklichkeit in dem Maße, in dem das große und realistische literarische Werk ihre Totalität erfaßt. Hiermit vollzieht sich innerhalb des Marxismus die entwickelte und systematisierte Aneignung der Äußerungen Engels' über Balzac als Realist wider Willen, die Aneignung der soziologisch gefaßten Hegeischen Ausdruckstotalität und das Bemühen, sie mit der materialistischen Erkenntnistheorie zu verbinden. Aber der Triumph des großen bürgerlichen Realismus gründet sich auf den Widerspruch zwischen dem (politischen) Tendenzprinzip in der Kunst und dem tatsächlichen Ergebnis des Werkes, dessen Wirkungen auf der reinen Ebene des bewußten Entwurfs teilweise unvorhersehbar sind. Funktioniert die Literatur bei dieser Nichtübereinstimmung zwischen dem Denker und dem Schriftsteller nicht wie ein sich seiner selbst nicht bewußter Schreibvorgang, der durch die Wahrhaftigkeit des Schriftstellers oder die „literarische Ethik" der großen Werke von außen her ethisch aufgewertet wird? Unabhängig von der historischen Leistung Lukäcs', die hier nicht in Frage gestellt wird, scheint der Status, den er der Literatur zuschreibt, eine L e e r s t e l l e zu markieren: die der Literatur als Praxis der Zeichengebung (pratique dans et sur le signifiant), als ein Prozeß, in dem die Ideologien erarbeitet, kritisiert und umgeformt werden. Wenn jedes Werk des großen Realismus auf einer möglichen Differenzierung zwischen dem Denken und der Kunst als totalisierende Erkenntnis der Wirklichkeit beruht, dann muß man wohl eine gewisse Beziehung zwischen dem „Literarischen" und dem Inhalt voraussetzen. Auf diese Weise entgeht man einer romantischen und idealistischen Konzeption der Literatur (der Theorie der großen Kunst und des Genies) nur durch die Auffassung von einer gewissen Spontaneität, der die schöpferische Bedeutung neuer Formen unterliegt. Die Form als mit dem Inhalt kohärent zu verstehen, heißt jedoch immer noch, in einem gewissen Hegelschen, ja selbst aristotelischen Schema des Werkes als „Aus116

drucksform einer historischen Totalität" oder eben als „Mimesis" zu verharren. In dieser Hinsicht gibt es so etwas wie eine Trennungslinie in der marxistischen Ästhetik. Während Lukäcs einen großen Teil seiner Ästhetik von 1963 der Analyse der Mimesis widmet, ist das theoretische Vorgehen Brechts, dem es gerade um eine nicht-aristotelische marxistische Ästhetik geht, diesem entgegengesetzt; sowohl auf der Ebene der Kategorien als auf der Ebene der von ihm eingeführten Theaterpraxis, die die philosophische Tragweite des Hegeischen Diskurses faktisch annuliert.1 Bei Lukäcs begegnen sich Literatur und Ideologien letztlich im Namen einer „inhaltlichen" Konzeption der Literatur und im Rahmen totalisierender, realistischer und normativer Modelle, die als allein fortschrittlich, allein sozialistisch gelten. Auf diesem Wege werden (in einer allerdings nicht dirigistischen Form) die ideologischen Bewertungsprinzipien wieder eingeführt, die gerade beseitigt werden sollten: dekadente Kunst - fortschrittliche Kunst, Dogmatismus der totalisierenden Formen, Primat der Analyse der ideologischen Themen und damit die Unterschätzung der literarischen Praxis in ihrer experimentellen Und erneuernden Dimension. In vielen Fällen - und unabhängig davon, ob die Beziehung der Literatur zu den Ideologien direkt oder indirekt ist - scheint der der Ideologie zugestandene Primat auf Kosten des literarischen Prozesses zu gehen. Wie verführerisch und politisch beruhigend wäre dann die einfache U m k e h r u n g einer Position wie der von Lukäcs durch die schlichte Ausklammerung der Ideologie d e r Werke (also der ideologischen Praxis einer Klasse) und der Ideologien i n den Werken zugunsten der Erforschung der ausschließlichen „Literarität": dessen, „wodurch ein gegebenes Werk ein literarisches Werk ist" im Sinne der russischen Formalisten.2 Es scheint uns dagegen, daß die marxistische Forschung bereits im Ansatz den doppelten Irrweg des Historismus und eines gewissen Formalismus, der innerhalb der Grenzen einer rein technizistischen Untersuchung und damit einer Verleugnung der Politik verharrt, überwinden muß. Die marxistische Geschichtsauffassung impliziert sowohl die Konstruktion der besonderen Zeitlichkeit der „Reihen"3 als auch die Bestimmung in letzter 117

Instanz durch das Sozialökonomische, weil - wie Engels in seiner Analyse der Philosophie, die man auf die Literatur anwenden könnte, sagt - die Ökonomie „nichts a novo [schafft], sie bestimmt aber die Art der Abänderung und Fortbildung des vorgefundenen Gedankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem es die politischen, juristischen, moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die Philosophie üben." 4 Das, was man etwas schnell als „Überbau" bezeichnet, ist also selbst gegliedert in Regionen, deren jeweils spezifische und durch das Einwirken der anderen Sektoren innerhalb eines gegebenen Praxisbereiches differenzierte Wirkungsweise analysiert werden muß. Althusser hat das Einwirken der praktischen Ideologien und der Wissenschaften auf die Philosophie betont, 5 das gleiche müßte für die Literatur entwickelt werden. Von hier aus zeichnet sich für die Literatur zwischen einem historistischen und einem strukturellen Herangehen ein spezifisches Feld ab, dessen Ausdehnung von Tynjanow (der damit eine Wende im russischen Formalismus markierte) umrissen wurde, als er die These aufstellte, daß die Korrelation zwischen Literatur und gesellschaftlichem Leben auf der Ebene der literarischen Sprache und auf der Ebene dessen, was in einer gegebenen Epoche als literarische G a t t u n g funktioniert, untersucht werden müsse.6 Heute würden wir, wobei wir die Neuorientierung der wissenschaftlichen Forschungen berücksichtigen und uns auf die Arbeiten der sowjetischen Semiotiker - besonders auf die von J . M. Lotman und A. M. Pjatigorski stützen, statt von Gattung von T e x t sprechen. Dieser Begriff eröffnet eine T y p o l o g i e / T o p o l o g i e der Kulturen, bei der die Klassifizierung durch das Erkennen der Merkmale möglich wird, durch die man das, was als „Text" wirkt, von dem, was nicht Text ist, unterscheiden kann (z. B . die Unterscheidung schriftlich/mündlich). Der Textbegriff gestattet nicht nur, eine Theorie der Systeme und der Praktiken der Zeichengebung (pratiques signifiantes) auszuarbeiten, sondern auch zu betonen, daß die Funktion des Textes durch seine gesellschaftliche Rolle bestimmt wird. Unter F u n k ti o n verstehen wir hier „die Beziehung zwischen dem System, seiner Realisierung und dem Sender - Empfänger des Textes" 7 . Bei diesen Analysen können die Grenzen des Literarischen weder 118

allein durch linguistische Kriterien (primäre modellierende Systeme) noch, was wichtiger ist, durch die technische Konzeption einer dem Werk inhärenten Literarität (seine Konstruktion) gedacht werden. Befragt werden vielmehr die Grenzen dessen, was sich in einer Gesellschaft als „Literatur" behaupten kann: ein Text also, der a l s l i t e r a r i s c h e r - im Unterschied etwa zum religiösen schriftlichen Text (fromme Botschaft) oder zum Nicht-Text (Alltagsbotschaft) - eine selbständige Existenz erlangt hat, ein Text, der auf ein bestimmtes Publikum, auf einen bestimmten Interpreten bezogen ist. Geht man von der Tatsache aus, daß „die Literatur", ebenso wie der Staat, nicht immer existiert haben, so muß man anerkennen, daß sie gesellschaftliche und ideologische, durch gesellschaftliche Verhältnisse hierarchisierte Maßstäbe einschließt. Einige Beispiele: Die Hierarchie der Gattungen in der klassischen Literatur, bei der das Merkmal „ein Kunstwerk" in dem Maße deutlicher hervortritt, wie man sich dem Gipfel in der Skala der Künste nähert; die in unserer Gesellschaft errichtete Kluft zwischen Roman und Dichtung; die revolutionäre Praxis Brechts, der sich um eine radikale Umbildung der literarischen Gattungen und ihrer hierarchischen Gliederung bemühte; schließlich die Tatsache, daß Marx und Lenin unter Literatur immer a l l e produzierten Texte verstanden (auch politische und ökonomische) und in diesem Sinne, z. B. im Kommunistischen Manifest, von der „sozialistischen und kommunistischen Literatur" sprechen. Die Ermittlung der Beziehungen zwischen Literatur und Ideologien impliziert also die Abgrenzung des „Literarischen" und der ideologischen Voraussetzungen, die sich in ihm verbergen, sowie der abgeleiteten (kritischen und philosophischen) Diskurse, die es stützen. D a ß Lenin auf die Funktion der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts als einer politischen „Tribüne" hinweisen kann, daß in den Ländern, die einen antiimperialistischen nationalen Befreiungskampf führen, die Literatur die Kulturformen, das Vokabular, die Traditionen und Mythologien der ausgebeuteten Minderheiten (indianische oder schwarze z. B.) übernehmen kann, ohne dem bürgerlichen Kulturexotismus zu verfallen, das alles beweist, daß man nicht dogmatisch die G r e n z e n einer „Literarität" an sich, noch ein den gegebenen historischen Prozessen äußerliches Wesen 119

der Literatur festlegen kann. Deshalb impliziert die marxistische Erforschung der spezifischen Beziehung zwischen der Literatur und den Ideologien eine Gesamtproblematik, die unter den folgenden Gesichtspunkten untersucht werden muß: Erstens, in welchem Sinne berührt die Frage der Ideologie die Literatur in ihrer Funktionsweise, ihrem Status, ihrer institutionellen Wirklichkeit? Zweitens, diese Frage muß sich auf eine marxistische Analyse des Begriffs und der Wirklichkeit der Ideologien stützen. Drittens, es muß der materialistischen und historischen Forderung genügt werden, das Problem der Beziehung Literatur/ Ideologien nicht nur als ein i n n e r - i d e o l o g i s c h e s (InBeziehung-Setzen der Überbaubereiche zueinander durch ihren Inhalt) aufzufassen, sondern auch und vor allem als ein a u ß e r - i d e o l o g i s c h e s , das die gesellschaftlichen Verhältnisse und die materiellen Instrumente einschließt, die Ideologien produzieren und reproduzieren. Wenn es sich nicht um ein in erster Linie inner-ideologisches Problem handelt, so wird klar, daß wir es mit einer wissenschaftlichen Frage zu tun haben, was wiederum Kriterien der Unterscheidung zwischen Ideologie und Wissenschaft voraussetzt. Da es uns hier darum geht, das Konzept d i e L i t e r a t u r in Frage zu stellen, werden wir uns darauf beschränken, nur die Eckpunkte des Ideologiebegriffs zu umreißen, von denen aus er geklärt werden kann. Mit dieser ersten theoretischen Einschränkung: Es geht nicht um eine spekulative Bestimmung eines sogenannten Wesens der Ideologie, sondern um eine Bestimmung ihrer F u n k t i o n s w e i s e als Voraussetzung für eine historische Typologie der Ideologien im Rahmen der marxistischen Theorie der Produktionsweisen und der Klassenkämpfe. Zunächst können zwei Bedeutungen des Ideologiebegriffs ausgeklammert werden, die entweder falsch oder für die Gesamtproblematik zu eng sind. E r s t e B e d e u t u n g : Im Sinne der Deutschen Ideologie könnte man unter Ideologie jede verkehrte, verzerrte und entstellte Widerspiegelung der Wirklichkeit verstehen. Die Ideologien wären dann illusorische, idealistische Vorstellungssysteme, weil sie ihre eigenen materiellen Grundlagen nicht erkennen. Von dieser richtigen, in den Texten von Marx theore120

tisch niedergelegten Bedeutung ausgehend, kann man aus der Ideologie einen Prozeß machen, in dem sich jene Anerkennung/ Verkennung des bestehenden Zustands der Dinge vollzieht, die, nach Marx, für Feuerbach charakteristisch ist. Allerdings gleitet man auf dieser Ebene (auf die wir später zurückkommen werden) sehr schnell zu einer e i n s c h r ä n k e n d e n Definition der Ideologie ab, indem diese nur (als falsches Bewußtsein) in Beziehung zu etwas, was sie n i c h t ist, nämlich zu einer Erkenntnis, einem richtigen Bewußtsein, definiert werden kann. Hierfür ist die Position des jungen Lukäcs in einem später von ihm kritisierten und für einen gewissen theoretischen Linksradikalismus der Dritten Internationale durchaus repräsentativen Werk, Geschichte und Klassenbewußtsein, typisch. Lukäcs stellt die Ideologie als f a l s c h e s B e w u ß t s e i n , als partielles, gegenüber dem Ganzen der Gesellschaft verselbständigtes Bewußtsein, dem r i c h t i g e n B e w u ß t s e i n gegenüber, dem die gesellschaftliche Totalität transparent ist und dessen Subjekt das Proletariat als Träger eines Selbstbewußtseins der geschichtlichen Bewegung ist. An diesem Beispiel ist die Gefahr solcher Definition gut erkennbar: nicht nur, weil echt hegelianisch die marxistische Theorie im richtigen Bewußtsein des zum philosophischen Subjekt verwandelten Proletariats aufgelöst wird (wodurch die leninistische Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Theorie und gesellschaftlichem Bewußtsein beseitigt wird), sondern vor allem, weil jede Arbeitsteilung, selbst die wissenschaftliche, zur Entfremdung, zur Verdinglichung wird. Bei solcher Betrachtungsweise kann die Dialektik nur Kritik sein, Überschreitung des Partiellen zugunsten des Ganzen. Man kann alternativ von einer „ k r i t i s c h e n Literatur", die als Kritik aller Entfremdungsformen verstanden wird, zu einer „ w a h r e n Literatur" übergehen, die wahr ist, weil sie die werdende Totalität der proletarischen Klasse oder Kultur ausdrückt. In diesem Sinne liegt bereits dem 1911 von A. A. Bogdanow formulierten Begriff der „proletarischen Kultur" 8 die gleiche Ideologiekonzeption zugrunde. Die Arbeiterklasse ist das Subjekt der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft und bringt durch ihre ethische und soziale Selbstvervollkommnung eine autonome und spezifische Kultur hervor. Lenins Polemik von 1920 gegen die Vertreter des Proletkults 121

weist deutlich genug den Idealismus und Voluntarismus einer solchen Position nach. Aber es muß hervorgehoben werden, daß sich als Gegenstück dabei eine andere Definition der Ideologie abzeichnet, die, obwohl sie ihr sehr unähnlich zu sein scheint, die erstere aufgreift, allerdings als deren theoretische und politische Ergänzung. Z w e i t e B e d e u t u n g : Der Auffassung von Ideologie als falschem Bewußtsein entspricht eine e x p r e s s i v e Konzeption der Ideologie, entweder als t o t a l i s i e r e n d e r A u s d r u c k einer Klasse in ihrer praktischen Spontaneität oder als einfache W i d e r s p i e g e l u n g der Bewegung der ökonomischen Basis. In politischer Hinsicht ist in der ersten Richtung der Voluntarismus unschwer erkennbar, der die Einheit einer Klasse durch ihr Bewußtsein bestimmt sieht und praktisch zu einer Ü b e r p o l i t i s i e r u n g der Ideologien und zu ihrer Überschätzung neigt. Indem Lenin den spezifischen Stellenwert der Politik (Partei, Staat) herausstellte, kritisierte er nachdrücklich die von ihm als pädagogisch bezeichnete Auffassung der Politik und die Reduzierung der einen auf die andere. Damit kritisierte er auch den Ouvrierismus 9 in der Literatur als Forderung der kleinbürgerlichen Intellektuellen und der zurückgebliebensten Schichten des Proletariats. Aber diese Richtung nährt sich von der anderen, der zweiten und vielleicht wichtigsten, die in der Geschichte der Arbeiterbewegung unter dem Namen „Ökonomismus" bekannt wurde und die Theorie und Praxis der Zweiten Internationale kennzeichnete. Wenn der Ökonomismus politisch bedeutet, daß die Politik der Ökonomie untergeordnet wird (was zu einer fatalistischen Konzeption der historischen Entwicklung führt), so bedeutet er auf der Ebene der Funktionsweise der Ideologien eine R e d u k t i o n der Ideologie auf ein Epiphänomen, auf eine mechanische Widerspiegelung der Basis und führt somit zu einer praktischen E n t p o l i t i s i e r u n g der Ideologien zugunsten eines moralischen Idealismus. Unter dem Deckmantel des Antihegelianismus lehnten Bernstein und die Revisionisten in Wirklichkeit die materialistische Dialektik ab, und Lenin wies bereits in Materialismus und Empiriokritizismus nach, daß dies von einer neukantianischen philosophischen Regression begleitet war. Im Grunde gelangt man durch die Verkennung eines richti122

gen ideologischen Kampfes auf dem Felde der „Literatur" zu einem politischen Eklektizismus, zu einem eng technizistischen oder ethischen Herangehen an den „Überbau". Aus der doppelten Abgrenzung davon ergibt sich eine positive Bestimmung der Ideologien, von der aus man bestimmte Aspekte der Beziehung zwischen Literatur und Ideologien betrachten kann. Entgegen ihrem historischen Ursprung kann die Ideologie nicht als Ideensystem definiert werden, das allein in dem Bereich der Vorstellung zu situieren wäre, und zwar aus mehreren Gründen. Man kann in diesem Zusammenhang bestimmte Analysen Lenins und Gramscis aufgreifen, die diejenigen von Marx und Engels vertiefen. Wenn letztere in der Deutschen Ideologie betonen, daß die „Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat [•..] damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion" verfügt, und daß man „die g e i s t i g e P r o d u k t i o n " analysieren muß, „wie sie in der S p r a c h e der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt" 10 (Hervorhebungen - C. G.), so sprechen sie den Ideologien nicht nur die Realität von Zeichensystemen zu, was den Zugang zu einer Typologie gnoseologisch differenzierter Zeichensysteme eröffnet (Existenz von Mythen, Riten, Bildern, Begriffen), sondern auch das, was man eine i n s t i t u t i o n e l l e Realität nennen kann, die mit der Verbreitung und der Reproduktion sowie mit der Umarbeitung der Ideologien verbunden ist. Eben diese beiden Punkte wurden von Gramsci und Lenin entwickelt. Von Gramsci vor allem, weil er in seinem Werk mit bemerkenswertem Nachdruck den ungewollten, unwillkürlichen Charakter der Ideologien herauszustellen bemüht ist: ihre o r g a n i s c h e Rolle. Sie liefern kategorielle Operatoren, Verhaltenssysteme, die die Massen mit einer solchen psychologischen Wirksamkeit organisieren, daß die Ideologien es sind, die eben das Feld bestimmen, auf dem die Menschen sich bewegen und sich ihrer eigenen Geschichte bewußt werden. Aus diesem organischen Charakter der Ideologien ergibt sich die Notwendigkeit, die Spezifik der ideologischen Wirkung und ihrer Formen aufzuzeigen, die für eine gegebene Klasse gleichsam als „sozialer Zement" funktioniert, indem sie eine Klassenherrschaft oder einen Kampf um die Veränderung der Gesellschaft 123

durch die Verwirklichung einer historischen Hegemonie neuen Typus (der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten) fest zusammenfügt. Außerdem sind die Ideologien nicht nur auf der Ebene der Beziehungen Klasse - Bewußtsein zu analysieren, sondern sie verlangen auch eine Analyse dessen, was nach Gramsci die privaten Institutionen des Staatsapparates sind (z. B. Kirche, Schule) - anders gesagt, eine Analyse des globalen Systems des ökonomischen, sozialen und politischen Funktionierens der Ideologien. Daraus erhellt, inwiefern die Analyse der Beziehung zwischen Literatur und Ideologien sich nicht auf eine i n n e r i d e o l o g i s c h e oder i n n e r - l i t e r a r i s c h e Analyse beschränken kann. Denn es gibt nicht nur Ideologie i n der Literatur, sondern Ideologien d e r Literatur, und gesellschaftliches Funktionieren dieser Ideologien im sogenannten literarischen Zweig des Bildungssystems mit den antidemokratischen Auswahlmechanismen für den Zugang zur Bildung, die dieses impliziert. In diesem System selbst ist ein Klassenkampf gegen die mystischen und mystifizierenden Einführungspraktiken zu führen sowie gegen die i n s t i t u t i o n e l l e n I d e o l o g i e n , die sie reproduzieren. So erleichtern die Ereignisse vom Mai 1968, die das erste große ökonomische und politische Aufeinanderprallen der Klassen unter den gegenwärtigen Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus markieren, das bessere Verständnis für den Platz, den die Literatur in unserer Gesellschaftsformation, unserem Bildungssystem mit seinen institutionellen und hierarchischen Stufen, einnehmen kann. Kurz, man kann vereinfachend sagen, daß unser Bildungssystem eine gewisse Anzahl von Trennungen aufrechterhält, die in einem technokratischen Sinne neugeordnet werden können: die massive Trennung zwischen Literatur und Wissenschaft, Literatur und Technik, abstraktem Humanismus (entsprechend der romantisch-intuitiven Konzeption der Literatur) und technokratischer Ideologie. Die erste Trennung ist entscheidend, denn sie institutionalisiert die Ablehnung einer umfassenden wissenschaftlichen Literaturvermittlung sowie eine systematische Behinderung aller jener Versuche (z. B. im Kreise der Gruppe Tel-Quel), die in der literarischen Produktion V e r f a h r e n von w i s s e n s c h a f t l i c h e m S t a t u s am Werke sehen. Die Ideologien sind von ihrer gesellschaft124

liehen Funktionsweise untrennbar. Man findet im Werk Althussers theoretische Elemente, die in diese Richtung weisen, wenn er mit Nachdruck auf die Existenzweise der Ideologien als „wahrgenommene - angenommene - ertragene kulturelle Objekte" hinweist, in denen die Menschen „nicht ihre Verhältnisse zu ihren Existenzbedingungen aus [drücken], sondern die Art, wie sie ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen leben, was gleichzeitig ein wirkliches und ein [ . . . ] .imaginäres' Verhältnis voraussetzt." 11 Die Literatur als Wirkungsort des gesellschaftlichen Imaginären analysieren, heißt, ihre Beziehungen zu den Diskursen nachweisen, die in ihrem Namen geführt werden können, sowie zu den p r a k t i s c h e n Ideolog i e n in dem Sinne, den Althusser ihnen gibt: „ [ . . . ] komplexe Formationen, die montiert sind aus Begriffen - Vorstellungen Bildern, vergegenständlicht in Verhaltensweisen - Betragen Haltungen - Gesten. Das Ganze funktioniert als praktische Normen, die die konkrete Haltung und Stellungnahme der Menschen zu den realen Gegenständen und Problemen ihrer gesellschaftlichen und individuellen Existenz [ . . . ] regieren." 12 Anders gesagt, wenn die Arbeit des literarischen Schreibens (la littérature comme écriture) als „Praxis" definiert werden kann, so unter der Bedingung, daß man hinzufügt, daß es auch eine P r a x i s d e r L i t e r a t u r gibt, die vor allem durch ihren antidemokratischen Aspekt charakterisiert wird (wie uns die Literatursoziologie zeigt) aber auch durch ihre Funktion als indirektes Vehikel der herrschenden Ideologien, insbesondere der idealistisch-religiösen Ideologien. Auf diesem Gebiet findet - wie in der ganzen Gesellschaft - ein Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen der herrschenden Ideologie und dem umfassenden wissenschaftlichen (nicht technokratischen) Herangehen an die Literatur statt: Im Grunde ist es ein Kampf um eine n e u e P r a x i s d e r L i t e r a t u r . Hier kehren wir zur leninistischen Theorie und Politik in Fragen der Ideologie zurück ; an ihr erkennt man, warum Lenin eine expressive und mechanistische Konzeption der Ideologie immer ablehnte. Von Was tun? (1902) bis zum Kampf gegen die Otsowisten (1908) und zu den Auseinandersetzungen über Kulturpolitik von 1918 findet man eine theoretische Konstante, die sich einerseits aus einem organisatorischen und institutio125

nellen Herangehen an die ideologischen Fragen ergibt (die Theorie von der Rolle der Partei oder das Herangehen an die Fragen der Kultur von der Analyse des „Kulturniveaus" der Massen aus) und andererseits aus der notwendigen Unterscheidung zwischen marxistischer Theorie als stets zu entwickelnder Wissenschaft (also nicht Ausdruck der ausschließlichen Spontaneität der sozialen Trägerschichten) und der Ideologie. Und diese beiden Prozesse sind untrennbar: Die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Ideologie ist keine rein erkenntnistheoretische, sondern auch eine politische. Wenn in einer Klassengesellschaft die Theorie nicht Produkt der Spontaneität des Kampfes der Massen ist, obwohl für Lenin diese Spontaneität einen „Keim des Bewußten" darstellt, so liegt das daran, daß die herrschende Ideologie nach wie vor die der herrschenden Klasse ist und das nicht allein auf der Ebene der „Ideen", sondern auch in der materiellen und institutionellen Produktionsweise dieser Ideen, Mythen und Verhaltenssysteme. Aus dieser Sicht besteht ein q u a l i t a t i v e r Unterschied zwischen den herrschenden Ideologien, deren Funktion Erkenntnisverschleierung ist und die Indiz einer immer schon verklärten Wirklichkeit sind, und der engen Verbindung zwischen Theorie und gesellschaftlicher Praxis, zwischen „proletarischer Ideologie" und „wissenschaftlichem Sozialismus" (was für Lenin Synonyme waren), auf die Waldeck Röchet 1966 in Argenteuil hinwies.13 Anders gesagt, die Unterscheidung zwischen Ideologie und Wissenschaften, die für den Marxismus eine Lebensfrage ist, schließt die Veränderung ihres Verhältnisses, die von dem Zeitpunkt an feststellbar ist, da eine sozialistische Aneignung der Wissenschaft und der Kultur durch die Massen stattfindet, nicht aus, sondern impliziert sie sogar. Wie Althusser betonte, führt das keineswegs zu einem Verschwinden der Ideologie, die jeder Gesellschaft wesentlich ist, sondern schließt ein, daß sie zum bewußten Instrument der Einwirkung auf die Geschichte werden kann. 14 Sowenig man die Ideologien für einfache ideelle Systeme halten kann, sowenig kann man sie, und zwar aus den gleichen Gründen, a priori in einer allgemeinen und ahistorischen spekulativen Definition zusammenfassen. Man müßte weniger von einer m a r x i s t i s c h e n T h e o r i e d e r I d e o l o g i e als 126

vielmehr von einer m a r x i s t i s c h e n T y p o l o g i e der I d e o l o g i e n und ihrer Funktionen in einer gegebenen Produktionsweise, in einer spezifischen Situation der Klassenkämpfe sprechen. Eben darum findet sich die Literatur heute in ihrem Status durch das Problem der Ideologien in Frage gestellt, und zwar eben an dem eingangs erwähnten Punkt: der Abgrenzung des „Literarischen". Es geht natürlich nicht darum, auf die wissenschaftliche Analyse der Literatur in ihrer relativen Autonomie zu verzichten, sondern darum, sich die Bedingungen klar zu machen, die ein solches Herangehen erst ermöglichen. Wenn man nicht den ästhetischen Fetischismus des schönen Gegenstands beiseite schieben will, um in den „Fetischismus des Materials" (Eisenstein) zurückzufallen, dann ist es notwendig, die ideologischen und gesellschaftlichen Kriterien zu berücksichtigen, die die Grenzen der Literatur bestimmen. D a ß ihr nicht die Evidenz eines aus Formen und Gattungen konstituierten, zeitlosen und unveränderlichen Systems, das man niemals abbauen könnte, zukommt, zeigt uns hinreichend das Brechtsche Beispiel, das in seiner theoretischen und politischen Lehre aktueller denn je ist. Die Erarbeitung einer antiaristotelischen und - unter Vorbehalt gewisser Präzisierungen - antihegelianischen marxistischen Ästhetik, die sich vor einem Rückfall in einen neukantianischen Formalismus absichert, ist nicht an das formale Streben nach einer Theatralik der Verfremdung gebunden. Wenn, wie Walter Benjamin feststellt, die oberste Aufgabe einer epischen Inszenierung darin besteht, die Beziehung der dargestellten Handlung zu dem, was darstellen heißt, hervorzuheben 15 und somit die Darstellung als produktiven Erkenntnisprozeß des Werkes und als Kritik der Ideologien anzubieten (wie Althusser in seinem Artikel aus Für Marx gezeigt hat 1 6 ), dann ist diese Theatralik eigentlich als ein Ergebnis aufzufassen, das dem Brechtschen Beherrschen des ideologischen Einsatzes auf dem Theater zu verdanken ist. Die Dialektik von szenischem Ereignis und szenischer Haltung, die Unmöglichkeit, das Theater von der Wissenschaft zu trennen, der Rückgriff auf den sozialen Gestus sind Ausdruck e i n e r n e u e n T h e a t e r p r a x i s (des Spiels der Schauspieler, der Inszenierung, des Theatelkollektivs). Der Autor situiert sich als Produzent und fragt, nach Benjamin, nach seinem Platz 127

in den (gesellschaftlichen und literarischen) Produktionsverhältnissen 17 . In diesem Sinne kann und muß das Brechtsche Werk das Funktionieren der Ideologie auf dem Theater und das Funktionieren des Theaters als ideologischem Ort aufhellen. Andererseits setzt eine solche Praxis voraus, daß die Ideologien als artikulierbares und spezifisches System verstanden werden, das Ensembles (die allgemeinsten Operatoren) und Unter-Ensembles umfaßt. Um hier der Theatermetapher zu folgen, muß an die Analysen des Kapitals erinnert werden, die von Lenin in Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland vertieft wurden und das „typologische" Funktionieren der Ideologien in der feudalen Produktionsweise betreffen. Dort, wo die gesellschaftlichen Beziehungen hierarchische, persönliche, auf der Kleinproduktion und dem niedrigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte beruhende Beziehungen sind, werden die ideologischen gesellschaftlichen Beziehungen bereits auf der Ebene der Basis als außerökonomische Herrschaft wirksam. In einer solchen gesellschaftlichen Struktur funktioniert jeder T e x t als religiös und s y m b o l i s c h ; „den ausschließlich mit Religion gefütterten Gemütern der Massen mußten ihre eignen Interessen in religiöser Verkleidung vorgeführt werden, um einen großen Sturm zu erzeugen." Wie Engels weiter sagt, hatte das Mittelalter alle übrigen Formen der Ideologie: Philosophie, Politik, Jurisprudenz an die Theologie annektiert, zu Unterabteilungen der Theologie gemacht. 18 Ebenso ermöglichen die gegenwärtigen marxistischen Forschungen über die asiatische Produktionsweise den Nachweis, daß in diesem Gesellschaftstyp, der auf Agrargemeinschaften beruht, die von einem Staat als Eigentümer mit ökonomischen und technischen Funktionen ausgebeutet werden, sich das Bild eines einheitlichen, von einer göttlichen Macht gesteuerten Kosmos als der Ort herausbildet, wo die gesellschaftlichen und die kosmischen Bedeutungen sich zusammenfügen. Die analogischen und metaphorischen Verschiebungen und Beziehungen der Ebenen Natur/Politik sind am Werke in gewissen mesopotamischen, ägyptischen und chinesischen Texten, in denen, wie der rumänische Philosoph Jon Banu herausgestellt hat, die Einheit König/Gott bewirkt, daß der transzendente Faktor (der Gott), der zum Garanten der sozialen Ordnung wird, politisiert wird, während 128

der politische Faktor (der König) zum heiligen Bewahrer des Lebens und der Fruchtbarkeit transzendentalisiert wird. 19 Diese beiden Beispiele aus vorkapitalistischen Gesellschaften zeigen auf unterschiedliche Weise die engen Beziehungen zwischen dem, was als T e x t funktioniert, und den praktischen Ideologien, die ihn bis in die stilistischen Verfahren hinein beeinflussen, sowie den Klassenpraktiken, die ihn stützen. Ziehen wir nach diesem Umweg eine provisorische Schlußfolgerung. Man wird verstanden haben, daß wir die Literatur nach ihren Grenzen befragt haben, weil nach unserer Meinung eine marxistische Literaturtheorie die Verbindung zwischen einer S e m i o l o g i e d e r T e x t e 2 0 , namentlich des literarischen Textes, und dem historischen und dialektischen Materialismus an eben dem Punkt einer Typologie der Ideologien herzustellen hat. Will man materialistisch sein, genügt es nicht, die Ideologie allein auf die sozialökonomische Analyse zu beziehen ; sie muß auch auf eine die m a t e r i a l i s t i s c h e B e h a n d l u n g d e r F o r m betreffende Problematik, wie sie in den theoretischen Schriften Brechts und Eisensteins bereits am Werke ist, bezogen werden. Die Grenzen der Literatur, ihren Status in Frage stellen, darf nicht dazu führen, sich auf dem unproduktiven Weg der „Nicht-Literatur" festzufahren (Literatur der Weigerung, wie Tod der Literatur - radikales Verstoßen der Werke der Vergangenheit), sondern soll zu einer vertieften Erkenntnis der historischen Formen der Literatur, ihres Auftauchens - Verschwindens - Sich-Veränderns, wie ihrer produktiven Logik führen. Es ist dann verständlich, daß Brecht in einer gleichen Bewegung die aristotelische Dramaturgie ablehnt, die es nicht gestattet, die objektiven Widersprüche der Wirklichkeit zu berücksichtigen, für das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters zu kämpfen, das in Shakespeare „einen großen Realisten" sehen kann, der „immer viel Rohmaterial auf die Bühne geschaufelt" hat und in dessen Werken „jene wertvollen Bruchstellen" sich finden, „wo das Neue seinerZeit gegen das Alte stieß". 21 Der ideologische Kampf auf dem Gebiet der Literatur ist heute gleichzeitig und notwendig ein Kampf um Demokratisierung und Neubewertung der Kultur, um eine neue Praxis der Kultur, ein Kampf für eine Kultur neuen Typus. Übersetzt von Vincent von Wroblewsky 9 Buxmeister/Barck

129

5.

Claude Prévost

Literatur und Ideologie. Vorschläge für eine theoretische Überlegung

In der geschichtlichen Epoche, in der wir leben, stellt sich mit Hartnäckigkeit die Aufgabe, die Beziehungen zwischen Ideologie und Literatur zu klären. Die folgenden Überlegungen werden nicht alle Probleme, die hiermit auftauchen, lösen und können sicher auch nur einige dieser Probleme überhaupt aufgreifen. Indes brauchen die Marxisten auf diesem wie auf anderen Gebieten gewiß keine übertriebene Verlegenheit an den Tag zu legen, denn sie gehen nicht vom Nullpunkt aus. Trotz zahlreicher und bedeutender Arbeiten, auf die sie sich stützen können, muß man jedoch einräumen, daß die Frage der Beziehungen zwischen Ideologie und Literatur schwierig und unklar bleibt und daß selbst ihre Begriffe ungenügend definiert sind. Dennoch ist dies eine entscheidende Frage, deren praktische Auswirkungen keineswegs ohne Bedeutung sind. Legen doch die Antworten, die man auf diese Frage gibt, die Art der Kritik fest, die die Marxisten in den verschiedenen Bereichen der „zeichengebenden Praxis" (pratique signifiante) anwenden sollten, das heißt nicht nur im Bereich der Literatur, von dem hier die Rede ist, sondern auch auf andere Weise, im Bereich des Theaters, des Fernsehens, des Films usw. Für eine revolutionäre Arbeiterpartei ist die Frage der „Kritik" nicht sekundär. Hält die Partei doch vor allem durch ihre „Kritiker" einen ständigen Kontakt mit den „Schöpfern", die ihrerseits ihre Haltung gegenüber der Partei nach den Einschätzungen richten, die in den mit der Partei verbundenen Publikationsorganen über sie und ihre der Öffentlichkeit übergebene Produktion entwickelt werden. Diese Erfahrungstatsache zu konstatieren heißt nicht, das 130

Problem auf seine taktischen Dimensionen zu reduzieren. Diese sind natürlich nicht unwichtig, denn für die Kommunistische Partei kann der Gewinn oder Verlust von Sympathien nicht von zweitrangigem Interesse sein. Gewiß wird man einwenden, daß die intellektuellen, die auf diese Weise „gewonnen" oder „verlören" werden können, keine sehr bedeutsame Schicht darstellen. Hält man sich dabei an die bloßen Zahlen, ignoriert man einen wichtigen Aspekt und unterschätzt in gefährlicher Weise die Rolle, die diese Intellektuellen bei der Schaffung von Leitbildern einer oder mehrerer sozialer Schichten und zuweilen einer ganzen Epoche spielen. Für die politische Avantgarde der Arbeiterklasse ist es oft lebensnotwendig, richtig einzuschätzen, was in dem wichtigen Überbaubereich der „zeichengebenden Praxis" vor sich geht. In dieser Hinsicht ist die Kritik eine Aufgabe, die nicht allein den j,Kritikern" zukommt. Denn eine Klasse, die die nichtmöftopolistischen Schichten im Interesse der qualitativen Umgestaltung, der Demokratie und des revolutionären Übergangs zum Sozialismus um sich sammelt, weiß wohl, daß sie im Falle der Machtausübung von der ersten Etappe an auf diesem Gebiet jederzeit und überall Entscheidungen zu treffen hat. Zum Beispiel in bezug auf den Literaturunterricht: Die Ablehnung der Tabus, die Beseitigung der Vorurteile bedeutet nicht, daß man alles lehren kann. Man wird auswählen müssen, wobei diese Auswahl „breit" und „offen" sein wird. Um aber nicht in Eklektizismus zu verfallen, muß man eine Theorie dieser Öffnung ausarbeiten. Allgemeiner gesagt: Die Gesamtheit dessen, was man Kulturpolitik nennt, muß auch theoretisch solide fundiert werden. Anderenfalls läuft man Gefahr, daß selbst nach Jahrzehnten Sozialismus, nachdem die ersten Etappen des langen, von Lenin als „Kulturrevolution" bezeichneten Prozesses verwirklicht worden sind, Schriftsteller und Künstler in der berechtigten Sorge, dogmatische Enge zu überwinden, in grober Weise in eine pseudojakobinische oder humanistischanarchistische Ideologie, wenn nicht sogar in die Trugbilder der „schönen Seele" zurückverfallen. Es erübrigt sich, dafür extra Beispiele zu zitieren. Man kann sich natürlich in der Hoffnung wiegen, daß „es in Frankreich ganz anders kommen wird". Möglicherweise . . . 9*

131

Es wäre aber sicher falsch, an eine endgültig erworbene Immunität, das heißt an Wunder glauben. Die Ideologie kennt keine Wunder. Faktisch ist es schon ein Fehler, hier in der Zukunft zu sprechen. Auf die Frage nach der Beziehung Ideologie/Literatur wird schon heute tagtäglich geantwortet. Es handelt sich um eine De-facto-Antwort (in den meisten Fällen zumindest), um eine empirische Antwort, die sich ihrer theoretischen Voraussetzungen nicht oder nur wenig bewußt ist. Diese Voraussetzungen gilt es aufzudecken, damit sie zum Gegenstand der Erkenntnis, der Kritik und schließlich der theoretischen Fundierung werden können. Eine solche Arbeit ist schon jetzt entscheidend für die Beziehungen der Partei als Avantgarde zu der Masse der Schriftsteller und Künstler, somit für die Beteiligung einer zahlenmäßig zwar kleinen Schicht Intellektueller die aber auf einem Gebiet tätig sind, wo zwangsläufig nichts unbemerkt geschieht - an der Vorbereitung der künftigen Macht. Schon heute stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Macht - und der Volksschichten, die sie stützen und k o n s t i t u i e r e n werden - zu den Schöpfern von Leitbildern, zu denjenigen, die oft sehr a u f f ä l l i g e und, man könnte sogar sagen, s p e k t a k u l ä r e Elemente des Überbaus herstellen. Deshalb kann man die Durchführung einer einheitlichen Kulturpolitik nicht von der vertieften Reflexion über die Phänomene der Kunst und Literatur trennen. Hier soll, wie gesagt, nur von Literatur die Rede sein. Deshalb kann nur am Rande auf eine noch zu lösende Aufgabe hingewiesen werden, die jedoch keineswegs zweitrangig ist: auf die Notwendigkeit, die Unterschiede zwischen literarischer und künstlerischer Praxis zu durchdenken. Auf diesem Gebiet tun sich wohlbekannte Klippen auf: übertriebene Theoretisierungen, vorschnelle Verallgemeinerungen, überstürzte Schlußfolgerungen. Diese sind freilich nicht zu überwinden durch den Rückzug auf einen bornierten Empirismus, durch einfache Zuflucht zur „Intuition", zur „persönlichen Sensibilität" usw., das heißt durch all die Begriffe, die gemeinhin noch als das Nonplusultra im Umgang mit literarischen und künstlerischen Dingen betrachtet werden. Man muß vielmehr der Wissenschaft Vertrauen schenken, 132

ohne dabei zu vergessen, daß sie sich auf diesem Gebiet noch im Anfangsstadium befindet. In dem Bereich, der uns hier beschäftigt, scheint die Semiotik sehr interessante Perspektiven zu eröffnen, allerdings sollte man sich davor hüten, in der Semiotik die Gnoseologie von heute zu sehen und aus ihr die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus machen zu wollen. 1 Die Entwicklung dieses Wissenschaftszweiges muß ohne fideistische Schwärmerei, aber auch ohne obskurantistische Furcht mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. 2

1. Über die Bedeutung von Ideologie bei Marx und 'Engels Die folgenden sehr summarischen Bemerkungen beziehen sich ausdrücklich auf gründlichere Arbeiten. 3 Erinnert sei zunächst an die Bedeutungsvarianten des Wortes Ideologie bei Marx und Engels. In der ersten Bedeutung, z. B. der der Deutschen Ideologie, erscheint Ideologie als umgedrehter, verzerrter, bruchstückhafter, verstümmelter Reflex der Wirklichkeit. In dieser Bedeutung wird Ideologie dem wirklichen Bewußtsein, der Erkenntnis, entgegengestellt. Hält man sich an diese Bedeutung, scheint dies für den Gegenstand unserer Überlegung, die Literatur, schwerwiegende Konsequenzen hinsichtlich der Einschätzung der Werke nach sich zu ziehen. Es ist eine ständig wiederkehrende Versuchung marxistischer Literaturkritik, literarische Werke am Maßstab wissenschaftlicher Erkenntnis (insbesondere des historischen Materialismus) zu messen. Erinnert sei beispielsweise an die Analysen von Lukäcs in seinem Buch Der historische Roman, vor allem in bezug auf Flaubert. Selbst wenn er sich dagegen zu wehren scheint, spürt man, daß Lukäcs, ohne es einzugestehen, die historische Sicht Flauberts, besonders die seines Romans Die Erziehung der Gefühle, mit den Klassenkämpfen in Frankreich oder dem Achtzehnten Brumaire konfrontiert. In der zweiten Bedeutung wird Ideologie als A u s d r u c k aufgefaßt: als spontaner Ausdruck einer Klasse und ihrer Praxis, als einfacher, durch die Vorgänge der gesellschaftlichen 133

Basis mechanisch erzeugter Reflex. Auf die Literatur angewandt hätte eine solche R e d u k t i o n nicht weniger schwerwiegende Folgen als im ersten Fall. Sie können zweifach , und z u m i n d e s t d e m A n s c h e i n n a c h - einander entgegengesetzt sein. Eine Klasse nach ihrem „Selbstverständnis" zu definieren, birgt die Gefahr des Voluntarismus in sich und verführt zu einer Kulturpolitik, deren hauptsächliche Triebkraft sich auf eine Art von B e v o r m u n d u n g gegenüber den Schriftstellern reduziert, damit diese sich in aller Eile und zumindest formal „anpassen", „korrigieren", „umerziehen", damit ihr Verhalten in jedem Augenblick mit den u n m i t t e l b a r e n Bedürfnissen der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde übereinstimmt. Der Preis für diese übermäßige Eile ist immer sehr hoch, wie der Übergang vom P r o l e t k u l t zum „Shdanowismus", oder von den Gesprächen in Jänan 4 zur chinesischen „Kulturrevolution" von 1966 zeigen. Die scheinbar umgekehrte Gefahr beruht auf den gleichen ideologischen Voraussetzungen: Wird die Ideologie als einfacher Reflex aufgefaßt, entsteht die Versuchung, „der Basis Vertrauen zu schenken" - der Überbau wird ihr doch schließlich „nachfolgen". Das führt dazu, jedes Eingreifen auf diesem Gebiet abzulehnen; es wird seinen „immanenten Gesetzen", um nicht zu sagen seinem „Schicksal" überlassen. Dafür bezahlt man dann mit Sozialdemokratismus und mit Eklektizismus. Der reife Marxismus (das heißt nicht nur die „reifen" Werke von Marx und Engels, sondern auch der Leninismus) reduziert Ideologien nicht auf I d e e n s y s t e m e . Diese Konzeption von Ideologie, die die R e d u k t i o n ablehnt, findet sich z. B. bei Lenin in den Artikeln über Tolstoi und später in interessanten Weiterentwicklungen des Problems bei Gramsci. Abgesehen davon, daß die Ideologien in den Institutionen, in der Praxis, auf die sie ausgerichtet sind und in ihren Auswirkungen auf das konkrete Leben der Individuen gewissermaßen auch eine „materielle" Existenz haben, muß für die uns hier interessierende Ebene ihr o r g a n i s c h e r und o r g a n i s i e r e n d e r Charakter betont werden. Eine Ideologie ist demnach nicht nur ein System von Ideen, sondern auch ein strukturiertes Ensemble von Bildern, Vorstellungen, Mythen, 134

das bestimmte Typen von Verhaltensweisen, Praktiken, Gewohnheiten determiniert und das - wie Althusser in den besten Passagen seiner Idéologie et appareils idéologiques d'État (Ideologische StaatsapparateJ5 gezeigt hat - wie ein wirkliches U n b e w u ß t e s (véritable inconscient) funktioniert. In gleicher Weise schreibt Gramsci: „Insofern als sie (die Ideologien - C. P.) historisch notwendig sind, haben sie eine Gültigkeit, die eine .psychologische' Gültigkeit ist, .organisieren' sie die Massen, bilden sie das Terrain, auf dem Menschen sich bewegen, wo sie das Bewußtsein ihrer Lage erlangen, wo sie kämpfen usw."6 So gesehen bedienen sich die Menschen zwar der Ideologie, werden zugleich aber und sogar mehr noch von der Ideologie, also von dem, was wie ein wirkliches k u l t u r e l l e s U n b e w u ß t e s funktioniert, geformt und in Bewegung gesetzt. Von der S p r a c h e gilt dasselbe. Nicht zufällig hat Benveniste eines der Kapitel seiner Problèmes de linguistique générale (Probleme der allgemeinen Linguistik) „Der Mensch in der Sprache"7 betitelt. Die Menschen sind „in der Ideologie" wie sie „in der Sprache" sind. Die Ideologie und die Sprache sind zugleich das Instrument, das sie benutzen und das Milieu, von dem sie umgeben sind. Daraus ergeben sich für die Literatur bestimmte Konsequenzen.

2. Annäherungen an eineDefinition der Literatur Die Grenzen der Literatur sind ungenau. Zuweilen galt sogar ihre Existenz als hypothetisch. Nicht selten steht das Wort heute in Anführungszeichen, wenn der Akzent weniger auf dem „Resultat" (das „Werk") als auf der Tätigkeit liegen soll, die es hervorbringt. Auf jeden Fall sind die Grenzen zwischen „Literarischem" und „Nichtliterarischem" fließend. Es führt uns sicher etwas weiter, wenn wir von Literatur oder zumindest von literarischen Elementen immer dann sprechen, wenn der S c h r e i b e r , wie Brecht sagt, die Sprache bewußt nicht nur als Ausdrucksmittel, sondern als Arbeitsmaterial behandelt, wobei es sich versteht, daß er mit „lebendigem" Material zu tun hat, das selbst „arbeitet". An dieser 135

Stelle muß ein Mißverständnis beseitigt werden: Wenn man sagt, daß die Sprache „arbeitet", so greift man in übertragender Weise auf Freuds Begriff der „Traumarbeit" zurück. Jedoch hat diese Arbeit nichts mit der materiellen Tätigkeit im Marxschen Sinne, nichts mit s c h ö p f e r i s c h e r Arbeit zu tun, wie allzuoft unter dem verlockenden Einfluß des Analogiedenkens nahegelegt wurde. Nach Freud „arbeitet" der Traum ebenso wie Holz, Käse oder junger Wein arbeitet. Laplanche und Pontalis haben das richtig gesehen, wenn sie schreiben, daß für Freud diese Arbeit „absolut nicht schöpferisch" ist, sondern „sich mit der Umwandlung der Materialien zufrieden gibt".8 Soll man die Sprache als lebendiges Material betrachten? Zwei übereinstimmende Zeugnisse, obwohl sie von unterschiedlichen poetischen Praktiken ausgehen, bestätigen das: das Werk von Francis Ponge und die Reflexionen Aragons aus jüngster Zeit in Blanche oder das Vergessen und Les Incipit (Die Incipit). Man wird sich allerdings vor den Versuchungen der Analogie in jedem Fall hüten müssen. Der Verzicht auf die Konzeption der Sprache a l s M a t e r i a l der poetischen Tätigkeit (in weitem Sinne) käme einem Rückschritt von Jahrzehnten gleich. Aber das kann doch nicht zu der Auffassung führen, die poetische Sprache befördere keinerlei S i n n , keinerlei Bedeutung, die dem Schreibakt vorausginge, was auf eine immanente Konzeption der poetischen Tätigkeit hinausläuft, die der letzte Schrei des philosophischen Idealismus ist. Der sowjetische Forscher Lotman, dessen Arbeiten der französischen Öffentlichkeit nahezu vollständig unbekannt geblieben sind (weswegen nach wie vor alle möglichen Verfahren mit seinem Namen gedeckt werden können), bemerkt mit Recht, daß das M a t e r i a l der Literatur sich von jenen durch andere künstlerische Tätigkeiten bearbeiteten Materialien unterscheidet: von der Farbe, vom Stein, von den Tönen: „Die Materialien der anderen Künste sind amorph, bis sie die Hand des Künstlers berührt oder genauer, wenn sie auch eine eigene Struktur besitzen (Marmor, Holz), dann ist diese bis zu Beginn des künstlerischen Aktes für sich genommen neutral im Hinblick auf das menschliche Streben, die Welt zu er136

kennen. Die Struktur der Sprache stellt das Resultat eines Erkenntnisaktes von gewaltiger Bedeutung dar. Der Wortkünstler geht an ein Material heran, in dem die Resultate vieler Jahrhunderte menschlicher Tätigkeit, die auf die Erkenntnis des Lebens gerichtet ist, kondensiert sind."9 Das Material, das die Literatur bearbeitet, ist mit Geschichte und mit Bedeutung geladen. Trotzdem ist es so, daß der Mensch auf der Ebene seiner s p o n t a n e n Praxis die Sprache benutzt und zugleich in sie „eingetaucht" ist; er wird durch die Sprache g e f o r m t . Die Negation dieser Spontaneität ist die wissenschaftliche Sprache, die wesentlich ein Ausdrucksmittel und i m ä u ß e r s t e n F a l l e reine Denotation ist. Die Sprache der Literatur dagegen liegt dialektisch auf einer anderen Ebene, der der „Negation der Negation". Ein literarischer Text ist das Ergebnis eines Ringens; was im Prozeß seiner Erarbeitung errungen wurde, ist seine relative Autonomie in bezug auf die Sprache. Man könnte also sagen, daß die Sprache der Literatur, z u m T e i l b e w u ß t und auf der höchsten Stufe dieser „dialektischen Spirale", die sich verändernde Synthese aus Aspekten der Denotation und Konnotation 10 der Sprache reproduziert. Zum Teil bewußt: Das will besagen, daß der Schreiber sich bestenfalls der Tatsache bewußt ist, daß in seine Arbeit ständig das Unbewußte eingreift. Man kann daher in die Vorgänge literarischer Gestaltung und künstlerischer Schreibarbeit nicht wirklich eindringen, ohne sich den rationellen Kern der Freudschen Entdeckung anzueignen. Es handelt sich hier zweifellos weder um die spektakulärsten Aspekte der Psychoanalyse, noch (vor allem nicht!) um den Freud, der direkt von literarischen Werken handelt und dabei in den üblichen Schemata und Vorurteilen seiner Epoche gefangen bleibt, sondern um den Freud, der die Phänomene der Sprache und darunter tiefgründig das verfolgt, worüber Benveniste schreiben konnte: „Freuds Analysen der Symbolik des Unbewußten beleuchten auch die verschiedenen Wege, auf denen sich die Symbolik der Sprache verwirklicht."11 Es versteht sich von selbst, daß das, was für Freud gilt, auch für seine Fortsetzer, in Frankreich z. B. für Lacan, gilt. 12

137

3. Über die Beziehungen und „Ideologie"

von im

n.Literatur"

„Werk"

Hier liegt das entscheidende Problem: Von seiner (immer wieder in Frage gestellten) Lösung hängt ab, was man über das literarische Werk sagen und schreiben wird. Jeder Kritiker, der sich dieses Problems nicht bewußt ist, wird eine Kritik der „Intuition", des „Temperaments" und, wie seine persönlichen ( ü b r i g e n s a b s o l u t n o t w e n d i g e n ) Qualitäten auch immer sein mögen, des „Scharfsinns", des „Durchdringens", der „Empfindsamkeit" geben. E r wird im Empirismus befangen bleiben, der, je nach den herrschenden Strömungen, zwischen sektiererischem Jakobinismus (ich spreche natürlich von der Gefahr, die die Franzosen bedroht) und t r ü g e r i s c h s t e r eklektizistischer Offenheit schwankt. Um diese schwierigen Fragen in Angriff zu nehmen, können wir uns indessen schon auf gesicherte Erkenntnisse stützen, auf eine Tradition, deren g r u n d l e g e n d e T e x t e (nicht mehr, aber auch nicht weniger) bei Marx, Engels und Lenin zu suchen sind. Bei Marx und Engels kann man sehr wohl eine Entwicklung und - von Marx zu Engels - sogar eine gewisse Abstufung konstatieren, die wesentlich auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß die Probleme herangereift und die Überlegungen spezifischer geworden waren. Nimmt man z. B. die Stellen aus dem Kapital, wo von Balzac die Rede ist, so wird man sehen, daß Balzac dort vor allem gelobt wird, weil er eine adäquate Widerspiegelung der Realität bietet, die Marx auf der Suche nach ihren Gesetzen beschreibt. Balzac „sieht ebenso klar wie Marx", o b w o h l er n i c h t w e i ß , w a s er s i e h t . Doch in seinem Brief an Miss Harkness, der gewissermaßen die Keimzelle der marxistischen Literaturkritik ist, treibt Engels die Analyse weiter, indem er den W i d e r s p r u c h Balzacs ans Licht bringt. Einerseits hat man es mit einem Werk zu tun, das von einer in die Vergangenheit gerichteten Ideologie genährt wird, andererseits a b e r z u g l e i c h mit einer tiefgründigen, von einem unbändigen H a ß auf die kapitalistische Gegenwart getragenen Kritik. Diese Kritik deckt sich partiell 138

mit einet vom Standpunkt des Proletariats und der Wissenschaft geübten Kritik, obgleich der H a ß Balzacs zwiespältig und zum Teil mit Nostalgie gegenüber einer für immer entschwundenen Vergangenheit belastet ist. Geht es' jedoch darum, den Mechanismus dieses Widerspruchs bloßzulegen, sein bewegendes Element zu definieren, läßt uns Engels unbefriedigt, weil er sich auf einen wenig klaren, fast magischen Begriff beruft: den „Sieg des Realismus". Lenin hat, obwohl sein spezifischer Gegenstand nicht die Literatur gewesen ist, in seinen Artikeln über Tolstoi die Frage weit vorangebracht. Auf den ersten Blick überraschend ist, daß er ununterbrochen die Tatsache betont, daß Tolstoi ein „großer Schriftsteller" ist; aber diese Anleihe bei einer schon banalen Terminologie beruht weder auf einer stilistischen Nachlässigkeit noch auf einem taktischen Zugeständnis. Sie bedeutet, daß der „große Schriftsteller" oder, genauer gesagt, die Gesamtheit seiner Schriften eine Art Sammelplatz mehrerer Ideologien oder Ideologiefragmente ist, die verschiedenen Klassen entstammen ; sie bedeutet auch, daß der Schriftsteller ein „Subjekt" ist, das diesen Gärungsprozeß bewerkstelligt und organisiert ein Vorgang, der sich vollzieht, seit das Individuum über Sprache verfügt und sich aktiv und bewußt der Sprache bedient. Auch die Literatur ist kein Prozeß ohne Subjekt. Sie braucht ein verantwortliches Subjekt, das diese Arbeit leistet. Wir haben von „mehreren Ideologien" gesprochen. Lenin zeigt in bezug auf Tolstoi klar, daß die Ideologie, die in einem Werk vorherrscht, nicht mechanisch von der Klassenherkunft des Schriftstellers determiniert wird. In den Schriften Tolstois vermischen sich mehrere Ideologien: eine Großgrundbesitzerideologie (der „Graf Tolstoi"), obgleich nur in Überresten; wichtige Aspekte der bürgerlichen Ideologie; vor allem aber eine bäuerliche Ideologie, die Auflehnung des Muschiks, durchdrungen von Mystizismus, eine Auflehnung, die mit Stumpfsinn wechselt und deren beeindruckendste „Inkarnation" ganz offenbar Piaton Karatajew in Krieg und Frieden ist. Diese Mehrzahl von Ideologien ist n o t w e n d i g . Man kann sie nicht durch eine Grundsatzentscheidung aus der Welt schaffen. Ein Vergleich der Artikel Lenins über Tolstoi mit denjenigen, die in der gleichen Periode von Plechanow, Trotzki, 139

Mehring, Rosa Luxemburg erschienen, ist aufschlußreich. Neben Lenin erscheinen diese alle, trotz ihrer Verdienste und ihrer ohne jeden Zweifel größeren „literarischen Sensibilität", begrenzt und sektiererisch. Das hängt damit zusammen, daß Lenin einen weitaus reicheren Ideologiebegriff hat: Für ihn sind Ideologien Systeme, die mit der Struktur einer gegebenen Gesellschaft organisch verbunden sind und eine materielle Existenz haben, sozusagen Realitätsfragmente. Man begreift, warum Lenin, der die „Lehre" Tolstois als utopisch und reaktionär im genauen Wortsinn bezeichnet, dennoch geltend macht, daß diese Doktrin auch kritische, progressive und sogar sozialistische Elemente enthält. Daher tritt er, zu einem späteren Zeitpunkt, auch für die Veröffentlichung von literarischen Werken ein, die Träger einer entschieden antibolschewistischen Ideologie sind: Man denke etwa an den Fall Awertschenko13. Zudem kämpft Lenin in seinen Artikeln über Tolstoi ständig gegen den R e d u k t i o n s r e f l e x , der die Bedeutungsinhalte des literarischen Werkes unter die von ihm enthüllten Ideologien und Ideologiefragmente vergräbt. Daher auch die wiederholte Verwendung von zweifellos wenig wissenschaftlichen Ausdrücken wie „großer Schriftsteller", „genialer Künstler" usw. Tatsächlich bezeichnen diese Ausdrücke ein von Lenin weniger gedachtes als (in ziemlich „genialer Weise"!) e m p f u n d e n e s Problem : das des A b s t a n d e s zwischen s i g n i f i k a n t (signifiant) und S i g n i f i k a t (signifié), der in einem literarischen Werk sichtbar wird. 14 Man kann sogar sagen, daß unter einem bestimmten Gesichtspunkt gerade dieser A b s t a n d das L i t e r a r i s c h e , die „Qualität" des Werkes kennzeichnet. In den schwachen Werken ist dieser A b s t a n d gering oder tendiert zum Nullpunkt. Unter den besonderen Bedingungen der Analyse eines literarischen Textes führt Lenin den Kampf an zwei Fronten: gegen das Sektierertum und den Opportunismus. Hierbei ist es wichtig zu erkennen, wie diese allgemeine und politische Losung beim Nachdenken über die Literatur angewandt werden kann. Auf diesem Gebiet entspricht dem Sektierertum die Identifizierung des Bedeutenden mit dem Bedeuteten bzw. die Reduktion des Bedeutenden auf das Bedeutete; dem Opportunismus entspricht die Auflösung des Bedeuteten: Lenin unterläßt es 140

dagegen n i e m a l s , die reaktionären Aspekte der Schriften Tolstois aufzuzeigen. Die Konsequenzen sind olfenkundig und aktuell. Eine leninistische Kritik verlangt prinzipiell nicht, Werke von vornherein zu verurteilen, denn sie vertraut dem Urteilsvermögen des Lesers, so wie Lenin im Falle von Awertschenko. Andererseits verzichtet sie niemals darauf, die Ideologie politisch reaktionärer Werke zu kritisieren, die in bestimmten Konstellationen von der bürgerlichen Kritik glorifiziert werden. Man muß die Notwendigkeit einer ideologischen Kritik immer wieder sehr stark betonen: worauf es auch und gewiß ebensosehr ankommt, ist ihre L o k a l i s i e r u n g , die sorgfältige Bestimmung ihrer Eingliederung in die Gesamtheit des kritischen Vorgehens. Es gibt andere historische Beispiele, die nicht an Aktualität eingebüßt haben; so die große Debatte, die innerhalb des antifaschistischen deutschen Exils über die Bedeutung des Expressionismus geführt wurde. Eine Diskussion von sehr hohem Niveau, in der sich diejenigen gegenüberstanden, die - im Gefolge von Lukäcs - den Expressionismus auf seine Ideologie reduzierten und diejenigen, die, unterstützt von Brecht, die Dinge nicht durch Eliminierung, sondern durch Produktion ordnen wollten und die eine oberflächliche marxistische Analyse, die jede Sache a u f i h r e e i n f a c h s t e F o r m e l reduziert, ablehnen.15 Die gegenwärtigen Debatten über den Surrealismus (wenn man angesichts dieses verworrenen und verzettelten Streites, dieser unüberlegten Vorstöße verlorener Kommandos von Debatten sprechen kann), bieten das lächerliche Schauspiel zweier „Lager" mit verschwommenen Konturen, deren Protagonisten sich in falsche Alternativen verstricken.16 Es zeugt sicherlich von einer beunruhigenden politischen und theoretischen Naivität, wenn man die Bedeutung der gegenwärtigen W i e d e r k e h r der a b g e t a k e l t e n surrealistischen Ideologie nicht einzuschätzen vermag; ob es sich um die Tradition von Breton oder von Bataille handelt: Wenn das Bündnis der Linkskräfte gelingt, wird man bald feststellen können, welche Funktion z. B. die Artikel von Bataille über die Volksfront haben werden. 17 Dieses surrealistische Wiederaufleben erfüllt in den gegenwärtigen ideologischen Kämpfen auf großartige Weise eine 141

Verzögerungs- und Störfunktion, ja es erzeugt sogar oft unmittelbar reaktionäre Wirkungen. Man muß also um jeden Preis die verklärende Rührung vermeiden und im Gegenteil alle Arbeiten unterstützen, die die surrealistische I d e o l o g i e entmystifizieren. Wenn es aber wahr ist, daß sich die Tragödie auch in diesem Fall in eine Farce verwandelt hat, weil es bei Breton und bei Bataille Elemente gab, die diese Verwandlung begünstigten, so kann man daraus nicht den Schluß ziehen - es sei denn, man will die Praxis der rückwirkenden Prozesse erneuern - , daß die Tragödie nur eine Farce gewesen ist.

4. Die Ideologie im Werk erkennen Die Frage stellt sich wie folgt: Auf welcher Ebene ist die Ideologie im Werk erkennbar? Zunächst auf unmittelbarer Ebene, in den Aussagen, die man aus dem Text herauslösen kann: im Roman beispielsweise in dem, was „Autoreneingriffe" genannt wird, die so häufig bei Stendhal und auch, obwohl sie dort eine andere Rolle spielen, bei Balzac anzutreffen sind: Hier zeigt sich die Ideologie unverhüllt und sozusagen naiv, obgleich es sich sehr oft um eine falsche Naivität handelt, um eine berechnete Naivität - dazu bestimmt, Wirkungen zu erzielen - , die sich aber der Analyse nicht entzieht. Subtiler erscheint die Ideologie an den Knotenpunkten einer Erzählung, den Verknüpfungen einer Intrige, den Wandlungen eines Schicksals: Es ist nicht gleichgültig, ob der Ausgang glücklich oder tragisch ist, ob die junge Liebhaberin geopfert wird oder ob der Held schließlich eine angemessene Ehe eingeht; es ist nicht gleichgültig, ob David Copperfield eine glücklose Ehe führt oder ob Mutter Courage den Sinn ihres Unglücks nicht begreift. Von den scheinbar zufälligsten Einzelheiten eines „Szenariums" gehen tiefe Bedeutungen aus. Man muß noch weiter gehen und sich fragen, ob nicht jedes Werk e i n e T o t a l i t ä t i s t , v o n d e r j e d e s E l e ment eine Bedeutung hat. Diese Frage läßt sich sicher bejahen. Aber nachdem dieses 142

Ja einmal ausgesprochen ist, sind die damit verbundenen Konsequenzen zu bedenken. Mit Nein zu antworten würde bedeuten, daß in den literarischen Werken irgend etwas irgendwie erzählt werden kann und daß es infolgedessen keine Veränderungen gibt, oder daß diese zufällig eintreten und keinem Gesetz unterworfen sind, daß also letzten Endes die Literatur und ihre Formen k e i n e G e s c h i c h t e h a b e n . Aber es hat sich wohl herumgesprochen, daß Balzac nicht die Restauration und die Julimonarchie so erzählen konnte wie Marivaux das Leben von Marianne, und man bemerkt nach und nach, daß es immer schwieriger wird, über die Sowjetunion unserer Tage in der Art Tolstois zu e r z ä h l e n . Antwortet man aber mit Ja, dann läuft man Gefahr, die künstlerischen M i t t e l mit den Ideologien zu verwechseln, die das Werk befördern und dabei schon wieder dem Reduktionsreflex zu erliegen. Man wird sich in diesem Zusammenhang an die berüchtigte Abhandlung über die Kamera der Filmschaffenden erinnern, die dem „Wesen" nach nur eine bürgerliche und idealistische Ideologie 18 hervorbringen könne oder an die Eisensteinsche Montagetechnik, die von ein und demselben „Spezialisten" nacheinander als reaktionär, dann als revolutionär betrachtet wurde und das im Abstand von nur einigen Monaten. 19 Gegenwärtig heißt es, daß im Roman das E r z ä h l e n oder die sogenannte „Darstellung" - mit „Personen" - einer „Geschichte" notwendigerweise eine bürgerliche Ideologie zum Ausdruck bringen würden. Das Argument bedarf der Prüfung, denn es ist nicht zu leugnen, daß der Roman seinen Höhepunkt zur gleichen Zeit wie die Bourgeoisie gehabt hat. Jedenfalls e i n b e s t i m m t e r R o m a n t y p . Es ist aber noch die Frage, ob es dialektisch gedacht ist, das Schicksal einer Gattung ganz und gar mit dem der Klasse zu verknüpfen, die die Gesellschaft in dem Augenblick beherrschte, in dem diese Gattung sich entfaltet hat: Gibt es zwischen Basis und Überbau denn nicht tiefere Beziehungen? Sicher ist es nötig, nach den historischen Grenzen des Erzählens und nach seinen prinzipiellen Voraussetzungen zu fragen; die Ideologie muß auch dort ermittelt werden. Man will aber mehr: „Es sieht ganz so aus, als hätte die Literatur die Mittel ihrer 143

Abbildungsweise verbraucht oder über Bord geworfen und als wollte sie sich dem unbestimmten Gemurmel ihrer eigenen Rede zuwenden. Vielleicht wird der Roman, nach der Lyrik, endgültig das Zeitalter der Abbildung verlassen. Vielleicht ist das Erzählen in der negativen Eigenart, die man ihm soeben zuerkannt hat, für uns schon, w i e d i e K u n s t f ü r H e g e l (Hervorhebung - C. P.), ein D i n g d e r V e r g a n g e n h e i t , und wir müssen uns beeilen, um es auf seinem Rückzug zu betrachten, bevor es unserem Gesichtskreis völlig entschwindet." 20 Der Bezug auf Hegel erfolgt hier völlig zu Recht: Haben wir es doch wohl immer dann, wenn man den „Tod d e s Erzählens" oder die „Agonie d e s Romans" proklamiert, mit einer Hegeischen Vision der Geschichte zu tun. Über dieses Verschwinden sind sich indessen viele einig. Hier vereinigen sich „die Avantgarde" und die Vertreter einer „modernistischen", in Wirklichkeit ziemlich regressiven und irrationalistischen Ideologie: Diese in Westdeutschland lange Zeit vorherrschende Strömung ist im heutigen Frankreich ebenfalls sehr stark. Es ist übrigens sonderbar, wenn man Leute sieht, die zwar beständig über den „bornierten Szientismus" der Romanciers des 19. Jahrhunderts, von Balzac bis Zola, spotten, aber den „modernen Roman" mechanisch von der „Revolution in der Physik" um die Jahrhundertwende ableiten. In bezug auf Kafka und Joyce wird dann vom „relativistischen Roman" gesprochen: „Nur eine Zivilisation, die an sich selbst zweifelt und ihre Kraft in ihrem Zweifel findet (dieser Zweifel, der sie die Gravitation, die Elektrizität und das Atom entdecken ließ), konnte zu dieser Beschwörung des menschlichen Lebens gelangen, wo das menschliche Leben als eine unlogische Tatsache hingestellt wird." 2 1 Und es ist nicht etwa ein fortschrittlicher Wissenschaftler, sondern der konservative Literarhistoriker Boisdeffre gewesen, der, nachdem er Husserl und Heidegger gelobt hat, die „die stolzen Gewißheiten der Philosophie ihrer Zeit leugnen", nachdem er das unvermeidliche Couplet über die „neue Physik" angestimmt hat, die „zu Beginn des 20. Jahrhunderts [ . . . ] gerade die Markierungszeichen eines Universums der Diskon144

tinuität gesetzt hat", auf die heutigen Romanciers zu sprechen kommt, die „jedes Vertrauen in die Zukunft eines Europa verloren haben, das die Tendenz hat, nichts weiter als das Museum unseres Planeten zu sein und Gefahr läuft, sein Friedhof zu werden." 22 Diese erste Begegnung zwischen einer künstlerischen Avantgarde (die oft Verbindungen mit der politischen Avantgarde hat) und regressiven ideologischen Strömungen wird in recht unerwarteter Weise von einer Strömung marxistischen Ursprungs überlagert, deren ästhetischer Konservatismus jedoch erkennen läßt, daß es ihr Mühe macht, die Gesichtspunkte des mechanischen Materialismus zu überwinden. Sie unterscheidet sich von der anderen Richtung nur darin, daß sie das, was jene „positiv" nennen, als negativ verwirft. Die Haltung aller gegenüber Kafka zeigt dies mit großer Deutlichkeit. Wir halten in diesem Zusammenhang nur einen Aspekt der Frage fest: die Kafkasche Erzähltechnik, die durch die Abwesenheit des allwissenden Erzählers gekennzeichnet wird. Die Reaktionen lassen sich schematisch folgendermaßen darstellen: 1. Sehr gut, ruft die Avantgarde aus, Kafka zerstört das Modell der bürgerlichen Erzählweise; 2. Sehr gut, applaudiert die „modernistische"/irrationalistische Strömung, Kafka zeigt dadurch konkret, daß wir in einem unerklärbaren Universum leben, was die naiven Behauptungen des Marxismus entlarvt. 3. Was den Marxisten anbetrifft, so beklagt er die Haltung Kafkas, die er Schriftstellern gegenüberstellt, die seiner Meinung nach mehr darum besorgt sind, die Rechte der Vernunft zu wahren (Lukäcs: Franz Kafka o d e r Thomas Mann) und konstatiert mit Wehmut, daß der Romancier „gegenüber der Realität keine vorrangigen Beziehungen mehr unterhält, die auf der Erkenntnis dieser Realität begründet sind." 23 Er verweist f o l g l i c h Kafka in das Lager der Irrationalisten; mit einem Wort, er schenkt ihn der Bourgeoisie, die gar nicht so viel gefordert hatte. Auch hier zeigt sich: Das Problem der Techniken, der Mittel, der Verfahrensweisen und der ideologischen Fracht, die sie in sich bergen, ist entscheidend. Man kann es weder mit Hilfe des Konservatismus lösen, der unter dem Vorwand „sich das Erbe anzueignen" die ererbten Formen der Vergangenheit bevorzugt und eine neoklassizistische und epigonale Literatur er10

Burmeister/Barck

145

mutigt, noch mit Hilfe des Nihilismus, selbst wenn er sich (was er zuweilen ist) für die „unerläßliche Vorstufe des künstlerischen Schaffens" ausgibt. Eine Bemerkung von György Aczél in Culture et démocratie socialiste (Kultur und sozialistische Demokratie) kann uns helfen, unser Nachdenken über diesen Gegenstand weiter zu orientieren : „Man muß sich mit aller Deutlichkeit klarmachen, daß die Formen (das heißt das gegebene System der künstlerischen Mittel) eine ideologische Bedeutung haben, während die einzelnen künstlerischen Mittel, die einzelnen Besonderheiten des Ausdrucks (z. B. diese oder jene metrische Form oder die Technik der Montage oder die Verwendung der Rückblende usw.) von sich selbst aus keine haben. Nichts wäre irriger, als dabei an einer Position festzuhalten, auf Grund derer die Errungenschaften der künstlerischen Entwicklung, wie der innere Monolog, die freie Handhabung der Zeit oder des Bildes das Privileg der bürgerlichen Literatur wären und daß es der sozialistischen Kunst untersagt sei, sich ihrer zu bedienen."24 Wenn jede Form F o r m e i n e s I n h a l t e s ist, erhält sie ihre ganze Bedeutung nur vom Inhalt her. Man muß folglich den Bannflüchen mißtrauen, die gegen Romantechniken geschleudert werden, wie beispielsweise gegen den Joyceschen inneren Monolog, als Ausdruck der „Dekadenz", oder gegen die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart nach dem Vorbild Faulkners, die nach Ansicht gewisser Leute gerade noch gut sei, die stillstehende Zeit, ohne Zukunft, wiederzugeben, wie sie von den alten, tatsächlich dekadenten Familien des Alten Südens erlebt wird, die Faulkner in Sartoris, in Schall und Wahn oder in Absalom, Absalom! festgehalten hat. „Jede Technik geht mit einer Metaphysik schwanger". Diese glänzende Formulierung Sartres bedarf mehr als nur einer Frage. Sie bedarf einer gründlichen Kritik. Ist es andererseits so sicher, daß man es bei Roger Martin du Gard oder Scholochow mit „Romanciers des 19. Jahrhunderts" zu tun hat, die man entlarven müsse? Man kann sich eine weiter vorangetriebene Dialektisierung der Formulierungen Aczéls wünschen: Es gibt vielleicht keine unschuldige, v ö l l i g u n s c h u l d i g e Technik ; aber es 146

gibt auch keine s c h u l d i g e Technik. Das ist der ganze Inhalt der berühmten Polemik zwischen Brecht und Lukacs gegen Ende der dreißiger Jahre über die M i t t e l d e r r e a l i s t i s c h e n S c h r e i b w e i s e . Lukacs bevorzugt die Linie Balzac-Tolstoi und verbannt aus dem Realismus die „modernen" Verfahren des Beschreibens von Joyce und Dos Passos; Brecht will die Entdeckungen von Joyce und Dos Passos integrieren und weist den sozialistischen Realismus auf andere Quellen hin als auf Balzac und Tolstoi. Brechts Praxis selbst läßt sein ständiges Bemühen erkennen, von überall her Techniken und sogar „feste Formen" zu übernehmen, die die Tradition scheinbar erstarren ließ (von der Ballade, dem Sonett bis zum Bibelvers) und die Gott weiß was für Ideologien befördert haben! Er macht bei allen Kulturen Anleihen, mit Vorliebe bei u n t e r d r ü c k t e n , v e r d r ä n g t e n K u l t u r e n , doch nicht nur bei den Kulturen Roms, Japans, Chinas, bei den Volkstraditionen, sondern auch bei den g e h o b e n e n K u l t u r t r a d i t i o n e n , auch bei der Bibel und beim Kriminalroman. Wenn die Techniken, Mittel und Verfahren auch nicht n e u t r a l sind, so meint Brecht doch, daß sie n e u t r a l i s i e r t werden können, um - in einem anderen Kontext wiederverwendet - m i t n e u e n B e d e u t u n g e n versehen zu werden. Natürlich erfordert diese Wiederverwendung einen rigorosen Eingriff; die ihrem ursprünglichen Kontext entzogenen Techniken müssen sorgfältig zusammengebaut werden, und gerade diese Bastelarbeit25 - in der ethnologischen Bedeutung des Begriffs - erfordert das geduldigste und detaillierteste Studium. Das aber ist eine der interessantesten Lehren Brechts, und man ist ein wenig (nicht übermäßig) überrascht, daß so viele neue „Brechtianer" das nicht bemerkt haben. Tatsächlich kann man sagen, daß viele Techniken die Ideologien überdauern, die uns diese Techniken übermittelt haben oder deren Träger sie selbst zumindest teilweise gewesen sind; mehr noch, eine große Zahl von ihnen ist mit nichtproletarischen Ideologiefragmenten verbunden, die indessen immer eine progressive Rolle spielen können unter gewissen, sehr genau bestimmten historischen und politischen Bedingungen und in dem Maße, in dem man sich die Möglichkeiten verschafft, sie diese Rolle spielen zu lassen. 10*

147

5. Bemerkungen über unsere Erfahrungen E s wurde schon gesagt: Sie sind nicht ohne Belang. Außer den „Klassikern" des Marxismus gibt es eine ganze ausländische und französische Tradition: die ersten Vorstöße mit Plechanow und Mehring; der außergewöhnliche sowjetische Aufschwung in den fünfzehn Jahren nach der Revolution; Gramsci; Brecht und Lukács, bis hin zu ihren Gegensätzen; auf französischer Seite gibt es einen oft verkannten Reichtum, der zu einer wirklichen „Rückkehr zu den Quellen" drängt, zu u n s e r e n Quellen aus den dreißiger und vierziger Jahren, zu den kritisch-theoretischen Unternehmungen von Politzer 2 6 , Nizan 2 7 , Moussinac 2 8 , J . - R . Bloch 2 9 , Aragon. D i e Auswertung dieses Erbes ist notwendiger denn je, und wir sollten uns nicht unter dem falschen Vorwand, Götzendienst vermeiden zu wollen, in Herablassung gefallen und dieses E r b e vernachlässigen. In gleicher Weise muß man mit einem jüngeren E r b e verfahren: mit dem, das uns eine 1966 in Argenteuil stattgefundene h i s t o r i s c h b e d e u t s a m e Tagung des Zentralkomitees der Französischen Kommunistischen Partei hinterlassen hat. D e r Augenblick ist gekommen, wo die Wiederholung bestimmter Formulierungen einer Entschließung, die Epoche gemacht hat, uns nicht länger bei der Lösung bestimmter Probleme der künstlerischen und literarischen Tätigkeit weiterhilft. Sollte man sich z. B . ohne Vorbehalte an dem Begriff „Schöpfung" („création") oder an Formeln festklammern wie: „Es gibt in jedem Kunstwerk einen Teil, den man nicht auf gegebene Tatsachen zurückführen kann und dieser Teil ist der Mensch selbst?" 3 0 Damals hatten diese Formulierungen einen strategischen Wert. Sie standen zunächst in einem wörtlichen Kontext, wo im Hinblick auf eine bestimmte Anzahl unterschiedlicher E x perimente hier und da d i e e x p e r i m e n t e l l e n Erford e r n i s s e d e r L i t e r a t u r geltend gemacht wurden, und es war natürlich von großer Bedeutung, daß eine Kommunistische Partei die R e c h t e d e r A v a n t g a r d e ernsthaft anerkannte. Sie standen auch in einem deutlichen politischen und ideologischen Kontext: Angesichts der in der französischen Tradition immer realen Gefahr des Schematismus und mecha-

148

nischen Materialismus war erneut zu betonen, daß die künstlerische und literarische Tätigkeit, ebenso wie die Geschichte, kein Prozeß ohne Subjekt ist. Genau das war der Hauptinhalt solcher Formulierungen, die i n d i e s e r H i n s i c h t w o h l d i e Bedeutung eines unumkehrbaren Sachverhaltes haben. Das darf uns aber nicht von der Notwendigkeit ablenken, sie zu vertiefen, zu verbessern, ja sie völlig anders zu formulieren. Denn sie sind in starkem Maße von objektiven, zeitbedingten Umständen geprägt worden. Der Begriff „Schöpfung" wird sehr oft ohne weiteres im Namen eines starrsinnigen Nominalismus verworfen, der sich unaufhörlich ohne Überlegung empört: man könne beispielsweise nicht mehr von „historischer Erfahrung der Arbeiterklasse" sprechen, weil das Wort „Erfahrung" von einer empiristischen Philosophie unheilbar „verseucht" sei; was das Wort „Schöpfung" anbelangt, so würde es eine ganze verdächtige Theologie in sich bergen, die das Wesen selbst der literarischen und künstlerischen Arbeit mystifiziere. Ohne in diesen der Herkunft nach harmlosen Terrorismus zu verfallen, dessen logische Konsequenz uns jedoch dazu brächte, sogar den Begriff „Sozialismus" zu verbieten (weil er durch irgendwelche schädlichen Konnotationen vergiftet ist!), muß man jedoch einer Forderung nach begrifflicher Strenge, die weder kindisch noch übertrieben sein darf, nachkommen. Denn schließlich: Im Kampf der Ideen w i e g e n b e s t i m m t e W o r t e s c h w e r . Es gibt keinen ernstzunehmenden Einwand dagegen, daß man ein Wort wie „Schöpfung" in bestimmten Texten verwendet, die man in großer Zahl verbreiten will und die sofort verstanden werden sollen. Nur muß man sorgfältig definieren, was man darunter versteht und seinen Abstand zu den in einem solchen Wort verborgenen metaphysischen Bedeutungen markieren. Übrigens spricht Marx niemals von künstlerischer „Schöps fung". Aber mehr, er spricht auch von künstlerischer „Produktion" nur in einem ganz genauen Sinne, der nie den Akt der Hervorbringung des Werkes bezeichnet, für welchen ihm der Begriff G e s t a l t u n g (im Original deutsch - d. Hg.) am geeignetsten erscheint. Wenn mian S c h ö p f u n g durch P r o d u k t i o n ersetzt (ein Wort, das noch stärker mit Mehrdeutig149

keiten belastet ist, so daß es zu den unheilvollsten Analogien ermächtigen kann), so gerät man von Charybdis zu Skylla. Im übrigen ist die Auswahl groß: Tätigkeit, Arbeit, Praxis, Gestaltung, Ausführung . . . Ebensowenig kann man heute noch von einem „nicht auf die Gegebenheiten zurückführbaren Teil" in jedem Werk sprechen, ohne zu versuchen, den Inhalt dieser Formel zu präzisieren, was uns die jüngsten Forschungen über die Funktion der literarischen Gestaltung ermöglichen. Diese Gestaltung impliziert ein S u b j e k t , das weder das Subjekt der Wissenschaft, noch das Subjekt der Ideologie ist, selbst wenn die Arbeit des Schriftstellers eine Erkenntnis hervorbringt und selbst wenn er, außerhalb seiner spezifischen Arbeit, ganz offensichtlich einer bestimmten Ideologie verhaftet ist. Mit seinen Artikeln über Tolstoi verhilft uns Lenin zu der Erkenntnis, daß die Praxis des Schriftstellers ein ganz eigener Schauplatz ist, der sich weder mit der Wissenschaft noch mit der Ideologie deckt. Die Entschließung von Argenteuil hat auch die Anerkennung des Pluralismus in der Kunst vorgeschlagen. Diese Position wird mehr und mehr als eklektisch bekämpft und karikiert. P l u r a l i s m u s i s t n i c h t E k l e k t i z i s m u s : Doch es genügt nicht mehr, das bloß zu behaupten, sondern man muß die Theorie dieser Unterscheidung ausarbeiten. Wenn wir wie ein unaufmerksamer Boxer die Deckung vernachlässigen, werden wir unzureichend gewappnet sein gegen das Sektierertum in seiner intellektuellen Erscheinungsform, gegen jenen Neodogmatismus mit theoretisierendem Anspruch, der natürlich von denen genährt wird, die ihren Eklektizismus „Anerkennung der Vielfalt" taufen. Daraus folgt, daß wir weniger denn je die i d e o l o g i s c h e K r i t i k , die Kritik der Ideologien, die in einem Werk zutage treten, vernachlässigen dürfen. Denn unsere „Öffnung" kann kein friedlicher Ökumenismus sein: Man überzeugt übrigens niemanden, wenn man jedermann die Arme öffnet. In dieser Hinsicht sollten wir nochmals über den Irrweg Garaudys nachdenken. Wir neigten zu oft dazu zu glauben, daß das Prinzip seines Vorgehens richtig gewesen sei, wenigstens a u f dem G e b i e t d e r L i t e r a t u r . 3 1 Tatsächlich war dieses Vorgehen aber e i n h e i t l i c h : Seine ästhetischen Aspekte waren 150

eng mit ihrem philosophischen und politischen Kontext verbunden. Wie hätte es übrigens auch anders sein können? Was Garaudys Herangehen an die literarischen und künstlerischen Sachverhalte kennzeichnete, war die totale Weigerung, die ideologischen Wirkungen, die von einem Werk hervorgebracht werden, zu analysieren. Daraus ging eine ganze „kritische" Tendenz hervor, die von K r i t i k nur noch den Namen hatte. Garaudy zog gegen den Dogmatismus zu Felde, aber so, daß er gleich wieder anbetete, was er gerade in Brand gesteckt hatte. Er stellte die Probleme in ihrer U m k e h r u n g , was bedeutet, daß er nicht nur den Boden des Dogmatismus nicht verließ, sondern im Gegenteil auch dazu beitrug, ihn zu festigen. Hält man dagegen die ideologische Kritik für unverzichtbar, so heißt das keineswegs, daß man sich damit abfinden muß, als Sektierer dazustehen und es bedeutet auch keineswegs, eine Zensur auszuüben: Lenin hat in seinem Artikel über Awertschenko bewiesen, daß eine schonungslose Kritik der reaktionären Ideologie ihn in keiner Weise hinderte, die literarische Spezifik des Werkes, und das, was er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Vokabular das T a l e n t nannte, anzuerkennen und seine E r m u t i g u n g zu empfehlen. Man muß also die Überlegungen von Argenteuil32 weiterführen, um sie zu bereichern. Es ist an der Zeit, für eine feste Haltung zu sorgen, die nicht ohne weiteres in Frage gestellt werden kann. Denn man beurteilt die Gefahren zweifellos schlecht, die der Kommunistischen Partei, ihren Beziehungen zu den Intellektuellen und, sagen wir es ohne falsche Bescheidenheit, der künstlerischen Zukunft des Landes aus der Leugnung von Prinzipien erwachsen würden, die in einem Text formuliert sind, der u. a. f ü r d i e G e g e n w a r t u n d d i e Z u k u n f t in L i t e r a t u r u n d K u n s t P a r t e i e r g r e i f t und der uns unaufhörlich daran erinnert, daß es, wie Brecht schrieb, „hundert Möglichkeiten gibt, die Wahrheit zu sagen und zu verschweigen". Übersetzt von Eckart Richter

151

6. Pierre Macherey

Lenin als Kritiker Tolstois

Zeit ihres Lebens haben sich Marx und Engels mit der literarischen und künstlerischen Produktion auseinandergesetzt. Unablässig erwähnen sie sie, entnehmen sie ihr Beispiele als Beleg, Anhaltspunkt oder Gegenstand der Kritik. Dennoch haben weder Marx noch Engels sich systematisch mit den Problemen der Kunst befaßt. Wohl geben sie Hinweise, befassen sich beiläufig mit ihnen (so mit Eugène Sue in Die heilige Familie), liefern sie Grundlagen für eine theoretische Reflexion (Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie), ohne diese jedoch auszuformulieren. Trotz dieses anhaltenden Interesses für Kunst und Literatur haben sie deren Probleme niemals zum eigentlichen Gegenstand ihrer Arbeit gemacht. Somit gab es zu Beginn unseres Jahrhunderts - sieht man vom Werk Plechanows und den Essays über Kunst und Gesellschaft von Lafargue einmal ab - lediglich die Absicht, eine marxistische Ästhetik auszuarbeiten. Ein Vorhaben, das wohl immer beteuert, aber nicht realisiert worden ist. Gleichwohl wäre dieses Vorhaben beinahe verwirklicht worden; denn es war Marx selbst, der sich nach Beendigung des Kapital Zeit für eine Studie über Balzac nehmen wollte. Über die wichtigsten Ereignisse in der Literatur waren Marx und Engels im wesentlichen informiert. Daß sie bei dieser kontinuierlichen Befassung mit Literatur keine Ästhetik entwickelten, liegt daran, daß ihnen die Zeit fehlte. Sie haben das, was man ihre theoretische Existenz nennen könnte, auf die wissenschaftliche Ausarbeitung der Grundlagen des proletarischen Kampfes verwenden müssen. In diesem, wenn auch indirekten, Zusammenhang steht auch die Auseinandersetzung mit Literatur. Lenins Schriften zu Tolstoi, die er den letzten Lebensjahren 152

des Schriftstellers sowie dessen Tod widmete, stellen daher innerhalb der Geschichte des wissenschaftlichen Marxismus ein außergewöhnliches Unternehmen dar. Es ist das erste Mal und zugleich einer der seltenen Fälle, daß ein Politiker und Theoretiker ein literarisches Problem vollständig und innerhalb bestimmter Grenzen überzeugend behandelt. Dabei handelt es sich nicht um ein Buch, in dem ein Problem systematisch entwickelt wird, wie beispielsweise das der wissenschaftlichen Methode in Materialismus und Empiriokritizismus. Es geht um eine Reihe aktueller Beiträge, die zwischen 1908 und 1911 geschrieben, unter unterschiedlichen Gesichtspunkten ein und dasselbe Thema erörtern: Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution. Das geschieht nicht in einer geordneten Folge, in der die Elemente eines Problems nach und nach untersucht werden. Die Abfolge scheint eher willkürlich (faktisch gleichwohl notwendig), da es sich um die W i e d e r a u f n a h m e ein und desselben Artikels handelt, wobei letztlich das gleiche gesagt wird, jedoch in derart unterschiedlicher Weise, daß es unerläßlich ist, die sechs Beiträge im Zusammenhang zu lesen. Derweise soll die Artikelreihe als ein einheitlicher Text untersucht werden, ohne daß Unterscheidungen zwischen den verschiedenen S t a d i e n d e s T e x t e s vorgenommen werden. Zweifellos gäbe ein solcher Untersuchungsaspekt Aufschluß über die Entwicklung des p o l i t i s c h e n Denkens bei Lenin in den genannten drei Jahren, weniger jedoch über Tolstoi. Es sei lediglich festgehalten, daß der erste Artikel (1908) die A k t u a l i t ä t des Tolstoischen Werkes herausarbeitet, während der letzte (1911) betont, daß die Ära des Tolstoianertums nun überwunden sei (das Jahr 1905 „brachte [ . . . ] das historische Ende des Tolstoianertums" 1 ). Wesentliches Merkmal dieser Texte ist, daß sie das Ergebnis p o l i t i s c h e r , nicht literarischer oder theoretischer Arbeit sind: deswegen auch die Art und Weise ihrer Veröffentlichung (an tagespolitischen Ereignissen orientiert, unterlagen die Artikel ihrer Aktualität wegen ständiger Veränderung). Lenin hat für seine Überlegungen zu Tolstoi eine andere Form als für Materialismus und Empiriokritizismus gewählt; dessen Bedeutung ist gleichwohl auch eine politische, jedoch weniger un153

mittelbar (daher auch die monographische Form). Die Artikelreihe Tolstoi als Spiegel ... entspricht der politischen Arbeit Lenins in der Zeit von 1908 bis 1911; sie folgt ihr aufs genaueste und wäre nicht geschrieben worden, wenn sie nicht unmittelbar mit den allgemeinen politischen Überlegungen Lenins verbunden gewesen wäre. Diese Periode (die Z e i t der Leninschen Ästhetik) - es ist die Zeit nach der Revolution von 1905 benutzte Lenin, um die Aktivitäten der sozialdemokratischen Partei auf die infolge des Jahres 1905 veränderten Bedingungen auszurichten. Theoretische Aufgabe ist also zunächst, das Jahr 1905 genauer zu bestimmen, zu erkennen, weshalb es Beginn einer neuen Zeit ist. Das Jahr 1905 ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Partei: Mit ihm endet eine Zeit, deren generelle Einschätzung möglich und notwendig ist. Die Jahre 1905 bis 1910 widmet Lenin einem theoretischen Rückblick auf die bürgerlich-demokratische Epoche (1861-1905), die in der „bäuerlichen" Revolution von 1905 zu Ende ging. Dieser Rekurs ist kein Umweg, sondern aktuelle politische Aufgabe, ohne deren Lösung es nicht möglich gewesen wäre, die veränderten Ziele der neuen Epoche zu bestimmen. Gezeigt werden soll, daß das Scheitern der bäuerlichen Revolution eine positive Bedeutung hat (daß sie etwas Neues hervorgebracht hat): Innerhalb dieser Beweisführung erhält Tolstoi seinen Stellenwert. Lenin will zeigen, daß das Werk Tolstois keinen transhistorischen (also letztlich ideologischen2) Wert hat, sondern seine Bedeutung erst dann erhält, wenn man es direkt auf die Zeit von 1861 bis 1905 bezieht, die das Tolstoische Werk wie die Tolstoische Ideologie p r o d u z i e r t hat. Und in diesem Sinne verdient es Tolstoi, „Spiegel der russischen Revolution" genannt zu werden (selbstverständlich ist damit die bäuerliche Revolution von 1905 gemeint). Ebenso ist Lenins Kritik an Tolstoi Produkt der Jahre 1908 bis 1911: Lenins Beitrag zur marxistischen Ästhetik ist eng mit der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Sozialismus verbunden. Untersuchungen zur Literatur können offensichtlich dieser Ausarbeitung zugute kommen. Lenin hat derart unter bestimmten, genau determinierten Bedingungen eine neue Funktion von Literaturkritik entdeckt, indem er ihr ihren Platz innerhalb der allgemeinen theoretischen Arbeit zuwies. Über Tolstoi, über 154

Romane schreiben ist weder Zeitvertreib noch Umweg: Nicht nur soll ein großer Mann g e e h r t werden - vielmehr geht es darum, der literarischen Produktion in dem Moment, wo sie sie übernehmen kann, ihre wahre Funktion zuzuweisen. Ästhetische und politische Theorie sind aufs engste miteinander verknüpft, und Lenins Reflexion über Tolstoi hatte p r a k t i s c h e Auswirkungen. So schreibt z. B. Bontsch-Brujewitsch in seinen Erinnerungen an Lenin: „ ,Wie sollen wir denn die Klassiker herausgeben, Wladimir Iljitsch', fragte ich ihn, ,wenn die zaristische Zensur das, was unsere Klassiker schrieben, bis zu einem solchen Grad veränderte, daß von ihren Werken nicht selten allein verstümmelte Skelette übrigblieben. In Auferstehung von Tolstoi gibt es allein mehr als 500 Streichungen durch die Zensur.' ,Nun', antwortete Wladimir Iljitsch, ,wir werden alle Originalhandschriften sammeln und vollständige akademische Ausgaben unserer Klassiker vorbereiten müssen; aber daneben werden wir, mit den notwendigen Vorworten und Anmerkungen, ausgewählte Werke für die breiten Massen herausgeben. Und bis wir das machen können, geben wir die Werke der Klassiker in dem Zustand heraus, in dem sie gegenwärtig existieren'."3 Ein Projekt, das erst seine ganze Bedeutung bekommt, sieht man es im Zusammenhang mit Lenins Vorstellung von einer nicht administrativen Kulturpolitik, die sein Denken mehr und mehr beherrschte. Lenin vermittelt uns also ein in seiner Art vollständiges Bild dessen, was engagierte Kritik sein kann. Er wiederum hätte es verdient, Spiegel der Kritik genannt zu werden. Lenins kritische Methode begreift also die Bedeutung des literarischen Werkes allein aus seiner Beziehung zur Geschichte: Das Werk entsteht in einem bestimmten historischen Zeitraum und kann von diesem nicht losgelöst werden. Seine Unterscheidungsmerkmale entnimmt es diesem Zeitraum; damit ermöglicht es zugleich, ihn zu bestimmen.4 Demnach existiert zwischen Werk und Geschichte eine notwendige Beziehung, die zunächst wechselseitig erscheint. Das Kunstwerk in seiner Beziehung zur Geschichte interpretieren heißt also, in einem bestimmten Sinne zu verfahren: Der 155

dem Werk zugehörige historische Zeitabschnitt ist herauszuarbeiten bzw. abzugrenzen. Zwei Arten von Zusammenhang, zwei Einheiten müssen dabei deutlich werden - eine literarische und eine historische. Allerdings ist das Problem nicht dadurch zu lösen, daß man feststellt, ein bestimmter Zeitabschnitt falle mit dem Leben des Autors oder wenigstens mit seinem Leben als Schriftsteller zusammen. Selbst wenn dem so ist, muß dennoch dieser Zeitabschnitt rekonstruiert werden, muß aufgezeigt werden, daß er ein durch konvergierende Tendenzen determiniertes historisches Ganzes bildet. Jedenfalls entspricht das, was in einem Werk gesagt wird, nicht notwendig der Zeit seines Autors: Die Beziehung eines Werkes zur historischen Realität läßt sich weder auf Unmittelbarkeit noch auf Gleichzeitigkeit reduzieren. Hängen doch manche Schriftsteller unbedeutenden bzw. längst überlebten Tendenzen ihrer Epoche an. Generell ist zu sagen, daß ein Schriftsteller stets hinter der historischen Bewegung zurückbleibt und sei es nur deshalb, weil er stets im Nachhinein darüber spricht. Je mehr er sich mit den Dingen auseinandersetzt, die ihm (materiell) nahestehen, desto mehr erfährt er die Schwierigkeiten des Schreibens. Die Frage, welcher Epoche ein Schriftsteller angehört, ist also eine komplexe, eine schwierige Frage. Antworten ergeben sich nicht ohne weiteres. Methodisch ist es die erste Frage wissenschaftlicher Kritik. Tatsächlich hat auch Lenin einen wesentlichen Teil seiner Artikel über Tolstoi auf die Erörterung dieser Frage verwandt. Die Epoche des Tolstoianertums reicht von der Reform von 1861 bis zur Revolution von 1905: „Tolstoi, der im wesentlichen der Epoche von 1861 bis 1904 angehört, gestaltete in seinen Werken - als Dichter wie als Denker und Künder mit erstaunlicher Prägnanz die Züge der historischen Eigenart der gesamten ersten russischen Revolution." 5 „Die Epoche, der L. Tolstoi angehört und die in seinen genialen belletristischen Werken wie in seiner Lehre wunderbar plastisch Widerspiegelung gefunden hat, ist die Epoche nach 1861 bis zum Jahre 1905." 6 Auf die Präzisierung „im wesentlichen" ist zu achten, weist sie doch darauf hin, daß die Beziehung Tolstois zu „einer" Epoche keine unmittelbare ist. Sie bedarf genauerer Bestimmung. Und die Epoche des Tolstoianertums, sie ist identisch 156

mit einer bedeutenden Phase russischer Geschichte, weist in der Tat komplexe Merkmale auf. Ihre spezifischen Eigenschaften resultieren aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Einflüsse. Entsprechend läßt sich diese historische Epoche auf mehreren Ebenen, genauer gesagt auf vier verschiedenen Ebenen beschreiben. Obschon die Reform von 1861 juristisch gesehen das Ende des Feudalismus herbeiführte, weist doch die darauffolgende Epoche entscheidende Merkmale feudaler Ökonomie auf. Denn weiterhin behauptet die gutsbesitzende Aristokratie ihre Vormachtstellung auf dem Lande. Diese wurde durch die Reform, wenn nicht sogar gestärkt, so doch zumindest aufrechterhalten. Faktisch ist der Aristokratie weiterhin die Verwaltung des Staates überlassen, dessen Struktur unverändert geblieben ist. Mit den Überresten der Leibeigenschaft, der Vorherrschaft des Feudalstaates bleibt Rußland nach 1861 „das Rußland des Gutsherren." 7 Dennoch ist das Überdauern dieser politisch-ökonomischen Struktur nur scheinbar ungebrochen. Kennzeichnet es doch eher eine unsichere Realität, deren Zerfall beschlossen ist. Die Zeit zwischen 1861 und 1905 kann also a u c h als die Zeit des „Zerfalls" des alten patriarchalischen Rußlands beschrieben werden. Untersuchungsaspekt einer solchen Beschreibung wäre der Umsturz der alten und die Konstituierung einer neuen Ordnung. 8 Der Zusammenbruch eines ganzen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Systems, deutlich in der dafür charakteristischen Landflucht, entspricht der b e s c h l e u n i g t e n Entwicklung des Kapitalismus. In diesem Umwälzungsprozeß entsteht das bürgerliche Rußland. Vorherrschendes Moment im politischen Bereich ist jedoch der Aufstand der Bauern, der sich sowohl gegen den Fortbestand des Feudalismus 9 wie auch gegen den aufkommenden Kapitalismus wendet. Diese auf Dauer zum Scheitern verurteilte Revolte, weiß sie doch weder gegen wen sie sich richtet noch über welche Mittel sie verfügt 10 , hat nur solange vorübergehenden Erfolg, wie sie von der Bourgeoisie angeführt wird. Sichert sie doch die grundlegenden Interessen der Bourgeoisie, will diese über die Revolte das feudale Rußland endgültig liquidieren. Sie übernimmt dabei vor allem die ideologischen 157

Kampfmittel der Bourgeoisie. Der Aufstand wird zum volkstümlerischen Abenteuer. Dem bäuerlichen Rußland gelingt der Anschluß an die Geschichte nur über ein notwendig provisorisches Bündnis auf der Grundlage eines blinden Kompromisses11 mit der Bourgeoisie. Daraus resultiert eine widersprüchliche Ideologie12 (zwischen Protest und Verzicht schwankend) sowie deren Ergebnis: die gescheiterte Revolution von 1905. Von ihr sagt Lenin, daß sie in ihrem Verlauf insgesamt die Züge der Entwicklung auf dem Lande aufweise. Durch den Zusammenstoß von Bauernmassen und kapitalistischen Interessen ist diese Epoche lediglich Z w i s c h e n s p i e l ; ihre Einheit liegt allein in ihrem Übergangscharakter. Schon 1905 schrieb Lenin in Parteiorganisation und. Parteiliteratur: „Die Revolution ist noch nicht vollendet. Hat der Zarismus n i c h t m e h r die Kraft, die Revolution zu besiegen, so hat die Revolution n o c h n i c h t die Kraft, den Zarismus zu besiegen."13 Diese Bewegung vom „Nicht mehr" zum „Noch nicht", die die bäuerliche Struktur dieser Zeit kennzeichnet, ist von Lenin mehr als einmal beschrieben worden: die „Periode n a c h der Reform, aber v o r der Revolution" 14 ; weiterhin: jene „Millionen zählende Masse des russischen Volkes, die b e r e i t s die Herren des heutigen Lebens haßt, jedoch n o c h n i c h t zum bewußten, konsequenten, bis zu Ende gehenden, unversönlichen Kampf gegen sie gelangt ist."15 Die Revolution von 1905, die „große russische Revolution", die eine Revolution der Bauern werden sollte, sollte auch alle Zeichen des Übergangs, des Vorläufigen tragen. Dies erklärend zeigt Lenin ihre positive Bedeutung. Diese Erklärungen sind jedoch insgesamt unvollständig, berücksichtigen sie doch nicht ein viertes „Element", das erst gegen Ende dieser Epoche manifest wird, um dann in der darauffolgenden Zeit die dominierende Rolle zu spielen: das Proletariat. Was sich von 1861 bis 1905 in Rußland ereignet, sowohl im feudalen als auch im bürgerlichen und bäuerlichen Rußland, erhält seine eigentliche Bedeutung erst, wenn man berücksichtigt, daß sich genau in dieser Zeit die Arbeiterklasse und ihre Partei konstituieren - Produkte des Zerfalls der alten patriarchalischen Ordnung durch die kapitalistische Entwicklung. „Die Revolution von 1905 hat das vollauf bewiesen: 158

Einerseits wirkte das Proletariat völlig selbständig an der Spitze des revolutionären Kampfes, nachdem es die sozialdemokratische Arbeiterpartei geschaffen hatte [.. .]" 1 6 „Die Periode von 1862 bis 1904 war eben eine solche Epoche des Umbruchs in Rußland, in der das Alte vor aller Augen unwiderruflich zusammenbrach, während das Neue erst Gestalt zu gewinnen begann, wobei die gesellschaftlichen Kräfte, die diese Gestalten besorgten, erst 1905 in breitem, gesamtnationalem Maßstab, in einer offenen Massenaktion auf den verschiedensten Gebieten zum erstenmal praktisch in Erscheinung traten." 17 Ein dem Schein nach feudales Rußland war im Begriff, ein bürgerliches Rußland zu werden. Die Revolution der Bauern konnte tatsächlich erst in einer Arbeiterrevolution gelingen. Das Jahr 1905 ist der Augenblick, in dem die Arbeiterklasse erstmals eine führende Rolle übernehmen kann. Dieses Jahr kennzeichnet demnach das Ende einer historischen Periode, zugleich auch das historische Ende des Tolstoianertums. Eine wissenschaftliche Analyse dieser Periode erfordert, all diese Faktoren zu berücksichtigen. Dabei ist zunächst einmal wichtig, diese zu e r k e n n e n : Vor allem dürfen sie nicht verwechselt werden, dürfen die Interessen einer Klasse nicht für die einer anderen gehalten werden. Das würde zu einer falschen Schlußfolgerung führen, sowie die politischen Aktionen in eine falsche Richtung lenken. Die vier Faktoren, sie entsprechen der Wirkweise der vier verschiedenen Klassen, sind voneinander zu trennen. Das ist jedoch nicht einfach, ist doch jede, wenn auch auf ihre Weise und auf unterschiedlichen Ebenen, von gleicher Wichtigkeit. Kann man doch ebenso die führende Rolle dieser Epoche der gutsbesitzenden Aristokratie (sie hat noch die Macht), der Bourgeoisie (sie erobert den entscheidenden Platz in der Wirtschaft), den Bauernmassen (den Anführern des sozialen Aufruhrs), der Arbeiterklasse (sie ist im Begriff, sich zu organisieren) zuschreiben. Je nachdem, ob man nun den einen oder den anderen Bereich akzentuiert, gelangt man zu einer unterschiedlichen Erklärung dieser Epoche. Diese Unterschiede sind auch in den zeitgenössischen Darstellungen der russischen Literatur auffindbar. Man könnte, leicht schematisierend, sagen, daß das Rußland Dostojewskis im wesentlichen feudal bleibt; das Rußland Tschechows vom Aufstieg der Bourgeoisie 159

gekennzeichnet ist; während das Rußland Tolstois, wie zu zeigen sein wird, durch die bäuerlich-patriarchalische Denkweise und das Gorkis durch die „Schaffung" des städtischen Proletariats bestimmt ist. Doch muß eine wirklich wissenschaftliche Analyse, will sie Zusammenhänge erklären, alle diese Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Sie darf dabei nicht, angeblich Wesentliches von angeblich Unwesentlichem trennend, eine willkürliche Auswahl vornehmen. Von einem feudalen, einem bürgerlichen, einem bäuerlichen oder einem proletarischen Rußland sprechen, ist schließlich nur ein sprachlicher Kunstgriff. Die Epoche kennzeichnen, d a r legen, was ihre Einheit ausmacht, heißt darlegen, daß die einzelnen Faktoren nicht zu trennen sind, daß keiner ohne den anderen existiert: Das Entscheidende ist ihre Beziehung, ihre Verknüpfung. Es genügt nicht, lediglich Teilstrukturen herauszuarbeiten, vielmehr ist ihre Anordnung in einer übergreifenden Gesamtstruktur darzustellen. Es gibt einen offenen Konflikt zwischen den Bauernmassen und der gutsbesitzenden Aristokratie einerseits, zwischen der Arbeiterklasse und der kapitalistischen Bourgeoisie andererseits. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Konflikten ist nicht absolut. Sie können nicht isoliert voneinander ausgetragen werden, sondern müssen sich im Gegenteil auf vermittelnde Bereiche stützen. Die Bauernschaft ist gezwungen, die Mittel ihres Kampfes von der Bourgeoisie zu übernehmen. Der Kampf des Proletariats kann dagegen erst dann erfolgreich sein, wenn das Bündnis mit den Bauernmassen gelingt. Letztere sind, ohne es zu wissen, durch ihre historische Situation dazu gezwungen, sich auf ein d o p p e l t e s S p i e l einzulassen. Mit den bürgerlichen Formen ihrer politischen Forderungen stellen sie sich objektiv auf die Seite der Bourgeoisie: „Diese Masse - in erster Linie die Bauernschaft - hat in der Revolution gezeigt, wie sehr sie das Alte haßt, wie unmittelbar sie alle Lasten des heutigen Regimes spürt, wie groß der elementare Drang in ihr ist, diese Lasten abzuwerfen und zu einem besseren Leben zu gelangen." 18 „Die Revolution von 1905 hat das vollauf bewiesen: [.. .] andererseits kämpften die revolutionären Bauern (die ,Trudowiki' und der ,Bauernbund'), die für die Beseitigung des gutsherrlichen Grundbesitzes in jeder 160

Form, bis ,zur Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden' eintraten, eben als Besitzer, als Kleinunternehmer." 19 Nicht allein das Bewußtsein der Bauernmassen, vor allem ihre L a g e ist widersprüchlich. Im Augenblick, wo der Konflikt offene Form annimmt, stellen sich die Bauernmassen auf die Seite der Bourgeoisie, während ihr Kampf gegen das Eigentum zwangsläufig auch ein Kampf gegen den Kapitalismus ist. Es sind also weniger die realen K o n f l i k t e , die diese Epoche kennzeichnen, als dieses fundamentale Z u s a m m e n s p i e l , das auf einem latenten (ökonomischen, politischen und ideologischen) Widerspruch beruht. Die Gesamtstruktur der Epoche könnte also nur von diesem Hauptwiderspruch aus erfaßt werden, der niemals unvermittelt erscheint und der zudem nicht der einzige Widerspruch ist, bzw. nicht dessen allgemeine Form. Das Resultat dieser Epoche, die Revolution von 1905, läßt jedoch den vorläufigen Charakter dieser Struktur erkennen. Zudem wird deutlich, daß der Kampf gegen Feudalismus und Kapitalismus erfolglos bleiben muß, wenn er nicht gemeinsam geführt wird, auf neue Weise, in neuen Organisationsformen (erst zu diesem Zeitpunkt erweist sich die sozialdemokratische Partei als fähig, die führende Rolle im Kampf zu übernehmen). Erst wenn die Arbeiterklasse die Bauernmassen mit sich reißt, kann der politische Kampf gegen den feudalistischen Staat und der ökonomische Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft an ein und derselben Front und gemeinsam geführt werden. Das Tolstoianertum ist nur auf Grund einer solchen Analyse zu erforschen. Sie wurde hier lediglich in groben Zügen umrissen. Eine Untersuchung des Tolstoischen Werkes muß die Beziehungen des Werkes zu der so definierten historischen Struktur herausarbeiten. Im Werk Tolstois selbst ist eine solche Analyse offensichtlich nicht enthalten. Was das Werk über seine Epoche mitzuteilen vorgibt und was dessen Analyse tatsächlich über sie aussagt, darf nicht miteinander verwechselt werden. Tolstois Beziehung zu seiner Zeit mag zwar zunächst evident erscheinen, dennoch ergibt sie sich nicht unmittelbar aus seinem Werk (es sei denn unter Verwendung eines falschen Begriffs von Unmittelbarkeit). Der Zeitbezug bleibt auf eine bestimmte Weise verborgen, was aber nicht heißen soll, daß Tolstoi beispielsweise von seiner 1 Burmeister/Barck

161

Epoche nichts verstanden habe: E r vermittelt uns durchaus eine bestimmte Vorstellung über sie. Diese ist zwar a p r i o r i nicht falsch, kann jedoch nicht anders als partiell sein. Lenin sagt, Tolstoi überliefere uns Geschichte von einem ganz bestimmten S t a n d p u n k t aus. 2 0 D a s gibt uns einen ersten Einblick in die L a g e des Schriftstellers. Dieser ist sehr wohl in die Bewegung seiner Epoche eingelassen, jedoch in einer Weise, die es ihm nicht ermöglicht, uns darüber eine umfassende Vorstellung zu vermitteln. E r kann es nicht. Und täte er es, wäre er kein Schriftsteller mehr, sondern eher Wissenschaftler bzw. Historiker. E s ist nicht Aufgabe des Schriftstellers, die Gesamtstruktur einer Epoche aufzudecken: Vielmehr soll er uns ein B i l d von ihr geben, einen außergewöhnlichen Einblick, durch keinen anderen zu ersetzen. Diese seine Besonderheit bezieht er aus seinem Platz innerhalb der Gesellschaft. E r lebt in ihr auf zweifache Weise: zum einen als Individuum, zum andern als Schriftsteller. Aufgabe des Schriftstellers ist es, wenn man so sagen will, die historische Struktur, indem er sie erzählt, „lebendig zu machen". Auch wenn ein Standpunkt politisch falsch ist, einen gewissen literarischen Wert verliert er deshalb nicht. Nach der Revolution schreibt Lenin in einem polemischen Artikel ohne jede Ironie, daß es gute reaktionäre Schriftsteller geben kann 2 1 . Wenn Tolstoi ein besserer Schriftsteller als Gorki ist bzw. umgekehrt, so muß das rein „literarische" Gründe haben (dieses schwierige Problem wird im weiteren noch zu erörtern sein), es hat nichts mit dem Verhältnis der Literatur zur Geschichte zu tun. Man kann lediglich sagen, daß sich das Werk Gorkis auf die Zeit nach 1905 bezieht und daher auch den Interessen seiner zeitgenössischen Leser weit eher entspricht als das Tolstois. Ein Schriftsteller kann nur dann interessieren, wenn er bestimmtes Wissen über seine Epoche 2 2 vermittelt (Lenin sagt beispielsweise, das große Verdienst der „Volkstümler" sei, uns viel über das Leben auf dem Lande mitgeteilt zu haben). Dieses Wissen muß nicht notwendig mit dem des Lesers identisch sein. Aus der Stellung des Schriftstellers ergeben sich bestimmte Rechte, vor allem das Recht auf Irrtum. Diese Stellung des Schriftstellers gilt es nun genauer zu bestimmen. Die im Vorhergehenden herausgearbeitete umfassende 162

historische Struktur determiniert das Werk Tolstois tatsächlich nur insoweit, als sie zugleich den spezifischen Standpunkt des Werkes zu erfassen erlaubt. Der Standpunkt des Individuums Tolstoi ist durch seine soziale Herkunft determiniert: Der Graf Tolstoi ist sozusagen ein unmittelbarer Repräsentant der gutsbesitzenden Aristokratie. Als Schriftsteller, d. h. als Produzent eines Werkes wie einer Doktrin (im folgenden wird deutlich werden, daß diese beiden Aspekte voneinander getrennt werden müssen) erlangt er indessen eine gewisse Beweglichkeit innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges. Er nimmt den Status eines Deplazierten [personne déplacée] ein. In seinem Werk stellt Tolstoi eine (für ihn selbst) neue Beziehung zum historischen Geschehen seiner Zeit her, indem er sich auf eine Ideologie stützt, die von „Natur" her nicht die seine ist 2 3 : die Ideologie der Bauernmassen. Seine Anschauungen über die russische Gesellschaft nach der Reform von 1861 sind keineswegs die eines adligen Grundbesitzers. Tolstoi hat sich einer Doktrin zugewandt, dem „Tolstoianertum", die nicht seiner eigenen Klassenlage entspricht. Nach Aussage Gorkis sagte Lenin: „Vor diesem G r a f e n hat es keinen echten Bauern in der Literatur gegeben." 24 Dieser Graf mit der Seele eines Bauern (gemeint ist damit die Denkweise eines Bauern, von Lenin auch „bäuerlicher Asiatismus" genannt) steht durch den W e c h s e l seiner Auffassungen im Zentrum des offenen Konflikts seiner Epoche. Der eher unvollständige als widersprüchliche Charakter seiner Doktrin resultiert aus dieser besonderen, nicht als individuelle mißzuverstehenden Beziehung zur gesellschaftlichen Struktur. Tolstoi sieht sehr wohl die Besonderheiten seiner Epoche, jedoch in einer bestimmten Brechung seines unzulänglichen Standpunktes. Zwar erkennt Tolstoi, daß seine Zeit eine Zeit der Umwälzung ist; was er aber nicht fassen kann, ist die Ordnung, welche die gegenwärtige Unordnung bestimmt. Trotz eines Gespürs für die Folgen der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus (sie bedrohen gleichzeitig die Existenz des Grafen wie die des Bauern), ist er doch nicht in der Lage, die Macht der Bourgeoisie zu kennzeichnen, die in seinem Werk gerade deswegen so bedrohlich wirkt, weil sie sich dort nur unterschwellig bemerkbar macht. 25 Ebensowenig vermag 11*

163

Tolstoi die andere Seite des latenten Konflikts zu begreifen: die Konstituierung einer proletarischen Ordnung. Anwesend in der Geschichte ist Tolstoi vor allem durch Abwesenheit: Die materielle Entwicklung der historischen Kräfte bleibt ihm verborgen. Sein „Standpunkt" ist weit mehr durch das determiniert, was er verbirgt, als durch das, was er positiv erkennen läßt. Diese Begrenzungen kennzeichnen die Epoche ebenso wie deren Grundstruktur. Das Kräfteverhältnis zu erkennen, führt zu nichts, wenn man nicht zugleich angeben kann, wie im einzelnen die Kräfte jeweils miteinander verknüpft sind: Denn sämtliche „Verknüpfungen" tragen zur Bestimmung jenes Kräfteverhältnisses bei. Die Begrenztheit der Standpunkte - sie determiniert eine Reihe von Teilbeziehungen innerhalb der Gesamtstruktur der Epoche - bringt die einzelnen Ideologien hervor. Zweifellos unterschieden durch ihre Inhalte, sind sie in ihrer Form doch gleichermaßen reaktionär. (Auch die Ideologie des Proletariats wird erst in dem Augenblick einen anderen Charakter annehmen, in dem sie im Rahmen der Aktionen der sozialdemokratischen Partei wissenschaftlich bestimmt wird.) Zusammengefaßt läßt sich sagen: Eine historische Epoche produziert niemals nur e i n e spontane Ideologie, vielmehr produziert sie eine Reihe von Ideologien, die durch das gesamte Kräfteverhältnis determiniert sind. Jede Ideologie ist somit durch die Gesamtheit der Zwänge zu definieren, die auf die Klasse, die sie repräsentiert, ausgeübt wird. Der „Umschwung in seiner gesamten Weltanschauung" ermöglicht es Tolstoi, den „Standpunkt des patriarchalischen, naiven Bauern" 2 6 in die Literatur einzubringen. Tolstois Werk ist originäres Produkt; um es als solches zu untersuchen, muß es von anderen unterschieden werden. Dabei stützt sich das Werk aber auf eine Doktrin, die ganz a n d e r e Träger hat. Durch sie vermittelt, ist das Werk Tolstois historisch determiniert: durch jene „Epoche, die die Lehre Tolstois ins Leben rufen konnte und mußte - nicht als ein individuelles Etwas, nicht als Laune oder als Originalitätshascherei, sondern als Ideologie der Lebensverhältnisse, unter denen sich tatsächlich Millionen und aber Millionen eine bestimmte Zeit lang befunden hatten." 27 Tolstois Beziehung zur Geschichte seiner Zeit ist nicht unmit-

164

telbar durch seine individuelle Lage determiniert. Vielmehr ist diese Beziehung über eine besondere Ideologie vermittelt, einen gemeinsamen Bereich, über den sich diese Beziehung herstellen kann. Zwischen dem Werk Tolstois und dem Geschichtsprozeß, den es „widerspiegelt" (wir können diesen Begriff provisorisch beibehalten), steht die Ideologie der Bauernmassen. Es wäre demnach ein schwerwiegender Irrtum, das „Tolstoianertum" als originäre Doktrin zu interpretieren - genau das taten die bürgerlichen Kritiker um 1910. Der Schriftsteller ist nur scheinbar Urheber der Ideologie, die in seinem Werk enthalten ist. Tatsächlich aber hat sich diese Ideologie unabhängig von ihm selbst konstituiert. Man f i n d e t sie in seinen Büchern, wie er selbst sie im Leben g e f u n d e n hat. Die Originalität des Werkes von Tolstoi wird also anderswo zu suchen sein als in dieser Ideologie, die zu ihrer Entstehung seiner nicht bedurfte. Es ist nicht Sache von Schriftstellern, Ideologien zu produzieren. Das literarische Werk ist somit unter zwei Aspekten zu untersuchen, einerseits in seiner Beziehung zur Geschichte, andererseits in seiner Beziehung zu einer der Ideologien seiner Zeit. Man darf nicht das Werk auf den einen bzw. anderen Bereich reduzieren. Tatsächlich wird man im Werk Tolstois die Widersprüche der Epoche auffinden können, zugleich aber auch die Mängel, die aus seiner partiellen Beziehung (dem Standpunkt) gegenüber den Widersprüchen resultieren. In diesem Sinne kann Lenin sagen, daß das Werk Tolstois bestimmte Bedingungen, die es haben entstehen lassen, widerspiegelt. Deshalb kann Lenin Tolstoi auch „Spiegel der russischen Revolution" nennen. Diese Feststellung ist allerdings erst der Beginn der Analyse. Denn, wie gesagt, das Tolstoische Werk kann nicht lediglich auf die in ihm enthaltene Ideologie r e d u z i e r t werden. Es muß noch anderes in ihm sein.28 Neben der Doktrin ist noch ein anderes Moment im Tolstoischen Werk zu ermitteln, ohne das das Werk nicht bestehen könnte. Diese beiden Momente ungeschieden zu lassen, entspricht genau dem blinden Vorgehen bürgerlicher Literaturkritik. Ideologie hat im Buch nur deshalb ihren Platz, weil sie mit ausschließlich literarischen Mitteln konfrontiert wird. Das Problem der F o r m g e b u n g , das niemals das mechanischer Übersetzung ist, läßt sich hier nicht länger umgehen. (So wie der Übersetzer über z w e i Sprachen 165

verfügen muß, um sie aufeinander beziehen zu können.) Mit Ideologie (beispielsweise) Romane zu produzieren, impliziert eine bestimmte Vorstellung vom Roman. Vorstellungen, die durch Normen, angeblich frei von Ideologie, definiert sind. Die bürgerliche Literaturkritik, gerade wenn sie Begriffe wie „reine Literatur" bzw. „l'art pour l'art" benutzt, verwendet sehr wohl ideologische Normen; setzt sie sich mit „engagierter" Literatur auseinander, dann nur, um auch diese entsprechend auf Ideologie zu reduzieren. Wenn, wie wir gesehen haben, eine Ideologie immer gewissermaßen unvollständig bleibt, dann könnten womöglich die literarischen Formen auf ihre Weise diese Ideologie v e r v o l l s t ä n d i g e n . Wichtiges Ergebnis der Leninschen Beweisführung ist, daß Literatur nur willkürlich von ihrem ideologischen Inhalt zu trennen ist; das aber setzt voraus, auf bestimmte Weise die Literatur von ihrem ideologischen Inhalt zu unterscheiden. Eine Vorstellung von solcher Unterscheidung gibt uns Lenin in seinen Äußerungen zu Gleb Uspenski 2 9 : „Bei seiner vorzüglichen Kenntnis der Bauernschaft und seinem außerordentlichen Künstlertalent, das in das innere Wesen der Erscheinungen einzudringen wußte [ . . . ] " 3 0 . Im folgenden bedarf es einer Klärung des Begriffs vom „außerordentlichen Künstlertalent". Aber diese Unterscheidung, die hier unabdingbar ist, bleibt unklar: D a s Werk bezöge demnach seinen ideologischen Inhalt nicht allein aus einem ideologischen Standpunkt, sondern aus dem Wirken einer spezifischen Form. Diese Form, die das „Talent" der Schriftsteller ausmacht und diese in „gute", „weniger gute" und „schlechte" einzuteilen erlaubt, bestünde darin, in bestimmter Art und Weise den historischen Prozeß und die ideologischen Motivationen „wahrzunehmen". Demnach wäre immer derjenige ein guter Schriftsteller, dem es gelänge, eine genaue „Wahrnehmung" der Realität zu vermitteln. Jedoch ist dieser Begriff der „Wahrnehmung" problematisch: muß man ihn doch von dem des theoretischen Wissens unterscheiden. Was der Schriftsteller von der Realität weiß, darf nicht mit den wissenschaftlichen Explikationen verwechselt werden, die die marxistische Partei von dieser Realität gibt. Verwendet der Schriftsteller doch Mittel, über die nur er verfügt. Man könnte 166

sagen, das Wissen des Schriftstellers sei ein implizites Wissen, kennt es doch weder seine Gründe noch seine Wirkung. Handelte es sich um wirkliches Wissen, so müßte es über seine Spuren rekonstruierbar sein. Ebensowenig kann man von einem ideologischen Wissen sprechen (ein von Ideologie erfaßtes und durch Ideologie vermitteltes Wissen), wenn es stimmt, daß Literatur jenseits der Ideologie, mit der sie sich a u s e i n a n d e r s e t z t , definiert werden muß. Selbst wenn literarische „Wahrnehmung", als A n a l o g i e von Wissen, als eine bestimmte A r t von Wissen definiert würde, müßte man angeben können, worauf sich dieses Wissen stützt, ob auf ein ideologisches Erfassen der Realität oder auf Realität selbst. Im ersten Fall hätte Literatur lediglich informative Funktion, nämlich ideologisches Material zu übermitteln. Im zweiten Fall wäre sie nichts weiter als eine Ansammlung materieller Fakten. Wenn Lenin beispielsweise zu erklären versucht, wie das Werk des .Volkstümlers' Engelhardt (der „Maler des bäuerlichen Lebens") zu nutzen sei, sagt Lenin 31 , daß darin genauestens die Doktrin (eine bestimmte Art, die Dinge zu sehen und zu interpretieren) von den Fakten (Elemente der Realität, die auf Grund genauer Beobachtung wiedergegeben sind) unterschieden werden muß. Da die Doktrin mit den Fakten nicht übereinstimmt, ist die Struktur des Werkes widersprüchlich. Soll es demnach die Funktion von Literatur sein, d. h. einer Literatur, aus der man alles Ideologische entfernt hat, von der Doktrin unterschiedliche Beobachtungen zu produzieren; kann sie derart Elemente wirklichen Wissens bereitstellen? „Wollte sich irgendein Ökonom oder Publizist ein Urteil über das Dorf auf Grund der Engelhardtschen D a t e n u n d B e o b a c h t u n g e n bilden [ . . . ] " , wäre dies „nicht nur außerordentlich interessant und lehrreich, sondern auch ein durchaus legitimes Verfahren für einen wirtschaftswissenschaftlichen Forscher. Wenn Gelehrte dem Material der Enqueten vertrauen - den Antworten und Urteilen vieler durch die Bank voreingenommener und wenig informierter Eigentümer, die sich keine fest umrissene Anschauung erarbeitet und ihre Ansichten nicht durchdacht haben - , warum dann nicht Beobachtungen vertrauen, die ein Mann von prächtiger Beobachtungsgabe und unbedingter Aufrichtigkeit, ein Mann, der das, wovon er spricht, 167

vortrefflich studiert hat, in vollen elf Jahren zusammengetragen hat?" 3 2 Bei einer solchen Vorstellung von der wissenschaftlichen Verwendung literarischer Texte ersetzt Lenin den Schriftsteller durch den diesem möglicherweise inhärenten wissenschaftlichen Beobachter. Das Wesentliche des Werkes wäre dann dessen Transparenz, und die literaturspezifischen Mittel seiner Herstellung wären nichts weiter als „bemerkenswerte Nüchternheit", eine „schlichte und ungeschminkte Charakteristik der Wirklichkeit" und, wie Lenin im folgenden sagt, „schonungslose Aufdekkung" 33 . Der „talentierte Schriftsteller" als „unerbittlicher Beobachter" 34 - dieser Begriff bedarf der Klärung. Eine Beobachtung muß, um wahr zu sein, deswegen nicht zugleich auch unerbittlich sein. Es ist kaum einzusehen, wie eine derartige unmittelbare Beobachtung, ohne transformiert zu werden, Gegenstand theoretischer Erkenntnis sein könnte. Ebenso schwierig sich vorzustellen, wie eine solche Beobachtung im Buch w i e d e r g e g e b e n werden könnte. Sollte ein Werk Elemente enthalten, die als wissenschaftliche Information unmittelbar verwendbar wären, dann nur, weil diese Elemente bestimmte spontane Fakten liefern, die mit der Realität direkt korrespondieren. Somit wäre das Problem, das in einem Brief an Gorki (1908) 35 angesprochen ist - ob Literatur, die auf einer falschen Doktrin beruht, „wahr" sein kann aufs einfachste gelöst: Weil nämlich die zensurierende Doktrin gegenüber einem Teil der realen Erinnerung, mit der sie sich auseinandersetzt, stets durchlässig bleibt. So wird auch einsichtig, daß es einen reaktionären Realismus geben kann 3 6 : Ideologische Träume, die die Realität zerstören wollen, werden weiterhin von ihr beeinflußt. Doch ist diese Vorstellung von einer mechanischen Reproduktion der Realität vieldeutig. Die gesamte Leninsche Erkenntnistheorie widerspricht dieser Auffassung. Der Gedanke einer phantomhaften Präsenz des Realen im Buch (Literatur als von Realität durchdrungen) hat ganz und gar den phantastischen Charakter einer Illusion. Literatur hat keinen unmittelbaren Zugang zur Realität: Zwischen beide tritt eine Reihe vermittelnder Schichten. Es ist deutlich geworden, daß die Ideologie ( e i n e Ideologie) eine erste Vermittlung schafft, zugleich auch, daß sich zwischen 168

Ideologie und Literatur eine andere, eine neue Beziehung herstellt. Absurd und tautologisch aber wäre es anzunehmen, daß sich diese Beziehung auf die Präsenz von Wirklichkeitselementen gründet. Literatur ist nicht unmittelbare Widerspiegelung des Realen, wie auch sich Bedeutung nicht spontan herstellt (dieser Punkt soll im folgenden noch eingehender behandelt werden); sie erscheint vielmehr im Zusammenhang einer doppelten dialektischen Reihe: 1 2 3 4

-

Geschichtsprozeß Ideologie Ideologie ?

^

K

'

Es geht um die Definition der vierten Bestimmung. Zu diesem Zweck muß nach dem spezifisch Literarischen des Werkes gefragt werden. Es führte zu nichts, wenn man die Frage derart beantwortet, indem man die gesuchte, vierte Bestimmung mit der ersten gleichsetzt. Die Analyse von Literatur kann sich also weder mit wissenschaftlichen Begriffen, die der Beschreibung historischer Prozesse dienen, noch mit ideologischen Begriffen begnügen. Sie benötigt andere Begriffe, und zwar solche, die das spezifisch Literarische des Werkes erfassen. Und in genau dieser Hinsicht erscheinen Lenins Begriffe unzureichend, geradezu dürftig (dabei muß daran erinnert werden, daß die Begriffe bürgerlicher Kritik noch dürftiger sind, d. h. sie verfügt ausschließlich über ideologische Begriffe). Will Lenin diesen spezifischen unerbittlichen Blick des Schriftstellers auf die historische Realität und die Ideologie benennen, dann spricht er vom Schriftsteller als von einem „talentierten Künstler", einem „unvergleichlichen Maler", der es versteht, mit großer Schärfe, Tiefe . . . So urteilt Lenin beispielsweise über das Buch von John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten: „Es gibt eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse . . ." 37 . Und aus diesem Grund sei Tolstoi ein „großer Künstler", der diese Fähigkeit besser als jeder andere besessen hätte . . . In ähnlicher Weise äußert sich auch Engels: „ . . . da erfüllt auch der sozialistische Tendenzroman, nach meiner Ansicht, vollständig seinen 169

Beruf, wenn er durch treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gleichgültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht, auch ohne selbst direkt eine Lösung zu bieten, ja unter Umständen ohne selbst Partei ostensibel zu ergreifen." 38 Der Schriftsteller v e r k ö r p e r t , d r ü c k t a u s , ü b e r s e t z t , s p i e g e l t w i d e r , g e s t a l t e t - diese Begriffe, alle auf ihre Weise unzulänglich, stellen im folgenden das Problem dar. Es fragt sich, ob sich dieses Problem vom vorhergehenden unterscheidet.

Das Bild im Spiegel Es ist unumgänglich, Lenins Tolstoikritik unter verändertem Aspekt aufs neue zu analysieren. Zwar steht uns eine auf ihre Weise vollständige Interpretation des Tolstoischen Werkes zur Verfügung, vollständig in den Grenzen ihrer Unzulänglichkeit. Wir wissen, was wir i m Werk Tolstois suchen: dessen Beziehung zur Geschichte. Wir wissen aber weder, w i e eine derartige Untersuchung durchgeführt werden kann, noch w o r a u f sie sich praktisch stützt. Es scheint, als habe die Leninsche Interpretation das Werk zugunsten seines Inhalts eliminiert. Alles ist hier berücksichtigt, nur nicht das Spezifische des Tolstoischen Werkes. Zu wissen, was in ihm steht, ist etwas anderes als zu wissen, woraus es gemacht ist. Nunmehr soll aus den Untersuchungen Lenins das herausgearbeitet werden, was Aufschluß über die A r b e i t d e s S c h r i f t s t e l l e r s gibt. Der Einfachheit halber wird diese Untersuchung getrennt durchgeführt, faktisch sind jedoch beide aufs engste miteinander verknüpft. Lenins Arbeiten über Tolstoi führen eine Reihe wichtiger Begriffe ein, die, begründet und erläutert, Grundbegriffe wissenschaftlicher Kritik sein könnten. Das Problem jedoch ist, daß Lenin diese Begriffe anwendet, ohne jemals nach ihrer theoretischen Begründung gefragt zu haben. Zwar w e n d e t er sie mit großer Sicherheit a n , stellt sie jedoch niemals in den Zusammenhang einer Theorie der Literatur, wie er dies beispielsweise mit den Begriffen der 170

Wissenschaftskritik in Materialismus und Empiriokritizismus tut. Im Rahmen politischer Theorie veröffentlicht (die Leninschen Artikel haben vor allem politischen Charakter), können diese Begriffe literarischer Kritik gleichwohl außerhalb ihres politischen Verwendungszusammenhanges erörtert werden. Unter den damals herrschenden Umständen war ihr Gebrauch gerechtfertigt. W i l l man jedoch die Leninschen Begriffe auf andere Verhältnisse übertragen, bedürfen sie einer theoretischen Begründung. Diese soll im folgenden versucht werden. Die zentralen kritischen Begriffe, ihnen verdanken die Leninschen Texte ihre Wirksamkeit, sind S p i e g e l , Widers p i e g e l u n g , A u s d r u c k . Lenin sagt, und dies ist zugleich seine Definition von Literatur: Das Werk ist ein Spiegel. Ein Satz, der sogleich an jenen Spiegel erinnert, der über die Straße des Lebens geführt wird (Stendhal) - seitdem gängige Allegorie zur Bezeichnung realistischer Literatur. Doch hat bei Lenin die Bezeichnung Spiegel eher den Stellenwert eines Begriffs als den eines Bildes; also muß man sie definieren können. Und tatsächlich gibt er eine Präzisierung, die klarstellt, daß die „Sache" nicht für sich selbst existiert: „Man wird doch nicht etwas als Spiegel bezeichnen, was eine Erscheinung augenfällig nicht richtig wiedergibt?" 3 9 Der Spiegel ist also lediglich dem Anschein nach Spiegel; zumindest spiegelt er auf eine Art und Weise, über die nur er verfügt. Es handelt sich also nicht um eine beliebig reflektierende Oberfläche, die durch Widerspiegelung Beliebiges unmittelbar reproduziert. Eher als an die naheliegende Vorstellung von einer Deformation des Bildes denkt Lenin an dessen Bruchstückhaftigkeit. W ä r e der Spiegel also ein zerbrochener Spiegel? Nun ist die Beziehung zwischen dem Spiegel und dem Objekt, das er reflektiert (die historische Realität) tatsächlich p a r t i e l l . Denn der Spiegel nimmt eine Auswahl vor, er selektiert, anstatt die Totalität der sich ihm darbietenden Realität widerzuspiegeln. Diese Auswahl ist nicht zufällig, sie ist kennzeichnend und somit auch Anhaltspunkt, um das Spezifische des Spiegels zu begreifen. Die Gründe einer solchen Auswahl sind bereits geklärt: Durch sein persönliches sowie ideologisches Verhältnis zur Geschichte seiner Zeit kann sich Tolstoi von dieser ein nur unvollständiges Bild machen. Vor allem vermochte er diesen 171

historischen Zeitabschnitt nicht als r e v o l u t i o n ä r e P h a s e zu erfassen: Nicht weil er die Revolution widerspiegelt, verdient er es, Spiegel d e r Revolution genannt zu werden. Ist das Werk ein Spiegel, so sicher nicht kraft einer manifesten Beziehung zur „widergespiegelten" Epoche. Tolstoi hat diese „ o f f e n k u n d i g nicht verstanden" und sich auch „ o f f e n k u n d i g abseits" gehalten. 40 Was im Spiegel des Werkes zu sehen ist, entspricht keineswegs genau dem, was Tolstoi selbst und als Repräsentant einer Ideologie gesehen hat. Das Bild der Geschichte im Spiegel wird folglich niemals Widerspiegelung im strengen Sinn von Reproduktion sein können. Darüber hinaus wissen wir, daß es eine derartige Reproduktion nicht geben kann. Daß die Epoche als solche durch das Tolstoische Werk erkennbar ist, beweist nicht, daß Tolstoi diese wirklich e r k a n n t hat. Tolstoi steht also in der gleichen oder zumindest analogen Beziehung zu seinem Spiegel, wie manche revolutionären Arbeiter zu ihrer Epoche: Sie nahmen zwar unmittelbar an der Revolution teil, mochten dabei sogar eine wichtige Rolle übernommen haben, kannten aber weder deren Tragweite noch deren Gründe. 41 Das ist zunächst aus dem k o m p l e x e n Charakter der Revolution zu erklären. Es gibt keinen einfach-determinierten Konflikt, ein Kampf ist vielmehr durch seine Überdeterminierung 42 definiert (vgl. die vorhergehende historische Analyse). Der historische Prozeß verläuft gleichzeitig auf mehreren Ebenen und ist auf vielfältige Weise verknüpft. Es ist durchaus möglich, nur auf einer dieser Ebenen am historischen Geschehen teilzunehmen und zugleich den übrigen Bereichen fernzubleiben, wobei, wie noch zu zeigen sein wird, letzteres nur scheinbar so ist. Während der „großen Revolution" ist das bäuerliche Element am ehesten manifest. Durch dieses Element situieren sich Tolstoi und dessen Werk in der Geschichte. Tolstoi mußte „ w e n i g s t e n s e i n i g e wesentliche Seiten der Revolution in seinen Werten widerspiegeln". 43 Aber es handelt sich eben nur um ein Element; die unmittelbare Beziehung ist zwangsläufig unvollständig, nicht allein durch ihren Inhalt, sondern in ihrer Form selbst. Alle, die einen Platz in dieser Revolution eingenommen haben - und wer hatte das nicht? - sind in eine unmittelbare Beziehung zu wenigstens einem der Elemente der 172

Situation getreten. Diese Beziehung war jedoch nur scheinbar unmittelbar, war sie doch tatsächlich durch die Gesamtsituation determiniert. Der Begriff E l e m e n t d e r S i t u a t i o n , Teilnahme an der Situation, wäre allerdings irreführend, wenn er zur m e c h a n i s c h e n Analyse verleitete. Das Element der Widerspiegelung erschiene dann als unmittelbar getreues Abbild. Tatsächlich aber unterliegt es, determiniert durch seine Stellung innerhalb der komplexen Struktur, allen Einflüssen, die kurz- bzw. langfristig auf es einwirken. Die positive Präsenz des Widerspiegelungselementes ist demnach weniger wichtig als die Tatsache, daß es von außerhalb kommend gedacht werden muß: Denn sein Eingehen ins Werk setzt den Weg über alle die Bedingungen voraus, die es indirekt hervorgebracht haben. Womöglich ist das Werk ein Spiegel, weil es die Widerspiegelung gerade als Teilwiderspiegelung aufzeichnet, weil es eine unvollständige Realität widerspiegelt, diese auf der Ebene ihrer einzelnen Elemente ergreift. Privileg des Werkes wäre dann, dazu nicht den Umweg über die Gesamtheit der Bedingungen machen zu müssen; es z e i g t lediglich deren Notwendigkeit, die im Werk lesbar werden kann. Aufgabe wissenschaftlicher Kritik ist es, eine solche Lektüre vorzunehmen. Wenn uns der Spiegel das sichtbar machte, dann nicht, weil er Bilder mechanisch reproduziert (diese wären notwendigerweise blind, und als solche müßten sie auch kenntlich gemacht werden) oder Instrument von Erkenntnis ist (Erkenntnis verfügt über ein eigenes ausreichendes Instrumentarium). Der Spiegel, so verstanden, ist vielmehr ein nicht zu ersetzender E n t d e c k e r . Funktion der Kritik ist demnach, uns zu helfen, die Bilder im Spiegel zu entziffern. In der Form der Widerspiegelung, wie sie im Spiegel erscheint, muß das Geheimnis des Spiegels ergründet werden. Wie verfährt der Spiegel, wenn er ohne manifeste Beweisführung historische Realität dadurch darstellt, daß er die Blindstellen, ohne diese aufzuzeigen, sichtbar werden läßt? Der Begriff des Spiegels erhält dann veränderte Bedeutung, wenn man ihn durch eine analytische Konzeption ergänzt, die den partiellen Charakter der Widerspiegelung betont. Aber dieses analytische Konzept ist selbst nicht eindeutig, neigt es doch dazu, Realität als gleichsam mechanisches Produkt von 173

Montage aufzufassen. Die Interpretation darf der Realität nicht ihre wirkliche Komplexität nehmen. Tatsächlich ist die Auffassung, daß Realität durch den Spiegel bruchstückhaft erscheine, unzulänglich: Das vom Spiegel gelieferte Bild selbst ist gebrochen. Ist es doch gerade seine Komplexität, durch die das Bild die realen Schichtungen evoziert. Das Tolstoische Werk ist keineswegs homogen. Es besitzt weder Kontinuität, noch Klarheit oder Geschlossenheit; auch wenn das B i l d der Widerspiegelung dies suggerieren mag, fehlt ihm doch die Einheitlichkeit. Es derweise aufzufassen, hieße es i d e a l i s i e r e n , es nicht verstehen, eben das zu tun, was liberale und bürgerliche Kritik machen/1''1 Wir kommen hier erneut zu dem Gedanken, daß der Spiegel keine e i n f a c h reflektierende Oberfläche ist: Das Tolstoische Werk selbst ist aus einzelnen Elementen zusammengesetzt. Und genau wie nach Freud der Traum, um gedeutet zu werden, zuvor in seine ihn konstituierenden Elemente zerlegt werden muß, darf, wie Lenin fordert, auch beim literarischen Werk nicht von einer illusionären Totalität ausgegangen werden. Stattdessen muß es in seiner notwendigen und tatsächlichen Brüchigkeit gesehen werden. Um sich im Werk Tolstois wie in einem Spiegel wiederzuerkennen, muß sich der Revolutionär vor den Verfälschungen reaktionärer wie liberaler Kritik hüten. Er muß sich im klaren darüber sein, was genau an Tolstois Werk Spiegel ist und darf nicht versuchen, es völlig nach eigenem Gutdünken zu interpretieren. Dies wäre nichts anderes als politisches bzw. ideologisches Glaubensbekenntnis, dem Literatur lediglich als Vorwand dient. Das Tolstoische Werk ist weder Widerspiegelung des Ganzen noch einzelner Elemente. So stimmig das Werk auch erscheinen mag, vollständig ist es erst auf Grund seiner spezifischen Form. Angesichts der Komplexität des historischen Prozesses sollte man auch die K o m p l e x i t ä t d e s W e r k e s aufzeigen können. „Nicht aus lauterem, nicht aus reinem und nicht aus Metall gegossen ist Tolstois Figur. Und ,alle diese' bürgerlichen Verehrer haben sein Ansehen g e r a d e nicht wegen der .Ganzheit', sondern gerade wegen der Abweichung von der Ganzheit .durch Erheben von den Plätzen geehrt'.'" 15 174

Das bürgerliche Urteil über Tolstoi ist schließlich weniger Resultat von Unverständnis oder Ignoranz, als vielmehr bezeichnendes Mißverständnis. Die bürgerliche Lesart des Tolstoischen Werkes ist eines der Produkte dieses Werkes; für uns Indiz dafür, daß von einer Disproportion des Werkes auszugehen ist. Zunächst muß genauestens zwischen dem doppelten Erbe des Tolstoischen Werkes unterschieden werden, d. h. zwischen dem, was zurückzuweisen, und dem, was herauszustellen ist. Eine Synthese zwischen beiden ist unmöglich. Lenin spricht von dem, „was Tolstois Vorurteil und nicht seine Urteilskraft zum Ausdruck bringt, was an ihm nicht der Vergangenheit und nicht der Zukunft angehört". „Aber sein Erbe enthält Elemente, die nicht dahingegangen sind, die der Zukunft gehören. Dieses Erbe übernimmt das russische Proletariat, an diesem Erbe arbeitet es". 46 Jedes dieser Zitate ist für sich genommen aufschlußreich. Im Jahre 1910 stellt sich heraus, daß Tolstoi zugleich ein bürgerliches und proletarisches Erbe hinterlassen hat. Entsprechend der bisherigen Analyse wissen wir jedoch, d a ß Tolstoi weder ein bürgerlicher noch ein proletarischer, sondern ein Schriftsteller der Bauern ist. Durch die Vielfalt seiner Verwendungsmöglichkeiten erscheint das Werk wie d e z e n t r i e r t. Seiner spezifischen Charakterzüge beraubt, steht es schließlich nur noch in äußerlicher Beziehung zu sich selbst. Diese Spaltung im Innern des Werkes ist im übrigen Kennzeichen für die Präsenz von Ideologie. „Eben diese rasche, harte, jähe Zerstörung aller alten .Säulen' des alten Rußlands war es, was in den Werken des Künstlers Tolstoi und in den Anschauungen des Denkers Tolstoi seine Widerspiegelung fand. 4 7 " „Durch das Studium der belletristischen Werke Leo Tolstois wird die russische Arbeiterklasse ihre Feinde besser kennenlernen, bei der Untersuchung der L e h r e Tolstois aber wird das ganze russische Volk begreifen müssen, worin seine eigene Schwäche bestand, die es ihm unmöglich machte, das Werk seiner Befreiung zu Ende zu führen." 4 8 W i e bereits gesagt, das Werk Tolstois darf als literarisches Werk nicht mit der tolstoianischen Ideologie verwechselt werden, da diese aus ganz anderen Bereichen resultiert. Diese Feststellung erhält hier nun eine neue Bedeutung: Im Innern 175

des Werkes stellt sich zwischen diesem und seinem ideologischen Inhalt eine widerstreitende, damit auch abgrenzende Beziehung her. Die Tatsache, daß sich das Werk an unterschiedliche Leserschichten wendet (übrigens ein weiteres Beispiel dafür, daß das Tolstoische Werk der Arbeiterklasse gehört, ist doch seine Doktrin Verständigungsmittel für das gesamte russische Volk), gibt immer wieder Anlaß zu ein und derselben Feststellung: Im Grunde ist das Werk zutiefst dissymmetrisch. Es besteht aus mehreren Spiegeln, deren einzelne Bilder sich nicht ineinander überführen lassen. Vielfach geschliffen, wirft das Werk mehr als nur einen Lichtreflex zurück. Die Schwierigkeit besteht darin, diese Vielfältigkeit zu interpretieren, ohne daß man das Werk einfach als vieldeutig erklärt. Hier das wichtigste Beispiel, das uns Lenin gibt. Er schreibt in seinem ersten Artikel aus dem Jahre 1908: „Nun sind die Widersprüche in Tolstois Anschauungen nicht unter dem Gesichtspunkt der modernen Arbeiterbewegung und des modernen Sozialismus zu beurteilen (eine solche Würdigung ist natürlich notwendig, aber sie genügt nicht), sondern vom Gesichtspunkt jenes im patriarchalischen russischen Dorf unweigerlich laut werdenden Protestes gegen den hereinbrechenden Kapitalismus, gegen den Ruin der Massen und ihre Vertreibung von der Scholle." 49 Und zwei Jahre später schreibt er in seinem zweiten Artikel: „Und deshalb ist eine richtige Würdigung Tolstois nur vom Standpunkt der Klasse aus möglich, die durch ihre politische Rolle und ihren Kampf während des ersten Versuchs, diese Widersprüche zu lösen, während der Revolution, ihre Berufung bewiesen hat, Führerin zu sein im Kampf für die Freiheit des Volkes und für die Befreiung der Massen von der Ausbeutung, die bewiesen hat, daß sie der Sache der Demokratie rückhaltlos ergeben und befähigt ist, gegen die Beschränktheit und Inkonsequenz der bürgerlichen (auch der bäuerlichen) Demokratie zu kämpfen - sie ist nur möglich vom Standpunkt des sozialdemokratischen Proletariats." 50 Die Widersprüchlichkeit der beiden Aussagen ist offensichtlich und auf den ersten Blick zu Recht peinlich. Tatsächlich schlägt uns Lenin vor, „zwei zutreffende Beurteilungen" Tolstois vorzunehmen, deren eine sich aus Tolstois Standpunkt selbst 176

ergibt, während die andere, indem sie die falsche Innerlichkeit des Werkes bestreitet, es durch Konfrontation offenlegt. Zwischen diesen beiden Beurteilungen zu wählen, schließt sich aus, da sich beide letztlich durch ihre Gleichwertigkeit, ihre notwendige Beziehung gegenseitig bedingen. Tolstoi zeichnet sich gerade dadurch als Schriftsteller aus, weil sein Werk eine exakt bestimmbare Ungleichheit herauszuarbeiten erlaubt: Exakt bestimmbar deshalb, weil es jeglichen Vorwurf der Vieldeutigkeit von sich weist. D a s Schwanken der Standpunkte innerhalb des Werkes ist demnach keine Frage des „Entweder-oder" bzw. des „Nichtwissens-wie", vielmehr existieren b e i d e Standpunkte zugleich, im Innern ihres eigenen Konflikts. Wieder einmal kommt uns der Gedanke einer doppelten Lektüre des Werkes, diesmal jedoch in strengerem Sinn: Handelt es sich doch um zwei e x a k t e Lektüren. Möglich, daß sich diese Exaktheit aus diesem ihrem Zusammentreffen ergibt. Demnach muß die Wahrheit des Tolstoischen Werkes - und es muß Wahres enthalten, etwas, über das das Wahre erkennbar wird - in der Präsenz eines Konfliktes gesucht werden; genauer gesagt, der Inhalt des Tolstoischen Werkes muß mit dem Widerspruch zusammenhängen. Schließlich sagt auch Lenin, daß das Werk bedeutend sei, weil es die Widersprüche seiner Epoche widerspiegele. Soll das heißen, daß das Werk die Elemente des historischen Widerspruchs, jedes isoliert für sich, widerspiegelt, und so ein Bild des Widerspruchs produziert bzw. reproduziert? D i e Frage bejahen, hieße das Werk Tolstois als Werk negieren, hieße, es zugunsten vorschneller, direkter Erklärung zu verkennen. Die Widersprüche der Epoche sind zweifellos dem Werk äußerlich und müssen es auf Grund ihrer anders gearteten Natur auch bleiben. Wenn Widersprüche im Werk existieren, so müssen sie anderer Art sein, unterliegen sie doch den Gesetzen sehr subtiler Transposition. Die Literaturkritik muß sich, wie es bereits Lenin formulierte, fragen, was im Spiegel zu sehen ist. Die Antwort: D a s Objekt im Spiegel steht in Zusammenhang mit dem Widerspruch der Epoche. Dabei ist nochmals anzumerken, daß der Spiegel niemals „ D i n g e " mechanisch widerspiegelt; in einem solchen Fall würde angenommen, daß sich die Beziehung zwischen Widerspiegelung und ihrem Objekt Stück für Stück 12 Burmeister/Barck

177

herstelle. Das vom Spiegel produzierte Bild täuscht: Der Spiegel läßt uns lediglich die B e z i e h u n g e n eines Widerspruchs erfassen. Durch widersprüchliche Bilder präsentiert, evoziert der Spiegel die historischen Widersprüche der Epoche, die Lenin auch als die „Mängel und Schwächen unserer Revolution" bezeichnet. Der Mechanismus des Spiegels funktioniert folgendermaßen: Widersprüche des Buches

4

historische Mängel und Schwächen Bild im Spiegel

Die hier aufgeführten Begriffe müssen bestimmt werden; es muß ermittelt werden, um welche Widersprüche es sich handelt. Die Bestimmung der realen Widersprüche einer historischen Epoche wirft andere Probleme auf, die hier nicht erörtert werden können. Welches aber sind nun die Widersprüche im Werk Tolstois, und in welcher Beziehung stehen diese zu den realhistorischen Widersprüchen? Lenin benutzt den ganzen dritten Abschnitt seines ersten Artikels, um die Widersprüche im Werk Tolstois einzeln aufzuführen. Dabei faßt er das Werk im weitesten Sinne auf: alles was Tolstoi t a t , also neben den literarischen Arbeiten auch die Tolstoische Doktrin, der Einfluß, den Tolstoi ausübte. 51 (1)

Genialer Künstler Protest

Gutsbesitzer unschuldiger Narr Enthaltung (in jeglicher Form)

(2)

Kritik Realismus

Gewaltlosigkeit Predigt

Der erste Widerspruch bezieht das Werk Tolstois, sofern es durch ästhetische Kriterien definiert ist, auf Tolstois reale Situation, sofern diese das erzählende S u b j e k t bestimmt (wer spricht). Das zweite Moment des Widerspruchs ist jedoch insofern schon in sich widersprüchlich, als es einen Konflikt zwischen der „natürlichen" Situation Tolstois (die durch G e b u r t 178

festgelegte Beziehung zur Geschichte) und seiner ideologischen Situation (die ihm ermöglicht, seine Beziehung zur Geschichte zu v e r s c h i e b e n ) voraussetzt. Eben dieser Konflikt ist konstitutiv für Tolstois literarische Produktion; denn Tolstoi hat keinen anderen Grund, seine Beziehung zur Geschichte zu verändern, als den, Schriftsteller zu werden; deshalb bleibt auch seine Predigt wesentlich Predigt durch Literatur. Der erste Widerspruch besteht also zwischen dem literarischen Produkt und den widersprüchlichen Bedingungen seiner Produktion. Der zweite Widerspruch - er bleibt immer der gleiche, auch wenn er drei unterschiedliche Formen annimmt - bestimmt den eigentlichen I n h a l t des Werkes. Der Widerspruch ergreift das Werk von innen wie von außen. Die Widersprüche sind „schreiend", d. h. derart offenkundig, daß das Werk sie nicht verbergen kann. Dennoch sind die Widersprüche nicht manifest. Das Tolstoische Werk spricht von ihnen, ohne sie zu benennen. Sie sind i m Werk, wenn auch inhaltlich nicht explizit thematisiert. Dargestellt werden lediglich e i n i g e reale Widersprüche, so z. B. der von Tolstoi aufgedeckte Widerspruch zwischen politischer Gewalt und der Farce der Rechtsprechung. Die Widersprüche strukturieren das gesamte Werk nach dem Muster einer fundamentalen Disparität. 52 Die Widersprüche determinieren das Tolstoische Werk, weil sie ihm zugleich seine Grenzen wie auch seine Bedeutung geben - seine Bedeutung ergibt sich aus eben diesen Grenzen. Grenzen meint, daß Tolstoi keine v o l l s t ä n d i g e K e n n t n i s vom historischen Prozeß haben konnte (und weil seine Kenntnis unvollständig ist, muß es sich um anderes als Erkenntnis handeln). Bedeutung meint, daß diese Grenzen notwendig sind, vorausgesetzt es stimmt, daß „Widersprüche [ . . . ] keine Zufälligkeiten" 53 sind. Die durch Grenzen definierte Bedeutung, dieser von außen determinierte Inhalt erlauben uns zu sagen, daß das Werk etwas a u s d r ü c k t , daß es durch seine Beziehung zu anderem als zu sich selbst definiert ist. In umgekehrter Form kommen wir auf etwas zurück, was wir bereits wußten: Das Werk kann eine ihm an sich nicht zugehörige Ideologie aufnehmen, sofern es diese Ideologie in einer Differenz(-beziehung) zu sich selbst hält. Nunmehr wird deut12»

179

lieh, daß das Werk nur dann existieren kann, wenn es dieses fremde Moment, das den Widerspruch in ihm hervorruft, in sich aufnimmt. Als „Ausdruck [ . . . ] widerspruchsvolle(r) Bedingungen" 54 muß das Werk demnach, unabhängig von seinem Realitätsanteil (Realität teilt sich in eine Vielzahl unterschiedlicher, zumindest analysierbarer Bestandteile), die Gesamtheit der Widersprüche „widerspiegeln", durch die die historische Situation als Mangel definiert ist. Diese Gesamtheit ist weder mit dem einen oder anderen Teilwiderspruch (beispielsweise mit einem von Tolstoi direkt thematisierten) noch mit einem einfachen, allgemeinen Widerspruch identisch, der aus dem Produkt aller anderen Widersprüche resultieren würde. Privileg des literarischen Werkes ist also, auf seine Weise eine v o l l s t ä n d i g e S i c h t der historischen Komplexität zu geben, dabei ist der Standpunkt des Werkes durchgängig signifikant. Im Vorhergehenden hatten wir festgestellt, daß das Werk durch genau das, was ihm fehlt, zu bestimmen sei, d. h. durch seine Unvollständigkeit. Nun sagen wir, das Werk sei vollständig, es habe seinen Sinn in sich selbst. Diese beiden Fragestellungen heben sich nicht auf, vielmehr ergänzen sie einander. Das Werk ist nicht im Verhältnis zu einem anderen Werk mangelhaft, wo etwa die Mängel behoben, Unzureichendes korrigiert wären. Gerade die Leerstellen sind es, die das Werk, ohne es zu reduzieren, so existieren lassen, daß es nicht durch anderes zu ersetzen ist. Der Spiegel ist ebenso Ausdruck durch das, was er nicht widerspiegelt, wie durch das, was er widerspiegelt. Eigentlicher Gegenstand der Kritik ist demnach die Abwesenheit bestimmter Abbilder bzw. des Ausdrucks. In gewisser Hinsicht erweist sich der Spiegel als blind: Aber er ist auch Spiegel der Blindheit. Auf Grund dieser seiner widersprüchlichen Produktionsbedingungen ist das Werk Widerspiegelung und fehlende Widerspiegelung z u g l e i c h . Auf Grund dieser - entscheidenden Konstellation ist das Werk selbst widersprüchlich. Es ist demnach falsch, die Widersprüche im Werk als W i d e r s p i e g e1 u n g historischer Widersprüche anzusehen, sie sind vielmehr Folge fehlender Widerspiegelung. Abermals wird deutlich, daß es zwischen dem Objekt und seinem „Abbild" keinerlei mechanische Entsprechung geben kann. „Ausdruck" ist niemals un180

mittelbare Reproduktion der Realität (ebensowenig: Erkenntnis), sondern eine auf Grund der Leerstellen der Reproduktion indirekte Gestaltung. Das Werk trägt somit, ohne daß es einer Vervollständigung bedarf, seinen Sinn in sich selbst. Dieser Sinn ergibt sich aus der Anordnung von Teilwiderspiegelungen im Innern des Werkes wie aus einem bestimmten Unvermögen widerzuspiegeln. Das sichtbar zu machen, ist Aufgabe der Literaturkritik. Der Begriff „Ausdruck" ist dadurch, daß er die Bestimmung der Gesamtstruktur des Werkes als auf Abwesenheit beruhender Entgegensetzung erlaubt, eindeutiger als der der Widerspiegelung. Der Widerspruch bzw. Mangel f ü l l t das Werk Tolstois, gibt ihm seine allgemeine Form. Die Dialektik i n d e r L i t e r a t u r - es sei an Brechts „Dialektik auf dem Theater" erinnert - entsteht aus der dialektischen Beziehung zwischen Literatur und realer Dialektik (dem Geschichtsprozeß). Die im Werk erscheinende Auseinandersetzung (Entgegensetzung, Konflikt) ist selbst eines der Momente historischer Auseinandersetzung. Die Widersprüche im Buch können deshalb nicht mit den Widersprüchen der Realität identisch sein. Vielmehr sind sie deren Produkt; Ergebnis eines dialektischen Verarbeitungsprozesses, der sich literaturspezifischer Mittel bedient. Tolstoi ist I n t e r p r e t historischer Widersprüche. Interpret ist derjenige, der im Zentrum einer Wechselbeziehung steht: Über sein Werk stellt uns Tolstoi die Geschichte selbst zur Verfügung; das verlangt jedoch von ihm, daß er sich in die historische Auseinandersetzung einläßt (bzw. in sie eingelassen wird, was dasselbe ist). Derart ins Zentrum gesellschaftlicher Beziehungen gestellt, erkundet Tolstoi die Wege einer bisher noch unbekannten, neuen Ordnung. Ungeklärt ist noch, wie diese „Interpretation" verfährt, d. h. wir müssen die dialektischen Momente im Werk ausfindig machen. Was produziert die Widersprüche im Werk Tolstois? Diese Frage hat mehrere Antworten: aus der Ideologie (als eine Art Enklave im Werk) und ihrer Beziehung zum Werk (durch seine Beziehung zur Literatur definiert); aus den Fragen, die die Realität aufwirft, und den idealiter gegebenen Antworten; aus den realen Gegebenheiten und der sie rekonstituierenden Beobachtung. Die Vielzahl der Antworten ist jedoch para181

doxerweise auf eine einzige zurückzuführen: Wann immer Lenin die Widersprüche im Werk Tolstois benennt, handelt es sich ausnahmslos um Widersprüche in dessen Ideologie. „ D i e Widersprüche in Tolstois Anschauungen [sind] ein wirkliches Spiegelbild jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen die Bauernschaft in unserer Revolution ihre historische Tätigkeit aufnahm." 5 5 Indem das literarische Werk einen ideologischen Inhalt in sich aufnimmt, präsentiert es zugleich dessen Widerspruch. Der ideologische Inhalt existiert nur verhüllt, nämlich in Form eines Protestes. Somit wird deutlich, daß es gleichzeitig Widersprüche in den „Anschauungen" Tolstois gibt, wie auch Widersprüche zwischen den Anschauungen und dem Buch, das diese präsentiert. E s erübrigt sich, auf die Widersprüche in den Anschauungen Tolstois näher einzugehen, da diese einfach zu erfassen sind. Im wesentlichen handelt es sich um Zusammenhang und Gegensatz von vehementem Protest und einer Haltung des Verzichts, um das Tolstoianertum in seiner Zerrissenheit zwischen Anklage und Teilnahmslosigkeit. Wir wissen, daß diese Zwiespältigkeit nicht eine Eigenart Tolstois, vielmehr das Verhalten von Millionen von Menschen, das der Bauermassen kennzeichnet, „daß Tolstoi auf dem Standpunkt des patriarchalischen, naiven Bauern steht, daß Tolstoi dessen Denkart in seine Kritik, in seine Lehre hineinnimmt. Tolstois Kritik zeichnet sich durch eine solche K r a f t des Gefühls aus, durch solche Leidenschaftlichkeit, Überzeugungskraft, Frische, A u f richtigkeit, Furchtlosigkeit in dem Streben, ,bis zum Kern vorzudringen', in dem Streben, die wahre Ursache für die Not der Massen zu finden, weil diese Kritik wirklich den Umschwung in den Massen von Millionen Bauern widerspiegelt, die eben erst aus der Leibeigenschaft zur Freiheit gelangt sind und erkannt haben, daß diese Freiheit neue Schrecken des Ruins, des Hungertods, des obdachlosen Lebens unter .gerissenen' Städtern usw. bedeutet. Tolstoi gibt ihre Stimmung so getreu wider, daß er ihre Naivität, ihre Fremdheit gegenüber der Politik, ihren Mystizismus, den Wunsch, der Welt den Rücken zu kehren, den ,Ver2icht auf Widerstand gegen das Böse', ihre ohnmächtigen Flüche gegen den Kapitalismus und gegen die .Macht des Geldes' selbst in seine Lehre hinein182

nimmt. Der Protest von Millionen Bauern und ihre Verzweiflung - das ist in Tolstois Lehre zusammengeflossen." 56 Der Spiegel reflektiert also Stück für Stück die Elemente des Bewußtseins der Bauern. In diesem Abbild erscheinen die Elemente als widersprüchliche. Bleibt noch zu klären, in welchem Sinne und unter welchen Bedingungen von ideologischen Widersprüchen gesprochen werden kann. Bei dem Versuch, Charakter der Ideologie im allgemeinen zu erfassen 57 , wird sehr bald deutlich, daß nur dann ideologische Widersprüche sichtbar werden, wenn Ideologie in Widerspruch zu sich selbst gebracht, wenn der W i d e r s p r u c h i n s i e h i n e i n g e t r a g e n w i r d - im Rahmen eines gleichfalls ideologisch bestimmten Dialogs. Ideologie weiß per definitionem auf eine Widerspruchssituation zu antworten, dazu ist sie da. Ihre Aufgabe ist es, jede Spur von Widerspruch zu verwischen. Ideologie scheitert erst an den Fragen der Wirklichkeit. Entscheidend ist, daß sie diese nicht verstehen kann; anders gesagt: Ideologie ist nicht in der Lage, Fragen der Wirklichkeit in ihre eigene Sprache zu übersetzen. Weil Ideologie die falsche Lösung eines wirklichen Konflikts ist, entspricht sie a l s A n t w o r t immer nur sich selbst. Wesentliches Kennzeichen ist, daß sie niemals auf wirkliche Fragen antworten kann. Ideologie ist nur dann vollkommen, wenn es ihr gelingt, ihre Schwäche unangefochten aufrechtzuerhalten. So hat sie zugleich auch immer eine schwache Stelle, die sie, von einer fundamentalen Gefahr bedroht, niemals selbst sehen kann: den R e a l i t ä t s v e r l u s t . Eine Ideologie ist nur insoweit sich selbst treu, als sie sich nicht der Frage stellt, die ihr gleichermaßen als Begründung wie als Vorwand dient: Niemals sich in ihren wirklichen Grenzen erkennen zu können, ist kennzeichnende Schwäche der Ideologie. Ihre Grenzen erfährt sie allenfalls von anderer Seite, durch radikale Kritik, nicht aber durch oberflächliche Denunzierung ihrer Inhalte; d. h., Ideologiekritik muß durch K r i t i k d e s I d e o l o g i s c h e n ersetzt werden. Ideologie ist also weniger entfremdet bzw. widersprüchlich als vielmehr gefangen. Was aber hält sie gefangen? Es wäre ein Rückfall in Illusionen, wäre der falsche Widerspruch, wenn man antwortete, sie sei Gefangene ihrer selbst. Ideologie ist 183

vielmehr Gefangene ihrer Grenzen, was weder dasselbe noch evident ist. Ihre Schwäche ist es, eingeschlossen zu sein, sich aber dennoch unbegrenzt, d. h. zu allem eine Antwort wissend auszugeben. Darum kann Ideologie kein System bilden, das Voraussetzung für einen Widerspruch wäre (Widersprüche kann es nur im I n n e r n eines strukturierten Systems geben, ansonsten gibt es nur Gegensätze). Weil sie ihre Grenzen nicht gesetzt hat, weil sie unfähig ist, die Begrenztheit ihrer Grenzen zu reflektieren, ist Ideologie falsche Totalität. Diese Grenzen sind ihr a u f e r l e g t , doch existiert Ideologie nur, um diese grundlegende Bedingung vergessen zu machen. Diese ihr auferlegten Grenzen sind latent, gleichwohl fortwährend vorhanden und verursachen das Mißverhältnis, das jede Ideologie strukturiert: ihre explizite Offenheit angesichts ihrer impliziten Abgeschlossenheit. So wird der ideologische Hintergrund, der den ideologischen Ausdrucksformen und Manifestationen ihren realen Rückhalt verleiht, stets verschwiegen, er bleibt sozusagen unbewußt. Festzuhalten ist: Dieses Unbewußte ist nicht schweigende E r kenntnis, sondern völliges Verkennen seiner selbst. Schweigt das Unbewußte, dann dort, wo es nichts zu sagen hat. D e r Ausdruck „ideologischer Hintergrund" muß deshalb in seiner ganzen Zweideutigkeit gesehen werden. E r verweist auf den unversiegbaren ideologischen Horizont, der nur deshalb Bestand hat, weil unaufhörlich von ihm berichtet wird. E r verweist aber auch auf die Leere, auf der das Ideologische gründet, von der es seinen Status erhält. Wie ein Kosmos, der um eine große, abwesende Sonne konstruiert ist, besteht Ideologie aus dem, was sie unerwähnt läßt. Sie existiert nur, weil es Dinge gibt, über die nicht gesprochen werden darf. In genau diesem Sinne kann Lenin sagen, daß d a s S c h w e i g e n T o l s t o i s e i n b e r e d t e s S c h w e i g e n sei. Nur wer eine Ideologie befragt, wer sie einem V e r h ö r unterzieht, erfährt die Existenz ihrer Grenzen, weil er dabei auf sie wie auf ein unüberwindliches Hindernis stößt. D i e Grenzen bestehen, ohne daß man sie zum Sprechen bringen kann. Zu wissen, was Ideologie sagen will, ihren S i n n a u s z u s p r e c h e n , setzt voraus, aus der Ideologie herauszutreten. Im Bemühen, Formlosem Form zu geben, muß Ideologie

184

von außen angegriffen werden; was nicht heißt, Ideologie zu beschreiben. Denn nicht in ihren Antworten wird man Zeichen von Schwäche finden, da es den Antworten immer gelingen wird, in sich stimmige Zusammenhänge herzustellen. Zeichen der Schwäche sind vielmehr die Fragen, die unbeantwortet bleiben. Lenins Feststellung, daß die Ideen Tolstois „Spiegel der Schwäche, der Mängel" 58 seien, besagt, daß der Status des Abbilds im Spiegel kein rein ideologischer ist. Zwischen der Ideologie und dem Werk, das diese zum Ausdruck bringt, hat sich etwas ereignet: Die Distanz zwischen beiden beruht nicht auf reiner Entsprechung. Ideologie klingt in sich selbst immer voll, immer schlüssig. Durch ihre Präsenz im Roman jedoch beginnt Ideologie über i h r e L e e r s t e l l e n zu reden. So wie sie sichtbare Form annimmt, wird sie auch bestimmbar. Das literarische Werk ermöglicht, den Bereich spontaner Ideologie zu verlassen, aus dem falschen Selbstbewußtsein von Geschichte und Zeit herauszutreten. Literatur vermittelt ein bestimmtes Bild von dieser Ideologie: Sie gibt ihr die sonst f e h l e n d e n K o n t u r e n , d. h. Literatur gestaltet Ideologie. Derweise trifft Literatur implizit auf Ideologie wie auf ein Objekt, statt sie in der Intimität eines Bewußtseins von innen her zu beleben. Literatur erforscht Ideologie (so wie Balzac das Paris der Menschlichen Komödie), überprüft sie durch das geschriebene Wort, mit diesem lauernden Blick, in dem sich jegliche Subjektivität v e r f ä n g t und in der Objektivierung der Situation kristalisiert. Spontane Ideologie (nicht daß sie spontan entsteht, vielmehr glauben die Menschen, spontan zur Ideologie zu gelangen), in der befangen die Menschen leben, ist nicht im Spiegel der Literatur unmittelbar abgebildet. Durch den Spiegel ist Ideologie in dem Maße gebrochen, verzerrt und dadurch sich selbst gegenübergestellt, wie die literarische Gestaltung ihr einen anderen Status verschafft als den des bloßen Bewußtseins. Kunst, zumindest Literatur, ihre Besonderheit, naive Anschauungen der Welt auszuschließen, machen Mythos und Illusion zu s i c h t b a r e n O b j e k t e n . Das Werk Tolstois ist in einer unergiebigen Sozialkritik befangen. Jedoch steht hinter dieser zwar edlen, doch ergebnislosen Absicht eine historische Frage, die im Werk einen bevor185

zugten Platz einnimmt. Demnach ist also das Werk Tolstois durch sein Verhältnis zur Ideologie determiniert. Dieses Verhältnis kann aber niemals ein analoges sein, wie beispielsweise bei einer Reproduktion: Es ist immer ein mehr oder weniger widersprüchliches Verhältnis. Denn wie ein künstlerisches Werk sich von einer Ideologie her konstituiert, konstituiert es sich auch gegen sie. Es trägt dazu bei, Ideologie implizit zu denunzieren, zumindest aber deren Grenzen abzustecken. Darum sind auch jegliche Versuche der „Entmystifizierung" literarischer Werke absurd, denn ein solches Vorgehen ist bereits das Spezifische der Literaturproduktion selbst. Doch wäre es falsch anzunehmen, daß Literatur einen Dialog mit der Ideologie aufnehme; eben das hieße, aufs schlimmste auf ihr Spiel hereinfallen. Die Funktion von Literatur ist vielmehr, Ideologie in nichtideologischer Form zu präsentieren. Nimmt man die klassische Unterscheidung von Form und Inhalt zuhilfe (was nicht für deren allgemeine Verwendung sprechen soll), so kann man sagen, daß das Werk einen ideologischen Inhalt hat, diesem Inhalt aber eine spezifische Form gibt. Auch wenn diese Form selbst ideologisch ist, findet durch die Fähigkeit zu solcher V e r d o p p e l u n g innerhalb der Ideologie eine Verschiebung statt. Ideologie reflektiert nicht üb^r sich selbst, vielmehr wird durch den Spiegeleffekt in sie ein aufschlußreicher Mangel hineingetragen, der Differenzen, Unstimmigkeiten bzw. eine kennzeichnende Disparität deutlich macht. So kann auch der Abstand bestimmt werden, der das Kunstwerk vom wirklichen Wissen (d. h. wissenschaftlicher Erkenntnis) trennt, der gleichwohl beide jedoch in ihrem gemeinsamen Abstand zur Ideologie einander nähert. Wissenschaft vernichtet Ideologie, löst diese auf; das literarische Werk weist Ideologie zurück, indem es sich ihrer bedient. Wenn Ideologie als eine nicht-systematische Gesamtheit von Bedeutungen aufgefaßt werden kann, dann schlägt das Werk e i n e m ö g l i c h e L e k t ü r e dieser Bedeutungen vor, indem es sie als Zeichen anordnet. Aufgabe der Kritik ist es, uns diese Zeichen lesen zu lehren. Übersetzt von Johanna Wördemann

186

7. Louis Althusser

Das „Piccolo", Bertolazzi und Brecht. Bemerkungen über materialistisches Theater

Ich will hier der außergewöhnlichen Vorstellung des Mailänder „Piccolo Teatro" vom Juli 1962 im Theater der Nationen zu ihrem Recht verhelfen. Dies zum einen, weil das aufgeführte Stück Bertolazzis, El Nost Milan, von der Pariser Kritik mit Ablehnung oder Nachsicht 1 bedacht wurde und dadurch nicht das Publikum erreichte, das es verdiente; zum andern, weil Strehlers2 Auswahl des Stücks und seine Inszenierung sich weit vom unterhaltsamen Zurschaustellen alter Geschichten entfernen und uns zum Kern der Probleme moderner Dramaturgie führen. Man wird mir verzeihen, wenn ich für das Verständnis des Folgenden das Stück Bertolazzis3 kurz nacherzähle. Der erste der drei Akte spielt im Mailänder Tivoli der neunziger Jahre: ein populärer, schäbiger Lunapark im dichten Nebel eines Herbstabends. Schon dieser Nebel weist auf ein anderes Italien als das unserer Mythen. Und das Volk, das nach Tagesablauf zwischen den Buden, den Kartenlegerinnen, dem Zirkus und all den Attraktionen des Jahrmarkts umherzieht: Arbeitslose, Kleinhandwerker, Gelegenheitsbettler, ihre Zukunft erbettelnde Mädchen, alte Männer und Frauen, die auf ein paar Groschen lauern, beschwipste Soldaten, Taschendiebe auf der Flucht vor den Polizisten - dieses Volk ist ebenfalls nicht mehr das Volk unserer Mythen, sondern ein Lumpenproletariat, das sich die Zeit vor dem Abendbrot (das nicht alle haben) schlecht und recht vertreibt. Mehr als dreißig Personen kommen und gehen in diesem leeren Raum. Sie erwarten etwas, man weiß nicht was; warten darauf, daß womöglich etwas beginnt. Etwa das Schauspiel? Nein, denn sie werden vor den Türen bleiben. Sie erwarten, daß überhaupt etwas beginnt in ihrem ereignislosen 187

Leben. Sie warten. Doch am Ende des Aktes schimmert kurz das Gerüst einer „Geschichte" auf, die Figur eines Schicksals. Ein junges Mädchen, Nina, betrachtet völlig hingegeben und vom Zirkuslicht verklärt, durch einen Riß in der Zeltwand den Clown, der seine halsbrecherische Nummer vorführt. Es ist Nacht geworden. Für eine Sekunde steht die Zeit still. Schon liegt Togasso, der üble Bursche, auf der Lauer, um Nina zu packen. Kurze Herausforderung, Zurückweichen, Abgang. Ein alter Mann ist da, ein „Feuerschlucker": der Vater, der alles gesehen hat. Es hat sich etwas verknüpft, das ein Drama werden könnte. Ein Drama? Im zweiten Akt ist es schon wieder vergessen. Es ist hellichter Tag im riesigen Saal einer Volksküche. Hier wieder eine Menge kleiner Leute, das gleiche Volk, aber andere Personen; die gleichen Berufe des Elends und der Arbeitslosigkeit, Trümmer der Vergangenheit, Dramen, Gelächter der Gegenwart: Kleinhandwerker, Bettler, ein Kutscher, ein GaribaldiVeteran, Frauen usw. Dazu noch Arbeiter, die die Fabrik bauen und sich von jenem Lumpenproletariat unterscheiden: Sie sprechen schon von Industrie, von Politik und beinahe - aber selten und noch unbeholfen - von der Zukunft. Dies ist die Kehrseite von Mailand, zwanzig Jahre nach der Eroberung Roms und dem Prunk des Risorgimento: König und Papst auf ihrem Thron, das Volk im Elend. Ja, der Tag des zweiten Akts ist eigentlich die Wahrheit der Nacht des ersten: Dieses Volk hat keine Geschichte mehr, weder im Leben noch in seinen Träumen. Es überlebt, das ist alles: es ißt (nur die Arbeiter gehen weg, als die Sirene ertönt), ißt und wartet. Ein Leben, in dem sich nichts ereignet. Plötzlich, am Ende des Akts, kehrt ohne ersichtlichen Grund Nina wieder auf die Bühne zurück und mit ihr das Drama. Wir wissen inzwischen, der Clown ist tot. Die Männer und Frauen verschwinden nach und nach. Togasso taucht auf. Er zwingt das Mädchen, ihn zu küssen, ihm die Münzen zu geben, die es besitzt. Wenige Gesten - der Vater kommt unvermutet hinzu. (Nina sitzt weinend am Ende des langen Tisches.) Er ißt nicht, sondern trinkt. Er wird Togasso nach einem wilden Kampf niederstechen, dann verstört und von seiner Tat überwältigt fliehen. Nach langem Auf-derStelle-Treten hier also wieder ein kurzes Aufleuchten. 188

Der dritte Akt zeigt das Nachtasyl der Frauen am frühen Morgen. D i e Alten sitzen da, mit der Mauer verwachsen, sprechen und schweigen. Eine dicke, vor Gesundheit strotzende Bäuerin wird gewiß in ihr Dorf zurückkehren. Frauen ziehen vorüber, wir kennen sie nicht, immer noch die gleichen. Die Hausherrin wird, wenn die Glocken läuten, ihre Leute in die Messe führen. D a taucht auf leerer Bühne plötzlich das D r a m a wieder auf. Nina hat im Asyl geschlafen. Ihr Vater besucht sie zum letzten Mal, bevor er ins Gefängnis muß: Sie soll wenigstens wissen, daß er ihretwegen getötet hat, ihrer Ehre willen. Aber plötzlich kehrt sich alles um: Nina wendet sich gegen ihren Vater, gegen die Illusionen und Lügen, mit denen er sie aufzog, gegen die Mythen, an denen er zugrunde gehen wird. Denn sie wird sich retten, und zwar, weil es nicht anders geht, ganz allein. Sie wird diese Welt verlassen, die nur Nacht und Elend ist, und in die andere eintreten, wo das Vergnügen und das Gold herrschen. Togasso hatte recht. Sie wird den geforderten Preis zahlen, sich verkaufen, aber sie wird auf der anderen Seite sein, auf der Seite der Freiheit und der Wahrheit. D a ertönen Sirenen. Der Vater, der nur noch ein gebrochener Körper ist, hat sie geküßt und ist abgetreten. D i e Sirenen tönen immer noch, als Nina aufrecht in den T a g hinausgeht. So lassen sich in ein paar Worten Themen und Szenenfolge dieses Stückes zusammenfassen. Unter dem Strich bleibt wenig und dennoch genug, um Mißverständnisse zu erzeugen, genug aber auch, um sie zu zerstreuen, um unter ihrer Oberfläche eine erstaunliche Tiefe zu entdecken. Ein erstes Mißverständnis liegt naturgemäß im Vorwurf der „melodramatischen Elendsdichtung". Um sich davon freizumachen, genügt es, die Aufführung „erlebt" zu haben oder über ihre Ökonomie nachzudenken. Denn falls das Stück melodramatische Elemente enthält, so ist es doch als ganzes gerade deren Kritik. In Wirklichkeit ist es der Vater, der die Geschichte seiner Tochter und damit nicht nur deren Abenteuer, sondern vor allem sein eigenes Leben im Verhältnis zur Tochter melodramatisch erlebt. E r hat für sie die Fiktion imaginärer Verhältnisse erfunden und sie in Gefühlsillusionen erzogen. Verzweifelt versucht er, jenen Illusionen Gestalt und Sinn zu

189

verleihen, mit denen er seine Tochter aufgezogen hat: als er sie von jedem Kontakt mit der Welt, die er ihr verheimlichte, fernhalten will und aus Verzweiflung darüber, daß sie ihn nicht versteht, den tötet, von dem das Übel kommt - Togasso. Er erlebt also tatsächlich und heftig die Mythen, die er geschmiedet hat, um seiner Tochter das Gesetz dieser Welt zu ersparen. Der Vater ist daher die Personifizierung des Melodramas selbst, das „Gesetz des Gefühls", das sich im „Gesetz der Welt" täuscht. Gerade dieses absichtliche Nichtbewußtwerden weist Nina von sich. Sie macht ihre eigene reale Erfahrung der Welt. Mit dem Clown sind ihre Jugendträume gestorben. Togasso hat ihr die Augen geöffnet, indem er die Kindheitsmythen und die Mythen des Vaters auf einmal hinwegfegte. Seine Gewalttätigkeit befreite sie von Worten und Pflichten. Sie sah schließlich diese nackte und grausame Welt, in der die Moral nur Lüge ist; sie begriff, daß ihre Rettung in ihren eigenen Händen lag und daß sie nur in die andere Welt gelangen konnte, indem sie ihr einziges Gut, über das sie ganz verfügte, zu Geld machte: die Jugend ihres Körpers. Die große Auseinandersetzung am Ende des dritten Akts ist mehr als eine Auseinandersetzung zwischen Nina und ihrem Vater: Es ist die Auseinandersetzung zwischen der Welt ohne Illusionen und den elenden Illusionen des „Gefühls", die Auseinandersetzung zwischen der realen Welt und der melodramatischen; ein konfliktreiches Bewußtwerden, das gerade jene melodramatischen Mythen vernichtet, die man Bertolazzi und Strehler vorgeworfen hat. Wer sich jenes Vorwurfs erinnerte, konnte im Stück selbst den Prozeß entdecken, den man ihm im Parkett machen wollte. Aber ein zweiter, triftigerer Grund beseitigte dieses Mißverständnis. Ich denke, ihn im Bericht über die „Präsentation" des Stücks angedeutet zu haben, als ich auf den besonderen Rhythmus seiner „Zeit" hinwies. Wir haben hier tatsächlich ein durch seine innere Dissoziation eigentümliches Stück vor uns. Es ist auffallend, daß die drei Akte dieselbe Struktur besitzen und beinahe denselben Inhalt: das Nebeneinander einer leeren Zeit, die breit und langsam erlebt wird, und einer erfüllten, blitzartig kurzen Zeit; das Nebeneinander eines Raumes, der von einer Vielzahl von Figuren 190

in wechselseitigen, zufälligen oder episodenhaften Beziehungen bevölkert wird, - und eines eng begrenzten Raumes, in dem sich ein tödlicher Konflikt abspielt und der von drei Figuren beherrscht wird: dem Vater, der Tochter, Togasso. Mit anderen Worten, wir haben hier ein Stück, in dem über vierzig Personen auftreten, aber dessen Drama kaum drei Personen beschäftigt. Mehr noch, zwischen den beiden Zeiten oder Räumen besteht keine e x p l i z i t e Beziehung. Die Figuren der [leeren] Zeit bleiben gleichsam Fremde gegenüber den blitzartig auftretenden Figuren: Sie überlassen diesen ständig das Feld (als ob das kurze Gewitter des Dramas sie von der Bühne vertrieben hätte!), um im nächsten Akt, sobald dieses ihrem Rhythmus äußerliche Moment verschwunden ist, unter anderen Gesichtern wieder aufzutreten. Erst wenn der latente Sinn dieser Dissoziation ausgelotet wird, gelangt man zum Kern des Stückes. Denn der Zuschauer erlebt wirklich dieses Vertiefen, wenn er zwischen dem ersten und dritten Akt aus seiner Verwirrung und Zurückhaltung über ein Staunen bis zur leidenschaftlichen Zustimmung gelangt. Ich möchte hier lediglich über diese erlebte Vertiefung nachdenken und nachdrücklich den latenten Sinn aussprechen, der den Zuschauer gegen seinen Willen bewegt. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann jene Dissoziation dermaßen vielsagend sein, und was drückt sie aus ? Wieso kann die Abwesenheit von Beziehungen eine latente Beziehung denkbar machen - eine latente Beziehung, die eben diese Abwesenheit begründet und rechtfertigt? Wie können jene beiden Zeitformen nebeneinander existieren, die offenbar einander äußerlich bleiben und doch durch eine gelebte Beziehung vereint sind? Die Antwort ist in diesem Paradox enthalten: Gerade diese Abwesenheit der Beziehungen macht die eigentliche Beziehung aus. Das Stück gelangt zu dem ihm eigenen Sinn gerade dadurch, daß es diese Abwesenheit von Beziehungen darstellt und zum Leben bringt. Kurzum, ich glaube nicht, daß wir es hier mit einem Melodrama nach dem Modell einer Chronik des Mailänder Volkslebens um 1890 zu tun haben. Es geht um melodramatisches Bewußtsein, das durch eine Existenz kritisiert wird, die Existenz des Mailänder Lumpenproletariats um 1890. Ohne diese Existenz wüßte man nicht, um welches melodrama191

tische Bewußtsein es sich handelt. Ohne diese Kritik des melodramatischen Bewußtseins würde man das latente Existenzdrama des Mailänder Lumpenproletariats, nämlich seine Ohnmacht, nicht begreifen. Was bedeutet eigentlich diese C h r o n i k der Elendsexistenz, die das Wesentliche der drei Akte ist? Warum ist die Zeit dieser Chronik eine Aneinanderreihung von völlig typisierten, völlig anonymen, auswechselbaren Wesen? Warum ist die Zeit der skizzierten Begegnungen, gewechselten Worte, abgebrochenen Streitigkeiten gerade eine leere Zeit? Warum neigt diese Zeit in ihrem Verlauf vom ersten zum zweiten und zum dritten Akt zur Stille und Unbeweglichkeit? (Im ersten Akt gibt es auf der Bühne noch den Anschein von Leben und Bewegung; im zweiten Akt sitzen sie alle, und einige schweigen schon; im dritten sind die alten Frauen Teil der Mauer.) Alles soll auf den tatsächlichen Inhalt dieser elenden Zeit hindeuten: eine Zeit, in der sich nichts ereignet, eine Zeit ohne Hoffnung und ohne Zukunft, eine Zeit, in der die Vergangenheit selbst in der Wiederholung erstarrt (der Garibaldi-Veteran), in der die Zukunft mühsam sich selbst sucht in dem politischen Gestammel der Maurer, die die Fabrik bauen; eine Zeit, in der die Gesten weder Zusammenhang noch Wirkung haben, in der sich alles in einigen Wortwechseln auf der Ebene des „alltäglichen Lebens" erschöpft, in abgebrochenen Diskussionen oder Streitigkeiten, die das Bewußtsein ihrer Vergeblichkeit wieder ins Nichts 4 zurückfallen läßt - kurzum, eine Zeit im Stillstand, in der sich noch nichts ereignet, was nach G e s c h i c h t e aussähe; eine leere und als leer ertragene Zeit: eben die Zeit dieser ihrer Lebensverhältnisse. Ich wüßte in dieser Hinsicht nichts so Meisterhaftes wie die Inszenierung des zweiten Akts, eben weil sie uns zu einer u n m i t t e l b a r e n W a h r n e h m u n g d i e s e r Z e i t verhilft. Im ersten Akt konnte man noch zweifeln, ob der konturierte Raum des Tivoli nicht bloß der Sorglosigkeit von Arbeitslosen und Müßiggängern überlassen wurde, die sich hier am Abend zwischen Trugbildern und faszinierenden Lichtern herumtreiben. Im zweiten Akt wird unzweifelhaft deutlich, daß der geschlossene und leere Kubus der Volksküche die Zeit der Lebensverhältnisse dieser Menschen darstellt. Am Fuß einer riesigen abgenutzten Mauer, begrenzt von einer unerreichbaren, 192

mit inzwischen halb verwischten und doch noch lesbaren Verbotssprüchen behafteten Decke, stehen parallel zur Rampe zwei unermeßlich lange Tische, der eine im Vordergrund, der andere weiter zurück; hinten, dicht an der Mauer, begrenzt eine waagerechte Eisenstange den Eingang zum Eßraum. Durch ihn kommen die Männer und Frauen. Weit rechts trennt eine hohe Mauer senkrecht zu den Tischreihen den Eßraum von den Küchen. Ferner zwei Schalter, einer für Alkohol, der andere für das Essen. Hinter der Wand die Küche, qualmende Töpfe und, in seiner Ruhe unerschütterlich, der Koch. Dieses unendlich nackte Feld der parallelen Tische, dieser unermeßliche Hintergrund der Mauer bilden einen Ort unerträglicher Strenge und Leere. Einige Männer sitzen hier und dort an den Tischen, sehen sich an oder kehren sich den Rücken zu. Und so wie sie sitzen, sprechen sie. In einem für sie zu großen Raum, den sie nie füllen können. Hier werden sie sich ihre höhnischen Worte zuwerfen; dabei können sie ebensogut von ihrem Platz aufstehen, zu irgendeinem Nachbarn gehen, der über Tische und Bänke hinweg gerade ein aufforderndes Wort gesagt hat - niemals werden sie Tische und Bänke abschaffen, durch die sie für immer, den unbeweglichen und stummen Vorschriften unterworfen, von sich selbst getrennt sind. Dieser Raum - er ist die Zeit ihres Lebens. Ein Mensch hier, einer dort. Strehler hat sie verteilt. Sie werden bleiben, wo sie sind. Sie essen, hören auf, essen wieder. Erst dann erhalten die Gesten ihren vollen Sinn. Zu Anfang der Szene sieht man einen Mann von vorn, das Gesicht kaum höher als der Teller, den er am liebsten mit beiden Händen hochheben würde. Man spürt die Zeit, die er braucht, um seinen Löffel zu füllen, ihn in einer überlangen Geste zum Mund zu führen und noch höher, um sicher zu sein, daß er nichts verliert; der Mund kontrolliert, endlich voll, seine Ration und schätzt sie ab, ehe er sie verschlingt. Nun merkt man, daß die anderen, die uns den Rücken zukehren, dieselben Gesten machen: Sie heben den Ellenbogen und halten so den Rücken in einem schiefen Gleichgewicht man sieht sie essen und abwesend bleiben wie alle Abwesenden, alle anderen, die in Mailand und in allen großen Städten der Welt die gleichen heiligen Gesten ausführen, weil das ihr gan13 Buramttci/Buck

193

zes Leben ist und nichts ihnen erlaubt, ihre Zeit anders zu leben. (Die einzigen, die einen hastigen Eindruck machen, sind die Maurer; die Sirene teilt ihr Leben und ihre Arbeit ein.) Mit solcher Eindringlichkeit bezüglich der Raumstruktur, der Verteilung von Örtlichkeiten sowie Menschen und der Dauer der elementaren Gesten ist meines Wissens noch nie die tiefe Beziehung von Menschen zu der von ihnen gelebten Zeit dargestellt worden. Nun ist das Wesentliche folgendes: Dieser zeitlichen Struktur der Chronik stellt sich eine andere zeitliche Struktur entgegen, die Struktur des Dramas. Denn die Zeit des Dramas (Nina) ist gefüllte Zeit: hier und da ein Erleuchten, verknüpfte Zeit, „dramatische" Zeit. Eine Zeit, in der sich Geschichte ereignen muß. Eine Zeit mit eigener unwiderstehlicher Triebkraft, die ihren Inhalt selbst produziert. Es ist eine schlechthin dialektische Zeit. Eine Zeit, die die andere Zeit und die Strukturen deren räumlicher Figuration abschafft. Nachdem die Männer den Eßraum verlassen haben und nur Nina, der Vater und Togasso darin zurückbleiben, ist plötzlich etwas verschwunden - als hätten die Tischgenossen die ganze Ausstattung mit sich genommen (genialer Einfall Stehlers: Er macht aus zwei Akten einen einzigen und läßt in ein und derselben Bühnenausstattung zwei verschiedene Akte spielen): sogar den Raum der Wände und Tische, die Logik und den Sinn dieser Örtlichkeiten - als werde mit dem Konflikt [der drei Figuren] jener sichtbare und leere Raum durch einen unsichtbaren und gedrängten Raum ersetzt, der nicht umkehrbar ist und nur eine einzige Dimension besitzt, die ihn zum Drama drängt, das heißt drängen sollte, wenn es ein Drama wirklich gäbe. Gerade diese Opposition [von „Chronik" und „Drama"] verleiht Bertolazzis Stück die Tiefe. Auf der einen Seite eine nichtdialektische Zeit, in der sich nichts ereignet, und die ohne eine Handlung oder Entwicklung bewirkende, innere Notwendigkeit bleibt; auf der anderen Seite eine dialektische Zeit (die des Konflikts), deren innerer Widerspruch sie ihr Werden und ihr Resultat produzieren läßt. Das Paradox in El Nost Milan besteht darin, daß die Dialektik sich sozusagen seitwärts - hinter der Szene - irgendwo in einer Ecke der Bühne und am Ende des Stücks abspielt: eine Dialektik, die 194

doch, wie es scheint, jedem Theaterstück unentbehrlich ist; wir piögen auf sie warten, den Figuren ist das gleich. Sie nimmt sich Zeit und erscheint erst am Ende, zunächst in der Nacht, wenn die Luft mit jenen berühmten Eulen schwanger geht, dann nach dem Mittagsläuten, wenn die Sonne sich senkt, und schließlich, wenn der Tag anbricht. Jene Dialektik kommt immer erst, wenn alle schon gegangen sind. Wie soll man die Verspätung dieser Dialektik verstehen? Verspätet sie sich, wie das Bewußtsein bei Hegel und Marx? Aber wie kann eine Dialektik sich verspäten? Nur unter der Bedingung, daß Dialektik eine andere Bezeichnung für Bewußtsein ist. Wenn die Dialektik in El Nost Milan sich hinter der Szene in irgendeiner Ecke der Bühne abspielt, dann nur, weil sie nichts anderes ist als die D i a l e k t i k d e s B e w u ß t s e i n s : die des Vaters und seines Melodramas. Deswegen ist ihre Zerstörung die Vorbedingung jeder realen Dialektik. Man erinnere sich hier an die Analysen, die Marx in Die heilige Familie den Figuren des Eugène Sue5 widmet. Die Triebkraft ihres dramatischen Verhaltens ist die Identifikation mit den Mythen der bürgerlichen Moral; jene Elenden erleben ihr Elend in den Denkformen des moralischen und religiösen Bewußtseins: in geliehenen Kostümen. Sie verkleiden damit ihre Probleme und die Verhältnisse, in denen sie leben. In dieser Hinsicht ist das Melodrama also ein äußerliches Bewußtsein, das die realen Verhältnisse überlagert. Die Dialektik des melodramatischen Bewußtseins ist nur unter der Bedingung möglich, daß dieses Bewußtsein dem Außen entliehen ist (der Welt der Alibis, der Sublimierung und der Lügen bürgerlicher Moral) und dennoch als das Bewußtsein bestimmter Lebensverhältnisse (des niederen Volks), die diesem Bewußtsein doch ganz und gar fremd sind, erlebt wird. Daraus folgt: Zwischen dem melodramatischen B e w u ß t s e i n einerseits und der E x i s t e n z der melodramatischen Figuren andererseits kann im Grunde k e i n W i d e r s p r u c h s v e r h ä l t n i s bestehen. Das melodramatische Bewußtsein steht nicht im Widerspruch zu Verhältnissen, in denen es gelebt wird : Es ist ein ganz anderes Bewußtsein, bestimmten Verhältnissen von außen her aufgezwungen und ohne dialektische Beziehung zu ihnen. Deswegen kann das melodramatische Bewußtsein sich nur unter 13*

195

der Voraussetzung für dialektisch halten, als es seine realen Bedingungen nicht kennt und sich in seinen Mythen verschanzt. Vor der Welt beschützt, entfesselt es nun alle phantastischen Formen eines atemberaubenden Konflikts, der den Frieden einer Katastrophe erst im Spektakel einer anderen findet: Es hält dieses Gepolter für Schicksal und sein Getöse für Dialektik. Eine solche Dialektik ist leer, weil sie nur die Dialektik des Leeren ist, für immer von der realen Welt getrennt. Dieses äußerliche Bewußtsein kann, weil es nicht im Widerspruch zu seinen Voraussetzungen steht, nicht durch sich selbst aus sich herauskommen, also n i c h t d u r c h s e i n e eigene „ D i a l e k t i k " . Es bedarf eines B r u c h s - und des Begreifens dieses Nichts, das heißt der Entdeckung des nichtdialektischen Charakters dieser Dialektik. Gerade das ist es aber, was man im El Nost Milan sieht und bei Sue nirgends findet. Die letzte Szene enthüllt endlich den Grund des Paradox im Stück und seiner Struktur. Wenn sich Nina gegen ihren Vater erhebt und ihn mit seinen Träumen in die Nacht schickt, so bricht sie gleichzeitig mit dem melodramatischen Bewußtsein ihres Vaters und seiner „Dialektik". Sie macht Schluß mit den Mythen und den Konflikten, die diese auslösen. Sie wirft alles über Bord - Vater, Bewußtsein, Dialektik - , sie überschreitet die Schwelle zur anderen Welt; wie zum Beweis, daß dort wirklich etwas geschieht, dort alles beginnt und immer schon begonnen hat, nicht nur das Elend dieser Welt, sondern auch die erbärmlichen Illusionen ihres eigenen Bewußtseins. Jene „Dialektik", die sich mit dem Raum hinter der Szene begnügen muß - am Rande einer Geschichte, die sie weder zu erfassen noch zu beherrschen vermag - stellt ganz genau die quasi nichtige Beziehung eines falschen Bewußtseins zur realen Situation dar. Diese „Dialektik" endlich von der Bühne vertrieben zu haben, besiegelt den Bruch, den die Realerfahrung erzwingt; diese Realerfahrung bleibt dem Inhalt des [falschen] Bewußtseins fremd. Wenn Nina durch die Tür schreitet, die sie vom Tag trennt, weiß sie immer noch nicht, was aus ihrem Leben wird, ob sie nicht vielleicht sogar verliert. Zumindest wissen wir aber, daß sie in die wirkliche Welt eintritt, die zweifelsohne die des Geldes ist, aber auch eine, die das Elend produziert und dem Elenden 196

sogar sein Bewußtsein des „Dramas" aufzwingt. Marx sagte nichts anderes, als er die falsche Dialektik des volkstümlichen Bewußtseins zurückwies, um zur Erfahrung und zum Studium der anderen Welt überzugehen: der des Kapitals. Hier wird man mir vielleicht Einhalt gebieten und entgegnen wollen, meine Reflexion zu diesem Stück übersteige die Intention des Autors und ließe Bertolazzi zukommen, was rechtmässig Stehler gehört. Aber dem halte ich entgegen, daß diese Bemerkung sinnlos ist; denn hier ist die latente Struktur des Stücks Diskussionsgegenstand und sonst nichts. Die ausdrücklichen Absichten Bertolazzis sind unwichtig. Was mehr zählt als die Worte, Figuren und die Handlung seines Stücks, ist die innere Beziehung der Grundelemente seiner Struktur. Mehr noch: Es ist unwichtig, ob Bertolazzi diese Struktur bewußt gewollt oder unbewußt produziert hat. Sie macht das Wesen seines Werkes aus. Sie allein läßt uns Strehlers Interpretation und die Reaktion des Publikums verstehen. Gerade weil Strehler sich der Implikationen dieser einzigartigen Struktur genau bewußt war 6 , weil seine Inszenierung und seine Regieanweisungen sich ihr unterworfen haben, ist das Publikum davon erschüttert. Die Emotion der Zuschauer erklärt sich nicht nur aus der Präsenz dieses genau geschilderten, volkstümlichen Lebens - weder durch das Elend dieses Volkes, das doch Tag für Tag lebt und überlebt, sein Schicksal erleidet, sich an ihm manchmal mit Lachen rächt, zuweilen auch mit Solidarität, meist aber mit Schweigen, noch durch das gewitterhafte Drama zwischen Nina, ihrem Vater und Togasso - , sondern wesentlich durch die unbewußte Wahrnehmung jener Struktur und ihres tiefen Sinns. Nirgends wird diese Struktur explizit gemacht, nirgends ist sie Gegenstand einer Rede oder einer Diskussion. Nirgends kann man sie direkt im Stück wahrnehmen, wie man irgendeine sichtbare Figur oder den Verlauf der Handlung wahrnehmen könnte. Trotzdem ist sie d a ; in der stummen Beziehung zwischen der Zeit des Volkes und der Zeit des „Dramas", in ihrem gegenseitigen Ungleichgewicht, in ihrer ständigen „Wechselbeziehung" und schließlich in ihrer wahren und enttäuschenden Kritik. Diese erschütternde latente Beziehung, diese anscheinend unbedeutende und doch entscheidende Spannung läßt Strehlers Inszenierung das Publikum wahrneh197

men, ohne daß er direkt die Präsenz dieser Struktur in Begriffe des klaren Bewußtseins überführen könnte. Ja, das Publikum applaudierte für etwas, das über es hinausreichte und vielleicht sogar über den Autor, das aber Strehler ihm gegeben hatte: einen vergrabenen Sinn, der tiefer liegt als die Worte und die Gesten, tiefer als das unmittelbare Schicksal der Figuren, die dieses Schicksal erleben, ohne es je reflektieren zu können. Nina selbst, die für uns Bruch und Beginn ist und zugleich das Versprechen einer anderen Welt und eines anderen Bewußtseins, weiß nicht, was sie tut. Hier kann wirklich mit gutem Recht gesagt werden, daß das Bewußtsein sich verspätet - denn obwohl immer noch blind, ist es ein Bewußtsein, das endlich einer realen Welt zustrebt. Wenn diese reflektierte „Erfahrung" richtig ist, kann sie auch andere Stücke erhellen, indem diese derart auf ihren Sinn befragt werden. Ich denke hier an die mit den großen Brechtschen Stücken aufgeworfenen Probleme, die mit dem Rekurs auf die Begriffe „Verfremdungseffekt" und „Episches Theater" in ihrem Prinzip doch wohl nicht gänzlich gelöst werden konnten. Mich hat besonders die Tatsache beeindruckt, daß die latente dissymmetrisch-kritische Struktur in Bertolazzis Stück - die Struktur der Dialektik hinter der Szene - im wesentlichen dieselbe ist, die wir in Stücken wie Mutter Courage und ganz besonders Galilei finden. Auch hier haben wir es mit Zeitformen zu tun, die sich nicht eine auf die andere zurückführen lassen, die untereinander beziehungslos bleiben, gleichzeitig existieren, sich kreuzen, aber sozusagen niemals zusammentreffen; es handelt sich um gelebte Ereignisse, die sich in einer begrenzten, abgehobenen Dialektik miteinander verknüpfen; um Werke, die durch eine innere Dissoziation, durch ein unauflösliches inneres Anderssein gekennzeichnet sind. Die Dynamik dieser eigenartigen latenten Struktur, insbesondere die Koexistenz einer dialektischen und einer undialektischen Zeit (ohne explizite Beziehung zueinander), ermöglicht es, an den Illusionen des Bewußtseins (das sich selbst stets für dialektisch hält) sowie an der falschen Dialektik (Konflikt, Drama usw.) eben durch die verwirrende Realität, auf der sie gründen und die auf ihr Begreifen wartet, wirkliche Kritik zu 198

üben. So wird in Mutter Courage der Krieg den persönlichen Katastrophen ihrer [d. i. der Courage] Verblendung, den falschen Zwängen ihres Begehrens entgegengehalten. So erscheint im Leben des Galilei jene Geschichte - die langsamer als das ungeduldige Bewußtsein des Wahren ist-als ebenso verwirrend für ein Bewußtsein, dem es in seiner kurzen Lebenszeit nie gelingt, sich dauerhaft zu „überwinden". Erst diese schweigende Konfrontation des Bewußtseins (das seine eigene Situation in dialektisch-dramatischer Weise erlebt und glaubt, die ganze Welt werde durch seine eigenen Kräfte bewegt) mit einer indifferenten Realität (die unter dem Blick dieser vermeintlichen Dialektik immer eine andere ist: anscheinend eine undialektische) ermöglicht die immanente Kritik der Bewußtseinsillusionen. Dabei ist es unwichtig, ob die Dinge g e s a g t werden (sie werden bei Brecht in Form von Gleichnissen und Songs gesagt) oder nicht: Nicht die Worte bewirken letzten Endes diese Kritik, sondern die bestehenden und nichtbestehenden Kräfteverhältnisse zwischen den Strukturelementen des Stücks. Wahre Kritik gibt es nämlich nur als immanente und, noch bevor sie bewußt wird, als reale und materielle. Daher frage ich mich, ob diese dissymmetrische, dezentrierte Struktur nicht jedem Versuch materialistischen Theaters als wesentlich zuerkannt werden sollte. Die weitere Analyse dieser Bedingung wird uns unschwer zu dem Prinzip Marxschen Denkens führen. Demnach kann niemals eine ideologische Bewußseinsform in sich selbst die Momente enthalten, die kraft eigener innerer Dialektik aus diesem Bewußtseinszustand herausführen könnten; demnach gibt es im strengen Sinne auch keine Dialektik des Bewußtseins, das heißt keine Dialektik des Bewußtseins, die kraft ihrer eigenen Widersprüche schließlich bei der Realität selbst ankommen würde. Kurzum, jede „Phänomenologie" im Hegeischen Sinne ist unmöglich, denn das Bewußtsein erreicht das Wirkliche nicht auf dem Wege innerer Entwicklung, sondern nur durch die radikale Aufdeckung des ihm Anderen. Brecht hat die Problematik des klassischen Theaters in eben dem Sinne umgewälzt, als er es ablehnte, Sinn und Implikationen eines Theaterstücks in der Form eines Selbstbewußtseins zu thematisieren. Hierunter verstehe ich, daß die Welt Brechts notwendigerweise jeden Anspruch von sich weisen muß, sich 199

ihrer selbst in der Form eines Selbstbewußtseins zu versichern und erschöpfend darzustellen, um im Zuschauer ein neues, wahres und aktives Bewußtsein zu produzieren. Das klassische Drama (auszuschließen wären Shakespeare und Molière, und man muß sich fragen, warum), dessen Verhältnisse und „Dialektik" sich im Spiegelbewußtsein einer zentralen Figur ungebrochen wiederfinden, - dieses Theater reflektierte also den gesamten Sinn eines Stückes in einem Bewußtsein, einem menschlichen Wesen, das spricht, handelt, meditiert, sich verändert: was für uns eben das Drama ausmacht. Es ist sicherlich kein Zufall, wenn diese Form der „klassischen" Ästhetik (zentrale Einheit eines dramatischen Bewußtseins, das die berühmten anderen „Einheiten" bestimmt) in enger Beziehung zu ihrem stofflichen Inhalt steht. Hier möchte ich darauf hinweisen, daß der Stoff oder die Themen des klassischen Theaters (Politik, Moral, Religion, Ehre, „Ruhm", „Leidenschaft" usw.) gerade ideologische Themen sind und daß sie dies bleiben, ohne daß jemals diese Art von Ideologie in Frage gestellt, also kritisiert wird. (Die „Leidenschaft" als Opposition zu „Pflicht" oder „Ruhm" ist nur ein ideologischer Kontrapunkt und niemals die tatsächliche Auflösung dieser Ideologie.) Was aber ist konkret diese nicht-kritisierte Ideologie anderes als jene „vertrauten", „wohlbekannten" und durchschaubaren Mythen, in denen sich eine Gesellschaft oder ein Jahrhundert wiedererkennt (und keineswegs: sich erkennt)? Als der Spiegel, in dem sie sich widerspiegelt, um sich wiederzuerkennen? Jener Spiegel, den man ihr zerschlagen müßte, damit sie sich erkennt? Was ist diese Ideologie einer Gesellschaft oder einer Zeit, wenn nicht das Selbstbewußtsein dieser Gesellschaft oder dieser Zeit, das heißt eine unmittelbar gegebene Materie, die spontan ihre Form in Gestalt des Selbstbewußtseins voraussetzt, sucht und naturgemäß findet, eines Selbstbewußtseins, das die Totalität seiner Welt in der Transparenz seiner eigenen Mythen erlebt? Ich will hier nicht die Frage stellen, warum diese Mythen (die Ideologie als solche) a l l g e m e i n in der klassischen Periode nicht in Frage gestellt wurden; mir genügt es, zusammenfassend sagen zu können: Eine jeder realen Selbstkritik bare Zeit (die weder über die Mittel noch über das Bedürfnis einer wirklichen Theorie der Politik, der Moral und der Religion verfügte) mußte

200

danach streben, sich in einem nicht-kritischen Theater darzustellen und sich selbst darin wiederzuerkennen; also in einem Theater, dessen (ideologischer) Stoff der formalen Bedingungen einer Ästhetik des Selbstbewußtseins bedurfte. Nun wendet sich Brecht gerade deswegen von den formalen Bedingungen ab, weil er schon mit ihren materiellen Voraussetzungen gebrochen hatte. Brecht will vor allem eine Kritik der spontanen Ideologie produzieren, in der die Menschen leben. Daher muß er notwendigerweise jene formalen Bedingungen der Ästhetik der [klassischen] Ideologie, wie sie das Selbstbewußtsein (und seine klassischen Ableitungen: die Regeln der Einheit) darstellt, aus seinem Werk ausschließen. Bei ihm (gemeint sind immer die großen Stücke) kann keine Person die Totalität der Bedingungen des Dramas durch Reflektieren in sich aufnehmen. Bei ihm ist das totale und transparente Selbstbewußtsein, Spiegel des gesamten Dramas, immer nur die Gestalt des ideologischen Bewußtseins, das die gesamte Welt in sich beschlossen hält; aber mit dem Unterschied, daß diese Welt dort nichts weiter ist als die Welt der Moral, der Politik und der Religion, kurzum eine Welt von Mythen und Drogen. In genau diesem Sinne sind seine Stücke d e z e n t r i e r t , weil sie kein Zentrum haben können und weil Brecht, vom naiven und illusionsbeladenen Bewußtsein ausgehend, es ablehnt, aus diesem das Zentrum der Welt zu machen, das es sein will. Darum liegt das Zentrum sozusagen seitwärts und ist in dem Maße, wie es sich um die Entmystifizierung des Selbstbewußtseins handelt, immer versetzt, immer außerhalb und in Bewegung, um die Illusion zum Wirklichen hin zu überschreiten. Hauptsächlich aus diesem Grund kann das kritische Verhältnis, das die reale Produktion ausmacht, für sich selbst nicht thematisiert werden; eben deshalb ist keine Person in sich selbst „die Moral der Geschichte", es sei denn, einer schreitet zur Rampe, schlüpft aus der Maske und zieht aus dem Stück, wenn es zu E n d e ist, „die Lehre". (Aber dann ist er lediglich Zuschauer, der von außen her überdenkt oder, besser gesagt, die Bewegung weiterführt: „Was könnt die Lösung sein? /Wir konnten keine finden [ . . . ] /. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß / [ . . . ] " ) Jetzt wird deutlich, warum es notwendig ist, von der Dynamik der latenten Struktur des Stücks zu sprechen: Weil sich das

201

Stück weder auf seine Schauspieler noch auf ihre ausdrücklichen Beziehungen reduzieren läßt, wohl aber auf das dynamische Verhältnis, das zwischen dem in der spontanen Ideologie entfremdeten Selbstbewußtsein (Mutter Courage, die Söhne, der Koch, der Priester usw.) und den realen Bedingungen seiner Existenz (Krieg, Gesellschaft) herrscht. Diese in sich abstrakte Beziehung (abstrakt hinsichtlich des Selbstbewußtseins der handelnden Personen - denn dieses Abstrakte ist das eigentlich Konkrete) kann in Personen, in ihren Gesten, Handlungen und ihrer „Geschichte" nur als eine Beziehung dargestellt werden, die diese alle einschließt wie über sie hinausgeht; das heißt als eine Beziehung, die diese abstrakten Strukturelemente (Beispiel: die verschiedenen Zeitformen in El Nost Milan, das Außerhalb-Stehen der Massen im Stück), ihr Ungleichgewicht und damit ihre Dynamik in Bewegung setzt. Diese Beziehung ist notwendigerweise latent, weil sie sich - soll das kritische Projekt insgesamt erhalten bleiben - nicht in einer „Person" erschöpfend thematisieren läßt. Gerade weil diese Beziehung jeder Handlung, der Existenz und den Gesten aller Personen inhärent bleibt, ist sie deren eigentlicher Sinn; sie liegt jenseits ihres Bewußtseins, bleibt ihnen selbst daher verborgen. Sichtbar für den Zuschauer ist diese Beziehung deshalb, weil sie für die Akteure unsichtbar bleibt. Und zwar sichtbar mittels einer Wahrnehmung, die nicht vorgegeben ist, die vielmehr erst gewonnen werden, gleichsam aus dem ursprünglichen Dunkel, das sie umgibt und dennoch produziert, hervorgeholt werden muß. Diese Bemerkungen erlauben womöglich das Problem des Verfremdungseffekts, das von der Brechtschen Theorie aufgeworfen wird, zu präzisieren. Brecht wollte eine neue Beziehung zwischen Publikum und Aufführung herstellen: eine kritische und aktive Beziehung. Er wollte mit den klassischen Formen der Identifikation brechen, die das Publikum dem Schicksal des „Helden" auslieferte, all seine Gefühlskräfte in eine theatralische Katharsis einbezog. Er wollte den Zuschauer in eine Distanz zur Aufführung versetzen, allerdings in eine Situation, die es ihm unmöglich machen sollte, dem Dargestellten zu entfliehen bzw. sich an ihm einfach nur zu erfreuen. Kurzum, er wollte aus dem Zuschauer einen Akteur machen, der das un202

vollendete Stück im realen Leben vollenden sollte. Diese Grundthese Brechts ist vielleicht zu oft in ihrer Abhängigkeit von den einzelnen technischen Elementen der Verfremdung interpretiert worden: Verbannung jeglicher „Effekte" im Spiel der Darsteller, aller Lyrismen, allen „Pathos" - zugunsten dès „Spiels im Spiel", Nüchternheit der Inszenierung, gleichsam um alle das Auge bestechenden Konturen auszulöschen (vgl. die Erd- und Aschenfarben in Mutter Courage) ; „fahles" Licht, Leinwandkommentare, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den äußeren Kontext der Verhältnisse (Realität) lenken sollen usw. Diese Auffassung hat gleichwohl psychologische Interpretationen ermöglicht, die das Phänomen der Identifikation und seine klassische Vorlage, den Helden, in den Mittelpunkt stellen. Man konnte das Verschwinden des (positiven oder negativen) Helden und Trägers der Identifikation gewissermaßen als Bedingung des Verfremdungseffektes selbst ausgeben (wenn kein Held, dann keine Identifikation mehr; schien doch die Abschaffung des Helden mit der „materialistischen" Anschauung Brechts verbunden: Es sind die Massen, die die Geschichte machen und nicht die „Helden"). Doch frage ich mich, ob diese Interpretation nicht an gewiß wichtige Begriffe, die aber nicht bestimmend sind, gebunden bleibt, und man nicht über diese technischen und psychologischen Bestimmungen hinausgehen muß, um zu begreifen, daß diese so eigentümliche kritische Beziehung Bestandteil des Zuschauerbewußtseins werden kann. Mit anderen Worten, um einen Abstand zwischen dem Zuschauer und dem Stück entstehen zu lassen, muß dieser Abstand irgendwie aus dem Innern des Stücks produziert werden, und zwar nicht nur aus seiner technischen Behandlung oder aus der Psychologie der Personen heraus (Sind es wirklich Helden oder NichtHelden? Ist in Mutter Courage das stumme Mädchen auf dem Dach, das durch einen Flintenschuß getötet wird, weil es, um die sorglose Stadt vor dem Angriff einer Armee zu warnen, seine höllische Trommel schlägt, nicht doch ein „positiver Held"? Findet nicht doch vorübergehend eine „Identifikation" mit dieser Bühnenfigur statt?). Im Innern des Stückes, in der Dynamik seiner inneren Struktur wird diese Distanz produziert und dargestellt, zugleich die Kritik an Bewußtseinsillusionen und deren Abgrenzung gegenüber ihren wirklichen Voraussetzungen. 203

Genau davon muß man ausgehen (die Dynamik der latenten Struktur erzeugt diese Distanz im Stück selbst), um die Beziehung zwischen Zuschauer und Aufführung zu problematisieren. Auch hier wälzt Brecht die etablierte Ordnung um. Im klassischen Theater konnte alles einfach erscheinen: Die Zeitform des Helden war die einzige Zeitform, alles übrige war dem Helden untergeordnet, seine Gegner selbst waren auf ihn zugeschnitten. Dies war notwendig, damit sie s e i n e Gegner sein konnten. Sie lebten s e i n e Zeit, s e i n e n Rhythmus, lebten in Abhängigkeit von ihm, waren lediglich seine Geschöpfe. Der Gegner war ganz s e i n Gegner: Im Konflikt war er dem Helden genauso zugehörig, wie dieser sich selbst, er war sein Doppelgänger, sein Spiegel, sein Gegenpart, seine Nacht, seine Versuchung, seine eigene, gegen sich selbst gewendete Unbewußtheit. Ja, sein Schicksal war genau, wie Hegel schrieb, das Bewußtsein seiner selbst als ein Feind. In dieser Hinsicht fiel der Inhalt des Konflikts mit dem Selbstbewußtsein des Helden zusammen. Und auf ganz natürliche Weise schien der Zuschauer das Stück zu „erleben", indem er sich mit dem Helden identifizierte, das heißt mit dessen eigener Zeit, dessen eigenem Bewußtsein - der einzigen Zeit und dem einzigen Bewußtsein, die ihm geboten wurden. In Bertolazzis Stück und in den großen Stücken Brechts wird diese Vermengung auf Grund deren dissoziierter Struktur unmöglich. Ich will nicht sagen, daß die Helden verschwunden sind, weil Brecht sie aus seinen Stücken verbannt hat; aber wie sehr sie auch im Stück selbst Held sind, das Stück macht sie unmöglich und zerstört sie, sie selbst und ihr Bewußtsein sowie die falsche Dialektik ihres Bewußtseins. Diese Auflösung ist nicht Auswirkung der Handlung allein oder etwa der Beweisführung, die gewisse populäre Bühnenfiguren (zum Thema „weder Gott noch Cäsar") anstrengen, sie ist auch nicht Resulut eines einzelnen Stückes, insofern seine Geschichte als nicht zu Ende geführt angesehen wird: Die Auflösung findet nicht auf der Ebene der Details oder der Kontinuität statt, sondern auf der tieferen Ebene der strukturellen Dynamik des Stücks. Es sei daran erinnert, daß hier bisher allein vom Stück die Rede war - jetzt geht es um das Bewußtsein des Zuschauers. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß es sich nicht, wie

204

man meinen könnte, um ein neues Problem handelt, sondern um eben ein und dasselbe Problem. Jedenfalls, um damit zu beginnen, sollte man sich zunächst in der Ablehnung zweier klassischer Modelle von Zuschauerbewußtsein einig sein, die die Überlegung beeinträchtigen. Das erste unselige Modell ist wiederum, aber diesmal auf seiten des Zuschauers, das Modell des Selbstbewußtseins. Selbstverständlich: Der Zuschauer identifiziert sich nicht mit dem „Helden"; man hält ihn auf Distanz. Aber bleibt e r nun nicht außerhalb des Stücks, ist er nicht der Urteilende, der abrechnet und die Schlüsse zieht? Man zeigt Euch die Mutter Courage: Ihre Sache ist das Spiel, Eure das Urteil. Auf der Bühne das Bild der Verblendung, im Parkett das der Klarheit, über zwei Stunden der Unbewußtheit zum Bewußtsein gebracht. Doch läuft diese Rollenverteilung darauf hinaus, daß dem Parkett zukommt, was die strenge Konzeption auf der Bühne untersagt. In Wahrheit ist der Z u s c h a u e r in keinem Fall dieses absolute Selbstbewußtsein, das das S t ü c k nicht dulden kann. Ebensowenig wie das Stück das „Jüngste Gericht" seiner eigenen „Geschichte" enthält, ist der Zuschauer oberster Richter des Stücks. Auch er sieht und erlebt das Stück in der Weise eines falschen Bewußtseins, das in Frage gestellt wird. Was ist er denn auch, wenn nicht der Bruder der Bühnenfiguren, befangen wie sie in den spontanen Mythen der Ideologie, in ihren Illusionen und ihren besonderen Formen? Wenn er vom Werk durch das Werk selbst auf Distanz gehalten wird, so nicht weil man ihn schonen oder als Richter einsetzen will, sondern, im Gegenteil, weil er durch diese offenbare Distanz, durch dieses „Draußen-Sein" hereingeholt, einbezogen und aus ihm selbst eben diese Distanz errichtet werden soll: die allein aktive und lebendige Kritik. Zweifellos ist aber auch das zweite Modell vom Zuschauerbewußtsein abzulehnen, das bis zu seiner endgültigen Zurückweisung sein Unwesen treiben wird: das Identifikationsmodell. Ich möchte hier klar die Frage stellen, selbst wenn ich darauf keine zutreffende Antwort geben kann: Wenn man sich, um die Verfassung des Zuschauerbewußtseins zu denken, auf den Begriff der Identifikation beruft, riskiert man damit nicht eine [terminologische] Gleichsetzung? Der Identifikationsbegriff ist, 205

strenggenommen, ein psychologischer Begriff, genauer ein [psycho] analytischer. Ich bin weit davon entfernt, die Wirkung der psychologischen Prozesse auf den Zuschauer abzustreiten. Doch ist darauf hinzuweisen, daß die Phänomene der Projektion, Sublimation usw., die sich beobachten, beschreiben und in kontrollierten psychologischen Situationen definieren lassen, nicht allein aus sich heraus in der Lage sind, einem derart komplexen und spezifischen Verhalten Rechnung zu tragen, wie dem des Zuschauers, der an einer Aufführung teilnimmt. Dieses Verhalten ist in erster Linie ein soziales und kulturell-ästhetisches und in diesem Sinne auch ein ideologisches Verhalten. Sicherlich ist es eine wichtige Aufgabe, das Einwirken der genannten konkreten psychischen Prozesse (etwa in ihrer streng psychologischen Bedeutung, die Identifikation, Sublimation, Befriedigung) in ein Verhalten, das über sie hinausgeht, zu erhellen. Doch diese erste Aufgabe, will sie nicht einem Psychologismus verfallen, darf die zweite nicht ausschließen: die Definition der Besonderheit des Zuschauerbewußtseins selbst. Wenn sich dieses Bewußtsein nicht auf ein psychologisches Bewußtsein beschränkt, vielmehr ein soziales, kulturelles und ideologisches Bewußtsein ist, kann man sich seine Beziehung zur Aufführung nicht allein in Form der psychologischen Identifikation denken. Bevor es sich mit dem Helden (psychologisch) identifiziert, erkennt sich das Zuschauerbewußtsein in der Tat im ideologischen Inhalt des Stückes und in den diesem Inhalt entsprechenden Formen wieder. Bevor die Aufführung eine Identifikation (mit sich in der Form des Anderen) überhaupt ermöglicht, ist sie vor allem Anlaß zu einer kulturellen und ideologischen Wiedererkennung.7 Dieses Sich-Wiedererkennen setzt prinzipiell eine unabdingbare Identität voraus, die die psychologischen Identifikationsprozesse (soweit sie psychologische sind) überhaupt erst ermöglicht: jene Identität, die Zuschauer und Schauspieler an einem Ort und an einem Abend zusammenführt. Ja, wir sind zunächst durch diese Institution, die die Theateraufführung darstellt, vereint; aber mehr noch durch die Mythen selbst, durch dieselben Themen, die uns ohne unser Einverständnis beherrschen, durch dieselbe spontan erlebte Ideologie. Ja, auch wenn es stellvertretend für die Armen steht, wie in El Nost Milan, wir essen dasselbe Brot, haben die gleiche Wut, dasselbe 206

Aufbegehren, dieselben Wahnvorstellungen (zumindest im Nachhinein, wo dieses bedrängend Mögliche weiterwirkt), wenn nicht sogar dieselbe Niedergeschlagenheit angesichts einer Zeit, die von keiner Geschichte bewegt wird. Ja, wie Mutter Courage haben wir den gleichen Krieg vor der Tür und greifbar nah die gleiche schreckliche Verblendung, die gleiche Asche in den Augen, die gleiche Erde im Mund. Wir haben denselben Sonnenaufgang und dieselbe Nacht, wir streifen dieselben Abgründe: unsere Unbewußtheit. Wir haben an genau derselben Geschichte teil - und damit beginnt alles. Deshalb sind wir selbst schon vom Prinzip her und von vornherein das Stück selbst; und seinen Ausgang zu kennen, ist unwichtig, weil es immer nur in uns selbst hineinführt, soll heißen: in unsere Welt. Deshalb ist, von Anfang an und ehe es sich selbst stellt, das falsche Problem der Identifikation durch die Realität der Wiedererkennung längst gelöst. Zu fragen bleibt in der Tat also lediglich nach dem Schicksal dieser stillschweigenden Identität, dieses unmittelbaren Sich-Wiedererkennens: Was hat der Autor daraus gemacht? Was machen die Schauspieler daraus, die vom Werkmeister Brecht oder Strehler angeleitet werden? W a s wird aus j enem i d e o l o g i s c h e n Sich-Wiedere r k e n n e n ? Ein Sich-Erschöpfen in der Dialektik des Selbstbewußtseins, das seine Mythen vertieft, ohne sich jemals aus ihnen zu befreien? In den Mittelpunkt dieses Spiels den unendlichen Spiegel stellen? Oder aber ihn versetzen, zur Seite drängen, ihn nehmen und verlieren, ihn verlassen und zu ihm zurückkehren, ihn von weitem fremden Kräften unterwerfen und derart unter Spannung setzen, daß er endet wie durch jene physische Resonanz, die aus der Distanz ein Glas zerspringen läßt: plötzlich zu einem Scherbenhaufen zusammenfällt. Will man abschließend einen Definitionsversuch wagen, der nicht mehr als ein besser formuliertes Problem sein kann, so scheint das Stück selbst das Bewußtsein des Zuschauers zu sein; vor allem deshalb, weil der Zuschauer kein anderes Bewußtsein hat als den Inhalt, der ihn von vornherein mit dem Stück vereint, und kein anderes als die Entfaltung dieses Inhalts im Stück selbst: das neue Resultat, das das Stück, ausgehend von jenem Sich-Wiedererkennen, p r o d u z i e r t , dessen Bild und Gegenwart es darstellt. Brecht hatte recht: Wenn allein 207

der, zumal auch noch „dialektische" Kommentar dieses unbeweglichen Wiedererkennens-Verkennens-seiner-selbst Gegenstand des Theaters ist, so kennt der Zuschauer von vornherein die Musik - es ist die seine. Wenn dagegen das Erschüttern dieses unantastbaren Bildes, das In-Bewegung-Setzen des Unbewegten (diese unwandelbare Sphäre der mythischen Welt des illusionären Bewußtseins) Gegenstand des Theaters ist, dann ist das Stück ganz und gar Prozeß, ist es die Produktion eines neuen Bewußtseins im Zuschauer, unabgeschlossen wie jedes Bewußtsein, aber von dieser Unabgeschlossenheit selbst angetrieben; dann gewinnt es diese Distanz, setzt es das unerschöpferische Werk der Kritik in Aktion. Derart produziert das Stück einen neuen Zuschauer, jener Akteur, der beginnt, wenn das Spiel endet, der nur beginnt, um es - aber im Leben - zu vollenden. Ich blicke zurück. Und plötzlich, unwiderstehlich befällt mich die Frage: Was, wenn diese wenigen Seiten, die auf ihre Art unbeholfen und blind sind, nichts als dieses unbekannte Stück eines Juniabends wären, El Nost Milan, das in mir seinen unerfüllten Sinn weiterverfolgt, das in mir gegen mich selbst alle die inzwischen vergessenen Schauspieler und Bühnenausstattungen, die Heraufkunft seines schweigenden Diskurses sucht? Übersetzt von Werner Nitsch und Elin Sanders

8. Cathérine B.-Clément

Freud und die künstlerische Praxis

Freud hatte nicht die Absicht, die Psychoanalyse in eine von der Medizin getrennte Wissenschaft zu verwandeln. Er erkannte ihr aber prinzipiell die Funktion zu, auf die existierenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen verändernd einzuwirken. E r selbst „wandte" die Psychoanalyse auf verschiedene kulturelle Bereiche „an": auf den Mythos, die Religion, auf die Geschichte, die Bildende Kunst und die Literatur. Hierbei erweist er sich, wie auch in anderen Fällen, als Gefangener seiner sozialen Herkunft und der Ideologie seiner Zeit. So versucht er, das „Genie" eines Schriftstellers zu erklären und bevorzugt die „große literarische Schöpfung", ohne jedoch die Werthierarchie zu befragen, die in jedem Bildungssystem impliziert ist, z. B. solche Wertvorstellungen wie: Adel der künstlerischen Schöpfung, fluchbeladenes Schicksal des Dichters, privilegierte Beziehung zwischen Kunst und Unbewußtem. Jedoch durchdringt Freud hier wie auch in anderen Fällen - in begrenztem Maße freilich, aber mit Sicherheit - die Mauer der Ideologie, in der er befangen ist. Obwohl Freud ein großer Kunstliebhaber ist, verhält er sich dem Schönen gegenüber gleichgültig: der „Inhalt" interessiere ihn mehr als „formale oder technische Qualitäten", schreibt er in Der Moses des Michelangelo (1914). Aber - und dies ist ein neuer Ansatz - den von Kunstwerken erreichten W i r k u n g e n (effets) schenkt er größte Aufmerksamkeit. Seiner selektiven Sensibilität folgend, interessiert er sich nur für das, was ihn emotional berührt. Daher haben wir von Freud keine Texte über Musik, die zu genießen er sich als unfähig bezeichnet. Während die Psychoanalyse, wie Freud versichert, über Schönheit am wenigsten zu sagen weiß, kann sie etwas über den durch 14

Burmeister/Barck

209

das Schöne ausgelösten A f f e k t 1 sagen, über jene Abfuhr von Triebenergie also, die man in einer romantischen und psybezeichnen chologisierenden Terminologie als E m o t i o n würde. Die unbestreitbare Originalität des Vorgehens von Freud hängt unmittelbar damit zusammen, daß er bei der Analyse eines Kunstwerkes von der Wirkung ausgeht, die es auf ihn, das Individuum Sigmund Freud, ausgeübt hat. Das ist ein nach den Kriterien klassischer Ästhetik, der ja die Idee eines normativen Geschmacks zugrunde liegt, unzulässiges Verfahren. Es erlaubt Freud, die Norm des Schönen, des Geschmacks, die herrschende gesellschaftliche Konvention unbekümmert in Frage zu stellen. Die Norm des Schönen ersetzt Freud durch emotionale Wirksamkeit, genauer: er verhilft zu der Erkenntnis, daß die Wirkung eines Kunstwerkes nur in der Beziehung zwischen betrachtetem Objekt und betrachtendem Subjekt analysiert werden kann. Dies bedeutet einen zweifellos einschneidenden Wechsel der Perspektive, dem ästhetische und kunstkritische Untersuchungen fortan Rechnung tragen müssen. Wie geht Freud im einzelnen vor? Zur Demonstration wurden drei Beispiele aus unterschiedlichen ästhetischen Bereichen - Skulptur, Malerei, literarischer Text - gewählt; sie können dazu beitragen, d a ß wir die Wirkung von Kunst auf die Subjektivität ihres Kritikers einschätzen lernen.

Erstes Beispiel: Der Moses des

Michelangelo

Der Eindruck dieses Werkes auf Freud ist so stark, daß er ihn zu einer gleichzeitig plausiblen und abwegigen Interpretation verleitet, die deshalb nicht weniger faszinierend ist. Interessanterweise hat Freud diesen Text - wohl weil er seine übermäßig starke subjektive Prägung empfand - anonym in seiner eigenen Zeitschrift 2 veröffentlicht und damit ein wertvolles Beispiel produktiver Schwäche gegeben. Keine Skulptur, sagt Freud, habe ihn stärker beeindruckt als der Moses von Michelangelo: „Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene Kirche 3 steht, habe immer versucht, dem verächtlich-zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal 210

habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraums geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat." 4 Moses, der zürnende Herold, wird von Michelangelo in dem Moment dargestellt, als er, vom Berge Sinai zurückkehrend, wo er von Jahwe die Gesetzestafeln empfangen hat, das jüdische Volk um das Goldene Kalb tanzen sieht. Freud nun fühlt sich selber auch von Moses gerichtet, empfand er sich doch selbst als „abtrünnigen Juden". Bevor er noch beginnt, Michelangelos Werk zu analysieren, stellt Freud seine Subjektivität heraus, gliedert er sich ein in die Szene, auf die Moses Blick fällt: E r selbst ist „Gesindel". Der Einsatz seines Affektes — Furcht, Verehrung, religiöser Schauder - weist Moses seinen Platz: als Statue eines Menschen, von einem Menschen gemacht, angesehen von einem Menschen und nicht als Statue eines göttlichen Helden. Was Freud also an dieser Statue untersuchen wird, ist nicht ihre sogenannte Schönheit, sondern ihr sakraler und illusionistischer Effekt; ihn zu erklären bedeutet, einmal mehr den Weg eines atheistischen Rationalismus einzuschlagen. Freuds Analyse bezieht sich auf ein Detail: Was tut die rechte Hand der Statue? Moses ist sitzend dargestellt. Im rechten Arm hält er die Gesetzestafeln und eine Strähne seines wallenden Bartes, der bis zu seinen Knien reicht, auf denen der andere Arm ruht. Freud glaubt zu erkennen, daß der Zeigefinger der rechten Hand vor allem Strähnen aus dem linken Teil des Bartes hält. Daraus schließt Freud, daß Moses „Bartgirlande [ . . . ] die Spur des von dieser Hand zurückgelegten Weges" 5 wäre, jenes Weges der rechten Hand, die, zum Fluch erhoben, die heftige Bewegung jedoch nicht ausführen kann, weil ihr sonst die kostbaren Tafeln entglitten wären. Die Statue drückt so den erreichten Zustand gezügelten, verrauchten Zornes aus: Beinahe hätte Moses, unter der Wucht seines Zornes, die Gesetzestafeln fallen lassen. Was Freud allerdings vergißt, ist, daß der biblische Moses die Tafeln tatsächlich zerbrochen und seinen Zorn nicht bezähmt hat. An diesem Beispiel ist der Umgang mit dem D e t a i l festzuhalten. Stets beginnt Freud damit, einen Teil eines Bildes, 14*

211

eines Werkes aufzuspüren, dem niemand Beachtung schenkt. E r tut dies, weil er in seiner psychoanalytischen Praxis die Bedeutung der V e r s c h i e b u n g 6 erfahren hat. Freuds implizites und als solches durch spätere Analysen bestätigtes Postulat hierbei ist, daß n i c h t s o h n e B e d e u t u n g i s t . Genauer: daß das, was zunächst als unbedeutend erscheint, sich am Ende der psychoanalytischen Therapie als das bedeutungsvollste erweist. Wie aber kann man über die Treffsicherheit bei der Wahl eines bestimmten Details befinden? Anhand der subjektiven Verarbeitung des Ganzen (aus dem das Detail herausgehoben wurde). So gesehen, ist keine Kritik an sich und objektiv richtig, ebenso ist keine falsch. Jede lehrt etwas über das Werk und über die Beziehung zwischen dem Werk und seinem Adressaten. Unter dem Blick der Statue fixiert sich Freud, eingeschüchtert, auf ein unbedeutendes Detail, die Stellung der Finger der rechten Hand. Alsbald geht ihm der Sinn der Statue auf: bezähmter Zorn, also eine überwundene menschliche Schwäche. Außerdem, die Ehrfurcht einflößenden Tafeln wären beinahe zerbrochen. Trifft der Betrachter Freud hiermit die Absicht und die Wertung des Bildhauers Michelangelo, der die Statue gemacht hat? Die Frage kann man so nicht stellen. Daß Freud auf diese Weise geurteilt hat, sagt etwas über die Statue trotz der Abweichung seiner Interpretation von anderen, nicht psychoanalytischen Untersuchungen. Die Fehlleistung aber bleibt so offenkundig, daß sie schockiert; denn im biblischen Bericht hat Moses die Gesetzestafeln sehr wohl zerbrochen.

Zweites Beispiel: Leonardo da Vinci Die Gemälde von Leonardo da Vinci produzieren in besonderer Weise einen Effekt des Lächelns: „Diese Bilder atmen eine Mystik, in deren Geheimnis einzudringen man nicht wagt; man kann es höchstens versuchen, den Anschluß an die früheren Schöpfungen Leonardos herzustellen [ . . . ] das bekannte berückende Lächeln läßt ahnen, daß es ein Liebesgeheimnis ist." 7 Dieses Geheimnis sucht Freud anhand von biographischen 212

Bruchstücken aufzuhellen. Von Leonardos Leben ist sehr wenig bekannt: die ersten Kindheitsjahre ohne Vater, außergewöhnlich starke Bindungen an eine zärtlich geliebte Mutter, Rechnungsbücher, Zeichnungen und - dies ist Freuds hauptsächlicher Anhaltspunkt - eine Kindheitserinnerung. „Ein einziges Mal, soweit mir bekannt ist, hat Leonardo in seine wissenschaftlichen Abhandlungen eine Mitteilung aus seiner Kindheit eingestreut." 8 Als er noch in der Wiege lag, habe ihm ein Geier mit seinem Schwanz den Mund geöffnet. Für Freud handelt es sich hier nicht um eine Erinnerung, sondern um eine Phantasie, 9 die Leonardos Wunsch nach einer fellatio hier auf einen Geier überträgt. Das Bild des Geiers verschiebt sich jedoch im Lauf der Analyse, denn in der griechisch-lateinischen Mythologie ist der Geier ein weibliches Tier, das sich ohne männliche Befruchtung fortpflanzt. Der Geier verweist also einerseits auf einen Mann (fellatio), andererseits auf eine ledige Mutter, eben die Mutter Leonardos. Der Schwanz des Geiers ist daher gleichzeitig Penis und mütterlicher Schoß. Leonardo hat in seiner frühesten Kindheit seinen Vater nicht gekannt; daraus entstand die Phantasie der Verführung durch die Mutter. Schlagartig wird Leonardos Homosexualität offenbar (ob sie latent oder manifest ist, spielt für den Analytiker in diesem Fall keine Rolle). Sie überträgt sich auch in die notorische Androgynie jenes berühmten Lächelns, verführerisch wegen seiner Geheimnishaftigkeit, für die Freud eine Erklärung gibt. Leonardo, der, auf Grund seiner Biographie, eine zu starke Mutterbindung hat, bleibt diesem prägenden Frauenbild treu, identifiziert sich mit ihm und weist alle anderen Frauen zurück. Freud lehnt es aber energisch ab, Leonardo deshalb zu den „Nervenkranken" zu rechnen, vielmehr legt er an diesem Fall seine Theorie der S u b l i m i e r u n g 1 0 dar und hebt „die kaum mehr zweifelhafte Tatsache hervor [ . . . ] , daß das Schaffen des Künstlers auch seinem sexuellen Begehren Ableitung gibt." 11 Die Ableitung betrifft hier den homosexuellen Wunsch, der in jener geschichtlichen Epoche dem Schaffen Leonardos seine a f f e k t i v e n Merkmale verliehen hat. Freud erklärt gut, warum das Lächeln auf den Bildern Leonardos bewegt und woher, für ihn, die Emotion stammt, die zu vermitteln es in der Lage ist.

213

Drittes Beispiel: Das Thema der Kästchenwahl „Kaufmann von Venedig"

in Shakespeares

Bei der Lektüre literarischer oder mythologischer Texte verfährt Freud ganz ähnlich wie bei der Traumdeutung. In beiden Fällen existiert ein T e x t , also die Möglichkeit, an einer in Schriftzeichen deponierten Sprache zu arbeiten. Bei dieser Arbeit verfährt Freud jedoch außerordentlich frei, ja vollständig ungeniert gegenüber jeglicher historischen Strenge. Mehr noch, er macht aus dem Anachronismus seine goldene Regel, indem er über historische Grenzen hinweg assoziiert und, wie stets, mit entschlossener und produktiver Verachtung für jede Chronologie vorgeht. In der Analyse der Kästchenwahl zirkuliert er zwischen Texten von Shakespeare (Der Kaufmann von Venedig; König Lear), Grimmschen Märchen und Operetten von Offenbach. Dort findet er überall die Struktur: Wahl zwischen drei Frauen (das Kästchen gilt als Symbol des weiblichen Genitals) und verbindet schließlich die verschiedenen Wahlsituationen durch das einheitliche Thema des Wunsches nach einer einzigen Frau, die nacheinander Erzeugerin, Gefährtin, Zerstörerin ist. Alle Märchen, Sagen, Stücke, die auf unterschiedliche Weise zwischen drei Frauen wählen lassen (das Urteil des Paris, die drei Parzen, die drei Töchter von König Lear, Aschenbrödel usw.), tendieren übereinstimmend zu einem Verhalten, das nicht Wahl, sondern deren Gegenteil ist: die notwendige Konfrontation mit den „drei Formen, zu denen sich [ . . . ] das Bild der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er (der Mann - d. Übers.) nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt." 12 Es ist also letztlich das Todesmotiv und seine Maskierungen, das Freuds Aufmerksamkeit auf das Thema der Kästchenwahl lenkt. In den Beispielen, die wir hier aus Hunderten ausgewählt haben (Freuds Aktivität als Kritiker war beträchtlich), ist die Analyse immer von der Identifizierung her aufgebaut, als notwendiger Basis des Affektes: Identifizierung mit dem jüdischen Volk, aber auch mit Moses selbst, dem Religionsstifter; Identifizierung mit Lear im letztgenannten Text. Dies festzustellen 214

bedeutet nicht, Freuds Verfahren willkürlich auf ein Prinzip zu reduzieren: Es gründet sich explizit darauf. Freuds Anwendung der Psychoanalyse auf andere Gebiete bleibt zutiefst Ü b e r t r a g u n g : Jedes Kunstwerk, ob es mit der Sprache oder mit bildlicher Darstellung arbeitet, erzeugt - für Freud einen Affekt, den man ebenso wie die Übertragung psychischer Energie auf das künstlerische Material analysieren muß. Hier wie in seiner therapeutischen Methode unterhöhlt Freud die von der herrschenden Ideologie überkommene Klassifizierung, zumindest ihren normativen Aspekt. Die ästhetische Norm der Schönheit ersetzt er durch das Konzept des Trägers der Emotionen, und zwar der Emotionen eines konkreten Subjektes. Freuds ästhetische Methode zielt auf eine hochgradige Differenzierung der künstlerischen und kunstbedingten Emotion. Gleichzeitig stellt sie eine enge Beziehung her zwischen dem Autor und seinem Werk (dieser Punkt ist gegenwärtig stark umstritten angesichts des unangemessenen Gebrauchs der Psychoanalyse durch die literarische „Psychokritik"13 und „Psychobiographie") sowie zwischen dem Autor und dem Adressaten des Werkes. Die hiermit angeschnittene Problematik intersubjektiver Beziehungen ist neu und noch wenig erforscht. Freud, die Kultur und die Sprache Obgleich die Psychoanalyse in der „Kunst" (in einem allgemeinen und unscharfen Sinn) faktisch ihr bevorzugtes Anwendungsgebiet gefunden hat, kann sie von Rechts wegen nicht darauf eingegrenzt werden. Sie ist auch, innerhalb des Gesamtwerkes von Freud, nicht auf die alleinige Ausübung von Literatur- oder Kunstkritik beschränkt geblieben. Davon zeugen verschiedene Texte Freuds, in denen er z. B. die Sprache (Über den Gegensinn der Urworte, 1910) oder die Anwendung der Psychoanalyse auf juristischem Gebiet oder aber historische Dokumente (Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert, 1923) untersucht. Freuds Versuche, die Psychoanalyse auf andere Gebiete anzuwenden, sind in ihren Hauptlinien um das Problem der Wirkungen von Sprache auf den menschlichen Körper konzentriert. Hier liegt auch der Schwerpunkt der Freudschen Reflexionen über die Kultur. 215

Hier erweist er sich besonders deutlich als Gefangener seiner ideologischen Voraussetzungen; aber auch hier kann man, durch die Hüllen und Fetzen eines verzweifelt tragischen Humanismus hindurch, die Möglichkeit einer konsequenteren Anthropologie entdecken, deren Fundamente die Psychoanalyse allein nicht tragen kann, die aber ohne diese nicht auskommen kann. Seine Hauptgedanken hierzu entwickelte Freud in Das Unbehagen in der Kultur (1930). Dieses Unbehagen kommt von der Nichtübereinstimmung zwischen der animalischen Natur des Menschen - die von den Ursprüngen menschlicher Kultur an ständig zurückgedrängt wird - und seiner zweiten oder kulturellen Natur, die auf Kosten des Instinktes zunehmend an Bedeutung gewinnt. 1932 schreibt Freud in dem an Albert Einstein gerichteten Brief Warum Krieg?: „Seit unvordenklichen Zeiten zieht sich über die Menschheit der Prozeß der Kulturentwicklung hin [ . . . ] Diesem Prozeß verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut Teil von dem, woran wir leiden [ . . . ] Vielleicht führt er zum Erlöschen der Menschenart, denn er beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise, und schon heute vermehren sich unkultivierte Massen und zurückgebliebene Schichten der Bevölkerung stärker als hochkultivierte [ . . . ] Die mit dem Kulturprozeß einhergehenden psychischen Veränderungen sind auffällig und unzweideutig. Sie bestehen in einer fortschreitenden Verschiebung der Triebziele und Einschränkung der Triebregungen. Sensationen, die unseren Vorahnen lustvoll waren, sind für uns indifferent oder selbst unleidlich geworden; es hat organische Begründungen, wenn unsere ethischen und ästhetischen Idealforderungen sich geändert haben."1'4' Hier wird deutlich, daß für Freud die Sexualität, die man häufig als seine oberste Forderung ausgibt, ganz im Gegenteil Objekt einer enormen Regression ist, die Freud weder verurteilt noch rechtfertigt; in ihr erblickt er sogar die Garantie für einen weiteren Rückgang von Phänomenen der Aggression, zu denen er den Krieg rechnet: „Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen." 15 216

Diesen theoretischen Bemerkungen läßt Freud Bekundungen seines Pazifismus folgen, deren hypothetischer und subjektivistischer Charakter auf den ersten Blick klar wird. Und gerade auf diesem Boden entstehen dann die Utopien des FreudoMarxismus16, der, in welcher Form er auch auftritt, den entscheidendsten Aspekt der Freudschen Entdeckungen nicht beachtet: eine neue Art, die Sprache zu lesen, auf die Worte zu hören, und eine neue Auffassung von den Beziehungen zwischen Sprache und Kultur. An diesem Punkt freilich konnte Freud, das muß klar erkannt werden, den Durchbruch nicht erreichen, der später der strukturalen Anthropologie17 gelungen ist, trotz der formalistischen und idealistischen Begrenzungen, die für sie charakteristisch sind. Jedenfalls sind bestimmte gegenwärtige Überlegungen über die Sprache, auf die wir noch zurückkommen18, der Freudschen Lektüreweise verpflichtet, die der Parole folgte, sorgfältig auf die Lücken oder Leerstellen in den Texten zu achten. Ob es sich um Traum-Texte oder um Patientenberichte während der psychoanalytischen Behandlung, ob um Archivdokumente oder um übertragene Texte (wie sie die plastischen und pikturalen Bildkomplexe darstellen) handelt, Freud sucht, indem er sich auf winzige Details konzentriert, nach den Unterbrechungen, Auslassungen, Deformationen. Diese Methode wendet er systematisch an in seiner historischen Untersuchung Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Dieses letzte Buch Freuds, an dem er bis 1939 arbeitete, vereint seine Theorien über die Ursprünge der Menschheit und eine Lektüreweise, die den symptomatischen Lücken gilt und auf der Freud fast seine gesamte Interpretation aufbaut. Er entdeckt im Text der Bibel Konfusionen, Obskuritäten, Interpolationen in der Chronologie, die die Historiker im allgemeinen auf die kollektive und sich über lange Zeiträume erstreckende Abfassung dieser religiösen Texte zurückführen. Ohne diese Tatsache zu bestreiten, achtet Freud jedoch unmittelbar auf die Interpolationen, die für ihn stets auf Produktionen des Unbewußten verweisen: Die Entstellungen der Texte entsprechen psychischen Umbildungen, entsprechen Verdrängungen.19 So kommt Freud zu der Auffassung, daß ein bestimmtes Ereignis - die Ermordung Moses und seine ägyptische, also dem jüdischen Volk fremde Herkunft 217

durch textliche Konfusion maskiert wurde. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Entstellung und Verdrängung geht Freud weiter als je zuvor: „Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung der Spuren. Man möchte dem Worte E n t s t e l l u n g den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen." 20 Den Kausalzusammenhang zwischen Textentstellung und Mord (dessen Modell der Freudschen Anthropologie zufolge der Mord am Vater in der Urhorde ist) denkt Freud an dieser Stelle nicht als realen, sondern er unterstreicht damit die Forderung, jede Entstellung als Effekt einer Verdrängung, einer tatsächlichen unbewußten Spurenbeseitigung, als symbolischen Mord, als Wort-Verbrechen zu interpretieren. Es ist absehbar, wohin dieses Operieren mit Analogien führt und wo es die Stärke der Freudschen Idee beeinträchtigt: Zwischen dem symbolischen Mord und dem wirklichen existiert für Freud eine reale Ableitung insofern ja ein vorausgesetztes tatsächliches Verbrechen (die Ermordung des Urvaters) in unendlichen Wiederholungen neue Verbrechen zeugt, teils reale - die Ermordung Moses, die Kreuzigung Christi - , teils symbolische - der imaginäre Vatermord im Ödipuskomplex, die Entstellungen von Texten gleich welcher Art. Und dennoch, jenseits der abwegigen Analogie zeichnet sich eine Methode ab, deren Prinzip Freud nicht allein und nicht als erster formuliert hat. Auch Michelet 21 versuchte, das „Schweigen" der Geschichte beredt zu machen, indem er (relativ) in Rechnung stellte, daß die Archive nur den offiziellen, also den trügerischen Teil der historischen Zeugnisse enthalten, und er machte, ganz auf der Linie der schon von Rousseau 22 praktizierten Identifizierung, von der Wirkung der Sprache, des Textes auf das Subjekt Gebrauch. Marx schließlich dachte, daß d i e Geschichte 218

sich auf m e h r e r e n S c h a u p l ä t z e n abspielt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wepn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen." 23 Die Geister der Vergangenheit, die Kultur, die in den historischen Ereignissen fortdauert und sie in Totengewänder kleidet, konstituieren in diesem Text und in Marx' Beschäftigung mit der Ideologie jene „zweite Szene", mit der Freud sich ständig befaßt. So sind sich beide der Verschiebungen zwischen der Art, in der die Menschen die Realität imaginär erleben und der Wirklichkeit selbst bewußt, beide achten auf diesen Vorgang der Verkennung, beide suchen nach seinen wirklichen Ursachen. Aber, obwohl in beiden Fällen die Frage nach den Ursachen gestellt wird, geschieht dies nicht auf die gleiche Weise, so daß auch die Antworten nicht dieselben sein können. Freuds Antwort führt zu einer radikalen Ausklammerung der realen Ursachen: diese hätten zwar existiert oder wiederholten sich ständig, ohne daß jedoch ihre Wirkungen zuließen, sie zu erkennen; die Ursache existiere, sei aber unzugänglich geworden durch den Mechanismus der Verdrängung, der den Weg zu ihr mehrfach barrikadiert. Die Wirkungen der Vergangenheit spiegeln diese nicht wider. Ständig beschreibt Freud die Wirkungsweise des Ideologischen, dieses aber bleibt die einzige Ebene der Realität, die er effektiv in Betracht zieht. Marx' Antwort, die von einer determinierenden Realität ausgeht, faßte Engels folgendermaßen zusammen: „Es war gerade Marx, der das große Bewegungsgesetz der Geschichte zuerst entdeckt hatte, das Gesetz, wonach alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf religiösem, philosophischem oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehn, in der Tat nur der mehr oder 219

weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind, und daß die Existenz und damit auch die Kollision dieser Klassen wieder bedingt sind durch den Entwicklungsgrad ihrer ökonomischen Lage, durch die Art und Weise ihrer Produktion und ihres dadurch bedingten Austausches."24 Was Freud nicht beachtete, war die Verkettung der Ideologie mit der Ökonomie, die er auf seine Art „herstellt", indem er das Imaginäre mit einer hypothetischen Realität, sei sie neurophysiologisch oder biologisch oder mythisch-kulturell (die Hypothese von der Ur-Horde) in Verbindung bringt. Hier zeichnen sich die Grenzen einer „Revolution" ab, die das Gebiet der Sprache betrifft, einer gewaltigen theoretischen Revolution, die dennoch gleichsam amputiert bleibt, verkennt sie doch die materiellen Lebensbedingungen der Menschen, deren Vorstellungswelt (l'imaginaire) allein die Gesamtheit der Freudschen Szene bildet. Übersetzt von Brigitte Burmeister

9.

Elisabeth Roudinesco

Katharsis, Verfremdung, Identifizierung

Der Aufsatz ist Teil der Arbeit L'inconscient et ses lettres (Das Unbewußte und seine Buchstaben), die sich mit der Problematik des „Autors als Phantasiebild" (fantasme) beschäftigt. Die Erarbeitung einer „proletarisch-materialistischen Theorie der Kunstbetrachtung", die Schulung des „neuen Blickes" des Menschen in der sozialistischen Gesellschaft (Ziel der Brechtschen Verfremdungstechnik ebenso wie von Dsiga Wertows Kino-Augesind von einem Widerspruch gekennzeichnet, der einer genauen Untersuchung noch bedarf: dem zwischen einer nicht-psychologischen Dimension des Zuschauerbewußtseins und der Voraussetzung eines Subjektes (eines imaginären Ich) als Ort und Ursprung der Erkenntnis. Damit entsteht das Problem, auf das Althussers Aufsatz: Das ,Piccolo', Bertolazzi und Brecht eingeht, inwieweit der psychologische Begriff der Identifizierung die Spezifik des Zuschauerbewußtseins zu erfassen in der Lage ist. Die Psychoanalyse und namentlich die Arbeiten von Jacques Lacan2 liefern bedenkenswerte theoretische Ansätze, das traditionelle Subjekt der Philosophie und der Psychologie, das autonome Ich cartesianischer Herkunft, zu untergraben. „Die inneren Heilmittel sind Reinigung und Aderlaß; denn ist der Körper voller Exkremente und Fäulnis, wird er leicht von der Pest befallen. Deshalb muß der Körper innerlich gereinigt werden, aber so vorsichtig man kann, um nicht die Körpersäfte zu bewegen und zu erregen."3 Albertus Magnus4 verkannte nicht, daß Gesundheit und Krankheit zusammen gehören. Tragen die Lahmen, Schielenden, Einäugigen und Stotterer das Zeichen eines bösen Schicksals, so kommt uns die Katharsis ohne Zweifel von Demokrit, Pla221

ton, Aristoteles auf dem Wege der Heilkunde. Sie behandelt mit einer „Medizin", die Freud, ganz zu Beginn unseres Jahrhunderts, zu deuten unternimmt, indem er den Worten des Hysterikers Wahrheiten entlockt, welche die Schulmedizin, an die Grenzen ihres Rationalismus gedrängt, als Züge von Simulation abtat. Anna O. stellt ihre hysterischen Zustände dar, gibt sich der hohen Kunst des Schauspiels hin, indem sie an ihrem Körper die Waffen jener Sprache zur Schau stellt, von der der behandelnde Therapeut selbst Gebrauch macht. 5 Die Wahrheit kommt so dazu, in der Simulation ihren Sprecher zu finden. Durch diese Provokation sieht sich die logische Rede entmachtet, die versucht, die Wahrheit aufzudecken, ohne aber deren Worten (dire) nachzuspüren. Wäre die Hysterie dann jenes „Heilmittel", das die Götter brachten, den Menschen gesund zu machen um den Preis des Kultes, der Orgie, der religiösen Verzückung, denen er zum Opfer fällt? Betritt man die Szene der Brechtschen Dramaturgie, fällt zunächst eine bestimmte Terminologie auf. Das Vokabular des klassischen Theaters ist in die Tiefen eines obskuren Unterbewußtseins verbannt. Dem aristotelischen Modell der Katharsis und der Einfühlung, dem Kult der Leidenschaften und der Helden, dem umfassenden Zugriff eines allgegenwärtigen Schicksals werden eine Reihe von Schlüsselbegriffen entgegengestellt: Verfremdungseffekt, klares Bewußtsein des Schauspielers von seiner Rolle, klares Bewußtsein des Zuschauers angesichts einer Bühne, auf der man bewußt spielt, ohne jedoch mit ihm zu spielen. Das dramatisierte Geschehen des romantischen Theaters wird ersetzt durch den epischen Bericht, der von den Gesetzen der Dialektik gelenkt wird. Das transparente Theater, dessen Funktion es war, mehr oder weniger genau die Sitten einer Epoche, ihre Wirklichkeit widerzuspiegeln, weicht einer Wirklichkeit des Spiels und der Dekoration, die die Bühne nicht mehr als Illusion eines anderswo sich abspielenden wirklichen Lebens, sondern als das reale Dasein der Illusion präsentiert. Jedoch, auf dieser Bühne als dem realen Dasein der Illusion wird eine Art Enthüllung produziert; eine Aufdeckung geschichtlicher Wahrheit, die das Theater nicht „darzustellen", „abzubilden", 222

sondern in der Beziehung zwischen Zuschauer und Schauspiel mit Hilfe des Verfremdungseffektes herzustellen hat. Die Katharsis wurde im Drama, im Tragischen überhaupt, Heilmittel, Aderlaß, Arznei der hervorgelockten Tränen. Die Hysterie wurde Frau, wie die Existenz der Hexen bezeugt, die Übel abwandten, indem sie sie besprachen. Die Hysterie wurde Frau und brachte die Pest und zeigte so, daß eben durch das Heilmittel sich der Heilkundige seiner Macht versichert. Katharsis und Heilung gehören zusammen wie der Hysteriker und das Theater, wie Laster und Tugend. Indem Brecht die Dialektik und die Geschichte auf die Bühne bringt, die bis dahin verdeckt wurden durch illusionistischen Dekor, verfährt er mit der Reinigung wie der Hysteriker mit der Simulation: Gerade das Simulierte ist die Wahrheit. Kunstmittel, Spiel, Dekoration und Technik sind Mittel einer Theatralik, durch die die geschichtliche Wahrheit zu Wort kommt. Die Theaterkonvention durch den Schein des „Natürlichen" zu verbergen (Naturalismus), läuft darauf hinaus, die Wahrheit des Theaters zugunsten eines subjektivistischen „Alswahr-erscheinen-lassen" zu verdunkeln. Hierbei verschwindet der, der etwas zeigt, hinter dem Gezeigten (der Schauspieler hinter dem Helden), und das kunstvolle Spiel (die Wirklichkeit des Theaters) verliert sich in der Illusion einer wiedergefundenen Natur (die Natürlichkeit des Schauspielers). Durch Historisierung der Personen den Schauspieler und die Zuschauer in die Geschichte einzuführen, ist das Ziel Brechts. Dafür muß mit der durch das traditionelle Theater fabrizierten Person des gläubigen Schauspielers-Zuschauers gebrochen werden, der, in die finstere Höhle der Illusionen und Gläubigkeit gesteckt, zum Köder der unablässigen „Reinigung" durch Furcht und Mitleid verurteilt ist. Was Brecht mit seiner Kritik an der aristotelischen Katharsis in Frage stellt, ist nicht sosehr das Konzept der Einfühlung (des Zuschauers in den Helden, des Schauspielers in die Rolle, und des Zuschauers in den Schauspieler), als vielmehr eine Auffassung vom Theater als Heilmittel, als „Zaubertrank", der die Menschen vor der unheilvollen Wirkung der Leidenschaften bewahrt. (Der Bezug auf ein medizinisches Vokabular ist hier nicht überflüssig. Denn das Theater soll, den aristotelischen 223

Vorstellungen zufolge, einen therapeutischen Effekt haben.) Der ideale Zuschauer des klassischen Theaters verschwindet nicht, wenn der Held geht, und die Einfühlung erlischt nicht, sobald ein Theater ohne Helden ersteht, weil gerade durch die Historisierung der Personen der großen Tragödien deren Stärke gezeigt und der Sinn des Genusses am Theater besser erfaßt wird. Mit seiner Kritik am aristotelischen Modell zielt Brecht auf einen ganz anderen Helden, auf den Helden einer Art psycho-somatischen Medizin, den „illusionären" Menschen aus einer bestimmten Bildungstradition, der über das Psychodrama einen gesunden Geist in einem gesunden Körper erwerben soll, kurz: auf das Ideal des „autonomen Ich", das durch eine ganze Ideologie der Anpassung zur Geltung gebracht wurde. „Weniger als alles andere brauchen Vergnügungen eine Verteidigung." 6 Die aristotelische Poetik behauptet das Gegenteil: Das Theater darf sich einbürgern, weil es eine psychologische Daseinsberechtigung hat. Der Arzt reinigt den Körper, die Tragödie soll den Geist reinigen. Sie muß sich dem Nützlichen verpflichten, soll das Vergnügen, das sie bereitet, gerechtfertigt sein. Der Zuschauer profitiert - wie ein Parasit - von den Leidenschaften des Helden; so wird er seinen eigenen entsagen und sich, durch das Schauspiel der Gewalt, von Gewalttätigkeit geheilt sehen. Die aristotelische Poetik konstituiert sich aus dem Verzicht auf die Tradition des Kultes und der Orgie, gegen die sie die Ordnung des heilenden Wortes einsetzt. Das Recht auf Darstellung geht einher mit dem Verbot zu handeln. Die Verarztung geschieht, vom Körper zur Seele, über die psychologische Organisation eines Darstellungsfeldes, in dem die Emission im Empfängerpol, das Schauspiel im Zuschauer, der Held im Schauspieler, der Schauspieler in der Rolle usw. ihren Reflex finden. Die „Verteidigung der Vergnügungen" ist ein psychologischer Rationalisierungsvorgang, durch den die Pest der Verderbnis sich Tugend, Anstand nennen kann - unter den Auspizien des Heilungsideals. Die Tragödie ist Nachahmung, und der Zuschauer-Parasit nimmt teil an der Neurose des Helden, indem er aus dessen Symptomen Nutzen zieht: Während vor seinem stummen Gesicht die Gesten des Deliriums, die Worte

224

der Furcht, die Stigmata des Mitleids abrollen, erzeugt die Reinigung ihre Übertragungseffekte 7 , und das Individuum wird von seinen krankhaften Regungen geheilt. Freud ist nicht Brecht, und die spontane Theatralik der Neurose ist nicht das Theater. Freuds Anwendung der kathartischen Methode war zeitlich begrenzt: D e r „Kehraus" mußte, nach dem Verzicht auf die Hypnose, in die psychoanalytische Methode im eigentlichen Sinne - das freie Assoziieren - münden. D i e Katharsis wird, als Heilmittel, aufgegeben, das Ziel der neuen Methode Freuds ist nicht mehr das Heilen. Denn der „kathartische Geist", von Aristoteles auf die Helden der klassischen Tragödie gekommen, fehlt in der Ethik Freuds 8 ebenso wie in der Brechtschen Problematik der Verfremdung. Brecht ist nicht der Anti-Aristoteles des modernen Theaters; er versucht nicht, den Zuschauer aus dem Zentrum der theatralischen Darstellung zu rücken, sondern auf der Bühne die Unmöglichkeit eines Zentrums zu produzieren. Katharsis, Theatralisierung, Identifizierung sind Begriffe, die nicht zu Brecht, sondern zu einer ganz anderen Dramaturgie gehören: der der Neurose. Bei deren Erforschung bezieht Freud sich ständig auf die Situation des Theaters. Das Unbewußte faßt er als Bühne auf, den Konflikt als dramatisches Schauspiel und die Familie als jenen antiken Schauplatz, an dem ö d i p u s 9 die Erfahrung seiner Identität macht. E s gibt ein Theater der Hysterie, auf dem das Krankheitssymptom eine Hauptrolle spielt. Anna O., berichtet Breuer 1 0 , macht sich ihr privates Theater, sie inszeniert ihre Phantasien, sie nimmt einen „Kehraus", eine Reinigung vor und erfindet die „talking eure" (Gesprächstherapie), die später zur psychoanalytischen Methode wird. Man könnte auf die Gefahr hinweisen, die der ständige Rückbezug Freuds auf das Theater, vor allem auf das antike Theater, und seine Art der Theatralisierung des Unbewußten und der Personifizierung des Wunsches darstellen. Trotzdem muß man die Existenz eines spontanen Theaters der Neurose, eines Theaters der Hysterie anerkennen, auf dem, wie Oscar Mannoni betont 1 1 , der Auftritt des Symptoms schon ein Versuch der Heilung ist. Diese Theatralik ist ganz anderer Natur als die der Theaterkonventionen und -kunsttnittel. Eben deshalb kann das Konzept der Identifizierung 12 , so wie es in Freuds

15 Buimeister/Barck

225

Theorie auftritt, uns zwar über den Platz unterrichten, den Held, Person und Schauspieler in der Struktur des Ich einnehmen, es wird uns aber nichts über die Spezifik des Zuschauerbewußtseins sagen. Aus dieser Perspektive gesehen hat der V-Effekt das Ziel, die Realität der Theaterkonvention herauszustellen, jene Realität der Kunstmittel, die das illusionistische Theater unter dem Anschein der Natürlichkeit zu verbergen trachtet. Der V-Efiekt bedeutet eine Absage an die Technik der Hypnose: „Voraussetzung für die Anwendung des V-Effekts zu dem angeführten Zweck (dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang zu verleihen - d. Übers.) ist, daß Bühne und Zuschauerraum von allem .Magischen gesäubert' werden und keine .hypnotischen Felder' entstehen." 13 Die Betonung der Wirklichkeit der Konvention zielt darauf ab, den sozialen Gestus der Handlungen hervorzuheben, um ihn befremdlich zu machen und ihn in seiner spezifischen Erscheinungsform zu zeigen. Dieser soziale Gestus ist „der mimische und gestische Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen [ . . . ] , in denen die Menschen einer bestimmten Epoche zueinander stehen." 14 Die Verfremdung ist ein Verfahren der Historisierung. Die Zeit der Geschichte auf der Bühne der Illusion einzuführen, auf die Wahrheit des Dargestellten zu zeigen, das bedeutet: die Geschichte und das Theater gleichzeitig der Psychologisierung entziehen. Brechts Stücke, betont Althusser, sind „ d e z e n t r i e r t , weil sie kein Zentrum haben können" 15 . Der Ausdruck „Dezentrierung" wird in der Psychoanalyse häufig gebraucht. Man muß sich aber darüber im klaren sein, daß die Dezentrierung nur um den Preis der Unmöglichkeit eines Zentrums überhaupt theoretisch sinnvoll ist. Dieses verschwindet nicht mit der Identifikationsfigur des Helden. Der tote Vater hält für die Soziologen des modernen Theaters manche Überraschung bereit. Der durch den manipulierenden Erzähler „beseitigte" Autor erweist sich als das Double des omnipotenten Autors romantischer Herkunft. Der verschwundene Held ist ein romantischer Mythos, ein Phantasiebild des Autors, das die Stelle des Helden durch das Rollenspektrum eines imaginären Ich besetzt. Das Fehlen des Helden, die Ab226

Wesenheit des Autors annullieren nicht deren Präsenz, sie markieren sie vielmehr; das illusorische Verschwinden des Zentrums bestätigt dessen Wert. Die Frage nach dem Autor - das Problem seines Verschwindens sowie das Problem seiner latenten und beredten Anwesenheit - wird in ihrer falschen Evidenz beibehalten, wenn die Kritik an diesem Problem des Zentrums ansetzt, nicht aber an dem für die Romanfunktion konstitutiven Phantasiebild oder Mythos. Der Roman ist stets Inszenierung eines Romans, und die Inszenierung ist Theatralik, die den Modus der Identifizierung organisiert. Das „Vorzeigen" objektiviert sich im Blick; der Blick wird zum Schauplatz einer Inszenierung. Das Symptom, die gesprochene Hieroglyphe - als Anzeichen der Hysterie - bilden jene Form des Zeigens, von der Freud metaphorisch sagte: Die Hysterie ist ein deformiertes Kunstwerk. Das Simulierte ist Wahrheit, das Zentrum ist eine Phantasievorstellung, und die Dezentrierung, auf die sich die Psychoanalyse beruft, hat zum Ziel, ein - unmöglich gewordenes - Subjekt zu erzeugen, das nicht gespalten ist in einen rationalen und einen anderen Bereich, sondern „geteilt", da es nicht den Gesetzen einer (einheitlichen) Subjektivität gehorcht. Die Sprache der Verfremdung greift die Katharsis an: Sie denunziert eine Dialektik des Theaters, die auf dem orthopädischen Ideal einer Begradigung beruht und den Zuschauer als Subjekt eines Bewußtseins anspricht, das mittels einer auf Faszination und Reflex reduzierten Einfühlung ihm dazu verhelfen soll, sich von den seinem geistigen Wohlergehen schädlichen Affekten 16 zu befreien. Wird der Held des Stückes, beherrscht vom Elan der Leidenschaft, des Mitleids, der Moral, zum Richter über die Geschichte, so ist der Zuschauer sein Gewissen, sein reiner Spiegel, seine wortlose Maske. Er ist ebenfalls Richter und eine Art universelle Metasprache, damit betraut, die Gesten der in ein Drama verwandelten Geschichte zu reproduzieren. Die Verfremdungstechnik zielt nicht, in der Art der Katharsis, auf die Veränderung des Bewußtseins der Menschen, sie will die illusionäre Vorstellung von diesem Bewußtsein demontieren: Sie versucht, die Gesellschaft in ihrer Bewegung und die Bewegungsgesetze - ausgehend von den sie determinierenden Prozessen der Klassenkämpfe - zu erfassen: „Welche Technik es dem Theater gestattet, die Methode der 15*

227

neuen Gesellschaftswissenschaft, die materialistische Dialektik, für seine Abbildungen zu verwerten." 17 Mit Brecht betritt die „Erstaunlichkeit und Befremdlichkeit" der Vorgänge die Bühne, wird die von der klassischen Dramaturgie „verschwiegene" (le non dit) Dimension des Blickes entdeckt. Von Identifizierung oder Einfühlung sprechen heißt vom Blick und von der Rolle sprechen, die ihm zufällt - jene „zusätzliche" Rolle, die die klassische Psychologie mit ihrer ausschließlichen Ausrichtung auf die Beziehungen zwischen dem Subjekt und seinem Gegenüber (Sender/Empfänger) unter die Einheit des Subjekts subsumiert und unterschlägt. „Damit all dies viele Gegebene ihm als ebenso viel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müßte er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und verstünde es nicht von ihnen, wodurch er dann auf die Gesetzmäßigkeiten kam. Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muß das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren." 18 Die Verfremdungstechnik versucht, den Identifikationseffekten entgegenzuarbeiten, ohne die es kein Theater gibt. Dies ist der Sinn des Brechtschen Versuches. In mancher Hinsicht widersprüchlich, nährt er zahlreiche modernistische Theatertheorien, die mehr zum Technizismus als zur Historisierung neigen. Politische Didaktik wird dann Pädagogik. Die erklärenden Schilder, die sichtbaren Lichtquellen, die hellen Farben, die karge Dekoration, die strenge Verbannung jeglichen Lyrismus haben schnell dazu beigetragen, daß die Verfremdung durch ein trügerisches Clochard-Milieu und melodramatische Ärmlichkeit ersetzt wurde. Nun ist aber die Brecht-Schule keine Schule der Pädagogik, sondern der Politik. Und doch hat sich eine Brechtsche Ästhetik gerade auf dem Boden der denunzierten Psychologie angesiedelt. Die Infragestellung der Einfühlung hat andere als die erwarteten Wirkungen hervorgebracht, und die Verfremdungstechnik scheint die Ausarbeitung einer neuen Psychologie der Darstellung zu gestatten. Heißt dies, daß es eine Brechtsche Illusion gibt, und daß man - außer durch „Auszug" aus dem 228

Theater - historische Wahrheit nicht lehren kann, wenn sie nicht schon vorher begriffen wurde? Die Frage ist alles andere als neu. Sie läuft darauf hinaus, Brecht auf den genialen Techniker des Theaters zu reduzieren oder seinen Wunsch wörtlich zu nehmen und aus seinem Verfahren einen groß angelegten Versuch pädagogischer Erneuerung zu machen. Auf der einen Seite also Technizismus - man streitet über Scheinwerfer und legt alles in die „Distanz" - , auf der anderen schneidet man ein großes Werk auf pädagogische Maße zurecht. Indem er die „Fremdheit" des Blickes hervorhob, jene okkulte Stelle der klassischen Dramaturgie, historisierte Brecht das Theater und entpsychologisierte er die Darstellung. Damit zeigt er, daß keine Psychologie dem Problem des Zuschauerbewußtseins Rechnung zu tragen weiß. „Wenn sich dieses Bewußtsein nicht auf ein psychologisches Bewußtsein beschränkt, vielmehr ein soziales, kulturelles und ideologisches Bewußtsein ist, kann man sich seine Beziehung zur Aufführung nicht allein in Form der psychologischen Identifikation denken." 19 Hier steckt zweifellos der Hauptwiderspruch der Verfremdungstheorie. Sie läßt die „Fremdheit" des Blickes in der Sprache eben jener klassischen Psychologie auftreten, die mit dem Begriff der Identifizierung oder Einfühlung die einfache Beziehung eines Subjektes zu einem anderen bezeichnete. Die Problematik der Verfremdungstechnik: In ihrem Kampf gegen die schädlichen Effekte der Einfühlung produziert sie an eben der Stelle des Selbstbewußtseins ein „Objekt Blick", indem sie die Identifizierung auf der Ebene einer imaginären Beziehung jedoch beibehält. Die Funktion des Blickes objektiviert die Szene; die Historisierung der Szene objektiviert die Funktion des Blickes. Die Verfremdung zielt darauf ab, das Theater aus dem Bereich des Imaginären zu führen. Kann man aber Theater machen, ohne daß es seine spezifischen Effekte, nämlich die der Illusion, produziert? Die Theaterszene und die Schauspieler können, wie Brecht sagt, sich nicht als etwas anderes ausgeben als sie sind, ohne daß eine illusionistische Perspektive entsteht. Es bleibt allerdings die Frage, ob sich das Theater den Bedingungen des Imaginären entziehen kann, ob diese Bedingungen für das Theatralische konstitutiv sind oder nicht. „Wer ohne besondere Vorbereitung eine traditionelle chine229

sische Aufführung erlebt, läuft Gefahr, die Bühne und die Schauspieler als das zu sehen, was sie sind", bemerkt Mannoni.20 Zur Verfremdungstechnik wurde Brecht durch das Spiel der chinesischen Schauspieler angeregt. Die Objektivierung einer Wirklichkeit des Theatralischen hat den Sinn einer Historisierung. [...] Im Grunde befolgt Brecht den Ratschlag von Engels 21 an Lassalle: „Du hättest [•..] mehr s h a k e s p e a r i s i e r e n müssen, während ich Dir das S c h i l l e r n , das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeutendsten Fehler anrechne." Shakespearisieren hieß für Engels „theatralisch machen", und der Bühne, auf der sich scheinbar das Drama der Helden abspielt, die komplexen Dimensionen des Klassenkampfes verleihen. Ohne im Rahmen einer so begrenzten Untersuchung voreilig verallgemeinern zu wollen, könnte man sich doch fragen, ob shakespearisieren bei Brecht nicht darauf hinausläuft, gerade den umgekehrten Theatralisierungseffekt wie Shakespeare zu erreichen. Zu Hamlet bemerkt Mannoni, daß Shakespeare in die Theaterkonvention ein Moment der Theatralik einführt, das dem Spontanen der Neurose gleichkommt. Hamlet identifiziert sich mit einem Schauspieler, er dramatisiert und spielt seine eigne Person, und dieser Anfall von Schauspielerei, in dem er dahindämmert, bildet den Knoten des Dramas. Durch die Hineinnahme der Theatralik ins Theater wird so das Problem der Neurose gestellt. Und in dieser Hinsicht ist der „Fall Hamlet" weniger wichtig als ein bestimmter Typ neurotischer Fragestellung: Töten oder nicht töten, leben oder schlafen usw . . . Man hat es bei Shakespeare meistens mit einer tatsächlichen Theatralisierung der Geschichte zu tun. Ihre Helden spielen das spontane Theater der Leidenschaften, während gleichzeitig der Schauspieler eine Heldenrolle übernimmt. Bei Brecht nun passiert genau das Umgekehrte: Die Historisierung Hamlets zeigt „den jungen, aber schon etwas beleibten Menschen die neue Vernunft, die er auf der Universität in Wittenberg bezogen hat, recht unzulänglich anwenden. Sie kommt ihm bei den feudalen Geschäften, in die er zurückkehrt, in die Quere. Gegenüber der unvernünftigen Praxis ist seine Vernunft ganz unpraktisch."22 Brecht geht es mit Sicherheit nicht darum, die 230

Shakespearesche Dimension des „Theaters im Theater" aufzugeben, sondern gewissermaßen eine Szene in letzter Instanz, die das Ganze determiniert, ins Spiel zu bringen: die Geschichte. Das läuft auf eine Enttheatralisierung der Geschichte hinaus; und wenn Brecht „shakespearisieren" für notwendig hält, dann „entfremdend". So ist Arturo Ui ein jämmerlicher Shakespearescher Held, der Unterricht bei einem schlechten Schauspieler nimmt. Indem er in einem Zug die Ungeheuer Shakespearescher Dramen und die Gangster von Chicago heraufbeschwört, antwortet Brecht auf die Theatralik des Faschismus mit einer noch gewaltigeren: Er gibt die Henker der Lächerlichkeit preis. Er zeigt, daß die Urheber der großen politischen Verbrechen nicht die ruhmreichen Könige des Theaters der Leidenschaften sind, und daß die Neurose einiger Mörder niemals die Geschichte zu erklären vermag. Der bis zur Lächerlichkeit gesteigerte Exzeß an Theatralik mündet in einer Enttheatralisierung der Geschichte und des Spiels des Darstellers: Arturo ist - weit davon entfernt, der faszinierende Führer aus der Nazi-Propaganda zu sein schließlich nur ein jämmerlicher Held, der das Gehabe eines grotesken Komödianten nachahmt. Brecht stellt die Fremdheit des Blickes heraus; Distanz scheidet die Katharsis von der Identifizierung. Freud entfernt sich von der traditionellen Psychologie, indem er die Unterscheidung herausarbeitet, aus der jene ihre Daseinsberechtigung bezog: den Vollzug einer Spaltung zwischen Imaginärem und Symbolischem. Dieser Bruch mit der Psychologie verleiht dem Konzept der Identifizierung seine psychoanalytische Dimension, indem er es von der Auffassung eines einheitlichen Bewußtseins und der Identität des Bewußtseins mit sich selbst trennt. Die Identifizierung ist konstitutiv für ein Subjekt, das, nach einem imaginären Modell, sein Ich herstellt, indem es sich Züge dieses Modell-Objektes aneignet. Die Identifizierung operiert auf der Ebene des Imaginären (Ideal-Ich) und im System des Symbolischen (Ich-Ideal). Sie erhält ihre Funktion durch die von der Psychologie nicht beachtete Spaltung des Subjekts (Spaltung zwischen Imaginärem und Symbolischem, durch deren Verkennung die Psychologie ihr Konzept von der Identität des Ich aufrechterhalten konnte). Ihre Merkmale spürte Freud in den 231

neurotischen Symptomen auf. Das spontane Theater der Hysterie verhilft dazu, sich nicht über die Orte der Identifizierung zu täuschen, den Blick nicht mit dem Reflex und das Imaginäre nicht mit dem Spiegelbild zu verwechseln. E s verhilft aber nicht zur Erkenntnis der spezifischen Beschaffenheit des Zuschauerbewußtseins. Um nicht in psychologistische Betrachtungsweisen zu verfallen, also den Glauben an den individuellen Charakter des Zuschauerbewußtseins zu teilen, muß man erkennen, daß „die Einfühlung im Theater absolut nichts gemein hat mit der hysterischen Identifizierung" 23 . Das große Verdienst Brechts ist, verstanden zu haben, daß die Identifizierung konstitutiv für das Theater ist und daß ein materialistisches Theater auf folgendem Widerspruch beruht: D i e Theaterszene entzieht sich dem Imaginären, indem sie sich als das gibt, was sie ist. D e r Blick ist das „Objekt" des Theaters in dem Maße, wie dieses den Schauplatz eines Imaginären, das als eben solches begriffen wird, bildet. D i e hysterische Theatralik ist den verschiedenen Äußerungsformen des Ideal-Ichs verwandt; sie berührt die Personen, Rollen, Konversionen 2 4 und den Rollentausch. Das Theater jedoch, das seine Konventionen klar herausstellt und naturalistische Täuschungen zurückweist, stellt die Symbolik der Spiele des Imaginären in Rechnung, es berührt den Bereich des Ich-Ideals (und erzeugt eine symbolische Identifizierung). „Nichts ist leichter", schreibt Mannoni, „als zu zeigen, daß der Theaterzuschauer sich der Illusion hingibt, und daß er sich mit den Personen auf der Bühne identifiziert. Schwierig aber ist es, zu zeigen, wieso das gerade keine gewöhnliche Illusion ist und wieso es nicht darum geht, sich täuschen zu lassen oder nicht [ . . . ] " , denn: „die bewußt kultivierte Gläubigkeit ist überhaupt keine Gläubigkeit." 2 5 Mit einem Wort, das Theater ist vor allem und grundsätzlich der Ort kultureller und ideologischer (Wieder) Erkenntnis (reconnaissance). Brechts Anerkennung der Realität der Konvention auf dem Theater hat den Sinn einer Wiederaufnahme des Imaginären durch das Symbolische; mehr noch, sie ist Historisierung der Theaterszene. Sie reduziert das Theater auf sein Minimum: auf ein Ritual, das auf ein Anderes verweist, von dem es abhängt - die Szene der gesellschaftlichen Widersprüche.

232

Dieser Historisierung der Theaterszene entspricht die Absicht Brechts, das Spiel der Darsteller zu „enthysterisieren", das heißt, den Anteil der für die Funktion des Schauspielers unentbehrlichen Theatralik herabzusetzen. Der Schauspieler darf nicht von seiner Rolle besessen sein, wenn er die Bedeutung von Besessenheit zeigen will: Selbst ein Besessener, fällt er der Teufelsneurose 26 anheim und gibt sich den Namen Gottes; frei von Besessenheit, ist er Schausteller von Riten, Herr des Spiels. „Um V-Effekte hervorzubringen, mußte der Schauspieler alles unterlassen, was er gelernt hatte, um die Einfühlung des Publikums in seine Gestaltungen herbeiführen zu können. Selbst Besessene darstellend, darf er selber nicht besessen wirken; wie sonst könnten die Zuschauer ausfinden, was die Besessenen besitzt?" 27 Dennoch bleibt Brechts Methode widersprüchlich, wie die Geschicke einer Brechtschen Pädagogik bezeugen, die aus dem sozialen Gestus eine Moralgeschichte (conte moral) und aus der Verfremdungstechnik ein Komödiantenrezept gemacht hat. Einem „psychologischen" Raum der Einfühlung verpflichtet, obwohl er sich von ihr absetzt, bleibt Brechts Versuch von einer Illusion geprägt, ohne die es kein Theater gibt: von der I l l u s i o n , mit deren H i l f e das T h e a t e r Bew u ß t s e i n b i l d e t u n d v e r ä n d e r t . Brecht bleibt dennoch der einzige, der, aus der Illusion selbst, die großartige Idee hervorbrachte, daß das Theater etwas anderes als rein Imaginäres, der Zuschauer etwas anderes als Richter oder Gewissen, der Schauspieler alles andere als ein Besessener ist, indem er die Theaterszene und ihre Helden auf die unvollendete Szene der Gesellschaft bezog. Brechts theoretisches Werk ist aber von einer Problematik gekennzeichnet, deren Grenzen und Engpässe bei weitem nicht erklärt sind. Bewußtsein zu verändern heißt: die Idee eines neuen Menschen zur Geltung bringen. Aber unter die „depsychologisierten" Züge des gesellschaftlichen Bewußtseins kann sich, kraft der Gläubigkeit (und wäre sie schon unterhöhlt) gegenüber der Sendung der Revolution, ein rein psychologisches Bewußtsein einschleichen, das den Blick des neuen Menschen schult, indem es der Pädagogik zu neuem Ansehen verhilft. Übersetzt von Brigitte Burmeister

233

10. Louis Aragon

Das Ende der „Wirklichen Welt"

Ich halte den Roman für eine Sprache. Eine, wie wir sehen werden, äußerst anspruchsvolle Sprache. Von der, das muß man zugeben, nicht immer der gehobenste Gebrauch gemacht wird. Aber offen gestanden sind wir Romanschriftsteller auf diesem Gebiet des Schaffens, auf dem wir uns herumschlagen, eine Art Kosmonauten im Zustand der Schwerelosigkeit: Daher darf man nicht voreilig befinden, ob dies da oder das da als „oben" oder als „unten" anzusehen ist. Ich glaube nicht, daß ein Mensch in normaler Verfassung heutzutage Romane lesen kann, wie die Astrée „von Messire Honoré d'Urfé 1 , Marquis von Verrome, Graf von Chasteau-neuf, Baron von Chasteau-morand, Ritter des Ordens von Savoyen usw., worin in mehreren Geschichten und in Gestalt von Schäfern und anderen die mannigfachen Folgen der ehrlichen Freundschaft dargelegt werden", wie es der Titel ankündigt; ebensowenig, muß ich sagen, Die neue Heloise von Rousseau 2 , Bürger von Genf. Wenn auch diese Romane zu ihrer Zeit einen ungeheuren Widerhall gefunden haben, so scheinen sie doch heute als „Sprache" keinerlei Wirkung mehr erreichen zu können. Das mag zwar daran liegen, daß die Dinge, die hie und da für die Männer und Frauen einer anderen Gesellschaft gesagt wurden, in der veränderten Gesellschaft von heute keine Gültigkeit mehr haben, zumindest nicht ohne Kommentar oder kritische Überprüfung, bedeutet aber nicht zwangsläufig, daß die Wandlungen der Gesellschaftsstruktur die vorher entstandenen Romane unlesbar machen. Man kann Schwierigkeiten mit der Form haben, wenn man Rabelais liest, aber man liest ihn. Man liest ohne Mühe Don Quichotte. Ich könnte die Beispiele häufen. Und Romane, die zu ihrer Entstehungszeit uninteressant schienen, wie Rot und 237

Schwarz, beziehen ihre Bedeutung aus etwas anderem als aus einer Veränderung der Gesellschaft. Ohne darum zu bestreiten, daß der Roman, wie alles Menschenwerk, voll und ganz als Sprache verstanden werden kann, ohne daß er in den Rahmen der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie für den Autor bestanden, wieder eingefügt wird. Aber wenn es um „oben" und „unten" geht, werde ich mich hüten, „oben" und „unten" auf die Kiste zu schreiben, mit der wir unsere Bücher in die Zukunft schicken, und auf der keinesfalls das Etikett „zerbrechlich" fehlen darf: Denn es kann durchaus sein, daß man später nicht sagen wird, „obenan" als Roman stehe (wie die Astrée in ihrer Zeit) dieses oder jenes von uns hochgeschätzte zeitgenössische Buch, wenn vielleicht so etwas wie James Bond? sich später gut ausnimmt. Fragt man mich - ich habe so manches sich ändern sehen in meinem langen und kurzen Leben : Madame Colette, die als Autorin des Boulevards galt, wohin sie der umwerfende Vielschreiber - der ihr erster Mann war - , ein gewisser Willy, geholt hatte, ist inzwischen zu den besten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts aufgestiegen . . . Niemand liest mehr Paul Adam4 oder Henri de Régnier.5 Jules Verne dagegen, der aufgehört hat, ein Autor für das junge Volk zu sein, erreicht heutzutage die Auflagenhöhe von Lenin. Die Jugend, zu der ich gehörte, ich vorneweg, las lieber Fantômafi oder Naz-en l'Air1 als Proust. Wir galten damals als Spaßvögel wegen der Bewunderung, die wir Raymond Roussel8 bezeugten ; niemand las diesen Autor, der heute, wie Proust, einer der wesentlichen Bezugspunkte der neueren Literatur ist. Man könnte die Beispiele häufen. In der einen wie in der anderen Richtung. Wie soll man die dogmatische Festlegung der Werte, ihre Rangordnung in der Literaturgeschichte für etwas anderes halten als für eine bloße einfache Ansichtssache zu einem bestimmten Zeitpunkt? Ansicht von Universitätsleuten, was keinen großen Unterschied ausmacht im Vergleich mit der Ansicht von Weltleuten - eben eine Gruppenansicht. Der Snobismen sind so manche. Meiner besteht darin, nur das zu lieben, was ich liebe. Aber darum handelt es sich übrigens n i c h t . . . Ich wollte in der Hauptsache sagen, daß „der Roman als Sprache" all den Unbeständigkeiten unterliegt wie die Spra238

chen selbst. So z. B. kann es aus sein damit, daß man ihn liest, wie mit den Sprachen, daß man sie spricht. Dafür darf man nicht die Leser verantwortlich machen, besonders nicht die Jugend, wie man es zu tun pflegt. Auch nicht unbedingt die Autoren, ihr Talent oder ihr fehlendes Talent. Das Problem ist etwas komplexer und liegt auf etwas höherer Ebene. Ich halte den Roman für eine Sprache, die nicht nur sagt, was sie sagt (die Anekdote, die Personen), sondern noch etwas a n d e r e s , und vielleicht macht das Fehlen dieses geheimnisvollen a n d e r e n aus vielen von ihnen das, was Stendhal R o m a n e f ü r K a m m e r f r a u e n nannte, Romane wie die, die Lautréamont 9 meinte mit seinem Vorwurf, n i c h t s c h l ü s s i g zu sein, ein Vorwurf, über dessen Bedeutung nachzudenken nicht schlecht wäre. Der Roman ist m. E . eine Sprache, die nicht nur sagt, was sie sagt, sondern noch etwas anderes d a r ü b e r hinaus. Gerade dieses „Darüberhinaus" ist mir kostbar. Selbst wenn der Romanschriftsteller am Anfang alle Chancen für sich hat, selbst wenn er zu seinen Lebzeiten mit Kommentaren oder allen möglichen anderen Mitteln zu verhüten sorgt, daß dieses „Darüberhinaus" verblaßt, wird es ihm nicht immer möglich sein, z. B. mir als Romanschriftsteller nicht, den Zugang zu erleichtern, den Zugang zu diesem „Darüberhinaus" freizulegen, da mir ja meine Zeit zum Gebrauch der Sprache ziemlich geizig zubemessen ist. Aber trotzdem ist es möglich, daß das, was ich gesagt zu haben schien, heute nicht mehr wahrgenommen wird oder doch anders, als ich es sagen wollte, oder nur noch im Zusammenhang mit den neuen Tatsachen, nur noch im Licht dieser neuen Tatsachen, die dem Gesagten andere Schattierungen geben. Warum dann also nicht, wie die Maler ihr Bild, einen oder mehrere Romane retuschieren, damit sie in der Weite, die vor mir liegt, zumindest eine Chance haben - und wär's nur 1 : 1 0 0 0 0 0 - , nicht zu scheitern? Damit sie Sprache bleiben und nicht Gewäsch. Ich halte den Roman für eine Sprache, und in jeder sprachlichen Äußerung gibt es zwei Bestandteile, allerdings in wechselnden Proportionen: die Sprache im eigentlichen Sinne, nämlich als Anhäufung der Wörter, der synthetischen Beziehungen, kurz- als gemeinsamer Schatz einer K o l l e k t i v i t ä t , und

239

andererseits gibt es den Gebrauch, den ein I n d i v i d u u m davon macht, sein g e s p r o c h e n e s W o r t (parole). Aber wenn ich sage, der Roman sei eine Sprache, muß man ihn als Sprache (langage) u n d als gesprochenes Wort (parole) verstehen, das heißt als indivduellen (seinem Autor zugehörigen) Gebrauch des Allgemeinguts mit der Besonderheit, daß er riskiert, den kollektiven Gebrauch dieses Gutes zu beeinflussen, das heißt, die Sprache selbst zu modifizieren. Ein Vorgang, der nicht nur die Form betrifft, denn die Sprache riskiert zwar, in ihrer F o r m modifiziert zu werden, aber auch in dem, w a s sie sagt. Der Roman ist eine einzigartige Erfindung des Menschen, e i n e M a s c h i n e , im modernen Wortsinn, dazu bestimmt, das menschliche Bewußtsein auf der Stufe der Sprache zu verändern. Ich sagte zu Recht, es sei eine äußerst anspruchsvolle Sprache, die sich nicht damit begnügt, einen auf der Plattform des Autobusses angetroffenen Raucher um Feuer zu bitten. Die Romanschriftsteller in ihrer Mehrzahl teilen sich in Anhänger der Sprache im gewöhnlichen Sinne, das heißt solche, die den ersten besten Passanten um Feuer bitten, und in Anhänger des gesprochenen individuellen Wortes (parole individuelle), die ihr eigenes Feuer anbieten, ohne sich darum zu kümmern, ob ein Bedürfnis danach besteht. Vulgärrealisten oder Antirealisten. Ich sehe ihnen mit Interesse zu, aber ich erwarte von ihnen das „andere". Denn es kann sein, daß ein Romanschriftsteller aus dem einen oder dem anderen Lager dahin gelangt zu tun, was Lautréamont forderte und was er „schlüssig sein" nannte. Es wäre sehr unrecht, dies auf „die Moral der Fabel" zu reduzieren. Selbstverständlich gibt es zwischen dem einen und dem anderen Lager schwankende Schriftsteller, die man nicht mit dem Etikett eines Lagers ausstaffieren kann. Für die einen wie für die anderen ist nicht die geographische Lage wichtig, sondern das, was im Werden ist. Ich hatte anfangs über meine Arbeit, von der ich euch gerade eine Vorstellung zu vermitteln suchte, gesagt, daß sie in das Aktenstück Realismus eingeordnet werden kann, und ich glaube, es ist nicht unbedingt notwendig, genau zu bestimmen, von welchem Realismus ich sprach. Man weiß, daß ich darauf 240

beharre, einen gegebenen Realismus zu verteidigen und, auch wenn es mir schwerfällt, die Last dieses Etiketts zu tragen. Ich gebrauche diesen Ausdruck zwar nicht wie jedermann, aber der schlechte Gebrauch, den gewisse Leute möglicherweise davon gemacht haben, und der schlechte Ruf, in dem er bei anderen wegen dieses Gebrauchs steht oder wegen des autoritären Charakters, den er hier und da angenommen hat, - nichts von all dem nötigt mich zum Verzicht darauf, d e s k r i p t i v zu präzisieren, daß es sich, wenn ich „Realismus" ohne weiteren Zusatz sage, immer um den sozialistischen Realismus handelt. Über die Merkmale dieses Realismus sind sich nicht alle einig, z. B. darüber, ob es sich um einen „gelenkten" oder besser gesagt „eingedämmten" Realismus handelt oder nicht. Wie man weiß, habe ich einen von Roger Garaudy erfundenen Ausdruck begrüßt als dem Realismus entsprechend, auf den ich mich berufe, einen Ausdruck, den ich für meinen Teil sehr gelungen finde: „Realismus ohne Ufer". 10 Allein schon die Vorstellung von einer Ästhetik, die Eindämmung, Kais oder Ufer voraussetzt, kann, wie mir scheint, dem in Erwägung gezogenen Realismus nur einen dogmatischen Charakter geben. Gerade dagegen wende ich mich theoretisch und praktisch zugleich. Ein s o z i a l i s t i s c h e r Realismus kann kein Routinerealismus sein. Er muß, wie der Sozialismus, ständig einen experimentellen Charakter haben, er muß eine Kunst des fortwährenden Sich-Übertreffens sein. Nichts widerspricht ihm mehr als die Formel, das Rezept, die Wiederholung. Ob es sich nun um die Malerei oder das Schrifttum handelt: Kunst - das ist immer das Infragestellen des Erreichten, ist Bewegung, ist Werden. Mit welchem Recht sollte man also etwas Realismus nennen, was keine Rücksicht nimmt auf die Veränderungen des Lebens, die Entdeckungen des Geistes, die von der Wissenschaft erschlossenen Gebiete? In wessen Namen kann man von uns verlangen, das Gedicht, den Roman oder das Bild auf die Normen der Menschen zurückzuschrauben, die keine Ahnung hatten von Radio, Fernsehen, Radar, Kybernetik, Fahrt in den Kosmos? Und dabei beschränke ich mich noch auf diese groben Bilder. Auf jeden Fall könnte das niemals im Namen des Sozialismus geschehen, das heißt des Prinzips der Vervollkommnungsfähigkeit des Lebens und des Menschen, geradezu der Bedingungen 16 Burroeister/Barck

241

des menschlichen Lebens! Wege zum Sozialismus - schön, darüber läßt sich streiten! Zum Sozialismus selbst wird man nicht gelangen, ohne diejenigen teilnehmen zu lassen, die sich in ihren Mitteln unterscheiden, aber ein gleiches Ziel zu erreichen suchen; dies gilt in der Kunst wie in der Politik. Das ist der Grund, warum ich - bei allem Mißtrauen gegen den Vergleich so verschiedener Gebiete, wie des politischen Handelns und des künstlerischen Schaffens - zu denen gehöre, die es natürlich finden, nach der Konvergenz von Menschen zu suchen, die sich im Gebrauch von diesem oder jenem Mittel unterscheiden, wenn sie sich nur zu einem gemeinsamen Ziel bekannt haben. Es ist auch der Grund, warum ich auf dem Gebiet der Künste denen zustimme, deren Herz groß genug ist für die Vielfalt der Schulen, wie auch den Politikern, die, weil sie das Glück ihres Landes und der Menschheit höher stellen als den Ausschließlichkeitsanspruch von Parteiungen, aus diesem Grunde die Vielzahl der Parteien als etwas Gutes verkünden. Und ich wage zu sagen, daß der Realismus selbst aus dieser Vielfalt entsteht, aus der Vielzahl der Gesichtspunkte, der Gegenüberstellungen, der Experimente und des Gebrauchs, den der Mensch von seinen neuen Waifen macht, um die Menschen und die Natur zu erkennen. Ich fordere Bürgerrecht für einen experimentellen Realismus, und zwar ebenso von denen, die den Realismus sogar nur in seinen traditionellen Grenzen halten wollen, wie von denen, die beanspruchen, das Monopol des Experimentierens innezuhaben. Ich fordere Bürgerrecht für einen experimentellen Realismus, was eine Stellung des Künstlers voraussetzt, die der des wissenschaftlichen Forschers analog ist. So z. B. im Roman. Ohne jemanden ausschließen zu wollen. Außer jene, die sich selbst davon ausschließen bis zu dem Grade, daß sie die Zukunft des Romans leugnen. Aber was ist diese Zukunft? Man muß wohl zugeben, daß die Ängstlichkeit auf diesem Gebiet scheinbar den Zeitschriften recht gibt, die sich wie Leichenträger erbieten, den Roman zu beerdigen. Ich gehöre nicht zu denen, die sich darüber entrüsten, daß einige Schriftsteller behaupten, einen „neuen" Roman begründet zu haben. Denn es gibt nichts, was ich so sehr wünsche wie die Neuheit im Roman. Nun, auch auf dem Gebiet der Neuheit liebe ich

242

keine Ufer, und nichts ist sehr lange neu. Was kein Grund ist, altes Eisen zu sammeln. Aber ein Grund, immer wieder Neues von dem zu verlangen, was man mir als Neuheit anbietet. So auch in Sachen Realismus. Ihr fragt mich, was ich damit sagen will? Freilich ist das Neue nicht definierbar, denn wenn es einmal „definitiv" definiert ist, muß man es schon das Alte nennen. Wenn es sich aber um das Schöpferische im Roman handelt - und vom Roman sprechen wir ja - , dann muß man, wie überall sonst, an die Stelle der Definition, der Grenzen, das Prinzip „Erfindung", das der unaufhörlichen Ö f f n u n g setzen. Kaum habe ich dieses Wort gebraucht, so entlockt es mir selbst schon ein Lächeln. Denn ich bin, wie man weiß, in erster Linie Anhänger der „Öffnung" in der Politik. So gibt es einen ständigen Austausch des Vokabulars zwischen dem einen und dem anderen Gebiet, das ist nicht ohne Gefahr, aber die Gefahr gefällt mir. Ist das schließlich nicht die Methode, die schon definitionsgemäß „poetisch" ist, weil sie, aus Überdruß an der Langsamkeit, mit der die wissenschaftliche Erkenntnis sich der Dinge bemächtigt, ungeduldig wird und mit Hilfe der Metapher fortschreitet, jener Form der Intuition, die der Entdeckung schon so oft eine kühne Hypothese hat vorausgehen lassen, die wir „Bild" nennen. Ich muß euch hier darauf verweisen, was Elsa Triolet vor mir mit besonderem Nachdruck über dieses Thema hier und da, aber ganz besonders in ihrem letzten Roman Das große Nimmermehr (Le Grand, Jamals, 1965) geschrieben hat, dem das, was ich hier sage, viel verdankt. Ich sage dies zu einer Zeit, wo die Malerei mit jahrhundertealten Verfahren gebrochen und vielleicht die Poesie übertroffen hat, was das Visuelle betrifft, zu einer Zeit, wo - nach einem Ausdruck von Paul Eluard - erst der Maler überhaupt etwas „zu sehen gibt" und dem Auge Fragen stellt. Und wenn ich Bürgerrecht für einen experimentellen Realismus fordere, einen Realismus, der Schritt hält mit den großen Entdeckungen und den neuen Wissenschaften, einen Realismus nach Maß der neuen Gebiete, die sich dem Menschen in beschleunigten Rhythmen eröffnen, meine ich einen Realismus, der sich nicht mit der Rolle der Feststellung, der nachträglichen Beschreibung, einem katalogartigen Realismus zufrieden16»

243

geben kann. Es wird ihm nicht genügen, es hat der Kunst nie genügt zu zeigen, was man auch ohne sie schon sieht. Und im Hinblick darauf möchte ich euch eine Frage, eine Art von Frage stellen. Vor vier Jahrhunderten brachte Geronimo Cardano 11 die Mathematik auf einen Weg, der wie die Irrealität selbst scheinen mußte, den Rückgriff auf die Wurzeln der negativen Zahlen, die wir gerade deshalb „imaginär" nennen, weil sie der Imagination nicht zugänglich sind. Bekanntlich geschah es erst zu Beginn unseres Jahrhunderts, daß die imaginäre Zahl, deren Existenz Bombelli 12 wenig später als Cardano anerkannt hatte und die sich erst mit den Arbeiten von Gauss schlecht und recht in die Mathematik hatte einordnen lassen, diese Einordnung dadurch bestätigt sehen sollte, daß man sich anschickte, die Zahl statt „imaginär" nun „komplex" zu nennen. Kennt ihr außerhalb der Mathematik ein ähnliches Wagestück? Ich will mich weder in die Geschichte dieser Wissenschaft vertiefen, noch gewagte Schlußfolgerungen aus diesem Übergang vom Mutmaßlichen zur Wirklichkeit ziehen, aber was würdet ihr von einem Realismus sagen, der sich weigert, dem, was „der Imagination nicht zugänglich" ist, in die Augen zu sehen unter dem Vorwand, man werde vier Jahrhunderte warten müssen, ehe man es als „reell" ansieht? Ich spreche für den Roman, vergeßt das nicht! Und auf diesem Gebiet sind wir sehr weit entfernt vom Wagestück eines Cardano oder eines Bombelli, obwohl es schließlich natürlicher scheinen könnte, daß etwas, was man sich weder in der Phantasie noch durch eine Zeichnung vorstellen kann, eher in einem Roman als in der exaktesten der sogenannten exakten Wissenschaften Platz fände. Wir haben, ihr Romanschreiber, meine Brüder, die Möglichkeiten dieser großen menschlichen Erfindung, genannt Roman, nicht erschöpft. Ganz im Gegenteil. Wir haben auf diesem Gebiet einen außergewöhnlichen Rückstand gegenüber den anderen Disziplinen des Geistes. Daher sind wir, herkömmliche oder „neue" Romanschreiber, immer noch dabei, unsere Kunst auf dem Prüfstand der Glaubwürdigkeit zu messen, nach dem von Paul Bourget 13 gegebenen Maß, auf das selbst die Autoren von phantastischen Romanen Bezug genommen haben: Und ihr wißt ja, 244

daß schon Charles Nodier 14 forderte, man solle ein Märchen mit der trivialsten Realität beginnen, um Glauben an die Märchenfeen zu erzeugen. Kein Roman der „Schwarzen Serie" 1 5 könnte sich auf das Unglaubliche gründen. Und seht nur näher zu! - die Glaubwürdigkeit ist zugleich das Evangelium von Bourget und von Robbe-Grillet. Das Glaubwürdigkeitsprinzip im Roman ist etwas anderes als ein Ufer oder eine Mauer am Ende einer Sackgasse. Die Zeit ist vielleicht gekommen, wo der Roman, um zu den Menschen einer gestern unvorstellbaren Welt zu passen, einen realistischen Charakter nur noch in dem Maße haben kann, wie er es wagt, seine eigenen imaginären Zahlen anzuwenden, seine negativen Quadrate zu ersinnen, den ihm eigenen kombinatorischen Regeln zuwiderzuhandeln, auf die Gefahr hin, im Namen des Realismus „von der Kanzel herab" von allen Tartaglias 16 von heute verdammt zu werden. Vielleicht haben wir die Stunde erreicht, wo der Roman die Pflicht hat, den Höllenfluß zu überspringen und in das Gebiet des Unvorstellbaren vorzustoßen, aus sich eine Mutmaßung zu machen, um zum Fortschritt des menschlichen Geistes beizutragen, die Verwandlung des Menschen und der Natur zu beschleunigen. Vielleicht sind wir an der Schwelle einer großen Herausforderung, wo der Roman etwas wagen wird, was die am weitesten entwickelte, die fortgeschrittenste Wissenschaft bisher nur erahnen kann. Vielleicht wird e r vor der Zukunft die Trompeten blasen, welche die Mauern und Grenzen zum Einsturz bringen, und vielleicht werden wir durch i h n in den Menschen, dieses uneinnehmbare Jericho, tiefer eindringen als je in den Kosmos. Darum muß sich der Roman auf die Entdeckungen der Poesie stützen. Ebenso wie die anderen Wissenschaften nur in dem Maße Fortschritte erreichten, wie sie die Entdeckungen der Mathematik verwendeten. Und ich würde sagen, daß die Poesie, was die hypothetische Kraft betrifft, die Mathematik aller Arten des Schrifttums ist. Um auf den metaphorischen Gebrauch zurückzukommen, den ich vorhin von der Entdeckung und Anwendung der imaginären Zahlen machte: Wenn ich auch kein Äquivalent dafür direkt in der Geschichte des Romans finde, habe ich vielleicht doch das Recht zu glauben, daß die Poesie einige Präzedenzfälle aufweist, die analoge Züge zu der

245

Kühnheit der Mutmaßung in den Wissenschaften haben. Ich nenne hier als Beispiele, die nicht erschöpfend sind, Nerval, Rimbaud, Lautréamont, Mallarmé. Das sind für uns Cardanos, Bombellis, Gauss', Évariste Gallois'. Und sicher darf man in dieser ganz unvollständigen Aufzählung von Forschern nicht den Mann vergessen, der, meines Wissens als einziger, in seinem Werk die mathematische Erfindung und die poetische Erfindung kombiniert hat, Charles L. Dogson, bekannter unter dem Namen Lewis Carroll. 17 Es wäre wünschenswert, daß eines Tages jemand die Verbindungslinien zwischen Carrolls Alice im Wunderland, und seinem Studium der linearen Systeme mit reellen oder imaginären Koeffizienten aufzeigt. Und, um mit einem einzigen Sprung in der Epoche u n s e r e s Lebens anzukommen, sage ich ohne Zögern, daß es einer der einzigartigsten Versuche der Erforschung des Geistes ist, - dem die Journalisten den Namen „Surrealismus" gegeben hatten, der, das hat man ein bißchen zu sehr vergessen, von jenen, die sich als erste dazu bekannten, als Herausforderung aufgenommen wurde - , daß es dieser Versuch ist, der sich, wie mir scheint, auf dem Gebiet der Dichtung, das heißt der Theorie des Schöpferischen selbst, am weitesten dem „Würfelspiel" mit den imaginären Zahlen in der Mathematik annähert. Die Parallele kann sehr weit getrieben werden, und zu diesem Thema will ich ein im wörtlichen Sinne „exemplarisches" Beispiel geben: Als André Breton 18 , aus den von ihm nach der Methode des automatischen Schreibens verfaßten Texten schöpfend (die allein wir, unter uns gesagt, damals „Surrealismus" nannten), als Titel zum Textsammeiband ein Bild dieser Art setzt und die Worte Poisson soluble (Löslicher Fisch) wählt, gibt er diesem Ausdruck in Wirklichkeit den Wert eines Manifests, er will sagen, daß die Entdeckungen des Surrealismus, als Schreibweise, im eigentlichen Sinne „lösliche Fische" sind. Und ich bitte euch, etwas näher zu betrachten, was das bedeutet. „Fisch", sagt Littré, „Wirbeltier, das im Wasser geboren wird und lebt". Sich einen „löslichen" Fisch vorzustellen, heißt zumindest, gegen die Kombinationsregeln verstoßen, die dem sprachlichen Ausdruck eigen sind. Ein löslicher Fisch ist ebenso der Imagination nicht zugänglich wie ein negatives Quadrat. Er ist gewissermaßen etwas „Imaginäres". 246

Man wird sich gewiß darüber wundern, daß der Mann, der gerade gesagt hat, daß er sich zum Realismus bekennt und immer bekennen wird, auf die surrealistische Erfahrung verweist. Ich gebe euch zu bedenken, daß dies keine neue Tatsache in meinem Leben ist. Und selbst wenn das bei mir einen Bruch vorausgesetzt hat, habe ich nie aufgehört zu denken - im Stil „Hugo" - , daß im Surrealismus Realismus steckt. Was kein Scherz ist. Auf jeden Fall bin ich auf diesem Wege zum Realismus gelangt, denn ich bin weder als Realist noch als Kommunist zur Welt gekommen. Bei dieser Gelegenheit muß ich sagen, daß die Überladung der ursprünglichen Konzeption mit dem ganzen Kram, der von Papus oder von Sàr Péladan 19 herrührt, dem Surrealismus nichts von seinem Charakter als Verstandeserfindung nimmt. Alles in allem glaubte Geronimo Cardano an die Astrologie, an Amulette, an Deutung der Träume und an deren Vorahnungswert. Was ändert das an der Tatsache, daß er in die Mathematik die imaginären Wurzeln einführte? Ich lenke an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf den Begriff „löslicher Fisch" und die Erfindung, die er darstellt, und nicht auf die Tatsache, daß Breton sich damit vergnügte, mit einer im Handel erhältlichen Maschine Horoskope zu stellen. Für eine simple Bekundung von Agnostizismus halte ich den Machtspruch der Verdammung, die uns verbieten will, über das nachzudenken, was die Erfindung des löslichen Fischs darstellt, wie überhaupt diese stumpfsinnige Art, die man noch zu häufig antrifft, etwas als Unsinn abzulehnen, was man nicht versteht: Mallarmé oder Picasso oder, zu einem bestimmten Zeitpunkt, die Kybernetik. Stellt euch vor: Ich glaube mit der ganzen Heftigkeit, deren ich fähig bin, daß der Realismus der Zukunft, der experimentelle Realismus, von dem ich sprach, seine Wurzeln nicht nur bei den abgestempelten Realisten haben wird, bei denen, die die Druckerlaubnis erhalten haben und nur zu oft die von einem dunklen Ozean heimgebrachten löslichen Fische aus den Netzen der Menschen herauswerfen möchten, um sie zu verbuchen unter Verrücktheit, die man einsperrt, unter banaler Gaunerei, unter geschriebener Fälschung oder vom Gesetz verfolgtem Verbrechen. Der Realismus der Zukunft muß und wird der Ort der Konvergenz der Erfindungen des menschlichen Geistes sein. An 247

ihn und nicht an den Surrealismus, wie er fünf Jahre nach seinem Tode definiert wurde, dachte Guillaume Apollinaire, als er 1917 im Vorwort zu den Mamelles de Tirésias (Brüsten des Tiresias) schrieb: „Als der Mensch den Gang nachahmen wollte, hat er das Rad geschaffen, das einem Bein nicht ähnelt. So hat er Surrealismus gemacht, ohne es zu wissen." Man zitiert diesen Satz immer wieder wegen des Wortes „Surrealismus", als würde es sich um das handeln, was Apollinaire, der 1918 starb, nicht kennen konnte, denn es gab „Surrealismus" in dem Sinne, den wir diesem Wort geben, erst ab Juni 1919, als André Breton und Philippe Soupault 20 Les Champs Magnétiques (Die Magnetischen Felder) schrieben. Man vergißt mehr oder weniger absichtlich den Satz, der vor diesem Bild vom Rad steht: „Und um zumindest eine persönliche Anstrengung zu versuchen, wenn schon keine Erneuerung des Theaters, habe ich gedacht, daß man auf die Natur selbst zurückgehen muß, aber ohne sie in der Art der Photographen zu imitieren." Was ganz genau die Kritik ist, die wir heute im Namen eines Realismus ohne Grenzen am Vulgärrealismus üben, was Apollinaire in Wahrheit mit dem Gebrauch des Wortes „Surrealismus" im Auge hatte. Denn das Rad ist kein Angriff auf die Realität, sondern eine Realität, selbst wenn die Zeitgenossen des Erfinders des Rades, als man noch nie eines gebaut hatte, den, der das Knie gesehen hatte und die Pleuelstange erfand, als einen Lästerer der Realität ansahen. Übersetzt von Irene Seile

11. Pierre Barberis

Bausteine für eine marxistische Lektüre des literarischen Faktes

Die marxistische Geschichtstheorie analysiert den ganzen Menschen, die Geschichte seiner Entwicklung, die partielle Verwirklichung seiner Vollendung, oder auch seiner Zerstückelung, im Laufe der verschiedenen Epochen und bemüht sich, die verborgenen Gesetze dieser Beziehungen festzustellen. Georg Lukäcs

Sukzessive hektüremöglicbkeiten Man kann nicht mehr davon ausgehen, daß die Bedeutung eines Werkes durch die Absichten des Autors oder durch die Art und Weise, wie es von seinen ersten Lesern aufgenommen wurde, bestimmt wird. Entweder sind die Absichten des Autors zweideutig, unklar, verworren, schwer oder unmöglich zu definieren ; oder die tatsächliche Wirkung kann über den ursprünglichen bewußten Entwurf weit hinausgegangen sein, ja ihn annulliert oder entstellt haben. Kann man, selbst wenn Molière hieran gedacht hat, den Misanthrop durch die Charaktertheorie erklären? Das Publikum seinerseits ist seiner Erfahrung und dem jeweils aktuellen Geschehen verhaftet; vor allem verfügt es nur sehr selten über die zur Lektüre und zum Problemverständnis notwendigen Mittel, über die spätere Lektüren hingegen verfügen können. Je mehr Zeit übrigens vergeht, desto mehr wird das Werk Objekt und kann weniger leidenschaftlich oder affektiv, sondern wissenschaftlicher gelesen werden. Es wird Teil èines besser bekannten, besser fundierten Ganzen und unterliegt Techniken oder Möglichkeiten der Entschlüsselung, die zur Zeit seiner Produktion undenkbar oder verfrüht

249

waren. Die Lesarten folgen aufeinander, sie widersprechen einander, eventuell - aber nicht beliebig - ergänzen sie einander. Da gibt es zunächst Lesarten, die - wenn man so sagen kann - einfach nur wiederzufinden sind: solche, die sich aus Veränderungen im Vokabular, im Wert der Bilder, in der Hierarchie der Stile ergeben; solche, die sich aus den Veränderungen der Problematik und der Art und Weise zu leben und auf der Welt zu sein, ergeben; solche schließlich, die aus dem Fehlen bestimmter Kenntnisse über die Entstehung, über die unterschwellige Entwicklung des Schreibens, über die Hemmungen, die Selbstzensuren, die Überschneidungen und die Anleihen, über die Neuansätze, die den Weg des Schreibens von den ersten Notizen bis zum Manuskript, bis zum fertigen Werk begleiten, resultieren. Diese verlorenen Lesarten soweit wie möglich wiederzufinden, heißt, das Werk so wiederzufinden, wie es von den Zeitgenossen wahrgenommen und aufgenommen werden konnte, so wie es Teil eines konkreten kulturellen Materials war; es heißt auch, ein Werk so wiederzufinden, wie es sich seinen Weg durch mannigfache Widerstände und Schwierigkeiten bahnte. Man könnte natürlich zeigen, daß die Lektüreweise grammatischen oder gelehrten Typus selbst in starkem Maße durch die Ideologie bedingt ist. Auf diesen Punkt kommen wir noch zurück. Zunächst aber wollen wir an zwei Beispielen zeigen, daß bestimmte Bedeutungen literarischer Werke sich nur aus der Entwicklung von Wissenschaften ergeben konnten, deren bloßes Vorhandensein und deren Wirksamkeit zu der Zeit, da diese Texte entstanden sind, nicht vermutet werden konnten. Es handelt sich nicht mehr um verdunkelte oder verlorene, sondern um neue, um aufgetauchte Lesarten. 1. R o u s s e a u . In der berühmten Episode der Neuen Heloise übergibt Julie Saint-Preux einen Schlüssel vom Elysium. So wird er ganz nach Belieben in dem herrlichen Garten Spazierengehen können. Aber der Schlüssel, den Julie Saint-Preux aushändigt, gehört ihr und nicht ihrem Mann, Herrn de Wolmar, worüber Saint-Preux sehr traurig ist. Für uns ist der Sinn der Episode klar: Saint-Preux ist der Freund von Julie, aber Julie ist mit Herrn von Wolmar verheiratet. Sie gehört ihm und wird ihm auch weiterhin gehören. Saint-Preux soll sich in 250

dieser Hinsicht keine Illusionen machen. Er macht sich übrigens auch keine, und daraus kommt sein ganzer Kummer. Nur die Psychoanalyse ermöglicht es heute, in diesem übergebenen und wieder zurückgenommenen Schlüssel die schrecklichste und deutlichste Botschaft zu erkennen. 2. S t e n d h a l u n d . B a l z a c . Obere und untere Stadt. Feudale und religiöse Stadt, „Arbeiter-" und „Industriestadt''. Akropolis-Stadt und Stadt am Wasser (das die Energiequelle ist). Ist Monsieur de Rénal ein Ehemann wie irgendein anderer? Ist Madame de Bargeton nur eine grausame und unnahbare Frau wie eine andere? Aber Angoulême und l'Houmeau, die spanischen Befestigungen von Verrière und die Nägelfabrik, das ist doch die alte Zivilisation (adlig, religiös und administrativ; eingekapselt, erstarrt) gegen die neue (die Bewegung ist) mit ihrem Personal, ihren Bündnissen, ihrer Zweckorientierung. Die Darstellung.kann mehr oder weniger kontrastreich sein: Nur die moderne soziologisch-ökonomisch-politische Analyse verschafft auf den ersten Seiten von Rot und Schwarz und den Verlorenen Illusionen Klarheit. Die feudalistische Ära weicht. Das Leben hat einen neuen Lauf genommen. Männer, die sich als Radikale bezeichnen und es sein wollen, sind Industrielle, Schmiedemeister, sie entwurzeln und proletarisieren die frischen jungen Mädchen aus den benachbarten Bergen. Dies kann erst bei Marx in klaren Begriffen ausgesagt werden. Monsieur de Rénal 1 ist nicht der traditionelle Typ des betrogenen Ehemannes ; er ist ein im kapitalistischen Abenteuer engagierter Junker, der seine Politik mit Logik durchführt. Was nicht ohne Folgen ist und mehr als nur seinen Steckbrief als Ehemann zu erklären hat. Nicht allein gegen Titel und Stand gerichtet, sucht, verrät, empört sich Madame de Rénal und findet schließlich das Gesuchte; nein, sie richtet sich gegen das Geld, gegen die bürgerliche Familie, gegen die bürgerlichen Beziehungen, gegen eine weithin schon nicht mehr aristokratische Welt, die trotz der Restaurationsfolklore bereits die Züge des bürgerlichen Universum eines Paul Bourget2 oder Roger Martin du Gard trägt. Diese Beispiele veranschaulichen deutlich, daß die Möglichkeit neuer Lesarten nicht allein vom „Geschmack", nicht allein von der Intelligenz oder der bloßen Phantasie der Leser, auch nicht von irgendeinem rein formellen oder abstrakten „Fort251

schritt" abhängt. Sie ist unmittelbar mit dem Auftreten neuer Kräfte verbunden, deren Entstehen und deren Entwicklung das deutlich werden lassen, was an Angedeutetem und NichtEntziffertem in einer literarischen Produktion steckt, die im Grunde noch immer unzureichend angeeignet und humanisiert ist, und die noch immer von ungenügend vorbereiteten, ungenügend befreiten Lesern gewissermaßen passiv ertragen wird. Anzuerkennen, daß die Psychoanalyse dazu beiträgt, die Elysium-Episode zu erfassen, setzt voraus, daß ein verstümmelnder Spiritualismus und Idealismus beseitigt worden sind, daß die Bedeutung, die ganze Bedeutung der sexuellen Determinationen und Symbole anerkannt wird. Anzuerkennen, daß das Thema Oberstadt - Unterstadt oder Altstadt - Neustadt nicht Sache heimatlicher Folklore ist, sondern in das Gebiet der ökonomischen Analyse fällt, setzt voraus, daß die Bedeutung der sozialökonomischen Determinationen anerkannt wird. Diese Umwälzungen der Interpretation resultieren nicht allein aus innerliterarischen oder inneruniversitären Bewegungen. Man stößt hier notwendigerweise auf die Probleme des marxistischen Herangehens an literarische Tatsachen. Aufeinanderfolgende Lektüren - das bedeutet nicht eine Serie von unwichtigen oder wertlosen Übungen, sondern vielmehr Aufeinanderfolge von Möglichkeiten, Anstrengungen, Entdeckungen und Resultaten. Sobald das Problem so gestellt ist, treten aber beträchtliche Schwierigkeiten auf, zuerst nach außen hin, bei dem unvermeidlichen Zusammenprall mit der im Namen der herrschenden Ordnung ausgeübten Kritik. Eine marxistische Lektüre des literarischen Faktes kann gar nicht anders, als eine entmystifizierende und somit eine streitbare Lektüre sein. Weil alle Leseweisen eine bestimmte Praxis und insbesondere eine Pädagogik unterstellen oder rechtfertigen, gibt es keine harmlose Kritik, keine harmlose Literatur. Sie sind alle Träger einer Weltanschauung, sie zielen auf die Vermittlung und vermitteln stets ein Weltbild, das von einer Ideologie abhängt, also auch von Interessen. Ja selbst dann oder besonders dann - , wenn sie die Tugenden der wissenschaftlichen Neutralität, der unaufdringlichen Eleganz und der heiteren Gelassenheit besserer Gesellschaft für sich beanspruchen. 252

Jede Literaturgeschichte, jede Literaturkritik 2ielt auf etwas ab und dient einer Sache. Jede Literaturgeschichte, jede Kritik ist auf die eine oder andere Weise ein Eingeständnis und sei es ein stummes. Weshalb dieses Schweigen über Lukäcs in den Fachzeitschriften? Weshalb dieses Fehlen einer ernsthaften Diskussion über völlig offen und völlig klar entwickelte Auffassungen? Man möchte hoffen, daß das Folgende zu einem Meinungsstreit über das Wesentliche führen möge. Nichts aber zwingt besser zu einer Auseinandersetzung als ein korrekt eingeleiteter Kampf. 3

Marxismus und totale Lektüre Eine wirklich marxistische Lektüre des literarischen Faktes kann keine T e i l lektüre sein. Eine marxistische Lektüre, die nicht - und sei es, um sie im Zusammenhang mit einer globalen und globalisierenden Sicht der Welt nochmals neu zu durchdenken - die von den anderen Gesellschaftswissenschaften entwickelten Verfahren miteinbezieht, ebenso wie alles das, was über das Wissen und die Methodologie des 19. Jahrhunderts hinausgeht, sie überholt, eine solche Lektüre wäre nur schematisch, entstellend und somit theoretisch gefährlich. Andererseits kann ein wahrhaft marxistisches Herangehen an den literarischen Fakt auch nicht e i n s u n t e r a n d e r e n sein. Diese beiden Seiten hängen zusammen. 1. Wenn auch heute niemand mehr die Bedeutung der marxistischen Weltsicht, auf welcher Ebene auch immer, bestreitet, so besteht doch einer der am meisten verbreiteten Tricks und das besonders in avantgardistischen Kreisen - darin, für jeden Text, für jedes Phänomen ein vielwinkliges, z. B. psychoanalytisches, stilistisches, marxistisches (oder, wie man sagt, soziologisches) usw. Annäherungssystem vorzuschlagen. Die marxistische Perspektive sieht sich so auf ganz rhetorische und formelle Weise auf die gleiche Stufe gestellt wie andere Betrachtungsweisen, als eine Art anspruchsvolles Hobby für aufgeschlossene Geister auf der Suche nach Modernität. Darin liegt keine Neuheit. Hier taucht eine der ältesten bekannten bourgeoisen Mystifikationen wieder auf, der Eklektizismus und 253

der ideologische Kompromiß. Demzufolge gäbe es Momente, in denen man als Marxist denken und vorgehen kann, wobei man sich eines bestimmten Vokabulars bedient, auf bestimmte Begriffe zurückgreift. Nachdem man dann andere Vokabulare benutzt und auf andere Begriffe zurückgegriffen hat, wäre man in der Lage, Höhen zu erklimmen, auf denen sich alles zu einer beruhigenden und schmeichelhaften Einheit zusammenfügt. Man stünde über den Lehrmeinungen und Methoden, so wie andere über den Parteien stehen, und der Marxismus, mit den realen Kräften, deren Ausdruck er ist und zu deren Strukturierung er beiträgt, wäre auf den Rang des Zufalls verwiesen. Wer könnte sich seitens der herrschenden Ordnung und ihrer Antikultur über eine solche Haltung beklagen? Trägt denn nicht der so praktizierte Marxismus, wie man sagt, seinen Teil zu irgendeiner neuen Weisheit bei, die sich jenseits der objektiven Konflikte, der erlebten Geschichte und der im Kampf geschmiedeten Strukturen befindet, als Werk eines abstrakten, auf sich zurückgeworfenen Menschen, der ewig - der konkreten Geschichte stets vorausgehend - und zugleich unmittelbar ist, stets alleiniger Ausgangspunkt der gesamten Geschichte und jedes historischen Unternehmens. Dieser Hilfskoch- und Übungsmarxismus ist nichts als Betrug; er ist der marxistischen Perspektive, die eine totale und totalisierende Perspektive des Menschen und seiner Tätigkeiten ist und sein muß, zutiefst fremd. 2. Eine marxistische Behandlung der literarischen Fakten kann - wenn sie echt und wirksam sein will - kein Verfahren außer acht lassen, das dazu beiträgt, die Vorgänge der Bildung und des Ausdrucks von Bewußtsein zu erhellen, als sich fremd betrachten. Wer würde übersehen, daß das besondere Verantwortung nach sich zieht? Sich nicht in einen naiven Soziologismus einschließen, wie so vieles uns nahegelegt, vor allem die ursprüngliche Natur unserer besonderen Bemühungen. Mit größter Strenge die vielfältigen Entwicklungen der Wissenschaft und der Literaturkritik berücksichtigen, die, wenn sie auch nicht immer in den offiziellen vom Marxismus kontrollierten Zonen entstanden, nichtsdestoweniger sehr dazu beitragen, ein genaueres Bild vom Prozeß des Ausdrucks und der Vermenschlichung herzustellen. 254

Heute ein Werk zu lesen, kann nicht mehr als eine einfache Aufgäbe verstanden werden, etwa als Suche nach einer klaren, unmittelbaren, direkt verwendbaren und direkt zu vermittelnden Bedeutung. Was ein Werk an Explizitem - also an nicht spezifisch Literarischem - enthält, zählt weniger als das, was es teilweise ungewollt sagt, in einer Bewegung nicht der Analyse, sondern des Schreibens und des Schaffens, in einer Bewegung, die durch Maskierungen, List, Verbote, Sujetwahl, Stileffekte, Mythenkonstituierung, beschwörende Metaphern usw. hindurch die erlebten Widersprüche zu lösen versucht und die - was entscheidend ist - einen B e i t r a g darstellt. In jedem Werk gibt es ein bewußtes Unternehmen und eine erzielte Wirkung; diese Wirkung offenbart sich erst im Laufe der aufeinanderfolgenden und möglich gewordenen Lektüren, die allein das Werk als spezifische Realität existieren lassen und auf seine eigene Bahn, befreit von seinem Schöpfer, bringen. Das Werk existiert letzten Endes nur durch seine Leser, obwohl die Leser nur in dem Maße sich dem Werk zuwenden, wie das Werk in sich etwas enthält, das diese Zuwendung veranlaßt. In diesem Sinne ist es Beitrag. In diesem Sinne ist es, obwohl determiniert, primär. Die Folgen sind, wie man sieht, wichtig: Es geht darum, unter Vermeidung einer didaktischen Auszehrung, den Gleichgültigkeitskult und die verschiedenen vom Formalismus und den Philosophien des Mysteriums gestellten Fallen zu vermeiden. Totalität, aber vektorielle Totalität: Eine marxistische Lektüre berücksichtigt, das jedes Wirkliche sowohl seine innere Logik wie seine Bewegung besitzt.

Vorsehung und Theorie Das Verständnis der inneren Logik und das Begreifen der Bewegung setzen die sichere Handhabung von Kenntnissen voraus und erfordern, von diesen Erkenntnissen ausgehend, möglichst die Herausarbeitung allgemeiner Ideen und Gesetzmäßigkeiten. Auch hier sind die Konsequenzen von Bedeutung. 1. Ein marxistisches Herangehen kann nicht rein philosophisch und spekulativ sein. Es muß eine Forschung und eine 255

Gelehrsamkeit neuen Typs - vollständiger, ehrgeiziger, besser ausgerüstet - einschließen und stimulieren. Es wäre allerdings ganz verfehlt zu glauben, daß eine reflexive Bemühung allein den von der etablierten Wissenschaft und Gelehrsamkeit gelieferten Materialien gelten könnte. Diese Wissenschaft und diese Gelehrsamkeit waren keineswegs neutral, sie hatten ihre eigenen Voraussetzungen, die notwendig ihre Ergebnisse bedingt und begrenzt haben. Das Studium der Infraliteraturen, das Studium der Literaturmärkte, das Studium der verschiedenen Weisen der Literaturproduktion und das Studium ihrer sozial-ökonomischen Bedingungen, um nur bei diesen Beispielen zu bleiben, konnte von einer Kritik nicht korrekt durchgeführt werden, ja mitunter nicht einmal ins Auge gefaßt werden, die ausschließlich auf den Gedanken des Meisterwerkes und des Genies, auch auf den Gedanken des literarischen Wunders, der hierarchischen Trennung der Gattungen und der völligen Autonomie des Geistes ausgerichtet war. Man sucht immer - oder man sucht nicht - geleitet von einer Vorstellung von dem, was zu suchen interessant ist (oder nicht interessant ist). Jede Forschung setzt eine Definition und eine Wertung ihres Gegenstandes voraus. Deshalb verachtet oder vernachlässigt die marxistische Forschung nicht im geringsten die gelehrte Forschung: Sie überschreitet sie und versteht sie; sie erfindet sie neu und gibt ihr neuen Schwung. Aber gerade hier liegen häufig - um nur vom Bedeutendsten zu sprechen - die Schwächen der Schriften von Lukäcs: Aus einer durchdringenden Reflexion über die Werke geboren und theoretisch stark gerüstet, fehlt ihnen die erlebte und detaillierte Information, durch die sie die vorschnellen Verallgemeinerungen und die vereinfachenden Verkürzungen vermeiden würden. Jede pseudotheoretische Kritik neigt leicht dazu, sich mit einer impressionistischen Lektüre und mit fragmentarischen oder überholten Kenntnissen zu begnügen, wo doch bereits in der Erforschung und Feststellung der Fakten die erste thoretische Arbeit, das erste ideologische Infragestellen stattfindet und eine Lesart festgelegt wird. Es gibt Forschungsweisen, es gibt Abgrenzungen der Forschungsfelder und -achsen, die bereits Stellungnahmen über das Problem des literarischen Faktes sind. Eine marxistische 256

Literaturkritik, die nicht oberflächlich unmittelbar und polemisch ist, setzt also außer der persönlichen Arbeit die Konstituierung von (wenn möglich interdisziplinären) Forschungsgruppen voraus, die sich organisieren und ihre Arbeit, die Öffnung von Forschungsgebieten, das Betreiben erschöpfender Auswertung, das Aufhäufen einer allem zugänglichen und schnell benutzbaren Dokumentation planen. Die Fortschritte der Datenverarbeitung können auf diesem Gebiet eine entscheidende Rolle spielen. Nichts von alledem schließt die hellsichtige und scharfe Reflexion, die persönliche Forschung, das sichere Gespür, das kritische Talent und (warum nicht?) das Genie aus - ganz im Gegenteil. Man mache sich keine technizistischen oder Pfadfinderillusionen: Weder die Team-Arbeit noch die Computer werden genügen, damit die Kritik den Sprung nach vorne tut, den sie machen kann und machen muß. Aber bei den alten Handwerkermethoden stehenbleiben hieße zugeben, daß man an einer engen Auffassung von seinem Forschungsgegenstand festhält, und daß man also die Reflexion einschränken will. Ein wirklicher Literaturkritiker, ein wahrer Literaturhistoriker ist weder ein Essayist noch ein Chronist, sondern ein Spezialist für eine neue Art zu lesen - zunächst quantitativ und extensiv, dann aber notwendig qualitativ. 2. Ein marxistisches Herangehen ist notwendigerweise auch ein philosophisches und kritisches Herangehen. Es geht von eingestandenen Prinzipien aus; es beabsichtigt, neue hervorzubringen. Die marxistische Literaturkritik hat ein präzises Ziel: Sie zielt weniger darauf ab, in den Werken Illustrationen oder Beweise für bereits bekannte historische und gesellschaftliche Realitäten zu finden, als zu versuchen, in den komplexen Problemen des Auf einanderstoßens der Widersprüche, der Bewußtseinsbildung und des Ausdrucks klar zu sehen und sehend zu machen. Deshalb bleibt die marxistische Kritik nicht in der gelehrten Kritik befangen; sie sucht deshalb nicht im Kult des Dokuments oder in der Mikrogeschichte ihren Zeitvertreib oder ihre Rechtfertigung. Sie verwirft jede rein anekdotische Lektüre. Für sie ist die Forschung nur ein Mittel, die Gesamtprobleme korrekter zu stellen; sie zielt darauf ab, allgemeine Ideen herauszuarbeiten, nicht nur empirische Kenntnisse voranzubringen, sondern auch die Erkenntnis der Erscheinungen. Der 17

Burmcistex/Barck

257

Mangel an Perspektiven ist es, der oft die traditionelle Kritik dazu verurteilt, an den Dokumenten klebenzubleiben, ja sich in die Anekdote und die folgenlose Genauigkeit einzuschließen. Man stellt oft mit Verblüffung fest, was alles nicht gesehen wurde, was alles nicht gelesen wurde, selbst in den geläufigsten Texten, und das nur, weil den Lesern gewisse Erkundungsinstrumente fehlten, weil ihnen bestimmte Probleme fremd waren, weil sie bestimmte, in die Werke übertragene Elemente der Wirklichkeit nicht suchen wollten oder konnten und sie deshalb auch nicht zu finden vermochten. Das liegt daran, daß jedes Wissen und jedes Verstehen an die Existenz von Perspektiven gebunden sind, an eine Fähigkeit des In-Fragestellens, das heißt, daß sie von ihrer Einordnung und ihrer Rolle in den konkreten Kämpfen abhängen.

Zustand, und Bewegung oder Realismus und Prometbeismus: Tis gibt keine endgültige Lesart Muß die Lektüre ein Werden des Textes erfassen, einschließlich seiner Bedeutung, oder muß sie zu einem Zustand, zu einem Wesen des gleichen Textes gelangen? Die Frage beruht auf ernsten historischen und Problemgrundlagen. An den Quellen der modernen Kunst und des modernen Denkens selbst finden sich, von 1789 bis 1815 durch das revolutionäre Voranschreiten einer ganzen Menschheit getragen, zwei Möglichkeiten, zwei Öffnungen, die zwei Typen des Schreibens, aber auch zwei Typen des Lesers ausdrücken: 1. die Möglichkeit, ein getreueres und vollständigeres Bild des Lebens zu geben, wie es von einer wachsenden Anzahl von Menschen wirklich gelebt wird, die zugleich befreit und mitgerissen sind und mehr und mehr ihr Gewicht auf die Geschichte geltend machen, zu einem immer schärferen Bewußtsein ihrer Lage und ihrer Rolle in der Geschichte vorwärtsschreiten. Die Dinge bei ihrem Namen nennen, die neuen Probleme zum Thema wählen, neue Helden einführen. Das ist die r e a l i s t i scheöffnung, 2. die Möglichkeit, der Lebenslust und der Geschichte der Menschen eine rein menschliche Zielsetzung und Richtung zu 258

geben und deren Sinn und Bedeutung zu bestimmen. Das ist der vektorielle Aspekt der Literatur und Kultur nach der Französischen Revolution, ein den klassischen Literaturen völlig fremder Aspekt. Die nachrevolutionäre Literatur und Kultur beziehen ihre hauptsächliche Stärke aus dem dialektischen Paar Lebenswille - Schwierigkeiten zu leben, das erst von der modernen Gesellschaft hervorgebracht wurde. Hier entsteht die humanistische oder pro m e t h e i s c h e Öffnung. Diese doppelte Öffnung prägt, wenn sie sich in denselben Werken vereint findet, einen echt modernen Klassizismus, der seine höchste Vollendung in der realistischen und mythischen Symbolik des Balzacschen und Stendhalschen Romans findet. In diesem Klassizismus sind die w a h r e n Helden - die also einer unrealistischen und mystifizierenden Praxis der Literatur Gewalt antun - auch g e t r a g e n e Helden, womit sie also einer Moral des Sündenfalls und des ewig Menschlichen Gewalt antun. Julien Sorel, Lucien de Rubempré 4 sind wahr und sind getragen, wobei die Bewegung der Romanhandlung in eben der Dichte einer Realität erfaßt und ausgedrückt wird, die sie gleichzeitig verstärkt und verfälscht, herabmindert und hochtreibt. In seiner Stärke bringt der moderne Klassizismus den Menschen einer gerade befreiten, aber bereits wieder gefesselten, einer zwar gehemmten, aber immer noch stürmischen und fordernden Geschichte zum Ausdruck. Der moderne Klassizismus ist im Szenenbild, in den Helden, in den Sujets eine Literatur des Wahren, und er ist eine Literatur des Vorwärtsdrängens, des Werdens und der Horizonte, eine Literatur des Lebens, das zu leben sich lohnt. Jede der beiden den modernen Klassizismus konstituierenden Öffnungen ließ selbstverständlich die entsprechenden Theorien entstehen: Ästhetik der Gewalt, des Häßlichen, der Absage, der wahren Tatsache; Ästhetik der Transfiguration, des Poetischen und des Epischen, des Woanders, der Kehrseite, des Möglichen und des Voran. Aber es entstand bald eine Dichotomie, und zwar auf praktischer wie auf theoretischer Ebene, indem diese beiden Möglichkeiten, diese beiden Öffnungen unter heute erklärbaren 17*

259

Bedingungen zu Versuchungen und dann zu Fallen wurden. Die realistische Öffnung trennt sich von jedem Werden, jeder Dynamik in dem Maße, wie die historischen Hoffnungen sich verdüstern (Enttäuschung von 1830, Repressionen und Massaker von 1832, 1834, 1839, 1848, 1871) 5 ; sie wird erst zur naturalistischen Versuchung, dann zur naturalistischen Falle: Eine unerträgliche und verflachte Wirklichkeit sekretiert als Antikörper einen sich integrierenden Neorealismus. Die humanistische Öffnung wird ihrerseits in dem Moment, da der Skandal offensichtlich wird (die moderne Gesellschaft produziert neue Sklaven, der entfremdende und frustrierende Charakter des bürgerlichen Lebens wird bald deutlich, den Schriftstellern der Bourgeoisie drängt sich bald die schmerzliche Wahrheit auf, daß einzig das radikale Infragestellen der sozialen und moralischen Beziehungen der nachrevolutionären Gesellschaft zur Verwirklichung des Menschlichen führen kann), und in dem Maße, wie sie nicht in Skeptizismus und Pessimismus verfällt, zur messianischen und idealistischen Öffnung: Die Bewegung, die Zukunft, die menschlichen Möglichkeiten werden nicht mehr in der Bewegung des Alltäglichen selbst ausgedrückt, analysiert und umgeformt, sondern für eine Zukunft der Erlösung und der Versöhnung behauptet, verkündet, in der endlich eine Geschichte ihre Unschuld finden würde, von der man sich nicht eingestehen kann, daß sie wirklich dramatisch und problematisch ist, das heißt, daß sie die Kritik und die Untergrabung der der liberalen bürgerlichen Gesellschaft eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen impliziert. Der Naturalismus Zolas einerseits, Plein Ciel (offener Himmel)6 und die Literatur republikanischer Schirmherrschaft andererseits: Das moderne Bewußtsein und die moderne Praxis zerplatzen in Beschreibung, die nur registriert, und in Vision, die strukturell nichts in Frage stellt. Man könnte sagen, daß die impressionistische Kritik mit ihrer zweidimensionalen Lektüre Erbin des naturalistischen Irrtums ist. Umgekehrt geht aus dem romantischen tausendjährigen Reich (durch szientistische Illusionen noch verstärkt) eine Kritik hervor, die - endlich! - eine endgülige Bedeutung der Werke zu entdecken und herauszuziehen beansprucht. Nun besteht aber 260

der Leitgedanke einer schlicht wissenschaftlichen Betrachtung des literarischen Fakts darin, daß die Verwirklichung des Menschen durch die großen aufeinanderfolgenden Veränderungen der Geschichte hindurch natürlich nicht auf gradlinige Weise geschieht, überall gleich und gleichzeitig, und vor allem nicht entsprechend immer klarer werdenden Endzielen irgendeines Messianismus. Jeder Finalismus wie jeder Messianismus setzt das antiwissenschaftlichste aller Postulate voraus: das Ende der Geschichte. Alles würde demnach einem Zustand zustreben, wo endlich irgendeine freie, endgültige und endlich lehrbare Wahrheit sich entfalten würde. Man findet in diesem Postulat das Erbe der alten Idee eines wiederzugewinnenden goldenen Zeitalters, vermengt mit jener typisch bürgerlichen und kleinbürgerlichen Idee eines post-feudalen, post-theologischen und schließlich post-industriellen Zustandes, in dem entweder die endlich freie Bourgeoisie ohne Furcht davor herrschen kann, daß sich gegen sie die Ungeheuer erheben, die sie durch ihren Sieg und die Revolutionen, die zu seiner Erringung durchgeführt werden mußten, hervorgebracht hat - oder in dem das Kleinbürgertum (besonders das intellektuelle), stets voller Sorgen angesichts der Abhängigkeiten und der Bündnisse, zu denen seine sozialhistorische Lage es verurteilt, den Anbruch eines Zeitalters der Verwirklichung, der Bejahung und der Wirksamkeit erleben könnte, das es nicht dazu zwingen würde, sich als Kleinbürgertum zu erkennen, das heißt als sozialhistorische Übergangs- und Nebenkraft. Nun ist und wird die Geschichte niemals abgeschlossen sein, und eben deshalb wird es keine endgültige Lesart geben können. Nicht nur, daß es Verlangsamungen, Unterschiede im Rhythmus und im Aufbrechen, Rückwirkungen, Ruhephasen, Überreste und Gegenangriffe der Vergangenheit, Rückschritte gibt; auch jeder Fortschritt brachte und bringt stets ihm eigene neue Widersprüche, Verschleierungen und selbst Entfremdungen hervor. Es gibt niemals eine endgültig errungene Transparenz, eine endgültig beherrschte Geschichte, und eben das erklärt und rechtfertigt den literarischen Fakt, allgemeiner den literarischen Ausdruck und die literarische Schöpfung. Das ist es auch, was den Akt des Lesens selbst erklärt und rechtfertigt, begründet 261

und rechtfertigt, nicht als einfache und passive Konsumpraxis, sondern als schöpferischen Akt in dem Maße, wie er dazu beiträgt, das, was noch nicht existierte oder bislang nutzlos war, zur Existenz und zur Wirksamkeit zu bringen.

Bedeutung und Pädagogik: Förderung des wirklichen Text-Gegenstandes Zwei metaphysische Gefahren und Illusionen werden an folgenden Verfahren erkennbar: - Es wird behauptet, irgendwo eine Bedeutung aufzuspüren, die auf abstrakte Weise, an sich, unabhängig von den Lesern und von der Geschichte existieren würde. Das ist der kritische Rechtsopportunismus. - Es wird alles auf das eigene unmittelbare Bewußtsein zurückgeführt, das man als den Punkt höchster Klarsicht und maximaler Wirksamkeit betrachtet. Das ist der kritische Linksopportunismus. Es gibt keinen Zweifel, daß in einem fortschrittlichen oder revolutionären Kontext die zweite Gefahr näherliegt, daß eine Art naiver Finalismus unter dem Druck der Ereignisse und der Notwendigkeiten eine wissenschaftliche Untersuchung der Bedeutungen nach links drängen kann: Bis zu uns hat man nur umrissen, gestammelt; wir, wir aber sind angelangt, von dem aus, was wir erreicht haben, urteilen wir; alles war nur Vorbereitung für das, was wir sind und was wir lesen, endgültige Gesellschaft, endgültiger Text. Dieser Finalismus verweist immer mehr oder weniger auf die Idee, die Geschichte könnte enden, ja die Geschichte sei abgeschlossen. Aber wer könnte die Augen davor schließen, daß ebenso wie die Werke nur durch ihre Leser existieren, unsere Lektüre selbst Teil der Geschichte ist, von einem geschichtlichen Moment abhängt, dazu beiträgt, die Geschichte zu machen, und damit wiederum zu ihrer eigenen Historisierung beiträgt? Der Akt des Lesens hört auf jeder Ebene, in jedem Augenblick auf, ein endlich abschließender Akt zu sein, und unsere Lektüre selbst muß gelesen werden. Heißt das, daß wir zu einem ewigen, unaufhörlichen und 262

entmutigenden Provisorium, das Skeptizismus erzeugt, verurteilt wären? In keiner Weise, und die aufeinanderfolgenden Lektüren, weit davon entfernt, unverbindlicher Reigen zu sein, stellen einen Fortschritt dar, die Lektüre ist etwas, das sich verbessert. Aber es ist wichtig zu erkennen, daß das Geschichtliche Geschichtliches hervorbringt, niemals jedoch das Ende des Geschichtlichen. Es ist wichtig zu erkennen, daß es keine zu offenbarenden Wahrheiten gibt. Die Arbeit sukzessiver Lektüre ist keine Sisyphusarbeit. Sie ist auch keine Hohepriesterarbeit. Das heißt, es geht hier um eine andere als mystische oder religiöse Erkenntnis; denn die Texte sind Gegenstände, nicht Heiligenbilder; die Literatur, ebenso wie die Kritik, ist kein Heiligtum, sondern ein Bauplatz des Menschen. So kann das Relative dazu beitragen, Gewißheiten aufzurichten, an die man sich halten und von denen aus man arbeiten kann. Es ist völlig selbstverständlich, daß bestimmte Texte sich entfaltet haben, seitdem sie, agen wir, nicht w a h r h a f t - was in die metaphysische Falle geraten hieße - , sondern auf eine vollständigere Weise gelesen werden konnten. Was ist Armance1, was ist Rot und Schwarz, heute gelesen, im Vergleich zu Armance und Rot und Schwarz. 1827 oder 1830 gelesen? Was ist Armance von Martineau8 und von Gide gelesen, und das nur im Lichte des Briefes an Mérimée9? Hatten Gide und Martineau Octaves allergischen Reaktionen auf die von den Kapitalisten der Chaussée d'Antin angeschafften Dampfmaschinen die geringste Bedeutung beigemessen? Hatten Gide und Martineau geahnt, daß die Impotenz Octaves von anderem als nur anekdotischem und skandalösem Interesse sein könnte? Hatten sie daran gedacht, daß von der Impotenz Octaves zur Frigidität Mathildes10 über das Aufblühen Madame de Rénals ein thematisches Gewebe sich ausbreitet, das auf mehr als nur auf die kleinen Probleme und die kleinen gescheiterten Abenteuer Henri Beyles11 verweist? Und wer konnte, solange man nicht über die boulevardhafte, klatschhafte Lektüre hinaus war, die begierig nach Tratsch und biographischen Beziehungen von pseudowissenschaftlichem Wert sucht, in der Freundschaft von Mann zu Mann, über die Vautrin mit Rastignac12 spricht, im Ausschluß der zerstörerischen Leidenschaft - also der Frau - aus einem Universum der Macht und 263

der Reintegration, an Stelle absurder vertraulicher Mitteilungen ein Symbol und eine Botschaft erkennen? Das psycho-affektive Universum ist eine Gestalt und bedeutet etwas für die gesellschaftlichen Beziehungen; die gesellschaftlichen Beziehungen sind nur literarische unter der Bedingung, daß sie durch das Persönliche hindurch erlebt werden und daß sie durch das Persönliche hindurch zum Ausdruck gelangen. Es geht hier nicht darum, zu schlußfolgern und zu beruhigen. Es geht darum, weiterzukommen und in einer höheren Bedeutung die verschiedenen Symbole und die verschiedenen Mythologien zu integrieren. Es geht darum, sowohl den Soziologismus als auch den Psychologismus zu überwinden, die beide für je eine Seite der Wirklichkeit und des menschlichen Abenteuers blind sind. Es geht darum - und hier kommt man weiter eine vollständigere Kritik und damit auch Pädagogik zu konstituieren. Das persönliche Geheimnis, das spezifisch Persönliche, die Probleme des I c h , wie kann man heute ihre Bedeutung leugnen, wie kann man ihre Präsenz in Geist und Bewußtsein leugnen? Aber auch der historische Prozeß und die historischen Strukturen; wer könnte sie in Zukunft in Klammern setzen oder in ihnen nur Basisbestimmungen oder gar überholte Manien sehen? Die Lesart, zu der wir zu gelangen versuchen, integriert alle gegenwärtig der menschlichen Kenntnis und Erfahrung zugänglichen Formen, nicht um sie aneinander abzuschleifen oder zu verflachen, sondern um sie in den Dienst eines immer genaueren und schärferen, eines immer treffenderen und wirksameren Bewußtwerdens zu stellen. Man wird ohne Zweifel unsere Lektüre lesen, und auf eine Weise, die wir heute nicht ahnen können. Aber heute schon können wir sagen, daß wir die Dinge an einem bestimmten Punkt vorangebracht haben werden. In der Tat ist ein beachtlicher Schritt vorwärts getan worden an dem Tag, da man sagte, ein Text sei p r o d u z i e r t worden, das heißt, er ergibt sich nicht aus irgendeiner völlig mysteriösen Operation, .sondern aus einem komplexen Prozeß (Herkunft, Umgebung, Erfahrungen, Traumata, Frustrationen, Entfremdungen, Berufsbedingungen als Schriftsteller, Zustand des literarischen Marktes, Publikum usw.), in dessen Verlauf 264

und an dessen Ende die Qualität, die persönliche Reaktion des Schriftstellers eine Rolle spielen, desjenigen, der fähiger als ein anderer ist, diese Beziehungen zu erfassen, sie auszudrücken, zu deuten, daraus einen neuen Gegenstand zu gewinnen, der selbst wiederum in den Gesamtprozeß sich einfügt, dort Reaktionen provoziert usw. In dieser Perspektive literarischer Produktion wird der Text zugleich v e r s t ä n d l i c h e r und g ü l t i g e r ; er hat, wie jedes Produkt der schöpferischen menschlichen Tätigkeit, einen erkennbaren, intelligiblen, spezifischen Charakter; er ergibt sich aus aufeinanderfolgenden, angehäuften quantitativen Veränderungen sowie aus einer daraus resultierenden qualitativen Veränderung. Es ist also normal und möglich, gegenüber den Texten auf der fruchtbarsten Linie der gegenwärtigen Forschung und Reflexion eine einfache und zugleich doppelte, eine doppelte und zugleich einfache Haltung einzunehmen: 1. Der Text wurde unter präzisen und definierbaren Bedingungen produziert, die durch einen qualitativen Sprung zu seiner inneren Logik führen. 2. Der Text hat seine innere Logik, die auf die Bedingungen seines Ursprungs und seiner Produktion verweist, indem sie ihnen etwas hinzufügt. In dieser Perspektive werden die traditionellen wissenschaftlichen Methoden, die über den qualitativen Sprung stolperten (daher die Spaltung des bürgerlichen Wissens in Szientismus und in Ideologie des Mysteriums), auf revolutionäre Weise aufgenommen und umgewandelt, während zugleich ein sowohl deskriptives wie genetisches Studium der literarischen Strukturen, verstanden nicht als Widerspiegelung, sondern als Ausdruck, und zwar als spezifischer Ausdruck, initiiert und gefördert wird. Als O b j e k t im eigentlichen und umfassenden Sinn des Wortes hat der Text seine eigenen Gesetze, die ihn aus dem verkleinernden Anspruch der Geschichte auf anekdotischer Ebene befreien; er verurteilt und verspottet die kurzsichtigen und von Gewissensbissen gepeinigten Chronisten und Gelehrten; er vermag nicht den Liquidatoren des wissenschaftlichen und historischen Denkens als Bürgschaft zu dienen, die nur zu gern Meteor- oder Mondsteinen sich gegenübersähen, die man nicht einmal hätte zu suchen brauchen. Aber wie jeder vom 265

Menschen hergestellte Gegenstand hat der Text seine Erklärungsfunktion u n d seine Schönheit, er ist in dem, was er kundtut, e i n m a l i g , und l o g i s c h in dem, was er zusammenfaßt, fördert und kristallisiert. So werden sowohl ein vom traurigsten Positivismus durchdrungener Pseudo-Marxismus als auch ein zu offensichtlich von der Metaphysik ferngesteuerter Fetischismus des Text-Gegenstandes überwunden und beseitigt. Eine genetische Betrachtung, die nicht die Strukturprobleme und die Probleme der literarischen Spezifik erfaßt, wäre nur Pseudokritik und Skalptanz um die Werke. Eine strukturelle Kritik, die nicht auch eine genetische wäre, liefe Gefahr, nichts als Mystifizierung, ja technokratische Manipulation zu sein. Nur die von der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Ordnung Angesteckten können sich aus gutem Grunde sträuben. Alle Opportunismen sind verwandt, ebenso wie die Mystifizierungen. Es gibt keinen Gegenstand ohne Geschichte, es gibt keine Geschichte, die nicht Gegenstände erzeugt: Das scheint gegenwärtig die gültige wissenschaftliche Haltung gegenüber den Problemen der Literatur sein zu können. Übersetzt von Vincent von Wroblewsky

12. J e a n Thibaudeau

Lukàcs, „Der historische Roman "und Flaubert

I. „Der

historische

Roman"

Diese Abhandlung umfaßt den Zeitraum von 1 7 8 9 bis 1 9 3 7 und rollt auf drei Ebenen - historischer Text/ideologischer T e x t / literarischer T e x t - und in drei Akten a b : der „Entwicklung", dem „Niedergang", der „Renaissance".

1. Die - d e r

historische

„Entwicklung" Text

„Erst die Französische Revolution, die Revolutionskriege, Napoleons Aufstieg und Sturz haben die Geschichte zum M a s s e n e r l e b n i s gemacht, und zwar im europäischen Maßstab. Während der Jahrzehnte zwischen 1789 und 1814 hat jedes Volk in Europa mehr Umwälzungen erlebt als sonst in Jahrhunderten." -

der

ideologische

Text

„Die Vernünftigkeit des menschlichen Prozesses wird nach der neuen Auffassung immer stärker aus dem inneren Widerstreit der gesellschaftlichen Kräfte in der Geschichte selbst entwickelt, die Geschichte selbst soll nach dieser Auffassung der Träger und Verwirklicher des menschlichen Fortschritts sein. Dabei ist die steigende historische Bewußtheit über die entscheidende Rolle, die der Kampf der Klassen in der Geschichte für den historischen Prozeß der Menschheit bedeutet, das Wichtigste." - d e r

1i t e r a r i s c h e

Text

„Der historische Roman ist am Anfang des 19. Jahrhunderts ungefähr zur Zeit des Sturzes von Napoleon entstanden (Der Waverley Walter Scotts ist 1814 erschienen)."

267

2. Der er

„Niedergang"

h i s t o r i s ch e T e x t

„Die Revolution von 1848 bedeutet für die west- und mitteleuropäischen Länder eine entscheidende Veränderung in der Gruppierung der Klassen und ihrem Verhalten zu allen wichtigen Fragen des gesellschaftlichen Lebens, der Perspektive der Entwicklung der Gesellschaft. Die Junischlacht des Pariser Proletariats im Jahre 1848 ist ein Wendepunkt der Geschichte im internationalen Maßstab [ . . . ] die Bourgeoisie kämpft in diesen Tagen zum ersten Mal um das nackte Weiterbestehen ihrer ökonomischen und politischen Herrschaft."

er

ideologische

Text

„Man sieht in allen diesen Theorien das krampfhafte Bemühen der Ideologen dieser Periode, ihren Blick von den wirklichen Tatsachen und Entwicklungstendenzen der Geschichte wegzuwenden, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen und zugleich für diese Abwendung eine einleuchtende, zeitgemäße Erklärung aus dem ,ewigen Wesen des Lebens' zu finden. D i e Geschichte als Gesamtprozeß ist verschwunden, an ihrer Stelle bleibt nur ein beliebig zu ordnendes Chaos bestehen. An dieses Chaos tritt man mit bewußt subjektiven Gesichtspunkten heran. Feste Punkte in diesem Chaos bilden nur die großen Männer der Geschichte, die in mysteriöser Weise die Menschheit immer wieder aus dem Untergang erretten."

er

literarische

„Flauberts Salammbd1

Text

ist das große repräsentative Werk

dieser

neuen Entwicklungsetappe des historischen Romans."

3. Die „Renaissance" er

historische

„Die Epoche Verfaulung

Text

des Imperialismus ist nicht nur die Periode

des Kapitalismus,

sondern

zugleich

der

die der größten

Umwälzung in der Menschheitsgeschichte, der proletarischen Revolution,

des

Entscheidungskampfes

zwischen

Kapitalismus

und

Sozialismus."

er

ideologische

Text

„Die allgemeine Tendenz des Imperialismus bewegt sich natürlich auf einer antidemokratischen Linie; dazu gehören nicht nur der offene

268

Antidemokratismus des Monopolkapitalismus und der von ihm unmittelbar beeinflußten Parteien, sondern auch die wachsenden antidemokratischen Tendenzen im Liberalismus und dessen Einfluß auf den opportunistischen Flügel der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften. Diese antidemokratischen Tendenzen rufen eine breite soziologische, psychologische und philosophische antidemokratische Propagandaliteratur hervor. Gleichzeitig entsteht aber in den revolutionären Arbeiterparteien eine Kritik der bürgerlichen Demokratie von links her, es wird der ungenügend demokratische, nur formell demokratische Charakter der bürgerlichen Demokratie aufgedeckt."

- der

literarische

Text

„[. . .] hier [sei] nur Ricarda Huch erwähnt [. . .] Wir müssen uns auf den historischen Roman des kämpferischen, antifaschistischen Humanismus konzentrieren. Wir können dies um so mehr tun, als gerade hier alle diese Tendenzen konzentriert vereinigt sind und eine Analyse und Kritik dieser Literatur ebensosehr die Analyse und Kritik der typischen Erscheinungsformen des historischen Romans unserer Zeit wird, wie früher die Analyse von Scott beziehungsweise von Flaubert die Analyse der typischen Züge je einer Entwicklungsperiode des historischen Romans gegeben hat."

II. Flaubert im

55 Historischen

Roman"

1. Flauberts Platz im Historischen Roman ist, vom Umfang her gesehen, bedeutend. Mit den achtzehn Seiten, die ihm gewidmet sind und mit etwa dreißig Verweisen an anderen Stellen, kommt er (gemeinsam mit einem Dutzend anderer Schriftsteller) gleich nach, wenn auch weit hinter Walter Scott. Qualitativ gesehen steht er einzigartig da. Als Beispiel für den „Niedergang" vereint Flaubert all das auf seinen Namen, was Lukäcs bekämpft. 2. Folglich wird seine Rolle minutiös festgelegt: a) Er darf nichts mit der „klassischen Form des historischen Romans" zu tun haben: „Tolstoi hat als Schriftsteller neben Balzac und Stendhal auch Flaubert und Maupassant sehr hoch geschätzt. Aber die wirklichen, entscheidenden Züge seiner Künstlerschaft gehen auf die klassische Periode des bürgerlichen Realismus zurück, weil die sozialen und

269

weltanschaulichen Triebkräfte seiner Persönlichkeit aus einer tiefen Verbundenheit mit den zentralen Problemen des Volkslebens in einer großen Übergangsepoche ihre Kraft schöpfen, weil seine Kunst noch den widerspruchsvoll-progressiven Sinn dieser Übergangsepoche zum zentralen Vorwurf hat." b) D a s , w a s er z u tun hat, ist v o n vornherein e n t s c h i e d e n ; daher -

seine R e d u z i e r u n g auf

-

d i e N i c h t z u l a s s u n g seiner a n d e r e n Bücher, d i e d i e Kritik an

Salammbô

Salammbô;

korrigieren k ö n n t e n :

e n t w e d e r bestätigen sie

sie,

w e n n auch nur implizit, oder, w e n n sie ihr w i d e r s p r e c h e n , sind es „bürgerliche" o d e r „zeitgenössische", aber keine „historischen" Romane; „Die künstlerische Überlegenheit seiner bürgerlichen Romane liegt gerade darin, daß in diesen die Proportionen zwischen Gefühl und Geschehnis, zwischen der Sehnsucht und ihrer Umsetzung in Taten dem wirklichen, gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter von Gefühl und Sehnsucht entsprechen." -

das

Inumlaufbringen

des Wertes

„Flaubert"

auf

einem

M a r k t , der i m m e r s p e k u l a t i v e r w i r d ( i m m e r w e i t e r a u ß e r h a l b der tatsächlichen Lektüreerlebnisse u n d B e e i n f l u s s u n g e n F l a u berts l i e g t ) , eines W e r t e s , der f o l g e n d e r m a ß e n definiert w i r d : „Der historische Roman selbst so bedeutender Schriftsteller wie Flaubert oder Maupassant ist zu einem Episodismus herabgesunken." „In Pescara von Meyer [. . .bringt] diese Projektion in eine scheinbare Monumentalität, [. . .] hinter der die dekadent-zerrissene Grübelei des modernen Bürgers steckt [. . .] im Gesamtton der Gestaltung ebenso falsche Klänge und Verzerrungen der Gefühle und Erlebnisse hervor wie bei Flaubert." c) I n der „ R e n a i s s a n c e " schließlich w i r d d i e U m k e h r u n g v o n F l a u b e r t in w a s auch i m m e r v ö l l i g a b g e s c h l o s s e n : „Auch bei France ist, besonders in seiner Jugend, eine gewisse subjektive Willkür in der Behandlung der Geschichte sichtbar, sie ist aber meilenweit entfernt von den Tendenzen etwa Flauberts und Meyers, ja man kann sagen, sie ist ihnen geradezu entgegengesetzt." „Aber es wäre vollständig falsch, den zweifellos vorhandenen historischen Subjektivismus Feuchtwangers mit dem Flauberts, Jacobsens oder Conrad Ferdinand Meyers gleichzusetzen. Es ist hier ein tiefgehender Gegensatz des geschichtlich-politischen Inhalts vorhanden." 270

3. Zusammenfassung der achtzehn Seiten (S. 194-212) über Salammbô: Flaubert hat die Methode von Madame Bovary2 auf einen alten Gegenstand angewendet. Er wollte seine Epoche, die ihm mißfiel, vergessen. Also ruft er eine Welt wieder zum Leben, die uns nichts angeht. Dennoch beweist er für Salommbô die gleichen Gefühle wie für Emma Bovary, aber das ist nicht mehr authentisch, sondern steril. Tatsächlich ist seine Wiedererwekkung von Karthago zu minutiös, um noch lebendig wirken zu können. Darüber hinaus hat die erzählte Anekdote keinerlei historische Bedeutung. Schließlich und endlich geht es - in einem Dekor und in Kostümen, an die man nicht glauben kann - um moderne Psychologie (Salammbô ist im Grunde „ein zum dekorativen Symbol gesteigertes Abbild der sehnsuchtsvollen und zerrissenen Hysterie großstädtischer Bürgermädchen".) Die „menschliche Tragödie", die von den Hauptgestalten durchlebt wird, steht in keinem Zusammenhang mit der politischen Handlung. Die Masse ist „wild, irrationell, chaotisch". Die Liebe ist „von bestialischer Wildheit". Flaubert gefällt sich in der Grausamkeit. Er geht bis zur „Zersetzung der epischen Sprachform". Zusammenfassend : „In Salammbô zeigen sich alle Tendenzen des Niedergangs des historischen Romans in einer konzentrierten Form: eine dekorative Monumentalisierung, eine Entseelung und Enthumanisierung der Geschichte und zugleich deren Privatisierung. Die, Geschichte erscheint als eine große und pompöse Kulisse, die als Rahmen zu einem rein privaten, intimen, subjektiven Geschehnis dient."

III. Der Text der „ Education sentimentale"3 als Gegenstand der Zensur* Lukâcs' Kritik an Salammbô wirft zahlreiche Fragen auf. Doch zuerst hat sie eine Zensur der Tiducation sentimentale zur Folge. 1. Diese Zensur ist offensichtlich; sie ist selbst vom Gesichtspunkt des Historischen Romans aus betrachtet nicht zu rechtfertigen: a) Lukâcs war keineswegs durch eine vorherige, strenge 271

Definition seines Gegenstandes gezwungen, den Beitrag Flauberts zum historischen Roman auf Salammbô zu beschränken. - Der Gegenstand seines Buches ist, wie er sagt, nicht die Gattung „historischer Roman". - Daher zögert er übrigens nicht, Werke, die ganz und gar dieser Gattung angehören und der Epoche, um die es augenscheinlich geht, mit Schweigen zu übergehen; z. B. erwähnt er mit keinem Wort Alexandre Dumas. - Dagegen diskutiert er oft sehr weit ab von dieser Gattung und dieser Epoche, z. B. über Shakespeare oder Homer. - Genaugenommen stehen gewisse Werke des 19. Jahrhunderts, die er als „historische Romane" betrachtet, in einem tatsächlich ähnlichen Zusammenhang mit der Vergangenheit wie die Education sentimentale-. So geht Une vie {Ein Leben) von Maupassant (1883), das Lukâcs unmittelbar nach Salammbô untersucht, auf die Restauration zurück und zieht sich dann bis zu der Zeit hin, in der es abgefaßt wurde, während die Education (1869), die ja das Modell für Une vie darstellt, 1840 beginnt und historisch gesehen 1851 endet. b) Lukâcs nimmt Salammbô bei Flaubert als Beispiel für die „Krise des bürgerlichen Realismus", obwohl er diese Krise durch den Juni 1848 erklärt hat und obwohl er andererseits (und dies würde nun tatsächlich erlauben, Flaubert als Beispiel für diese „Krise" zu nehmen) schreibt: „Flauberts entscheidendes historisches Erlebnis ist die Revolution von 1848 (in Éducation sentimentale sieht man deutlich, wie diese auf ihn eingewirkt hat)."

2. Der Text der Education stellt sich der Lukâcschen Hypothese von einer „Krise des bürgerlichen Realismus", die auf den Juni 1848 folgte, nicht entgegen. Mehr noch, eine aufmerksame Lektüre der Education bestätigt viele der Beobachtungen, die zur Stützung dieser Hypothese zusammengetragen wurden, und sie bestätigt besonders, daß „die Proportionen zwischen Gefühl und Geschehnis, zwischen der Sehnsucht und ihrer Umsetzung in Taten dem wirklichen, gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter von Gefühl und Sehnsucht entsprechen." a) Was die „Sehnsucht" und ihre „Umsetzung in Taten" anbetrifft: 272

- Jede Frau, bei der das Begehren des Helden, Frédéric Moreau, zögert zu verweilen, ist gleichzeitig Mittelsperson, durch die er sich auf einer der bürgerlichen Rangstufen festsetzen könnte, angefangen bei M m e Dambreuse oder der großen Pariser Bank bis hin zu M l k Roch oder dem Kleinbürgertum der Provinz. - Aber im Gegensatz zu den Freunden seines Alters, die zum Ziel gelangen und keineswegs schwanken, eine Frau zu wählen und sich in der Bourgeoisie zu „plazieren", bleibt der Held auf halbem Wege zwischen den Frauen und der bürgerlichen Gesellschaft stehen, an einem neutralen oder toten Punkt, den seine Mutter und die Stellvertreterin seiner; Mutter, Mme Arnoux, bestimmen (die wiederum durch Rosanette, die Geliebte von M. Arnoux, und dann von Frédéric ersetzt wird, als ihr Platz unter den Frauen plötzlich leer ist). - Dieser Disposition zufolge kann Frédéric ebensogut auf das bürgerliche Spiel verzichten (sein einziges kapitalistisches Gebahren besteht darin, eine lange hinausgezögerte Erbschaft anzutreten und deren Ertrag auf besonnene Weise zu verbrauchen) wie auf seine Sehnsucht. - Schließlich und endlich funktionierte das System durch die Agierenden, die anonym bleiben, weil sie nicht bürgerlich sind: einerseits das Proletariat, andererseits die Prostituierten, also diejenigen, dank derer der Held ohne Aufwand über sein Geld und seinen Samen verfügt. b) Was das „Gefühl und das Geschehnis" anbetrifft: - Das Schwanken des Helden, sich festzulegen, folgt genau den Veränderungen des Bürgertums im historischen Text (so fällt die Liaison mit Rosanette mit dem Februar 1848 zusammen: die „Liebe" zu einer Frau, die einen Namen trägt, obgleich sie der Halbwelt angehört und aus dem Proletariat stammt, ist nur in der Zeit der „Illusionen" möglich, wie Marx die Regierung unter Lamartine 5 nannte) ; - Der „große Trottoir roulant", den die Seiten von Flaubert darstellen (Proust), wird hier also ständig und genau nach dem Kalender der Geschichte geregelt (bis zum Staatsstreich vom Dezember 1851). 3. W i e um noch sicherer zu rechtfertigen, weshalb er Flaubert auf Salammbô reduziert, schreibt Lukâcs zu Beginn der 18 Burmeisier/Barck

273

achtzehn Seiten: „Salammbô [ . .] vereinigt in sich sämtliche hohen künstlerischen Qualitäten des Flaubertschen Stils. Man könnte sagen, es ist, stilistisch gesehen, das Paradigma für Flauberts künstlerische Bestrebungen"

a) Er sagt nicht, was der „Stil" ist, aber seine ausschließlich abwertende Kritik dessen, was er anfangs als „Paradigma" für die „hohen künstlerischen Qualitäten" gewertet hat, umschreibt diesen geradezu als den Arbeit-an-der-Sprache (travail signifiant) gewordenen Wunsch nach der Mutter6, wirft doch Lukâcs Flaubert einereits vor, niemals „leidenschaftslos" (impassible) zu sein, sondern „Stellung zu nehmen" „für" Salammbô wie früher „für" Emma Bovary und andererseits, das sprachliche Übel einzuführen. Flauberts hauptsächliches Vergehen besteht darin, durch die Beständigkeit seiner „Methode", von einem Roman zum anderen, die Permanenz ein- und derselben Erzählweise, ein- und desselben Wunsches oder Verbotes des Schreibaktes (l'ecriture) zu bekräftigen. Was nun das sprachliche Übel, nach Lukâcs, anbetrifft, so handelt es sich um „Kuriositäten" wie „den Gebrauch von Hundemilch und Fliegenfüßen als kosmetische Mittel". „Kuriositäten", die tatsächlich die Sprache verändern: diese „Details" - „die nicht zufällig sind", wie Lukâcs sagt, und die er darauf zurückführt, daß „Spezialwörterbücher immer energischer geplündert werden" - sind wohl die sichtbarsten semantischen Kennzeichen des „Stils" von Flaubert. b) Ebenso wie der Juni 1848 ist auch das Verbot des Inzestes in der Education sentimentale ausdrücklich vermerkt (im vorletzten Kapitel empfindet Frédéric vor der wiedergefundenen M m e Arnoux, mit ihren weißen Haaren, etwas Unaussprechliches, einen Widerwillen, etwas wie Angst vor einem Inzest). In seiner Kritik an Salammbô, die ganz entschieden als eine „Darstellung" eines „Traumes" von Lukâcs erscheint, dessen „latenter Text" 7 die Education ist, kommt Lukâcs, nachdem er unterstrichen hat, daß das Volk dort nichts anderes sei als eine „wilde, irrationelle, chaotische Masse", und dann seine Verurteilung der „Modernisierung" wiederholt hat, zu der ganz und 274

gar „modernen Wildheit" der „Liebesepisode" von Mätho, die „von bestialischer Wildheit" ist, zu einer „Episode" also, die ihn (über eine für den leidenschaftlichen Charakter dieser ganzen Passage aufschlußreiche Verbindung: „Richard Wagner, dessen Berührungspunkte mit Flaubert von Nietzsche scharfsinnig-gehässig aufgedeckt wurden") zu Wagner führt: „Richard Wagner, dessen Berührungspunkte mit Flaubert von Nietzsche scharfsinnig-gehässig aufgedeckt wurden, findet in der Edda die Geschwisterliebe zwischen Siegmund und Sieglinde [. . .] Bei Wagner zeigt sich noch deutlicher als bei Flaubert, wie das Ausgehen von der isolierten Vorstellung und nicht vom Sein zu einem Verdrehen und Verzerren der Geschichte führen muß. Es bleiben die äußeren, entseelten Tatsachen der Geschichte bestehen (hier Geschwisterliebe), denen eine ganz moderne Empfindung untergelegt wird, und die alte Fabel, das alte Geschehnis dient dann nur dazu, das moderne Gefühl pittoresk zu machen, ihm eine dekorative Größe hinzuzufügen, die ihm an sich, wie wir gesehen haben, nicht zukommt."

IV. Das Theater und Deutschland 1. Dieses Auftauchen des Inzestes und Wagners in Salammbö ist an eine weitere „Verschiebung" 8 gebunden: Mit seinen „Kuriositäten" ist Flaubert für Lukäcs der Initiator der „Zersetzung der epischen Sprachform". „Die Flaubertsche Einstellung zur Geschichte führt notwendigerweise - auch bei diesem großen Stilisten - zu einer Zersetzung der wirklichen epischen Sprachform."

Aber was Lukäcs darunter versteht, ist der Rückgriff auf Archaismen in einer historischen Fiktion. Ein Rückgriff, den er nicht bei Flaubert aufdeckt (wo man genau dem gegenteiligen Phänomen begegnet, besonders offenkundig in Trois Contes)9 sondern, gleichsam als Ersatz, im Naturalismus gewisser deutscher Dramen: bei Meinhold 10 oder Hauptmann. a) Wir haben im Historischen Roman also mit zwei „Verschiebungen" in gleicher Richtung zu tun: von der französischen Literatur (Anstifterin des Übels) zur deutschen Literatur (Opfer 18*

275

des Übels) und vom Roman (Ort der Veränderung des Textes) zum Theater (oder Schauspiel dieser Veränderung). Mit anderen Worten, der französische Roman injiziert sein Gift der deutschen Bühne. b) So werden wir direkt zur Analyse des massiven, fortgesetzten und auf den ersten Blick unverständlichen „Lapsus" geführt, den das Kapitel II des Historischen Romans über das „historische Drama" darstellt. Dieses Kapitel, das sich zwischen die „Entwicklung" (Kapitel I) und den „Niedergang" (Kapitel III) schiebt, kompliziert die offensichtliche Dreiteilung der Lukâcsschen Ordnung. c) Das Kapitel über das „historische Drama" ist durch seine Stellung im Buch (es kann sich auf die Autorität der „klassischen Form des historischen Romans" stützen und mit dieser zusammen die „Krise" anzeigen) und durch seinen Inhalt (das historische Drama" ist die Verdichtung der drei „romanesken" Teile: die beiden noch kommenden Kapitel werden unausweichlich seinen Schlußfolgerungen unterworfen, um so mehr, als die drei Zeiten des „Dramas" sich nicht, wie die des Romans, nur auf ein und ein Viertel Jahrhundert erstrecken, nämlich von 1814 bis 1936, sondern bei den Ursprüngen der westlichen Literatur beginnen und noch dazu anstelle der Bewegung „Entwicklung"/„Niedergang"/„Renaissance" in drei „Entwicklungsstufen" eingeteilt sind) der „Knoten", keineswegs aber der gordische, des Wunschbildes (rêve), genannt Der historische Roman. 2. Dieses Kapitel ist im wesentlichen eine Unterhaltung Lukâcs' mit dem deutschen Gedankengut, das heißt mit Hegel und in zweiter Linie mit Lessing, Hebbel usw., zwangsläufig mit Goethe sowie mit Marx und Engels. a) Der Gegenstand der Unterhaltung gereicht selbst zum Ruhme dieses Gedankengutes: - Der Ursprung des „historischen Dramas" ist die griechische Tragödie, deren letztes Verständnis deutsch ist. - Der höchste Gipel des „historischen" Theaters ist das Werk von Goethe und Schiller, dann das von Büchner. b) Dieser Gegenstand der Unterhaltung wird herausgearbeitet durch eine Vielzahl von Ausschließungen und Verweisen, die besonders klar in der Einleitung sichtbar werden: 276

- Die Ausschließungen (die angekündigte Zensur) betreffen für das Theater: die französische Tragödie und das spanische Drama; für den Roman: Rabelais, Cervantes und die italienische Novelle. - Die Verweise (oder die Plazierung auf den zweiten Rang) beziehen sich auf: Boris Godunow und die Dramen von Manzoni.11 3. Diese Ausschließungen und Verweise verschleiern eine < enorme Menge von Weglassungen. Die radikalste betrifft das französische Theater: Während die klassische Tragödie explizit ausgeschlossen wird, werden die Komödie des 17. und 18. Jahrhunderts sowie das romantische Theater12 ganz und gar vergessen. Dieses vollständige Schweigen ist in der Abhandlung von Lukäcs nicht ohne Bedeutung (wie es das über das lateinische Theater eventuell noch sein könnte). Man kann noch weitergehen und sagen, daß nach Lukàcs das deutsche Theater das einzige ist, das in der Lage war, das „anzukündigen" (Goethe und Schiller) oder zu gestalten (Büchner), was der Ausgangspunkt für den Historichen Roman gewesen ist: die Französische Revolution. Und nach Molière sind nicht nur Marivaux oder Beaumarchais unter den Tisch gefallen; auch Voltaire, auf dessen „außerordentliche historische Leistungen" Lukäcs hat hinweisen können, erscheint nur sehr reduziert, weil seinem dramatischen Werk der Prozeß gemacht werden soll und um als Zeuge dafür aufzutreten, wie ungenügend das Geschichtsbewußtsein der französischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts war. 4. Auf dieselbe Art und Weise macht Lukäcs aus Romain Rolland einen der wichtigsten Romanciers des „demokratischen Humanismus", ignoriert aber in seinem Kapitel II dessen Revolutionsstücke: Hartnäckig verdrängt er die Klassenkämpfe in Frankreich - von denen Engels in seinem Vorwort zum Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte 1885 gesagt hat, daß sie bis 1871 „mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden" - , um an ihre Stelle die deutsche Gechichte zu setzen. Diese Verdrängung betrifft auf literarhistorischer Ebene die Zeit ab der Junischlacht 1848 und der Education sentimentale, 277

wie Lukacs selbst mit seiner bonapartistischen Metapher im folgenden Abschnitt zugibt: „Flauberts entscheidendes historisches Erlebnis ist die Revolution von 1848 (in der Éducation sentimentale sieht man deutlich, wie diese auf ihn eingewirkt hat). Das große historische Erlebnis Conrad Ferdinand Meyers ist dagegen die Entstehung der deutschen Einheit, der Kampf um sie und sein Resultat, ihre Verwirklichunng. Dadurch, daß Meyer lebender Zeitgenosse dieses Abschlusses der bürgerlich-demokratischen Kämpfe um die deutsche Einheit und vor allem der Entartung dieser Kämpfe in der Kapitulation der deutschen Bourgeoisie vor der „bonapartistischen Monarchie" der Hohenzollern unter Bismarcks Führung gewesen ist, ist seine historische Thematik weniger zufällig als die Flauberts."

V. Das Theater 1. Während die gegen Flaubert gerichtete Kritik eine „Verschiebung" vom französischen Roman zum deutschen Theater hin bewirkt, läuft umgekehrt die Reflexion von Lukacs über die Rolle des „historischen Dramas" im deutschen Denken auf England und Walter Scott hinaus, dank dem zwischen Griechenland und Goethe liegenden Gipfel, nämlich Shakespeare und dem elisabethanischen Drama. a) Für Lukacs hat der Roman mit dem Aufblühen des elisabethanischen Dramas rein gar nichts zu tun, während dieses Aufblühen (das folgenlos vom deutschen Drama am Ende des 18. Jahrhunderts wiederholt wurde) zu den Romanen von Walter Scott führt (die im Theater, ebenfalls ohne Folge, durch Puschkin und Manzoni nachgeahmt wurden). b) Da andererseits für Lukacs der Roman die moderne Form des Epos ist und sich die „große" Literatur im Epischen und Dramatischen zusammenfaßt, folgt daraus, daß Walter Scott gut und gerne das Nonplusultra der westlichen Literatur ist: „Belinski hat vollständig recht, wenn er den rein epischen Charakter der Romane k a l t e r Scotts betont. In der ganzen Geschichte des Romans gibt es kaum Werke - vielleicht mit Ausnahme der von Cooper und Tolstoi —, die dem Charakter des alten Epos derart nahekommen." „Insbesondere das Shakespearesche Drama hat - wie dies Michail Lifschitz in der Diskussion über die Theorie des

278

Romaas richtig hervorgehoben hat - eine entscheidende Einwirkung auf die Entwicklung des neuen Romans ausgeübt. Diesen Zusammenhang zwischen Walter Scott und Shakespeare hat bereits Friedrich Hebbel klar gesehen und in Scott den modernen Nachfolger Shakespeares erkannt."

2. Damit Walter Scott das Alpha und Omega der guten Literatur sein kann, muß er also schon in jedem ihrer Werke lebendig sein oder wiedererstehen, und a) umgekehrt gehört es sich, ihm jeden suspekten Vorgänger aus dem Wege zu räumen: Genauso wie Tolstoi nicht Flaubert und Maupassant schätzen darf, muß Walter Scott von jedem Kontakt mit dem romantischen Schauerroman (roman noir) reingewaschen werden: „Besonders bei Scott war es Mode, eine lange Reihe zweit- und drittrangiger Schriftsteller anzuführen (Radcliffe usw.), die angeblich wichtige literarische Vorläufer Scotts gewesen sind. All dies führt uns dem Verständnis des N e u e n in der Kunst Scotts, im historischen Roman um keinen Schritt näher."

Und sogar die Vorläufer, die man zugeben könnte, werden schließlich auch noch zurückgewiesen „Der Scottsche historische Roman ist die geradlinige Fortsetzung des großen realistischen Gesellschaftsromans des 18. Jahrhunderts. Scotts theoretisch im allgemeinen nicht sehr tiefschürfende Studie über diese Schriftsteller zeigen eine sehr intensive Kenntnis, ein sehr eingehendes Studium dieser Literatur. Aber sein Schaffen bedeutet ihnen gegenüber doch etwas vollständig Neues."

zugunsten der höherstehenden Vorläufer, die durch die Lukäcssche Meditation geliefert werden, Shakespeare oder Goethe: „Es ist vollkommen nebensächlich, ob Walter Scott diese Werke Goethes überhaupt oder wie weit er sie gekannt hat: zweifellos setzt er diese Tendenz Goethes historisch fort und führt sie weiter."

b) Ebenso darf das, was gleich nach Walter Scott kommt, letzten Endes nur dessen Echo sein: „Scott hat im englischen Sprachgebiet nur einen würdigen Nachfolger gefunden [. . .] das ist der Amerikaner Cooper [. . .] aber [. . .] die Eindeutigkeit und Geradlinigkeit des sozialen Gegensatzes [bedeutet] eine Verarmung der dichterischen Welt im Vergleich zu Scott."

279

B e i V e r ä n d e r u n g e n dieses E r b e s h a n d e l t es sich b e s t e n f a l l s u m e i n e A b w e i c h u n g und, w e n n nicht gleich u m e i n e unglückliche, so d o c h z u m i n d e s t u m e i n e gefährliche „Diese Weiterführung des historischen Romans im Sinne einer bewußt historischen Auffassung der Gegenwart ist die große Leistung seines bedeutenden Zeitgenossen, Balzac." „So kehrt mit Balzac der historische Roman, der bei Scott aus dem englischen Gesellschaftsroman entstand, wieder zur Darstellung der zeitgenössischen Gesellschaft zurück. Das Zeitalter des klassischen historischen Romans ist damit abgeschlossen." u n d sehr b a l d u m eine P e r v e r s i o n in der A r t d e s „historischen R o m a n s der R o m a n t i k in Frankreich", w o nur S t e n d h a l u n d M e r i m e e als „ R e p r ä s e n t a n t e n der W e i t e r f ü h r u n g der A u f k l ä r e r tradition" G n a d e

finden.

3. G a n z u n d gar neu, unbelastet v o n j e d e m V o r f a h r e n o d e r v o n direkter A b s t a m m u n g , ist W a l t e r Scott d a n n in der L a g e , u n f e h l b a r in j e d e m seiner R o m a n e d i e s e l b e u n d neue Szene wiederaufzunehmen; eines einzigartigen

Momentes

sosehr sie d i e

der G e s c h i c h t e

doch

stets

Erscheinung

ist, bleibt

sie

dieselbe, d e n n w i e auch i m m e r d i e G e s c h i c h t e sein m a g , sie lebt in e i n e m „weltgeschichtlichen I n d i v i d u u m " , das j e d e s m a l wiederaufersteht: „Scotts Größe ist die menschliche Verlebendigung historisch-sozialer Typen. Die typisch menschlichen Züge, in dennen sich große historische Strömungen sinnfällig äußern, sind vor Scott niemals mit dieser Großartigkeit, Eindeutigkeit und Prägnanz gestaltet worden. Und vor allem ist auch nie vor ihm diese Tendenz der Gestaltung bewußt in den Mittelpunkt der Darstellung der Wirklichkeit gerückt worden." „Da er alte, längst verschwundene Zeiten zu einem nacherlebbaren Leben auferwecken wollte, mußte er diese konkrete Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner sozialen Umwelt in der breitesten Weise schildern. Das Einbeziehen des dramatischen Elements in den Roman, die Konzentrierung der Ereignisse, die größere Bedeutung der Dialoge, d. h. der unmittelbaren Auseinandersetzung aufeinanderprallender Gegensätze im Gespräch, stehen im innigsten Zusammenhang mit dem Bestreben, die historische Wirklichkeit so, wie sie wirklich war, menschlich echt und doch für den späteren Leser nacherlebbar zu gestalten." „Die niemals wieder erreichte historische Genialität Walter Scotts 280

zeigt

sich darin, wie

er die

individuellen

Eigenschaften

seiner

historisch führenden Persönlichkeiten so anlegt, daß diese wirklich die hervorstechenden positiven wie negativen Seiten der betreffenden Bewegung in sich zusammenfassen."

VI. Geographie und Geschichte des „Historischen

Romans"

Ob nun Schauplatz des Durchschaubaren und Gegenwärtigen oder des Unheimlichen, der Roman von Walter Scott ist die begriffene, geschützte, geordnete, gestaltete Welt, die vom guten Herrgott bewohnt wird, der den „dämonischen Helden" verjagt hat und als „englischer Gentleman" Fleisch wurde. Ebenso wie die Überdeterminierung der Kritik an der Education sentimentale, ist (durch einen anderen „unbewußten" Vorgang) die Hypostasierung Walter Scotts politischer Natur. 1. Wenn der Roman - mit dem Sturz von Napoleon - sein Paradies in England findet, sagt Lukacs, dann deshalb, weil nach der französischen Revolution und dem „Massenerlebnis", das in ganz Europa darauf folgte, dieses Land unmittelbar zu eir nem für die Verallgemeinerung geeigneten Beispiel geworden war, weil es in der Vergangenheit der westlichen Welt wurzelte, die nunmehr damit befaßt war, ihre bürgerliche Revolution in Ordnung zu bringen: „Es ist kein Zufall, daß dieser neue Typus des Romans gerade in England entstanden ist. Wir haben bereits bei der Behandlung der Literatur des 18. Jahrhunderts auf wichtige realistische Züge des englischen Romans dieser Zeit hingewiesen und sie als notwendige Folgen des nachrevolutionären Charakters der damaligen Entwicklung Englands im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland charakterisiert. Jetzt, in einer Zeit, in der ganz Europa, auch seine progressiven Klassen und ihre Ideologen -

vorübergehend -

von einer

nachrevolutionären Ideologie beherrscht werden, müssen diese Züge in England ganz besonders scharf hervortreten."

2. Wenn nicht Lukäcs persönlich, so markieren doch zumindest die guten Autoren, die er unter der Flagge von Walter Scott sammelt, die Grenzen der guten und richtigen Geschichte. a) Zuerst Deutschland, wo Walter Scott seinen Platz ganz dicht neben Goethe gefunden hat, der gleichzeitig sein Verkünder und sein Bewunderer und nahezu sein Inspirator ist. 281

Denn tatsächlich: „Die Hoffnung auf nationale Wiedergeburt schöpft ihre Kräfte teilweise aus der Wiedererweckung der vergangenen nationalen Größe. Der Kampf um diese nationale Größe erfordert, daß die geschichtlichen Ursachen des Niedergangs, des Zerfalls von Deutschland erforscht und künstlerisch dargestellt werden. In Deutschland, das im Laufe der vorhergegangenen Jahrhunderte nur ein Objekt der geschichtlichen Umwandlungen gewesen ist, tritt damit die Historisierung der Kunst früher und radikaler auf als in den ökonomisch wie politisch entwickelteren Ländern des Westens."

b) Dann die Vereinigten Staaten mit James Fenimore Cooper und Italien (wo der Prozeß der nationalen Einigung das Echo auf die deutsche Einigung war) mit Manzoni. 3. Während Deutschland die zentrale Bühne (Ideologie und Fiktion) des Historischen Romans ist und England nur sein Romanhimmel (Fiktion ohne Ideologie) und die Vereinigten Staaten und Italien als Anhängsel von England und Deutschland fungieren (genauso wie das abwesende Spanien sich hinter dem abgeriegelten Frankreich profiliert), ist Rußland ein besonderer Fall. a) Der historische Roman zensiert Dostojewski und alles, was sich in der russischen Literatur auf den „Naturalismus" und auf den „Niedergang" beziehen könnte, absolut. Von Puschkin, Gogol und besonders Tolstoi (zumal sich dessen Werk über fünfzig Jahre hin erstreckt) bis schließlich zu Gorki, ist diese Literatur wie ein Strom, eine ununterbrochen positive Erscheinung. Diese von Lukäcs fabrizierte Kontinuität steht niemals im Verdacht, womöglich einen Einwand gegen seinen in drei Phasen synchronisierten europäischen Komparatismus vorzubringen. b) Diese Sicht der russischen Literatur erscheint wie eine Umkehrung der Sicht der französischen Literatur: auf der einen Seite das unaufhörlich Gute, auf der anderen der schädliche Bruch. Ihre Effekte gehen allerdings in dieselbe Richtung: im Kalender des Historischen Romans kommt die Pariser Kommune ebensowenig vor wie die Oktoberrevolution. 4. Auf diese Art und Weise wird der russische „historische 282

Roman" wie durch Hexerei sowjetisch (Gorki schlägt die Brükke), ohne daß sich irgend etwas im literarischen Text russischer Sprache getan hätte. Mehr noch: Ebenso wie die russische Literatur ein Strom jenseits der Umschichtungen war, die im westlichen literarischen Text vor sich gingen, wird die sowjetische Literatur nicht wirklich in den Bereich der „Renaissance" aufgenommen: a) 1937 schrieb Lukäcs im Vorwort zum Historischen Roman: „Ich wollte nur die wichtigsten prinzipiellen, theoretischen

Fragen

behandeln. Bei der außerordentlich großen Rolle, die der historische Roman sowohl in der Literatur der UdSSR wie in der der antifaschistischen Volksfront spielt, erscheint mir eine solche prinzipielle Untersuchung als ebenso unerläßlich wie aktuell."

Dann entschuldigt er sich (auf der nächsten Seite), daß er den sowjetischen „historischen Roman" mangels Übersetzungen nicht hat behandeln können. Allerdings rechtfertigt in einem Vorwort von 1960 dieselbe „prinzipielle Untersuchung" (und entschuldigen dieselben „Arbeitsbedingungen"), daß das Buch ohne Veränderungen neu aufgelegt wird: „Was ich vor Augen hatte, war eine Untersuchung der Wechselwirkung

zwischen

dem

geschichtlichen

Geist

und

jener

großen

Literatur, die die Totalität der Geschichte darstellt, und dies nur in bezug auf die bürgerliche Literatur".

b) Das, was sich Lukäcs tatsächlich in seinem Historischen Roman zur Aufgabe gemacht hat, ist nicht die Förderung einer sozialistischen, sondern einzig und allein einer „humanistischen" und „antifaschistischen", d. h. nichts anderes als bürgerlichen Kunst.

VII. „Der historische Roman" und die bürgerliche Ideologie 1. Der Kommunismus von Lukäcs führt ihn, in der Literatur, nur dazu, den Antagonismus Faschismus,/„demokratischer Humanismus" in den Grenzen der bürgerlichen Literatur aufzuzeigen. Sein Marxismus-Leninismus bringt ihn nicht von der bürger283

liehen I d e o l o g i e a b : K e i n e d e r drei P h a s e n des Romans

Historischen

ist materialistisch begründet.

M a r x , E n g e l s , L e n i n s i n d hier i m m e r nur H e g e l i a n e r , u n d H e g e l reicht L u k ä c s auch tatsächlich a u s : a) D i e „ E n t w i c k l u n g " (also der erste A k t des historischen R o m a n s ) w i r d schon als marxistisch a u s g e g e b e n , u n d

dieser

M a r x i s m u s erscheint als durch H e g e l „ z u m A u s d r u c k gebracht": „Dabei ist die steigende historische Bewußtheit über die entscheidende Rolle, die der Kampf der Klassen in der Geschichte für den historischen Progreß der Menschheit bedeutet ,das Wichtigste'." „Diese neue Etappe der gedanklichen Verteidigung des menschlichen Fortschritts hat in der Hegeischen Philosophie ihren philosophischen Ausdruck gefunden." b) D e r Juni 1 8 4 8 , d i e erste E i n t r a g u n g des proletarischen K a m p f e s in d i e G e s c h i c h t e , w i r d v e r a n t w o r t l i c h g e m a c h t nicht für einen „Fortschritt", s o n d e r n für d e n „ N i e d e r g a n g " : „Man braucht nur die Geschichte der deutschen Ereignisse des Jahres 1848 genau zu verfolgen, um zu sehen, welche Wendung der proletarische Aufstand in Paris und seine Niederlage für die Entwicklung der bürgerlichen Revolution in Deutschland bedeutet hat." [Es wird klar] „warum die Hegeische Philosophie, die von der Mitte der zwanziger Jahre an das ganze geistige Leben in Deutschland beherrschte, nach der Niederlage der Revolution, infolge des Verrats der deutschen Bourgeoisie an ihren eigenen früheren bürgerlichrevolutionären Zielsetzungen, .plötzlich' verschwunden ist. Hegel, früher die Zentralgestalt des geistigen Lebens in Deutschland, ist .plötzlich' in Vergessenheit geraten, ist zum .toten Hund' geworden." c) Für

Lukäcs

sind

Marx

und

Engels

nicht

die

Über-

w i n d e r v o n H e g e l , s o n d e r n zunächst e i n m a l d i e Z e u g e n seiner Agonie, „besonders [wenn man heute] im Lichte der neu veröffentlichten Werke von Marx und Engels aus der vorachtundvierziger Zeit — den Prozeß der Auflösung der Hegeischen Philosophie aufmerksam verfolgt, so sieht man, daß die philosophischen Kämpfe der verschiedenen Richtungen und Nuancen innerhalb des Hegelianismus ihrem Wesen nach nichts anderes waren als Richtungskämpfe der Vorbereitungszeit für die herannahende bürgerlich-demokratische Revolution von 1848." 284

und dann, als die Ideologen des „Niedergangs" (Taine 1 4 , Renan 1 5 , Burckhardt, Nietzsche usw.) triumphiert hätten, die Urheber seiner künftigen Auferstehung: „Die Klassenkämpfe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben am Vorabend der Revolution von 1848 bereits zur wissenschaftlichen Formulierung des Marxismus geführt. In diesem sind alle fortschrittlichen Anschauungen über die Geschichte „aufgehoben" enthalten, und zwar in dem Hegeischen dreifachen Sinne des Wortes, nämlich nicht nur kritisiert und vernichtet, sondern auch aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben." 2. Es ist also nicht von ungefähr, daß Der historische Roman mit einem „Ausdruck aus der Terminologie Hegels" endet: „Der historische Roman unserer Zeit muß also vor allem seinen unmittelbaren Vorgänger radikal und schroff negieren und dessen Traditionen aus dem eigenen Schaffen energisch ausmerzen. Die im Zusammenhang damit entstehende notwendige Annäherung an den historischen Roman klassischen Typs wird, wie unsere Bemerkungen gezeigt haben, keineswegs eine einfache [. . .] Tradition sein, sondern, wenn man mir hier diesen Ausdruck aus der Terminologie Hegels gestattet, eine Erneuerung in der Form der Negation der Negation." Trotzdem ist Der historische Roman kein hegelianisches W e r k . Seine Abfassung beweist nicht dialektische Meisterschaft, sondern einfach eine - gleichsam traumhafte - Unkenntnis der Negation, dergestalt, daß die zahllosen Widersprüche niemals aufgelöst, sondern einfach an eine andere Stelle gesetzt werden, wie dies exemplarisch in dem Kapitel über das Theater geschieht: „John Ford 16 hat in seinem Drama What a pity she is a bore (Schade, daß sie eine Hure ist) die blutschänderische Leidenschaft eines Geschwisterpaares zum tragischen Vorwurf genommen. Ford hat nicht nur eine bedeutende dramatische Begabung, sondern auch eine besondere Fähigkeit, extreme Leidenschaften mit Kraft und Lebenswahrheit zu gestalten [. . .] Aber der dramatische Gesamteindruck bleibt doch sehr problematisch und zwiespältig. Wir können mit der Leidenschaft seiner Helden unmöglich mitfühlen. Sie ist und bleibt uns menschlich fremd." „Vom tragischen Vorbild der dramatischen Gestaltung für zwei Jahrtausende, vom ödipus des Sophokles [. . .] können wir dieses Problem [. . .] verfolgen."

285

a) Diese „Verurteilung" des Inzestes, die zum Ausdruck kommt, wenn es um Wagner und John Ford geht und die dort wie ein unbewußter Ausrutscher wirkt, macht auf „bewußter" Ebene den Moralismus von Lukäcs aus (um Wagner zu kritisieren, benutzt Lukäcs den Ursprung der Familie, in dem Engels übrigens auf ein wissenschaftliches Werk gestützt17, dem die seitdem fortgeschrittene Ethnographie gewisse Irrtümer, gerade was die „Verwandtenehen" anbetrifft, nachgewiesen hat - geradezu ein Bekenntnis kleinbürgerlichen Nicht-Moralismus' ablegt). b) Lukäcs' Moralismus ist die letzte kritische Instanz des Historischen Romans und zwar auf allen Ebenen, auf der historischen, der ideologischen sowie der literarischen, auf der es sich grundsätzlich nur um den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen handelt. c) Das „Böse" wird toleriert und sogar erlaubt, wenn man ihm dieselbe „volkstümliche" Grundlage zuerkennen kann, die gewöhnlich das „Gute" bestimmt: „Wir sehen: die Ursachen [der Grausamkeit] sind die entgegengesetzten wie bei Flaubert (und, wie wir gleich sehen w e r d e n : bei Conrad Ferdinand

Meyer).

Es sind explodierende

Exzesse

des

Volkshasses, der Volksrache, der aufgespeicherten W u t d * viehisch Unterdrückten. Die Grausamkeit de Costers hat echt plebejische Gefühlsquellen. Sie steht innerhalb des Naturalismus der Grausamkeitsexplosion der Masse in Zolas

Germinal

am nächsten. Sie ist

aber echter und unmittelbarer plebejisch, eben deshalb jedoch auch noch explosiver grausam."

d) Man sieht also, daß die Geschichte als determinierende Ebene des Historischen Romans auf eine kindliche, schülerhafte, nicht aber marxistische Weise erscheint, daß sie nur auf dem Niveau der Ereignisse und des Nationalen erfaßt wurde: Die verschiedenen „Phasen" des Historichen Romans sind wahrhaftig nur der kulturelle Aufputz der europäischen Rivalitäten und Kriege; Rivalitäten und Kriege, deren Einsätze nicht ökonomisch, sondern ideologisch sind, und die sogar nur in dem Maße lesbar sind, in dem sie sich auf die Kämpfe der französischen Revolution und des Empire gegen das koalierte Europa beziehen lassen: darüber hinaus (Hegel ist tot) ver286

schwinden das Historische und das Politische immer mehr unter dem Ideologischen. e) Dieses Ideologische wird also praktisch auf den Gegensatz Faschismus/„Humanismus" reduziert: Alles geschieht so, als ob nach Hegel die Geschichte (der Krieg von 1870, die Pariser Kommune, der Krieg von 1914/1918, die Oktoberrevolution) als Einsatz nicht den Sieg des Sozialismus hätte, sondern das Zurück auf den guten Weg Deutschlands. Vielleicht muß man darin die Widerspiegelung der persönlichen Situation von Lukács sehn, dessen Übergang zu einer marxistischen und kommunistischen Position vielleicht nur die Art war, in der er seinen elementaren Wunsch realisierte, sich in das deutsche Denken zu integrieren, das vorläufig durch den Nazismus gespalten worden war (auf der einen Seite Heidegger, auf der anderen Lukács . . .). 3. Während jede beliebige bürgerliche Literaturgeschichte in kluger Anpassung an die jeweilige sogenannte „Entwicklung des Geschmacks" - die üblich gewordene Beschneidung des literarischen und ideologischen Textes wiederholt, so daß ihre Merkwürdigkeiten, vorgefaßten Meinungen, Verdrängungen, Lücken usw. beinahe plausibel oder doch zumindest unvermeidbar und wie normal wirken, stellt Der historische Roman, der diesen Üblichkeiten aus dem Wege geht, nicht etwa ihre Zurückweisung, sondern eine karikaturartige Überbestätigung dar, die außerordentlich interessant ist. Die Wahl seiner Schlüsselfigur (Walter Scott) hat paradoxalen Charakter; ihre Effekte sind um so gröber und sichtbarer, als sie mit einem erbitterten Komparatismus literaturgeschichtlich durchgeführt wird. Ausgehend von dieser Wahl artikuliert sich der Lukácssche Diskurs um so kräftiger, als er nicht nur sehr originell ist, sondern auch wirklich einerseits seinen Ursprung kennt, die große bürgerliche Philosophie, die er vorgeben muß zu kritisieren und andererseits die Grundlage seiner Kritik, den Materialismus, den er angeblich illustriert. Der historische Roman ist sowohl ein Paroxysmus der universitären bürgerlichen Literaturkritik (oder eine ihrer Grenzen) als auch das Paradigma für das erstbeste Lehrbuch der französischen Literatur: 18 287

a) Besonders die Auslassungen, Verurteilungen und Kritiken auf der Ebene des literarischen Textes (sie betreffen den Schauerroman, Sade, das romantische Theater, Flaubert, Baudelaire, den Naturalismus, Lautréamont 19 , Rimbaud, Mallarmé, den Symbolismus 20 ) sind dieselben wie um 1900 herum, sie verwechseln auf dieselbe „moralische" Art ideologische und literarische Texte und werden im Namen desselben (moralisierenden und klassizistischen) gesunden Menschenverstandes vorgebracht. b) Auch die Methode ist dieselbe: Die Texte werden nicht gelesen (im Historischen Roman gibt es kein einziges Textzitat aus den Werken, um die es geht), sondern die Abhandlung stützt sich auf vorhergehende Abhandlungen, die sie gleichzeitig autorisieren und ihr einen Wert verleihen; so nimmt Lukâcs gegen Salammbô genau die Meinung von Sainte-Beuve 2i wieder auf, die mit der von Balzac (über Sainte-Beuve), von Zola (über Flaubert) und von Flaubert selbst (über SainteBeuve und als Antwort auf dessen Kritik) verziert wird ; diese Texte, die nicht gelesen werden, treten in Gattungs- und Epochenkategorien auf (und um so gebieterischer, als sie weitgehend das Werk von Lukâcs selbst sind: „das Drama", „das Epos", „der Roman", und 1814-1848/1848-19 . . ./18 . . .-19 . . ., und insofern sie normativ sind und zum unmittelbaren Ziel haben, die „Entwicklung" ihres Autors zu korrigieren: So führt beispielsweise derselbe Begriff des „Epos" oder der „epischen Sprache", demzufolge in Lukâcs' Theorie des Romans Cervantes, Dostojewski und die Education sentimentale an erster Stelle standen, fünfzehn Jahre später zu deren Aburteilung). c) Allgemein gesprochen, geht es Lukâcs wie jedem beliebigen Verfasser eines Lehrbuches um folgendes: - die fortlaufende Spezifizierung des literarischen Textes innerhalb (oder außerhalb) seines ideologischen Kontextes zu verdrängen ; - eine „Literaturgeschichte" zu fabrizieren, die, indem sie die spezifische Geschichte des literarischen Textes übertüncht, anstelle der Geschichte treten soll, was bedeutet: - die Geschichte der Klassenkämpfe zu verdrängen von dem Moment an, in dem sich nicht mehr Feudalismus und Bourgeoisie, sondern Bourgeoisie und Proletariat gegenüberstehen: So ist 288

der Juni 1848 für den Historischen Roman der Anfang vom Ende; es ist überhaupt keine Rede von der Pariser Kommune nicht einmal vom Oktober 1917 - noch vom Verhältnis f r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n / f r a n z ö s i s c h e Literatur.

VIII. Flaubert 1. Lukâcs reduziert, wie wir gesehen haben, Flaubert auf Salammbô, und außerdem gibt er sich noch alle Mühe, das aus dem Buch hinauszuwerfen, was sein theoretisches System in Frage stellen könnte: „Wird auch - und sogar mit ausführlichen Details - dargestellt, wie der Streik aus dem nicht bezahlten Sold entsteht, durch welche Umstände er sich zu einem Krieg auswächst, so haben wir doch nicht die geringste Vorstellung von den wirklichen gesellschaftlichgeschichtlich

und menschlich treibenden

Kräften,

die

diese

Zu-

sammenstöße gerade in dieser Form hervorrufen."

a) Diese Bemerkungen, die zu förmlich sind, um ehrlich sein zu können, sind falsch. Tatsächlich sind alle Kämpfe, die Salammbô beschreibt, das klare Resultat von Antagonismen oder Klassenwidersprüchen („und sogar in einer sehr detaillierten Form"). Wenn Lukâcs dennoch das „Ensemblebild" „konfus" findet, muß der Grund darin liegen, daß diese Kämpfe keine Perspektive der „Höherentwicklung" eröffnen: Sie werden auf geschlossenem Feld ausgetragen, bis zur Ausschaltung der Schwächeren (der Söldner, die militärisch zwar mächtig sind, aber die weder ökonomisch noch politisch in die Gesellschaft integriert sind). b) Interessant ist nicht zu wissen, in welchem Maße Flaubert die historische Wirklichkeit von Karthago wiedergibt, sondern zu beobachten, daß diese Sicht der Geschichte der bürgerlichen europäischen Erfahrung entspricht, und zwar von dem Arbeiteraufstand vom Juni 1848 in Paris ab. So hat der Vorwurf der „Modernisierung", den Lukâcs an die Personen Mâtho und Salammbô richtet (und der auf dieser Ebene einfach lächerlich ist), als eigentlichen Gegenstand (den die „private" Haltung der Hauptfiguren auf ihre Art reproduziert) die Darstellung des Klassenkampfes. 19

Burmeister/Barck

289

Nun aber billigt Lukâcs, indem er die Keuschheit der von ihm bevorzugten Romane rühmt, „Man denkt daran, wie die größten Gestalter der Liebesleidenschaft, die Shakespeare, Goethe und Balzac, gerade in der Darstellung des physischen Aktes selbst außerordentlich zurückhaltend und bloß andeutend gewesen sind."

ganz und gar die „Modernisierung", was die gesellschaftlichen Verhältnisse anbetrifft, wenn es sich um das Werk von Walter Scott handelt: „Walter Scott kommt auf die Gegenwart sehr selten zu sprechen. Er wirft die sozialen Fragen seiner englischen Gegenwart, die beginnende scharfe Zuspitzung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat in seinen Romanen nicht auf. Soweit er diese Fragen für sich selbst zu beantworten vermag, beantwortet er sie auf dem Umweg der dichterischen Gestaltung der wichtigsten Etappen der gesamten Geschichte Englands."

c) Wir können behaupten, daß Salammbô, weit davon entfernt, eine Flucht in den Exotismus einer „Welt zu sein, die uns nichts angeht", wie Lukâcs, nach Sainte-Beuve und nach Flaubert selbst, sagt, ganz im Gegenteil ein Umweg ist, durch den es möglich wird, bei der Gestaltung der Massen den Rastern der „Gegenwarts-Romane" zu entschlüpfen. d) In einer „historischen" Fiktion ist diese Darstellung der Massen möglich, in einer „Gegenwarts-Fiktion" jedoch nicht, weil hier der Horizont der Fiktion der vom Romancier nicht überschreitbare Horizont seiner eignen Klassenposition ist. Aber in allen Fällen, den „historischen" und „gegenwärtigen", ist keine Person jemals in der Lage, den Mittler oder auch nur den unparteilichen Zuschauer zu spielen. Umgekehrt bei Lukâcs : „Scott wählt stets solche Hauptfiguren, die infolge ihres Charakters und ihres Schicksals mit beiden Lagern in eine menschliche Verbindung geraten."

2. Aus diesen beiden unterschiedlichen Haltungen des Romanciers - der einen, die einen Klassenantagonismus feststellt, der anderen, die eine Vermittlung anstrebt - resultieren zwei Typen des Verhältnisses des literarischen zum ideologischen Text. 290

a) Der Roman von Walter Scott illustriert ganz und gar den ideologischen Text, von dem er abhängt und der selbst der direkte Ausdruck der „geschichtlichen Totalität" ist. Gegenüber der Geschichte und gegenüber dem ideologischen Text ist der Romantext nichtig: konservativ und theorielos zugleich, aber aus eben dieser Nichtigkeit entspringen seine Qualitäten: „Die Größe Scotts ist paradoxerweise mit seinem oft bornierten Konservatismus eng verbunden. Er sucht den „mittleren Weg" zwischen den Extremen, er ist bestrebt, die historische Realität dieses Weges an Hand der Gestaltung der großen Krisen der englischen Geschichte dichterisch nachzuweisen." „Walter Scott hat die Hegeische Philosophie zuverlässig nicht gekannt, und wenn er sie in die Hand bekommen hätte, hätte er wahrscheinlich kein Wort davon verstanden."

Diese Abwesenheit von Theorie reicht aber doch an die vollendetste philosophische Reflexion heran: „Die Scottsche Kompositionsweise zeigt hier eine sehr interessante Parallele zur Geschichtsphilosophie Hegels. Auch bei Hegel wächst das .welthistorische Individuum' auf der breiten Grundlage der Welt der .erhaltenden Individuen'".

Ebenso liefern sich die Unintelligenz des Romanciers und die Intelligenz des Philosophen gegenseitig den Beweis für ihre schließlich und endlich gemeinsame „Größe": „Scott hat den notwendigen Anachronismus' Goethes und Hegels sicher ohne Kenntnis ihrer Reflexionen in dichterische Praxis umgesetzt. Um so bedeutsamer ist diese Übereinstimmung der bedeutenden progressiven Dichter und Denker dieser Periode mit seinen Gestaltungsprinzipien. Besonders wenn man noch bedenkt, daß er dies wenn auch ohne jede philosophische Begründung - künstlerisch ganz bewußt getan hat."

b) Lukács behauptet, Flaubert befände sich ebenfalls in einer illustrativen Abhängigkeit vom zeitgenössischen ideologischen Text, der allerdings seinerseits jetzt nur ein falscher und partieller Ausdruck der Geschichte sei; er formuliert aber selbst, was diese seine Behauptung entkräftet. Genauer: Die Romane von Flaubert (in dieser Hinsicht ist 19*

291

die Rolle von Hamilkar in Salammbô entmystifizierend, und es gibt bei Flaubert keinen anderen „großen Mann") bringen keine „großen Männer" hervor, die „feste Punkte in diesem Chaos bilden" und „die in mysteriöser Weise die Menschheit immer wieder aus dem Untergang erretten." Das heißt, daß sich die „krampfhaften Bemühungen" von Flaubert in der Ideologie ganz und gar von denen eines Burckhardt oder eines Nietzsche unterscheiden. Und wenn Flaubert, der Katastrophe nahe, seine letzten Hoffnungen auf Napoleon III. setzt, findet man die Spur dafür in seiner Korrespondenz, nicht aber in seinen Romanen. Mit anderen Worten: Die Literatur von Flaubert, die haargenau die zeitgenössischen Klassenkämpfe gestaltet, predigt keine ideologische Kollaboration zwischen den Klassen. Mit Flaubert wendet sich der literarische Text gegen den herrschenden ideologischen Text, er zerstört seine hauptsächlichen Effekte. 3. Das Nichtauf begehren, die Anpassung der Romane von Walter Scott an den Historischen Roman ist weitgehend dadurch möglich, daß sich von Buch zu Buch ein und dasselbe Modell wiederholt. Folglich ist es leicht, einen unantastbaren Wert „Scott" zu definieren, der trotz aller Schleichwege des Schachers gleich bleibt. Hingegen wird die Festlegung eines Wertes „Flaubert" nur um den Preis der Verdrängung des größten Teiles seines Textes von Lukâcs erreicht. Wenn man, was notwendig ist, den Text von Flaubert in seiner Gesamtheit wiederherstellt, zeichnen sich drei wesentliche Merkmale ab: a) W a s g e s c h r i e b e n w i r d , p a s s i e r t w o u n d w a n n e s g e s c h r i e b e n w i r d (in diesem Sinne existiert der „historische Roman" nicht): Der „moderne Roman", der mit Madame Bovary beginnt, gestaltet, auf die alte Geschichte angewendet, die Klassenkämpfe der Gegenwart in ihrer unversöhnlichen Gewalt: Salammbô bringt die Education sentimentale hervor, die in derselben historischen Zeit abläuft, in der Flaubert schreibt (1840-1848 - 1851-185 18. . .) ; Die Versuchung'2'2, ein anderer Versuch der Flucht in die Vergangenheit, ist in Wirklichkeit ein Kampf mit den zeitgenössischen ideologischen Systemen ; die Drei Erzählungen (Antike/ 292

Mittelalter/Zeitgenössische Epoche) bestätigen die Unvermeidlichkeit der „Modernisierung"; in der bürgerlichen ideologischen Dämmerung nach der Kommune ist Bouvard et Pécuchet23 (wo 1848 wieder auftaucht) die (tragische) Wiederholung der Education. b) S c h r e i b e n i s t e i n e T ä t i g k e i t d e r V e r änderung a n T e x t e n : „Das immer energischere Plündern": Die realistische Illusion ist letzten Endes nur die ungewisse Belohnung der enormen und ganz materiellen Arbeit des Wieder-Schreibens. Flaubert ist sicher nicht imstande, darzulegen, „daß das Plagiat notwendig ist" 24 - aber er beweist, daß es unvermeidbar und schließlich allmächtig ist: In Bouvard und Pécuchet gehen die Helden, nachdem sie zunächst wie Don Quichote an Phantasmen aus Büchern geglaubt und nachdem sie ihren Autor umgebracht haben, selbst daran, auf dem posthumen weißen Blatt die Bibliothek noch einmal abzuschreiben, nach der dieser Autor sie zu seinen Lebzeiten das erste Mal hatte marschieren lassen. c) D a s S c h r e i b e n h a t , w i e d i e S e h n s u c h t , k e i n E n d e : Es reicht bei Flaubert von Madame Bovary, die wir seinen „Ur-Roman" nennen wollen, bis hin zum Paar Bouvard/Pécuchet, und es ist kein erbauliches Spiel, es ist nicht die Errichtung eines Denkmals zur Erbauung seiner Getreuen, sondern die unendliche Annäherung an das „mütterliche Antlitz" (Maldoror), dergestalt, daß Flaubert, wie Lukâcs sagt, „Türen, Schlösser usw., alle Bestandteile der Häuser

[beschreibt],

aber der Architekt, der das Ganze gestaltet, sei bei ihm nirgends zu sehen."

(Der Text, in dem die eben genannten drei Merkmale am deutlichsten hervortreten, ist, wie gesagt, die Education.) 4. 1934 schloß Walter Benjamin einen Vortrag vor dem Pariser Institut für das Studium des Faschismus mit folgenden Worten: „Je mehr der Schriftsteller seine Stellung im Prozeß der Produktion kennt, umso weniger wird ihm der Gedanke kommen, sich als einen „Mann des Geistes" betrachten zu lassen. Der Geist, der sich im Namen des Faschismus hörbar macht, muß verschwinden. Der Geist, der sich ihm entgegensetzt, indem er an seine eigene wunderbare Kraft glaubt, w i r d verschwinden. 293

Denn der revolutionäre Kampf vollzieht sich nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Geist, sondern zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat." 25 Der historische Roman ist wohl eine Manifestation dieses „Geistes", der da „verschwinden wird", aber solange nicht immer weiß, was er sagt: „Der Sieg des Hitlerfaschismus in Deutschland ist ein Wendepunkt der Entwicklung nicht nur für Deutschland, vor allem aber doch für den oppositionellen Humanismus der bedeutenden deuts c h e n Schriftsteller. Die Bildung der Volksfront gegen den Faschismus ist nicht nur politisch ein Ereignis von -welthistorischer Tragweite, sondern bedeutet auch weltanschaulich und schriftstellerisch den Anfang einer neuen Periode in der deutschen Literatur."

Die Literatur ist für Lukäcs das Rückzugsfeld der „Hegelschen" philosophischen Ideologie, die durch die Fortschritte des proletarischen Kampfes und des Materialismus in die Bresche geschlagen worden ist. Es ist also für seine Argumentation wesentlich und notwendig, die verschiedenen Ebenen der Praxis, die er behandeln will, durcheinanderzubringen: a) Die drei allgemeinen Ebenen, historischer Text/ideologischer Text/literarischer Text, werden von Lukäcs niemals in ihrer relativen Autonomie und ihren Wechselwirkungen betrachtet, sondern immer mit einer Tendenz zur „Vulgärsoziologie", die Lukdcs doch zu bekämpfen glaubt. Daher fordert Lukäcs, was den „historischen Roman des demokratischen Humanismus" betrifft, vom Romancier eine ideologische Unschuld ä la Walter Scott „Die bedeutenden Vertreter dieser Richtung fassen ihren Stoff von vornherein auf einer sehr großen Höhe der Abstraktion auf [. . .] Dadurch geht aber die Unmittelbarkeit des historischen Erlebnisses verloren, oder es besteht wenigstens die Gefahr, daß sie verlorengeht."

und führt gleichzeitig als einziges Motiv für den Fortschritt gegenüber der „klassischen Form des historischen Romans" Bedingungen an, bei denen die Veränderungen des literarischen Textes auf seiner eigenen geschichtlichen Ebene keine Rolle spielen: „Nun hat Fadejew [. . .] ein gewaltiges [. . .] Problem aufgeworfen [. . .]: nämlich das Schicksal des noch fast urkommunistisch

294

lebenden Stammes der Überreste der Udehe, der in eine Berührung mit der proletarischen Revolution gerät. Es ist klar, daß diese Berührung das ökonomische wie sittliche Leben des Stammes in einer vehementen Weise umgestalten muß; ist aber ebenso klar, daß diese Umgestaltung eine vollkommen entgegengesetzte Richtung einnehmen muß wie die von Cooper als erschütternd tragisch geschilderte." b) D e r literarische T e x t selbst wird zu einem Ort der Verdoppelung der allgemeinen Nichtunterscheidung der Ebenen. Lukäcs erkennt nicht seine eigene Art an, Geschichte aufzunehmen, sich zu verausgaben (Sexualität), sich in die Sprache einzuschreiben (verändernde Arbeit an und in Texten). D a h e r seine Blindheit, die zu völlig unakzeptablen Schlußfolgerungen führt: - D a ja die Praxis von Flaubert nicht als dialektisch umgesetzte Produktion wahrgenommen wird, wiederholt jede der herausgestellten Ebenen den gleichen, nicht produktiven (moralischen) Widerspruch: Ideologie „die Flaubert und Baudelaire, die Zola und sogar Nietzsche, leiden an dieser Entwicklung des Lebens, stehen in einer wilden Opposition zu ihr; jedoch die Art ihrer Opposition führt dazu, die Enthumanisierung des Lebens durch den Kapitalismus literarisch noch zu verstärken." Moral „Wir haben bereits auf die paradoxe Tatsache hingewiesen, daß ästhetisch wie moralisch derart hochstehende und feinfühlige Schriftsteller wie Flaubert und Meyer in ihrer Darstellung zu dieser Grausamkeit und Brutalität getrieben worden sind." Text „Die Flaubertsche Einstellung zur Geschichte führt notwendigerweise - auch bei diesem großen Stilisten - zu einer Zersetzung der wirklich epischen Sprachform." - E i n e erste Konsequenz ist also das „Scheitern" Flauberts auf diesen Ebenen. Während es zunächst nur am eigentlich Literarischen sich offenbarte, „Es werden [. . .] jene brutalen und animalischen Züge hervorgehoben und in den Mittelpunkt der Gestaltung gerückt, die später bei Zola als Charakterisierungen des modernen Arbeiter- und Bauernlebens auftauchen werden. Flauberts Gestaltung ist hier 295

.prophetisch'. Aber nicht im Sinne wie bei Balzac, der die zukünftige reale Entwicklung von gesellschaftlichen Typen gestalterisch vorwegnimmt, sondern bloß literaturhistorisch, in dem Sinne einer Vorwegnahme der späteren verzerrten Widerspiegelung des modernen Lebens durch die Naturalisten." v e r w a n d e l t e sich d i e s e nur literarische „Prophetie" n a h e z u in politische V e r a n t w o r t l i c h k e i t , „Einerseits entsteht ein immer mehr steigender Unglaube an die Möglichkeit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit und demzufolge auch der Geschichte. Dieser Unglaube schlägt notwendigerweise [. . .] in eine Mystik um. Diese mystischen Tendenzen verstärken sich immer mehr im Laufe der imperialistischen Entwicklung und erreichen in der barbarischen Geschichtsfälschung und Mythisierung der Geschichte durch den Faschismus ihren Gipfelpunkt; andererseits beschränkt sich die Darstellung der Geschichte auf eine möglichst große Genauigkeit bezüglich der einzelnen, i s o l i e r t e n , aus dem wahren Zusammenhang gerissenen Tatsachen [. . .] Bei Flaubert war dies noch ein dekorativer Archäologismus." so d a ß v o n F l a u b e r t an der m o d e r n e literarische T e x t

ver-

drängt (Joyce w i r d in drei Z e i l e n a b g e t a n , auf d e n Seiten 3 0 9 u n d 3 3 2 , w o er e i n m a l mit D ö b l i n u n d M u s i l u n d d a s a n d e r e M a l m i t Schnitzler z u s a m m e n g e b r a c h t w i r d ) u n d darüber hinaus der m o d e r n e

k o m m u n i s t i s c h e

T e x t schlicht

und

einfach m i t S c h w e i g e n übergangen w i r d : „Entstanden aus der jeder Kunst gegenüber nihilistischen Theorie und Praxis verschiedener dadaistischer Richtungen, .konsolidierte' sich diese Theorie in der Auffassung der Periode der .relativen Stabilisierung' zu einem prinzipiellen Kunstsurrogat [. . .] Die [. . .] Montage als Kunst ist einerseits der Gipfelpunkt der falschen Tendenzen des Naturalismus [. . .] andererseits ist die Montage zugleich der Gipfelpunkt des Formalismus". K e i n W o r t über E i s e n s t e i n Historischen

Roman

(der s o w j e t i s c h e F i l m hätte d e n

w e i t mehr b e t r e f f e n m ü s s e n als d i e grie-

chische T r a g ö d i e ) , über M a j a k o w s k i o d e r Brecht. 5. I n d e m L u k ä c s seine W e i g e r u n g , d e n m o d e r n e n

literari-

schen T e x t in seiner relativ a u t o n o m e n G e s c h i c h t e zu lesen (diese

Geschichte

Autonomie), Intelligenz,

an die

ist

gerade

Flaubert dem

die

festmacht,

bürgerlichen

der R e l a t i v i e r u n g beweist

Lukäcs

Literaturbetrieb

jener eine fehlt.

D i e s e r h a t sich, i n d e m er Flaubert z u l i e ß , in d i e Z w a n g s l a g e

296

gebracht, in der Folgezeit mehr als nötig durchgehen zu lassen, was die bürgerliche Verwaltung der Literatur schwer erschüttert hat. Aber auf der anderen Seite will Lukäcs die modernistische Kritik überwinden, die sich - darin dem traditionalistischen Verfahren wesensgleich - beeilt hat, Flaubert an die Spitze eines abstrakten oder phantomartigen Zuges zu setzen, an den sie von Mallarmé bis zu gewissen Autoren des Nouveau romarfi® alles mögliche anhängt. Die Lukäcssche Weigerung signalisiert tatsächlich die entscheidende Wichtigkeit von Flaubert: In diesem Text gerade kann man, und zwar am genauesten, den Einschnitt und die Veränderungen ablesen, die im literarischen Text vor sich gegangen sind als Folgen des Einschnittes und der Veränderung des Klassenkampfes, da er ja selbst explizit eine Lektüre der Markierung der französischen Geschichte durch die Jahre 1848 und 1871 ist. Von Flaubert an steht fest, daß eine korrekte „literarische" Handhabung der vom Autor erlebten Widersprüche nicht mit den ideologischen Interessen der herrschenden Klasse (und des Autors selbst) konform geht. Diese Handhabung folgt einem „unhörbare(n) und unlesbare (n) Sichbemerkbarmachen der Auswirkungen einer Struktur der Strukturen": „[indem man aufdeckt], daß die in Büchern enthaltene Geschichte der Menschen dennoch kein auf den Seiten eines Buches niedergeschriebener Text ist, [und] daß die Wahrheit der Geschichte nicht aus ihrem offenkundigen Diskurs heraus gelesen werden kann, denn der Text der Geschichte ist kein Text, worin eine Stimme (der Logos) spricht, sondern das unhörbare und unlesbare Sichbemerkbarmachen der Auswirkungen einer Struktur der Strukturen. Mit dem religiösen Mythos des Lesens brechen: diese theoretische Notwendigkeit hat bei Marx die ganz bestimmte Form eines Bruchs mit der Hegelschen Konzeption des Ganzen als einer geistigen, genauer einer e x p r e s s i v e n Totalität angenommen." 27 Übersetzt von Ute Harz und Brigitte Burmeister

297

13. France Vernier

Affirmative Funktionsweise und Funktionsveränderung in der Literatur

Auf welche Weise sich im literarischen Phänomen ein Kampf abspielt, dessen Ursprung und Einsatz ganz woanders liegen und der dennoch nicht einfach in die Texte transportiert wird (im Sinne eines metaphorischen Prozesses), diesem Problem soll hier nachgegangen werden. Selbstverständlich steht dabei eine mechanistische Reduktion literarischer Texte auf einfache Reflexe des Klassenkampfes außer Betracht. Die relative Autonomie des literarischen Phänomens bringt einen Konflikt auf der Ebene der Sprache und der ästhetischen Kriterien mit sich, der eigenen Gesetzen unterliegt. Andererseits schließt diese relative Autonomie eine Rückwirkung literarischer Texte auf andere Gebiete des Überbaus und auf die gesellschaftliche Basis ein, eine Rückwirkung, deren Modalitäten in jeder Epoche analysiert werden müssen. Dabei handelt es sich nicht etwa um die klare und simple Gegenüberstellung zweier organisierter ideologischer Systeme, von denen eines das herrschende wäre und das andere das beherrschte, die über ganze Reihen von Vermittlungen auf dem neutralen und technisch spezifischen Gebiet der Sprache und der „Literatur" zusammenstießen, so daß man lediglich ihre entsprechenden Verbindungslinien wiederzufinden hätte. Das literarische Phänomen darf daher nicht als einfacher Faktor des ideologischen Klassenkampfes betrachtet werden, worin man eben die Kräfte dieses Kampfes wiederfinden könnte, lediglich verdeckt von der ihnen gemeinsamen Spezifik, literarisches Phänomen zu sein. Schon in ihrer Entstehungsphase stehen die literarischen Texte sowohl durch die Bedingungen des Schreibens wie durch die Bedingungen ihrer Integration in den „literarischen Corpus" in einer bestimmten Konflikt301

Situation. Sie prägt auch ihre Gestaltung. In funktionaler Hinsicht nun ist das literarische Phänomen insgesamt vom Klassenkampf geprägt. Die herrschende Klasse sieht sich durch einen Widerspruch, dem sie nicht ausweichen, den sie aber auch nicht lösen kann, gezwungen, Schriften als „literarische" zu bewerten (oder wenigstens einer solchen Bewertung zuzustimmen), die auf einer gewissen Stufe der Entwicklung die Kohärenz und die Harmonie ihres Herrschaftssystems in Frage stellen. Dies geschieht immer dann, wenn „Texte" das ästhetische oder sprachliche Normengefüge unvermeidlich durchbrechen, mit dem die herrschende Klasse sowohl die Kunst als auch die Sprache zu kontrollieren und zu beherrschen sucht. Angesichts der relativen und potentiellen Gefahr, die solche „Texte" für sie darstellen können, muß die herrschende Klasse auch den Gebrauch, die Gestaltung und die Art und Weise, sie zu lesen, unter ihre Kontrolle zu bringen versuchen. Sie stößt dabei auf Widerstände und Gegenreaktionen. So ist auch die Lektüre, wie der Gebrauch literarischer Texte überhaupt, Ort und Schauplatz eines Kampfes. Jede Lektüre, jede Kritik, jeder Kommentar, jede Rezeption, jede Inszenierung auf der Bühne oder für die Leinwand usw. ist letzten Endes ein stets vielfach vermittelter T y p d e s G e b r a u c h s von literarischen Texten, und damit von Sprache, Literatur, Kunst. Er setzt implizit oder explizit eine bestimmte Vorstellung von ihrem Status und ihrer Rolle voraus, die sich selbst im Gebrauch realisiert. Die sogenannten „neutralen" oder „interesselosen" Lektüreweisen sind schließlich nichts anderes als Leseakte, die das von ihnen verfolgte Interesse ignorieren oder es schlimmstenfalls heuchlerisch verhehlen. Im übrigen zeigt sich darin nur die normale Konsequenz der Tatsache, daß literarische Texte sehr wohl einen gesellschaftlichen Gebrauchswert haben, daß sie keine „nutzlose Arbeit" sind. Nicht Nützlichkeit oder Zweckfreiheit ist die Alternative, wie die herrschende bürgerliche Ideologie behauptet, um das besondere Klasseninteresse zu verschleiern, das die Bourgeoisie auch gegenüber dem Gebrauch literarischer Texte bekundet. Die herrschende bürgerliche Klasse hat noch immer das ihr Nützliche unter dem Schein des Interesselosen verborgen. Sie hat das als u t i l i t ä r (also niedrig) abgewertet, was ihr feindlich gegenübersteht 302

oder was ihren Gegnern nützlich und brauchbar sein könnte. Mit dem so durchsichtigen Begriff der T e n d e n z k u n s t hat sie immer solche Werke bezeichnet, in denen sich in einer bestimmten Epoche und unter bestimmten Lektürebedingungen ein Bewußtsein von den Klassengegensätzen zeigte oder ankündigte. Immer verhängte sie das Verdikt der T e n d e n z k u n s t über solche Werke, die ihr auf irgendeine Weise gefährlich erschienen.1 Die Frage lautet daher nicht: Nützlich oder nicht? sondern: Nützlich f ü r w e n ? W o r i n ? W i e ? Warum ? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, werde ich zunächst untersuchen, über welche Instanzen und mit welchen Mitteln die herrschende bürgerliche Klasse den Gebrauch literarischer Texte steuert, um ihn zum eigenen Vorteil zu nutzen oder um ihn wenigstens zu neutralisieren. Man kann sich dann eine genauere Vorstellung davon machen, was die L e k t ü r e c o d e s sind, worin die a f f i r m a t i v e F u n k t i o n s w e i s e besteht. Ich beginne mit diesem Aspekt, weil die Bourgeoisie, die zwar nicht allmächtig ist, auch auf diesem Gebiet noch entscheidende Machtpositionen innehat. In einem zweiten Schritt werde ich untersuchen, worin die Bourgeoisie in diesem ihrem Herrschaftsbereich scheitert. Ich werde zeigen, wo die Grenzen ihrer Herrschaft liegen, welche Form auf diesem Gebiet der Kampf gegen ihr System der E i n f u n k t i o n i e r u n g (récupération2) annimmt und welche Mittel in diesem Kampf eingesetzt werden, welche L e k t ü r e w e i s e n und welche F u n k t i o n s v e r ä n d e r u n g e n er hervorbingt. Sie werden erst an zweiter Stelle betrachtet, weil sie in dem kapitalistischen System als Gegenstrategien entwickelt werden. Noch liegt die Initiative in diesem System und in diesem Bereich weitgehend bei der Bourgeoisie. 1. Lektürecodes und Scbreibcodes Es wird oft vergessen, daß die „Einfunktionierung" durch die herrschende Klasse für sie selbst nur ein Notbehelf ist, zu dem sie erst nach dem relativen Scheitern anderer Methoden Zuflucht nimmt. Dieses Scheitern kann seine Ursachen in einer nicht länger zu unterdrückenden Gegenbewegung haben, die 303

sich nicht mehr zensieren läßt, oder aber in eigenen Widersprüchen ihres Herrschaftssystems. Es besteht ja tatsächlich ein Gegensatz zwischen dem Erkenntnisstreben, zwischen den ästhetischen Bedürfnissen der Bourgeois als Individuen und zwischen ihren Klasseninteressen, die jenem Streben und jenen Bedürfnissen oft im Wege stehen. Außerdem wird die Bourgeoisie durch die Interessengegensätze zwischen ihren verschiedenen Schichten gezwungen, auch auf diesem Gebiet erfinderisch zu sein. Und schließlich führt der Widerspruch zwischen den demokratischen Prinzipien, die die Bourgeoisie als Aushängeschild braucht, und ihren tatsächlichen Zielen zu Kompromissen. So z. B. mußte sie, um das große Geschrei gegen eine angebliche „kulturelle Repression" in den sozialistischen Ländern anstimmen zu können, wenigstens im Prinzip Veröffentlichungen zulassen, die ihr gar nicht passen, die sie aber benutzt, um sich reinzuwaschen. Was auch immer die Bedingungen, die Natur und das Niveau des ideologischen Klassenkampfes sind, seit die Bourgeoisie an der Macht ist, hat sie nie darauf verzichtet, literarische Texte einer ökonomischen und juristischen Zensur zu unterwerfen. Sie hat dabei die Formen dieser Zensur im Laufe der Zeit vervielfacht und raffiniert verfeinert. Es ist nur scheinbar eine paradoxe Feststellung, wenn man sagt: Die Bourgeoisie sieht sich erst zur „Einfunktionierung" gezwungen, nachdem sie in gewissem Maß geschlagen wurde. So ist diese Form der „Einfunktionierung" eine Defensivhaltung, die freilich nicht die offensiven Aktionen vergessen lassen darf, zu denen die Bourgeoisie nach wie vor Zuflucht nimmt. Es gibt nicht nur nackte Zensur. Man sehe sich nur die Funktion der Literaturpreise an, die jüngst von Catherine Claude in der Nouvelle Critique analysiert worden ist3. Oder man denke an das HachetteMonopol für den Vertrieb von Druckerzeugnissen in Frankreich4 oder auch an die große Misere der Bibliotheken in diesem Frankreich, das man oft das „Mutterland der Kultur" nennt. Wenn man sich dann noch den Zustand der Fernsehprogramme vor Augen führt, so versteht man, daß die „Einfunktionierung" sich vor einem Hintergrund der Repression abspielt. Dieser repressive Hintergrund ist beim Film besonders sichtbar, weil hier die erforderlichen finanziellen Mittel eine 304

bestimmendere Rolle spielen. Er besteht aber gleichwohl für alle sogenannten „künstlerischen" Gebiete. Auch für die Literatur. Und noch eine weitere Vorbemerkung ist nötig. Die literarischen Texte werden auf ganz verschiedene Weise verwendet. Der Sektor, auf den ich mich hier beschränke, die Lektüre, der Kommentar, die Bühnen- und Filminszenierungen sind nicht die einzigen Formen ihres gesellschaftlichen Gebrauchs. In dem Maße, wie „Texte" zur Herstellung von Objekten (Büchern) dienen, sind sie Zwecken unterworfen, die von der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt werden. Sie werden auch als Rechtfertigung für Dinge benutzt, die von ihnen in Frage gestellt werden, ohne daß damit schon eine bestimmte Lektüreweise impliziert wäre. Vornehm eingebunden, um die „Bewunderung Ihrer Freunde zu erregen" und zur „Ausstattung Ihres Heims" zu dienen, sind sie Mittel des Prestiges. Man müßte hier auch den Buchmarkt seltener Ausgaben oder alter Bücher erwähnen, der nach ähnlichen Gesetzen wie der Kunstmarkt funktioniert. Daß diese verschiedenen Arten des Gebrauchs logischerweise nichts mit der spezifischen Funktion literarischer Texte zu tun haben, schließt doch nicht aus, daß sie in unserer Gesellschaft existieren und bestimmte Wirkungen erzeugen. Man darf daher bei der Behandlung der Lektüre als der Grundlage für jede andere Verwendung literarischer Texte diese verschiedenen Gebrauchsweisen nicht aus dem Auge verlieren. Wir können hier nicht die Fülle der Fragen beantworten, die sich in diesem Zusammenhang stellen oder die man erst stellen müßte und die zu einer Reihe von vertiefenden Untersuchungen führen werden. Fragen, die die herrschende Ideologie zu stellen verhindert und deren Formulierung oft schon durch den uns zur Verfügung stehenden Wortschatz erschwert wird. Konsultiert man beispielsweise den Robert5, so findet man unter dem Wort „Lektüre" überhaupt keine Antonyme. Als Gegenbegriffe werden genannt entweder Schreibweise („écriture") oder „Theateraufführung, Rezitation, Deklamieren". Als erklärenden Verweis findet man: „Lektion. Entziffern. Weide. Kultur." Zu den verschiedenen „Bedeutungen" des Wortes heißt es: „1. Materieller Akt des Lesens, des Entzifferns (von Geschriebenem) [. . .] 2. Akt des Lesen, der 20 Bumxinet/Barck

305

Kenntnisnahme des Inhalts einer Schrift, zum Zwecke der Bildung oder zum Vergnügen. 3. Belehrung als Ergebnis einer Lektüre." Die dann folgenden drei Bedeutungen, die noch für „Lektüre" angegeben werden, die juristische, die liturgische und die akustische, bestätigen lediglich die zuvorgenannten. Worin sind diese Definitionen bemerkenswert? Sie geben vor, daß die Lektüre (die Entzifferung oder Kenntnisnahme d e s Inhalts) gänzlich unproblematisch ist: Entweder man kann lesen oder nicht. Ein geschriebener Text hat „ e i n e n Inhalt", dessen man sich einfach vergewissert. Dieser Inhalt vermittelt in jedem Fall Bildung oder Vergnügen. Die Welt ist nach dieser Vorstellung vollkommen statisch. Die Texte enthalten Lektionen, die man aus ihnen empfängt. In jedem der genannten Sinne erscheint die Lektüre als eine Technik, die von der des Schreibens und von der des Rezitierens unterschieden wird. Man braucht also anscheinend keine weiteren Fragen zu stellen. Die Funktion des literarischen Phänomens wirft jedoch viele notwendige Fragen auf, deren Beantwortung schwierige Untersuchungen erfordert. Der Terminus „Lesen" umfaßt äußerst differenzierte Tätigkeiten. Selbst die „Entzifferung" nach einer globalen Methode zeigt, daß die Aneignungsweise der geschriebenen Sprache sich von der auf einer analytischen Methode basierenden unterscheidet! Die Tätigkeit des Lesens ist jeweils von der Epoche und von dem Gesellschaftstyp abhängig, mit denen man es zu tun hat. Denn das Erlernen und die Funktion der Lektüre verändern sich ebenso wie das lesende Publikum. Das Lesen hängt auch davon ab, was man liest: ob es sich um eine Bekanntmachung, um einen Zeitungsartikel, um eine Rede oder um einen Roman handelt. Es hängt folglich von dem S t a t u s der Schriften ab, die man liest. Die Vorstellung, die man sich von einem „literarischen Text" in einer bestimmten Epoche macht, von seinem Verhältnis und von seinem Unterschied zu anderen gleichzeitigen Schriften, beeinflußt beträchtlich die Weise seiner Aneignung. In diesem Sinne heißt schreiben oder lesen, Fragen an die Sprache und an die ästhetischen Normen stellen und Antworten auf diese Fragen erwarten, die ihrerseits sehr variabel sind (die Lektüre einer Seite aus Chateaubriand zur Vorbereitung eines Diktats unterscheidet sich von der Tätigkeit, die 306

die Lektüre derselben Seite darstellt, wenn ein Student sie zur Vorbereitung eines Aufsatzes oder ein Historiker für eine wissenschaftliche Arbeit oder wenn jemand sie nach dem Abendessen zur „Zerstreuung" liest). In dem Maße, wie die Sprache und die ästhetischen Formen Bestandteil der Wirklichkeit sind und wichtige gesellschaftliche Funktionen ausfüllen, befragt man in ihnen über zahlreiche Vermittlungen immer auch die Gesellschaft, in der man lebt, spricht, schreibt und liest. Weiter hängt die Tätigkeit des Lesens von den Subjekten ab. Wer liest da? Wer verbirgt sich hinter dem „wir" der Kritiker und der Verfasser von Dissertationen (der Autor zeigt „uns". . .) ? Wer ist der „Leser" („es berührt den Leser sehr, daß . . ."), der wie ein Zwilling dem berühmten „allgemeinen Menschen" gleicht, den die Bourgeoisie sich zum Leitbild erkoren hat? Man sieht, daß der Terminus „Lektüre" unspezifisch eine Reihe von sehr verschiedenen Tätigkeiten bezeichnet, die analysiert werden müssen, wenn man die tatsächlichen und verschiedenen Wirkungen literarischer Texte verstehen und die Realität, mit der man es dabei zu tun hat, begreifen will. Alle Arten des Lesens sind Typen des Gebrauchs von Texten. Die Lesarten sind von großer Bedeutung, weil sie auf einer gewissen Stufe Erkenntnisweisen von mehr oder weniger aktivem Wirklichkeitsbezug sind. Deswegen hat die Bourgeoisie das größte Interesse, das Erlernen des Lesens zu reglementieren und die Leseweisen lediglich unter dem p a s s i v e n Aspekt (Lesen als Entzifferung oder Aneignung d e s Inhalts) oder unter dem t e c h n i s c h e n Aspekt einer „Lektüre an sich" (Lesen lediglich als formaler, zweckentfremdeter Akt, wobei die Orientierung der Aneignung von vornherein verwischt wird) zu präsentieren. Unter dem Mantel des rein technischen Charakters des Lesevorgangs läßt sich auch im Schulunterricht das Erlernen ganz verschiedener Leseweisen rechtfertigen und hierarchisch ordnen, indem man etwa dem Schulpublikum und dem Universitätspublikum verschiedene und unterschiedlich ausgewählte Lesemuster präsentiert. Wenn jede Lektüre sich in der Sprache und durch die Sprache verwirklicht, dann ist klar, daß das Erlernen der Muttersprache einschließlich des ihr zugemessenen Status zuallererst jede Lektüre bestimmt. Hier liegt die enorme Bedeutung der Schule für das ganze Problem.

20»

307

Trotzdem läßt sich das in seiner Gesamtheit vom Funktionieren der Sprache bestimmte literarische Phänomen nicht allein durch diese Bestimmung erklären. Die sprachliche Ebene kann nur eine erste Ebene der Analyse sein. Man liest ja nicht nur „französisch", wenn man ein Gedicht, einen Roman oder eine Metapher liest. Außer der Gestaltung des Sprachcodes, die in jeder französischen Schreibweise und Lektüre vorhanden ist, realisiert z. B. einfache Wahrnehmung eines Textfragments als „Beschreibung" eine Reihe von Vorstellungsregeln, die weit komplexer als die „Gesetze" der Perspektive sind, die die „Ansicht" eines Gemäldes bedingen. Das sind so frühzeitig und so selbstverständlich erlernte Regeln, daß sie gar nicht mehr als Ergebnis eines Lernprozesses bewußt sind, sondern daß sie gewissermaßen als „evident" aufgefaßt werden. Diese meist stillschweigend befolgten Regeln entspringen jedoch keineswegs der „Natur der Sache" und auch nicht der Natur „ d e s Menschen" oder „ d e r Sprache". Sie sind vielmehr durch ihren Ursprung und durch die Modalitäten ihrer Ausarbeitung der Herrschaft einer Klasse unterworfen.6 Diese Herrschaft ist, wie in der Sprache, verschoben und vermittelt, und es wäre eine Versimpelung zu sagen, daß etwa die Metapher, das System der Personolpronomina oder die Romanfiguren d i r e k t e politische Instrumente in den Händen der herrschenden Klasse sind. Diese hat auf dem Gebiet der Literatur wie auf dem der Sprache niemals absolut und ohne Widersprüche Gesetze erlassen. Es handelt sich auch auf dieser Ebene immer um eine Resultante. Aber auch hier sind die Instrumente keineswegs neutral. Es wurde gesagt, daß das „Lesen" eines Textfragmentes als „Beschreibung" allein unter dem Gesichtspunkt des Funktionierens der „Lektüre", das heißt ohne auch nur das Problem der Wertung zu berühren, bereits voraussetzt, daß wenigstens implizit anerkannt wird, daß „die Sprache" die Funktion hat, die Wirklichkeit zu „repräsentieren". Das hieße aber anerkennen, daß es eine allen sichtbare „Realität" gibt, die durch die Verfahren des Schreibens oder durch das Talent des Schriftstellers mehr oder weniger getreu „abgebildet" wird. Ich verweise hier noch einmal auf eine Definition im Robert: „Beschreibung (description): in der Literatur Schilderung (peintu308

re) konkreter Dinge, mehr oder weniger evokativ, entsprechend dem angewandten Verfahren." Diese Definition wird durch ein Zitat aus Albalats Formation du style (Stilbildung) gestützt: „Wir haben die Beschreibung so definiert: ein Bild, das materielle Dinge sichtbar macht."7 Einen Text als „Beschreibung" lesen hieße demnach, auch jene Täuschung akzeptieren, wonach „die Sprache" und die Gesamtheit der rhetorischen Verfahren Instrumente der Darstellung (représentation) der Welt, nicht aber solche der Aktion wären. Dementsprechend läse man den Text als transparent auf einen „Referenten", 8 während doch gerade das Zusammentreffen von Text und Lesern, die dazu erzogen wurden, letzteren noch gewissen Normen zu lesen, die illusorische Vorstellung von „Wirklichkeit" erzeugt. Denn sonst kommt man eben zu der Annahme, daß die Schreibweisen getreue Ausdrucksmittel der Wirklichkeit sind. Getreu sind sie in der Tat gegenüber der Wirkung, die von ihnen ausgeht ! So setzt schon allein die Tatache, eine Passage als Beschreibung zu lesen, eine Reihe überkommener Vorstellungen von „der Wirklichkeit", von der Sprache und ihren Funktionen, vom Stil als Ausdrucksmittel, vom universellen Charakter der Wahrnehmung usw. in Bewegung, die auf diese Weise bestärkt, operativ und „evident" erscheinen. (Ohne Zweifel ist das ein „automatischer" Mechanismus, den etwa ein Imperfekt oder ein affektiver Terminus zu Beginn eines Absatzes in Gang setzt: „das Tal erstreckte sich . . ." oder „Pfeife rauchend, begann er . . .") Es war hier nur von „einer Beschreibung" die Rede. Wie sähe das Problem aber bei der komplexen Beschreibung in einem Roman aus, dessen Lektüre eine Reihe weiterer erlernter Codes voraussetzt? So z. B. die Beziehung zwischen der „Umgebung", in der der Held lebt, und seiner Psychologie, dank derer die Leser von vornherein etwa in der Abnutzung der Tischdecke, über die eine Romanfigur sich beugt, oder in der Eigenart der Haartracht in der Habgier ihrer Seele zu „lesen" verstehen. Liest man ein Textfragment als Beschreibung, dann nimmt man sich die Möglichkeit, darin die Rekonstruktion und vor allem das Auftauchen eines Konfliktes auf der Ebene der Sprache zu bemerken. Man nimmt eine Augentäuschung für 309

eine Fensterscheibe. Alle Stiluntersuchungen werden plötzlich durch einen unbewußten Taschenspielertrick auf die „Ausdruckskunst" zugeschnitten, so, als wäre „das Auszudrückende" durch die Transparenz des Textes völlig unabhängig von dem „Stil" selbst hindurchgekommen. Es sei hier auf eine von Valéry in den Souvenirs littéraires (Literarische Erinnerungen) vorgenommene Analyse verwiesen, die mit allergrößter Naivität dieses Verfahren enthüllt, das von der Kritik gewöhnlich geschickter verschleiert wird. 9 Man muß also systematisch auf allen Ebenen die impliziten Codes in ihrer geschichtlich entwikkelten Funktionsbeziehung zu Basis und Überbau analysieren. Denn ihre Verkettung bedingt nicht nur die Bewertung literarischer Texte, sondern auch die Lektüre. Wenn man 10 einen „Text" liest, so liest man nicht nur „französisch", sondern man liest auch „einen Text", mit allem, was einem die Schulbildung an Vorgefaßtem und „evident" gewordenen Ideen darüber vermittelt hat (ein „grammatischer Fehler" in einem Text wird so z. B. entweder als „dichterisch erlaubt" oder als „Archaismus" gelesen. Vielleicht auch als Druckfehler - aber nie als „grammatischer Fehler"). Man liest auch die R h e t o r i k mit, einschließlich all dessen, was die Regeln für die redenden Künste implizieren.11 Man liest einen R o m a n oder ein G e d i c h t usw. entsprechend den für jede der Gattungen überlieferten Vorstellungen. Eine „Beschreibung" in einem Roman liest sich wie ein Fingerzeig auf den Charakter der „Figuren", während sie in einem Gedicht als „Ausdruck des seelischen Zustands des Dichters" gelesen wird. Man liest darüber hinaus einen T e x t d e s A u t o r s X., das heißt, man liest ihn mit den Vorstellungen, die einem über die verschiedenen Größen (Genie) des literarischen Pantheons verabreicht wurden. (In einem Text des Abbé Prévost werden z. B. die Anspielungen auf Geldprobleme als „Hindernisse, die sich schicksalhaft der Liebe in den Weg stellen" gelesen. In einem Balzac-Roman werden sie als „Schilderung der Gesellschaft" durch den Geschichtsschreiber der Sitten gelesen.)12 Man liest die Texte wie Paragraphen der großen Abhandlung über den Menschen, die - von Montaigne bis zu Sartre oder von Piaton bis zu Kafka und i m m e r unter Einschluß Pascals (dem obligaten Bezugspunkt jeder französischen Dissertation) 310

über jeder Geschichte schwebend, sich im Himmel des menschlichen Genius und Herzens bewegt. Ich habe hier nur von der Bestimmung „der Lektüre" gesprochen, wie man sie sehr frühzeitig in unseren Schulen beigebracht bekommt. Von dieser „Lektüre-um-einen-Text-zu-erklären"13 oder „um-eine-Dissertation-anzufertigen", von der das Standardwerk von Lagarde,/ Michart eine ausgezeichnete Vorstellung vermittelt: In diesem Werk wird nämlich die Leseweise festgelegt, die „der Schüler" kennen muß. Angesichts noch ausstehender notwendiger Detailanalysen läßt sich die vorläufige Feststellung treffen, daß das Funktionieren des literarischen Phänomens auf dem verschleierten Wirken verschiedener „Codes" innerhalb eines Codes (der Sprache) in bezug sowohl auf das Schreiben als auch auf das Lesen basiert, obgleich es sich keinesfalls darauf reduzieren läßt. Die historische und dialektische Analyse dieser Codes ist für das Studium des literarischen Phänomens unerläßlich. Unter „Codes" im weitesten Sinne verstehe ich alle erlernten Mechanismen, die automatisch geworden sind und als „evident" empfunden werden und die in einer gegebenen Epoche in einer gegebenen Gesellschaft zu schreiben und zu lesen erlauben; genauso wie z. B. das Erfassen eines japanischen NöSpiels beim Publikum, Schauspieler und Autor die Realisierung eines Symbol-Codes voraussetzt, ohne den die Gesten weder „gelesen" noch begriffen werden können. Diese „Codes" sind nicht neutral. Die herrschende Klasse bearbeitet sie auf der Grundlage eines überlieferten Erbes und gegen die Bestrebungen der unterdrückten Klasse, indem sie ihren Klassencharakter verschleiert und sie als Ausdrucks- und Verständigungsmittel im Dienste aller Menschen ausgibt. 14 Diese wechselnden Codes stellen eine Art Lektüreraster dar, die je nach Publikum und Verwendungsgebiet den Gebrauch „literarischer Texte" steuern (wie auch, entsprechend abgewandelt, den Gebrauch anderer Texte). Sie müssen sorgfältig untersucht werden, indem man die geschichtliche Zeit und die Distributionsbeziehungen literarischer Texte berücksichtigt. Denn sie unterliegen ja einer ständigen Veränderung und stehen in ihrer Bestimmung und in ihrer Verbreitung immer im Feld der Klassenkämpfe. Wir werden sehen, daß die herrschende Klasse trotz des institutionellen Apparates, über den sie ver311

fügt, um ihre Lektüreweise durchzusetzen, sehr ernst zu nehmenden Gegenkräften gegenübersteht, deren Aktion die LektüreCodes auf bestimmte Weise verändert. 15

2. Die affirmative

Funktionsweise

Die Lektüre-Codes dürfen nicht einfach mit der affirmativen Funktionsweise verwechselt werden, worunter ich alle jene Typen des Gebrauchs literarischer Texte verstehe, die sich in einer bestimmten Epoche und in einer bestimmten Gesellschaft, unter Berücksichtigung des anvisierten Publikums und der wirksamen ideologischen Themen, aus der Ausnutzung literarischer Texte durch die herrschende Klasse ergeben. Immer ist dabei selbstverständlich die G e s a m t h e i t aller Funktionen des literarischen Phänomens zu beachten. Die Beziehungen zwischen dieser oder jener schulischen „Erklärung" oder „Lektüre" eines Textes und dem ideologischen Kampf und darüber hinaus dem Klassenkampf lassen sich nicht ohne weiteres einschätzen. Dazu muß man systematisch die ideologische Funktion des Französisch-Unterrichts in der betreffenden Epoche und in bezug auf das betreffende Publikum untersucht haben. Dazu müssen die Beziehungen zwischen der schulischen und kulturellen Struktur Frankreichs und den an den verschiedenen Abschnitten des Bildungssystems praktizierten Typen der „Lektüre - Kommentare - Kritiken" aufgedeckt werden. Das Ganze muß dann zu den konkreten Zielen der herrschenden Klasse, einschließlich der konjunkturbedingten Oberflächenveränderungen in Beziehung gesetzt werden. 16 Das ist nur ein methodisches Beispiel. Es geht keineswegs allein um den Schul- und Universitätsunterricht, trotz der vorrangigen Rolle, die ihm in Frankreich zukommt. Viele andere Arten, die „literarischen Texte" zu lesen und zu gebrauchen, insbesondere die Fernseh- und Rundfunksendungen, Verfilmungen, werden ständig weiterentwickelt und sind Bestandteil der affirmativen Funktion der Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft. Für sie gilt im Prinzip dasselbe: Das Publikum, die Sendung, die Sendezeit, der Kontext usw. all das sind Faktoren, die in die Analyse einbezogen werden müssen. 312

Die Untersuchung darf ferner nicht von den Voraussetzungen nur einer bestimmten „Lesart" ausgehen, ihr Gegenstand ist ja ein E n s e m b l e v o n F u n k t i o n s w e i s e n . Eine dialektische Analyse wird daher die heute gängige Alternative vermeiden : e n t w e d e r reine „Wissenschaftlichkeit" beim Studium der Spezifik des Schreibens mit den Mitteln einer hochentwickelten Technik o d e r vereinfachende Reduktionen, die die „Werke" als manipulierbare Gegenstände, zum Nutzen der ausgebeuteten Klassen und unter Mißachtung des „Mysteriums, der Schönheit", behandeln, wie das z. B. in linksradikalen Kritiken der Fall ist. Das Gespenst eines karrikierten „sozialistischen Realismus" wird dabei oft ausgiebig benutzt, um jeden Versuch zu verhöhnen, der die Verbindung zwischen der „Interesselosigkeit" der Ästhetik und den Interessen der herrschenden Klassen ans Licht bringen will. Das einzig mögliche wissenschaftliche Verfahren muß indes z u g l e i c h die relative Spezifik des literarischen Phänomens (die Literatur ist z. B. nicht wie das Recht zu behandeln) u n d die Funktion in Rechnung stellen, die die „Literatur" wirklich in einer bestimmten Epoche erfüllt: also in Frankreich, beim Erlernen der „Sprache"; in den verschiedenen Unterrichtsstufen mit ihren spezifischen Lehrprogrammen, die weniger auf das Alter als vielmehr auf das Publikum, und zwar im Hinblick auf seinen zukünftigen Platz in der Gesellschaft, abgestimmt sind. Die Funktion des literarischen Phänomens erschließt sich nicht allein über die Analyse des Unterschiedes zwischen einer Vokabel- oder Grammatikstunde zur Vorbereitung eines Diktats in der Grundschule und einer bestimmten (strukturalistischen oder psychoanalytischen) Textlektüre, wie sie an der Universität gelehrt wird. Es gibt z. B. eine enge Beziehung, ja eine genaue Ergänzung zwischen: erstens der Verwendung eines Textes von Charles Vildrac im Diktat. Bridinette: „Abends v e r s a m m e l t e sich die ganze Familie um den großen Tisch. Großmutter strickte, Mutter besserte irgendein W ä s c h e s t ü c k aus. Papa las seine Zeitung . . ." Dazu heißt dann die entsprechende Übung: „Ich ersetzte die Punkte durch die Worte: fädelt ein, Wäsche; Familie, familiär, sich versammeln. Abends ist es schön in . . . Die Abendstunde . . . uns um den . . . Tisch", usw.17 313

zweitens dem Studium der „menschlichen Typen" in der Menschlichen Komödie anhand der Standardfragen im Lagarde,/ Michart (das ist ein Beispiel unter tausenden) oder etwa anhand der Manon-Lescaut-Ausgabe von Picard/Deloffre ; 1 8 drittens der „Erklärung" des Fremden, des berühmten Romans von Camus, durch Sartre im ersten Band seiner Situationen^. Im Rahmen der schulischen und universitären Struktur im gegenwärtigen Frankreich erfüllen diese drei Lektürebeispiele einander ergänzende Funktionen, insofern jede einzelne Lektüreweise auf ein spezifisches Publikum zugeschnitten ist. Jede setzt die andere voraus, so daß ihr Zusammenspiel auf organische Weise eine kohärente Stütze der Ideologie der herrschenden Klasse darstellt. Dieser grundlegende Aspekt des Funktionierens der „Literatur" kann auch nicht nur provisorisch beiseite gelassen werden. Das wäre eine ebensolche Vereinfachung, wie die bürgerliche Kritik sie immer dem sozialistischen Realismus unterstellt. Sie wäre nur weniger „sichtbar", womit aber gerade das Interesse der herrschenden Klasse bedient wird. Eine Untersuchung dieser Zusammenhänge hätte auch Stellung und Rolle der verschiedenen Publikumsschichten, schulische und andere, innerhalb der sozialen und politischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zu berücksichtigen. Das Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und den Intellektuellen verändert z. B. - sowohl auf der Ebene der Rezeptionsweise als auch auf der Ebene der Konsequenzen für Bewußtseinsbildung und praktisches Handeln - die Bewertung der Wirkung literarischer Texte auf das Universitätspublikum und damit auch die Bewertung der verschiedenen Modalitäten eines universitätskonformen Funktionierens der Literatur. Im 19. Jahrhundert war die überwiegende Mehrheit der Studenten ihrer Herkunft nach und durch die Funktionen, für die sie ausgebildet wurden, eng mit der herrschenden Klasse verbunden. Daher war die für „nützlich" erachtete Lektüre der Texte, die ihnen beigebracht wurde, nicht dieselbe, die heute erforderlich wäre, um die Interessen der Bourgeoisie zu bedienen. Die - freilich relative Demokratisierung bei der Auswahl der Studenten für die Universität, vor allem aber die Arbeitslosigkeit, die die Studenten am Ende ihres Studiums erwartet, haben auch das Publikum 314

verändert. Seine Interessen gehen objektiv nicht mehr mit denen der herrschenden Klasse konform. Im Jahre 1880 brauchte man 2. B. überhaupt nicht zu betonen, daß es nötig sei, den jungen Bourgeois „eine positive Einstellung zum Profit" beizubringen, wie das der Ortoli-Montjoie-Bericht fordert.20 Diese Einstellung, die heute die französische Monopolbourgeoisie verlangt, war damals für die bürgerlichen Studenten, die auf die Universität kamen, selbstverständlich! Die Krise der ideologischen Hegemonie, mit der sich gegenwärtig die herrschende Klasse konfrontiert sieht, zeigt sich am •klarsten in ihrem Bestreben, ihre Diskurse jeweils auf die gesellschaftlichen Schichten, an die sie sich wendet, interessenspezifisch auszurichten. Das ist ein neuer Aspekt, der sich auch auf der Ebene der Lektüre zeigt (wenn auch anders und in bezug auf die ideologischen Kämpfe weit vermittelter). Für die ideologische Herrschaft der Bourgeoisie ist es keineswegs unwichtig, daß Madame Bovary oder Vater Goriot „spontan" anders von einem Arbeiter, von einem Arzt, von einem Ingenieur oder von einem Achäologen gelesen werden. So entsteht schließlich ein weiterer Gegensatz. Diese Lektüre-Codes beziehen ihre Kraft (die Kraft der E v i d e n z und der T e c h n i k , die ihre ideologischen Funktionen verschleiert) aus ihrer scheinbaren Allgemeingültigkeit, ihrer scheinbar logischen Funktion. So können sie zuweilen auch in Widerspruch zu den Erfordernissen der affirmativen Funktionsweise geraten. Der Lektüretyp, der sich beispielsweise für Solshenizyns Romane empfiehlt, um sie gegen den Sozialismus auszunutzen, kann sich als störend erweisen, wenn man ihn auf andere Texte anwendet. Handelt es sich nämlich um Kritik am Kapitalismus, auch wenn solche Texte über hundert Jahre alt sind, wie z. B. die Romane Balzacs, dann erweist sich das Kriterium der „Transparenz" der Sprache gegenüber der Wirklichkeit als nicht ausreichend, um ihren „Kunstcharakter" festzumachen. Man kann es aber nicht in Frage stellen, weil es in anderen Fällen nützlich ist; also muß man es „abschwächen", indem man plötzlich die Arbeit der Sprache als bedeutungsverleihenden Akt entdeckt, was immerhin für das bürgerliche Klassenintercsse nicht ungefährlich ist. Dieses Problem wiederum wird gelöst durch den Rückgriff auf den „Stil" als Ausdruck des 315

Gemüts des Schrifstellers! Mit solcher Akrobatik läßt sich aber eine große Schwäche nicht verdecken, und man riskiert, das Verfahren als Parade zu entlarven, so daß die vorgebliche Interessenlosigkeit der literarischen Kommentare und Kritiken angezweifelt wird, worauf doch die herrschende Klasse als demütige Dienerin der literatrischen Texte größten Wert legt. Kurzum, in solchen Widersprüchen läuft die Manipulierung Gefahr, offenkundig und einsichtig zu werden. All diese komplexen Mechanismen bedürfen noch einer genauen Analyse. Hier konnte vorerst nur eine Richtung für die Untersuchung der Funktionsweise des literarischen Phänomens angezeigt werden, wobei wir uns vorwiegend auf den institutionalisierten Lehrbetrieb bezogen. Um das Problem in seiner Gesamtheit zu erfassen, müßte man natürlich auch die außerschulischen Bereiche berücksichtigen. In jedem Fall läßt sich sagen, daß die von der herrschenden Klasse über ihre Institutionen (vor allem über die Schule und Universität) verankerten und verbreiteten Lektüretypen sich durch zwei einander ergänzende Eigenschaften auszeichnen: erstens unter der Maske der Beliebigkeit dienen sie bürgerlichen Klasseninteressen, wenn nicht sogar dem individuellen Interesse der Angehörigen dieser Klasse; zweitens sie sind prinzipiell anti-wissenschaftlich und verkürzen immer die literarischen Texte, indem sie deren Brüche und Widersprüche verwischen und die spezifische Arbeit der Sprache und der ästhetischen Normen umgehen.21

3. Wahrnehmungsweisen Die erlernten Lektüre-Codes sind ebenso wie die ihnen zugrunde liegende Ideologie gesellschaftlich dominant. Sie gelten für die herrschende u n d die beherrschte Klasse. [. . .] Die ausgebeutete Klasse ist im gegenwärtigen Frankreich ohne Zweifel stark von jenen „kulturellen Werten" beeinflußt, die die Bourgeoisie ihr einzurtrichtern trachtet. Sie ist auch einer Lektüre-Lehre unterworfen, die ihr auf selektive Weise verordnet wird. Da sie in ihrer überwiegenden Mehrheit nur „in den 316

Genuß" der elementaren Schulbildung kommt, die von der herrschenden Klasse sorgfältig nach dem Prinzip „erziehen, um einzuwickeln" aufgebaut wird (und das heißt, daß sie im Grunde genommen kaum eine wirkliche Bildung erhält), verfügt sie auf diesem Gebiet zunächst über weniger Mittel und weniger Zeit zur Kritik als die Bourgeoisie. Ferngehalten von der sogenannten „großen Kultur", ist sie in besonders starkem Maße dem Fernsehen, dem Rundfunk und den kommerziellen Filmen unterworfen, die auf sehr direkte Weise die herrschende Ideologie transportieren. Sie wird gedrängt, die etablierten kulturellen Werte als ihre eigenen anzunehmen, den offiziellen Status der Sprache, der Kunst, der Literatur als „evident" anzuerkennen und so zu lesen, wie man es ihr zunächst in der Schule beibringt und dann tagtäglich im Radio und im Fernsehen vorführt. Hinzu kommt, daß der Kampf der ausgebeuteten Klasse lange Zeit nicht auf diesen Punkt zielte. Die Erringung des Rechts auf die kostenlose und obligatorische Schulpflicht war bei aller historisch unvermeidlichen Problematik schon ein erster, wichtiger Sieg. Das war und ist noch immer der Preis, um den die Kinder der Arbeiterklasse lesen lernen können. Und man muß lesen können, um sich zu informieren, um Zeitungen, Flugblätter und Marx „zu lesen". In diesem Sinne riet Lenin, die zaristische Schule zu besuchen. Auch ist die Aneignung von Grundkenntnissen und Wissen, das die herrschende Klasse gezwungenermaßen über ihr Bildungssystem vermitteln lassen muß, natürlich keineswegs zu verachten. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, welche Kämpfe nötig waren, um das Recht auf kostenlose und allgemeine Schulpflicht zu erobern und welch vielfältigen Angriffen seitens der Bourgeoisie dieses Grundrecht heute ausgesetzt ist. Die Arbeiterklasse hatte auch lange Zeit nicht viel Muße, um sich die notwendigen Waffen zur Führung ihres Kampfes auch auf dem Gebiet der Literatur und der Lektüre zu schmieden. Würden jedoch nur diese Aspekte in Betracht gezogen, hieße das, die relative Autonomie der herrschenden Ideologie (und des Überbaus überhaupt) gefährlich zu überschätzen. Man käme nämlich dann zu dem Schluß, daß die einzigen wahrhaft revolutionären Gesetzgeber auf diesem Gebiet Künstler und Intellektuelle seien, da die ausgebeutete Klasse unfähig sei, 317

von sich aus die so schwer auf ihr lastenden ideologischen Zwänge zu durchbrechen. Einerseits dem Standpunkt der Arbeiterklasse verbunden, andererseits mit „besseren" Waffen der Kritik als diese ausgerüstet, könnten diese Intellektuellen sich der Umklammerung durch die herrschende Ideologie wenigstens im sogenannten „kulturellen" Bereich entziehen. So etwa lautet heute häufig die pseudorevolutionäre und revisionistische Argumentationskette. Damit würde nun aber gerade der Begriff von einer spezifischen und selbständigen „kulturellen Sphäre" bestätigt. Also jene sorgfältige Grenzmarkierung, mit der die herrschende Klasse aus der sogenannten Spezifik des kulturellen Bereichs alles ausschließt, worüber sie nicht mehr souverän verfügen kann. Gerade daraus resultiert ja die erwähnte Notwendigkeit, als Untersuchungsgebiet den jeweils besonderen Funktionstyp zu bestimmen und nicht lediglich von einem irgendwie gegebenen Corpus von Texten zu reden. Denn wenn man auch die Bedingungen des Klassenkampfes in Rechnung stellt, führt doch die Beschränkung auf ein von der herrschenden Klasse festgelegtes sogenanntes spezifisches Gebiet dazu, diese Trennung oder Abgrenzung unbesehen zu akzeptieren. Wollte man einer Gruppe von Individuen unter dem Vorwand, sie seien „Spezialisten", die volle Souveränität auf ihrem Gebiet übertragen, so wäre das nicht nur ein politischer Irrtum. Eine derart isolierte Gruppe könnte sich nämlich, selbst wenn sie es wollte, dem Einfluß der herrschenden Ideologie erst recht nicht entziehen. Wie kompliziert das Problem auch sein mag, für seine Lösung ist entscheidend: die Verbindung mit der Arbeiterklasse in theoretischer und praktischer Hinsicht. In theoretischer Hinsicht, weil die Spezifik des literarischen Phänomens in unserer Klassengesellschaft de facto nicht lediglich von seiner sogenannten literarischen Natur bestimmt wird, sondern von seiner gesellschaftlichen Funktion im umfassenden Sinne. (Es sei hier angemerkt, daß die Literatur ihre wirkliche Spezifik vielleicht erst in einer klassenlosen Gesellschaft erlangen kann, eine Spezifik, die sie zwar auch jetzt besitzt, die aber doch ihrer gesellschaftlichen Funktion untergeordnet ist.) Daher hängt auch die Schlüssigkeit einer wissenschaftlichen Analyse prinzipiell von der Anerkennung der Literatur als eines gesellschaftlichen Phänomens ab. 318

Es empfiehlt sich daher, in unserer Lage, auf dem von Lenin gewiesenen Weg weiterzugehen. In einer diesbezüglichen Analyse hat Claude Prévost darauf aufmerksam gemacht, 22 daß Lenin auf dem Gebiet der Literatur „keine neue Sprache einführt", und daß er spontan der Ideologie folgt, in der vom „Genie" und vom „großen Schriftsteller" gesprochen wird. 23 Trotz des ideologischen Charakters mancher Begriffe, derer er sich bedient, hebt Lenin zwei wesentliche Punkte heraus : 1. Die „Literatur" kann eine Wirksamkeit erlangen, die nicht notwendig mit der offiziell anerkannten identisch ist ; 2. diese Wirksamkeit hängt nicht nur von den Texten selbst ab, sondern von dem Gebrauch, den man von ihnen macht oder machen kann. Das von Prévost aufgeworfene Problem verdient Beachtung, weil die „literarischen Texte" ja tatsächlich auch eine andere Wirksamkeit als die ihnen offiziell zuerkannte besitzen. Wenn die Bourgeoisie in unserer Gesellschaft über das Lehrmonopol bei der Vermittlung von Lektüre-Codes und Schreib-Codes verfügt, dann muß man folgendes feststellen: - Einerseits erweisen sich diese Codes als unfähig, das zu vermitteln, was zur Bewertung bestimmter Schriften als „literarische Texte" geführt hat. Auch andere als Pascal haben auf die „beiden Unendlichen" aufmerksam gemacht, auch andere als Molière priesen eine „Moral des juste milieu", auch bei anderen als Michelet findet man die „lyrische Bewegung, die Gabe des Rhythmus und der Bilder, einen emotionalen und inspirierten Satz", und sie werden deswegen noch lange nicht als „literarische Autoren" anerkannt. Man braucht sich nur das Geständnis anzusehen, mit dem alle Dissertationen über Literatur enden. Nach tausend Seiten über die Kindheit und Jugend des Autors, über seine „Themen", seinen Stil usw. bekennt man sich außerstande, diesen berühmten „Rest" zu erklären, der „sich der Analyse entzieht" (und natürlich nicht ohne Grund!) und den man hurtig dem geheimnisvollen Reich des Genies oder des Schönen zuschlägt. So erweisen sich die Instrumente der Analyse, des mühsam eingepaukten Lektüre-Codes, als unbrauchbar. - Nichts erlaubt andererseits, die Wirksamkeit literarischer Texte mit den über sie verbreiteten Urteilen gleichzusetzen. 319

Auch nicht mit dem, was eine keineswegs unschuldige Sprache darüber zu sagen oder zu schreiben hat. Dieses berühmte „wir" der Kritiker, dieser stets aufgerufene „Leser", bezeichnen sie nicht eigentlich die den herrschenden Codes entsprechende Lektüreweise? Wenn z. B. Lenin betonte, daß die Romane Tolstois die wirklichen Probleme stellen, die die liberale Publizistik nicht zu lesen vermochte, legt er dann nicht eine Aneignungsweise der Texte nahe, die außerhalb der offiziell erlernten Lektüre-Codes steht, die sich also einer Lektüre, verstanden als „Tätigkeit der Kenntnisnahme d e s I n h a l t s einer Schrift", widersetzt? [. ..] Wenn die herrschenden Klassen auch über zwei Hauptwaffen verfügen, um das literarische Phänomen auf die Rolle eines Dieners der herrschenden Ideologie zu reduzieren, die Zensur und die ideologische Beeinflussung24, so befreit sie das doch nicht von allen Schwierigkeiten. Darum ist auch die Wirksamkeit des literarischen Phänomens in der bürgerlichen Gesellschaft widersprüchlich und zwiespältig. Man denke etwa an die faschistischen Regimes, die eine totale Zensur verwirklichten und das literarische Phänomen einfach beseitigten. Die wenigen Texte, die diesem Schicksal entgingen, wurden nicht einmal mehr als „literarische Texte" angesehen, sondern als direkte politische Propagandamittel. So in Nazi-Deutschland. Andererseits findet das System der ideologischen Beeinflussung seinen perfektesten Ausdruck in den USA, wo der größte Teil der Bevölkerung genügend immunisiert ist, so daß auch als subversiv angesehene „Texte" frei zirkulieren können, ohne „Epidemien" auszulösen. So erklärt sich das naive Staunen liberaler Bürger über die „Pressefreiheit" in den USA. In Wirklichkeit handelt es sich immer um eine Dosierung der beiden Systeme. Hier mag die Feststellung genügen, daß soviel Sorgfalt natürlich nicht grundlos entfaltet wird. Diesen Formen der sogenannten Lektüre werde ich nun die Gesamtheit der Aneignungsweisen literarischer Texte gegenüberstellen, die nicht den erlernten Codes, der ästhetischen und sprachlichen Gesetzgebung der herrschenden Klasse unterworfen sind. Sie können als besondere Wahrnehmungsweisen (modes de perception) bezeichnet werden. Logischerweise müßte man sie eigentlich „Lektüre" nennen, während das, was man ge320

meinhin unter diesem Worte versteht, faktisch eine Gebrauchsanweisung ist, das Lesen der Texte zu verhindern und sie als Vorwand (prétexte) zu benutzen, über alles mögliche andere zu reden, nur nicht über das, was sie zu „literarischen Texten" macht. Wir werden daher versuchen, diese Wahrnehmungsweisen zu bestimmen, bzw. da es sich um eine Hypothese handelt, zu präzisieren, was sie sein könnten.

A. Wahrnehmungsweisen, die durch das Klassenbewußtsein und die Erfordernisse des ideologischen Kampfes hervorgerufen wurden Die den Leninschen Tolstoi-Artikeln zugrunde liegende Idee (s. Text 6) eröffnet eine eng mit den Klassenkämpfen verbundene Untersuchung des Problems. Denn die von Lenin vorgeschlagene Lektüre ist (wenigstens teilweise) aus politischen Motivationen hervorgegangen, die ihn die Verbindung zwischen den Widersprüchen einer Schreibweise und den Interessen der ausgebeuteten Klasse entdecken lassen. Und zwar in dem Maße, wie diese Klasseninteressen mit der Erkenntnis der wirklichen Probleme zusammenhängen. Es ist keineswegs ein Zufall, wenn die Erfordernisse des ideologischen Kampfes des Proletariats Lenin veranlassen, die Gebrauchsweisen des beachtlichen Propagandamittels, das die Sprache ist und des Instrumentes, das die Kunst in den Händen der herrschenden Klasse darstellt, in Frage zu stellen. Ebensowenig ist es ein einfacher Zufall, wenn die Arbeiterklasse in ihrem Befreiungskampf dazu kommt, den Weg zur Wissenschaft frei zuschaufeln, um s o - m i t der notwendigen Macht versehen - die ideologische Umklammerung und Propaganda zu zerbrechen, die die herrschende Klasse u. a. auch mit Hilfe der Sprache und der Kunst errichtet. Wenn man davon ausgeht, daß die dialektische Methode und die Erfordernisse des ideologischen Kampfes es Lenin erlaubten, auf diesem damals unerforschten Gebiet etwas zu erfassen, was Brecht später die verändernde Praxis nannte, dann bleibt doch zu erklären, wieso bereits vor Marx, ja vor der Geburt des Proletariats literarische Texte auf eine Weise hätten aufgenommen werden können, die 21

Burmeister/Barck

321

nicht den herrschenden Lektüre-Codes unterlag. Diese a n d e r e W i r k s a m k e i t von Texten läßt sich nur verstehen, wenn man jene anderen Arten der Aneignung in Betracht zieht, die es außerhalb der Schule gerade in der Vermittlung durch konkrete Erfahrungen der Ausbeutung immer gegeben hat. Sie zeigen die Schwäche des Diskurses der herrschenden Klasse an und haben natürlich nichts mit der Tätigkeit zu tun, die man in den Wörterbüchern Lektüre nennt. Die aufsteigende Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts hat z. B. Diderot oder Voltaire sicher noch anders gelesen als nach der offiziellen Norm dessen, was man damals den guten Geschmack nannte. Die Canuts aus Lyon25 konnten Das Volk von Lammenais26 lesen, ohne den Marxismus zu kennen und die Pariser Arbeiter lasen Die Elenden auf eine Weise, die den versiertesten Kritikern der Zeit verschlossen blieb. Solche Wahrnehmungsweisen können uns vielleicht auch erklären, warum z. B. Die Elenden von Hugo für weit gefährlicher als ein sozialistisches Traktat angesehen wurden, während doch die sogenannte einfache „Kenntnisnahme ihres Inhalts" (worin die offizielle Meinung das Wesen der Lektüre sieht) eher eine Apologie der Klassenaussöhnung aus Liebe nahelegen würde. Diese lange Zeit spontan wirkenden Wahrnehmungsweisen, die in keinem besonderen Lernprozeß vermittelt werden, haben heute die Tendenz, bewußt zu werden. Sie werden an breiter Front entwickelt durch das, was man vielleicht eine GegenLektüre nennen könnte. Der ideologische Kampf zwingt die Arbeiterklasse ständig, die rhetorischen und lexikalischen Kunststücke zu entlarven, die die herrschende Klasse gebraucht und mißbraucht, um ihre bedrohte Herrschaft zu retten. In diesem Sinne sind etwa die Pressekritiken der Humanité, die polemische Rubrik Mats, dit André Wurmser27 oder ein Buch wie das von Aimé Guedj über die ideologische Manipulation in der Zeitung Le Monde während der Mai-Ereignisse 196828, die die rhetorischen Künste als Instrumente der bürgerlichen Ideologie entschleiern, Beispiele für eine Schule der Gegen-Lektüre, in der man lernt, anders zu lesen. Sprache und Rede werden darin nicht mehr als transparenter Ausdruck behandelt, sondern als Ort der Erarbeitung von Sinn und Bedeutung. In einem allgemeineren Sinne ist auch die Erziehung durch die 322

Kommunistische Partei eine Schule in Gegen-Lektüre. So werden heute die ursprünglich spontanen Wahrnehmungsweisen immer mehr systematisiert, und es entstehen Keimzellen anderer Codes, die in einem zunächst begrenzten Publikum, in dem bewußten Teil der ausgebeuteten Klasse, herrschend und geläufig werden. Diese bewußten Kräfte der Arbeiterklasse sind mit einem geschichtlichen Bewußtsein ausgestattet, dessen Bezugspunkte nicht mehr dem Einfluß der herrschenden Klasse unterliegen. Für sie ist 1871 nicht bloß das Ende des deutsch-französischen Krieges, sondern die Kommune. Gewiß sind diese neuen Codes gegenwärtig noch lange nicht genügend fest konstituiert, werden sie noch lange nicht systematisch genug gelehrt und verbreitet. Die herrschende Klasse versucht mit allen Mitteln, ihre Macht über das Erlernen der Sprache und der ästhetischen Normen aufrechtzuhalten. Und doch kündigt sich in dem erwähnten Prozeß auch auf diesem Gebiete das Ende ihrer Macht an. Die hier vorgeschlagene Untersuchung besonderer Wahrnehmungsweisen müßte es z. B. ermöglichen, die merkwürdig subversive Kraft solcher „literarischen Texte" zu erfassen, deren Produktion und Rezeption doch weitgehend von der herrschenden Klasse beeinflußt sind; ferner die Verbindung zwischen einer theoretischen Analyse, die immer klarer in den Texten eine sprachliche und formbildende Arbeit erkennt, indem sie ihre vorgebliche Transparenz zurückweist, und einer entsprechenden Lektüre-Praxis deutlicher sichtbar zu machen. Schließlich die sehr komplexen Beziehungen zu erklären, die zwischen der Anerkennung bestimmter Schrifttexte als Literatur und der Tatsache bestehen, daß man es in solchen Texten mit dem Resultat spezifischer Arbeit zu tun hat, deren Begriff freilich noch ganz neu und unbestimmt ist. In ähnlicher Weise formulierte Julia Kristeva 1970 dieses Problem, indem sie betonte: „[. . .] daß alle sogenannte poetische Arbeit die Regeln der Grammatikalität neu formuliert, daß sie das Hervorbringen des Sinns im Signifikanten rekonstituiert und sich so gegenüber der Sprache als Kommunikationsmittel in eine Position der .Fremdheit' bringt." 29 Man müßte die Art der Beziehungen zwischen einer so verstandenen „poetischen Arbeit" und den Klassenkämpfen sowie der Entwicklung der Produktionsverhältnisse analysieren. Be21*

323

sonders aufschlußreich wäre es, wenn sie etwa in Epochen geschichtlicher und gesellschaftlicher Krisen klarer und häufiger als sonst auftreten. Denn es ist eine Sache, daß Texte, die offen mit den verschiedenen herrschenden Systemen überlieferter sprachlicher und ästhetischer Normen brechen, geschrieben werden konnten; etwas ganz anderes aber ist es, daß solche Texte entgegen den Lektürenormen zu „literarischen Texten" erhoben wurden. Unter welchem Druck fand dieser Vorgang statt und welche Wirksamkeit sollte da eingedämmt werden?

B. Wahrnehmungsweisen, die durch die verändernde Praxis, die Spezifik der Arbeit in und auf der Bezeichnungsebene hervorgerufen werden Was hier gemeint ist, läßt sich durch jene tiefgreifenden Funktionsveränderungen der Sprache und der literarischen Formen verdeutlichen, wie sie z. B. durch Lautréamont und Mallarmé in ihrem Werk vorgenommen wurden. Diese beiden Autoren entwickelten in Frankreich eine ganz neue Lektüre- und Schreibweise, die als Bestandteil eines übergreifenden Prozesses der Kritik an der bürgerlichen Ordnung zu sehen ist. Die literarische Kritik hat diesen Vorgang als ein „Sichtbarmachen der Bewegung im Schreibakt eines Textes" 30 , als die Ablösung eines Vorganges, den man das „Aufschreiben eines Abenteuers" nennen könnte, durch das „Abenteuer des Schreibens" selbst 31 gekennzeichnet. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um den „Bruch" mit bestimmten überlieferten Schreibweisen. Aber nur in dem Sinne, daß dieser Vorgang gewollt und bewußt vollzogen wird und daß andererseits die Methoden zum „Sichtbarmachen der Schreibbewegung" mit unserer aktuellen Sprachpraxis verknüpft sind. Wer aber ist dieses „Uns", dem diese Bewegung einsichtig wird? Wer waren die LeserZeitgenossen Mallarmés und Lautréamonts, denen die Schreibweise so erschien, wie wir sie heute sehen? Worauf können wir unsere Vermutung stützen, daß dagegen den zeitgenössischen Lesern Dantes, Rabelais' oder Molières die Schreibweise dieser Autoren in ihrer Neuartigkeit nicht „durchsichtig" war, wo doch diese Texte den Lesern in einem Licht erscheinen mußten, 324

das die herkömmliche Lektüreweise nicht aufzustecken vermochte, in ihrer Unfähigkeit, die Spezifik des literarischen Status und der nicht konformen Wirksamkeit dieser Texte erkennbar zu machen? Selbst wenn die damaligen Leser ihre Erfahrung mit den Texten nicht mitgeteilt oder aufgeschrieben haben, so können wir doch heute solche Vorgänge aus der Literaturgeschichte erschließen. In bezug auf die Eigenheiten der Lektüre und die sie bedingenden Faktoren hat sich jedenfalls in der französischen Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas Entscheidendes ereignet, das seither Schreiben wie Lesen prägt. Es entstand nämlich die bewußte Einsicht, daß die literarische Sprache nicht transparent ist, daß daher auch das System der literarischen Kunstformen nicht transparent sein kann und daß somit der spezifischen Arbeit des Schriftstellers ein Erkenntnischarakter zukommt, ganz gleich, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht. Dieser literar-historisch einschneidende Vorgang wird freilich erst heute im Lichte der theoretischen Analysen deutlicher erkennbar, die den Vorgang des Schreibens und des Lesens als einen spezifischen Arbeitsprozeß betrachten. Ob Mallarmé von dem „beredten Verschwinden des Dichters" oder von der „Initiative, die den Worten überlassen werden muß" spricht 32 - was soviel bedeutet wie die Freisetzung der Texte von einem aufgezwungenen System des Gebrauchs, das Bestandteil der konservativen Ideologie der herrschenden Klasse ist - oder ob Lautréamont das Sakrileg begeht, Wörterbuchfragmente in einen poetischen Text einzubauen und damit ganz bewußt die Taxinomie der Formen und die ihnen zugeordneten Funktionen angreift 33 : In beiden Fällen kündigt sich ein folgenreicher Wandlungsprozeß der Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft an. Die Einsicht in diesen Prozeß setzt die Bereitschaft voraus, ihn als solchen mitzulesen, also z. B. Lautréamont und Mallarmé nicht nach dem Modell der erwähnten Wörterbuch-Lektüreweise zu lesen. Die bürgerliche Kritik hat ja lange Zeit keine Anstrengung gescheut, diese beiden Autoren auf ein „lesbares" Maß zu reduzieren und für diese Texte einen sogenannten „Inhalt" zu fabrizieren. Die Besonderheit der Texte Lautréamonts und Mallarmés bestand aber gerade darin, das 325

„Erkennen des Inhalts" unmöglich zu machen, indem ganz bewußt die von der bürgerlichen Literarästhetik kodierten Regeln der Reduktion aller Texte auf einen Inhalt durchkreuzt wurden. So wurde beispielsweise Mallarmés Toast funèbre (Leichenrede) auf Théophile Gautier 43 mit der Evokation eines Champagnerglases erklärt. Man braucht nur die entsprechenden Abschnitte im Lagarde/Michart zu konsultieren, um sich zu überzeugen, wie weit diese Reduktion heute noch verbreitet ist. 35 Solchen Texten war mit der gewöhnlichen Lektüreweise nicht beizukommen. In dem Zwang, sie anders zu lesen, zeichnet sich die objektive und dialektische Verbindung ab zwischen den Interessen der ausgebeuteten Klasse und der Notwendigkeit, auch auf diesem Gebiet einen Erkenntnisfortschritt zu erzielen. Die erwähnte a n d e r e W i r k s a m k e i t der „literarischen Texte" Mallarmés und Lautréamonts wurde von den Surrealisten entdeckt und formuliert. Bei aller Widersprüchlichkeit der surrealistischen Bewegung, vor allem was ihre Ideologie betrifft, verdient doch die Verbindung zwischen ihren revolutionären „Projekten" und dieser „Entdeckung" nicht der Texte Mallarmés und Lautréamonts, sondern einer anderen und neuen Art, sie zu lesen, hervorgehoben zu werden. Für uns wichtig wäre eine h i s t o r i s c h e Analyse der objektiven Ursachen, die diesem Prozeß zugrunde liegen, der sich in dem Augenblick vollzieht, als die ideologische Hegemonie der Bourgeoisie in die Krise gerät und als ein noch schwacher Teil der bürgerlichen Intellektuellen sich gegen die Rolle aufzulehnen beginnt, die ihnen die Bourgeoisie zugedacht hat: als Ideologen dieser Klasse zu fungieren. Zur gleichen Zeit werden übrigens die Gesetze über die Schulpflicht in Frankreich verabschiedet. Wenn damals noch nicht von einem Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz die Rede war, so zeichnet sich doch in den auf ganz verschiedenen und noch unverbundenen Gebieten unter dem Zweiten Kaiserreich geführten Klassenkämpfen die Tendenz einer objektiven Interessengleichheit zwischen der Arbeiterklasse und der Intelligenz ab. Durch die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und deren Auswirkungen auf die sprachlichen und ästhetischen Codes, das Arbeitsmaterial der künstlerischen Intelligenz, gerieten die Intellektuellen damals in eine Position, die es ihnen ermöglichte, 326

in ihrer eigenen Praxis den geschichtlichen und klassenbedingten Charakter dieser Codes zu durchschauen. Sie begannen, sie in Frage zu stellen, selbst wenn sie die damit anvisierten Veränderungen im Rahmen einer Ideologie suchten und bestimmten, die nicht in jedem Falle als revolutionär zu bezeichnen ist. Aber die Erschütterung der Sicherheit und Bequemlichkeit, mit der die Bourgeoisie ihre Ideologie handhabte, ist auf jedem Gebiet - und Sprache und Kunst sind ein wichtiges - ein Beitrag zu dem von der Arbeiterklasse geführten Befreiungskampf. Wenn die Arbeiterklasse damals unter dem Zweiten Kaiserreich diesen möglichen Beitrag in den Texten Mallarmes noch nicht erkennen konnte, so ist das leicht zu verstehen. Es ändert ja auch nichts an dem tatsächlichen Sachverhalt, der sich in solchen literarischen Texten verbirgt und den nur eine mit den theoretischen Mitteln der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse ausgestattete marxistische Analyse aufklären kann. Dazu leistet die Kommunistische Partei ihren Beitrag, die heute in Frankreich am konsequentesten das progressive kulturelle Erbe verteidigt, das von der Bourgeoisie verschleudert und zerstört wird. Aus dem Unterschied zwischen den Wahrnehmungsweisen und der klaren Formulierung einer Lektüre, die genau das liest, was die offizielle Lektüreweise verschleiert und worin sich gerade die jeweilige und unterschiedliche Spezifik literarischer Texte offenbart, ergibt sich schließlich ein Problem, das sich anhand des Begriffes der „Dysfunktion", das heißt der Funktionsveränderung, erläutern läßt.

4. Funktionsveränderungen [. . .]Im Französischen verwende ich für das Problem den Begriff „Disfunktion". Damit sind nicht Funktionsschwierigkeiten oder Funktionsstörungen gemeint, sondern Funktionsweisen, die im Gegensatz oder im Widerstand zu den offiziellen Codes der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Das Problem der Disfunktion hängt zusammen mit der von mir verfolgten Grundidee, „literarische Texte" in ihren funktionalen Beziehungen zu betrachten, sie als Resultat spezifischer Arbeit an und 327

in Formen, an und in der Sprache zu sehen; sie auch als aktiven Faktor einer ununterbrochenen Arbeit an Formen und Sprachen in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu betrachten. Der Begriff Disfunktion bezeichnet daher jeden Gebrauch literarischer Texte, durch den im Rahmen aller Bedingungen, die zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft das literarische Phänomen determinieren, das System der literarischen Formen und der Sprache als Instrument der herrschenden Klasse in Frage gestellt wird. Das kann durch die erwähnten Wahrnehmungsweisen geschehen, durch eine Art Gegenlektüre, wenn diese Wahrnehmungsweisen bewußt werden, durch Bühnen- und Filminszenierungen und auch durch Zitate, bzw. Zitierweisen. Schreiben wie Lesen können funktionsverändernd wirken. So verändert etwa die Neuverwendung von Texten oder Textfragmenten für einen neuen Text deren Status oder Funktion. Es entsteht eine Funktionsveränderung durch eine andere Aneignungsweise. Symptomatische literaturgeschichtliche Beispiele für diesen Vorgang sind etwa Lautreamonts Gesänge Maldorors (1869), die Gedichte Apollinaires oder die Clair de Terre.36 Die entsprechende Praxis ist Funktionsveränderung in bezug auf die wiederverwendeten Texte. In bezug auf den neuen Text ist sie Funktionsverschiebung (distorsions). Beim Einbau bestimmter Texte in einen neuen Text sind die Modalitäten äußerst verschieden, weil es sich um gezielte Veränderungen bestehender Praktiken und Normen handelt. Sie hängen von Ort und Zeit ab sowie von dem Publikum, von seinen Konventionen, Bezugssystemen, Lesegewohnheiten usw. Aber sie hängen auch von der unterschiedlichen Art und Weise ab, durch die die jeweils herrschende Klasse ihre Herrschaft organisiert. So waren z. B. in Frankreich im 18. Jahrhundert die Sprache und die ästhetischen Kanons, obwohl von der herrschenden Klasse bestimmt, keineswegs ausschließlicher Besitz der Aristokratie. Die Literatur war immer ein Kampffeld, auf dem Aristokratie und Dritter Stand 37 sich offen gegenüberstanden, auf dem sie ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Geschmack, Schönheit und Sprachkorrektur mit unterschiedlichen Mitteln austrugen. Der Staat verfügte zwar über die Zensur, aber Schriftsteller und Leser kamen in zunehmendem Maße aus dem aufsteigenden Bürgertum. Nach der Französi328

sehen Revolution entstand eine andere Lage. D i e „französische Sprache", das heißt Lehre und Bestimmung der grammatisch korrekten Normen und die ästhetischen Codes wurden ebenso wie die anerkannten literarischen „Ausdrucksmitttel" nahezu vollkommen der Herrschaft der Bourgeoisie unterworfen und von ihr kontrolliert. 3 8 D e r Grundwiderspruch des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie bringt es mit sich, daß dem literarischen Phänomen eine relative Autonomie zuerkannt wird. Auf diese Weise kann die Bourgeoisie ihre Klasseninteressen als allgemeine „universelle Werte" ausgeben und vertreten. Sie kann jedoch die direkte Kontrolle über das Wertsystem nicht ewig aufrechterhalten und verhindern, daß ihrem Klasseninteresse entgegengesetzte Konzeptionen entstehen und sich durchsetzen. Damit wird auch die Literatur auf neue Weise zu einem Kampffeld in der bürgerlichen Gesellschaft, und sie verliert ihren privilegierten Sonderstatus. D i e Funktionsveränderungen sind also keineswegs absolut, sondern immer relativ, und zwar auch im Hinblick auf die erwähnte Hierarchie der literarischen Lernprozesse (die funktionsverändernde Wirkung literarischer Texte in der Grundschule braucht z. B. überhaupt nicht dieselbe zu sein, wie die an der Universität). Ganz allgemein kann man sagen, daß funktionsverändernde Wirkungen literarischer Texte, wenn sie nicht notwendig aus den Klassenkämpfen erwachsen, doch objektiv immer mit den Interessen der ausgebeuteten Klassen übereinstimmen. Sie entstehen im geschichtlichen Prozeß meistens dann, wenn die literarischen Texte als spezifische Arbeit wahrgenommen und die in ihnen verwirklichten Funktionsverschiebungen erkannt werden. Dabei handelt es sich keineswegs lediglich um eine Artsubversiver Aneignung literarischer Texte im Gegensatz zu der von der herrschenden Klasse an ihnen vorgenommenen Manipulierung. Mit dieser Gegen-Lektüre entsteht vielmehr in der Tendenz die einzig legitime Lektüreweise, die geeignet ist, literarische Texte in ihrer Spezifik zu erkennen und anzuerkennen. So konnte eben Lenin mit gutem Grund seine Tolstoi-Lektüre gegenüber der Reduktion Tolstois durch die liberale Publizistik als die legitime und theoretisch fundierte Leseweise ins Feld

329

führen. Die affirmative Funktionsweise verschleiert dagegen immer die wirklichen Voraussetzungen der sogenannten literarischen Spezifik. Der auf Schreiben wie Lesen zu beziehende Begriff „Disfunktion" müßte also den Sachverhalt erfassen, daß literarische Texte auch anders als nach der herrschenden Lektüreweise angeeignet werden konnten und können. Der Begriff müßte aber auch die spezifische Wirkung literarischer Texte erfassen, die auf der Ebene ihres Gebrauchs mit den Funktionsverschiebungen in der Schreibweise zusammenhängt. Und schließlich müßte er in den unter dem Aspekt ihrer Wirkung betrachteten Texten jene potentiellen Wirkungsfaktoren ermitteln helfen, die in einer bestimmten Epoche, in einer bestimmten Gesellschaft eine Veränderung der Sprache, der sprachlichen und ästhetischen Normen bewirken können. Denn diese Funktionsverschiebungen werden nicht zu jeder Zeit automatisch wahrgenommen. Ihre Wirkung hängt von der Gesamtheit der Faktoren ab, die das literarische Phänomen bedingen. So kann es erst in einer geschichtlich jüngeren Zeit zur Wieder- und Neuentdeckung geschichtlich älterer Funktionen kommen. [. . .] Der Begriff der Funktionsveränderung (Disfunktion) erlaubt daher auch, die relative geschichtliche Dauer bestimmter literarischer Texte, wie auch ihr zeitweiliges Verschwinden von der literarischen Szene zu verstehen.

5. Über die Stellungder Schriftsteller

ihrer n Arbeit"

Man kann mit Hilfe dieses Begriffs auch die Stellung der Schriftsteller gegenüber dem literarischen Phänomen genauer definieren, dessen Bedingungen nicht in erster Linie von ihnen selbst abhängen. Ganz gleich, welches ihre Klassenposition und ihre Weltanschauung sind, als Ausübende einer spezifischen Arbeit auf dem Gebiet der Formen und der Sprache sind sie aktive Träger von Wirklichkeitsveränderungen. Wären ihre Schriften nicht auf irgendeine Weise der Ort dieser besonderen Arbeit, so käme ihnen gar nicht der Status „literarischer Texte" zu. Sie wären dann nur Elemente einer vorübergehenden Mode, 330

wie das für zahlreiche der schnellvergessenen Schriften zutrifft, die heute durch das kapitalistische System der Literaturpreise lanciert werden. Durch den Erkenntniswert, den die spezifische Arbeit des Schriftstellers besitzt, tragen sie auch dazu bei, die normativen Systeme der herrschenden Klasse in Frage zu stellen. Dazu braucht man gar nicht erst wie Lukâcs auf die Unterscheidung „zwischen der tieferen und der oberflächlichen Schicht seiner Weltanschauung" oder auf ein von ihren Schöpfern unabhängiges Leben der Romanfiguren zu verweisen.39 Ob Schriftsteller sich der Spezifik ihrer Arbeit im Sinne einer Bearbeitung von Formen und Sprache bewußt sind, statt sich einfach für Dolmetscher irgendwelcher Botschaften zu halten, das ist ohne Zweifel für den Charakter ihrer eigenen literarischen Tätigkeit von größter Wichtigkeit. Mallarmé und Lautréamont waren solche Schriftsteller, die mit dem Mysterium der Inspiration Schluß machten. Zur Klarheit über die Natur ihrer Arbeit gehört natürlich auch die Bewußtheit über die letztendlich politische Rolle, die die literarische Arbeit auf ihre Weise und gerade durch ihre Spezifik in der Gesellschaft spielt. Auch darin äußert sich der Grad der Meisterung des Materials durch den Schriftsteller; und damit natürlich der Wirklichkeit, der er sich zuwendet. Wie wichtig und bedeutend dieses Problem ist, läßt sich an den Arbeiten von Brecht oder Aragon ablesen. Vielleicht läßt sich auf diesem Wege auch das schwierige Problem der literarischen Avantgarden weiter aufklären. Schriftstellertypen wie Brecht oder Aragon gehören notwendigerweise zur literarischen Avantgarde, die der Ort ihrer besonderen Tätigkeit als Schriftsteller ist (ohne damit andere ihrer Tätigkeiten beurteilen zu wollen). Aber in unserer Klassengesellschaft, wo die Bourgeoisie mit gutem Grund einer litearischen Arbeit, wie wir sie zu definieren versuchten, mißtraut, werden die literarischen (und ganz allgemein die künstlerischen) Avantgarden mit allen Mitteln von den Massen isoliert. Das geschieht durch das Verlagssystem (teure Bücher, gesteuerter Vertrieb usw.) und durch die anderen angeführten Mittel, mit denen die Lektüre in eine konservative Richtung abgelenkt wird. Das geschieht auch durch all jene Faktoren, die eingesetzt werden, um die „Kultur" von der Gesellschaft überhaupt zu 331

isolieren. In der Tendenz reproduziert sich diese Isolierung wieder dadurch, daß das einzige Publikum, das die avantgardistischen Texte lesen kann, als ein Elitepublikum zwangsläufig selbst isoliert ist. So kann es dann zu der falschen Alternative kommen: Entweder man schreibt in den Grenzen der Normen für ein breites Publikum, oder man leistet echte literarische Pionierarbeit, die Gefahr läuft, ihr eigentliches Publikum gar nicht zu erreichen. 40 Daraus erklärt sich gerade die Bedeutung einer anderen Art und Weise, Literatur zu lehren, die es deren eigentlichen Adressaten - der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten - ermöglicht, die sie objektiv betreffenden Texte zu l e s e n . Darin besteht eine Notwendigkeit der Kulturrevolution. Und schon jetzt sieht sich die Bourgeoisie auf diesem Gebiet der Kultur dem Widerstand der Arbeiterklasse gegenüber, die in zunehmendem Maße ihren Kampf auch auf kulturellem Gebiet und in der Schule führt. 41 Die Bemühungen um die Entwicklung eines Gegen-Unterrichts auf dem Gebiet der Lektüre gehören in diesen Zusammenhang.

6. Der literarische Corpus In einer Gesellschaft existieren in jeder Epoche eine bestimmte Anzahl von Schriften aus der Vergangenheit, die irgendwann in die Literatur eingingen; andere, die nicht diesen Status hatten, sowie zeitgenössische Schriften. Sie alle zusammen bilden das, was man den literarischen Corpus einer Epoche nennen könnte. Ausgenommen davon sind Texte, die in der Vergangenheit zwar zur Literatur gezählt wurden, diesen Status aber verloren haben; eine sehr große Zahl vergangener Schriften, die niemals einen literarischen Status hatten und ihn auch nicht erhalten werden; entweder, weil sie ihn nicht in Anspruch nehmen oder weil er ihnen nicht zuerkannt wurde. Dieser Corpus ist also heterogener Natur in dem Sinne, daß die in ihn integrierten Texte nicht nach denselben sprachlichen und ästhetischen Kriterien ausgewählt wurden und werden. Innerhalb des literarischen Phänomens als Ganzes erfüllt er eine doppelte Funktion: 332

Erstens sanktioniert er für eine Gesamtheit von Texten das literarischen Texten gewöhnlich zuerkannte Verdienst mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Vertrieb, den Verlag, die schulischen und sonstigen Lehrprogramme sowie für die Lektüreweise. Wir haben gesehen, daß diese Beförderung in der Werthierarchie vom Standpunkt der Funktion literarischer Texte zweischneidig war, weil sie als ästhetische Bewertung dazu dient, bestimmte Texte einer bestimmten Verwendung vorzubehalten. Und zwar immer nach Maßgabe der durch die herrschende Ideologie vertretenen und verbreiteten Literaturauffassung. Einem Text, den man für gefährlich hält, den man aber doch nicht übersehen kann, läßt sich die Spitze abbrechen, indem man ihn in den literarischen Corpus integriert und ihn so z. B. einer harmlosen Lektüre unterwirft. Auf diese Weise wurden z. B. die Texte der großen Redner der Französischen Revolution von 1789 von der bürgerlichen Kritik immer wieder behandelt. Diese Funktion der „Anerkennung" von Texten durch den literarischen Corpus wird ergänzt durch die Funktion des Ausschlusses von Texten aus dem literarischen Corpus. Zweitens gewährleistet der literarische Corpus zugleich die Kontinuität bestimmter Normen, die von den ausgewählten Texten her gebildet und zugleich durch sie garantiert werden. Der literarische Corpus ist also eine gesetzgeberische Instanz, dessen Funktion in einer bestimmten Epoche Roger Fayolle in seiner Arbeit über den Kritiker Sainte-Beuve untersucht hat. 42 Man darf natürlich nicht vergessen, daß die Zulassung zum literarischen Corpus immer das Ergebnis von Kämpfen ist. Der Status der Literatur und die Schauplätze, auf denen er praktiziert wird, das Publikum, üben einen wichtigen Einfluß auf seine Konstituierung aus. In unserer Gesellschaft spielt dabei das Bildungssystem und seine hierarchische Gliederung eine große Rolle. Einen Text als „Literatur" anerkennen, heißt ihn in Schule und Universität zu lesen und zu kommentieren, heißt damit auch, ihm eine (wenn auch gelenkte) Verbreitung zu sichern. Jules Vallès gilt dann z. B. als „Meister der französischen Sprache", Saint-Just als „Erzengel" und Rhetoriker usf. Durch die geschichtliche Aufeinanderfolge der Auswahlkriterien 333

ist der in sich heterogene, literarische Corpus zugleich sorgfältig in Abteilungen und Ränge eingeteilt. Die herrschende Klasse kann jedoch auch die Auswahl der Texte für den literarischen Corpus nicht mehr problemlos festlegen. Ihr Konservatismus zwingt sie z. B., die sogenannten „großen Texte der Vergangenheit" zu erhalten, obgleich sie in der Gegenwart durchaus eine Funktion im Widerspruch zu dem von der Bourgeoisie verbreiteten Normen erfüllen können. Auf diese Weise geraten auch die für zeitgenössische Texte entwickelten Kriterien der Aneignung ins Wanken, wenn sie auf vergangene Texte angewandt werden. Die schöne Allgemeingültigkeit der bürgerlichen ästhetischen Kriterien zerbricht. [...] Übersetzt von Karlheinz Barck

14. Roger Fayolle

Über die Herkunft unserer literarischen Ansichten. Zur Problematik des Literaturunterrichts in Frankreich Die Literatur ist zunächst Ansichtssache. So möchte der durchschnittliche Romanleser, bevor er ein neues Buch ausborgt, wissen, ob „es gut ist" und verläßt sich dabei gerne auf die Meinung anderer Leser. Der Spezialist, der Literaturlehrer, kann über ein bestimmtes Werk arbeiten, ohne daß er sich anscheinend jemals gefragt hat, auf Grund welcher Bedingungen er es als ein klassisches (im weiten Sinne von: für den Unterricht in der Klasse geeignetes) Literaturwerk ansieht. E r ist also nicht weniger als andere Gefangener herrschender Ansichten. Die Autoren und die Werke, von denen er gerade spricht, scheinen dies auf ganz natürliche Weise zu verdienen, auf Grund ihrer endlich von allen anerkannten Qualitäten: Wenn Stendhal oder Baudelaire lange Zeit verkannt wurden, so lag das eben an der Unwissenheit und an den Vorurteilen unserer Vorfahren. Unser Geschmack aber ist sicherer geworden, und wir sind besser in der Lage, die wahren Meisterwerke zu erkennen. Während also bestimmte Werke eine Gipfelstellung einnehmen, sind andere - reduziert auf bloße Namen und in den Lehrbüchern mit Etiketten versehen - damit automatisch einem milden Spott preisgegeben. Man versuche nur, heute vorzuschlagen, an Stelle von Baudelaire, Nerval 1 , Lautréamont 2 - auf die sich die Masse der Kommentatoren stürzt Dichter wie Leconte de Lisle 3 , Banville 4 , Sully-Prudhomme5 zu studieren; man würde damit nur Gelächter ernten, gelten doch deren Werke für endgültig tot, jene anderen jedoch für höchst lebendig. Weshalb? Etwa aus rein literarischen Gründen? Wir können uns heute leichthin über die „Kühnheit" von Universitätsprofessoren amüsieren, die - um 1900 - modern zu 335

sein meinten, als sie Sully-Prudhomme oder Emile Augier 6 in das Programm der Abschlußprüfungen aufnahmen. W i r haben ein Achselzucken für Brunetière 7 (wenn wir ihn aus Versehen mal lesen), der Dumas den Jüngeren 8 als festen Hort gegen die Dekadenz und die Immoralität der symbolistischen und naturalistischen Literatur begrüßte. Sind wir tatsächlich so viel weiter fortgeschritten? W a s wird man in fünfzig oder achtzig Jahren über Camus, Ionesco, Robbe-Grillet sagen? Es ist heute eine allgemeine und unwidersprochene Überzeugung, daß die Literatur glücklicherweise von der Last moralisierender Bevormundung befreit ist, die lange Zeit zur Ächtung der des „Realismus" schuldigen Autoren führte, und daß auch die Lyrik glücklicherweise von den Geboten der Klarheit und Lesbarkeit befreit worden ist, denen zufolge die „symbolistischen" und „hermetischen" Dichter lange Zeit in Acht und Bann gerieten. Diese Befreiung gehört jedoch nicht in die Geschichte einer zur Verwirklichung ihres reinen Wesens fortschreitenden Literatur. Es ist falsch zu glauben, daß das, was heute als Poesie gilt, reiner wäre als die Poesie von gestern. Befreiung und Reinigung sind Momente eines historischen Umwandlungsprozesses, der das Verhältnis der Schriftsteller zur herrschenden Klasse und die Rolle der Literatur als Bildungsmaterial und Erziehungsinstrument erfaßt hat. Für Marxisten und Kommunisten ist es wesentlich, bei der Behandlung literarischer Probleme vor allem nach dem gesellschaftlichen Status der Schriftsteller, nach der ideologischen Funktion des Literaturunterrichts und nach dem Sinn der beiden neuerdings wieder einmal zugestandenen Autonomie zu fragen. Wichtig ist, die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um sich von jenem idealistischen Standpunkt zu lösen, der zu einer übertriebenen und zugleich inkonsequenten Verherrlichung der menschlichen Befreiung führt. Die Art, in der die zeitgenössische Literaturkritik Flaubert oder Mallarmé liest und diese als die endgültigen Befreier des modernen Romans und der modernen Lyrik betrachtet, sollte nicht unbesehen hingenommen werden, vielmehr müssen wir die Bedeutung und die Reichweite einer solchen Lesart befragen. Diejenigen unter uns, deren Aufgabe es ist, Texte und Wörter zu kommentieren und zu erläutern, leben in einer Welt, die 336

ihnen die Illusion nahelegt, daß sie sich einer unschuldigen und nebensächlichen Beschäftigung hingeben. In Wirklichkeit sind die scheinbare Überflüssigkeit und die relative Unabhängigkeit unserer Arbeit die Frucht jener Siege, die seit einem Jahrhundert von den Völkern und der Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen die imperialistische und kapitalistische Ausbeutung errungen wurden. Die vorläufigen Herren der Welt, in der wir leben, verfügen nicht mehr, wie einstmals, über die Mittel zur Aufrechterhaltung der schönen Illusionen über das Wesen ihrer Herrschaft und die Vorzüge einer Gesellschaftsordnung, in der ihre Vormachtstellung notwendig ist. Sie verfügen zwar über die Mehrzahl der Informationsmedien und der Vertriebsmittel, sie können aber nicht mehr (außer in einzelnen Fällen von gleichsam „steinzeitlichem" Charakter) einzig und allein die Lobredner der bestehenden Ordnung, die ehrenwerten Schilderer bürgerlicher Sitte zu Wort kommen lassen. Hieße er Maurice Druon 9 , wagte Brunetiere heute nicht mehr, Dumas den Jüngeren gegen Flaubert oder Baudelaire zu loben, bzw. Aragon oder Pichette10 der ewigen Schmach zu überantworten. Unsere Erziehungsminister könnten es sich nicht mehr leisten, Jules Simon 11 nachzuahmen, der genau vor einem Jahrhundert kühn dafür eintrat, einen Teil des Lateinunterrichts zugunsten des Studiums der großen französischen Autoren zu kürzen, um, wie er sagte, diejenigen „mit guten Argumenten zu rüsten", deren Aufgabe es sein würde, die Opfer der „sozialistischen Paradoxien" „aufzuklären". Tatsächlich wurde im Rahmen des bürgerlichen Bildungswesens der Umgang mit Literatur glücklich befreit von der Verpflichtung zu gesellschaftlichen und Moralpredigten. Die Kunst um ihrer selbst willen (l'art pour l'art) triumphiert. Genügt es, sich darüber zu freuen? Wenn schon die Literatur nicht für Zwecke verwandt werden kann, die nicht die ihren sind, wird sie dann nicht von der herrschenden Ideologie als das wunderbare Reich der „empfindsamen Seelen" und der „gefühlvollen Herzen" dargestellt? Es geht somit nicht mehr darum, in den großen Werken „gute Argumente" zu finden, sondern an ihnen seine Sensibilität zu verfeinern. So gesehen ist dann alles möglich: Die Feinheit und Geschmeidigkeit des modernen Geschmacks müssen uns in die Lage versetzen, all die unterschiedlichen Bilder vom Menschen 22 Buimeister/Barck

337

zu akzeptieren, die die Dichter besungen und die Dramatiker und Romanciers dargestellt haben. Literatur zu studieren heißt dann, ein gewaltiges und buntscheckiges Museum zu durcheilen, in dem - wie in den Gemäldegalerien - die gegensätzlichsten Stilrichtungen nebeneinander hausen. Nach einem Führer darf man nicht suchen. Den gibt es nicht mehr. Man beurteile also selbst diese Werke, die alle vollkommen schön sind. Und wenn jemand die Kriterien einer so vielgestaltigen Schönheit kennenzulernen wünscht, dann kann man ihm wohl kaum ein anderes anbieten als ihre Eigenschaft, ein Werk des Menschen und eben wahr und schön, weil menschlich, zu sein. Worin ein neuer und hinterhältiger Trick des liberalen Humanismus besteht. Dieser läuft auf den Vorschlag hinaus, eine literarische Galerie von Porträts aufzumachen, in der als gleichermaßen repräsentative Figuren der Menschheitsgeschichte Montaigne, Rabelais, Pascal, Racine, Molière, Voltaire, Hugo, Balzac, Flaubert, Baudelaire, Verlaine usw. in alle Ewigkeit nebeneinander stehen. Welch bizarre Vorstellung von einem moralischen und auf ideale Weise sich selbst treuen Universum wird durch die Lektüre und durch das Studium ausgewählter Texte suggeriert, deren Autoren eben als exemplarische Repräsentanten d e s M e n s c h e n kanonisiert wurden. So kann man einer lastenden Tradition bequem auch solche Geister einverleiben, die in ihr nur noch eine heilsame, weil zeitlose Revolte verkörpern: der aufrührerische Diderot, die revoltierenden Romantiker, der rebellische Autor der Fleurs du Mal12 und der des Ubu Roii3 - denn was ist all dieser Aufruhr anderes, wenn nicht ein durchgehender Zug der menschlichen Seele und der Ausdruck eines fortgesetzten Verlangens nach einem unerreichbaren Heil? Auf diese Weise wird der wirkliche geschichtliche Kampf um Erneuerung und Fortschritt entschärft, werden die Widersprüche heruntergespielt, werden die oppositionellen Geister isoliert, wird ihnen der Stachel genommen. Es lohnte sich, zu untersuchen, durch welches subtile Spiel der Zensur ein Bild klassischer Literatur Geltung erlangt hat, in dem für Pascal oder La Bruyère 14 so viel, für Cyrano de Bergerac 15 oder Gassendi 16 so wenig Platz ist, oder ein Bild von der Literatur der Romantik, in dem der Lamartine der Méditations so viel stärkere Beachtung findet als der Lamartine 338

der Recueillements oder der Discours17, ein Bild, an dem die Historiker der Romantik kaum beteiligt werden und das Michelet zugunsten so vieler hohler Diskurse und wohltönender Verse verkennt. Ginge es wirklich um die Vielfalt der Darstellungen menschlicher Wahrheit, warum dann die Unterdrückung bestimmter Aspekte dieser „Wahrheit"? Warum dann so wenig Aufhebens von denen, die die alltägliche Wahrheit ihrer Zeit und auch der unseren - aussprechen wollten? Ist die Wahrheit der Arbeit, des Kampfes und ihr poetischer Ausdruck weniger wert, bemerkt und gewürdigt zu werden? Es scheint, daß die Schriftsteller, wenn sie schon nicht die gleichen Gedanken oder die gleichen Gefühle ausdrücken (diese sind ja schließlich doch, ungeachtet ihrer jeweiligen Form, als Ausdruck der tausend Möglichkeiten der menschlichen Natur darstellbar), jedenfalls sobald sie literaturfähig werden, dieselbe Uniform anziehen, dieselbe herkömmliche Haltung annehmen, die ihnen durch die Gesetze einer idealen Welt auferlegt wird, in der das Unglück wie der Ruhm stets nur individuelle schöne Seelen betreffen. Wenn dem nicht so wäre, woher käme dann die Vorstellung, die sich so viele Menschen von der Literatur machen und die die Lyrik mit „schmachtenden Romanzen", die große Prosa mit „steifem Gerede" gleichsetzt? Dem Anschein nach sind alle Verbote aufgehoben, Kindern und Jugendlichen werden Bewunderung und Liebe für alle unsere großen Romanciers und Lyriker nahegelegt, selbst wenn deren Werke seinerzeit Skandale provozierten und wenn diese Schriftsteller jahrzehntelang von der Gesellschaft geächtet wurden. Und doch hat die Literatur Anteil an der Errichtung einer für etwas Besonderes gehaltenen Kultur, in deren Namen (beispielsweise) die Sprecher von Radio France-Culture sich gehalten fühlen, die Ansagen von Übertragungen eines Konzertes von Mozart oder eines Stückes von Molière in einem besonderen, feierlichen und affektierten Tonfall vorzubringen. So, als gingen sie mit Mumien um, die, faßte man sie nicht mit langen Pinzetten vorsichtig an, zu Staub zu zerfallen drohen. Diese Haltung spiegelt - auf dem Gebiet der Kultur - die Angst vor der Demokratie wider, die die kapitalistische Welt heimsucht. Gewiß doch, alles ist für alle da. Nichts ist von Rechts wegen reserviert oder verboten. Aber wer hat denn, innerhalb dieser 22»

339

Beziehungen von Individuum zu Individuum, von Seele zu Seele, wie sie für die formale Freiheit liberaler Gesellschaften (wo das Geld sich hinter dem Schleier der Geistigkeit verbirgt) charakteristisch sind, nun tatsächlich Zugang zur Kultur? Der doch, den seine soziale Herkunft, seine Klassenzugehörigkeit darauf vorbereitet haben, die besondere Sprache des sogenannten „kulturellen" und des „literarischen" Diskurses zu verstehen und zu gebrauchen. Nichts wurde wirklich getan, um die Tore für alle zu öffnen, um die Museen zu entstauben. Welches Gewicht erlangen - angesichts dieser gesellschaftlichen und politischen Schwerfälligkeit - die Anstrengungen, die in Jugendzentren und in Kulturhäusern gemacht werden, um der Kultur, der Dichtung, der Literatur zum Leben zu verhelfen? Es genügt zu beobachten, mit welchem Mißtrauen das Arbeiterpublikum oft solchen Initiativen begegnet; damit bekundet es sein Empfinden, daß die Kultur nicht seine Sache ist, daß sie noch einer Klasse gehört, die sie für sich beschlagnahmt, daß sie ein Teil des bürgerlichen Luxus' ist. All dies macht es uns zur Aufgabe, zu untersuchen, unter welchen Bedingungen das, was man gemeinhin das „nationale Kulturerbe" nennt, sich um so viele Namen und auf so uneinheitliche Weise bereichert hat. Können wir z. B. die Gründe akzeptieren, um derentwillen ein Flaubert oder ein Baudelaire gegenwärtig als die beherrschenden Figuren der französischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesehen werden? Können wir denen folgen, die diese beiden der allgemeinen Bewunderung anempfehlen, weil der eine das Nichts als die letzte Wahrheit des Menschen dargestellt und der andere, einmal mehr, die Tragödie der „condition humaine" gestaltet habe? Es geht wohlgemerkt nicht darum, das Pantheon der großen Männer zu erobern, um die Namen einer unerbittlichen revolutionären Ideologie einige von ihnen daraus zu vertreiben und andere an ihre Stelle zu setzen. Überlassen wir dem weißen Terror und dem Faschismus solche obskuren Methoden. Wenn es uns aber zukommt, ein nationales Kulturerbe zu bewahren, über das die Herrschaft des Geldes und des Profits sich um so leichteren Herzens hinwegsetzt, als sie es ja in die luftigen Höhen verbannt hat, die der ideale Mensch bewohnt, dann kommt es uns auch zu, dieses Erbe unter dem 340

Vorbehalt näherer Prüfung zu beanspruchen. Anders gesagt: Es ist unerläßlich, die der Literatur übertragene ideologische Funktion bei der Ausbildung der Jugend in Schulen, Lyzeen und Universitäten, das heißt im wesentlichen bei der Ausbildung der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Jugend ganz klar herauszustellen. Es muß untersucht werden, welche Bedeutung die eigentlich literarischen Aspekte des Begriffes „Kulturgepäck" (bagage culturel) besitzen, also jenes Ensemble von Kenntnissen (die der Abiturient angeblich braucht), bestehend aus wichtigen Daten, wichtigen Strömungen und wichtigen Werken unserer Literatur. Macht man sich genügend klar, in welchem Maße es sich hierbei um ein konventionelles Spiel handelt, in dem der Jugendliche dazu aufgefordert wird, die eklektische Bildung des Menschen mit gutem Geschmack nachzuahmen, der über nichts anderes verfügt als über ein Repertoire dekorativer Zitate. Wir müssen uns unbedingt den scheinheilig individualistischen und typisch kleinbürgerlichen Charakter des schulischen Umgangs mit der Literatur bewußt machen und auch anderen zu diesem Bewußtsein verhelfen. Fordert doch dieser Literaturunterricht zu einer persönlichen und geheimen Bereicherung durch imaginäre Identifikation mit den unterschiedlichsten menschlichen Erfahrungen auf, wobei eben diese Unterschiedlichkeit gerade ihre Unverbindlichkeit garantiert. Lehrt doch dieser Unterricht, mit sich selbst, mit seinen eignen Gedanken und Gefühlen zu spielen, in einer Welt, deren wirkliche Erkenntnis hinter dem Vergnügen an den Worten verdämmert. Nur so erklärt sich - in einem anderen Lichte freilich als dem der Fackel des Fortschritts - der erstaunliche Aufstieg von Schriftstellern im Pantheon der Kunst, die einst die bürgerlichen Zeitgenossen von Jules Ferry18 gegen Ende des 19. Jahrhunderts verurteilt hatten, und deren offiziellen und schulischen Kult die bürgerlichen Zeitgenossen von Pierre Laval 19 in den dreißiger Jahren einrichten ließen. Ruhm und Friede dem poète maudit 20 , vorausgesetzt, daß seine Flüche in nichts die wohlbestellte soziale Ordnung durcheinander bringen und daß ein jeder sich im Innersten seines Herzens dem gleichen zeitlosen Fluche bestimmt weiß. So soll es nicht mehr sein. An uns ist es, auf diesem gewiß 341

zweitrangigen Gebiet (dessen Bedeutung wir aber nicht übertrieben verkleinern sollten) weiter über Mittel und Wege nachzudenken, um die „literarischen Ansichten" und den Literaturunterricht auf eine revolutionäre Konzeption der Rolle des Individuums in der Gesellschaft, auf eine revolutionäre Konzeption der Geschichte und der Literaturgeschichte zu gründen. Wird man dann noch von Literatur reden? Bestimmt, aber sie wird nicht mehr viel gemein haben mit dem heutigen Gegenstand so vieler Literaturlehrbücher, so vieler lebens- und wirklichkeitsfremder Bücher, die damit befaßt sind, die wirklichen Menschen, ihre Sorgen, ihre Kämpfe, ihre Hoffnungen durch das fade Bild d e s M e n s c h e n zu ersetzen, durch eine unsterbliche Statue auf tönernen Füßen, ohne Augen, ohne Hirn, ohne Arme. Übersetzt von Brigitte Burmeister

Anhang

Zu diesem Band Die in den Texten enthaltenen Anmerkungen der Autoren wurden von den Herausgebern durch zusätzliche Erläuterungen zu Personen, zu bestimmten Zusammenhängen und durch Sachkommentare ergänzt. Anmerkungen der Autoren sind durch eine eckige Klammer 1] ausgewiesen. Von den Herausgebern vorgenommene Kürzungen in den Texten sind durch [ . . . ] gekennzeichnet. Bei der Zusammenstellung der Auswahl, der Entwicklung der Konzeption, der Klärung wichtiger Sachfragen konnten wir mit der freundlichen Unterstützung von Claude Prevost stets rechnen. Ihm möchten wir an dieser Stelle besonders herzlich danken. Wichtig waren uns auch alle Hinweise und Anregungen unserer Kollegen der Arbeitsgruppe Literaturtheorie des Bereiches IV des ZIL sowie die Beratung durch den stellvertretenden Direktor des ZIL, Manfred Naumann. Lisa Lemke hat mit ihrem Wissen und mit ihrer Erfahrung die Herausgabe dieses Bandes engagiert unterstützt. Die technische Einrichtung des Manuskriptes besorgte Gertraud Ziems unter Mitarbeit von Käthe Ruhnke. Ihnen allen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

Anmerkungen

Abkürzungen Lenin: Werke

MEW

NC Vokabular der Psychoanalyse

Wladimir Iljitsch Lenin: Werke. Übertragen nach der vierten russ. Ausgabe. 40 Bde. Berlin 1959-1968 (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED). Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. (39 Bde. u. Ergänzungsband, Teil 1 u. Teil 2; Verzeichnis Bd. 1 u. Bd. 2) Berlin 1956-1971 (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED). La Nouvelle Critique. Pariser Ausgabe, 1948 ff. monatl. Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. La Nouvelle Critique. Pariser Ausgabe, 1948 ff., 1972. 652 S. (Aus d. Franz.)

Einleitung 1 Davon zeugt u. a. auch der von Wolf-Dieter Lange in Kröners Taschenbuchausgabe herausgegebene Band Französische Literaturkritik der Gegenwart in Einzeldarstellungen (Stuttgart 1975), in dessen Einleitung der marxistische Standpunkt lediglich in einer überholten Position der fünfziger Jahre am Rande erwähnt wird und auch in den Einzeldarstellungen keine sachgerechte Beurteilung erfährt. Wir verstehen unsere Darstellung auch als Kritik an einem Prinzip, das die G e s c h i c h t e der Literaturkritik in eine lineare Aufeinanderfolge großer Einzelleistungen zersplittert. Gleichwohl halten wir das Verdienst des genannnten Bandes für unbestritten, der dem deutschen Leser zum ersten Mal anhand repräsentativer Positionen einen Einblick in die Diskussionszusammenhänge der französischen Kritik des 20. Jahrhunderts ermöglicht, l a Paul Boccara: Crise: fermeté sur le Programme commun. In: Humanité v. 31. 1. 1975, S. 8. Vgl. zur Theorie des staatsmonopolisti-

344

2 3 4 5 6 7 8

9 10 11 12 13 14

15 16 17

18

sehen Kapitalismus in Frankteich auch besonders die DDR-Ausgabe des von französischen Marxisten verfaßten Standardwerkes: Der staatsmonopolistische Kapitalismus. Berlin 1972. Vgl. XXI. Außerordentlicher Parteitag der FKP. Materialien. Berlin 1974. Entschließung des XXI. Außerordentlichen Parteitages der FKP. Ebenda, S. 127. Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 132. Serge Mallet: La nouvelle classe ouvrière. Paris 1963. Roger Garaudy: Le grand tournant du socialisme. Paris 1970. Vgl. zu diesen Theorien Jean Lojkine : Über das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Intelligenz. In: Probleme des Kampfes um eine antimonopolistische Demokratie in Frankreich. Arbeitsmaterialien des IMSF. Frankfurt a. M. 1973, S. 262-268. M. Heininger/P. Hess : Die Aktualität der Leninschen Imperialismustheorie. Berlin 1970, S. 215. Vie pian. Introduction du Rapport général. Paris 1970, S. 9. Vgl. dazu im einzelnen Aimé Guedj: L'enseignement: Une „entreprise à rentabiliser?". In: NC 1975, 83, S. 16-20. Nach dem VII. Plan (1975) zitiert bei Aimé Guedj, ebenda, S. 18. Louis Althusser: Idéologie et appareils idéologiques d'État. Notes pour une recherche. In: La Pensée 1970, 151, S. 6. Roland Leroy: Parti de la classe ouvrière, Parti de la culture. In: Les Conférences de l'Institut Maurice Thorez. Paris 19. November 1970, 13, S. 12. Louis Althusser: Idéologie et Appareils idéologiques d'État. Notes pour une recherche. In: La Pensée 1970, 151, S. 19. Ebenda, S. 20-21. So auf der IV. Konferenz der Gewerkschaften und Betriebskomitees in Moskau: „Dort, in den westeuropäischen Ländern, ist es schwieriger, die Revolution zu beginnen, weil sich dort der hohe Stand der Kultur gegen das revolutionäre Proletariat auswirkt und die Arbeiterklasse sich in Kultursklaverei befindet." In: Lenin: Werke, Bd. 27, S. 464. Changer de cap. Programme pour un gouvernement démocratique d'union populaire. Paris 1971. Siehe auch: Gemeinsames Regierungsprogramm FKP und SP. Dt. Übersetzung der franz. Originalausg. Frankfurt a. M. 1972. (Marxistische Taschenbücher. 48). Vgl. zur Politik der FKP Georges Marchais: Die demokratische Herausforderung. Berlin 1974. Zur Kontinuität der Kulturpolitik der F K P vgl. auch die Materialien ihres XXII. Parteitages, die für die Einleitung dieses Bandes nicht mehr berücksichtigt werden konnten: Le socia-

345

lisme pour la France. XXII e congrès du parti communiste français. 4 au 8 février 1976. Paris: Editions sociales 1976 und Les principes de la politique du PCF. Paris: Editions sociales 1976. 19 Vgl. André Gisselbrecht: Kulturpolitik in Frankreich heute. In: SOPO, Berlin (West) 1974, 29, S. 36. 20 Roland Leroy: Sur la politique des communistes. In: N C 1968, 15, S. 17. 21 Jacques Milhau: Chroniques philosophiques. Paris 1972. S. 56 u. 261. Vgl. ferner: Jacques Milhau: Die theoretische Tätigkeit der Französischen Kommunistischen Partei. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus. 2 (1975), S. 1241-1250 und Jacques Milhau: Le marxisme en mouvement. Paris 1975. 22 Die gesamte Diskussion und die Resolution sind veröffentlicht unter dem Titel: Débats sur les problèmes idéologiques et culturels. Comité Central du PCF. Argenteuil, 11, 12 et 13 mars 1966. In: Cahiers du Communisme 1966, 5. 23 Rapport présenté au Comité Central du PCF le 16 octobre 1936. Au 4service de l'esprit. Pour la convocation des Etats généraux des intellectuels français. Paul Vaillant-Couturier: Vers des lendemains qui chantent. Paris 1962, S. 265. 24 Roland Leroy: La culture au présent. Paris 1972, S. 20. 25 Ebenda, S. 21. 26 Vgl. Lucien Sève: Marxisme et théorie de la personnalité. Paris 1972, S. 86-90 u. S. 97-106. 27 Louis Althusser: Projet de préface pour un recueil de textes. (1968). In: Saül Karsz: Théorie et politique: Louis Althusser. Paris 1974, S. 317-318. 28 Roger Garaudy: De l'Anathème au dialogue. Paris 1965. Die Garaudy-Kritik kann im wesentlichen als abgeschlossen betrachtet werden. Wir verweisen u. a. auf die Kritik seiner Grundpositionen bei Ileana Bauer/Anita Liepert: Sirenengesang eines Renegaten oder „Die Große Wende" Roger Garaudys. Berlin 1971. Die spezielle Kritik seiner (und aller anderen) idealistischen Humanismuskonzeption(en) liefern durchgehend die Arbeiten Louis Althussers und explizit Lucien Sève in: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin 1972, S. 67-70. 29 Débats sur les problèmes idéologiques et culturels. Comité Central du PCF. Argenteuil 11, 12 et 13 mars 1966. In: Cahiers du Communisme 1966, 5, S. 93-94. 30 Lucien Sève, ebenda, S. 101. 31 Sie wurde in der Nouvelle Critique geführt und mit einer Vorlage von Louis Althusser über den „realen Humanismus" begonnen. Vgl. NC 1965/1966, 164-171.

346

32 Jacques Milhau: Chroniques philosophiques. Paris 1972, S. 46. 33 Lucien Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin 1972. (Inzwischen in 3. franz. Ausg., Paris 1974). Außerdem der Sammelband: Geschichte der marxistischen Dialektik. Berlin 1974. (Darin besonders der Beitrag v. G. W. Ujenkow). Der von S. Karsz unternommene Versuch einer Gesamtdarstellung der Positionen Althussers bleibt in den Grenzen einer reinen Beschreibung, ist jedoch materialreich und informativ. Vgl.: Saül Karsz: Théorie et politique: Louis Althusser. Paris 1974. Über die Problematik der Hegel-Rezeption in Frankreich informiert gut Christine Buci-Glucksmann : Philosophie et politique. Lénine, Hegel et l'histoire du mouvement ouvrier français. In: Dialectiques (Paris) 3, 1973, S. 57-81. 34 Débats sur les problèmes idéologiques et culturels. Comité Central du PCF. Argenteuil, 11, 12 et 13 mars 1966. In: Cahiers du Communisme 1966, 5, S. 98. 35 Lucien Sève: Postface de la 3e édition de Marxisme et théorie de la personnalité. Paris 1974, S. 48. 36 Vgl. Roger Garaudy: Marxisme du XX e siècle. Paris 1966, S. 179 f. Zur Kritik vgl. Lutz Hoyer: Der Mißbrauch der Ästhetik im zeitgenössischen Revisionismus. In: DZfPh 19 (1971) 11, S. 1301-1317. 37 Roger Garaudy: D'un réalisme sans rivages. Paris 1963, S. 243. 38 Ebenda. 39 Ebenda, S. 244. 40 Vgl. zur Markierung dieser Trennungslinie die Kollektivarbeit: Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. 2. Aufl. Berlin 1975, S. 439-448. 41 Débats sur les problèmes idéologiques et culturels. Comité Central du PCF. Argenteuil, 11, 12 et 13 mars 1966. In: Cahiers du Communisme 1966, 5, S. 16. 42 Ebenda, S. 19. 43 Ebenda, S. 18. 44 Roland Leroy: La culture au présent. Paris 1972, S. 148 f. 45 Etienne Balibar/Pierre Macherey: Présentation. In: Renée Balibar: Les français fictifs. Le rapport des styles littéraries au français national. Paris 1974, S. 17. 46 Vgl. Winfried Schröder: Gesellschaftliche Gegebenheiten der Literaturproduktion in der sich auflösenden Ständegesellschaft und ihre Konsequenzen für die Aufklärungsideologie. In: Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung. Leipzig 1974. 47 Vgl. Roland Barthes: Réponses. In: Tel Quel 1971, 47, S. 93. 48 Roland Barthes: Le degré zéro de l'écriture. Paris 1964, S. 17. 49 Roland Barthes: Sur Racine. Paris 1960, S. 156.

347

50 Roland Barthes: Le degré zéro de l'écriture. Paris 1964, S. 14. 51 Vgl. Rita Schober: Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique. Halle 1968. Vgl. auch die Darstellung der Barthesschen Position in: Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. 2. Aufl. Berlin 1975, S. 164-178. 52 Roland Barthes: Sur Racine. Paris 1960, S. 158. 53 Vgl. Roland Barthes: Eléments de sémiologie. Paris 1964. 54 Ebenda, S. 20. 55 Roland Barthes: L'analyse rhétorique. In: Littérature et société. Problèmes de méthodologie en sociologie de la littérature. Bruxelles 1967, S. 32. 56 Karl Marx: Das Kapital. In: MEW, Bd. 23, S. 393. 57 Lucien Goldmann: Der genetische Strukturalismus in der Literatursoziologie. In: Alternative 13 (1970) 71, S. 50. 58 Lucien Goldmann: Le Dieu caché. Etudes sur la vision tragique dans les „Pensées" de Pascal et dans le théâtre de Racine. Paris 1955. 59 Lucien Goldmann: Pour une sociologie du roman. Paris 1964, S. 28 bis 29. 60 Vgl. Robert Weimann: Historische „Bedeutungskritik" (Lucien Goldmann). In: Literaturgeschichte und Mythologie. Berlin-Weimar 1972, S. 297-310. 61 Tel Quel. Titel einer 1960 gegründeten literarischen und theoretischen Zeitschrift und Name für die um diese Zeitschrift versammelte Gruppe von Autoren. Zum Redaktionsgremium der Zeitschrift gehörten bis 1971: Marcelin Pleynet, Jean-Louis Baudry, Jean Ricardou, Jacqueline Risset, Denis Roche, Pierre Rottenberg, Philippe Sollers, Jean Thibaudeau. Nach der maoistischen Wende der Gruppe trennten sich Ricardou und Thibaudeau von Tel Quel. - Vgl. auch N. Rzevskaja: Neoformalistideskie tendencii v sovremennoj franzuskoj kritike (grappa Tel Quel). In: Neoavantgardistitskie recenija v zarubeznoi literature 1950-60 godach. (Neoformalistische Tendenzen in der zeitgenössischen französischen Kritik. Die Gruppe Tel Quel. In: Neoavantgardistische Strömungen in der ausländischen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre). Moskau 1972, S. 190-238. Eine Kritik an Tel Quel aus linguistisch-semiotischer Sicht bringt Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. München 1975. 62 Vgl. Jean-Louis Houdebine: Première approche de la notion de texte. In: Théorie d'ensemble. Paris 1968, S. 281. 63 Théorie de la littérature. Hg. von Tzvetan Todorov. Einleitung: Roman Jakobson. Paris 1965. 64 Jens Ihwe: Sprache - Struktur - Text - Literaturwissenschaft. In: 348

65

66 67 68

69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Grundzüge der Sprach- und Literaturwissenschaft. 1. Literaturwissenschaft. München 1973, S. 43. Julia Kristeva: Idéologie du discours sur la littérature. In: Littérature et idéologies. Colloque de Cluny H. In: NC 1970, 39/40, S. 125 u. 127. Ebenda, S. 125-126. Claude Prévost/France Vernier: Le Parti, les avant-gardes et l'héritage. In: NC 1973, 67, S. 63. Philippe Sollers/Marcelin Pleynet: L'avant-garde, aujourd'hui. In: Ecrire . . . Pour quoi? Pour qui?. Dialogues de France-Culture. Grenoble 1974, 2, S. 84. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 94. S. Anm. 16 zu Text 8. Lucien Sève: Psychanalyse et matérialisme historique. In: Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. Paris 1973, S. 267. S. Anm. 2 zu Text 10. Lucien Sève: Psychanalyse et matérialisme historique. In: Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. Paris 1973, S. 200. Louis Althusser: Freud et Lacan. In: NC 1964/1965, 161/162, S. 97. Ebenda, S. 107. Anläßlich des Todes von Freud (1939) hatte Georges Politzer (s. Anm. 26 zu Text 5) eine Studie verfaßt, in der er die Auffassung vertrat, daß die Psychoanalyse gescheitert wäre, weil Freud und seine Schüler nicht zu einem klaren Verständnis der Beziehungen zwischen dem Individuum, den Gesetzen der individuellen Psychologie und den Gesetzen der Geschichte gelangt seien — dies trotz des historischen Verdienstes von Freud, als erster die Sexualität jenseits gesellschaftlicher Tabus und ideologischer Vorurteile untersucht zu haben. Das wissenschaftliche und materialistische Anliegen Freuds sei zu verteidigen, die psychoanalytische I d e o l o g i e dagegen einer gründlichen Kritik zu unterziehen, im Interesse eben der wissenschaftlichen Erkenntnis. Vgl. Georges Politzer: Ecrits. 2. Les fondements de la psychologie. Paris 1969. S. 282-302. Dieselbe Richtung der Kritik vertraten 1949 acht kommunistische Psychiater in ihrer berühmt gewordenen Erklärung La psychanalyse, idéologie réactionnaire (erschienen in der 'Nouvelle Critique, Juni 1949), in der sie Politzers Formulierung aufnahmen: Die Psychoanalyse „versucht, die Geschichte durch die Psychologie, nicht aber die Psychologie durch die Geschichte zu erklären". Daher sei die 349

Psychoanalyse - weit entfernt von ihrem Anspruch, eine Tiefenpsychologie zu sein - eine Psychologie des „Anscheins" (apparences) geblieben, die als Therapie den Kranken „nur zu einer scheinbaren Befreiung in einer imaginären Welt" verhelfen könne. Eine gänzlich andere „Richtung der Forschungen" müsse eingeschlagen werden, wolle man die „beschämende Lage der Geisteskranken und ihre Behandlung in unserer Gesellschaft radikal verändern." (Zit. nach: Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. Paris 1973, S. 198.) 79 Lucien Sève: Psychanalyse et matérialisme historique. In: ebenda, S. 206. 80 Das Buch erschien 1973 im Verlag der FKP, den Editions Sociales, unter dem Titel Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. 81 Vgl. Text 9, insbes. Anm. 5 zu Text 9. 82 Pierre Bruno: Psychanalyse et anthropologie. Problèmes d'une théorie du sujet. In: Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. Paris 1973, S. 149. 83 Gathérine B.-Clément: Le sol freudien et les mutations de la psychanalyse. In: ebenda, S. 15. 84 Ebenda, S. 32. 85 Ebenda, S. 33. 86 Ebenda, S. 45. 87 Lucien Sève: Psychanalyse et matérialisme historique. In: ebenda, S. 263. 88 Pierre Bruno: Psychanalyse et anthropologie. Problèmes d'une théorie du sujet. In: ebenda, S. 187. 89 Vgl. Rita Schober: Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique. Halle 1968, S. 21. 90 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. 1908. In: Studienausgabe in 10 Bänden. Hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Frankfurt a. M. 1969-1972, Bd. 10, S. 171. 91 Die kulturpolitische Linie von Argenteuil wurde von der FKP auch jüngst bestätigt und konkretisiert. In dem von der Partei im Februar 1975 veröffentlichten Manifest für das Buch wird die Notwendigkeit betont, die Kritik an der Funktionskrise der Literatur im kapitalistischen Frankreich mit dem Kampf für die Veränderung ihrer materiellen Voraussetzungen zu verbinden. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die soziale Situation der Schriftsteller wie auf die verschiedenen Institutionen, in denen und über die Literatur verbreitet, vermittelt und gelesen wird. (Vgl. Manifeste pour le livre. Présenté par le Parti Communiste Français. Paris 1975.) 92 Réponse à André Daspré. In: NC 1966, 175, S. 142.

350

93 Die Überlegungen der franz. Marxisten korrespondieren mit einer Reihe von Bemühungen bei uns, den marxistischen Begriff der Ideologie unter Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse z. B. der Semiotik - gegen alle neopositivistischen Angriffe zu verteidigen. „Ideologie wirkt nur, indem sie materiell erscheint, in Gestalt der Sprache bzw. anderer Zeichen (z. B. im Kunstwerk) auftritt. Sie muß kommunikativ sein. Erst dann ist sie das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein. (Marx/Engels). Die Analyse einer bestimmten Ideologie untersucht demnach nicht nur die Beziehungen, die zwischen dem Subjekt der Ideologie und den Bedingungen der Ideologieentwicklung und -rezeption und den Ergebnissen der ideologischen Aneignung der Wirklichkeit, den ideologischen Reflexionen, bestehen, sondern darüber hinaus die Beziehungen zwischen ideologischen Abbildern und ihrer materiellen Erscheinungsweise." [Harald Schliwa: Der marxistische Begriff der Ideologie und das Wesen und die Funktionen der sozialistischen Ideologie. In: DZfPh 16 (1968) 9, S. 1049-1050.] 94 Vgl. zu diesem Problem: Entretien avec André Gisselbrecht. In: Action Poétique 1970, 44, S. 51. 95 Vgl. dazu: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukâcs. Der Methodenstreit der deutschen sozialistischen Schriftsteller. Hg. v. Werner Mittenzwei. Leipzig 1975; Robert Steigerwald: Der geheime Kant im Werk von Georg Lukâcs. In: Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants. Hg. M. Buhr u. T. I. Oiserman. Berlin 1976, S. 349-358. 96 „Daß Menschen, die sich auf solche (politische - d. Hg.) Art mit ihrer Umgebung auseinandersetzen müssen, auch an Kunstwerke Maßstäbe setzen, die meilenweit von der Ästhetik eines Aristoteles, eines Piaton oder eines Adorno entfernt sind, liegt auf der Hand. Ihr oberstes Kriterium ist die Frage nach der Funktion, die das Werk in ihrem Leben haben könnte, was - am Rande vermerkt - auf die Überwindung der Lukâcsschen These von der Kunst als Spiegel des Lebens hinausläuft." [Gespräch mit Luigi Nono. In: Sinn und Form 25 (1973) 2, S. 379.] 97 Mit ihrem Versuch, in der Spezifik der Widerspiegelung die Grenzen der Literatur gegenüber anderen Aneignungsweisen der Wirklichkeit zu bestimmen, berühren die Autoren ein Problem, das auch bei uns in jüngster Zeit erneut diskutiert wird, wobei die Beziehung zwischen Literatur (Kunst) und Wissenschaft im Hinblick auf die Herausarbeitung der unersetzbaren und „selbständigen Rolle der Kunst" gerade in der Abbildtheorie ihre Kernzone besitzt. [Vgl. Lothar Kühne: Kunst, Wissenschaft und gesellschaftliches Leben.

351

In: Weimarerer Beiträge 18 (1972) 6, S. 81-103.] Vgl. auch W. Heise/ J. Kuczynski : Bild und Begriff. Berlin 1975. 98 Peter Bürger: Was leistet der Widerspiegelungsbegriff in der Literaturwissenschaft? In: Das Argument 17 (1975) 90, S. 199-228. Vgl. zu der Behauptung Bürgers, daß gerade die Wirkungsgeschichte den Widerspiegelungsbegriff unbrauchbar mache, die Kollektivarbeit: Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. 2. Aufl. Berlin 1975, S. 58-61. 99 Etienne Balibar/Pierre Macherey: Présentation. In: Renée Balibar: Les français fictifs. Le rapport des styles littéraires au français national. Paris 1974, S. 10.

1. Roland

Leroy

25 Jahre „Nouvelle Chritique". Kultur, sozialer Fortschritt und Demokratie gehen historisch Hand in Hand Dieser Text ist eine Rede, die aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Nouvelle Critique gehalten wurde und unter dem Titel Culture, progrès social, démocratie vont du même pas historique in: NC 1974, 70, S. 49-58, veröffentlicht wurde. Der Text wurde hier von den Herausgebern geringfügig gekürzt. 1 FKP-Zeitschrift von allgemeinem Charakter, befaßt sich besonders mit kulturellen Fragen, 1949 gegründet, erscheint monatlich. Wendet sich an die fortschrittlichen Intellektuellen. Spielte, was die Entwicklung einer marxistischen Literaturtheorie betrifft, eine besonders markante Rolle hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Strukturalismus (in Linguistik und Anthropologie), literarischer Texttheorie (Gruppe Tel Quei), Psychoanalyse. Von der Nouvelle Critique wurden zwei viel beachtete Kolloquien veranstaltet über Literatur und Linguistik (1968) und über Literatur und Ideologien (1970). 2 Im Rechenschaftsbericht an den VIII. Parteitag der FKP, der im Januar 1936 in Villeurbanne stattfand, entwickelte Maurice Thorez, vier Monate vor dem Sieg der Volksfront bei den Parlamentswahlen, ein breit angelegtes Programm der „Union der französischen Nation". Er analysierte dabei insbes. auch den Niedergang von Wissenschaft und Kunst im spätkapitalistischen Frankreich. Der Bericht ist abgedruckt in: Oeuvres de Maurice Thorez, Livre 3 e , T. 11. Paris 1953.

352

3 Vgl. zur Tagung des Z K der F K P in Argenteuil unsere Einleitung, S. 21-28. 4 Das Centre d'Etudes et de Recherches Marxistes (Zentrum für marxistische Studien und Forschungen) ist ein auf Beschluß des XV. Kongresses der F K P im Jahre 1959 gegründetes wissenschaftliches Forschungszentrum der FKP. Das CERM gibt wissenschaftliche Arbeiten heraus und organisiert wissenschaftliche Kolloquien und Seminare, darunter seit 1960 die jährlichen 'Wochen des marxistischen Denkens in der Pariser Mutualité. Direktor des CERM ist Guy Besse, Mitglied des Politbüros der FKP. 5 Bezieht sich auf die organisatorische Struktur der FKP, die der geographischen Struktur der franz. Départements entspricht. Die F K P ist organisatorisch wie folgt strukturiert: 1. Die „Basisgruppe" (oder „Zelle") ; 2. Die „Sektion", die sich aus einer bestimmten Zahl von Zellen (in einem Betrieb, einer Stadt oder einem Landbezirk) zusammensetzt; 3. Die „Föderationen", die aus den Sektionen eines Departements bestehen und von einem „Comité fédéral" geleitet werden, das ein „Bureau fédéral" und sein Sekretariat wählt. Der erste Sekretär einer Föderation wird von dem Föderativkomitee in Übereinstimmung mit dem Z K gewählt. Das Föderativkomitee seinerseits wird auf dem Bundeskongreß (congrès fédéral) der sog. „conférence fédérale" gewählt, der Delegiertenversammlung der Zellen und Sektionen. 6 1964 gegründetes, marxistisch-leninistisches Forschungsinstitut der F K P in Paris. 7 Gemeint ist Georges Pompidou, der von 1969 - nach dem Rücktritt General de Gaulies - bis zu seinem Tode (1973) franz. Staatspräsident war. 8 Meistgelesene, großbürgerliche, unabhängige Tageszeitung (erscheint abends). Steht dem franz. Außenministerium nahe. 9 1828 gegründete Zeitschrift, zunächst vor allem literarisch profiliert (Mitarbeit von Balzac, A. Dumas, Sainte-Beuve), später auch mit Ökonomie und Politik beschäftigt, ö f f n e t e sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts (unter der Leitung des Literarhistorikers Ferdinand Brunetière) dem Katholizismus. Wurde während der NaziOkkupation eingestellt. Heute eindeutig konservativ. 10 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (Rohentwurf) 1857-1858. Berlin 1955, S. 313-314. 11 Nach dem englischen Geistlichen und Ökonom Thomas Robert Malthus (1766-1834) benannte Bevölkerungstheorie, nach der das Wachstum der Bevölkerung ewigen Naturgesetzen unterliegt und schneller vor sich geht als die Produktion von Nahrungsmitteln. An-

23 Burmeister/Barck

353

hänger des Neomalthusianismus (Vogt, Cook, Grimm u. a.) behaupteten die Unvermeidlichkeit dee Überbevölkerung der Welt und befürworteten die Massenausrottung von Menschen oder aber schlössen sich rassistischen und eugenischen Theorien an. - Leroy bezeichnet mit Malthusianismus die imperialistische Politik der sog. „sozialen Auslese". 12 Wissenschaftliche Einrichtung, 1908 gegründet, nach Bekanntwerden der Forschungen Pasteurs über die Tollwut. Arbeitet auf dem Gebiet der Biologie und Mikrobiologie. Zentrum der franz. Impfstoffund Serumproduktion. 13 Gemeint ist die Ecole Normale Supérieure in der rue d'Ulm in Paris, eine Einrichtung des franz. Bildungswesens. Gehört zu den sog. „Großen Schulen", deren Absolventen auf die höhere wissenschaftliche und Staatslaufbahn vorbereitet werden. 14 Hierunter ist das Muséum national d'bistoire naturelle zu verstehen, eine naturwissenschaftliche Forschungs- und Bildungseinrichtung in Paris, die auf eine Gründung unter Louis XIII. zurückgeht (1636) und von dem Naturforscher Buffon im 18. Jahrhundert in eine wissenschaftliche Institution zum Studium der „Drei Reiche der Natur" umgewandelt wurde. Dem Muséum als Lehranstalt (ca. 20 Lehrstühle) sind Ausstellungsräume, ein zoologischer und ein botanischer Garten angeschlossen. 15 Traditionsreiche franz. Forschungs- und Bildungsstätte, geht auf eine Gründung unter François I. (1530) zurück. Wird vom Ministerium für nationale Erziehung finanziert, ist in der Verwendung des Budgets, in der Auswahl der Lehrfächer, in der Besetzung der fünfzig Lehrstühle und der Wahl seiner Mitglieder jedoch unabhängig. Die Lehrtätigkeit am Collège de France hat keinen universitären Status (keine festen Lehrprogramme, keine Prüfungen). Die Vortrags- und Publikationstätigkeit des College de France ist direkter Ausdruck der wissenschaftlichen Forschungen seiner Mitglieder, die alle ausgewiesene Spezialisten sind. 16 Kulturprogramm des franz. Rundfunks. 17 Maurice Druon (geb. 1918) : Franz. Schriftsteller und Journalist. Für seinen Roman Les grandes familles (Die großen Familien) (1948) mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Mitglied der Académie française. Unter Georges Pompidou Kulturminister. Wurde berüchtigt durch eine Art Pinscherrede, in der er die franz. Intellektuellen als „Unruhefaktoren" und Verfertiger von geistigen „Molotow-Cocktails" beschimpfte. 18 S. Anm. 17. 19 0(ffice de) Radiodiffusion - ) T(élévision) F(rançaise) : Franz. Hörund Fernsehfunk, durch Gesetz vom 27. Juni 1964 dem Informa-

354

tionsministerium unterstellt und -

wie alle öffentlichen nationalen

Einrichtungen - staatlicher ökonomischer Kontrolle unterworfen, bis Januar 1975 staatlich verwaltet. Seither im Wege einer Teilprivattisierung von sieben Gesellschaften mitverwaltet. P(résident-)D(irecteur-)G(énéral) :

Präsident

und

Generaldirektor

in einer Person einer kapitalistischen Gesellschaft. Im Juni 1973 hatte die franz. Regierung den Ex-Sozialisten Arthur Conte auf drei Jahre zum P.-D.-G. der O . R . T . F . ernannt. Im Dezember 1973 wurde er von der Regierung Pompidou-Messmer jedoch unter dem Vorwand wieder entlassen, er sei zu liberal. 20 Eine mit der Bewegung des Anarchosyndikalismus in

Frankreich

(deren Wurzeln zu Proudhon und Blanqui zurückreichen) verbundene Tendenz, derzufolge die Arbeiter aus ihrer ökonomischen Lage und ihren ökonomischen Interessen heraus zur Revolutionierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gelangen. Mit diesem Ökonomismus verbindet sich auf politischer Ebene ein proletarischer „Alleinvertretungsanspruch", die Ablehnung jeglicher Bündnispolitik und auf ideologischem und künstlerischem Gebiet die Idealisierung des Proletariats. 21 D i e Entwicklung der Volksfrontstrategie für den Kampf gegen den Faschismus und darüber hinaus für die Übergangsetappe vom Kapitalismus zum Sozialismus war das Resultat eiaes komplizierten E r kenntnisprozesses in der kommunistischen Weltbewegung zu Beginn der dreißiger Jahre, in dem die F K P eine bedeutende Rolle spielte und dessen Abschluß der V I I . Weltkongreß der Kommunistischen Internationale bildete. Wichtige Punkte dieses Prozesses in Frankreich waren: 1932 - Teilnahme der F K P an der Amsterdamer Antikriegsbewegung; 12. 2. 1934 -

antifaschistischer Generalstreik ge-

gen den faschistischen Putschversuch vom 6. 2. 1 9 3 4 ; 23./24. 1934 - Nationalkonferenz der F K P in Ivry; 27. 7. 1934 -

6.

Unter-

zeichnung des Einheitsfrontabkommens zwischen F K P und S F I O ; 14. 7. 1935 - Großkundgebungen von Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten

besiegeln

die Bildung

der Volksfront;

26.

4.

und 3. 5. 1936 - Sieg der Volksfront bei den Parlamentswahlen. Das in den Kämpfen dieser Zeit begründete Bündnis zwischen Partei und Intellektuellen wurde in der Résistance vertieft und erweitert und konnte auch in der Zeit des kalten Krieges nicht gebrochen werden. 22 Laurent Casanova (geb. 1 9 0 6 ) : Franz. kommunistischer Politiker. Ab 1947 Mitglied des Politbüros der F K P und Mitglied des Weltfriedensrates. Abgeordneter der Nationalversammlung, nach dem Krieg Minister

(für Angelegenheiten

der ehemaligen Frontkämpfer urtd

Kriegsopfer) im Kabinett Bidault. 1 9 5 9 Lenin-Friedenspreis. 23*

355

War

verheiratet mit Danielle Casanova, die - von den Nazis als Widerstandskämpferin verschleppt und in der Deportation gestorben zu den Leitbildern des franz. kommunistischen Jugendverbandes gehört. 23 Gemeint ist der Bericht Waldeck Rochets auf der Tagung des ZK der F K P vom 5.-6. 12. 1968 in Champigny-sur-Marne. Auf dieser bedeutenden Tagung wurde das Manifest Pour une démocratie avancée, pour une France socialiste (Für eine entwickelte Demokratie, für ein sozialistisches Frankreich) verabschiedet. Es bildet mit den Beschlüssen des XIX. Parteitages der F K P (Februar 1970) die Grundlage für das Regierungsprogramm der F K P vom Oktober 1971 - Programme pour un gouvernement démocratique d'union populaire (Programm für eine demokratische Regierung der Volkseinheit). 24 Georges Marchais: Die demokratische Herausforderung. Berlin 1974, S. 11. 25 Ebenda, S. 30. 26 Fernand Léger (1881-1955): Franz. Maler, Graphiker und Kunsthandwerker, stand - unter dem Einfluß von Picasso und Braque - bis 1918 dem Kubismus nahe. Ihn beschäftigte vor allem das Verhältnis Mensch-Technik, das er in der Malerei und in der baugebundenen Kunst gestaltete. 27 Unter Surrealismus ist die literarische und künstlerische (Theater, Film, Malerei) Bewegung in Frankreich nach dem ersten Weltkrieg zu verstehen, die über das Diktat des Unbewußten (den „Automatismus" als Prinzip der Schreibweise: écriture automatique) die Destruierung bürgerlicher Werte anstrebte. Der Surrealismus proklamierte die Allmacht des Traumes, des Instinktes, des Wunsches und der Revolte. Aus dem Dadaismus hervorgegangen, formierte sich der franz. Surrealismus um André Breton, Paul Eluard, Louis Aragon, Philippe Soupault. 1924 veröffentlichte Breton das Manifeste du surréalisme (Manifest des Surrealismus). Zwischen 1925 und 1930 manifestierten sich unterschiedliche Richtungen innerhalb der Bewegung, um deren „Reinheit" Breton kämpfte, indem er die Verbindung von politischer und künstlerischer Revolte aufrechtzuerhalten versuchte Second manifeste du surréalisme (Zweites Manifest des Surrealismus. 1929). E r konnte die Spaltung der ihrem Wesen nach bürgerlichen und politisch ambivalenten Bewegung (einige ihrer Mitglieder wurden Kommunisten - so Aragon, Eluard - andere tendierten zum Faschismus, wie der katalanische Maler S. Dali) nicht verhindern. (S. auch Anm. 16 zu Text 5). 28 Mitarbeiter der von Diderot und d'Alembert hg. franz. Enzyklopädie (1751-1772; 17 Text- und 11 Abbildungsbände), einem Nachschlage-

356

29

30 31

32 33 34

werk der Wissenschaften, Künste und Handwerke, das wesentlich zur Formierung der franz. Aufklärung beitrug. Vgl. Artikel aus der von Diderot und d'Alembert hg. Enzyklopädie. Hg. v. M. Naumanh. Leipzig 1972. Anspielung auf Jean-Jaques Rousseaus (1712-1778) Forderung „Zurück zur Natur", die vielfach, auch in der franz. Aufklärung selbst, als eine Flucht aus der Gesellschaft und der Zivilisation (miß)verstanden wurde, womit die revolutionäre Seite von Rousseaus Gesellschaftskritik (Kritik an der sozialen Ungleichheit und dem politischen Absolutismus) zugunsten ihrer objektiven Perspektivelosigkeit unterschlagen wird. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Frühe Schriften. Hg. v. Winfried Schröder. Leipzig 1965. W . I. Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur. I n : Lenin: Werke, Bd. 10, S. 31. Gemeint ist die Vereinigung für das Junge Theater (Association pour le Jeune Théâtre), eine Gesellschaft zur Verteidigung materieller und künstlerischer Interessen von Theatergruppen, denen kein offizieller Status zuerkannt wurde und die damit keine regelmäßige finanzielle Unterstützung durch das Staatssekretariat für Kultur erhalten. Von der Vereinigung wurden immer wieder Demonstrationen organisiert, um den Forderungen der Theater Nachdruck zu verleihen. Großbürgerliche franz. Tageszeitung mit Verbindung zur franz. Hochfinanz und zum US-Kapital. Pierre Carlet de Chamberlain Marivaux (1688-1763): Journalist, Bühnenautor und Romancier der franz. Frühaufklärung. Georges Bataille (1897-1962): Franz. Schriftsteller. Leitete die Zeitschrift Critique. Von den Vertretern der literarischen Avantgarde (so von der Gruppe Tel Quel und von einigen nouveaux romanciers) als Lehrmeister und als subversive K r a f t der bürgerlichen Literatur und Moral betrachtet. Schrieb u. a. Sur Nietzsche (Über Nietzsche) (1945), La haine de la poésie (Der Haß auf die Poesie) (1947), L'Erotisme (Die Erotik) (1957), La littérature et le mal (Die Literatur und das Böse) (1958). Die Gesamtausgabc der auf 10 Bde. berechneten Werke erscheint seit 1970 bei Gallimard. (Bisher 6 Bde.). Dt. Ausgabe: G. Bataille: Das theoretische Werk. (Hg. v. Gerd Bergfleth), München 1975.

35 Théâtre de la Salamandre ist das 1969 im Rahmen der Maison de la Culture im kommunistisch regierten Le Havre gegründete Theater. Leiter ist Gildas Bourdet. D a s Theater zeichnete sich durch seine Zusammenarbeit mit Schulen und Betriebskomitees aus und bemühte sich um die Entwicklung einer auf die lokalen Bedürfnisse bezogenen Theaterkunst. Seit 1975 arbeitet das Theater in Tourcoing und wird offiziell als „nationales dramatisches Zentrum" anerkannt.

357

36 Jean-Jacques Gautier (geb. 1908): Franz. Schriftsteller, Theater- und Filmkritiker, schreibt seit 1941 für den Figaro. 37 Marcel Achard (geb. 1899) : Franz. Bühnenautor und Kritiker. 38 Résolution sur les problèmes idéologiques et culturels. In: Cahiers du Communisme 1966, 5, S. 279-280. 39 Humanité = Zentralorgan der FKP. Humanité-Dimanche = illustrierte Sonntagsausgabe des Zentralorgans der FKP. France-Nouvelle = politisch-kulturelle Wochenzeitung der FKP. Cahiers du Communisme = theoretische und politische Monatszeitschrift des ZK der FKP. L'École et la Nation — pädagogische Monatszeitschrift der FKP. Economie et Politique = wirtschaftswissenschaftliche Monatszeitschrift der FKP. 40 Georges Marchais: Die demokratische Herausforderung. Berlin 1974, S. 231-232.

2. Gérard. Belloin Opfer des gleichen Systems Dieser Text ist das 9. Kapitel Victimes du même système des Buches von Gérard Belloin: Culture, personnalité et sociétés. Paris 1973, S. 140-152. 1] Elsa Triolet: La Mise en Mots. (Les sentiers de la création). Genf 1969, S. 17. 2] Karl Marx: Debatten über die Pressefreiheit. In: MEW, Bd. 1, S. 70-71. 3 Jean Vilar (geb. 1912): Franz. Regisseur. Begründer des Théâtre National Populaire in Paris (1951-1963), wo er das klassische franz. Erbe neu aktualisierte und u. a. Brecht in Frankreich bekannt machte. 4 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1732-1799): Uhrmacher und Dramatiker. Autor der antifeudalistischen Sittenkomödie Figaros Hochzeit (1778). 5] Revue des Deux Mondes. Januar 1971. 6] J. J. de Bresson: L'ORTF dans la nation. Conférence aux Ambassadeurs. 7] Le Monde vom 25. 11. 1971. 8 S. Anm. 19 zu Text 1.

358

9] Le Nouvel Observateur vom 13. 12. 1971. 10] Vgl. L'érotisme et le sens de l'homme. Verlautbarung der franz. Bischofskonferenz zu Familienfragen. Veröffentlicht am 6. 1. 1972. 11 Jacques Duhamel: Franz. Kulturminister von 1970-1973. Nachfolger von André Malraux auf diesem Posten. 12 Resolution der Sitzung des ZK der FKP vom März 1966. In: Waldeck Röchet: Le marxisme et les chemins de l'avenir. Paris 1966, S. 80.

3. André Marxismus

Gisselbrecht

und

Literaturtheorie

Dieser Text ist ein Beitrag, den der Verf. auf einem von der Nouvelle Critique 1970 veranstalteten Kolloquium gehalten hat und der in dem Protokollband des Kolloquiums veröffentlicht ist. André Gisselbrecht: Marxisme et théorie de la littérature. In: Littérature et Idéologies. Colloque de Cluny II. NC 1971, 39/40, S. 29-33. 1 Theoretisch-methodologische Richtung der frühen sowjetischen Literaturwissenschaft, deren Vertreter (V. Schklowski, J. Tynjanow, B. Eichenbaum u. a.) sich mit der technisch-formalen Seite des literarischen Kunstwerks beschäftigten. Die Formale Schule ging aus den linguistischen Zirkeln in Petersburg und Moskau hervor. Die Richtung zerfiel gegen Ende der zwanziger Jahre. Die Wiederentdeckung der russischen Formalisten seit den sechziger Jahren steht in Zusammenhang mit der Krise der bürgerlichen Literaturwissenschaft, in Frankreich speziell mit dem Literaturstreit zwischen Neuer und Alter Kritik. In der Entwicklung einer strukturalistischen Literaturkritik und Poetik werden die russischen Formalisten zum wichtigen Bezugspunkt. 2 Literarität (littérarité) ist der Schlüsselbegriff des russischen Formalismus zur Bezeichnung des Gegenstandes literarischer Untersuchungen. Erstmalig von Roman Jakobson formuliert: „Den Gegenstand der Literaturwissenschaft bildet nicht die Literatur, sondern das Literarische (literaturnost), d. h. das, was das vorliegende Werk zu einem Werk der Literatur macht." (Die neueste russische Poesie, Prag 1921). 3 Juri Nikolajewitsch Tynjanow (1894-1943): Russisch-sowjetischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Repräsentiert den Über-

359

gang des russischen Formalismus zu einer stärker historisch orientierten Position. (Eine Auswahl seiner theoretischen Schriften und literarischen Arbeiten erschien 1975 unter dem Titel Der A f f e und die Glocke bei Volk und Welt). 4 Galvano della Volpe (1895-1968): Italienischer Philosoph. Seit den dreißiger Jahren mit erkenntnistheoretischen und ästhetischen Fragen beschäftigt. In seinem Hauptwerk Critica del gusto (Kritik des Geschmacks) (1960) versucht er, eine materialistische Ästhetik zu begründen. Seine letzte größere Veröffentlichung, der Aufsatzband Critica dell'ideologia contemporanea (Kritik der gegenwärtigen Ideologie) (1967) enthält Aufsätze zur Logik des Kapitals, zur Frankfurter Schule, zu Althusser, dem französischen Strukturalismus und dem russischen Formalismus. 5 Anspielung auf Roger Garaudys D'un réalisme sans rivages (Für einen Realismus ohne Ufer) (Paris 1963). 6 Ernst Fischer (1899-1972): Österreichischer Schriftsteller und Publizist, Verfechter eines „pluralistischen Marxismus" ( W a s Marx wirklich sagte, 1968; Was Lenin wirklich sagte, 1969), vertrat auf ästhetischem Gebiet die Auffassung, daß das Unvergängliche, das Weiterwirkende am Kunstwerk nicht ideologischer Natur sei, was zur Forderung nach einer „ideologiefreien" Kunst führt (Kunst und Koexistenz, 1966). 7 Lucien Goldmann (1913-1970) : Franz. Soziologe rumänischer Abstammung. Vgl. unsere Einleitung, S. 38-42. 8 Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade (1740-1814): Franz. Schriftsteller. Von seinem Namen ist der Begriff „Sadismus" zur Bezeichnung von mit Grausamkeit verbundener Sexualität abgeleitet. Sade vertrat die anti-aufklärerische Auffassung, daß Romane sittliche Empfindungen verletzen und Schrecken erregen sollen. In Frankreich wird Sade seit den sechziger Jahren als Befreier von Tabus und Idolen, sowie als subvsersive Kraft der bürgerlichen Moral gewürdigt. 9 wörtlich: die übelbeleumdeten oder die verfluchten Schriftsteller. Ausdruck, der dem Essay von Paul Verlaine Les poètes maudits (1884) über die symbolistischen Dichter (s. Anm. 20 zu Text 12) entstammt und zur Bezeichnung für anti-bürgerliches Selbstbewußtsein unter den franz. Schriftstellern wurde. 10 Michail Alexandrowitsch Lifschitz (geb. 1905) : Sowjetischer Philosoph und Ästhetiker. Hg. der Anthologien Marx und Engels über die Kunst (russ. : 1937/38); dt. Ausg. : Marx/Engels : Über Kunst und Literatur (1948) und Lenin über Kultur und Kunst (Moskau 1938). Diese bedeutsamen Publikationen haben jedoch nicht den von Gisselbrecht angenommenen Stellenwert für die Erarbeitung der ästheti-

360

11

12

13

14

15

16

sehen Konzeption von Lukäcs, die in wesentlichen Grundzügen schon vorher ausgebildet war. Unter Legitimisten sind Anhänger der durch bürgerliche Revolutionen gestürzten „legitimen" Dynastien zu verstehen. In Frankreich strebten die Legitimisten 1815 und 1830 danach, die Herrschaft der Bourbonendynastie wiederherzustellen. Nach der Februarrevolution von 1848 betrieb die von der Aristokratie und dem hohen Klerus geführte Partei der Legitimisten eine oppositionelle anti-republikanische Politik. Linke Front der Künste: Lewy front iskusstw (LEF). Literarische Gruppe in Moskau (1922-1929. Majakowski, Pasternak, Brik, Tretjakow u. a.). Ziel der Gruppe war die Sammlung linker Kräfte, um einen kommunistischen Weg der Kunstentwicklung zu finden. Die Gruppe spielte insbes. durch ihre Forderung nach einer „Literatur der Fakten" und durch die von Majakowski entwickelte Theorie des „sozialen Auftrags" eine produktive Rolle. Zeitschriften: Lef (1923-1925 unter Leitung von Majakowski) und Noxey lef (1927 bis 1928 unter Leitung von Majakowski, ab 1928 unter Leitung von Tretjakow). Gemeint ist die revolutionär-demokratische Bewegung in Rußland in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts (als Reformzeitalter bezeichnet). Auf der Grundlage des Materialismus von Feuerbach und des utopischen Sozialismus, insbes. Fouriers, entwickelten N. G. Tschernyschewski (1828-1889) und N. A. Dobroljubow (1836-1861), die Hauptvertreter dieser Richtung (Vorläufer: Belinski und Herzen), ihre philosophisch-ästhetische Ideologie, die sowohl für die realistische Abbildtheorie in Rußland wie für die Idee einer Bauernrevolution zum Sturz des Zarismus bedeutsam wurde. Boris Michailowitsch Eichenbaum (1886-1959): Russisch-sowjetischer Literaturwissenschaftler, hervorragender Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts (insbes. Tolstois und Lermontows). Gehörte zu den bedeutendsten Vertretern der Formalen Schule. (B. M. Eichenbaum: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Frankfurt a. M. 1965.) S. auch Anm. 1. Wiktor Borissowitsch Schklowski (geb. 1893): Russisch-sowjetischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Mitbegründer des Opojaz (s. Anm. 33), der Keimzelle der russischen Formalen Schule. Verfaßte neben literaturkritischen und polemischen Essays auch Drehbücher, historische Romane. Michail Bachtin (1895-1976): Sowjetischer Literaturwissenschaftler. Ist hervorgetreten durch Arbeiten über die Volkskultur der Renaissance (dt. Auswahl unter dem Titel: Literatur und Karneval.

361

Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969). In: Problemy poetiki Dostojewskowo (Moskau 1929 u. 1963) (dt.: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971) entwickelte Bachtin die These, daß Dostojewski ein ganz neues künstlerisches Weltmodell geschaffen hat, das polyphon ist. Diese Interpretation und dieser Begriff wurden in Frankreich zunächst von der Gruppe Tel Quel aufgegriffen (Julia Kristeva: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. In: Critique, April 1967), darüber hinaus wurde Bachtin wichtig als Erneuerer des Konzeptes „literarische Sprache", wie die russischen Formalisten es ausgearbeitet hatten, in das er zwei neue Dimensionen eingeführt hatte: das Subjekt (Wer spricht im Text?) und die Ideologie (gegen die Reduktion des literarischen Textes auf das linguistische Objekt Sprache). 17 Leo Spitzer (1887-1968): Bedeutender deutscher Romanist. Einer der Begründer der idealistischen Stilforschung. Bemühte sich um eine Synthese zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft. (Leo Spitzer: Texterklärungen. Aufsätze zur europäischen Literatur. München 1969; ders.: Eine Methode Literatur zu interpretieren. München 1966.) 18 Erich Auerbach (1892-1957): Deutscher Literarhistoriker, Romanist. Vertreter der deutschen idealistischen Stilforschung. Sein bedeutendstes Werk ist Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946). 19 Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut (Die Geschichte des Chevalier Des Grieux und der Manon Lescaut) (1731). Bekannter Roman von Antoine Prévost d'Exiles (Abbé Prévost), einem der bedeutendsten Romanciers und Journalisten der franz. FrShaufklärung. 20 Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1934): Sowjetischer marxistischer Psychologe. Befaßte sich vom historischen Standpunkt aus mit dem Entstehungsprozeß der menschlichen Psyche, ausgehend von der Hypothese, daß sich die psychischen Prozesse beim Menschen genauso verändern wie die Formen seiner praktischen Tätigkeit. In seinen kunsttheoretischen Schriften kritisierte Wygotski die kunstpsychologischen Richtungen der Jahrhundertwende und suchte nach einer objektivierenden Methode. Er entwickelte eine psychologische Wirkungsästhetik, die das Kunstwerk als ein System von „Reizerregern" auffaßt, „die bewußt und vorsätzlich so organisiert und berechnet sind, daß sie eine ästhetische Reaktion hervorrufen". 21 Sergej Michailowitsch Tretjakow (1892-1939): Russisch-sowjetischer Schriftsteller, entwickelte die Theorie von der „Literatur des Fakts" und der „Biographie der Dinge" in der LEF (s¡. Anm. 12); arbeitete zusammen mit Meyerhold und mit Eisenstein am Proletkult-Theatet.

362

1931 Aufenthalt in Berlin, Zusammenarbeit mit Becher, Brecht, Heartfield, Piscator, Wolf, wirkte anregend auf Walter Benjamin (Der Autor als Produzent, 1934). Im Reclam-Verlag erschien von S. M. Tretjakow: Lyrik, Dramatik, Prosa. Hg. v. Fritz Mierau. Leipzig 1972. Vgl. dazu Fritz Mierau: Erfindung und Korrektur. Die Operationskunst Sergej Tretjakows. Berlin 1976. 22 Anglo-amerikanische Strömung formalistischer Literaturtheorie und -kritik in den zwanziger und dreißiger Jahren. (Vgl. Robert Weimann: ,New Criticism' und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft. Halle 1962.) 23 Louis Hjelmslev (1899-1965): Dänischer Linguist. Begründer der Glossematik (Versuch, eine Sprachtheorie mit Hilfe von mathematischen und mathematisch-logischen Methoden aufzubauen), hob die Notwendigkeit einer mathematischen und logischen Ausbildung für Linguisten hervor und forderte eine streng formale Sprachanalyse. Philosophisch war Hjelmslev Vertreter des Neopositivismus. Sein Hauptwerk: Grundlagen einer Spracbtbeorie (1943). 24 Vgl. Antonio Gramsci: Letteratura e vita nazionale. Turin 1966, S. 34-35. 25] Bertolt Brecht: Volkstümlichkeit und Realismus. In: Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 2. Berlin-Weimar 1966, S. 61-62. 26 Wachsfigurenkabinett auf dem Boulevard Montmartre in Paris. Wurde 1882 von dem franz. Zeichner und Karikaturisten Alfred Grevin (1827-1892) gegründet. 27 Guido Cavalcanti (1255-1300): Italienischer Dichter, bedeutender Vertreter der poetischen Richtung des „dolce Stil nuovo." Freund Dantes, Gestalt aus dessen Göttlicher Komödie. Dmitri Iwanowitsch Nechljudow: Gestalt aus Leo Tolstois Roman Auferstehung. 28] Bertolt Brecht: Glossen zu einer formalistischen Realismustheorie. In: Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 2. BerlinWeimar 1966, S. 43. 29] Bertolt Brecht: [Über sozialistischen Realismus]. Ebenda, S. 138139. 30 Abkürzung für: proletarskaja kultura (proletarische Kultur). 1917 in Rußland gegründete linksradikale Organisation, die zur Hebung der geistigen Bildung und des Klassenbewußtseins des Proletariats beitragen und dabei eine vollkommen neue, ausschließlich proletarische Kultur und Massenkunst schaffen wollte. Zu diesem Zweck gründete sie zahlreiche Bildungszentren sowie Dichterschulen, die von führenden Schriftstellern geleitet wurden. Geistiger Führer des Proletkult war A. A. Bogdanow. Mit ihm und dem Proletkult setzte

363

sich Lenin wiederholt auseinander, u. a. in: Die Aufaben der Jugendverbände. In: Werke, Bd. 31, S. 2 7 2 - 2 9 0 ; Über proletarische Kultur. Resolutionsentwurf. Ebenda, S. 3 0 7 - 3 0 8 ; Lieber weniger, aber besser. Ebenda, Bd. 33, S. 4 7 4 - 4 9 0 ; in seiner Rede auf dem I. Gesamtrussischen Kongreß für außerschulische Bildung. Ebenda, Bd. 29, S. 323-365, (bes. S. 324 u. 361). 1922/23 wurde der Proletkult aufgelöst, weil er auf Grund seiner unmarxistischen sektiererischen Auffassung einer „proletarischen Kultur" die Schaffung einer sozialistischen Kultur hemmte. 31 Walter Benjamin: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker. In: Walter Benjamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1966, S. 304. 32 Eduard Fuchs (1870-1937): Sozialistischer Dichter und Chefredakteur der satirischen sozialdemokratischen Wochenschrift Der süddeutsche Postillon. Verfasser bedeutender marxistisch orientierter kunstu. kulturhistorischer Schriften. (1848 in der Karikatur; Illustrierte Sittengeschichte ; Geschichte der erotischen Kunst.) Gab mit August Thalheimer die Schriften Mehrings heraus, dessen Nachlaßverwalter er war. 33 Russische Abkürzung für: Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache, die eine Gruppe junger Literatur- und Sprachwissenschaftler in Petersburg vereinte. Diese Gesellschaft war, neben der Moskauer Vereinigung, der Ausgangspunkt des russischen Formalismus (s. Anm. 1). Ihre Vertreter (W. Schklowski, B. Eichenbaum, E. Poliwanow, O. Brik, später auch J. Tynjanow u. a.) veröffentlichten ihre Arbeiten in Sammelbänden, die zwischen 1916 und 1919 erschienen. 34 Boris Ignatjewitsch Arwatow (1896-1940) : Russisch-sowjetischer Kunstkritiker, Theoretiker des Proletkult und der LEF, sah die Kunstentwicklung in enger Verbindung mit der Geschichte der materiellen Kultur. Vertrat die utilitaristische Losung einer „Produktionskunst". Auf methodologischem Gebiet versuchte Arwatow, Prinzipien des russischen Formalismus mit der Kunstsoziologie zu verbinden. 35 Gemeint ist eine undialektische Gegenüberstellung von Wissenschaft und Ideologie, wie sie begünstigt wurde durch die von Althusser (in Übernahme von Thesen der Epistemologie Gaston Bachelards und Michel Foucaults) vertretene Auffassung von einer „coupure épistémologique" (epistemologischer Einschnitt), den die Begründung einer W i s s e n s c h a f t von der Geschichte durch Marx gegenüber der vormarxistischen idealistischen oder empiristischen I d e o l o g i e und dem philosophischen Humanismus darstellt. (Vgl. Philosophisches Wörterbuch. 10. Aufl. Leipzig 1974. Artikel „Epistemologie"). 36 Die „Überschreitung des bürgerlichen kulturellen Code" wurde von Teilnehmern des Kolloquiums, auf dem Gisselbrecht den hier abge-

364

druckten Beitrag hielt, namentlich von den Vertretern der Gruppe Tel Quel (vgl. unsere Einleitung, S. 4 2 - 4 8 ) als d a s Kriterium revolutionärer proletarischer Kunst und als d e r revolutionäre Schritt bei der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft angesehen.

4. Christine Glucksmann Über die Beziehung von Literatur und Ideologien Dieser Text ist ein Beitrag, den die Verfn. auf einem von der Nouvelle Critique 1970 veranstalteten Kolloquium gehalten hat und der im Protokollband des Kolloquiums veröffentlicht ist. Christine Glucksmann: Sur la relation littérature et idéologies. In: Littérature et idéologies. Colloque de Cluny II. NC 1971, 39/40, S. 9 - 1 5 . 1] Vgl. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 5. Berlin-Weimar 1964 (insbes. : Der Messingkauf). 2 S. Anm. 1 und 2 zu Text 3. 3 Methodologischer Begriff der russischen Formalisten, dient zur Herausarbeitung eines literaturwissenschaftlichen Objektes - die „literarische Reihe" - , deren innere Gesetzmäßigkeiten und deren Beziehungen zu den anderen historischen oder gesellschaftlichen „Reihen" aufgedeckt werden müssen, im Sinne der Konstituierung/Rekonstruktion des komplexen Systems literarische - außerliterarische „Reihen". Die russischen Formalisten versuchten, namentlich in ihren späteren Arbeiten (Ende der zwanziger Jahre), den Begriff der „literarischen Reihe" gegen mechanistische und ahistorische Auffassungen abzugrenzen. 4] Friedrich Engels: An Conrad Schmidt (27. 10. 1890). In: MEW, Bd. 37, S. 493. 5 Vgl. Louis Althusser: Lénine et la philosophie. Paris 1969; ders. : Philosophie et philosophie spontanée des savants (1967). Paris 1974. 6] Vgl. Jurij Tynjanov: De l'évolution littéraire. In: Théorie de la littérature. Textes des formalistes russes réunis, présentés et traduits par Tzvetan Todorov. Paris 1965, S. 120-137. 7] Sémiotica 1969, 1/2. 8 S. Anm. 30 zu Text 3. 9 S. Anm. 20 zu Text 1. 10 Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, S. 26 u. 46. 11 Louis Althusser: Marxismus und Humanismus. In: Für Marx. Frankfurt a. Main 1968, S. 183-184.

365

12] Louis Althusser: Philosophie et philosophie spontanée des savants (1967). Paris 1974, S. 26. 13 Vgl. Waldeck Röchet: Le marxisme et les chemins de l'avenir. [Schlußwort auf der ZK-Tagung io Argenterai.] In : Cahiers du Communisme 1966, 5, S. 288. 14 Vgl. Louis Althusser: Marxismus und Humanismus. In: Für Marx. Frankfurt a. Main 1968, S. 186-187. 15] Vgl. Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Frankfurt a. Main 1966. 16 Gemeint ist Althussers Aufsatz: Le „Piccolo", Bertolazzi et Brecht. Abgedruckt im vorliegenden Bd. S. 187-208. 17 Vgl. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. In: Versuche über Brecht. Frankfurt a. Main 1966, S. 97-98. 18] Vgl. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: MEW, Bd. 21, S. 304. 19 Vgl. Jon Banu: La formation sociale .asiatique' dans la perspective de la philosophie orientale antique. In: Sur le ,mode de production asiatique'. Paris 1969, S. 285-307. 20 „Semiologie" ist der franz. Begriff für die Wissenschaft von den Zeichen (Semiotik), der auf Ferdinand de Saussure zurückgeht. Dieser verstand darunter eine allgemeine „Wissenschaft, die das Leben der Zeichen im gesellschaftlichen Leben" untersucht und der die Linguistik als ein Teilgebiet subsumiert ist. Die Art der Beziehungen zwischen Linguistik und Semiologie wurde in Frankreich zum Gegenstand einer Diskussion über Aufgabenbereich und theoretische Begründung der Zeichentheorie. Roland Barthes vertrat die These von der sprachlichen Grundlage aller Zeichensysteme, derzufolge die Semiologie nur als Teilgebiet der Linguistik aufzufassen sei (Eléments de sémiologie, 1964). 21] Bertolt Brecht: Der Messingkauf. In: Schriften zum Theater. Bd. 5. Berlin-Weimar 1964, S. 138.

5. Claude Literatur

Prévost

und Ideologie. Vorschläge theoretische Überlegung

für eine

Dieser Text ist das 8. Kapitel Littérature et idéologie. Propositions pour une réflexion théorique aus dem Buch von Claude Prévost: Littérature, politique, idéologie. Paris 1973, S. 208-231. Ihm liegt ein in der NC 1972, 57, veröffentlichter Text zugrunde.

366

1] Vgl. M. Chraptschenko: Semiotik und künstlerisches Schäften. In: Kunst und Literatur 1972, 4 u. 6. 2] Ich nenne hier die Arbeiten der sowjetischen Semiotiker, über die Léon Röbel in seinem Beitrag in Cluny II einen Überblick gab; die von Weimann, Bierwisch und Klaus in der D D R ; von J. Kristeva (für die Literatur) und C. Metz (für den Film) in Frankreich. 3] Ich verweise hier auf den Beitrag von Christine Glucksmann auf dem Kolloquium in Cluny (1970) und die dort angeführten Texte. (Vgl. Text 4.) 4 Im Mai 1942 veranstaltete die KP Chinas in Jänan Gespräche über Kunst und Literatur, an denen Mao Tse Tung teilnahm. Vgl. Mao Tse Tung: Reden auf der Beratung über Fragen der Literatur und Kunst in Jänan. In: Ausgewählte Schriften. Bd. 4. Berlin 1960, S. 82-123. 5] Vgl. Louis Althusser : Idéologie et appareils idéologiques d'État. In : La Pensée 1973, 151, S. 21-33. 6] Antonio Gramsci: Oeuvres choisies, Paris 1959, S. 84. 7] Emile Benveniste: Problèmes de linguistique générale. Paris 1965. 8] Vokabular der Psychoanalyse. S. 519. 9] Juri M. Lotman: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik; [Zit. nach der dt. Übersetzung.] München 1972. S. 53. 10] Über den Begriff „Konnotation" vgl. den Artikel von Marie-Noëlle Gary-Prieur in: Littérature 1971, 4, S. 96-107. 11] Emile Benveniste: Problèmes de linguistique générale. Paris 1965, S. 85. 12] Für Freud wird man hauptsächlich auf Die Traumdeutung; Zur Psychopathologie des Alltagslebens; Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten verweisen. - Zu Lacan s. Anm. 2 zu Text 9. 13 Arkadi Timofejewitsch Awertschenko (1881-1925) : Russischer Schriftsteller. Emigrierte 1917 nach Frankreich. Wegen des Erzählungszyklus' Ein Dutzend Messer in den Rücken der Revolution (1921) von Lenin kritisiert. (Vgl. Lenin: Werke, Bd. 33, S. 101.) Verf. bezieht sich auf die Bemerkung Lenins, daß Awertschenko in seiner „weißgardistischen Geistesgestörtheit" natürlich die Revolution nicht begreifen kann. „Die Arbeiter und Bauern verstehen es offenbar ohne Schwierigkeit und brauchen keine Erklärungen. Einige Erzählungen (des Buches von Awertschenko - d. Hg.) sind meines Erachtens wert, nachgedruckt zu werden. Ein Talent soll man fördern." 14 S i g n i f i k a n t u n d S i g n i f i k a t . Von dem Begründer der modernen Linguistik, Ferdinand de Saussure (1857-1913), der die Sprache als System sich wechselseitig bedingender Zeichen definiert, wurden diese Begriffe eingeführt; sie bezeichnen die beiden Komponenten des sprachlichen Zeichens. - Nach Saussure setzt sich ein sprachliches Zeichen aus dem B e z e i c h n e n d e n (signifiant),

367

der Lautform oder Phonmenge und dem B e d e u t e t e n (signifié), dem Begriff oder der Vorstellung einer Sache zusammen. Beide Komponenten des Zeichens sind psychischer Natur. 15] Vgl. Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 2. Berlin-Weimar 1966, S. 11. - Vgl. Georg Lukâcs: Probleme des Realismus. Berlin 1955. 16 Im Verlaufe der sechziger Jahre entstand in Frankreich eine neue Welle der Surrealismus-Rezeption, die ihre Motive u. a. von der Bewegung der Neuen Linken empfing. Im Zentrum der Surrealismus-Debatte steht einmal das Problem der Funktion der Kunst im Anschluß an die Auffassung der Surrealisten, die Kunst könne aus sich selbst heraus die Gesellschaft revolutionieren, und zum anderen das Problem der philosophischen Quellen und der ideologischen Funktion des Surrealismus selbst, d. h. vor allem das problematische Verhältnis der Surrealisten zu Hegel und zum Marxismus. Als scharfer Gegner des Surrealismus trat die Gruppe Tel-Quel auf. - Einen guten Einblick in den Stand der Debatte gibt das Surrealismus-Sonderheft der Zeitschrift Europe 1968, 475/476. (Vgl. Anm. 27 zu Text 1). 17 Georges Batailles'(s. Anm. 34 zu Text 1) Artikel über die Volksfront wurden 1936 von der surrealistischen Gruppe Contre-Attaque hg., die unter Batailles' Einfluß stand. (Vgl. Georges Bataille: Oeuvres complètes. Bd. 1. Paris 1970, S. 379-412.) 18] Für die Gesamtheit dieser Diskussion wird man sich auf die von Jean-Patrick Lebel angeführten Angaben und Einzelheiten beziehen: Cinéma et idéologie. Paris 1972, (Essais de la NC). 19 Verf. bezieht sich hier auf Äußerungen von Marcelin Pleynet, des Redaktionssekretärs der Zeitschrift Tel Quel, die dieser 1969 in der Filmzeitschrift Cinéthèque publizierte. Pleynet beschuldigte Eisenstein zunächst einer „theologischen Filmkonzeption", lobte ihn dann aber, um ihn mit seiner Theorie gegen die Kulturpolitik der F K P zu benutzen. (Vgl. Cinéthèque 1969, 5.) 20] Gérard Genette: Frontières du récit (Grenzen des Erzählens). I n : Communications 1966, 8. Dieser Artikel, von dessen Schlußbemerkung hier die Rede ist, enthält im übrigen eine Vielzahl äußerst scharfsinniger Beobachtungen. 21] R. M. Albérès: Histoire du roman moderne. Paris 1966, S. 135. 22] Pierre de Boisdefïre: Où va le roman? Paris 1962, S. 6 4 - 6 5 u. 67. 23 Klaus Hermsdorf: Franz Kafka. Weltbild und Roman. Berlin 1961. 24 György Aczél: Culture et démocratie socialiste. Paris 1972, S. 96. (Dt. Ausg.: Mit der Kraft unserer Idee. Reden und Aufsätze zur Kulturpolitik der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Berlin 1973.)

368

25 Mit dem Terminus „bricolage" (Bastelei) kennzeichnet der franz. strukturalistische Ethnologe Claude Lévi-Strauss das modellbauende Verfahren seiner Methode. (Vgl. La pensée sauvage, 1962; dt.: Das wilde Denken, 1968). Der Bastler, so Lévi-Strauss, ist derjenige, der „mit dem, was ihm zur Hand ist", werkelt. In dieser Verwendung gewinnen für ganz andere Zwecke geschaffene Gegenstände eine immer neue Funktion und Bedeutung. Der Terminus spielte in der franz. strukturalistischen Literaturkritik eine wichtige Rolle, insofern das Bild der Bastelei eine Kritik der Sprache nahe legt. So hat man gesagt, daß die Bastelei eine Art kritischer Sprache sei, insbes. die der literarischen Kritik, die aus vorfindlichem Sprachmaterial ihre Texte baut. (Vgl. den für diese Diskussion in Frankreich wesentlichen Text des Kritikers Gérard Genette: Structuralisme et critique littéraire. In: L'Arc 1966, 26, S. 37-49, worin Génette die These vertritt, daß Lévi-Strauss' Analyse der Bastelei „fast Wort für Wort" auf die literarische Kritik angewendet werden könne.) 26 Georges Politzer (1903-1942): Bedeutender franz. marxistischer Philosoph und Psychologe (vgl. Anm. 77 der Einleitung). Geb. in Ungarn, ging mit siebzehn Jahren nach Frankreich. Teilnahme an der revolutionären Bewegung. Arbeitete an einer materialistischen Grundlegung der Psychologie als Wissenschaft: La crise de la psychologie contemporaine (Die Krise der zeitgenössischen Psychologie. 1929). Veröffentlichte 1929 eine einschneidende Kritik am Bergsonismus. Le Bergsonisme, une mystification philosophique (Der Bergsonismus, eine philosophische Mystifikation). In den dreißiger Jahren hielt er Vorlesungen an der 1932 gegründeten Université Ouvrière, einer Arbeiterabendschule, über dialektischen Materialismus; 1948 veröffentlicht unter dem Titel Principes élémentaires (Grundlagen der Philosophie). In der franz. Volksfront spielte er eine hervorragende Rolle. Trat für ein aktives Bündnis der progressiven Intelligenz mit der FKP ein. Ging nach der Okkupation Frankreichs in die Illegalität und beteiligte sich aktiv in der Résistance. Anfang 1941 veröffentlichte die FKP seine scharfe antifaschistische Streitschrift gegen Rosenbergs unter dem Titel Gold und Blut von der Okkupantenpresse in Frankreich verbreitete faschistische Hetzschrift, worin der Nazi-Ideologe seine sog. „Abrechnung mit den Ideen von 1789" ausbreitete; Révolution et contre-révolution au XXe siècle (Revolution und Konterrevolution im 20. Jahrhundert.) 1942 von den deutschen Faschisten gefangen und am 23. Mai 1942 in Paris erschossen. Politzers Arbeiten sind bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden. 27 Paul Nizan (1905-1940) : Romancier, Kritiker und Verf. philosophischer Streitschriften. Entwickelte sich zu einem bedeutenden marxisti24

Burmeister/ßarck

369

sehen Kritiker. Mitglied der FKP seit 1927. Schrieb in der Revue Marxiste und als Korrespondent der Humanité. Mit Aragon 1933 -1935 Redaktionssekretär der Commutie, der Zeitschrift der Association des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires (A.E.A.R.). Auf Einladung der Kommunistischen Internationale 1934-1935 Studienaufenthalt in Moskau. Von 1937-1939 außenpolitischer Redakteur an der Abendzeitung der FKP Ce Soir. Trat nach dem deutschsowjetischen Nichtangriffs-Pakt aus der FKP aus, kam an die Front und fiel vor Dünkirchen. Von Jean-Paul Sartre Anfang der sechziger Jahre neuentdeckt, wird Nizan in den sechziger Jahren zu einer Leitfigur linker Bewegungen. Den Versuchen, sein Werk antikommunistisch zu verfälschen, tritt die FKP in jüngster Zeit verstärkt entgegen. (Vgl. den Aufsatz von Claude Prévost: Antoine Bloyé de Paul Nizan. L'envers de la „réussite sociale". In: France Nouvelle 8.-14. 10. 1974, 1508. In dt. Sprache liegt ein Sammelband vor: Paul Nizan: Für eine neue Kultur. Aufsätze zur Literatur und Politik in Frankreich. Hamburg 1973.) 28 Léon Moussinac (1890-1964): Franz. kommunistischer Schriftsteller, Filmtheoretiker und Theatermann. 1924 Naissance du cinéma (Geburt des Films). Gründet 1927 den Massen-Filmclub Les Amis de Spartacus. 1932 Mitbegründer der A.E.A.R. Hatte 1927 an der I. Internationalen Konferenz proletarisch-revolutionärer Schriftsteller in Moskau teilgenommen. 1933-1935 Delegierter der A.E.A.R. bei der IVRS (Sekretariats-Mitglied). Begründete zusammen mit Piscator und Vandurski das Theater der internationalen Aktion (1933). 1935 Direktor des Parteiverlages Editions Sociales Internationales. 1940 verhaftet. Ab 1942 in der Illegalität und in der Résistance tätig. 29 Jean-Richard Bloch (1884-1947): Franz. Schriftsteller, Journalist, Politiker. Kämpfte seit 1910 entschieden für eine Neuorientierung der Literatur durch Fundierung auf Politik. Mitbegründer der Kulturzeitschrift Europe und der 1937 gegründeten Abendzeitung der FKP Ce Soir. (1939 durch die franz. Regierung verboten, wurde Ce Soir ab 1944 erneut durch Aragon und Bloch hg. 1953 wegen finanzieller Schwierigkeiten eingestellt.) Emigrierte 1942 in die UdSSR, dort Sprecher von Radio France. Seine berühmt gewordenen Radio-Kommentare erschienen 1949 unter dem Titel De la France trahie à la France en armes (Vom verratenen Frankreich zum Frankreich in Waffen). 30 Verf. bezieht sich hier auf die Entschließung der ZK-Tagung der FKP in Argenteuil, aus der der zitierte Satz stammt. Vgl. Résolution sur les problèmes idéologiques et culturels. In: Cahiers du Communisme 1966,5, S. 270. 31] Eine in dieser Hinsicht typische Erklärung: „Denn welche Vorbehalte

370

es auch immer sein mögen, die man gegenüber dieser oder jener seiner Studien (auf dem Gebiet der Ästhetik) machen kann, so bleibt es doch dabei, daß die Haltung Garaudys, eines marxistischen Denkens, das für alle Formen der künstlerischen Aktivität geöffnet ist, wie mir scheint, nicht in Frage gestellt werden kann". (Jean Louis Houdebine : Poésie et réalité, côté „critique". In: Europe, März 1966, S. 107.) 32] Vgl. zu diesem Gegenstand den bedeutsamen Text, den Roland Leroy seinem Buch La Culture au présent (Die Kultur in der Gegenwart), Paris 1972, als Einleitung vorangestellt hat.

6. Pierre

Macherey

Lenin als Kritiker

Tolstois

Der Text ist ein Nachdruck aus: Pierre Macherey: Zur Theorie der literarischen Produktion. Studien zu Tolstoi, Verne, Defoe, Balzac; Bd. 7 der Reihe collection alternative, hg. von Hildegard Brenner, Darmstadt und Neuwied (Luchterhand Verlag) 1974, S. 7 - 4 7 . Titel des Originals: Pierre Macherey: Lénine, critique de Tolstoi. In: Pierre Macherey: Pour une théorie de la production littéraire, Bd. 4 der Reihe Théorie, hg. von Louis Althusser, Paris (Maspero) 1966, S. 125-157. Der Text wurde, um ihn lesbarer zu machen, von der Übersetzerin auf Anregung der Herausgeber für diesen Band überarbeitet. Abkürzungen : Lenin 1 - Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution. (1908). I n : Lenin: Werke, Bd. 15, S. 197-204. Lenin 2 - L. N . Tolstoi. (1910). Ebenda, Bd. 16, S. 327-332. Lenin 3 - L. N . Tolstoi und die moderne Arbeiterbewegung. (1910). Ebenda, S. 335-337. Lenin 4 - Tolstoi und der proletarische Kampf. (1910). Ebenda, S. 359-360. Lenin 5 - Helden des „Vorbehalts". Ebenda, S. 375-380. Lenin 6 - L. N . Tolstoi und seine Epoche. (1911). Ebenda, Bd.17, S. 3 3 - 3 7 . 1] Lenin 6, S. 36. 2 Verf. bezieht sich hier offensichtlich, allerdings in abweichendem Sinne, auf eine These Althussers vom sog. „ewigen" (transhistorischen) Funktionsmechanismus der Ideologie im allgemeinen, durch den diese spezifische Form der Widerspiegelung sich von anderen 24*

371

Formen, z. B. der Wissenschaft, der Kunst, unterscheidet. Der Versuch Althussers, eine Theorie d e r Ideologie aufzustellen, blieb von marxistischer Seite nicht unwidersprochen: So z. B. in diesem Band Text 4, wo an Stelle einer Theorie d e r Ideologie eine marxistische Theorie der verschiedenen historischen Formen der Ideologien als Aufgabe gestellt wird. In seinen Eléments d'autocritique (Elemente der Selbstkritik. Paris 1974) nimmt Althusser selbstkritisch Stellung zu seinem „(spekulativen) Entwurf einer Theorie des Unterschiedes zwischen d e r Wissenschaft und d e r Ideologie im allgemeinen" (S. 50-51). 3] V. D. Bonï-BrueviÈ : Vospominanija o Lenine (Erinnerungen an Lenin). Moskva 1969, S. 413. 4] Vgl.: W. I. Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. In: Werke, Bd. 3, S. 162, 186. - Aus den Anmerkungen über den Volkstümler Engelhardt geht hervor, daß sich eine wissenschaftliche ökonomische Studie auf das Zeugnis literarischer Werke stützen kann. 5] 6] 7] 8] 9]

Lenin 2, S. 328. Lenin 6, S. 33. Lenin 2, S. 327. Vgl. Lenin 6, S. 3 3 - 3 4 . „Die Idee vom .Recht auf Land' und vom .Ausgleich in der Bodenverteilung' ist nichts anderes als die Formulierung des revolutionären Strebens der Bauern nach Gleichheit, der Bauern, die für den völligen Sturz der Gutsbesitzermacht, für die völlige Beseitigung des gutsherrlichen Grundbesitzes kämpfen." (W. I. Lenin: Dem Gedächtnis Herzens. In: Werke, Bd. 18, S. 12.)

10] Vgl. Lenin 1, S. 201-203. 11] Vgl.: Lenin 2, S. 328. 12] Das ist die d e m o k r a t i s c h e Periode der russischen Geschichte : die Periode der bäuerlichen und der bürgerlichen Demokratie. Daher die komplexe Bezeichnung, die bei Lenin oft wiederkehrt: „bürgerliche Bauernrevolution". - Lenin 1, S. 201; Lenin 2, S. 328. 13] 14] 15] 16] 17] 18] 19] 20] 21]

Lenin: Werke, Bd. 10, S. 30. Lenin 2, S. 330. Lenin 4, S. 359. W. I. Lenin: Dem Gedächtnis Herzens. In: Werke, Bd. 18, S. 12. Lenin 6, S. 35-36. Lenin 4, S. 359. W. I. Lenin: Dem Gedächtnis Herzens. In: Werke, Bd. 18, S. 12. Vgl. besonders: Lenin 4. Vgl. W. I. Lenin: Ein talentiertes Büchlein. In: Werke, Bd. 33, S. 108-109.

372

22] Aber diese Epoche ist nicht durch eine mechanische Gleichzeitigkeit determiniert. 23] „Seiner Geburt und Erziehung nach zum höchsten Grundherrenadel Rußlands gehörend, brach Tolstoi mit allen gewohnten Ansichten dieses Milieus [. . .]" (Lenin 3, S. 336.) 24] W. I. Lenin. In: Maxim Gorki: Erinnerungen an Zeitgenossen. Berlin 1951, S. 250. 25] Das posthume Schicksal des Werkes von Tolstoi wird durch diese Leerstellen (im Sinne von Mängeln) bestimmt: Nichts hindert die Bourgeoisie daran, in einer anderen Phase ihrer Entwicklung, in dem Augenblick, in dem ihr Konflikt mit dem Proletariat alle anderen auslöscht, das Werk Tolstois ihrerseits aufzunehmen und daraus eine Waffe gegen die proletarische Revolution zu machen. Um ihr diese Waffe zu entreißen und das Werk Tolstois seinem wahren Publikum zu geben, schreibt Lenin seine Artikel. Vgl. dazu insbes.: Lenin 5 (geschrieben im Dezember 1910). 26] Lenin 3, S. 336, 337. 27] Lenin 6, S. 36. 28] Eine solche Reduktion ist nur unter besonderen B e d i n g u n g e n legitim. Wie Lenin unterstreicht, schreibt Herzen zu Recht: „Für ein seiner politischen Freiheitsrechte beraubtes Volk ist allein Literatur die Tribüne, auf der die Schreie der Empörung und die Appelle des Gewissens vom Volk vernommen werden können." (Lenin: Werke, Bd. 5, S. 63.) 29 Gleb Iwanowitscb Uspenski (1843-1902): Russischer Schriftsteller. Anhänger der Volkstümler. Veröffentlichte realistische Skizzen vom Landleben (Skizzen aus dem Provinzleben, 1877-1880). 30] Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie? In: Lenin: Werke, Bd. 1, S. 255. 31] Auf welches Erbe verzichten wir? In: ebenda, Bd. 2, S. 518-519. 32] Ebenda, S. 519. 33] Ebenda, S. 518. 34] Ebenda, S. 520. 35] Vgl. Brief an A. M. Gorki vom 25. 2. 1908. In: Lenin: Briefe, Bd. 2, Berlin 1967, S. 142. 36] Vgl. die Ausführungen zu Awertschenko, in: Lenin: Werke, Bd. 33, S. 108-109. 37] Vorwort zu John Reeds Buch: Zehn Tage, die die Welt erschütterten. In: ebenda, Bd. 36, S. 509. 38] Engels an M. Kautsky. London, 26. 11. 1885. In: MEW, Bd. 36, S. 394. 39] Lenin 1, S. 397. 40] Vgl. ebenda. 41] Vgl. ebenda.

373

42 Bezieht sich auf den Begriff der „Überdeterminierung" (surdetermination), einen der Psychoanalyse entlehnten Terminus (s. Anm. 13 zu Text 12), den Althusser verwandt hat, um das Wesen der marxistisch-leninistischen Konzeption des dialektischen Widerspruchs im Unterschied zur Hegeischen herauszuarbeiten. Als Beispiel diente ihm Lenins Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, worauf auch Macherey Bezug nimmt. (Vgl. Louis Althusser: Widerspruch und Überdeterminierung. In: Für Marx. Frankfurt a. M. 1968, S. 52-85.) 43] 44] 45] 46] 47] 48] 49] 50] 51] 52]

Ebenda. Vgl. Lenin 6, S. 37. Lenin 5, S. 379. Lenin 2, S. 331. Lenin 3, S. 336. Lenin 4, S. 360. Lenin 1, S. 201. Lenin 2, S. 330. Vgl. Lenin 1, S. 198. Das Bild im Spiegel wäre hier vielleicht durch das „Muster im Teppich" zu ersetzen, das Henry James in einer berühmten Novelle anführt.

53] 54] 55] 56] 57]

Lenin 1, S. 201. Ebenda. Ebenda. Lenin, 3, S. 337. Vgl. dazu: Louis Althusser: Marxisme et humanisme. I n : Pour Marx. Paris 1965. 58] Lenin 1, S. 202.

7. Louis Das

„Piccolo",

Althusser

Bertolazzi und. Brecht. Bemerkungen materialistisches Theater

über

Der Text ist ein Nachdruck aus: Alternative, Berlin (West) 1974, 97, S. 130-141, ergänzt um die von uns nachträglich übersetzten Anmerkungen Nr. 1, 5, 6. Titel des Originals: Louis Althusser. Le „Piccolo", Bertolazzi et Brecht (Notes sur un théàtre materialiste). In: Louis Althusser: Pour Marx, Bd. 1 der Reihe Theorie, hg. von Louis Althusser, Paris (Maspero) 1965, S. 129-152. 1] „Episches Melodram"; „schlechtes Volkstheater"; „vergiftende Elendsmalerei aus Mitteleuropa"; „weinerliches Melodram"; „übel-

374

ste Gefühlsduselei"; „ein alter Hut"; „ein Trauerlied für die Piaf"; „ein miserables Melodram, realistische Lobhudelei", (so lauteten einige Formulierungen des Parisien-libéré, des Combat, des Figaro, der Libération, der Paris-Presse und von Le Monde). 2 Giorgio Strehler (geb. 1921): Italienischer Regisseur und Theaterleiter. Leitete bis 1968 das 1947 gegründete Piccolo Teatro della Città di Milano. 3] Carlo Bertolazzi: Mailänder Dramatiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts; er brachte es nur zu einer bescheidenen Karriere, weil er, um dem bürgerlichen Publikum, das damals den Geschmack bestimmte, zu mißfallen, in seinen Theaterstücken auf einem ungewöhnlichen „veristischen" Stil beharrte. 4] Es gibt eine gewisse schweigende Komplizenschaft dieser kleinen Leute, um die Streitenden voneinander zu trennen, um die zu starken Schmerzen zu betäuben, vergleichbar der Komplizenschaft des jungen arbeitslosen Paares, in der alle Unruhe und Wirrnis dieses Lebens zu ihrer „Wahrheit" gebracht werden sollen: zum Schweigen, zum Stillstand, zum Nichts. 5] In der Heiligen Familie (MEW, Bd. 2) findet sich keine ausdrückliche Definition des Melodramas. Marx gibt uns aber seine Genese, deren beredter Zeuge Sue ist: a) In den Geheimnissen von Paris sieht man Moral und Religion „natürlichen" Wesen (die das trotz ihrer Misere und ihres Unglücks sind) a u f e r l e g t . Eine anstrengende Arbeit ! Man braucht dazu den Zynismus von Rodolphe, die moralische Heuchelei des Priesters, alle Requisiten der Polizei, des Gefängnisses, der Internierung usw. Die „Natur" muß schließlich weichen : ein fremdes Bewußtsein wird sie lenken (und die Katastrophen werden sich häufen, damit sie ihr Heil verdient). b) Der Ursprung dieses „Auferlegens" springt ins Gesicht: Rodolphe ist es, der den „Unschuldigen" dieses erborgte Bewußtsein auferlegt. Rodolphe ist weder Volk noch „unschuldig". Aber er will (versteht sich) das Volk „retten", ihm beibringen, daß es eine Seele hat, daß Gott existiert usw. - kurz: er vermittelt ihm, willentlich oder gezwungen, die bürgerliche Moral, die es nachzuahmen hat, damit es ruhig bleibt. c) Man errät, daß Sue's Roman (Marx: „Bei Eugen Sue müssen die Personen [. . .] seine eigene schriftstellerische Absicht, welche ihn bestimmt, sie so und nicht anders handeln zu lassen, als i h r e Reflexion, als das bewußte Motiv ihrer Handlung aussprechen." MEW, Bd. 2, S. 193.) das Geständnis seines eigenen Projektes ist: dem „Volk" einen literarischen Mythos verschaffen, der zugleich Einweisung in ein nötiges Bewußtsein und in das Bewußt-

375

sein, Volk zu sein ist (d. h. „gerettet" zu sein, unterworfen zu sein, gefesselt zu sein, kurzum: ein moralisches und religiöses Bewußtsein). Man kann es nicht deutlicher zum Ausdruck bringen, daß es die Bourgeoisie selbst gewesen ist, die für das Volk den volkstümlichen Mythos des Melodramas erfunden hat, die ihm zu gleicher Zeit die Feuilletons der großen Presse und die billigen „Romane" empfahl (oder auferlegte), da sie ihm die Obdachlosenasyle, die Volksgerichte ( = Mahlzeiten) usw. „bescherte": Also ein ganzes System von wohlüberlegten karitativen Vorbeugungsmaßnahmen. d) Es ist nicht ohne Reiz zu sehen, wie die meisten offiziellen Kritiker ihren Ekel vor dem Melodrama bekunden! So, als hätte die Bourgeoisie in ihnen v e r g e s s e n , daß sie es selbst erfunden hat! Man muß natürlich gerechterweise zugeben, daß diese Erfindung lange zurückliegt: die heute unter das „Volk" verteilten Mythen und Gaben sind ganz anders und viel schlauer organisiert. Man muß auch sagen, daß es im Grunde genommen eine Erfindung für die anderen war und daß es natürlich äußerst deplaziert ist, die guten Werke in der Rezeption plötzlich zu seiner Rechten anzutreffen, oder mir nichts dir nichts auf den eigenen Bühnen paradieren zu sehen 1 Kann man sich z. B. vorstellen, daß heute die Boulevardpresse (der volkstümliche „Mythos" der modernen Zeiten) gebeten wird, am geistigen Austausch der herrschenden Ideen teilzunehmen? Man darf die etablierten Ordnungen nicht vertauschen. e) Natürlich kann man sich auch das erlauben, was man den anderen untersagt (das war früher bewußte Auszeichnung der „Großen"): den Rollentausch. So kann im Spiel eine gehobene Person auch den Dienstbotenaufgang benutzen (und vom Volk ausborgen, was sie ihm gegeben oder überlassen hat). Alles hängt dann vom Verständnis des heimlichen Wechsels ab, seiner Formen und Klauseln: von der Ironie des Spiels, wo man sich beweist (als bedürfe man solchen Beweises . . .), daß man sich nicht übers Ohr hauen läßt, auch nicht durch die Mittel, die man anwendet, um die anderen übers Ohr zu hauen. Man möchte also beim „Volk" schon die Mythen und den Schund ausborgen, die man unter das Volk verteilt hat (oder die man ihm verkauft . . .), allerdings unter der Bedingung, daß sie angemessen „behandelt" werden. Da finden sich dann sogar zuweilen bedeutende „Behandler" (Bruant, die Piaf usw.) oder auch mittelmäßige (wie Les frères Jacques). Man macht sich „volkstümlich" und kokettiert damit, daß man über seinen eigenen Methoden steht: deshalb muß man VolkSein (oder Nicht-Volk-Sein) spielen, selbst wenn man dem Volk einredet, das Volk des volkstümlichen „Mythos", nach melodrama-

376

tischem Geschmack zu sein. Dieses Melodrama aber verdient nicht einmal eine wirkliche Theaterbühne. Man degustiert es in kleinen Schlucken im Kabarett, f) Daraus schlußfolgere ich, daß weder Gedächtnisschwäche noch Ironie, weder Verabscheuung noch Wohlgefallen auch nur das geringste mit Kritik zu tun haben. 6] „Das wichtigste Merkmal des Werkes ist gerade die brüske Erscheinung einer noch nicht klar definierten Wahrheit [. . .] El Nost Milan ist ein Drama mit verhaltener Stimme, das ständig neu durchdacht, von Zeit zu Zeit präzisiert wird, um gleich wieder verschoben zu werden. Ein Drama, das sich aus einer langen grauen, von einer auffallenden Strähne durchzogenen Linie zusammensetzt. Daher auch erhalten die wenigen entscheidenden Ausrufe Ninas und ihres Vaters einen besonders tragischen Zug [. . .] Um diese verborgene Struktur des Werkes herauszuholen, wurde der Bau des Stückes z. T. verändert. Die von Bertolazzi vorgesehenen vier Akte wurden durch die Zusammenziehung des zweiten und dritten Aktes auf drei reduziert [. . .]" (Aus dem Programmheft der Pariser Aufführung). 7] Man darf nicht glauben, daß dieses Wiedererkennen seiner selbst den Zwängen entgeht, die in letzter Instanz die Ideologie bestimmen. Die Kunst ist ebenso Wille, sich wiederzuerkennen, wie die Selbstbestätigung. So wird also von Anfang an die Einheit (die ich hier, um die Untersuchung zu begrenzen, im wesentlichen als erfüllt' ansehe) - als Teilhabe an Mythen, Themen, gemeinsamen Wünschen: in der die Darstellbarkeit als kulturelles und ideologisches Phänomen gründet - sowohl angestrebt wie zurückgewiesen als auch besiegelt. Anders gesagt, im Bereich des Theaters - oder allgemeiner, der Ästhetik - hört die Ideologie niemals auf, Ort der Infragestellung und eines Kampfes zu sein, wo der Lärm und die Erschütterungen der politischen und sozialen Kämpfe der Menschheit gedämpft oder brutal widerhallen. Ich gebe zu, daß es befremdlich sein mag, rein psychologische Prozesse wie z. B. die Identifikation heranzuziehen, um das Zuschauerverhalten zu erklären, wo doch jeder weiß, daß oftmals solche Prozesse überhaupt nicht in Gang kommen. Weiß man doch, daß es professionelle und andere Zuschauer gibt, die, noch ehe der Vorhang aufgeht, nichts begreifen wollen, oder solche, die bei offenem Vorhang sich beharrlich weigern, in dem vorgeführten Werk bzw. in seiner Interpretation sich wiederzuerkennen. Unnütz, die Reihe der zahllosen Beispiele weiter zu verfolgen. Wurde Bertolazzi nicht von der italienischen Bourgeoisie des ausgehenden 19. Jahrhunderts abgelehnt, und hat sie nicht aus ihm einen Versager und Nichtskönner gemacht? Und wurden Bertolazzi und Strehler nicht selbst hier in Paris, im Juni 1962, von den Meinungsmachern

377

des „Pariser" Publikums verurteilt, ohne gehört, ohne tatsächlich verstanden worden zu sein - während ein breites italienisches Volkspublikum Bertolazzi heute annimmt und anerkennt?

8. Catherine B.-Clément Freud und die künstlerische Praxis Der Text wurde entnommen aus Catherine B. Clément/Pierre Bruno/ Lucien Sève: Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. Paris 1973. Es handelt sich um den Abschnitt Freud et la pratique esthétique aus dem Kapitel Le sol freudien et les mutations de la psychanalyse, S. 8 3 - 9 5 . Der erste Absatz der Übersetzung gehört in der franz. Fassung zu einer dem Abschnitt vorangestellten Einleitung über Die Anwendung der Psychoanalyse. Die dem Standardwerk Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche/ Pontalis entnommenen Anmerkungen zu diesem Text sind als Lesehilfen gedacht, die den im Text verwandten und vorausgesetzten Begriffsapparat erläutern. 1 Affekt wird im Vokabular der Psychoanalyse so definiert: „Durch die Psychoanalyse von der deutschen psychologischen Terminologie übernommener Ausdruck, der jeden affektiven Zustand bezeichnet, sei er peinlich oder angenehm, verschwommen oder näher bestimmt, ob in Form einer massiven Abfuhr oder allgemeinen Tönung sich anbietend. Nach Freud wird jeder Trieb auf den beiden Ebenen Affekt und Vorstellung ausgedrückt. Der Affekt ist die qualitative Äußerungsform der Quantität an Triebenergie und ihrer Variationen" (S. 37). 2 Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 1914, 3, S. 172-201. 3 Es handelt sich um die römische Kirche St. Pietro in Vincoli. 4] Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10: 1913-1917, London 1952, S. 175. 5] Ebenda, S. 188. 6 Unter Verschiebung wird in der Psychoanalyse verstanden: „Tatsache, daß der Akzent, die Bedeutung, die Intensität einer Vorstellung sich von dieser lösen und auf andere, ursprünglich wenig intensive Vorstellungen übergehen können, die mit der ersten durch eine Assoziationskette verbunden sind [. . .] Der Ausdruck .Verschiebung' impliziert bei Freud nicht die Bevorzugung dieses oder jenes Typus'

378

einer assoziativen Verknüpfung, an der entlang er sich vollzieht: Assoziation durch Kontiguität oder durch Ähnlichkeit". Vokabular der Psychoanalyse, S. 603. 7] Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Leipzig-Wien 1919, S. 57 (Schriften zur angewandten Seelenkunde. Hg. v. Sigmund Freud. 7). 8] Ebenda, S. 21. 9 Phantasie wird im Vokabular der Psychoanalyse definiert als: „imaginäres Szenarium, in dem das Subjekt anwesend ist und das in einer durch die Abwehrvorgänge mehr oder weniger entstellten Form die Erfüllung eines Wunsches, eines letztlich unbewußten Wunsches, darstellt. Die Phantasie hat verschiedene Erscheinungsformen: bewußte Phantasien oder Tagträume, unbewußte Phantasien, die, wie es sich durch die Analyse erweist, einem manifesten Inhalt zugrunde liegen, sogenannte Urphantasien" (S. 388). 10 Unter Sublimierung versteht Freud - laut Vokabular der Psychoanalyse - den „Vorgang zur Erklärung derjenigen menschlichen Handlungen, die scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind, deren treibende Kraft aber der Sexualtrieb ist. Als Sublimierungen hat Freud hauptsächlich die künstlerische Betätigung und die intellektuelle Arbeit beschrieben. Der Trieb wird in dem Maße .sublimiert' genannt, in dem er auf ein neues, nicht sexuelles Ziel abgelenkt wird und sich auf ein neues, nicht sexuelles Objekt richtet" (S. 478). 11] Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Leipzig-Wien 1919, S. 71. (Schriften zur angewandten Seelenkunde. Hg. v. Sigmund Freud. 7). 12 Sigmund Freud: Das Motiv der Kästchenwahl. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10: 1913-1917, London 1952, S. 37. 13 Als Psychokritik bezeichnet man eine Richtung «innerhalb der Nouvelle Critique in Frankreich, die, an der Psychoanalyse orientiert, die Einheit des literarischen Werkes aus einem Komplex, einem Trauma seines Autors ableitet, die in Gestalt eines oder mehrerer zentraler Themen im Werk in Erscheinung treten. Hauptvertreter der Psychokritik und der ebenfalls psychoanalytisch orientierten sog. thematischen Kritik sind Charles Mauron, Jean Starobinski, Jean Paul Richard, Jean-Paul Weber. [Vgl. Georges Poulet (Hg.): Les chemins actuels de la critique. Paris 1968], 14] Sigmund Freud: Warum Krieg? Brief an Albert Einstein vom September 1932. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd. 16: 1932-1939, London 1952, S. 25-26. 15] Ebenda, S. 26. 16 Damit ist jene von Freud abgespaltene Linie der Psychoanalyse gemeint, deren Vertreter versuchen, die „Soziologie" Marx' mit der

379

„Psychologie" Freuds zu verbinden, indem sie aus der Unterdrückung bzw. der „Frustration" von Primärtrieben, vor allem der Sexualität, den Inhalt aller bisherigen Kultur machen und den revolutionären Kampf des Proletariats auf das Ziel einer „repressionsfreien Gesellschaft" orientieren wollen. Hauptvertreter: Wilhelm Reich (1897 bis 1957): Massenpsychologie des Faschismus, 1933; Herbert Marcuse (geb. 1898): Triebstruktur und Gesellschaft, 1965. 17 Gemeint ist die Richtung innerhalb der Anthropologie (Ethnologie, Soziologie), die in Frankreich vor allem durch die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss repräsentiert wird. Mit dem ,,Durchbruch" in den Theorien über die Beziehungen Kultur - Sprache ist hier gemeint: Lévi-Strauss betrachtet die in allen menschlichen Gesellschaften gültige Regel des Inzestverbotes (des Ausschlusses der Heirat unter bestimmten Blutsverwandten) als die Grundbedingung menschlicher Kultur, weil sie den Austausch zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und damit das Funktionieren einer Gesellschaft ermöglicht. Die Verwandtschaftssysteme (einschl. Heiratsregeln) funktionieren für Lévi-Strauss als symbolische Systeme, homolog der Sprache, ihre Regeln bleiben den Menschen, die ihnen unterliegen, als solche unbewußt. Aus dieser Perspektive kritisiert Lévi-Strauss die Freudsche Anthropologie - dessen Hypothese vom Vatermord in der Ur-Horde als Ursprung des Ödipuskomplexes — und stellt der biologischen Auffassung des Ödipus (Vererbung der Gedächtnisspuren des Ur-Vatermordes) entgegen, daß der ödipale Prozeß beim Kind ein durch das System der Verwandtschaftsbeziehungen produzierter Struktureffekt ist, indem das Subjekt seinen eigenen symbolischen Status (Tochter, Sohn) innerhalb dieses Systems annimmt. Die Depsychologisierung der psychoanalytischen Theorie des ödipus zugunsten einer strukturalistischen Interpretation ist bei Lévi-Strauss allerdings damit verbunden, daß er die symbolischen Ordnungen (System der Verwandtschaftsbeziehungen, Sprache, Unbewußtes) auf isomorphe mentale Strukturen, auf die menschliche Natur im Sinne von genetischem Code zurückgeführt. (Vgl. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a. M. 1969.) 18 Gemeint ist die Weiterentwicklung und Modifizierung der Psychoanalyse durch Jacques Lacan hinsichtlich der Konzeption des Unbewußten und seiner Beziehungen zur Sprache und hinsichtlich des psychoanalytischen Konzepts „Subjekt". Für Lacan ist das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert, d. h. es arbeitet mit strengen Verknüpfungen seiner Elemente, die durch „Leerstellen" unterbrochen sind, denen der Psychoanalytiker ebensoviel, bisweilen sogar mehr Bedeutung zumißt als dem „vollen" Wortsinn. Vgl. zu Jacques Lacan Anm. 2 zu Text 9. 380

19 Unter Verdrängung wird in der Psychoanalyse verstanden: „Operation, wodurch das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Vorstellungen (Gedanken, Bilder, Erinnerungen) in das Unbewußte zurückzustoßen oder dort festzuhalten. Die Verdrängung geschieht in den Fällen, in denen die Befriedigung eines Triebes der durch sich selbst Lust verschaffen kann - im Hinblick auf andere Forderungen Gefahr läuft, Unlust hervorzurufen. Die Verdrängung ist in der Hysterie besonders deutlich, spielt aber ebenso bei anderen seelischen Affektionen wie auch in der Normalpsychologie eine wichtige Rolle. Sie kann als universeller psychischer Vorgang betrachtet werden, insofern sie der Bildung des Unbewußten als einem vom übrigen Psychischen getrennten Gebiet zugrunde liegt [. . .] Die .Wiederkehr des Verdrängten' [geschieht] in Form von Symptomen, Träumen, Fehlleistungen usw." Vokabular der Psychoanalyse, S. 582 u. 586. 20] Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 16: 1932-1939, London 1952, S. 144. 21 Jules Michelet (1798-1874): Bedeutender franz. Historiker. Repräsentiert die Geschichtsschreibung der Romantik. In einer vergleichenden Analyse von Michelets La Sorcière (Die Hexe) (1862) und Freuds Studien über Hysterie (1895) entwickelt die Verfn. ihre These von den Parallelen zwischen Freud und Michelet. [Cathérine B. Clément: Michelet et Freud. In: Europe 51 (1973) 535/536, S. 112.] 22 Bezieht sich auf Rousseaus Selbstdarstellung in Les Confessions (1781) (Die Bekenntnisse, Leipzig 1965), die zu einem bevorzugten Gegenstand psychoanalytischer Interpretation geworden sind. 23] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW, Bd. 8, S. 115. 24] Friedrich Engels: Vorrede zur dritten Auflage (1885): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von Karl Marx. Ebenda, S. 562.

9. Elisabeth Rondinesco Katharsis, Verfremdimg,

Identifizierung

Der Text wurde uns von der Verfn. im Manuskript für diesen Band zur Verfügung gestellt. Er ist die überarbeitete Fassung des unter dem Titel Catharsis, distanciation, identification in: Action Poétique 1973, 58, S. 5 9 - 6 4 , erschienenen Textes und ist ein Auszug aus dem neuen

381

Buch der Verfn. L'inconscient et ses lettres, Paris 1975. Er wurde von den Herausgebern geringfügig gekürzt. Der franz. Audsruck „identification" wurde immer dann, wenn die Verfn. sich auf seine Verwendung in der Psychoanalyse bezieht, mit „Identifizierung", und wenn sie auf die Brechtsche Verfremdungstheorie anspielt, mit „Einfühlung" übersetzt. 1 Dsiga Wertow (1896-1954) leistete Pionierarbeit für den sowjetischen Dokumentarfilm und begründete die sowjetische Wochenschau. Er schuf u. a. die Filme Ein Sechstel der Erde, Der Mann mit der Kamera, Donbassinfonie, Drei Lieder über Lenin. Die von Wertow geführte Gruppe Kino-Auge trat 1922 mit dem Manifest Wir und 1923 mit einem Manifest über die „ungestellte Kinemathographie" hervor, das unter dem Titel Kinoki-Umsturz erschien und dessen Grundlosung war: „Überrumpeltes Leben" und „Das Leben, wie es ist". „Aber", betonte Wertow, „nicht vom Standpunkt des unvollkommenen menschlichen Auges gesehen, sondern vom Standpunkt des gelenkten Kino-Auges, vom Standpunkt des mit der Kamera .bewaffneten' Auges. Vom Standpunkt der unbegrenzten Möglichkeiten des sich immer mehr vervollkommnenden physikalischen Instruments [. . .] Die Methode des ,Kino-Auges' - eine wissenschaftlich-experimentelle Methode zur Erforschung der sichtbaren Welt: a) auf Grund planmäßiger Festlegung der Fakten auf dem Filmstreifen. b) Auf Grund planmäßiger Organisation des auf dem Filmstreifen fixierten dokumentarischen Materials." Vgl. Dsiga Wertow: Was ist Kino-Auge? In: Film und Fernsehen 1974, 2, S. 38-41. 2 Jacques Lacan (geb. 1901): Franz. Psychoanalytiker; er begründete und repräsentiert die strukturalistisch (an der strukturellen Grammatik und der strukturalen Anthropologie) orientierte Richtung des Freudismus in Frankreich. Eine Sammlung von Aufsätzen Lacans erschien unter dem Titel Ecrits, Paris 1966. Lacans Werk ist wesentlich bestimmt von seiner Kritik an der adaptiven Praxis der Psychoanalyse, des „human engeneering", die vor allem für die USA typisch ist und die in Hartmanns Ego psycbology and the problem of adaptation (Die Psychologie des Ich und das Problem der Anpassung) (1939) ihre theoretische Grundlage fand: Lacan stellt gegen die These eines autonomen und neutralen IchBereichs seine Theorie der komplexen Determiniertheit des Subjektes, das er als Instrument, als Durchgangsort, als „Träger" (support) der Sprache und als Schauplatz der Beziehungen zwischen Symbolischem - Imaginärem - Realem auffaßt. Das „Symbolische" ist die Ordnung der Sprache, ja Ordnung schlecht-

382

hin, im Sinne der strukturalen Anthropologie: „Jede Kultur läßt sich als eine Gesamtheit symbolischer Systeme betrachten, in deren vorderster Reihe die Sprache, die Heiratsregeln, die ökonomischen Beziehungen, die Kunst, die Wissenschaft, die Religion stehen." (Claude Lévi-Strauss: Einleitung zu Marcel Mauss: Sociologie et anthropologie. Paris 1950). Schon vor seiner Geburt ist das menschliche Individuum eingebunden in ein Symbolsystem (ihm ist bereits ein Familien- oder „Vatersname" bestimmt), das es mit der Bewältigung des Ödipus dann annimmt, indem die Identifizierung mit dem Vater -

genauer: mit dem „Gesetz des Vaters", das heißt mit den ge-

sellschaftlichen Gesetzen und Verboten - ihm gestattet, seinen Platz innerhalb des familiären Dreiecks und damit sein Geschlecht, sein Alter, den Generationsunterschied zu akzeptieren. Der Zugang zum Symbolischen (Sprache, sozio-kulturelle Symbolsysteme) ist die Bedingung für die „Subjektivierung" des Subjekts. Es wird ein „besonderes", indem es seinen Platz innerhalb der Zirkulation der Symbole einnimmt, indem es einen Vornamen erhält, den Namen des Vaters trägt, „ich" sagt usw.; kurz: indem die Sprache es repräsentiert, vermitelt. Weil jedoch das Symbol per definitionem verschieden ist von dem, was es repräsentiert, impliziert die symbolische Vermittlung des Subjekts eine Spaltung (fente, division) zwischen der psychischen Realität des Subjekts und seiner sprachlichen Repräsentanz. Die Entwicklung zum „Ich", das heißt, die

Sozialisie-

r u n g des Subjektes, geht einher mit der Bildung des Unbewußten, mit der Verdrängung und Verkennung, mit dem unwiederbringlichen Verlust seiner „Wahrheit"

(vérité), mit dem Auseinanderfall zwi-

schen dem Ich, das spricht gesprochenen Ich -

(Je), Subjekt der Aussage, und dem

„Je", Subjekt des Ausgesagten. Daher ist das

Ausgesagte stets als Rätsel, als zu dechiffrierender Text zu sehen, in dem das (Je) sich verbirgt, in dem das Subjekt sich a 1 s Ich, in dem es s e i n Ich (moi) konstruiert. Dieses m o i kommt zustande über imaginäre Identifizierungen, es ist eine Art Rolle, und es ist der Ort der Täuschung, Verkennung (méconnaissance). Nach Lacan ist jede imaginäre Beziehung ihrem Wesen

nach der Täuschung

preisgegeben, unterliegt sie einer Logik der Illusion, die Lacan als duale Beziehung, als spiegelbildliche Verdoppelung bezeichnet. Das Bewußtsein sieht in seinen Vorstellungen etwas anderes als es selbst, obwohl es in diesem anderen nur es selbst gibt. Die identifizierende Beziehung zum Bild des Ähnlichen -

zu einem anderen, der Ich

ist - ist nur möglich, weil das Ich ursprünglich ein anderer ist. (Dies ist der Fall auf der sog. „Spiegelstufe", die für Lacan die Konstituierungsphase des menschlichen Subjektes ist und zwischen den ersten sechs bis achtzehn Monaten liegt: „Das Kind, das sich

383

noch in einem Zustand der Ohnmacht und der unkoordinierten Motorik befindet, antizipiert imaginär das Ergreifen und die Beherrschung der Einheit seines Körpers. Diese imaginäre Vereinheitlichung geschieht durch Identifizierung mit dem Bild des Ähnlichen als einer totalen Gestalt; die Identifizierung geschieht und aktualisiert sich in der konkreten Erfahrung, bei der das Kind sein eigenes Bild im Spiegel wahrnimmt [. . .] Diese primordiale Erfahrung liegt dem imaginären Charakter des Ichs zugrunde, das von vornherein als .Idealich' und .Ursprung der sekundären Erfahrungen' konstituiert wird [. . .] Nach Lacan ist die intersubjektive Beziehung, soweit sie durch die Wirkungen der Spiegelstufe gekennzeichnet ist, eine duale, imaginäre Beziehung, die sich nur in der aggressiven Spannung vollziehen kann, in der das Ich als ein anderer konstituiert wird und der andere als ein

alter

e g o." (Vokabular der Psychoanalyse,

S. 4 7 4 - 4 7 5 . ) Die Verquickung von Symbolischem

(Subjektivierung) und Imagi-

närem (Ich-Konstruktion, moi) bildet einen Schirm (écran) zwischen dem Subjekt und dem Realen, der die Form eines Phantasiebildes (fantasme) annehmen kann. Unter Phantasie versteht Lacan, wie schon Freud, keine vagen Träumereien, sondern eine feste Struktur, eine invariable Inszenierung der Beziehungen des Subjektes zum Realen, die einen notwendigen Schutz des Individuums darstellt. Verschwindet die „normale" Trennung zwischen Symbolischem/Imaginärem und dem Realen, bricht dieses mit zerstörerischer Wucht herein: „Le réel cause tout seul", sagt Lacan, den Doppelsinn des französischen Wortes causer (reden, verursachen) ausbeutend. Aus der Illusion vom autonomen Ich, das „Herr im eignen Hause" sei, die Erkenntnis der Bedingungen und Formen dieser Illusion zu machen (eine Erkenntnis, die nicht die Illusion auflöst, sondern auf die Veränderung ihrer realen Determinanten verweist), ist ein Ziel der Lacanschen Bewegung „Zurück zu Freud". 3] Les secrets merveilleux du Petit Albert. Paris 1965. 4 Albertus Magnus (eigentlich Albert Graf von Boilstädt; geb. zwischen 1193 und 1207, gest. 1 2 8 0 ) : Deutscher Scholastiker, Dominikaner, Lehrer des Thomas von Aquino; er bemühte sich, nach dem Vorbild

von

Aristoteles,

das gesamte philosophische

und

natur-

wissenschaftliche Wissen seiner Zeit zusammenzufassen und zu vermitteln, wobei er Naturbeobachtung und kirchliche Lehre in Einklang zu bringen versuchte. 5 Die Krankheitsgeschichte der Hysterie zeigt deren enge Verbindung mit der Magie. Freuds Beschäftigung mit dem „Malleus Maleficorum" (Hexenhammer) lehrte ihn, daß dort aufgeführte Merkmale dämonischer Kräfte mit hysterischen Symptomen übereinstimmen. Ein Stu-

384

dienaufenthalt (ab 1885) in Paris in der Klinik von Charcot, der die Hysterie als ernstzunehmende Krankheit behandelte, und die Zusammenarbeit mit Breuer (vgl. Anm. 10) bei der Behandlung von Hysterikern führten Freud zur Entwicklung seiner eigenen Theorie und Methode, der Psychoanalyse. Besonders aufschlußreich wurde für ihn der Fall von Anna O. (Bertha Pappenheim), der als „Keimzelle" psychoanalytischer Therapie gilt. Breuer behandelte Anna O. durch Hypnose und erreichte so, daß sie von zurückliegenden, sie belastenden Ereignissen sprach. Als sie auf traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit der Krankheit und dem Tod ihres Vaters zu sprechen kam, verschwanden die Symptome. Diesen durch das Sprechen erreichten therapeutischen Effekt nannten Freud und Breuer Reinigung oder Katharsis; Anna O. selbst sprach von „chimney sweeping" (Schornsteinkehren; in unserem Text mit „Kehraus" übersetzt). Freud kam im Laufe seiner Beobachtungen zu der Auffassung, daß die Berichte der Hysteriker nicht die Rekonstruktion von Tatsachen, sondern daß sie Phantasien sind, d. h. imaginäre Szenarien, die in entstellter Form Wünsche des Subjektes zum Ausdruck bringen. Hiervon ausgehend entwickelte Freud seine Hypothese vom Unbewußten. Das hysterische Symptom, auch Fehlleistungen, Versprecher, Träume, sind in das Unbewußte verdrängte und von daher nur in deformierter, zu dechiffrierender Form „zurückholbare" Wunschvorstellungen. 6] Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. §3. In: Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 13. 7 „In der Psychologie wird .Übertragung' in verschiedenen Bedeutungen verwendet: Übertragung von Sinneseindrücken (Übertragung einer Wahrnehmung von einem Sinnesgebiet auf ein anderes); Übertragung von Gefühlen und, vor allem, in der Experimentalpsychologie, Übertragung von Lernerfahrungen und Gewohnheiten (die erlangten Fortschritte im Erwerb einer bestimmten Aktivitätsform ziehen eine Besserung bei der Ausübung einer anderen Aktivität nach sich)". In der Psychoanalyse bezeichnet Übertragung „den Vorgang, die unbewußten Wünsche an bestimmten Objekten", so vor allem die Wünsche der Patienten am behandelnden Analytiker, zu aktualisieren. (Vokabular der Psychoanalyse, S. 550.) 8 'Nach Laplanche/Pontalis (Vokabular der Psychoanalyse, S. 247-249) gehört die „kathartische Methode" historisch in die Periode (1880 bis 1895), in der sich die psychoanalytische Heilmethode von der unter Hypnose durchgeführten Behandlung entfernt, wobei eine „Änderung der Perspektive in der Behandlungstechnik" eintritt. In dem Maße, wie die Wirksamkeit der psychischen Verarbeitung und des Durcharbeitens betont wird, ist die Katharsis, „die an das Ab-

25 Bunneistcr/Barck

385

reagieren geknüpft ist, nicht mehr das Hauptmittel der Behandlung. Die Katharsis bleibt darum nichtsdestoweniger eine der Dimensionen jeder analytischen Psychotherapie" (S. 249). 9 Der antike Mythos erlangte zentrale Bedeutung für Freuds Theorie vom Unbewußten, indem er jene Konstellation präfiguriert, die Freud den Ödipuskomplex genannt hat, nämlich die „Gesamtheit von Liebes- und feindseligen Wünschen, die das Kind seinen Eltern gegenüber empfindet. In seiner sog. positiven Form stellt sich der Komplex dar, wie wir ihn aus der Ödipussage kennen: Todeswunsch gegenüber dem Rivalen als Person gleichen Geschlechts und sexueller Wunsch gegenüber der Person des entgegengesetzten Geschlechts. In seiner negativen Form stellt er sich umgekehrt dar: Liebe für den gleichgeschlechtlichen Elternteil und eifersüchtiger Haß für den gegengeschlechtlichen. In Wirklichkeit finden sich beide Formen in unterschiedlichem Grade in dem sog. vollständigen Ödipuskomplex [. . .] Der Ödipuskomplex spielt eine grundlegende Rolle in der Strukturierung der Persönlichkeit und der Ausrichtung des sexuellen Wunsches des Menschen. Die Psychoanalytiker machen aus ihm die Hauptbezugsachse der Psychopathologie, indem sie für jeden pathologischen Typus die Formen seiner Position im Ödipuskomplex und seiner Lösung zu bestimmen suchen. Die psychoanalytische Anthropologie hält daran fest, die trianguläre Struktur des Ödipuskomplexes, dessen Allgemeingültigkeit sie behauptet, in den unterschiedlichsten Kulturen wiederzufinden und nicht nur da, wo die auf Ehe gegründete Familie prädominiert [. . .] Der Ödipuskomplex läßt sich nicht auf eine reale Situation reduzieren, auf die effektive Einwirkung des Elternpaares auf das Kind. Er bezieht seine Wirksamkeit aus der Einführung einer verbietenden Instanz (Verbot des Inzests), die den Zugang zur natürlich gesuchten Befriedigung verschließt und den Wunsch und das Gesetz untrennbar miteinander verknüpft. (Diesen Punkt hat J. Lacan hervorgehoben). Eine solche strukturelle Konzeption des ödipus trifft sich mit der These von Lévi-Strauss, die aus dem Inzestverbot das universale und minimale Gesetz macht, damit aus ,Natur' ,Kultur' werde." (Vokabular der Psychoanalyse, S. 351 u. 355.) 10 Josef Breuer (1842-1925): Österreichischer Physiologe und Internist; verfaßte gemeinsam mit Freud: Studien über Hysterie. Wien 1895. 11] Vgl. Oscar Mannoni: Clefs pour I'imaginaire ou L'autre scène (Schlüssel zum Imaginären, oder: Die zweite Szene). Paris 1969, S. 301-305. 12 Der Begriff der Identifizierung zur Bezeichnung des psychischen Vorgangs, durch den ein Subjekt einen Aspekt, eine Eigenschaft

386

eines anderen assimiliert und sich vollständig oder teilweise nach dem Vorbild des anderen umwandelt, erhielt in Freuds Werk zunehmend zentrale Bedeutung. Die Identifizierung wurde f ü r Freud mehr als nur ein psychischer Vorgang unter anderen: nämlich der Vorgang, durch den das menschliche Subjekt sich konstituiert. 13] Bertolt Brecht: Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Schriften zum Theater. Bd. 3. Berlin-Weimar 1964, S. 168. 14] Ebenda, S. 176. 15 S. in diesem Bd. S. 201. 16 S. Anm. 1 zu Text 8. 17] Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. § 4 5 . In: Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 38. 18] Ebenda, S. 37. 19 S. in diesem Bd. S. 206. 20] Oscar Mannoni: Clefs pour l'imaginaire ou L'autre scène (Schlüssel zum Imaginären, oder: Die zweite Szene). Paris 1969, S. 161. 21 D e r zitierte Ratschlag stammt nicht von Engels, sondern aus einem Brief von Marx (19. 4. 1859) an Ferdinand Lassalle. M E W , Bd. 29, S. 592, anläßlich dessen Drama Franz von Sickingen. Die Kritik von Engels an Lassalles „Sickingen" weist in dieselbe Richtung. So schrieb er am 18. 5. 1859 an Lassalle: „Für m e i n e Ansicht vom Drama, die darauf besteht, über dem Idealen das Realistische, über Schiller den Shakespeare nicht zu vergessen, hätte die Hereinziehung der damaligen so wunderbar bunten plebejischen Gesellschaftssphäre aber noch einen ganz anderen Stoff zur Belebung des Dramas [. . .] abgegeben [. . .]". M E W , Bd. 29, S. 603. 22] Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. § 6 8 . In: Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 57. 23] Oscar Mannoni: Clefs pour l'imaginaire ou L'autre scène. (Schlüssel zum Imaginären, oder: Die zweite Szene). Paris 1969, S. 167. 24 Unter Konversion wird in der Psychoanalyse verstanden: „Mechanismus der Symptombildung bei der Hysterie [• . .] E r besteht aus der Umsetzung eines psychischen Konflikts - und einem damit einhergehenden Lösungsversuch dieses Konflikts - in somatische, motorische (z. B. Lähmung) oder sensible (z. B. umschriebene Anästhesien oder Schmerzen) Symptome [. . .] was die Konversionssymptome kennzeichnet, das ist ihre symbolische Bedeutung: Sie drücken verdrängte Vorstellungen durch den Körper aus." (Vokabular der Psychoanalyse, S. 271.) 25] Oscar Mannoni: Clefs pour l'imaginaire ou L'autre scène (Schlüssel zum Imaginären, oder: Die zweite Szene). Paris 1969, S. 167. 26 Eine Erscheinungsform der Neurose, die Freud anhand von histori25*

387

sehen Dokumenten beschrieb, in: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert (1923). 27] Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. § 47. In: Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 39.

10. Louis Aragon Das Ende der „Wirklichen Welt" Dieser Text ist dem Nachwort entnommen, das Aragon unter diesem Titel der veränderten Ausgabe seines Romanwerkes Les Communistes 1968 beigab: Louis Aragon: La fin du „Monde Réel". Postface. In: Les Communistes. Bd. 4. Paris 1968, S. 410-414 und S. 434-443. 1 Honoré d'Urfé (1567-1625): Autor des berühmten Schäferromans Astrée (1607, 1610, 1619). 2 Rousseaus Roman La Nouvelle Héloïse (Die neue Heloise) erschien 1761. Rousseau griff damit die Ständeordnung des Ancien Regimes an und entwarf ein Idealmodell bürgerlicher Gesellschaftsbeziehungen. 3 James Bond: Zentrale Heldenfigur in den nach dem Fließbandschema fabrizierten faschistoiden Kriminalromanen des englischen Autors Jan Fleming, der den ersten Band seiner berüchtigten Serie 007 1953 veröffentlichte (Casino royal). - Eine kritische Analyse des Phänomens findet sich in dem von dem italienischen Semiatiker U. Eco hg. Band II Caso Bond (Der Fall Bond), Mailand 1965. (Vgl. auch von U. Eco: Die Erzählstrukturen bei Ian Fleming. In: J. Voigt: Der Kriminalroman. Bd. 1. München 1971, S. 250-293.) 4 Paul Adam (1862-1920): Franz. Schriftsteller zwischen Naturalismus und Symbolismus. 5 Henri de Régnier (1864-1936): Franz. Dichter des Parnasse, der sich dann den Symbolisten anschloß. 6 Berühmte franz. Kriminalromanfigur, die 1911 von den beiden Autoren Marcel Allain und Pierre Souvestre geschaffen wurde. Fantomas ist der Techniker des perfekten Verbrechens. Der Erfolg des ersten Buches veranlaßte die Autoren zu einer ganzen Romanserie, die zu den Klassikern des Kriminalromans gehört. 7 Figur in franz. Abenteuerromanen der Jahrhundertwende. 8 Raymond Roussel (1877-1933): Autor von Texten, die nicht mehr als Romane zu bezeichnen sind: Impressions d'Afrique (Afrikanische Eindrücke) (1910); Locus Solus (Einsamer Ort) (1914); Nouvelles Impressions d'Afrique (Neue afrikanische Eindrücke) (1928) und die potthum erschienene literarische Autobiographie Comment j'ai

388

écrit certains de mes livres (Wie ich manche meiner Bücher geschrieben habe) (1935). Roussel, der die ganze Welt bereist hatte, wurde mit seiner sprach- und formbewußten literarischen Arbeit zu einem wichtigen Anreger für die franz. Avantgarde. Die Surrealisten stellten ihn in eine Reihe mit Lautréamont und sahen in ihm „den größten Beschwörer der Moderne" (André Breton). Auch für den Nouveau roman und den literaturkritischen Strukturalismus in Frankreich wurde Roussel zu einem ständigen Bezugspunkt. 9 Lautréamont, Comte de (1846-1870), eigentlich Isidore Lucien Ducasse: Veröffentlichte 1869 unter dem Pseudonym Lautréamont, bei dem es sich um den permutierten Titel eines Romans von Eugène Sue handelt (Latréaumont, Paris 1838), sein berühmtestes Werk, die Chants de Maldoror (Gesänge von Maldoror). 1870 erschien noch ein Band Poésies. Lautréamont schuf eine radikal neue literarische Sprache, in der die thematische Einheit und die formale Geschlossenheit des Werkes aufgelöst und durch produktive Text-LeserKommunikationen ersetzt wird. Lautréamont probierte in seinen Texten Möglichkeiten aus, durch die sich die Kluft zwischen literarischer Produktion und Rezeption überwinden ließe. Sein poetisches Prinzip spricht sich in den Sätzen aus: „Die Dichtung muß die praktische Wahrheit zum Ziel haben" und „Die Poesie muß von allen gemacht werden. Nicht von einem einzelnen." Lautréamont wurde in seiner Bedeutung erst um 1910 und dann vor allem durch die Surrealisten entdeckt. - Die z. Z. beste Darstellung seines Lebens und Werkes gibt Marcelin Pleynet: Lautréamont par lui-même. Paris 1974 (Ecrivains de toujours. Bd. 74). 10 Aragons Zustimmung zu Garaudys Realismusbegriff, der man nicht den Status einer theoretischen Position zuschreiben kann, entspringt seinem Interesse als Schriftsteller an einer Kulturpolitik und Ästhetik, die der Weite und Vielfalt realistischer Schreibweisen förderlich ist. Aragons Haltung spiegelt aber auch eine damals (vor dem Ausschluß Garaudys aus der FKP) unter Kommunisten verbreitete ambivalente Einstellung gegenüber Garaudys Thesen wider. In einem Rückblick auf die damalige Situation sagte Claude Prévost in einem Interview mit der Nouvelle Critique: „Man darf nicht vergessen, daß Garaudy damals eine .Galionsfigur' war, daß jeder Beitrag von ihm mehr oder weniger als ,Parteistandpunkt' betrachtet wurde. Insbesondere dank der weitblickenden und mutigen Arbeit Lucien Sèves [. . .] bekamen wir Zweifel am Vorgehen Garaudys [. . .] Für mich, der diese Auseinandersetzung ,am Rande' verfolgt hatte, haben sich die Zweifel während der Lektüre von Garaudys Buch Für einen Realismus ohne Ufer (1963) verdichtet. Es muß jedoch betont werden, daß es völlig verfehlt wäre, uns rückwirkend eine

389

totale Klarsicht zuzusprechen. Diese wurde in einem gewissen Maße erschwert durch die Kritik Garaudys an dogmatischen Haltungen, die auch seine eigenen gewesen waren und die ohne Zweifel dazu beigetragen hatten, eine gewisse Anzahl junger Intellektueller [. . .] von der Partei fern zu halten. Wir waren folglich besonders .empfänglich', Garaudys Kritik des Dogmatismus, sagen wir, mit einem positiven Vorurteil aufzunehmen [. . .] Die Lektüre Althussers verhalf mir zu der Einsicht, daß diese Kritik in Wirklichkeit nicht sehr weit ging, da sie in der Weise der U m k e h r u n g stattfand, d. h. nicht wirklich die Ebene wechselte [. . .] Garaudy begnügte sich damit, die dogmatischen Kriterien umzukehren, wo er sie hätte a u s e i n a n d e r n e h m e n müssen." (Claude Prévost/France Vernier: Le Parti, les avant-gardes et l'héritage. In: NC 1973, 67, S. 63. Vgl. auch Anm. 31 zu Text 5.) 11 Geronimo Cardano (1501-1576): Italienischer Mathematiker und Philosoph. 12 Raffaele Bombelli (gest. 1572): Italienischer Ingenieur und Mathematiker. Verfasser eines berühmten Traktats über Algebra (1572). 13 Paul Bourget (1852-1935): Franz Romancier. Vertreter eines reaktionären Traditionalismus. Sein Hauptwerk ist der Roman Le disciple (Der Schüler) (1889). Einer der ersten, der das Phänomen der Dekadenz beschrieb und theoretisch zu verallgemeinern suchte. 14 Charles Nodier (1780-1844): Franz. Dichter der Romantik. 15 Série Noire (Schwarze Serie) wird eine in Frankreich von dem Schriftsteller Marcel Duhamel hg. Sammlung anspruchsvoller Krimis genannt. 16 Nicoiao Tartaglia (1500-1557): Italienischer Geometer. 17 Lewis Carroll (1831-1891), eigentlich Charles Ludwidge Dodgson: Englischer Mathematiker und Kinderschriftsteller. Weltbekannt durch sein Märchenbuch Alice im Wunderland (1865). 18 André Bteton: S. Anm. 27 zu Text 1. 19 Sâr Péladan (das ist Joseph Péladan, 1859-1918): Mystischer katholischer Schriftsteller, der behauptete, ein babylonischer König habe seiner Familie den Titel Sâr verliehen. Autor eines 19bändigen Werkes La Décadence latine (Die lateinische Dekadenz) (1885-1907). 20 Philippe Soupault (geb. 1897): Mitbegründer der surrealistischen Bewegung, (s. Anm. 27 zu Text 1). Verfaßte gemeinsam mit André Breton den ersten surrealistischen Text: Les Champs Magnétiques (Die magnetischen Felder) (1919).

390

11. Pierre

Barbéris

Bausteine für eine marxistische Lektüre literarischen Faktes

des

Dieser Text Eléments pour une lecture marxiste du fait littéraire wurde dem 5. Kapitel aus dem Buch des Verf. entnommen: Pierre Barbéris: Lecture du réel. Paris 1973, S. 244-263. Ihm liegt ein in der NC 1971, 39/40, veröffentlichter Beitrag zu dem von dieser Zeitschrift 1970 veranstalteten Kolloquium (Littérature et Idéologies) zugrunde. 1 Figur aus Stendhals Roman Rot und Schwarz2 Paul Bourget: S. Anm. 13 zu Text 10. 3] Die weiteren Ausführungen gehen auf bereits vorliegende Arbeiten des Verf. zur franz. Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, namentlich zu Balzac, zurück. 4 Julien Sorel: Hauptgestalt aus Stendhals Roman Rot und Schwarz• Lucien de Rubempré: Zentrale Figur aus Balzacs Menschlicher Komödie (1839-1847). 5 Der Machtantritt des „Bürgerkönigs" Louis-Philippe (1830) brachte die Republikaner um die Früchte ihres Sieges über die Restauration; 1832 scheitert eine republikanische Erhebung; 1834 werden republikanische und Arbeiteraufstände in Lyon und Paris niedergeschlagen; 1839 werden die Mitglieder der republikanischen Verschwörung „Société des Saisons" verhaftet (u. a. Auguste Blanqui) ; 1848 wird die erste große Erhebung des franz. Proletariats (Junischlacht) blutig niedergeschlagen; 1871 scheitert die Pariser Kommune. 6 Plein Ciel: Poem aus Hugos Gedichtzyklus La légende des siècles {Legende der Jahrhunderte) (1859), in dem Hugo seinen Glauben an den gleichzeitigen Fortschritt von Wissenschaft und Technik (Aeronautik) und menschliches Verantwortungsbewußtsein verkündet. 7 Roman von Stendhal, 1827 erschienen. 8 Henri Martineau (1882-1958): Franz. Mediziner, Stendhal-Spezialist, leitete die kritische Ausgabe des Gesamtwerkes von Stendhal. 9 In einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Prosper Mérimée (1803-1870), hatte Stendhal erklärt, daß Octave de Malivet, die Hauptfigur seines Romanes Armance impotent war. (Octave verliebt sich in seine Cousine Armance und tötet sich wenige Tage nach der Heirat mit ihr. Das „Geheimnis seines Lebens", das er Armance mitteilen wollte, blieb somit unaufgeklärt und wurde zum Gegenstand unterschiedlicher Deutungen seitens der Literaturkritik). 10 Mathilde de la Mole: Gestalt aus Stendhals Roman Rot und Schwarz• 11 Eigentlicher N a m e Stendhals. 12 Figuren aus Balzacs Romanzyklus Die menschliche Komödie.

391

12. Jean Thibaudeau Lukâcs, „Der historische Roman" und Flaubert Der Text Lukâcs, le „roman historique" et Flaubert wurde entnommen aus: Jean Thibaudeau: Socialisme, avant-garde, littérature. Interventions. Paris 1972, S. 110- 146. Der Text ist identisch mit dem Beitrag Thibaudeaus auf dem von der Zeitschrift La Nouvelle Critique 1970 veranstalteten Kolloquium Littérature et idéologies, der im Protokollband (NC 1971, 39/40) abgedruckt wurde. Der historische Roman von Georg Lukâcs erschien 1937 in russischer Sprache. Die französische Übersetzung, aus der Thibaudeau zitiert, erschien 1965. Alle nicht ausdrücklich nachgewiesenen Zitate stammen aus der 1955 im Aufbau-Verlag erschienenen Ausgabe. Sie sind immer dort in petit gedruckt, wo der Kompositionscharakter des Textes, der als Montage gebaut ist, kenntlich gemacht werden soll. 1 Flauberts historischer Roman Salammbô (1862), der nach einer Tunesienreise entstand, spielt im alten Karthago z. Z. des ersten Punischen Krieges. Die Fabel bildet die Geschichte der Liebe des lybischen Söldnerführers Mâtho zu Salammbô, der Tochter des karthagischen Feldherrn Hamilkar. 2 In Madame Bovary (1857), seinem berühmtesten Roman, entwikkelte Flaubert erstmals seine Methode der „impassibilité", eine distanzierte, gleichsam ungerührte Schreibweise, die ihm einen Prozeß einbrachte, weil er die verwerfliche Handlungsweise der Romanheldin (die Arztfrau Emma Bovary betrügt ihren Mann) ohne erkennbare moralische Entrüstung dargestellt habe. 3 Eine dt. Übersetzung der Education sentimentale (1845; zweite Fassung 1869) erschien unter dem Titel Die Erziehung der Gefühle 1974 bei Rütten & Loening. 4 Thibaudeau verwendet den Begriff der Zensur im Sinne der Psychoanalyse. Freud führte die Auslassungen, Lücken, Verstümmelungen in einer fortlaufenden Rede (oder in einem Text) auf die Existenz einer selektiven Schranke, der Zensur, zurück, deren Funktion es sei, den unbewußten Wünschen und den sich daraus ableitenden Bildungen den Zugang zum System Vorbewußt-Bewußt zu untersagen. 5 Der franz. Dichter Alphonse-Marie-Louis de Lamartine (1790 bis 1868), einer der Hauptvertreter der franz. Romantik, wurde in den vierziger Jahren einer der Führer der gemäßigten Republikaner und nach der Februarrevolution 1848, in der die bürgerliche Republik erkämpft wurde, Außenminister und eigentlich führender Kopf der

392

provisorischen Regierung. Die „sozialen Illusionen" der Republikaner, „diese gemütliche Abstraktion von den Klassengegensätzen", der „Fraternitätsrausch" der Februarrevolution, die „Leuchtkugeln Lamartines" zerplatzten im Juni 1848, verwandelten sich „in die Brandraketen Cavaignacs", als die erste große Erhebung des Pariser Proletariats niedergeschlagen (Junischlacht) und die in der Februarrevolution erkämpften Rechte der Arbeiter (Recht auf Arbeit, Beschäftigung in den neu eingerichteten Nationalwerkstätten, Teilnahme der kleinbürgerlichen Sozialisten A. Albert und Louis Blanc an der provisorischen Regierung) rückgängig gemacht wurden. Damit schwächte die Regierung der kleinbürgerlichen Republikaner einerseits die revolutionäre Arbeiterbewegung in Frankreich, andererseits ihre eigene Position. Nach der Wahl des Neffen Napoleons* Louis Bonaparte, zum Staatspräsidenten (10. 12. 1848) schaltete die von ihm (zunächst) protegierte Ordnungspartei die kleinbürgerlichen Republikaner aus. Die Schwäche der demokratischen Kräfte ausnutzend, unternahm Louis Bonaparte am 2. 12. 1851 einen Staatsstreich, mit dem er die Phase einer monarchistisch verbrämten großbürgerlichen Militärdiktatur einleitete. (Vgl. Karl Marx: Die-Klassenkämpfe in Frankreich. In: MEW, Bd. 7 und Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In : MEW, Bd. 8.) 6 Thibaudeau bezieht sich hier auf Freuds Theorie der Sublimierung (s. Anm. 10 zu Text 8) und auf die psychoanalytische Konzeption des Wunsches (désir) im Unterschied zu „Verlangen" und „Bedürfnis". „Das aus einem Zustand innerer Spannung entstandene Bedürfnis findet seine B e f r i e d i g u n g in der spezifischen Aktion, die das adäquate Objekt beschafft (z. B. Nahrung) ; der Wünsch ist unlösbar mit .Erinnerungsspuren' verknüpft und findet seine E r f ü l l u n g in der halluzinatorischen Reproduktion der Wahrnehmungen, die zum Zeichen (.Erinnerungsbild') dieser Wahrnehmungen geworden sind [. . .] Im Realen ist die Suche nach dem Objekt ganz an dieser Beziehung zu den Zeichen orientiert. Die Anordnung dieser Zeichen bildet das Korrelativ des Wunsches, die Phantasie. Die Freudsche Konzeption des Wunsches betrifft zumal den unbewußten Wunsch, der an unzerstörbare infantile Zeichen gebunden ist." (Vokabular der Psychoanalyse, S. 635-636). 7 Freud unterscheidet in Die Traumdeutung (1900) den manifesten vom latenten Inhalt des Traumes. Der „manifeste Inhalt" ist der Traum, so wie er dem Träumenden erscheint, wie er ihn erzählt, also aus psychoanalytischer Sicht die trügerische, entstellte Version. Der „latente Inhalt" ist die von der Analyse entzifferte korrekte Version. Der latente Inhalt - aus Tagesresten, Kindheitserinnerungen, Körperempfindungen usw. gebildet — ist vor dem manifesten Inhalt da:

393

8 9

10

11

12

die Traumarbeit wandelt den einen in den anderen um. Analytisch gedeutet „erscheint der Traum nicht mehr wie ein Bilderrätsel, sondern wie eine Organisation von Gedanken, wie eine Erzählung, die einen oder mehrere Wünsche ausdrückt." (Vokabular der Psychoanalyse, S. 276). S. Anm. 6 zu Text 8. Drei Erzählungen Flauberts, 1877 erschienen: Un coeur simple (Ein schlichtes Herz), La Légende de Saint Julien l'Hospitalier (Die Legende von Sankt Julien der Hospitale), Hêrodias (Herodes). Karl Wilhelm Meinhold (1797-1851): Deutscher Erzähler, Lyriker und Dramatiker. Sein bekanntestes Werk: Maria Schweidler, die Bernsteinhexe (1843), eine fingierte, in altertümlichem Stil vorgetragene Chroniknovelle, die das Schicksal einer Pfarrerstochter z. Z. des Dreißigjährigen Krieges schildert. Alessandro Manzoni (1785-1873): Lyriker, Dramatiker, Romancier, bedeutendster italienischer Romantiker. Sein Hauptwerk ist der durch Scott angeregte und auf die europäische Romanproduktion der Folgezeit wirkende historische Roman Die Verlobten (1827). Der Hauptvertreter des romantischen Theaters in Frankreich war Victor Hugo. Das Vorwort zu seinem Drama Cromwell (1827) formuliert die Poetik des romantischen Theaters (Verbindung von „Erhabenem" und „Groteskem" gegen die klassische Stiltrennung) und ist dessen Manifest. Mit dem Mißerfolg von Hugos Burgraves (Burggrafen) (1843) kündigt sich der Niedergang des romantischen Theaters an.

13 Mit „Überdeterminierung" oder „mehrfacher Determinierung" (surdétermination) bezeichnet die Psychoanalyse die Tatsache, daß eine Bildung des Unbewußten - Symptom, Traum usw. - auf eine Vielzahl determinierender Faktoren verweist. Dies kann in unterschiedlichem Sinn verstanden werden: 1. Die jeweilige Bildung ist die Resultante mehrerer Ursachen, so daß eine einzige nicht genügt, sie zu erklären. 2. Die Bildung verweist auf mannigfache und bewußte Elemente, die sich in verschiedenen Bedeutungsreihen anordnen, von denen jede auf einem bestimmten Deutungsniveau ihren eigenen Zusammenhang hat. (Vgl. Vokabular der Psychoanalyse, S. 544). 14 Hippolyte Taine (1828-1893): Positivistischer Philosoph und Literarhistoriker. Leitgedanken seines Systems sind: „Die Besonderheit eines einzelnen Autors muß auf dem Kreuzpunkt dreier Koordinanten aufgefunden werden : r a c e , das ist der kollektive Verband, die das Individuum umklammernde Gemeinschaft ; m i l i e u , die Um- und Mitwelt, insofern von ihr Wirkungen ausgehen, und m o m e n t , der geschichtliche Zeitpunkt." (Werner Krauss). Diese drei Faktoten konstituieren den sog. Zeitgeist. Nach der Pariser Kom-

394

muae 1871 rechnete Taine mit dem „Zeitgeist" der Aufklärung, dem „esprit classique", ab und läßt Vernunft nur als traditionsgebunden und als in Traditionen vergegenständlicht gelten, verurteilt den aufklärerischen Fortschrittsglauben. An Taines mechanistisch-psychologischer Gesellschaftskonzeption orientierte sich die naturalistische Poetik Zolas. 15 Ernest Renan (1825-1892): Bedeutendster franz. Orientalist des 19. Jahrhunderts. Sah im Fortschreiten der Wissenschaft und in der Bildung eines jeden Individuums das Ziel der geschichtlichen Entwicklung, in den Religionen legitime Utopien (seit Renan wird in Frankreich Religionsgeschichte als von der Theologie getrennte „positive" Wissenschaft an den Universitäten unterrichtet). Nach 1871 wurde Renan, ebenso wie Taine, Traditionalist; sein zunehmender Skeptizismus manifestiert das Krisenbewußtsein der bürgerlichen Intelligenz nach der Pariser Kommune. 16 John Ford (1568-1640): Englischer Dramatiker. Trat mit dem zitierten Stück (1633) gegen das Verbot und die moralische Verurteilung inzestuöser Liebesbeziehungen auf. 17 Gemeint ist Ancient Society, or Keseatches of the Lines of Human Progress from Savagery, througb Barbarism to Civilization (Die Urgesellschaft oder: Untersuchungen über die Fortschritte menschlicher Entwicklung vom Urzustand über die Barbarei zur Zivilisation) (London 1877) des amerikanischen Ethnologen und Historikers der Urgesellschaft Lewis Henry Morgan (1818-1881). 18] Vgl. Jean Thibaudeau: Notes sur quelques manuels de littérature française depuis 1870 (Bemerkungen zu einigen französischen Literaturlebrbücbern seit 1870). In: Jean Thibaudeau: Socialisme, avantgarde, littérature. Interventions. Paris 1972. 19 S. Anm. 9 zu Text 10. 20 „Symbolismus" bezeichnet eine poetische, literarische und künstlerische Bewegung, die um 1885 in Frankreich entstand (später auch in anderen Ländern auftrat) und sich gegen bestehende Kunstrichtungen (vor allem den Naturalismus, in der Malerei gegen den Impressionismus) wandte. Praktizierte eine neue Auffassung von der poetischen Sprache, die die Dichtung endgültig dem Ausdruck von Gefühlen und damit der romantischen Tradition entzog. Charakteristisch für den Symbolismus sind zwei Züge (schon bei Baudelaire vorhanden, auf den sich die Symbolisten beriefen): i d é a l i s m e (Ideal der Kunstreinheit, p o é s i e p u r e ) und Revolte gegen bürgerliche Lebensformen (Zugang zu unerlaubten Genüssen). - Hauptvertreter des Symbolismus: Verlaine, Mallarmé. 21 Charles Augustin Sainte-Beuve (1804-1869): Bedeutendster Literarhistoriker und Literaturkritiker der franz. Romantik.

395

22 Gemeint ist La tentation de Saint-Antoine (Die Versuchung des Heiligen Antonius) (1874). 23 Bouoard et Pécuchet (1881): Posthum veröffentlichtes, unvollendetes Werk Flauberts. 24 Anspielung auf einen Ausspruch und ein poetisches Prinzip von Lautréamont. 25] Walter Benjamin: Der Autor als Produzent (1934). In: Walter Benjamin: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Leipzig 1970. S. 372. 26 Mit Nouveau roman (Neuer Roman) wird eine Richtung des Romans in Frankreich bezeichnet, die sich vor beinahe zwanzig Jahren profilierte (zunächst Anti-Roman genannt) und deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie Gegenformen zum „traditionellen", d. h. realistischen Roman des 19. Jahrhunderts entwickelt, mit dem Ziel einer nicht-darstellenden, nicht-mimetischen Romankunst, hierin Tendenzen der Lyrik (Symbolismus) folgend. Die Richtung ist in sich jedoch so stark differenziert, so sehr in der Entwicklung begriffen (seit Mitte der sechziger Jahre spricht man bereits von Nouveau nouveau roman), daß das erste Kolloquium, das Praktiker und Theoretiker des Nouveau roman versammelte (Juli 1971), mit der Frage eingeleitet wurde: Gibt es den Neuen Roman? Zu den wichtigsten Vertretern der Richtung gehören: Nathalie Sarraute, Michel Butor, Alain Robbe-Grillet, Bernard Pinguet, Claude Simon, Jean Ricardou, der zugleich der Theoretiker der Richtung ist. (Vgl. Jean Ricardou : Pour une théorie du Nouveau Roman. Paris 1971). 27 Louis Althusser/Etienne Balibar: Das Kapital lesen. Hamburg 1972. S. 17.

13. France Affirmative

Funktionsweise

Vernier

und Funktionsveränderung Literatur

in der

Veröffentlicht als 6. Kapitel in dem Band: France Vernier: L'écriture et les textes. Paris 1973, S. 113-146. Daß die Verfn. die Begriffe T e x t und L i t e r a t u r häufig in Anführungszeichen setzt, hat seinen Grund in einem spezifischen, nicht nur französischen Diskussionszusammenhang. Es wird damit eine kritische Distanz zu einer inflatorischen Tendenz markiert, der diese Begriffe ausgesetzt worden sind. Die Verfn. teilt dazu mit, daß sie sich bewußt abgrenzt von einer Art „Textreligion, die in Frankreich von

396

vielen Theoretikern geschaffen wurde (man spricht von Textologie, Textualität usw.). Der Text ist weder ein metaphysisches ,An-Sich', noch ein geheiligtes Wesen, sondern ein Geschriebenes (écrit), dessen Beziehung zu anderen Schriften sozialer, spezifischer und geschichtlicher Natur ist. Auch der Literaturbegriff wird oft unspezifisch gebraucht, indem man mit L i t e r a t u r eine selten genauer definierte Gesamtheit bezeichnet, die von der idealistischen Kritik immer als evident vorausgesetzt wird." Der Text wurde von den Herausgebern geringfügig gekürzt. 1] Man sehe sich in diesem Zusammenhang Sartres Definition der sog. Thesen-Literatur an, mit der er 1947 die dritte Generation der Schriftsteller der Gegenwart kennzeichnete: „Diese ganze Literatur ist eine Thesen-Literatur, da alle diese Autoren, obwohl sie laut das Gegenteil behaupten, Ideologien verteidigen." (Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay. Hamburg 1968, S. 122). Als gäbe es eine Literatur, die keine Ideologie verteidigte I 2 Der Begriff „récupération" (eigentlich Wiedererlangung, Wiederbekommen), den wir hier durch „Einfunktionierung" wiedergeben, bezeichnet einen ideologischen Vorgang der manipulierenden Aneignung des kulturellen Erbes, geschichtlicher Bewegungen, von Begriffen, wodurch die Bourgeoisie diese für ihr Klasseninteresse verfügbar macht. Gemeint ist damit im Grunde genommen jene Dialektik der Geschichte, von der Lenin sagte, sie ist derart, „daß der theoretische Sieg des Marxismus seine Feinde zwingt, sich als Marxisten zu verkleiden." 3] Vgl. Cathérine Claude: Le phénomène prix littéraires. In: N C 1973, 64, S. 29-40. 4 Hachette-Monopol bedeutet, daß der franz. Verlag Hachette das Vertriebsmonopol für alle franz. Druckerzeugnisse besitzt. Wegen der grünen Umschläge seiner Erzeugnisse der „Grüne Trust" genannt. 5 Dictionnaire Robert: 1959 von Paul Robert veröffentlichtes alphabetisches und analogisches Wörterbuch der franz. Sprache. (Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française). Gilt als Standardwerk. 6] Vgl. dazu den Artikel von Simone Delessalle: Lecture d'un chefd'oeuvre: Manon Lescaut. In: Annales, Mai-August 1971 und den von einem Kollektiv verfaßten Text zum Katalog der Picasso-Ausstellung anläßlich des Pressefestes der Humanité im Jahre 1973. 7] Paul Robert: Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. Paris 1959. 8 Verfn. bezieht sich hier kritisch auf eine idealistische Literaturauffassung, die den Text nur als Manifestation von etwas anderem, ihm

397

voraus Liegendem begreift und damit die eigene Produktivität der Sprache in literarischen Texten immer als zweitrangig behandelt. 9] Vgl. Paul Valéry: Oeuvres Complètes. Bd. I. Paris 1968, S. 775-776. 10] Man müßte wirklich einmal präzisieren, wen dieses „man" repräsentiert und welche wesentlichen Lektürevariationen sich daraus ergeben. 11] Vgl. hierzu die Analyse von Aimé Guedj in: Aimé Guedj/J. Girault: „Le Monde". Critique idéologique et politique d'un journal. Paris 1969. 12] André Lagarde/Laurent Michard: Les grands auteurs français. Bd. 5: XIX. siècle. Paris 1955, &. 304: „Balzac hebt besonders [. . .] die Geldgier hervor, die zeitlos ist" (sie!) und zeigt die „durch die Presse drohenden Gefahren". 13 Die „Texterklärung" („explication de texte" oder „explication française") ist eine in Frankreich zu Beginn des Jahrhunderts entwikkelte Methode des Lesens literarischer Texte, die bis heute das Grundmodell des Literaturunterrichts an den franz. Schulen und Hochschulen darstellt. Es handelt sich um eine werkimmanente Lektüre, bei der vom Leser die „Gabe des selbstauslöschenden Lesens" verlangt wird und die jeden Wirklichkeitsbezug ausklammert. 14] In diesem Sinne läßt sich die „Literatur" in ihrer Funktion mit der Liturgie vergleichen. Vgl. dazu den Aufsatz von Antoine Casanova: Symboles liturgieques et histoire. In: La Pensée 1971, 155, S. 24-54. 15] Dabei trägt auch der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Wissenschaften und dem Fortschritt im kritischen Bewußtsein der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten dazu bei, die expliziten und impliziten Lektürecodes und die Verwendung der literarischen Texte in Frage zu stellen. 16] Eine derartig vollkommen der Funktion und dem Publikum der Universität angemessene „Lektüre" könnte „subversiv" sein, wenn sie in der Grundschule eingeübt würde. Es handelt sich eben um eine Funktionsweise und nicht um irgendein „Wesen". 17] Mon nouveau vocabulaire. (Grundkurs für das erste Schuljahr.) Paris 1965, S. 24-25. 18] Vgl. Abbé Prévost: Manon Lescaut. Paris 1965 (Classiques Garnier). 19] „Der Fremde, das ist der Mensch gegenüber der Welt [. . .]. Der Fremde, das ist auch der Mensch unter den Menschen [. . .], das bin schließlich ich selbst in Beziehung zu mir [. . .]" „Und jetzt verstehen wir (!, - F. V.) ganz den Grundzug von Camus' Roman. Der Fremde, den er schildern will (sie! - F. V.), das ist genau einer jener schrecklich Unschuldigen, die der Skandal einer Gesellschaft sind, weil sie ihre Spielregeln nicht akzeptieren." Jean Paul Sartre: Situations. Bd. 1. Paris 1962, S. 103-104.

398

20 Mit „Ortoli-Montjoie-Bericht" ist der Bericht einer von Pompidou berufenen Expertengruppe gemeint, die die Aufgabe hatte, Rolle und Aufgaben des Staates neu zu definieren. Er wurde im April 1968 veröffentlicht. In diesem offiziellen Dokument der franz. Regierung wurde auch die „industrielle Mission des Erziehungsapparats" festgelegt, d. h. das gesamte Schul- und Bildungswesen wurde dem Profitinteresse der Monopolbourgeoisie und den Konzentrationsprozessen in der Industrie subsumiert. Vgl. die Analyse in der kommunistischen Zeitschrift L'Ecole et la Nation 1970, 185/186. 21] Das geht so weit, daß man in Schulbüchern auf ein erstaunliches Paradox stößt: Schriftsteller sind Leute, die sich besser „ausdrücken" als andere. Um die Tiefe ihrer Werke „zu verstehen", wird der Schüler zu einer wahrhaften Entzifferung gebeten, die ihm die Grundideen im Text ( = die nützlichen Allgemeinplätze), das Wesentliche offenbaren soll. Man tut so, als hätte der „Autor" es viel schwerer, sich auszudrücken als der gewöhnliche Mensch! Wenn man so viele Gedichte schreiben muß und wenn es so viel Arbeit macht, herauszufinden, daß Baudelaires Blumen des Bösen „die Tragödie des menschlichen Wesens" nachzeichnen, die Tragödie des „gespaltenen Menschen, der gefallenen Kreatur, die im ständigen Konflikt zwischen Himmel und Hölle steht" (so in Lagarde/Michard : XIX. siècle. Bd. 5. Paris 1955, S. 430), dann fragt man sich wirklich, wo dieses Genie an Ausdruckskraft ist, das den Dichter auszeichnet! Durch das Gerede von dem geheimnisumwobenen Genie behandelt man den Autor nämlich nur als eine geschwätzige, dunkle und ungeschickte Figur. 22] Vgl. Claude Prévost: Lénine, la politique et la littérature. In: Claude Prévost: Littérature, politique idéologie. Paris 1973. S. 91-153. 23 Die Verfn. bezieht sich im folgenden auf die bekannten Tolstoi-Aufsätze Lenins, die Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre im Mittelpunkt einer in der Nouvelle Critique geführten Diskussion über das Verhältnis von Politik und Literatur und über die Kategorie der Parteilichkeit in der Kunst standen. 24] Genauso wie die Bourgeoisie gegenwärtig auf anderen Gebieten gleichzeitig mit der (angeblichen) Mitbestimmung und der Repression spielt. 25 Les Conuts Lyonnais: Aufstand der Seidenweber von Lyon im November 1831, „die erste Regung der Arbeiterklasse auf dem Kontinent." (Rosa Luxemburg.) 26 Félicité-Robert de Lamennais (1782-1854): Franz. Schriftsteller und Abbé. Einer der Ideologen des christlichen Sozialismus. 1848 Deputierter der konstituierenden Nationalversammlung (Montagne). Hg. der kurzlebigen Zeitschrift Le Peuple (Das Volk) (1848).

399

27 Gemeint: ist die wöchentliche Kolumne des franz. Schriftstellers und Publizisten André Wurmser in der Humanité, die den Titel trägt Mais, dit André Wurmser (Aber, sagt André Wurmser). Wurmset kommentiert darin aktuelle Ereignisse aus allen gesellschaftlichen Bereichen im Stil einer scharfsinnigen Polemik. 28 S. Anm. 11. 29] Christine Glucksmann/Julia Kristeva/Jean Peytard: Littérature, sémiotique, marxisme. Entretien. In: NC 1970, 38, S. 30. 30] Ebenda. 31 Diese Charakteristik stammt von dem Theoretiker des Nouveau Roman, Jean Ricardou. Vgl. Jean Ricardou: Problèmes du Nouveau Roman. Paris 1967, S. 111. 32] Stéphane Mallarmé: Ouvres Complètes. Paris 1945, S. 378. 33 Gemeint ist Lautréamonts Schreibverfahren in dessen Poem Les chants de Maldoror (Gesänge Maldoror s) (1869). 34 Mallarmés Gedicht Toast funèbre (Leichenrede) (1873) ist ein Beitrag zu dem poetischen Nekrolog auf den Tod Théophile Gautiers (23. 10. 1872), wozu der Kritiker Glatigny alle franz. Poeten aufgerufen hatte. Dreiundachtzig Dichter beteiligten sich an dem Band, der am 23. 10. 1873 in Paris erschien. 35] Lautréamonts Chants de Maldoror (Gesänge Maldorors) gelten z. B. als „eine Art frenetisches Epos der Verzweiflung und des Bösen." Vgl. zu dieser Wirkungsgeschichte Rolland Pierre: Isidore Ducasse, Comte de Lautréamont cent ans après. In: NC 1970, 39, S. 65-69. 36 Clair de Terre (Erdenschein) (1923): Poetisches Prosawerk von André Breton. 37 Die feudale Gesellschaft in Frankreich war in drei Stände gegliedert Obwohl herrschende Klasse, bildete der Adel den zweiten Stand, die Geistlichkeit den ersten. Diese beiden Stände genossen vielfältige ökonomische, soziale, juristische Privilegien. Alle Nichtprivilegierten, etwa 25 Millionen Franzosen, gehörten zum dritten Stand. 38] Die Bourgeoisie hat mit den Mitteln der Pejoration, des Lächerlichmachens und der Zensur alle „Ausdrucksmittel" aus der „kulturellen Sphäre" beseitigt, die sie nicht vollständig in den Griff bekam. 39] Georg Lukâcs: Balzac und der französische Realismus. Berlin 1952. S. 15. 40 Mit diesem grundsätzlichen Problem sahen sich die für eine Kulturpolitik der demokratischen Alternative eintretenden franz. Kommunisten besonders durch die Angriffe seitens linksradikaler Verfechter eines idealistischen Konzepts der Kulturrevolution konfrontiert. Besonders im Kreise der Gruppe Tel-Quel (vgl. unsere Einleitung) wird der Standpunkt vertreten, daß eine Revolutionierung der Sprache schon das Vorfeld revolutionärer Praxis schaffe.

400

41] Vgl. dazu die Dokumente der ZK-Tagung der FKP in Argenteuil über ideologische und kulturelle Probleme vom März 1966. 42] Vgl. Roger Fayolle: Sainte-Beuve et le XVIIIe siècle ou comment les révolutions arrivent. Paris 1970.

14. Roger

Fayolle

Über die Herkunft unserer literarischen Ansichten. Zur Problematik des Literaturunterrichts in Frankreich Dieser Text erschien als Supplement unter dem Titel Sur l'origine de nos opinions littéraires (Problèmes de Venseignement de la littérature en France). In: Pratiques. ThéorielPratiquelPédagogie (1974), 1/2. 1 Gérard de Nerval (1808-1855): Franz. Dichter der Romantik. Übersetzte den Faust (1827/1840) und Heines Gedichte (1848). In seiner sprachbewußten Dichtung kündigt sich die Überwindung des Gegensatzes zwischen Volksdichtung und Kunstdichtung an. 2 Lautréamont: S. Anm. 9 zu Text 10. 3 Charles Marie Leconte de Lisle (1818-1894): Franz. Dichter und Ubersetzer (griechische Antike). Vertrat eine „objektive" Lyrik (Poèmes antiques) (Antike Poeme) (1852), wurde zum Anreger der lyrischen Bewegung des Parnasse. (Poèmes barbares) (Barbarische Poeme) (1862). 4 Théodore de Banville (1823-1891): Franz. Dichter des Parnasse, der mit seiner Poetik Petit Traité de versification française (Kleine Abhandlung über die französische Poesie) (1872) die vorsymbolistischen Bestrebungen zusammenfaßte. 5 Réné-François-Armand Sully-Prudhomme (1839-1907): Franz. Dichter und Schriftsteller aus der Bewegung der Parnassiens. Nobelpreisträger (1901). 6 Emile Augier (1820-1889): Franz. Dramatiker. Autor von Sittenkomödien und sozialkritischen Stücken. Trug zu einer realistischen Erneuerung des franz. Theaters im 19. Jahrhundert bei. 7 Ferdinand Brunetière (1849-1906): Franz. Literaturhistoriker und Kritiker mit diktatorischem Anspruch. Begründer einer biologistischen Gattungstheorie, die jedes einzelne Werk ehernen Gattungsgesetzen unterwirft. 8 Dumas der Jüngere (Dumas fils); d. i. Alexandre Dumas (1824 bis 1895), der Sohn des berühmten Dramatikers und Romanciers Alexandre Dumas (1802-1870) und Autor der Kameliendame (1852). 26

Burmcister/Barck

401

9 Maurice Druon: S. Anm. 17 zu Text 1. 10 Henri Pichette (geb. 1924): Franz. Dichter und Stückeschreiber. Vertreter eines poetischen Theaters. 11 Jules Simon (1814-1896): Franz. Dichter und Philosoph. Unter Thiers Erziehungsminister. 12 Der Staatsanwalt Pinard vertrat 1857 nach Erscheinen von Baudelaires Fleurs du Mal (Blumen des Bösen) die Anklage gegen dieses Buch wegen „Gefährdung der öffentlichen Moral". Derselbe Pinard hatte auch den Prozeß gegen Flaubert wegen dessen Roman Madame Bovary (1856) geführt. 13 Antibürgerliche Farce von Alfred Jarry (1896). 14 Jean de La Bruyère (1645-1696): Franz. Philosoph und Moralist Hauslehrer am Hofe des Grafen von Condé. Seine Charaktere (Les Caractères, 1688), eine nach antikem Vorbild (Theophrast) geschriebene scharfe Satire der ständischen Typen in der feudalabsolutistischen Gesellschaftsordnung, bringen zum ersten Mal die Existenz des franz. Volkes, der Bauern, als Vorwurf gegen die feudale Ordnung zur Sprache. 15 Savinien de Cyrano de Bergerac (1619-1655): Franz. Schriftsteller und Theatermann. Freigeist mit materialistischen Zügen. Autor utopischer Romane, in denen das damalige christliche Weltbild kritisiert wird. Anhänger von Gassendi. 16 Pierre Gassendi (1592-1655): Franz. Philosoph und Mathematiker. Kritiker des Descartesschen Dualismus, entwickelte eine empiristische Erkenntnistheorie, die die Auflösung des Aristotelismus entschieden voranbrachte. 17 Die Méditations Poétiques (Poetische Meditationen) (1820) sind der erste Gedichtband Lamartines, der ihn bekannt machte. Die Recueillements poétiques (Poetische Andachten) erschienen 1839. Die Discours sind seine politischen Reden, von denen die Rede gegen die rote Fahne (25. 2. 1848) eine der bekanntesten ist. 18 Jules Ferry (1832-1893): Franz. Politiker. Gehörte zum gemäßigten Flügel der Republikaner. Betrieb als Ministerpräsident 1880/81 die forcierte Kolonialexpansion Frankreichs in Afrika. Unter seiner Regierung wurde die sog. Ferry-Gesetzgebung (16. 6. 1881) erlassen, die die allgemeine Schulpflicht in Frankreich einführte. 19 Pierre Laval (1883-1945): Franz. reaktionärer Politiker. Als Kollaborateur hingerichtet. Betrieb als Ministerpräsident 1935/36 eine Politik der Verständigung mit den faschistischen Regimes in Deutschland und Italien. 20 Poète maudit: S. Anm. 9 zu Text 3.

402

Zu den Autoren

Von den Publikationen werden nur die wichtigsten Arbeiten der Autoren aufgeführt. Althusser, Louis (1918): Philosophieprofessor an der Ecole Normale Supérieure; Mitglied der FKP seit 1948. Publikationen: Montesquieu. La politique et l'histoire. (1959) ; Pour Marx. (1965) (westdt. gekürzte Ausg. 1968); Lire le Capital. Bd. 1 u. 2. (In Zusammenarbeit mit E. Balibar, R. Establet, P. Macherey, J. Rancière, 1965. - 2., veränderte Ausg. 1968, westdt. Übersetzung 1972); Sur la connaissance de l'art. In: NC 1966, 175; Crémonini, peintre de l'abstrait. In: Démocratie Nouvelle (1966); Comment lire le Capital? In: L'Humanité v. 23. 3. 1969; Lénine et la philosophie. (1969); Idéologie et appareils idéologiques d'État. In: La Pensée 1970, 151; Réponse à John Lewis. (1973). Eléments d'autocritique. (1974). Positions (1976). Aragon, Louis (1897): Schriftsteller; Mitglied der FKP seit 1927, des ZK seit 1954; Direktor der Lettres Françaises bis zu deren Einstellung (1972); Träger des Internationalen Lenin-Friedenspreises (1958) und des Ordens der Oktoberrevolution (1972). Publikationen: Das literarische Werk Aragons (Romane, Poesie) liegt bereits in Sammlungen vor: Oeuvres romanesques croisées d'Elsa Triolet et d'Aragon. Paris 1964ff.; L'Oeuvre poétique. Paris 1974ff. Unter Aragons zahlreichen literaturkritischen Schriften sind vor allem wichtig: Heartfield et la beauté révolutionaire. (1935); Réalisme Socialiste, réalisme français. (1937) ; Avez-vous lu Victor Hugo? (1952) ; L'exemple Courbet. (1952) (DDR-Ausg. 1956) ; J'abats mon jeu. (1959) ; Shakespeare et Majakowski. (1955) (DDR-Ausg. 1972) ; Von der Rolle des Schriftstellers. In: Sinn und Form 10 (1958) 3; Je n'ai jamais appris à écrire ou les incipit. (1969). Barbéris, Pierre (1926): Literaturwissenschaftler (Balzac-Spezialist); Professor für franz. Literaturgeschichte an der Ecole Normale Supérieure von Saint-Cloud; Direktor des Zentrums für Romantikforschung; Mitglied der FKP. 26*

403

Publikationen: Balzac et le mal du siècle. (1970); Balzac, une mythologie réaliste. (1971); Mythes balzaciennes. (1972); Le monde de Balzac. (1973); „René" de Chateaubriand. (1973); Stendhal: Oeuvres choisies. (1974); Lectures du réel. (1974); Chateaubriand, à la recherche d'une écriture. (1975). Belloin, Gérard (1929): Kritiker und Publizist. Mitglied der FKP seit 1944; von 1965-1972 Mitarbeiter der ZK-Abteilung für Fragen der Kultur und Wissenschaft; seit 1972 verantwortlicher Kulturredakteur der Wochenzeitschrift der FKP France Nouvelle; Mitglied des Redaktionskomitees von La Nouvelle Critique. Publikationen: Culture, personnalité et société. (1973). Clément, Cathérine (1939): Philosophin; ehemalige Schülerin der Ecole Normale Supérieure; wissenschaftliche Assistentin an der Universität Paris I und Lehrbeauftragte für allgemeine' Literaturwissenschaft an der Universität Paris VIII; Mitglied der F K P ; Mitglied des Redaktionskomitees von La Nouvelle Critique und von L'Arc; Mitglied der Leitung des CERM. Publikationen: Les sciences humaines et l'oeuvre d'art. (In Zusammenarbeit mit anderen Autoren, 1967); Lévi-Strauss ou la structure et le malheur. (1970) ; Pour une critique marxiste de la théorie psychanalytique. (In Zusammenarbeit mit Lucien Sève und Pierre Bruno, 1973); Le pouvoir des mots. (1974); Miroirs du sujet. (1975); Psychanalyse et langage. (1975). Fayolle, Roger (1928): Literaturwissenschaftler; Professor für franz. Literaturgeschichte an der Ecole Normale Supérieure; Mitglied der FKP. Publikationen: Sainte-Beuve et le XVIII e siècle ou Comment les révolutions arrivent (1970); La critique. (1970); D'une histoire littéraire à l'histoire des littératures. In: Scolies 1972, 2 ; La poésie dans l'enseignement: Le cas Baudelaire. In: Littérature 1972, 7. Gisselbrecht, André (1927): Literaturwissenschaftler; Professor für Germanistik an der Universität Paris VIII; Thomas-Mann-Spezialist; Mitglied der FKP und Mitglied des Redaktionskomitees der Nouvelle Critique; Mitarbeiter der Zeitschriften Europé und La Pensée. Publikationen: Pour les quatre-vingts ans de Georg Lukàcs. In: NC 1965, 166; Brecht in Frankreich. In: Sinn und Form 25 (1973) 4. Glucksmann, Christine (jetzt: Buci-Glucksmann) (1941): Philosophin, Dozentin am Lakanal-Lyzeum in Sceaux; Mitglied der FKP; Mitglied des Redaktionskomitees der Nouvelle Critique.

404

Publikationen: Jean-Paul Sartre et le gauchisme esthétique. In: NC 1966, 173/174; La pratique léniniste de la philosophie. A propos d'Althusser. In: NC 1969, 23; Hegel et le marxisme. In: NC 1970; Engels et la philosophie marxiste. Paris 1971; Philosophie et politique. Lenine, Hegel et l'histoire du mouvement ouvrier français. In: Dialectiques 1973, 3; Gramsci et l'Etat. Pour une théorie matérialiste de la philosophie. Paris 1975. Leroy, Roland (1926): Von Beruf Eisenbahner; Mitglied des ZK der FKP seit 1956, des Politbüros seit 1961; Sekretär des ZK für Ideologie und Kultur von 1967 bis 1974; seit 1974 Direktor der Humanité. Publikationen: De l'actualité théâtrale (1969); Lénine et l'art vivant. (In Zusammenarbeit mit anderen Autoren, 1970); Les communistes et la création artistique. (1970) ; Les marxistes et l'évolution du monde catholique. (In Zusammenarbeit mit A. Casanova und A. Moine, 1972) ; La culture au présent. (1972). Macberey, Pierre (1938): Philosoph; ehemaliger Schüler der Ecole Normale Supérieure; wissenschaftlicher Assistent an der Universität Paris I; Mitarbeiter von La Pensée und Les Temps modernes. Publikationen: Lire le capital. Bd. 2. (In Zusammenarbeit mit L. Althusser, E. Balibar, R. Establet, J. Rancière, 1965) ; Pour une théorie de la production littéraire. (1966) (westdt. gekürzte Ausg. 1974); Beitrag zu dem Sammelband: Le centenaire du „Capital". (1969); Einleitung (in Zusammenarbeit mit E. Balibar) zu: Renée Balibar/Dominique Laporte: Le français national (1974) und zu: Renée Balibar: Les français fictifs. (1974) (westdt. Übersetzung in: Alternative 1974, 98). Prévost, Claude (1927); Germanist; Deutschlehrer in Poitiers; Mitglied der FKP seit 1953; seit 1954 Mitglied der Föderativleitung der FKP für das Departement Vienne. Mitglied des Redaktionskomitees der Nouvelle Critique; ständiger Mitarbeiter von France Nouvelle; Autor zahlreicher Aufsätze über DDR-Literatur. Publikationen: Les étudiants et le gauchisme. (1968) ; Les intellectuels et la lutte des classes. (In Zusammenarbeit mit A. Casanova und J. Metzger, 1970) (DDR-Ausg. : Intellektuelle und Klassenkampf. 1975); Littérature, politique, idéologie. (1973); Georg Lukâcs: Les écrits de Moscou. (Hg., eingel. u. übers, v. Claude Prévost, 1974). Übersetzungen: August Bebel: Die Frau und der Sozialismus; Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp; Anna Seghers: Der Aufstand der Fischer. Karibische Geschichten. Roudinesco, Elisabeth

(1944): Psychoanalytikerin; Lehrbeauftragte an

405

der Universität Paris III; Mitglied der Ecole Freudienne de Paris und Mitglied des Redaktionskomitees der Action Poétique; Mitglied der FKP. Publikationen : Un discours au réel. (1974); L'Inconscient et ses lettres. (1975). Tbibaudeau, Jean (1935): Schriftsteller und Kritiker; gehörte bis 1971 der Gruppe Tel Quel an; seit 1968 Mitglied der FKP; Mitglied des Redaktionskomitees der Nouvelle Critique. Publikationen: Une Cérémonie royale. (Roman, 1960); Ouverture. (Roman, 1966); Francis Ponge. (Essay, 1967); Imaginez la nuit. (Roman, 1968); Mai 1968 en France. (1970) (DDR-Ausg. 1973). Eine Sammlung literaturtheoretischer Schriften Thibaudeaus aus den Jahren 1967-1972, darunter: Notes sur quelques manuels de littérature française depuis 1870 und La Commune de Paris et la littérature en France, erschien unter dem Titel Interventions. Socialisme, Avantgarde, Littérature. (1972). Vernier, France (1936): Literaturwissenschaftlerin ; wissenschaftliche Assistentin an der Universität Tours; Mitglied der FKP seit 1968; Mitglied des Redaktionskomitees der Nouvelle Critique. Publikationen: Une science du littéraire est-elle possible? (1972); L'écriture et les textes. (1974).

Personenregister

Achard, Marcel 84 358 Aczèl, György 146 Adam, Paul 238 388 Adorno, Theodor W. 351 Aischylos 111 Albalat, Antoine 309 Albert, Alexandre 393 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d' 356 Allain, Marcel 388 Althusser, Louis 14-19 25-27 50 58 118 126-127 135 221 226 360 364 370-372 374 390 Apollinaire, Guillaume (d. i. Wilhelm Apollinaris de Kostrowitski) 81 248 328 Aragon, Louis 36 46 63 81 84 106 136 148 331 337 356 370 389 Aristoteles 106 222 225 351 384 Artaud, Antonin 46 Arwatow, B. I. 113 364 Auerbach, Erich 108 362 Augier, Guillaume - Victor - Emile 336 401 Awertschenko, A. T. 140-141 151 367 373 Bachelard, Gaston 364 Bachtin, M. M. 60 107 108 361 Balzac, Honoré de 40 105 111 116 138-139 142-144 147 152

185 251 259 269 280 288 290 296 310 315 338 353 391 398 Banu, Jon 128 Banville, Théodore de 335 401 Barthes, Roland 35 3 6 - 3 8 45 59 348 366 Bataille, Georges 46 84 141-142 357 368 Baudelaire, Charles 288 295 335 337-338 340 395 399 402 Baudry, Jean-Louis 348 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 95 277 358 Becher, Johannes R. 363 Belinski, W. G. 278 361 Benjamin, Walter 60 112-113 127-128 293 363 Benveniste, Emile 135 137 Béranger, Pierre-Jean de 90 Bertolazzi, Carlo 187 190 194 197-198 204 375 377-378 Besse, Guy 353 Bidault, Gorges 355 Bierwisch, Manfred 367 Bismarck, Otto von 278 Blanc, Louis 393 Blanqui, Auguste 355 391 Bloch, Jean-Richard 148 370 Bogdanow, A. A. 121 363 Boisdeffre, Pierre de 144 Bombelli, Raffaele 244 246 390 Bontsch-Brujewitsch, W. D. 155

407

Bourdet, Gildas

Colette, Sidonie-Gabrielle

357

Bourget, Paul Braque, Georges

402

356

Brecht, Bertolt

60 62 75 96 104

Conte, Arthur

97 355

106 1 0 9 - 1 1 3 117 119 1 2 7 - 1 2 9

Cook, James

135 141 1 4 7 - 1 4 8 151 1 9 8 - 1 9 9

Cooper, James Fenimore

2 0 1 - 2 0 2 204 207 2 2 1 - 2 2 6 228 bis 233 296 321 331 358 363 Bresson, J . J . de Breton, André

238

Condé, Ludwig II. von Bourbon

244 251 390

354 278-279

282 295 Cyrano de Bergerac, Savinien (d. i.

94 9 6 - 9 7 358

Hector-Savinien

141-142 246-248

Cyrano)

338

402

356 390 400 Breuer, Josef Brik, O. M.

225 3 8 5 - 3 8 6

Dali, Salvador

361 364

Bruant, Aristide

376 336-337

353 401 51

Büchner, Georg Buffon,

276-277

Georges-Louis

Comte de

109 324 363

Deloffre, Frédéric

Brunetière, Ferdinand Bruno, Pierre

356

Dante, Alighieri

Ledere,

Demokrit

314

221

Derrida, Jacques

59

Descartes, René

402

Diderot, Denis

322 338 356

Doblin, Alfred

296

Dobroljubow, N. A.

354

Burckhardt, Jakob

Dos-Passos, John

285 292

Bürger, Peter

352

Butor, Michel

396

Camus, Albert

314 336 398

Dostojewski, F. M.

Cardano, Geronimo

244 2 4 6 - 2 4 7

390

9 9 359

Duhamel, Marcel

390

Dumas, Alexandre 246 390 356

Casanova, Laurent

75 355

Cavaignac, Louis-Eugène Cavalcanti, Guido

Dumas,

393

Charcot, Jean-Martin

Miguel

de

106 3 5 9 361

75 2 1 6

Eisenstein, S. M.

60 109 127 129

94-96

143 296 362 368 Eluard, Paul (d. i. Eugène Grin-

385

del)

243 356

Engelhardt, W . A.

306

Clair, René (d. i. René Chomette)

Engels, Friedrich 123

90 Clément, Cathérine

336

J.)

Einstein, Albert

Chateaubriand, François-René, Vi-

Claude, Cathérine

(d.

Alexandre

364

39 277 288 Chaban-Delmas, Jacques

272

Eichenbaum, B. M.

111 363

Saavedra,

(d. A.)

353 401 bis 337 401

Casanova, Danielle

comte de

7 3 84 337 3 5 4

Duhamel, Jacques

Carroll, Lewis (d. i. Charles Lud-

Cervantes

107 159 282

288 3 6 2 Druon, Maurice

widge Dogson)

361

106 112 147

128

167 3 7 2 52 105 116 118

133-134

138-139

152 169 230 276 284 286 351

304

387

51

408

Fadejew, A. A. 294 Faulkner, William Harrison Fayolle, Roger 14 333 Ferry, Jules 341 402 Feuchtwanger, Lion 270 Feuerbach, Ludwig Andréas 361

146

121

Fischer, Ernst 104 360 Flaubert, Gustave 39 63-64 106 133 268-275 278-279 286 bis 297 336-338 340 392 394 396 402 Fleming, Jan 388 Ford, John 285-286 395 Foucault, Michel 59 364 Fourier, François - Marie - Charles 361 France, Anatole 270 François I (Franz I.) 354 Freud, Sigmund 38 44 4 8 - 5 5 63 75 136-137 173 209-220 222 225 227 231 349 378-381 384 bis 387 392-393 Fuchs, Eduard 113 364 Galilei, Galileo 198-199 228 Gallois, Evariste 246 Garaudy, Roger 12 24-26 28-30 150-151 241 346 371 389-390 Gassendi, Pierre 338 402 Gaulle, Charles-André-Joseph-Marie de 353 Gauss, Cari Friedrich 244 246 Gautier, Jean-Jacques 84 358 Gautier, Théophile 326 400 Génette, Gérard 369 Gide, André 263 Gisselbrecht, André 360 364 Glatigny, Joseph-Albert-Alexandre 400 Glucksmann, Christine Glucksmann) 367

(Buci-

Goethe, Johann Wolfgang v. 106 276-279 281 290-291 Gogol, N. W. 282 Goldmann, Lucien 3 9 - 4 2 48 104 360 Gorki, Maxim 159 162-163 168 282-283 Goutier, Théophil 326 Gramsci, Antonio 15 104 109 113 123-124 134-135 148 Grevin, Alfred 111 363 Grimm, Hans 354 Grimm, Hans und Jakob 214 Guedj, Aimé 322 398 Haby, René 14 Hager, Kurt 20 Harkness, Margaret 105 138 Hartmann, Heinz 382 Hauptmann, Gerhart 275 Heartfield, John 363 Hebbel, Christian Friedrich 276 279 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25 40 50 103 106 110 114-117 144 195 199 204 276 284-287 291 294 297 347 368 374 Heidegger, Martin 144 287 Heine, Heinrich 401 Herzen, A. I. 361 373 Hjelmslev, Louis 109 363 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 107 Homer 272 Huch, Ricarda 269 Hugo, Victor 81 247 322 338 391 394 Husserl, Edmund

144

Ionesco, Eugène 336 Jacobsen, Jens Peter 270 Jacques, Les frères 376 Jakobson, Roman 38 359

409

James, Henry 374 Jarry, Alfred 402 Joyce, James Augustin Aloisius 106 111 144 146-147 296 Kafka, Franz 28 106 111-112 144-145 310 Kant, Immanuel 109 351 Karsz, Saül 347 Kautsky, Minna 105 Klaus, Georg 367 Kleist, Heinrich von 107 Korsch, Karl 25 Krauss, Werner 60 394 Kristeva, Julia 43 323 367 La Bruyère, Jean de 338 402 Lacan, Jacques 4 9 - 5 3 59 137 221 380 382-384 386 Lafargue, Paul 152 Lagarde, André 311 314 326 Lamartine, Aiphonse-Marie-Louis de 273 338 392-393 402 Lamennais, Hugues-Félicité-Robert de 322 399 Laplanche, Jean 136 385 Lassalle, Ferdinand 105 230 387 Lautréamont, Comte de (d. i. Isidore-Lucien Ducasse) 46 239 bis 240 246 288 324-326 328 331 335 389 396 400 Laval, Pierre 341 402 Lebel, Jean-Patrick 368 Léger, Fernand 81 356 Lenin, W. I. 18 24 6 1 - 6 2 65 81 bis 83 105-107 109 112 119 121-123 126 128 131 134 138 bis 141 151-186 238 284 317 319-321 329 364 367 372-373 397 399 Leonardo da Vinci 212-213 Lermontow, M. J. 361 Leroy, Roland 16 20 22 50 354 371

Lessing, Gotthold Ephraim 106 276 Lévi-Strauss, Claude 59 369 380 386 Lewis, John 27 Lifschitz, M. A. 105 278 360 Lisle, Charles-Marie-René, Leconte de 335 401 Littré, Emile 246 Lotman, J. M. 118 136 Louis X m . (Ludwig XIII.) 354 Louis-Philippe (Ludwig-Philipp) 391 Lukäcs, Georg 25 28 3 9 - 4 1 60 bis 61 6 3 - 6 4 103-112 114-117 121-123 133 141 145 147-148 249 253 256 269-271 275-279 281-284 286-297 331 351 361 392 Luxemburg, Rosa 140 399 Macherey, Pierre 63 374 Magnus, Albertus (d. i. Albert Graf von Boilstädt) 221 384 Majakowski, W . W . 104 112-113 296 361 Mallarmé, Stephane 46 246-247 288 297 324-327 331 336 395 400 Mallet, Serge 12 Malraux, André 357 Malthus, Thomas Robert 353 Mann, Thomas 106 111 145 Mannoni, Oscar 225 230 232 Manzoni, Alessandro 277-278 282 394 Mao Tse-tung 367 Marchais, Georges 76-77 Marcuse, Herbert 48 380 Marivaux, Pierre-Carlet de Chamberlain 84 143 277 357 Martin du Gard, Roger 106 146 251

410

Offenbach, Jacques Ortoli 315 399

Martineau, Henri 263 391 Marx, Karl 26 36 40 50 52 71 73 75 8 1 - 8 2 103 105-106 110 113 119-121 123 133-134 136 138 149 152 195-196 199 218 bis 219 251 273 284 297 317 321 351 364 375 379 387 Maupassant, Guy de 269-270

214

Pascal, Biaise 310 319 338 Pasternak, B. L. 361 Pasteur, Louis 72 354 Péladan, Sâr (d. i. Joseph Péladan) 247 390 Perse, Saint-John 28 Piaf, Edith (d. i. Edith Gassion) 375-376 Picard, Raymond 314 Picasso, Pablo 28 75 81 84 247 356 397 Pichette, Henri 337 402 Pinard, Ernest 402 Pinguet, Bernard 396 Piscator, Erwin 363 370 Pjatigorski, A. M. 118 Platon 221-222 310 351 Plechanow, G. W. 104 107 116

272 279 Mauron, Charles 379 Mehring, Franz 140 148 364 Meinhold, Karl Wilhelm 275 394 Mérimée, Prosper 263 280 391 Merleau-Ponty, Maurice 48 Messmer, Pierre 355 Metz, Christian 367 Meyer, Conrad Ferdinand 270 278 286 295 Meyerhold, W. E . 362 Michart, Laurent 311 314 326 Michelangelo 209-212 Michelet, Jules 218 319 381 Milhau, Jacques 20 Molière (d. i. Jean Baptiste Poquelin) 84 200 249 277 319 324 338-339 Montaigne, Michel de 310 338 Mont joie 315 399 Morgan, Lewis Henry 395 Moussinac, Léon 148 370 Mozart, Wolfgang Amadeus 339 Musil, Robert 296

139 148 152 Pleynet, Marcelin 348 368 Politzer, Georges 50-51 148 349 bis 350 369 Poliwanow, E. D. 364 Pompidou, Georges 353 354 355 399 Ponge, Francis 136 Pontalis, Jean-Bertrand 136 385 Prévost, Claude 28 319 389 Prévost d'Exilés, Antoine-François

Napoleon I. Bonaparte 267 Napoleon III. Bonaparte 281 292 393 Nerval, Gérard de (d. i. Gérard Labrunie) 246 335 401 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 275 285 292 295 Nizan, Paul 148 370 Nodier, Jean - Charles - Emmanuel 245 390

(Abbé Prévost) 310 362 Proudhon, Pierre-Joseph 355 Proust, Marcel 111 238 273 Puschkin, A. S. 278 282 Rabelais, François 237 277 324 338 Racine, Jean-Baptist 39 338 Raddiffe, Anne 279 Reed, John 169

411

Régnier, Henri-François-Joseph de 238 388 Reich, Wilhelm 48 380 Renan, Joseph-Ernest 285 395 Ricardou, Jean 348 396 400 Richard, Jean-Paul 379 Rimbaud, Jean-Nicolas-Arthur 246 288 Risset, Jacqueline 348 Robbe-Grillet, Alain 105 255 336 396 Robel, Léon 367 Robert, Paul 305 308 397 Roche, Denis 348 Rochet, Waldeck 76 126 356 Rolland, Romain 277 Rosenberg, Alfred 369 Rousseau, Jean-Jacques 218 237 250-251 257 381 388 Roussel, Raymond 238 388-389 Royer, Jean 98-99 Sabbagh, Pierre 97 Sade, Donatien-Alphonse-François de 105 288 360 Saint-Just, Louis-Antoine de 333 Sainte-Beuve, Charles-Augustin de 288 290 333 353 395 Sarraute, Nathalie 396 Sartre, Jean-Paul 25 33-37 48 56 146 310 314 370 397 Saussure, Ferdinand de 36 59 366 bis 367 Schiller, Friedrich 106 276-277 387 Schklowski, W. B. 106 108-109 359 361 364 Schnitzler, Arthur 296 Scholochow, M. A. 146 Scott, Walter 106 267 278-281 287 290-292 294 394 Seghers, Anna 106

Sève, Lucien 24 26-68 50-51 389 Shakespeare, William 54 129 200 214 230-231 272 278-279 290 387 Sickingen, Franz von 105 387 Simon, Claude 396 Simon, Jules 337 402 Sollers, Philippe 348 Solshenizyn, A. I. 315 Sophokles 54 285 Soupault, Philippe 248 356 390 Souvestre, Pierre 388 Spitzer, Leo 108 362 Stalin, J. W. 23-24 Starobinski, Jean 379 Stendhal (d. i. Marie-Henri Beyle) 39 142 171 239 251 259 263 269 280 335 391 Strehler, Giorgio 187 190 194 197 207 375 Sue, Eugène 152 195-196 375 389 Sully-Prudhomme, René-FrançoisArmand 335-336 401 Taine, Hippolyte 285 394-395 Tartaglia, Nicoiao 245 390 Thalheimer, August 364 Thibaudeau, Jean 61 63 348 392 bis 393 Thiers, Adolphe 402 Thomas von Aquin 384 Thorez, Maurice 69-70 352 Tolstoi, L. N. 62 107 111 134 139-140 143 147 150 152-166 170-186 269 278-279 282 320 bis 321 329 361 363 373 399 Tretjakow, S. M. 60 109 361 bis 362

412

Triolet, Elsa (d. i. Elsa Brick) 243

89

Trotzki, L. D. (d. i. Leib Bronstein) 139 Tschechow, A. P. 159 Tschernyschewski, N. G. 361 Tynjanow, J. N. 103 106 108 113 118 359 364 Urfé, Honoré d' Uspenski, G. I.

237 388 166 373

Vaillant-Couturier, Paul 21 Valéry, Paul-Ambroise 310 Vallès, Jules 333 Vandurski 370 Verlaine, Paul 338 360 395 Verne, Jules 238 Vernier, France 14 Vilar, Jean 94 358 Vildrac, Charles (d. i. Charles Messager) 313

Vogt, Karl 354 Volpe, Calvano della 103 105 bis 106 109-110 360 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 277 322 338 Wagner, Richard 275 286 Weber, Jean-Paul 379 Weimann, Robert 367 Wertow, Dsiga (d. i. Dsiga Kaufmann) 221 382 Wolf, Friedrich 363 Wurmser, André 322 400 Wygotski, L. S. 108 362 Zola, Emile 106 144 260 286 288 295 395

Für die Veröffentlichungsrechte danken wir den Verlagen Editions Sociales, Paris (Texte 2, 8, 11, 12, 13); Editions du Livre, Paris (Text 10); Editions Larousse, Paris (Text 14);

sowie den Zeitschriften Nouvelle Critique (Texte 1, 3, 4, 5); Action Poétique (Text 9).

Die Verlagsrechte der deutschsprachigen Fassung der Aufsätze von Louis Althusser: Das „Piccolo", Bertolaagi und Brecht. Bemerkungen über materialistisches Theater, (Text 7), und von Pierre Macherey: Lenin als Kritiker Tolstois, (Text 6), liegen bei der wissenschaftlichen Taschenbuchreihe collection alternative (im Luchterhand Verlag), Berlin (West). Wir danken der Herausgeberin und Rechtsinhaberin, Hildegard Brenner, Qr die Druckerlaubnis.

In der gleichen Schriftenreihe sind u.a. erschienen: Werner Lenk „Ketzer"lehren und K a m p f p r o g r a m m e Ideologienentwicklung im Zeichen der frühbürgerlichen Revolution 1976 • 224 Seiten • 7 - M Christel Hoffmann Theater f ü r junge Zuschauer Sowjetische Erfahrungen — sozialistische deutsche Traditionen — Geschichte in der DDR 1976 • 252 Seiten • 8 , - M Simone Barck J o h a n n e s R. Bechers Publizistik in der S o w j e t u n i o n 1935-1945 1976 • 259 Seiten • 8,50 M Gerda Heinrieb Geschichtsphilosophische Positionen der deutschen Frühromantik 1976 • 261 Seiten • 8,50 M Positionen polnischer Literaturwissenschaft der G e g e n w a r t Methodenfragen der Literaturgeschichtsschreibung 1976 • 293 Seiten • 9,50 M Fritz Mierau E r f i n d u n g und K o r r e k t u r Tretjakows Ästhetik der Operativität 1976 • 321 Seiten • 10,50 M Werner Babner F o r m e n , Ideen, Prozesse in den Literaturen der romanischen V ö l k e r Band 1: Von Dante bis Cervantes 1977 • 285 Seiten • 9 , - M Streitpunkt V o r m ä r z Beiträge zur Kritik bürgerlicher und revisionistischer Erbeauffassungen 1977 • 324 Seiten • 10,50 M