Kritik der Abenteuer-Ideologie: Teil 1 [Reprint 2021 ed.] 9783112471968, 9783112471951


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Kritik der Abenteuer-Ideologie: Teil 1 [Reprint 2021 ed.]
 9783112471968, 9783112471951

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Michael Neriich

Kritik der Abenteuer-Ideologie

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Michael Neriich

Kritik der Abenteuer-Ideologie Beitrag %ur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung noo-iyjo Teil 1

Akademie-Verlag • Berlin T

977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—i © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 . 100/219/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4933 Bestellnummer: 752 998 0 (2150/44/1 u. 2) • LSV 8057 Printed in GDR DDR 18,50 M für Teil I und II

Inhalt

.Erster Teil 'Einleitung

11

Das Abenteuer des Chevalier Vom Fatum zum Abenteuer Ritter, König und Vilains Aventure ohne Maske Wie abenteuerlich war die Aventure? Vom unhöfischen Ritter zum ritterlichen Höfling Aventure und Mervoille Von der Aventure-Ideologie zur Ideologie des Courtisan. . Der Beutekrieg Vom Ritter zum Landsknecht

21 25 26 28 29 32 34 36 38

Das Abenteuer des Hidalgo Der Ritter in der Wirklichkeit Caballero — Hidalgo Die höfische Erziehung des Caballero Der Hidalgo und die Herausbildung der spanischen Nation „Tirant lo Blanc" Vom Hidalgo zum Soldaten Wohin mit dem Hidalgo? Wer nicht übers Meer fährt, besteht keine Abenteuer . . . Ritterdämmerung und Ritterroman

42 44 45 47 48 51 51 53 54

Konterrevolutionäre Kitterabenteuer-Ideologie Zum spanischen Ritterroman Ritter, Höfling, Heros Das tragische Abenteuer Der optimistische Tod Don Quijotes Der Held im Niemandsland

56 60 62 66 68

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Der abenteuerliche Fürst Die Geburt des Condottiere Der Condottiere als Fürst

74 76

Das Geschäft des Adventurers Die ökonomische Aventure Li borjois Chevalier Die Chevaliers du Commerce Das geheiligte Risiko Die Merchant Advcnturers Zum Aufstieg des Bürgers in der Literatur Fortunatus Der Zuhälter als Finanzexperte Die Zauberbörse der Fortuna Vom verrückten Kapitalisten zum rationalen Schatzbildner Die Ubiquität des Kapitalisten Neue Dimensionen des Klassenkampfes

81 83 85 86 89 93 98 105 106 107 109 111

Die Zeit, die Kiesen zeugte Der genossenschaftliche Abenteurer Zur Demontage des Raubtier-Mythos Die kleine genossenschaftliche Räuberei Die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära . . . Wucher hemmt den Unternehmergeist Vom kleinen und vom großen Dieb oder die Angst vor der Anarchie Utopiä oder der Versuch, die Anarchie zu bändigen . . . . Gelächter oder die grundsätzliche Bejahung der Anarchie Pantagruel und Panurge

113 116 121 124 129 138 140 145 150

Der Merchant Adventurer geht von Bord Die dreifache Geburt des Kapitalisten Die Kehrseite der kapitalistischen Anarchie Von gorgel- und kegelstechern Adventure-Lehrlinge und Konkurrenz Merchant Adventurers und Entdecker-Abenteurer Der Feudaladel als Adventurer Klassenantagonismen im Zauberwort Falstaff oder die Demontage des Ritterabenteurers Der Merchant Adventurer als Venezianer 6

154 159 163 170 . . . . 176 181 184 . . . . 187 ; 1 9 1

Die Melancholie des seßhaften Bruders Der Bolzen des Antonio Homo novus Antonio versus homo antiquus Shylock . . . Antonio hat das blutigste Gesicht Falstaff international Kritik der höfischen Abenteuer-Ideologie und Lob des bürgerlichen Risikos Belmont oder die bezwungene Fortuna Die schöne Jüdin und der Narr

195 200 208 212 219 222 229 239

Von der Verherrlichung der Adventure £ur These vom bellum omnium contra omnes Die konterrevolutionäre Denunziation der bürgerlichen Adventure Die vergebliche Reaktion oder neue Dimensionen des Abenteuers Mechanik versus Abenteuer? Zu Borkenaus Versuch, Marx mit Max Weber zu revidieren Salomons Haus Der Krieg aller gegen alle Der Abenteurer hat das Recht auszubeuten Anmerkungen

244 248 257 264 266 271 279

Zweiter Teil Abenteuer in bürgerlicher Ordnung Locke als Theoretiker des Klassenkompromisses Der faule Frieden der „nützlichen Konkurrenz" Der Adventurer im Klubsessel Habakuk redivivus Ein Abenteurer, von Haus aus bescheiden Glücksanspruch, nicht Glücksverheißung Von der Taille aufwärts nackt Der Abenteuerelan der Unterwelt Abenteuer aus krankhafter Wanderlust Der Abenteurer als Angestellter der Yahoos Das Abenteuer in der geistigen Welt Die erste Systematisierung des Abenteurers 7

329 334 339 343 350 353 354 357 359 362 366 369

Die Metamorphosen des Chevalier Zur ursprünglichen Akkumulation in Frankreich Der Amtsadel als revolutionäres Element Le Roi absolu à la quête de l'aventure Vom Chevalier zum mythischen Heros Die Konzentration am Hof Epos ohne Aventure Der Chevalier im Salon Die Aventure und die Regeln der Tragödie Der Honnête Homme oder die Herausbildung lich-aristokratischen Anti-Abenteuer-Denkens

374 376 379 382 387 391 394 397 bürger400

Zu den Grundlagen der modernen Abenteuer-Ideologie in Frankreich La cour, la ville et le monde infini Die unaufhebbare Bewegung Erster Auseinanderfall der Allianz von Königtum und „revolutionären Elementen" der Bourgeoisie Colberts Plädoyer für die Teilnahme der absoluten Monarchie an der ursprünglichen Akkumulation Die Erneuerung der Allianz Der aktive Honnête Homme Agnès oder die Botschaft von einer besseren Welt . . . . Porträt eines „revolutionären Elements" . Wucher hemmt auch in Frankreich den Unternehmergeist . Zum Problem des „Volkes" in Molières Werken Alceste oder der Optimismus Der janusköpfige Colbert Der Honnête Homme als Kaperer . Der Aventurier im Dienst der absoluten Monarchie . . . .

403 405 407 410 412 414 417 422 427 431 433 436 439 444

Der Verfall der Allianz und Auszug des Adels Die mißglückte Integration der ursprünglichen Akkumulation Jacques de Caillière und die Noblesse commerçante . . . . Glücksritter, Gauner, Scharlatane Der Courtisan ist kein Honnête Homme Das Wagnis zum Tod oder der sinnlose Widerstand . . . .

447 451 455 458 464

Der Verfall der Allianz und Herausbildung der antiabsolutistiscben Opposition Zur bürgerlichen Opposition am Ende des 17. Jahrhunderts

8

468

Zu den Schwierigkeiten beim Denken, Sagen und Schreiben der Wahrheit in der absoluten Monarchie in Frankreich . . Zur Allianz von feudal-aristokratischer und bürgerlicher Opposition Die imaginäre Reise in die reale Welt

471 475 478

Der Verfall der Allianz und Aufstieg des Commerçant Reale Bewegung und Aventure Der revolutionäre Drahtseilakt der Bourgeoisie Die Honnêteté als Waffe oder die Säkularisierung der Rittertugenden Klippen, Stürme und Piraten: zur „Noblesse commerçante" des Abbé Coyer Apologie der Konkurrenz Z u m Doppelspiel der Bourgeoisie Der Räuber als Freiheitsheld Der honnête philosoph als Propagandist der Piraterei . . . Die Apotheose des Aventurier Vor einer neuen Menschheitsepoche

502 505 508 512 515 518 522

Anmerkungen

527

Personenregister

557

485 488 496

Einleitung

„Das falsche Wunderbare hatte einmal etwas Achtes, Wahres zum Grunde, wo das Ungeheure gewiß zureichenden Grund in der würklichen Natur hatte . . . Das hieß nun eben damals Abentheuer (Aventhura). Ursprünglich blos das Wohlgelingen einer kühnen Unternehmung, denn insonderheit Ritterunternehmungen, Turniere, Kämpfe . . . galante Kämpfe . . . das war einmal die Hauptidee des Worts, das so mancherlei Schriften, Gedichte, Romane und Geschichten der mittlem Zeiten durchgehet . . . Wir wünschten wahrlich eine philosophische Geschichte des Abentheuers. Welche Neigungen und Phantasien zu gewissen Zeiten dazu beigetragen? wodurch auf die Wege geleitet? und so ausgebrochen? — Wie nach den Gesetzen der Einbildung und Umständen der Geschichte sich dergleichen Ideen und so haben durcheinander schlingen können — Liebe, Religion, Tugend, Keuschheit u. s. w. und wie nun durch die Völkermischung, Zeitenänderung sich auch das Maaß dieser und jener geändert? Durch welche Mittel Frankreich z. E. aus dem eigentlichen Geschmacke des Abentheuers herausgekommen? wo und aus welchen Gründen noch Reste in Europa seyn könnten?" Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. Bernhard Suphan, Bd. 5, S. 383-384.

A u s g a n g s p u n k t der v o r l i e g e n d e n A r b e i t zur K r i t i k der A b e n t e u e r Ideologie w a r die A n a l y s e der aktuellen A b e n t e u e r - V e r h e r r l i c h u n g i m Kapitalismus in ihren verschiedensten E r s c h e i n u n g s f o r m e n , w a r ihre E n t w i c k l u n g im 1 9 . J a h r h u n d e r t im Z u s a m m e n h a n g mit der Herausbildung des Imperialismus, w a r ihr Ü b e r g a n g in die faschistische Führerideologie, w a r ihr Einsatz zur R e v i s i o n u n d V e r f ä l s c h u n g des historischen und dialektischen Materialismus, w a r die millionenfache u n u n t e r b r o c h e n e V e r b r e i t u n g dieser das kapitalistische System stabilisierenden, antifreiheitlichen, antikommunistischen A b e n t e u e r - V e r h e r r l i c h u n g in allen ihren V a r i 11

anten: von der Glorifizierung des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion und die Zerstörung der halben Welt als dem „großen soldatischen Abenteuer" bis zur Verherrlichung des Vietnamkrieges als „prächtigem Abenteuer", vom bürgerlich-philosophischen Traktat bis zur Warenreklame (wobei zwischen dieser und zeitgenössischen „philosophischen" Traktaten bisweilen kaum noch Unterschiede bestehen). Daß diese menschheitsfeindliche Abenteuer-Verherrlichung im Namen des „freien Gedankenaustauschs" auch und vor allem in die sozialistischen Staaten exportiert werden soll, ist angesichts der Vorliebe bürgerlicher Ideologen, die sozialistische bzw. kommunistische Arbeiterbewegung und ihre wissenschaftliche Weltanschauung mit der praktischen und ideologischen Anarchie in allen ihren Spielarten zu bekämpfen, naheliegend. Wenn ich dennoch den Plan, ein bereits existierendes Manuskript über die m o d e r n e bürgerliche Abenteuer-Ideologie zum Druck vorzubereiten, zurückstellte und mich der geschichtlichen Entwicklung der Abenteuer-Ideologie zuwandte, so nicht zuletzt, weil ich in unzähligen Diskussionen über das Thema Abenteuer bzw. Abenteurer feststellen mußte, wie sehr bestimmte Vorstellungen der modernen bürgerlichen Abenteuer-Ideologie inzwischen zur unerschütterlichen Überzeugung unserer Zeitgenossen gehören. Im Mittelpunkt derartiger Überzeugungen steht dabei durchweg die These, der M e n s c h sei von seiner physischpsychischen N a t u r aus Abenteurer. Lassen wir zunächst außer acht, daß der geschichtlich-klassenspezifische Ursprung dieses Theorems durchaus bestimmbar ist. Bereits die Prämisse, von der bei dieser Behauptung, der Mensch sei v o n N a t u r aus A b e n t e u r e r , ausgegangen wird, ist für den Marxisten unannehmbar, weil wissenschaftlich falsch. Sie impliziert nämlich von vornherein eine spekulativ-anthropologische, eine biologistisch-psychologistischeBestimmungdes M e n s c h e n als Abenteurer. Der Mensch aber ist zunächst einmal ein Abstraktum, und einem Abstraktum zu unterstellen, es sei von N a t u r aus A b e n t e u r e r , ist ein definitorisches Unternehmen, das in den Bereich der zahllosen von der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abstrahierten Wesensbestimmungen des M e n s c h e n gehört. Das m e n s c h l i c h e W e s e n ist jedoch nach der bekannten Definition von Marx in den Thesen über Feuerbacb „in seiner Wirklichkeit . . . das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Ohne 12

hier ausführlicher auf diesen viel diskutierten Satz einzugehen, kann man doch aus ihm entnehmen, daß eine Wesensbestimmung des Menschen in der W i r k l i c h k e i t (bzw. der wirklichen Menschen in der Geschichte) nur im „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" gesucht werden kann und nicht in der Natur (das heißt: der unterstellten Physis und/oder Psyche) eines A b s t r a k t u m s Mensch, zumal ein Abstraktum per definitionem weder über eine Physis noch über eine Psyche verfügen kann. Bei der Kritik der Abenteuer-Ideologie kann also nicht von einem wie auch immer definierten Abstraktum Mensch ausgegangen werden, sondern es muß versucht werden, die Kategorien des Verstehens aus dem „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" abzuleiten. Das heißt (um noch einmal Marx in der Deutseben Ideologie zu zitieren): „. . . es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses, und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbstständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens." Zum Beispiel das Denkprodukt Abenteuer. Es ist im Grund kurios zu sehen, daß gerade diejenigen, die Produkte menschlichen Denkens aus der als Natur unterstellten „allgemeingültigen" und somit geschichtsindifferenten Physis und/oder Psyche des Menschen ableiten, das, was ihnen so konkret, so materiell-leiblich erscheint, in ein ätherisches Abstraktum auflösen. Selbstverständlich spielt bei allem, was der Mensch tut und denkt, seine biologische Beschaffenheit eine entscheidende Rolle, und zwar so sehr, daß — striche man sie weg — der Mensch gar nicht existierte. Der historische und dialektische Materialismus berücksichtigt als einzige Wissenschaft diese Tatsache so sehr, daß er die Verflochtenheit des Leiblich-Biologischen in die gesellschaftliche Praxis und das 13

aus ihr resultierende Denken permanent mitdenkt, wenn er sich mit gesellschaftlicher Praxis und menschlichem Denken auseinandersetzt. Denn diese Tatsache ist die notwendige Konsequenz aus der marxistischen Einsicht in die physische und psychische Entwicklung und damit Veränderung des Menschen durch die gesellschaftliche Arbeit, durch die Gesellschaft. Anders gewendet: es gehört zur physischen und psychischen Beschaffenheit des Menschen von heute, also zu seiner (gesellschaftlichen) N a t u r , auf ganz bestimmte physische und psychische Reize zu reagieren (bzw. Bedürfnisse zu haben), auf die die Menschen früherer Epochen nicht reagierten (bzw. die sie nicht hatten), weil er diese Reize (bzw. Bedürfnisse) erst produzieren und entwickeln mußte. Das tatsächlich natürliche Bedürfnis nach Sauberkeit, körperlicher Hygiene, wäre zum Beispiel den Menschen im 17. Jahrhundert wie ein krankhafter Wahn erschienen, ist also der gesellschaftlichen Entwicklung zu danken. Eine Wissenschaft vom Menschen, die vom tatsächlichen, lebenden Menschen in seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung und Wandlung abstrahiert, wird daher immer wieder in „willkürliche Dogmen", in Spekulation und Mystizismus verfallen. Um zu einem wissenschaftlichen Verständnis der AbenteuerVerherrlichung bzw. der Abenteuer-Ideologie zu gelangen, war deshalb der Rekurs auf die Geschichte notwendig, aus dem e i n e s mit Sicherheit abgeleitet werden kann: d a s Abenteuer gibt es ebensowenig wie d e n Abenteurer, und pauschale Aussagen (seien sie definitorischer oder wertender Art) über d a s Abenteuer oder d e n Abenteurer sind samt und sonders auf Sand gebaut. Will man im Vorgriff auf die nachfolgende Untersuchung eine (notwendigerweise grobe) Zusammenfassung der geschichtlichen Entwicklung geben, so kann man feststellen, daß auf die Epoche der (relativ gut erforschten) höfisch-ritterlichen Abenteuer-Ideologie und zum Teil in Überschneidung mit dieser eine (relativ schlecht erforschte bzw. teilweise ganz unbekannte) Epoche bürgerlicher AbenteuerVerherrlichung folgt, die gegenüber der höfisch-ritterlichen in ein klassenantagonistisches Erbeverhältnis tritt. Diese bürgerliche Abenteuer-Verherrlichung ist wesentlicher Bestandteil der Weltanschauung des revolutionären Bürgertums im Kampf um die Menschheitsbefreiung, im Kampf um die Beseitigung der alten feudalen Knechtschaft: mit der Abenteuer-Terminologie wird die fortschrittliche Praxis des Bürgertums bezeichnet, und damit wird zum Pro14

zeß der bürgerlichen Bewußtseinsbildung und Selbstbestimmung beigetragen. Dabei beginnt sich ein mehr oder weniger kohärentes Denksystem herauszubilden, das von Abenteuer-Konzeptionen verschiedenster Art bestimmt ist und nun seinerseits zu bestimmten Formen des Handelns und Denkens stimuliert. Erst nach der Glorious Revolution von 1688 beginnt eine Umkehrung, bei der aus der Abenteuer-Verherrlichung als Waffe im Kampf für die Freiheit und Entfaltung der Menschen nach und nach und regional unterschiedlich intensiv ein ideologisches Instrumentarium zur Rechtfertigung bzw.'Stabilisierung der bürgerlichen Klassenherrschaft, des kapitalistischen Systems wird, das bis auf den heutigen Tag immer perfektionierter und immer bedingungsloser zum Einsatz kommt. Lassen sich einerseits aus der Kritik der geschichtlichen Entwicklung Wertungen und Abwehrstrategien gegenüber den menschheitsfeindlichen Aspekten der modernen bürgerlichen AbenteuerIdeologie ableiten, so andrerseits auch Wertungen und Aneignungsstrategien gegenüber den progressiven, emanzipatorischen Aspekten. Dies ist zum Beispiel wichtig für die Diskussion über d a s A b e n t e u e r im Sozialismus, bei der sich mit Notwendigkeit die Frage einstellt, ob es überhaupt noch Abenteuer im Sozialismus geben wird und geben darf. Ohne hier (auch eigenen Überlegungen) vorgreifen zu wollen, kann doch festgestellt werden, daß das, was im Sozialismus als Abenteuer bezeichnet (werden) wird, mit dem, was die modernen bürgerlichen Ideologen als Abenteuer bezeichnen, nicht mehr identisch sein kann. Daß ein solcher Bedeutungswechsel, der einen Sachwechsel anzeigt, nichts grundsätzlich Neues ist, zeigt der Blick auf die geschichtliche Entwicklung: das, was der englische Kaufmann im 15. Jahrhundert unter adventure verstand, hat mit den von den bürgerlichen Ideologen heute propagierten Abenteuer-Konzeptionen kaum etwas mehr gemein. Qualitativ ganz neu wird die Sache, wird das Abenteuer im Sozialismus sein (und ist dies bereits dort, wo er real existiert, auch wenn sehr oft noch die Schlacken der Vergangenheit transportiert werden). Als ich Irmtraud Morgner, die Autorin des 1974 in der DDR erschienenen Romans Leben und Abenteuer der Trobadora Batri% nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, fragte, was für sie, eine in der DDR lebende Schriftstellerin, das Abenteuer sei, sagte sie dem Sinne nach: die freie Entfaltung des Menschen, und zwar der Frau und des Mannes, in der erregendsten, buntesten, schönsten Wirklichkeit — in der kommunistischen Gesellschaft. Diese Definition 15

des Abenteuers ist allen Definitionen moderner bürgerlicher Ideologen, so unterschiedlich deren Definitionen im einzelnen sein mögen, diametral entgegengesetzt. Während für die bürgerlichen Ideologen (unbeschadet aller Varianten im Detail) das Abenteuer sich im prätendierten, suggerierten, propagierten A u s b r u c h a u s d e r (kapitalistischen) G e s e l l s c h a f t konstituiert und für diesen Ausbruch nichts (ja bisweilen — wie bei Sartre — der Tod) als Ziel angegeben wird, konstituiert sich für Irmtraud Morgner das Abenteuer in der freien Entfaltung des gesellschaftlichen Individuums i n n e r h a l b der kommunistischen Gesellschaft. Aus allem bisher Gesagten dürfte bereits deutlich geworden sein, daß hier keine „Geschichte des Abenteuerromans", deren es schon eine unübersehbare Anzahl gibt, vorgelegt wird (auch wenn bisweilen Abenteuer-Romane herangezogen werden, sofern in ihnen wichtige Positionen der Entwicklung der Abenteuer-Ideologie abgesteckt sind). Noch abwegiger wäre es jedoch, eine „Theorie des Abenteuers" zu erwarten. Im Gegenteil: das, was ich zu klären suche, ist die Frage, warum bestimmte Menschen in bestimmten Zeiten bestimmte Dinge, Ereignisse, Handlungen mit dem Begriff des Abenteuers bezeichnen bzw. diese Dinge, Ereignisse und Handlungen zum Ausgangspunkt bestimmter Weltanschauungsformen und -systeme machen. Und in einem weiteren Schritt: warum welche Menschen diese Dinge, Ereignisse und Handlungen in den Mittelpunkt ihrer Weltanschauungen stellen bzw. denjenigen, der diese Dinge aufsucht, diese Ereignisse erlebt, diese Handlungen ausführt, den Abenteurer also als Vervollkommnung des Menschen schlechthin verherrlichen. Kurz: wer wann warum und wie Abenteuer und Abenteurer (was auch jeweils anderes darunter zu verstehen ist) mehr oder weniger systematisch als Ziel der Aktivität des Menschen, als Sinn seines Daseins, als Inbegriff des Menschen verherrlicht. Bei dieser Fragestellung ist das Nachdenken darüber, ob der M e n s c h v o n N a t u r a u s A b e n t e u r e r ist, so nebensächlich wie es spekulativ ist. Ein derartiger spekulativer, allgemein-,, menschlicher" Umgang mit dem Begriff, der in Wahrheit doch nur ein abstrakt-unmenschlicher ist, führt bestenfalls zu noch subtileren Spekulationen, im schlimmsten Fall aber zur Verwischung der Unterschiede zwischen christlich-ritterlichem Aventurier, der die Läuterung vor Gott in der aventure sucht, dem Abenteurer, von dem Oswald Spengler spricht und den er auch den „Raubtiermenschen", „Unternehmer" oder — „Führer" nennt, und der lieb16

reizenden, menschheitsfreundlichen, französisch-deutschdemokratischen bzw. kommunistischen Trobadora Beatriz. Die vorliegende Arbeit, in der die deutsche Entwicklung weitgehend unberücksichtigt bleibt, ist in drei Teile gegliedert. 1. die Entwicklung der Ritterabenteuer-Ideologie in Frankreich. 2. die Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen AbenteuerIdeologie in ihrer progressiven Phase bis zum Beginn des Umschlagens in Ausbeuter-Ideologie in England; 3. die Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen AbenteuerIdeologie in Frankreich. Dieser dritte Teil mag auf einige Verwunderung stoßen, da ihm zu entnehmen ist, daß im 17. Jahrhundert, dem Jahrhundert, in dem in England die philosophischen Grundlagen für die Entwicklung der modernen bürgerlichen Abenteuer-Ideologie herausgearbeitet werden, in Frankreich weder von einer Abenteuer-Ideologie des Adels noch des Bürgertums gesprochen werden kann. Gerade deshalb ist es, wie Herder schon 1773 sah, unzulässig, von Frankreich abzusehen, das mit der höfisch-ritterlichen Abenteuer-Ideologie nicht nur die erste systematisierende Verherrlichung der Abenteuer, der aventure gekannt, sondern diese auch an ganz Europa und bei der Eroberung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert in der Vermittlung über Spanien auch nach Übersee weitergegeben hatte. Die Frage mußte daher lauten: warum kennt Frankreich im 17. Jahrhundert eine derartige Abenteuer-Ideologie nicht bzw. welcher Ideologeme bedient sich die französische Bourgeoisie als Ersatz für diese fehlende Abenteuer-Ideologie oder als Vorstufe für eine derartige Ideologie, wie sie sich dann auch im 18. Jahrhundert vor allem in Raynals Histoire philosopbique et politique in geradezu modellhafter Form Ausdruck verschafft. Das Beispiel Frankreichs belegt via negationis auf eindrucksvolle Weise, was für England nachgewiesen werden kann: daß die Entstehung der modernen bürgerlichen Abenteuer-Ideologie in ursächlichem Zusammenhang steht mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, dem den immanenten Gesetzen der kapitalistischen Produktion entspringenden „Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft", wie Engels es formuliert. Als weitere bestimmende Faktoren kommen die jeweiligen spezifischen Erscheinungsformen der ursprünglichen Akkumulation und die jeweilige politische Verfassung hinzu; auf diesem

2

Neriich, K r i ü k

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Gesamthintergrund vollzieht sich die nationalstaatlich jeweils verschiedene Herausbildung der modernen bürgerlichen Abenteuer-Ideologie . Und noch ein letztes W o r t : die Verwendung des Begriffs I d e o l o g i e in Abenteuer-Ideologie ist selbstverständlich problematisch und wird zu Recht der Kritik ausgesetzt sein. Daß ich ihn dennoch verwende, hat einen einfachen Grund: ich habe keinen anderen Begriff gefunden, der die Sache, um die es geht, besser bezeichnete. Gemeint ist, wie ausgeführt, die geschichtlich je verschiedene, mehr oder weniger systematische Verherrlichung des Abenteuers als besonderer gesellschaftlicher, geistiger, ethischer Wert und des Abenteurers als Inbegriff des Menschen überhaupt. Von da hätte sich vielleicht der Begriff der A b e n t e u e r - V e r h e r r l i c h u n g angeboten, aber er greift — vor allem dann im 19. und 20. Jahrhundert — zu kurz. Nicht nur, daß es auch bürgerliche Abenteuer-Kritik gibt, die allerdings die Camera-obscura-Perspektive auch in der Kritik beibehält: die Abenteuer-Begrifflichkeit, das Denken in Abenteuer-Kategorien umfaßt nach der Ansicht der bürgerlichen Ideologen große Bereiche der Gesamtgesellschaft, wenn nicht sogar deren Totalität. Deshalb blieb ich bei dem Begriff der Abent e u e r - I d e o l o g i e , die als bürgerliche allerdings erst im 18. Jahrhundert beginnt, sich zu Systemen zusammenzuschließen, davor jedoch bereits in mehr oder weniger entwickelten Elementen und Teilsystemen existiert. Bei dem Versuch einer durchgreifenden Kritik der AbenteuerIdeologie in der Geschichte, die gleichzeitig auch Auseinandersetzung mit bestimmten Bereichen bürgerlicher Ideologie der Gegenwart (vor allem mit Werner Sombart und Max Weber) ist, war ich auf manchen Rat von Freunden und Kollegen angewieseij. Daß dieser Rat auch dort in freundschaftlicher Form erteilt wurde, wo weltanschauliche und methodische Gegensätze vorhanden sind, soll mit Nachdruck betont werden. Zu Dank bin ich neben den Studenten, die Teile der vorliegenden Arbeit hörten und besprachen, verpflichtet: für die Diskussion von Wucher- und Kreditproblematik Professor François Hincker, Sorbonne, von Problemen des Mittelalters Ernst Pitz, Professor für Geschichte des Mittelalters an der Technischen Universität Berlin (West), von Fragen des Schelmenromans Nelson Osorio Tejeda, vor dem faschistischen Putsch Professor an der Universität von Valparaiso, Chile, von Problemen der Shakespeare-Interpretation und des 18

englischen Abenteuerromans Norbert Miller, Professor für Komparatistik an der Technischen Universität Berlin (West). Werner Krauss begleitete die Arbeit mit Interesse und Rat und fertigte sogar einen Essay Reise als „adventure" und als Funktion an, der die Diskussion des Verhältnisses von Arbeiterklasse und Reiseaktivität im Ubergang vom 18. zum 19. Jahrhundert bereichern wird.* Herr Joachim Möller, wissenschaftlicher Assistent an der TU Berlin (West), versorgte mich freundlicherweise mit Rara der englischen Literatur, und Gerlind Torney, Tutorin an der TU, besorgte das Personenregister. Besonderer Dank aber gilt den Freunden von der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik, die mit sachkundigem Rat jede Unterstützung in abenteuerlicher Zeit gewährten: Karlheinz Barck, Lisa Lemke, Manfred Naumann, Winfried Schröder und Martin Fontius, der mit seiner Kritik nicht nur zur Entstehung des vorliegenden Buches überhaupt entscheidend beigetragen hat: auf Grund seiner ingeniösen Anmerkungen wurde der Frankreich-Teil von mir neu bearbeitet. Die Technik besorgte Hannelore Adolph mit großer Geduld. Der größte Dank aber gebührt Evelyne Sinnassamy, ohne die das Buch nicht hätte entstehen können und mit der jedes Kapitel, jeder Gedanke diskutiert wurde. Juni 1976 Michael Neriich

* Werner Krauss ist in der Nacht vorn 27. zum 28. August 1976 gestorben. Das Buch, auf dessen Erscheinen er sich mit mir freute, kann ihm nur noch in memoriam zugeeignet werden. Sein Essay Reise als „adventure" und als Funktion konnte ebenfalls nur noch posthum erscheinen (Lendemains, 2. Jahrgang, Heft 5, S. 4 - 8 ) 2*

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Das Abenteuer des Chevalier

Vom Fatum %um Abenteuer Das Wort Abenteuer leitet sich wortgeschichtlich vom (alt-) französischen aventure her, und dieses wiederum wird von einem rekonstruierten umgangslateinischen *adventura abgeleitet: der Stern vor dem Wort bedeutet, daß es nicht belegt bzw. daß das Etymon, die Wortherkunft nicht erschlossen ist. Da kein literarischer Beleg für *adventura vorhanden, können wir auch nicht mit Sicherheit angegeben, welche Bedeutung das Wort gehabt hat. Allenfalls ließe sie sich rekonstruieren (aus ad-venire: „das, was auf einen zukommt") und so ad-ventura als vermutete Bedeutung unterstellen. Unterstellen wir ferner für einen Augenblick auch, daß das Abenteuer dem allgemeinen Verständnis nach ein besonderes Ereignis ist, das überrascht („événement, fait inopiné, fortuit, surprenant. . . Entreprise hasardeuse ou événement extraordinaire", sagt der Petit Larousse, Frankreichs meistverbreitetes Wörterbuch 1 ), dann können wir behaupten, daß sich Abenteuer in diesem Sinn zu allen Zeiten und in allen Gegenden ereignet haben. Das aber soll uns hier nicht interessieren. Was uns interessiert, ist die Verherrlichung des Abenteuers, der Abenteuersuche, des Abenteurers (also des Menschen, der auszieht, Abenteuer zu suchen), und diese Verherrlichung hat keineswegs zu allen Zeiten und in allen Gegenden stattgefunden. Die Antike hat zwar den Menschen gekannt und literarisch gestaltet, der — wie Odysseus — Abenteuer im rekonstruierten Sinn von *ad-Ventura bzw. im „modernen" Sinn von besonderem Ereignis erleben und bestehen mußte, sie hat aber nicht die (freiwillige) Suche nach Abenteuern oder etwa den (freiwilligen) Abenteurer bzw. Abenteuer-Sucher zum Sinn des Lebens bzw. zum exemplarischen, mustergültigen Menschen erhoben. Die Abenteuer des Odysseus, der nach Hause möchte, sind ihm durch Beschluß der Götter auferlegte Schicksalsschläge (Montesquieu meinte übri21

gens im 18. Jahrhundert, sie seien berichtet worden, um die Schifffahrt- bzw. Seehandelskonkurrenten der Griechen abzuschrecken)2* Das gleiche gilt für Jason und seine Gefährten, die Argonauten, auch wenn spätere Zeit sie als Sinnbild von moderner AbenteuerExistenz verstanden wissen wollte. Und wenn Herakles auszieht, die Hydra zu töten, so tut er das nicht, weil er im Wagnis, im Risiko, im Abenteuer den Sinn seines Daseins sieht, sondern weil er nach dem Ratschluß der Götter dem König von Mykenai Dienste zu leisten hat. Dieses Erleiden von Abenteuern, dieses passive, allenfalls reagierende Verhalten gegenüber den Abenteuern im zuvor benannten Sinn gilt selbst noch für den späten hellenistischen, aber auch den lateinischen Abenteuerroman (und damit für die gesamte Antike), wie Michael Bachtin überzeugend festgestellt hat.3 Bachtin unterscheidet für diese Epoche zwischen zwei Abenteuer-Romantypen4*: dem „Abenteuer-Prüfungsroman", in dem (nach dem Ratschluß der Götter) Individuen (meist einem Liebespaar) Ereignisse zustoßen, die unvorhersehbar sind und überraschend, die die betroffenen Personen in die Fremde treiben und die ihnen auferlegt sind als Prüfungen, die bestanden werden müssen (vor allem, damit das Liebespaar, das meist durch die Ereignisse getrennt wird, glücklich wieder vereint werden kann). Die Personen selbst werden durch die Ereignisse, die ihnen zustoßen, durch die Abenteuer ebenso wenig verändert wie die gesellschaftlichen Verhältnisse: die Charaktere der Individuen sind invariabel und beweisen im Bestehen der ihnen auferlegten Prüfungen ihre Standhaftigkeit.5 Der zweite Typus Abenteuer-Roman (Bachtin denkt vor allem an den Goldenen Esel des Apulejus und das Satirikon des Petronius) unterscheidet sich vom ersten Typus dadurch, daß die den Protagonisten zustoßenden Ereignisse sie nicht in die Fremde führen, sondern zu einer genauen Beobachtung des täglichen Lebens zwingen (und dies aus einer sozial untergeordneten Perspektive, ja im Fall des Goldenen Esels aus der eines Tieres6*). Die Personen, denen diese Abenteuer zustoßen, werden durch sie geläutert, sie sind nach ihrer Bestehung nicht mehr die gleichen, sondern haben sich gewandelt.7 Was uns im Zusammenhang unserer Untersu* Die mit einem Stern gekennzeichneten Anmerkungsziffern verweisen auf Sachanmerkungen. 22

chung interessiert, ist die von Bachtin richtig beobachtete Tatsache, daß alle Gestalten der griechisch-lateinischen AbenteuerRomane „unfreiwillige" Abenteurer sind: „Es liegt auf der Hand, daß der Mensch in einer solchen Zeit nur vollkommen p a s s i v und absolut u n v e r ä n d e r l i c h sein kann. Wie bereits gesagt, kann dem Menschen hier alles nur geschehen. Ihm selbst fehlt jegliche Initiative. Er ist nur das physische Subjekt der Handlung.8* Was Bachtin kurioserweise übersieht, ist die Tatsache, daß der Mensch, dem passiv, leidend und unveränderlich Dinge zustoßen, das strikte Gegenteil dessen ist, was nach moderner Auffassung mit dem Begriff des Abenteuers bzw. des Abenteurers belegt werden kann. Während Bachtins Analyse der antiken AbenteuerRomane und ihrer Protagonisten voll zugestimmt werden muß, gehören seine Versuche, die dort gewonnenen Erkenntnisse auch auf die moderne (d. h. die nach-antike, volkssprachliche) Abenteuer-Literatur zu übertragen, in den Bereich der reinen Geistesgeschichte und sind so problematisch wie diese. Die antiken Abenteuer-Romane mit ihren (im modernen Sinn: Nicht-Abenteurer-)Protagonisten verdanken ihr Entstehen ganz bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, die in dieser Form weder im Mittelalter noch in der Renaissance gegeben waren. In dieser Zeit aber entstand eine neue Konzeption von Abenteuer und von Abenteurer, die sich von der antiken grundlegend unterscheidet. Ihr wesentliches, im Verhältnis zur Antike distinktives Merkmal ist die F r e i w i l l i g k e i t des Eingehens von Abenteuern, die Suche nach Abenteuern (die quete de l'aventure) und die Verherrlichung dieser Suche und damit des Abenteurers selbst. Selbstverständlich hat der antike Abenteuer-Roman eine bedeutende Funktion bei der Herausbildung der „modernen" Abenteuer-Auffassung gehabt (wenngleich auch nicht über grundsätzliche Stellungnahmen zum Problem des Abenteuers, sondern vielmehr über die Handlungsfülle der Ezählungen, die Stoffe, die in der Adaptation — wie z. B. der Aitbiopika des Heliodoros — den Autoren des Mittelalters und der Neuzeit zum Transport ihrer eigenen weltanschaulichen Vorstellungen dienten). Hier jedoch soll diesem Einfluß der antiken Abenteuer-Romane auf die moderne Abenteuer-Literatur nicht weiter nachgegangen sein, da zunächst einmal versucht werden soll, die wesentlichen, gesellschaftlichen Gründe für die Herausbildung der (in sich absolut nicht einheitlichen, dem geschichtlichen Wandel der gesellschaft23

liehen Verhältnisse unterworfenen, in sich sehr oft widersprüchlichen, inkohärenten) Abenteuer-Auffassungen herauszufinden und zu benennen. Wie weit literarische und philosophische Auffassungen vergangener Zeiten oder außereuropäischer Literaturen die verschiedenen Auffassungen noch mitbestimmt haben, muß einer späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, sofern dies nicht im Einzelfall bereits von der Forschung besorgt worden ist. Die erste mehr oder weniger systematische Abenteuer-Ideolologie, die das freiwille Eingehen von Wagnissen, die Suche nach besonderen Ereignissen, eben Abenteuern mit (mehr oder weniger) unberechenbarem Risiko, die „bestehung von gefahrvollen abenteuern" als höchste ethische Leistung, als „ere" und „Täterschaft"9 fordert und feiert, ist die höfische Ritterideologie, die sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Frankreich im höfischen Roman, vor allem in den Versromanen des Chrestien de Troyes (etwa 1150 —1190) vom König Artus und seiner Tafelrunde, von Yvain und Lancelot herausbildet. Wenn allerdings vom „Abenteuer" in der höfischen Ritterideologie die Rede ist, so muß präzisiert werden: gemeint ist die (afrz.) aventure und für diese gilt, was Elena Eberwein feststellte: „nur innerhalb der mittelalterlichen Äußerungen selbst können wir suchen, was dieses Wort von damaliger Welt und Wirklichkeit in sich faßt." 1 0 Die aventure, die in den ersten literarischen Belegen vor dem höfischen Roman als Fatum, als Schicksal und Zufall begegnet, 11 ist im ritterlich-höfischen Bezugssystem zum Ereignis geworden, das der Ritter suchen und bestehen muß, wobei diesem Ereignis allerdings auch weiterhin das Nichtvoraussehbare, das überraschend Schicksalhafte innewohnt. Das Entscheidende freilich: das überraschende Ereignis, die aventure, wird g e s u c h t , und sie ist im Rahmen dieser Intentionalität eingeplant und also auch vorausgesehen. Von der aventure als Fatum vollzieht sich ein Wandel zur aventure als „Abenteuer",i2 wobei hier unerörtert bleiben soll, ob in diesem Begriff (was mir angesichts der nicht belegbaren und daher nicht definierbaren Bedeutung von *ad-ventura zumindest problematisch erscheint) von allem Anfang an eine Begriffskonnotation zu advenio/adventus bzw. evenio/eventus 1 3 * vorliegt. Der Ritter bricht auf, um aventure zu bestehen, ja im Bestehen von aventure realisiert sich der (ritterliche) Mensch überhaupt erst eigentlich in seinem „Wesen": „Der Austritt aufs Geratewohl, ins Ungewisse, hat jeden Schrecken verloren, ohne daß selbstverständlich die

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aventure das Moment des Gefährlichen verloren hätte, das sie nicht entbehren kann: aventure ist immer auch, und oft ausschließlich, 'Gefahr'. Die Gefährlichkeit des Lebens, das der fahrende Ritter führt, wird zum sinnstiftenden Charakteristikum, zur obersten Tugend des Standes selbst. Daraus kann in einer bedeutsamen YvainStelle 14 aventure zum Kennzeichen abgründiger Distanz zwischen dem ritterlichen Menschen und dem Rest der Menschheit werden." 15

Ritter, König und Vilains Die Suche nach Abenteuern, die queste de l'aventure ist also ein distinktives Klassenmerkmal: der Ritter ist u. a. durch sie unterschieden vom vilains, vom Nichtadligen, vor allem dem borjois, dem Städter, dem gegenüber der Ritter grundsätzlich nichts anderes als Verachtung und Haß an den Tag legt, wie Begriffe wie vilenaille, chien enragié, pute servaille 16 (ungefähr: bürgerliche Canaille, tobsüchtiger Hund, knechtisches Hurengesindel) für den borjois beweisen. So wie vom borjois unterscheidet sich der Chevalier, der Ritter, aber auch vom König, der zwar alle anderen ritterlichen Tugenden (vor allem largesse, Großzügigkeit) besitzen soll, jedoch grundsätzlich (auch in der literarischen Fiktion) nicht oder nur sehr selten auf aventure-Suche geht: „Als erster unter einer Zahl auserlesener Ritter muß Artus ein strahlender Vertreter des durch seinen Kreis repräsentierten Vorbildmenschentums sein. Diese gleiche Eigenschaft als Erster, als König, bestimmt ihn aber gleichzeitig dazu, ein Schwächling zu sein, der den Beleidigungen plötzlich auftauchender Feinde hilflos ausgesetzt wäre, wenn nicht seine ausgewählte Schar von Musterrittern in ständigem Kampf Macht und Ehre des Artushofs gewährleisten würden." 17 Es besteht also hinsichtlich des Abenteuers und seiner Verherrlichung ein soziales Exklusivrecht für eine bestimmte Klasse, die sich den Ehrentitel riter bzw. Chevalier gibt, die dem vilains bedeutet, daß er eine untergeordnete Stellung einzunehmen hat, und dem König (bzw. Fürsten), daß er zu seinem eigenen Schutz auf die Chevaliers angewiesen ist. Allein zum Klerus besteht kein offenes Abgrenzungs- und Konkurrenzverhalten, zum einen, weil der Klerus nicht den Rittern die Funktion abnehmen kann, zum anderen, weil der Ritter sowohl auf einen weltanschaulichen (religiösen) Konsens mit der Kirche als auch auf die geistige Hilfe des (schreib25

kundigen) Klerus bei der Herausarbeitung seiner höfischen Ideologie angewiesen war 18 , zu der übrigens auch die prinzipiellen Grundlagen (über das miles christianus-Ideal) vom Klerus vermittelt wurden. 19 Dieser Ideologie zufolge ist der Sinn des Ritterdaseins die Erfüllung ethischer Prinzipien in der Begehung von Aventuren, das Unterbeweisstellen aller Rittertugenden wie z. B. Tapferkeit und Treue gegenüber der verehrten Dame, gegenüber dem Fürsten bzw. König und — gegenüber Gott, wodurch, wie Erich Köhler zu Recht schreibt, „das Abenteuer als ein Sicherproben ohne Auftrag, ohne Amt, ohne konkreten geschichtlich-politischen Zusammenhang" 20 , nämlich als allgemein ehtische Pflicht erscheint.

Aventure ohne Maske Die Herausbildung der Aventure-Ideologie bringt Erich Köhler, der das Verdienst hat, grundsätzlich auf ihre soziale Bedingtheit verwiesen zu haben, mit der „Verarmung" des (Klein-)Adels in Zusammenhang: „die Abenteuersuche rechtfertigt sich, da sie in der Wirklichkeit eher ordnungsstörend als ordnungserhaltend ist, nicht aus sich selbst und steht als bloße kriegerische Aktion ohne moralischen Sinn im Widerspruch zu dem 'ordo' — Denken des Mittelalters, das den positiven Gesellschaftszustand wie die Ordnung alles Seienden als Rangstufung im Sinne eines mehr oder weniger vollkommenen Seins, einer größeren oder geringeren Gottesnähe versteht." 21 Deswegen müsse die Abenteuersuche moralisiert werden: „Der Verlust einer konkreten politischen Funktion verweist den Einzelritter auf sich selbst, und nur der Anspruch auf die Zugehörigkeit zum höchsten Stand rückt die aventure, zur ganz persönlichen Bewährung erhoben, in die Gemeinschaft, d. h. in den adligen Stand und damit unter das Gesetz der feudalen Ethik." 22 Die neuere Forschung aber hat durchweg darauf hingewiesen, daß die Entstehung der Ritter-Ideologie nicht allein auf den Prozeß der „Verarmung" des (Klein-) Adels zurückgeführt werden kann (die Ritterschaft rekrutiert sich zunächst gar nicht aus dem Adel allein 23 ), sondern daß (partielle) Verarmung des Adels, Aufstieg der milites — Militärkaste —, feudalistische Zentralisierung, Aufkommen des Bürgertums eine dialektische Einheit bilden, der auch die RitterIdeologie unter Einschluß der aventure ihren dialektischen Charakter verdankt. Daher ist auch die Behauptung, die Abenteuersuche sei 26

„eher ordnungsstörend als ordnungshaltend" gewesen, ebenso problematisch wie die undifferenzierte Gegenüberstellung von aventure und ordo: eine Aussage darüber, wann die queste de l'aventure „ordnungsstörend" war bzw. wurde, ist nur bei Berücksichtigung der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse möglich. Zur Zeit der Entstehung und Ausarbeitung der höfischen Ideologie trifft dies keineswegs zu (also zur Zeit der Romane Chrestiens de Troyes). Zu dieser Zeit war die aventure zunächst einmal für die chevalerie selbst eine rauhe, materielle Notwendigkeit, und damit auch ein entscheidender Ordnungsfaktor (wenn auch innerhalb einer noch stark zerrissenen Feudalstruktur). Man kann sogar behaupten, daß die gesamte ökonomisch-politische Struktur zerstört worden wäre, wenn die Chevaliers nicht auf aventure gezogen wären. So stellt Georges Duby u. a. fest, daß die großen Fürstenhäuser (die „grandes maisons seigneuriales") neben anderen von zwei Faktoren bedroht waren: der langen Lebenserwartung des seßhaften Großadels, die auf Grund der weitaus besseren, privilegierten Lebensbedingungen weit über die des niederen Volkes hinausging, und der damit verbundenen hohen K i n d e r z a h l . D e r seßhafte Großadel lebte vom Grundbesitz, und in diesen mußten sich Vater und Erstgeborener, aber auch die (oft zahlreichen) Nachgeborenen teilen. Zunächst mußte daher erst einmal die Zeit bis zum Zeitpunkt, an dem sich der Vater zur Ruhe setzte, überbrückt werden: „Die Haushaltsgesetze des Adelsbesitzes stachelten also den ältesten Sohn zur Abenteuersuche an. Aber er hatte Brüder, und normalerweise sehr viele." 2 5 Die Notwendigkeit wurde bald zum Gesetz: der Erstgeborene wurde zum Haupt- bzw. Alleinerben eingesetzt, und zwar zuerst in den großen Fürstenhäusern, bei den Grafen, Fürsten und vor allem Königen. Aber gegen Ende des 12. Jahrhunderts, zur Zeit der Herausbildung der höfischen Ideologie also, setzte sich das Erstgeburtsrecht auch beim Kleinadel durch. 26 Die jüngeren Söhne mußten also abgefunden werden: „Zwei oder drei von ihnen konnten noch auf eine ertragreiche Pfründe in der Kirche rechnen. Die anderen erhielten bisweilen einen kleinen Teil der Erbschaft, der sich normalerweise aus jüngeren Erwerbungen oder aus dem Besitz des mütterlichen Zweiges zusammensetzte. Aber in diesem Fall handelte es sich um einen prekären Besitz. Und diese Stückchen gaben unentwegt Anlaß zum Streit unter den Brüdern . . . Ohne jegliche Aussicht auf sicheres Erbe sahen die jüngeren Brüder nur einen Ausw e g : die aventure." 27 Es darf auch nicht übersehen werden, daß 27

aus ebendiesem Grund den Ritterorden, die sich nach und nach herausbilden, eine Versorgungsfunktion für den „christlich-verdienstvollen" Aventure-Ritter zufällt. 28

Wie abenteuerlich war die Aventure ? Sehen wir zunächst von anderen Aventure-Zwecken ab: eines der wichtigsten Ziele der queste war die gute Partie, die reiche Heirat. Und auch dies dürfte für das Verständnis der romans courtois nicht unerheblich sein: alle unverheirateten „abenteuernden" Ritter, aber auch die kinderlosen verheirateten wurden juvenes (jeunes, Jugendliche) genannt, und zwar z. T. ohne Rücksicht auf ihr tatsächliches A l t e r . 2 9 Sie blieben jeunes bis zu einer adäquaten Heirat: „Alle diese juvenes," schreibt Georges Duby, „lauerten auf die reiche Erbin. Sahen sie eine, versuchten sie, sie für sich zu reservieren, selbst wenn sie gerade erst heiratsfähig war . . . Die Jagd nach dem reichen Mädchen, nach der guten Partie, war nicht. . . immer vergebens. Aber ihre Zufälle und Erfolge erklären sich lediglich aus dem relativen Überfluß an schönem Wild, d. h. aus dem häufigen Aussterben von Adelsgeschlechtern, das das ganze Erbe in die Hände einer Erbin gelangen ließ. Dieser ganze Vorgang aber ist selbst eng mit der Existenz der Gruppe von 'jeunes' verbunden, mit ihrer besonderen Situation, dem abenteuerlichen Leben der männlichen 'jeunesse', mit den Gefahren, denen sie ausgesetzt ist und die sie dezimieren." 30 Die queste de l'aventure war also, zumindest zur Zeit Chrestiens, des großen Ideologen der chevalerie, für einen großen Teil der fahrenden Ritter die einzige Form der Existenzsicherung, eine bestimmte Art des Lebenserwerbs. Dabei war im Grunde das Risiko, das in diesem Lebenserwerb steckte, relativ klein. Zwar besitzt aventure immer noch (und auch zu Recht) die Bedeutung „Wagnis", aber — und dies ist die Kehrseite der Medaille — geht der Ritter dieses Abenteuer nicht ein, so geht er mit Sicherheit zugrunde. Das heißt zunächst einmal, daß das Risiko für ihn größer ist, wenn er nicht auf aventure zieht. Diesem Zwang aber ist er nicht allein unterworfen: 3 1 mit ihm ziehen bei Hungerkatastrophen, Epidemien usw. Tausende von vilains, die total verarmte Bevölkerung, die zum einen aus den gleichen Gründen auf Wanderschaft geht, die auch den Ritter dazu treiben (das Land des kleinen Bauern, das die Kinder nicht ernähren kann 3 2 usw. usf.), zum anderen infolge von Kriegen, Fehden zwischen 28

Feudalherren oder von Natur- und Hungerkatastrophen dazu gezwungen wird. Vor die Wahl gestellt, mit Sicherheit dort zu verhungern, wo sie wohnen, oder aber die Chance wahrzunehmen, an einem anderen, günstigeren Ort zu überleben (z. B. entlang den Pilgerstraßen), machen die vilains, was die Ritter tun: sie ziehen auf aventure, freilich ohne dies zu idealisieren (bzw. idealisieren zu können). In diesem Heer der auf Wanderschaft befindlichen Bevölkerung schwimmen auch die Ritterscharen und dürften dabei — als Vorwegnahme späteren Raubrittertums — manch kleine Gelegenheitsaventure bzw. -beute gemacht haben. Sie nehmen durchaus eine privilegierte Position ein: abgesehen davon, daß sie bewaffnet und beritten waren, zog mit ihnen ein Gefolge junger Vasallensöhne, deren Auszug die Hofwirtschaft ebenfalls entlastete. Sie boten den Rittern Schutz und reduzierten damit das Risiko, das zwar immer noch vorhanden war, aber gemessen an dem Schicksal der verarmten und zur Wanderschaft gezwungenen Bevölkerung nicht ganz so groß gewesen ist, wie die Verfasser der höfischen Ritterromane glauben machen wollten.

Vom unböfiseben Kitter %um ritterlichen Höfling Es darf nicht übersehen werden, daß sich die höfische RitterabenteuerIdeologie zu einem relativ späten Zeitpunkt artikuliert und keineswegs in die Geburtsstunde des Rittertums gehört: „Die Geburtsstunde des Rittertums", schreibt Arno Borst, „ist vielmehr das späte 9. Jahrhundert, der Zeitraum, in dem sich die karolingische, großfränkische Staatsordnung auflöste." 33 * Das Recht des Stärkeren, die Schlagkraft des jeweils kleineren oder größeren Feudalherren, der sein Territorium und die dort lebenden Bauern und Handwerker gegen Normannen, Sarazenen, Ungarn, aber auch gegen den (adligen) Nachbarn schützte, stellte den einzigen (anarchischen) Ordnungsfaktor innerhalb der allgemeinen Anarchie dar, wobei zu beachten ist, daß das Verhältnis zwischen adligem bzw. ritterlichem Beschützer und nichtadligem Beschützten ein arbeitsteiliges, also wechselseitiges war: der Ritter war der Verteidigungs- bzw. Kriegsspezialist, der für seine Waffen und sein Waffentraining die materielle Unterstützung durch die Bauern bzw. Handwerker benötigte, so wie diese den Schutz durch ihn. 34 Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Ritter bis ins späte 29

12. Jahrhundert z. T. nicht viel anderes waren als eine höchst ungebildete „Schar von bedenkenlosen Gesellen" 35 , in die man im übrigen auch als Nichtadliger aufgenommen werden konnte: „Es blieb den Adligen selbst überlassen, ob sie durch den Ritterschlag unfreie Knechte und Meier in den Adel aufnahmen und für sie garantieren wollte; man war damit nicht kleinlich." 36 Von höfischen Lebensformen oder einer höfischen (aventure-)Ideologie war dieses Rittertum jedoch noch weit entfernt. Dies sollte (zusammen mit der sozialen Zusammensetzung des Ritter-Berufsstandes) erst anders werden, als im Verlauf des 12. Jahrhunderts in Frankreich die Fürsten zum einen, die Könige zum anderen begannen, ihre politische und ökonomische Macht zu konsolidieren. Dabei kam den Rittern eine vielfältige neue Bedeutung zu: so wie die Fürsten Vasallen für ihre Konsolidierungspolitik brauchten, um gegen die anderen Fürsten, aber auch den König bestehen bzw. sich durchsetzen zu können, so brauchte der König Vasallen gegen die Fürsten, um seine Ansprüche durchzusetzen: „Seit langem wetteiferten der König und die großen Fürsten im Ausbau ihrer Territorien zu institutionellen Flächenstaaten ; aber die wirksamsten Mittel waren dabei immer noch militärische Macht und Lehensrecht. Wenn der König den Einfluß der Fürsten brechen und die kleinen Vasallen auf ihren eigenmächtig erbauten Burgen für sich gewinnen wollte, dann mußte er sie mit königlichen Lehen umwerben oder belagern . . . Militärisch mochten sich die Großen mit Söldnern behelfen, die dem schwerfälligen und unzuverlässigen Lehensaufgebot überlegen waren; aber politisch brauchte man die kleinen Herrschaften des niederen Adels, wenn die Verdichtung des Staates größere Räume umgreifen sollte." 37 Dies ist die Stunde der Ritter: Fürsten und König benötigten sie, was ihnen einerseits zunehmende militärisch-politische Bedeutung verlieh, andererseits aber machten mangelnde Bildung und ausschließliches Kriegertum sie zu kaum mehr als dem Kriegsdienst geeignet. Es war daher eine soziale Notwendigkeit für diese Gruppe, sich über allgemeine und politische Bildung zu höheren Aufgaben zu qualifizieren, und hierin muß die politische Bedeutung der höfischen Literatur, der Ritter-Ideologie gesehen werden. Soweit diese Literatur sich an die (jungen) Ritter selbst wandte, war sie Erziehungsund (ideologische) Schulungsliteratur 38 , soweit sie sich an den König wandte, war sie Kampfliteratur einer sozialen Klasse, die sich bezeichnenderweise in dieser Zeit gegenüber der Aufnahme von Elementen aus nichtadligen Schichten abschloß. Sie ist somit auch Pro30

pagandaliteratur gegen konkurrierende soziale Gruppen, und zwar zunehmend in dem Maße, in dem sich die Fürsten und dann vor allem der König durchsetzen konnten. Die Voraussetzung war dafür nämlich zum ersten die Existenz des Rittertums selbst bei seiner gleichzeitigen Verwandlung in Militär, zum zweiten die Politik der Kirche, des Klerus, 39 zum dritten aber ganz besonders die Herausbildung der Städte 4 0 , das Entstehen eines selbstbewußten Bürgertums. Die Fürsten spielten es gegen die Vasallen aus, der König aber nutzte es gegen die Fürsten. 41 Und gegen dieses Bürgertum mußten die Ritter im Verlauf des 12. Jahrhunderts bereits zunehmend Stellung beziehen, wollten sie von ihm nicht (übrigens im Bündnis mit dem Klerus, mit dem sich die Ritter weitgehend einigen konnten und mußten) in die relative Bedeutungslosigkeit soldatisch-ritterlicher Existenz abgedrängt werden. Erst von hier wird die Herausbildung der Adelsritter-Ideologie voll verständlich: einerseits mußte die Kriegertätigkeit selbst über die aventure zum höchsten ethischen Wert ernannt werden (hier konnte das aufsteigende Bürgertum — zunächst jedenfalls — nicht konkurrieren), andererseits mußte diese Kriegstätigkeit unter dem Druck des Klerus christlich motiviert und unter dem des Bürgertums als klassenspezifisch adlige Tätigkeit verherrlicht werden. Dies erklärt die grundsätzliche Bereitschaft des Adels, sich die Ritter-Ideologie insgesamt zueigen zu machen und mit dem (ursprünglich mit ihm nicht notwendigerweise identischen) Rittertum (partiell) zu fusionieren 42 , und auch die jetzt einsetzende permanente Polemik gegen Ii vilains, Ii borjois 4 3 , und die ständige Ermahnung an den Fürsten bzw. König, nur Adlige zu seinen Beratern zu machen: „Der Zusammenschluß des Rittertums zur auf demBlutsadel basierenden, durch den in religiöse Formen gekleideten Ritus des Ritterschlags geweihten Institution erfolgt unter dem bedrängenden Eindruck der im 12. Jahrhundert ökonomisch und politisch in den Vordergrund tretenden und in ihrer Weiterentwicklung unabsehbaren Kräfte des Bürgertums." 4 4 Die blutsadlig und religiös motivierte Verherrlichung der aventure als höchster Sinn menschlichen Daseins ist daher ein politisches Programm einer Klasse in der Auseinandersetzung mit anderen Klassen: mit Fürsten und Königen (um sich mit diesen verbünden zu können, ja, um sich diesen unentbehrlich zu machen), mit dem Klerus, um mit diesem ideologisch handelseinig zu werden, mit dem Bürgertum, um dies zu bekämpfen. Die höfische Ideologie soll dem Klein- bzw. Ritteradel den sozialen Ort sichern: eine aventure kann nur dann eine aventure 31

sein, wenn sie abgeschlossen werden kann, d. h. wenn der, der auszog auf die aventure, nach ihrer Bestehung wieder zurückkommen kann, ja, muß, da das Ausziehen auf aventure zum Ordnungsprinzip wird bzw. erklärt wird, das an dem Ausgangs- und Endpunkt, am Hof, herrscht. 45 In diesem Sinn bleibt die Ordnung bewahrt, die in der aventure verteidigt und realisiert wird: „Indem die aventure zum idealen Chrakteristikum des g a n z e n Standes erhoben wird, reintegriert sich der Kleinadel in eine der literarischen und höfischen Fiktion nach besitzindifferente, auserlesene Gemeinschaft. . . Das stets bedrohte Dasein des verarmten Ritters versetzt die aventure in die Mitte einer spannungsreichen Existenz, in der sich der Kleinadel mit dem Feudaladel wiederfindet, obgleich die Gegner nur teilweise dieselben sind. Wenn das aventure-Ideal also nicht vom mächtigen Feudaladel her vorstellbar ist, so steht wenigstens darum der höfische Roman, besonders in seinen Anfängen, im Zeichen des niederen Rittertums . . . Wenn sich die Erhebung der aventure aus einer Not zu einer Tugend mit der Spannung zwischen Lebensweise und Geltungsanspruch im niederen Adel ausreichend erklärt, so bedarf doch der anscheinend vorbehaltlose Konsens des feudalen Hochadels . . . einer eingehenden historischen Begründung. Die Spannungen innerhalb des Ritterstandes waren ja beträchtlich und wurden durch die rapide Entwicklung der Kommunen und der Geldwirtschaft verschärft. Die Einheitlichkeit des Standes war so stark gefährdet, daß die innerhalb des Standes selbst übliche Diskreditierung der armen, abenteuersuchenden Ritter in Zusammenhang mit deren rascher Vermehrung sich schließlich gegen den Stand in seiner Gesamtheit kehrt. Entscheidend aber dürfte die gemeinsame Bedrohung aller Adelsschichten durch die ökonomische Revolution des 12. Jahrhunderts . . . und durch das sich ankündigende antifeudale Bündnis zwischen Monarchie und Bürgertum geworden sein." 46

Aventure und mervoille Wenn die Suche nach aventure und ihr Bestehen aus den zuvor genannten Gründen ideologisiert, idealisiert, zum wesentlichen Daseinszweck, zum Kriterium „wahren" Menschseins erhoben wird, ist naheliegend, daß diese aventure nicht länger ein beliebiges, wenn auch gefährliches Ereignis, also z. B. ein Waffengang und schon gar nicht ein spezieller Erwerbszweig sein konnte und sein durfte. Die 32

aventure selbst mußte sich qualitativ ändern, mußte zum besonderen Ereignis, mußte „geadelt" werden: schon bald verbindet sich der Begriff der aventure mit dem der mervoille, des Wunderbaren, so eng, daß sie bisweilen synonym verwendet werden. 47 Um das Abenteuer im Rahmen der höfischen Ideologie zu „adeln", werden alle (fiktiven) Mittel eingesetzt: Riesen, Zauberer, Feen, verzauberte Wälder — das ganze Märchenrepertoire ist bereits in den frühen höfischen Romanen angelegt, aus dem noch Jahrhunderte später die Verfasser des Amadts und ihre Epigonen schöpfen werden. Die aventure hat sich zum höfischen Fest maskiert. Die deutlichste Ausprägung dieser Nobilitierung der aventure durch Transponierung in märchenhafte Fiktionalität begegnet uns in den höfischen Versromanen aus dem bretonischen Sagenkreis, die Chrestien de Troyes geschaffen hat. 1177/81 verfaßt er den Roman von Yvain: he chevalier au lion (Der Uiwenritter), in dem wir einen Ritter namens Calogrenant kennenlernen, der in der Tafelrunde des König Artus von seinem Abenteuer an einer Zauberquelle berichtet: „sie fließt unter einem herrlichen Baum", faßt Erich Auerbach die aventure zusammen, „an ihr hängt ein goldenes Becken, und wenn man mit diesem Becken ihr Wasser auf eine daneben befindliche smaragdene Platte gießt, entsteht im Walde ungeheurer Sturm und Gewitter, woraus noch niemand heil entkommen ist. Calogrenant versucht das Abenteuer, er übersteht das Gewitter und genießt mit Freude die darauf einsetzende, durch den Gesang vieler Vögel belebte Aufheiterung . . . Calogrenants Erzählung macht großen Eindruck auf die Ritter an Artus' Hof ; der König beschließt selbst mit großem Gefolge zu der Zauberquelle zu ziehen; doch einer der Ritter, Calogrenants Vetter Yvain, kommt ihm zuvor, besiegt und tötet den Ritter der Quelle und gewinnt auf eine teils wunderbare, teils aber auch sehr natürliche Weise die Liebe seiner Witwe." 48 Die von Auerbach ausgewählte Stelle ist in der Tat besonders typisch: Naturmystik und Feenwelt verbinden sich — über die Märchenaventure — zur höfischen Anbetung der Dame, zur höfischen Liebe: „Es ist eine märchenhaft verzauberte Landschaft, wir sind vom Geheimnis umwittert, es raunt und flüstert um uns herum . . . Das Geheimnisvolle, aus dem Boden Gewachsene, seine Wurzeln Verbergende, keiner rationalen Erklärung Zugängliche hat der höfische Roman der bretonischen Volkssage entnommen, die er rezipiert und der Ausbildung des ritterlichen Ideals dienstbar gemacht hat; die matière de Bretagne erwies sich offenbar als das ge3

Neriich, Kritik

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eignetste Medium zur Entfaltung dieses Ideals . . ," 49 Auch wenn Auerbach die Funktion der märchenhaften Fiktionalisierung der realen aventure in der Übernahme der bretonischen Volkssage, der matière de Bretagne, nicht voll erkennt (ausgehend von der Annahme, die Indiviudal-Aventure entbehre der realen geschichtlichen Grundlage, versteht Auerbach das Märchenabenteuer als einen Schirm, der die Adelsgesellschaft von ihren Bezügen zur sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit trennt, um die durch nichts getrübte „Selbstdarstellung des feudalen Rittertums in seinen Lebensformen und Idealvorstellungen" 50 zum Selbstzweck erheben zu können), ist seine Beobachtung völlig richtig, daß selbst da, wo — wie in der Beschreibung der Arbeitsbedingungen von Weberinnen im Chevalier au lion — die reale Welt im höfischen Roman durchscheint, diese dargestellte Wirklichkeit „wie aus dem Boden gewachsen" erscheint: „aus dem Märchenboden nämlich." 51 „Die Welt der ritterlichen Bewährung ist eine Welt der Abenteuer; sie enthält nicht nur eine fast ununterbrochene Reihe von Abenteuern, sie enthält auch vor allem nichts anderes als das, was zum Abenteuer gehört ; nichts, was nicht Schauplatz oder Vorbereitung eines solchen wäre, wird in ihr angetroffen; es ist eine eigens für die Bewährung des Ritters geschaffene und präparierte Welt." 52 Das freilich macht, daß die höfische Aventure-Ideologie nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit haben konnte, was die Aventure selbst betrifft.

Von der Aventure-Ideologie %ur Ideologie des Courtisan Die wirkliche Welt ist für die höfische Aventure nicht eingerichtet, was auch dem Ritter nicht verborgen bleiben konnte. In der höfischen Aventure-Ideologie ist bereits ihr Ende angekündigt. Sie konnte nur in der beschriebenen historischen Situation der zunehmenden feudalstaatlichen Zentralisierung entstehen, als die Ritter mit ihrer realen kriegerischen Tätigkeit einerseits mit dazu beitragen, die Zentralisierung durchzusetzen, andererseits dadurch aber gleichzeitig in den Sog dieser Zentralisierung geraten und ihre bisherige AbenteuerExistenzform bzw. -Erwerbsform aufgeben müssen. Die Fürsten bzw. Könige benötigen die Ritter zur Überwindung der feudalen fürstlichen Großkonkurrenten, aber sie benötigen sie nicht mehr im kleinen Rittertrupp oder gar als Einzelritter, sondern als Krieger in immer größeren Ritterheeren, ja bald reichen die Ritter nicht mehr 34

aus, um die notwendige Heeresstärke zu garantieren. Bald werden Nichtadlige auch zum Waffendienst gezwungen. Die ritterliche Kampfform beginnt spätestens im 14. Jahrhundert obsolet zu werden. Wer in dieser Übergangszeit den Absprung zum Höfling oder zum (mit diesem zunächst weitgehend identischen) Militäradel nicht schafft, geht zugrunde, fällt zurück in den Stand der Nichtadligen, oder er verkommt im Raubrittertum (um irgendwann „am nächsten Baum" 5 3 aufgeknüpft zu werden). Die Individual-A venture wird im zentralisierten und zunehmend befriedeten Feudalstaat nun tatsächlich zum anarchischen Störfaktor, was Auswirkungen auch auf die Aventure-Ideologie haben muß. Sie wird nicht einfach unbrauchbar, sondern sie entwickelt sich weiter, wobei ihr im Grunde belanglosestes Element, nämlich die Aventure-Mervoille, immer weiter in den Hintergrund gedrängt wird, bis es endlich ganz verschwindet. Was für die weitere Entwicklung der höfischen Wirklichkeit und der höfischen Ideologie entscheidend wird, ist die ritterliche Ethik unter Wegfall der märchenhaften aventure (die allenfalls als literarisches Vehikel toleriert wird, solange wie dies die Entwicklung zum Hofleben der absoluten Monarchie, solange wie dies der Ernst des Lebens nicht unmöglich macht). Aus der höfischen Ideologie mußte die aventure daher direkt oder indirekt (über ihre märchenhafte Fiktionalisierung) elimiert werden, um als Ideologie des Höflings brauchbar zu werden. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung ist der Traktat De Amore, den der Kaplan des französischen Königs Andreas Capellanus um 1185 verfaßte. In ihm wird der Versuch unternommen, höfisches Liebes-Ethos mit einer neuen Adelsethik, die auf moralischgeistigen Werten beruht, zu verbinden. Hier kündigt sich bereits entfernt der Courtisan an, für den mehr als drei Jahrhunderte später Baldassare Castiglione das Handbuch verfassen sollte. Auch der Courtisan ist ohne Lancelot oder Yvain, ohne das Erbe der höfischen Aventure-Ideologie nicht vorstellbar, undenkbar aber ist, daß der Courtisan auf märchenhafte Aventure-Suche geht. Die ritterliche Aventure-Praxis folgt der allgemeinen Auflösung des Ritterwesens in die Bereiche der militärischen Heeresordnung und des Hoflebens, zu dem auch (seit dem 12. Jahrhundert bereits) das Turnier gehört: 5 4 in Kriegszeiten vereinten sich beide Bereiche zunächst wieder in der Person des Militär-Adligen, des Schwertadels, der im (Ritter-)Heer kämpfte oder das aus Rittern und Gemeinen zusammengesetzte Heer befehligte.



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Der beutekrieg Natürlich hat es (Ritter-)Heere auch schon in der Zeit v o r der Entstehung der höfischen Aventure-Ideologie gegeben, aber hier wie überall in der Geschichte ist die Frage des Umschlags von Quantität in Qualität das entscheidende Moment (was auch die innere Zusammensetzung der Ritterheere betrifft): mit dem Ende des 12. Jahrhunderts ist in Frankreich grundsätzlich die Zeit des Fahrenden Ritters und seiner Aventure-Existenz zu Ende: verläßt er nun den fürstlichen Hof, an dem er sich (mit der Teilnahme an Turnieren) fit hält, so nicht mehr zur Individual-Aventure, sondern zur Integration in einen größeren Heeresverband, auch wenn dieser zunächst noch ein Ritterheer sein sollte, in dem er u. a. Kommandofunktionen übernimmt. Die Übergangszeit aber, die uns hier angeht, ist für das Rittertum zum großen Teil eine Zeit sozialer Katastrophen. Um diesen Vorgang zu verstehen, müssen wir noch einmal in der Chronologie zurückgehen. Die Zwangslage der Ritter, sich in den Hofadel integrieren zu müssen, dies aber oft gar nicht zu können (weil es zu viele Ritter gibt, der Hof also nicht alle aufnehmen kann, weil er das nötige Geld dafür nicht hat, usw.), trug wesentlich zum Elan bei, mit dem sich die Ritter massenweise in die Kreuzzüge stürzten. In ihnen bestand die Chance, die Abenteuer-Erwerbsform fortzusetzen und durch Beute zu Besitz und Ansehen zu gelangen, wie Guibert von Nogent bereits in der Gesta Dei per Francos um 1108 feststellt.1® Es ist geradezu unvorstellbar, mit welcher Verzweiflung sich Zehntausende verarmter Ritter und Bauern auf diese Hoffnung stürzten, die dadurch umso begründeter geschienen haben mochte, als der Papst selbst die „Ideologie des heiligen Krieges" gegen die „Heiden", die das Grab des Herrn in Jerusalem angeblich schändeten, verkündet hatte. Bevor der erste Kreuzzug sich überhaupt formieren konnte, eilten Massen verarmter Bauern und Ritter nach Süden: „Ein volkstümlicher Kreuzzug von Bauern und Armen ohne militärische Organisation brach zuerst auf. Es war ein wahrhafter Volkshaufen, der in zwei Wellen anbrandete — die eine Gruppe bestand meist aus Deutschen unter der Leitung Walters ohne Habe, die andere vor allem aus Franzosen, von Petrus von Amiens durch das byzantinische Kaiserreich geführt; sie plünderten und töteten die Juden auf ihrem Weg. In Kleinasien wurden sie im November 1096 von den Türken getötet oder als Sklaven verschleppt".56 36

Die späteren Kreuzzügler waren besser organisiert und brachten immerhin Jerusalem während des 12. Jahrhunderts weitgehend unter christliche Kontrolle, wobei das Vorgehen im übrigen so barbarisch war, daß es die Zeitgenossen bereits empörte: 5 7 massenweise wurden die „Heiden" abgeschlachtet und Frauen und Kinder dabei nicht verschont. Ob die Enttäuschung darüber, daß das Heilige Land trotz allem nicht auf die Dauer gehalten werden konnte, der Grund ist für den Pessimismus der letzten Artus-Romane (in denen der Gral symbolisch für das Heilige Grab stehen könnte), 58 soll dahingestellt sein (immerhin waren ja die Kreuzzüge mit dem Verlust Jerusalems gegen Ende des 12. Jahrhunderts noch nicht zu Ende). Richtig aber ist, daß diese wahrhaften Kollektiv-Abenteuer des 12. Jahrhunderts, in dem sich die höfische Aventure-Ideologie herausbildet, nicht das geringste von höfischem Aventure-Dasein an sich hatten, auch wenn sich Barone, Fürsten und Könige (wie noch im 13. Jahrhundert Louis IX. von Frankreich) an ihnen beteiligten, sondern Plünderund Beutezüge waren, die oft genug einem „gewaltsamen Zug von Kolonisten" glichen. 59 Die Ritter, die an ihnen teilnehmen, mögen sich durchaus als Ritter gefühlt haben, aber es ist nicht die Sehnsucht nach aventure, die sie anspornt, sondern die unauflösliche Einheit von religiösem Fanatismus und Streben nach ökonomischer und politischer Macht (das die religiösen Motive durchaus zum Verstummen bringen konnte, wie manches Arrangement mit dem islamischen Feind beweist). 60 Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür ist der Bericht über den vierten Kreuzzug von Geoffroy de Villehardouin, der in führender Position an ihm beteiligt war. Zwar kennt Villehardouin sehr wohl den Begriff der aventure und verwendet ihn auch, aber nie in irgendeiner der höfischen Aventure-Ideologie entsprechenden Bedeutung, obwohl diese zur Zeit des vierten Kreuzzugs (1199—1207) bereits voll entwickelt war. Aventure, das ist ganz schlicht das Ereignis, der Vorfall: „les aventures avienent ensi con Dieu piaist" — „die Ereignisse geschehen, wie Gott es will." 61 Und solch eine aventure kann sowohl der natürliche Tod eines Barons sein als auch der Gewinn großer Beute. Die Beute allerdings steht eindeutig im Mittelpunkt. Zwar zog man unter vielen frommen Erklärungen mit großem, aus Fürsten, Rittern und Söldnern gebildeten Heer zur Befreiung des Heiligen Landes, doch war man eigentlich von allem Anfang an über die Einlagen zerstritten. Offen bricht der Streit aus, als man den Venezianern die Überfahrt nach Kleinasien bezahlen muß: „Die Überfahrt sollte 37

durch Sammlung in der Armee bezahlt werden. Aber es gab viele, die sagten, sie könnten die Überfahrt nicht bezahlen." 6 2 Der Streit um Geld und Beute ist das Leitmotiv: frommes Denken, ritterliches Verhalten treten dabei ganz und gar in den Hintergrund, wie Villehardouin feststellt. Allein die Aufteilung des mit aller erdenklichen Grausamkeit eroberten Landes scheint die Gemüter zu bewegen. Bevor im Jahr 1204 Konstantinopel erobert wird, legt man die Aufteilung der Beute fest: „. . . der, der zum Herrscher gewählt werden würde, sollte ein Viertel der ganzen Eroberung erhalten, und die anderen drei Viertel sollten zu zwei Teilen je zur Hälfte an die Venezianer und zur Hälfte an die (französische — M. N.) Armee fallen." 6 3 Bei der Eroberung wird die Stadt in Brand gesetzt: „ D a hättet Ihr aber einmal sehen können, wie Griechen abgeschlachtet und Pferde und Rösser, Maultiere und Esel und andere Beute genommen wurden. Und es gab so viele Tote und Verwundete, daß es kein Maß und kein Ende hatte." 6 4 Wer freilich auf eigene Rechnung plünderte, wurde bestraft (auch ein Ritter wurde dafür aufgehängt 6 5 ): die Beute wurde gesammelt und — wie vereinbart — geteilt. Danach wurde das Hinterland erobert: „ D a begann man das Land zu verteilen. Die Venezianer erhielten ihren Anteil, und die Pilgerarmee den ihren. Und als jeder hörte, welches Land ihm zugeteilt war, trieb ihn die irdische Begier, die schon so viel Unheil angerichtet hat: jeder begann, in seinem Besitz Unrecht zu begehen, der eine mehr, der andere weniger, so daß die Griechen begannen, sie zu hassen." 6 6

Vom Ritter ^urn Landsknecht Was in den Kreuzzügen von allem Anfang an Tatsache und Notwendigkeit war, bestimmte zunehmend auch die Kriegsführung zwischen den europäischen Fürsten und Königen: die Kommandogewalt lag grundsätzlich beim Militäradel, aber die Masse der Kämpfenden wurde immer mehr von der nichtadligen Bevölkerung, vor allem von den Bauern gestellt. Diese Entwicklung hat ebenfalls bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts unter Philipp II. begonnen, der Söldner zum Kriegsdienst heranzog 67 , doch der eigentliche Durchbruch dieses Systems setzte erst hundert Jahre später ein: „Die Feudalwirtschaft mit einem selbst feudalen Heer zu bekämpfen, worin die Soldaten durch engere Bande an ihre unmittelbaren Lehnsherrn gebunden waren als an das königliche Armeekommando — 38

das hieß offenbar, sich in einem lasterhaften Zirkel bewegen und nicht vom Fleck kommen", schreibt Engels. „Vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts an streben die Könige danach, sich von diesem Feudalheer zu emanzipieren, ein eigenes Heer zu schaffen. Von dieser Zeit an finden wir in den Armeen der Könige einen stets wachsenden Teil geworbner oder gemieteter Truppen . . . Anfangs meist Fußvolk, Lombarden, Genuesen, Deutsche, Belgier usw., zur Besetzung der Städte und zum Belagerungsdienst gebraucht, in offner Feldschlacht anfangs kaum zu verwenden. Aber schon gegen Ende des Mittelalters finden wir auch Ritter, die sich mit ihren wer weiß wie zusammengebrachten Gefolgschaften in Mietdienst fremder Fürsten begeben und damit den rettungslosen Zusammenbruch des feudalen Kriegswesen bekunden. Gleichzeitig erstand die Grundbedingung eines kriegstüchtigen Fußvolks in den Städten und in den freien Bauern, da, wo solche noch vorhanden oder sich neu gebildet hatten. Bis dahin war die Ritterschaft mit ihren ebenfalls berittenen Gefolgsleuten nicht sowohl der Kern des Heers, als vielmehr das Heer selbst; der Troß der mitlaufenden leibeigenen Fußknechte zählte nicht, er schien — im freien Feld — bloß vorhanden zum Ausreißen und zum Plündern. Solange die Blütezeit des Feudalismus währte, bis Ende des dreizehnten Jahrhunderts, schlug und entschied die Reiterei alle Schlachten. Von da an änderte sich die Sache." 68 Sie änderte sich definitiv seit der Schlacht bei Coutrai im Jahr 1302, als das französische Ritterheer gegen flandrische Bürgermilizen eine vernichtende Niederlage erlitt. 69 Noch verheerender wirkte sich vierundvierzig Jahre später im Hundertjährigen Krieg die Niederlage der französischen Ritterheere gegen die englischen nichtadligen Bogenschützen bei Crecy und noch einmal neun Jahre danach bei Poitiers aus: „Die erneute schwere Niederlage stürzte den französischen Staat in eine schwere Krise. Der Haß des Volkes gegen den Adel, der bei der Ausübung seiner kriegerischen Pflichten so augenscheinlich versagt hatte, steigerte sich weit über das übliche Maß hinaus. Der Chronist Jean de Venette berichtet, daß die Pariser, 'da sie wenig Vertrauen in den Adel setzten', ihre Stadt befestigten und verteidigungsbereit machten." 70 Doch nicht nur die Bürger zogen aus diesen Vorfällen die Lehre: gegen Ende des Hundertjährigen Krieges, 1445 bis 1448, zieht Karl VII. aus der inneren Bedrohung Frankreichs durch die unzuverlässigen Feudalherren und der äußeren durch den konkurrierenden englischen König die Konsequenz und richtet ein stehendes Heer ein, 39

das aus fünfzehn Kompanien zu je hundert bewaffneten Reitern, denen jeweils fünf Leichtbewaffnete zur Seite stehen, und aus Infanterie-(Bogenschützen-)Kompanien besteht. Der Unterhalt dieses Heeres war freilich nur über Sondersteuern möglich, die der K ö n i g nach Gegenwehr der Generalstände („Etats Généraux") bald über sie hinweg direkt einzieht. 71 Während die einen diese Einrichtung, zumal die Infanterie, die sogenannten Francs-Archers, die sich aus Nichtadligen rekrutieren und „francs" heißen, weil sie von Steuerabgaben frei sind, beklagen (sie begegnen übrigens — ohne Wertung — wenig später bereits im Tirant lo Blanc) 7 2 , begrüßen andre wie Jean de Bueil in seinem Le Jouvenceî (1463—1466) die militärische Erneuerung. Jean de Bueil versucht sofort, sie theoretisch und didaktisch zu fassen, wobei auf der Hand liegt, daß hier die letzte Reminiszenz an die höfische aventure verschwunden ist: „Was den K a m p f zu Fuß betrifft," schreibt er, „ s o ist er ganz das Gegenteil des Reiterkampfes, denn Fußsoldaten dürfen nie den Feind verfolgen, sondern müssen immer stehenden Fußes bleiben, ihre Kräfte sparen und mit allen Mitteln versuchen, ihre Feinde anmarschieren zu lassen." 7 3 Auch wenn die Formationen der Francs-Archers 1479 wieder aufgelöst werden, ist doch die Einrichtung des stehenden Heeres und die Kombination von stehender und mobiler Truppe ein entscheidendes D a t u m in der Geschichte der Kriegsführung (und des Untergangs der ritterlichen Kriegspraxis). E i n neuer Krieger-Typus ist entstanden: der Landsknecht, der Söldner, der das Kriegsgeschehen bis hinein ins 18. Jahrhundert bestimmen sollte und der sich oder dem man im 15. Jahrhundert einen bezeichnenden Namen gibt, den die Chevaliers sich nicht zugelegt hatten: Abenteurer, aventurier u s w : 1534 heißt es in der Beschreibung einer militärischen Avantgarde im Gargantua von Rabelais, sie bestünde aus „sechzehntausendvierhundert Arkebusiers und fünfunddreißigtausend und elf Abenteurern" 74 — burleske Zahlen, gewiß, aber die Sache der aventuriers, der Landsknechte, der Infanterie war eine ernste Angelegenheit: „. . . es war eine Kategorie von Männern geschaffen worden, die v o m Krieg und durch den K r i e g lebte", schreibt Engels. „ O b w o h l sich die Taktik dabei vielleicht verbesserte, hat der Charakter der Männer, die Zusammensetzung des Menschenmaterials der Armee wie auch ihre Moral bestimmt gelitten. Mitteleuropa war von Condottieri aller Schattierungen überlaufen, die religiöse und politische Streitigkeiten als Vorwand nahmen, das ganze Land zu plündern und zu. verwüsten. Der Charakter der einzelnen Soldaten entartete immer 40

mehr, bis die Französische Revolution dieses System des Söldnerdienstes endgültig hinwegfegte." 75 Vielleicht war in der Zügellosigkeit der Söldnerhaufen, die damit ja auch zu einem Sicherheitsrisiko für ihren jeweiligen Feldherrn wurden 76 *, der Grund zu sehen, warum der Begriff aventurier schon relativ rasch als militärischer Terminus verdächtig wurde bzw. außer Gebrauch geriet. Bereits im 16. Jahrhundert lassen die Termini chevetain, souldoyer und avanturier Henri Estienne (1531—1598) an die „vieille guerre", die >,alte Kriegsführung" denken. In den Contes et Discours d'Eutrapel von Noel Du Fail (1585) erhält jemand, der pietons und advanturiers zu sehen wähnt, die Antwort, es handle sich um die „brave fanterie", „die tapfere Infanterie" und Etienne Pasquier erklärt in seinen Kecbercbes de la France (1560ff.): „Wir wären keine Soldaten [guerriers], wenn wir die alten pietons und avanturiers nicht Infanterie nennen würden . . ." 77 Als pejorativer oder doch leicht abschätziger Begriff erhält sich der Terminus Abenteurer bzw. aventurier jedoch (außerhalb der Militärsprache) zur Bezeichnung des Landsknechtes und Söldners bis hinein ins 18. Jahrhundert. In dieser Bedeutung wird er durch die Lexikographen sogar dort bekannt gemacht, wo er nicht geläufig ist, in England. 1611 erklärt Rändle Cotgrave in seinem Wörterbuch A Dictionary of tbe Frencb and Englisb Tongues (Reprint Hildesheim — New York 1970) den französischen Begriff adventurier mit: „An aduenturer; one that freely and without compulsion, or charge goes to the warres; also, a free-booter, or boot-haler." „Abenteurer; einer der freiwillig und ohne Zwang oder Auftrag in den Krieg zieht; auch ein Freibeuter oder Räuber." Die letzten beiden Bedeutungen erwähnt Jacob le Duchat (1658—1735), Herausgeber von Rabelais und Mitarbeiter von Bayle, nicht, obwohl — wie wir sehen werden — zumindest der Gebrauch von aventurier für Freibeuter geläufig war: „ A v a n t u r i e r s . . . eine Art alter französischer Truppe . . .", lesen wir bei ihm. Dann nennt er Beispiele aus Rabelais, um zu folgern: „Daß man sie avanturiers nannte, führe ich darauf zurück, daß sie ohne Sold dienten, in der Hoffnung, ihr Glück nach dem Vorbild der fahrenden Ritter, die in den Wirtshäusern nicht zu zahlen pflegten und die von armen Unbekannten, die sie fast immer waren, nach und nach zu großen Herren aufstiegen, i n a v a n t u r e s z u finden." 78

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Das Abenteuer des Hidalgo

Der Kitter in der Wirklichheit Die Summe des gesamten Ritterwesens und der ritterlichen Ideologie wird von 1450 bis 1455, zur Zeit der Einrichtung des stehenden Heeres durch Karl VII. in Frankreich, vom Katalanen Joannot Martorell mit seinem Roman Tirant lo Blanc verfaßt. Er blieb unvollendet, wurde von Martí Joan de Galba zu Ende geschrieben und 1490 zum Druck gegeben.79 Um die Bedeutung des Buches, das von der Forschung zu wenig beachtet wurde 80 , ganz erfassen zu können, müssen wir die für die Abenteuer-Ideologie überhaupt eminent wichtige Situation des Ritterwesens in Spanien kurz ins Auge fassen. Wenn — wie wir feststellten — der Höhepunkt des realen Ritterwesens in Frankreich vor und in der Zeit der Herausbildung der zentralen Feudalmacht bzw. der zentralen Monarchie lag (also in der Zeit vom 9. bis zum 13. Jahrhundert), so können wir für Spanien eine einmalige Ausnahmesituation gegenüber Frankreich und allen anderen europäischen Ländern konstatieren, aus der allein zu erklären ist, warum die zweite Welle höfischer Abenteuer-Ideologie im 15. und 16. Jahrhundert aus Spanien kommt. Während alle anderen europäischen Länder in der Auseinandersetzung zwischen Fürsten bzw. Königen, kleinerem Feudaladel und aufsteigendem Bürgertum zu moderneren Staatsverfassungen zentralistischer bzw. stadtstaatlicher Art gelangen, befindet sich Spanien bis zum Jahre 1492 in einem Zustand, der im wesentlichen dem Frankreichs vom 9. bis zum 13. Jahrhundert ähnelt. So wie der Höhepunkt und das Ende des kämpfenden und fahrenden Rittertums in Frankreich mit der Entwicklung der ritterlichen Aventure-Ideologie im 12. Jahrhundert zusammenfällt, so in Spanien drei Jahrhunderte später mit der Entwicklung der Aventura-Ideologie des libro de caballería, des spanischen Ritterromans. Der Grund dafür: erst 1492 gelingt es den Spaniern, die Reconquista, die Rückeroberung Spaniens von den Mauren, die 711 die 42

iberische Halbinsel besetzt hatten, abzuschließen. Zwar begann die Reconquista bereits sieben Jahre später, 718 also, aber wie Pierre Vilar feststellt: „Spanien — und in Spanien vor allem Kastilien — war von 711 bis 1492 eine ununterbrochen im Kampf liegende Gesellschaft. 'Die Klasse, die kämpft', hat sich dabei natürlich den ersten Platz errungen. Mehr als irgendwo sonst ist der Großadel mächtig und der Kleinadel zahlreich geworden." 8 1 Über mehr als sieben Jahrhunderte ist dieser Adel, vor allem der Kleinadel, und d . h . : die Ritter, gezwungen gewesen, Krieg zu führen, und zwar in allen Formen: von der großen Schlacht bis zum kleinen Scharmützel mit dem maurischen Nachbarn im eigenen Land. Die tägliche Begegnung mit der realen Gefahr, mit dem realen Gegner, mit dem man das Land teilte, um das man stritt, konnte — und dies ist der Ursprung des spanischen Realismus in der Literatur, die wie überall zunächst die Literatur der führenden Klasse, des Adels war — keine märchenhafte Aventure-Ideologie aufkommen lassen. Tatsächlich dürfte die matière de Bretagne der höfischen Romane, die — wie wir aus verschiedenen Zeugnissen wissen 8 2 — durchaus bekannt war, in allem, was mit der aventure zu tun hat, kaum mehr Bedeutung besessen haben, als Märchengeschichten zukommt. Der Beweis ist, daß sich die matière de Bretagne in Spanien bis ins 15. Jahrhundert nicht hat durchsetzen können, keine bedeutende spanische Produktion anregte. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sic haben nicht das geringste mit einem speziellen („rassisch" bedingten!) „Nationalcharakter" der Spanier zu tun, wie oft behauptet wurde. 83 Das Haupthindernis für eine uneingeschränkte Assimilation oder Adaptation der matière de Bretagne muß in der märchenhaften Fiktionalisierung der ritterlichen aventure gesehen werden, die vor der realen Praxis des ritterlichen Kampflebens des spanischen Adels nicht bestehen konnte, nicht akzeptabel war. Akzeptabel war hingegen die ritterliche Ethik unter Absehung von der märchenhaften queste de l'aventure. Als sich das französische Ritterwesen literarisch zu artikulieren beginnt, hat es seinen Höhepunkt z. T. hinter sich, ist es bereits mitten im Übergang zum höfischen Adel. Als sich das spanische Ritterwesen zum ersten Mal literarisch zu Wort meldet, steckt es noch mitten in seinen heroischen Kämpfen und ist noch drei Jahrhunderte von der Herausbildung der zentralen Königsmacht und damit vom höfischen Adel entfernt. Das Bild des Ritters ist daher zunächst bestimmt von seiner realen geschichtlichen Erscheinung und seinen realen kriege43

rischen Tätigkeiten (mit anderen Worten: der spanische Ritter braucht keine Märchen zu erfinden, um sich wichtig zu machen: man wird ihn als Kitter noch bis zum Jahr 1492 gebrauchen). Der erste Ritter, der uns begegnet, wird sogleich zum Nationalhelden: Rodrigo Diaz aus Vivar, der den arabischen Ehrentitel Cid, „Herr" trägt. Der Cantar de Mio Cid, ein cantar de gesta (ein Heldenepos), zeigt uns den Adligen Rodrigo Diaz, der vom König Alfons VI von Kastilien (1072—1109) verbannt wird, weil er angeblich Tributunterschlagungen vorgenommen hat. Der Cid geht daraufhin auf die Suche nach aventura, d. h.: er geht auf Beutekrieg gegen die Mauren, erobert Valencia und beschwichtigt nach und nach den König mit Geschenken aus der Beute, die er macht. Im Unterschied zur französischen chanson de geste wie dem Rolandslied behandelt der Cantar de Mio Cid (entstanden wahrscheinlich um 1140) einen nur wenig zurückliegenden geschichtlichen Vorgang und zeichnet sich aus durch realistische Darstellung bis hinein in die Details der Geographie und des tatsächlichen täglichen Lebens. Angesichts der skizzierten Verhältnisse könnte eigentlich nur das Gegenteil überraschen: Villehardouins Beschreibung des vierten Kreuzzugs nur 60 Jahre danach ist nicht weniger realistisch.

Caballero— Hidalgo Die tägliche Aktualität der ritterlichen Kriegstätigkeit bestimmt auch die übrigen cantares de gesta,84 die Chroniken und die anderen literarischen Gattungen. Das heißt aber keineswegs, daß die französische höfische Literatur ohne Einfluß geblieben sei. Im Gegenteil: wenn wir uns vor Augen halten, daß die spanischen Ritter bis hinein ins 15. Jahrhundert nicht ausschließlich aus dem Adel, sondern immer wieder auch aus anderen Ständen, vor allem dem der Bauern kommen, ist einsichtig, daß dem König das ritterliche höfische Tugendsystem, das in Frankreich vor allem im höfischen Roman entwickelt worden war, zur Disziplinierung der „rauhen Gesellen" sehr zustatten kam. So finden wir in den unter Alfons dem Weisen (1221—1284) verfaßten Gesetzestexten der Siete Partidas im Título XXI einen ganz ausführlichen Sitten- und Ehrenkodex des Ritterstandes, der ohne das französische Vorbild nicht denkbar wäre, der aber völlig frei von jeder unrealistischen oder 44

gar märchenhaften Komponente ist (sieht man ab von der Spekulation über den etymologischen Ursprung des lateinischen Wortes für Ritter — miles). Zunächst einmal ist festzuhalten, daß der Ritter, der Caballero, nicht notwendigerweise Adliger sein muß (eine Vorstellung, die wir bis in den Tirant lo Blanc verfolgen können). Freilich wird man im Normalfall Ritter, wenn man „guter Herkunft" ist, und das schließt ein, das man auch von „gutem Besitz" ist: „fijo de algo" („Sohn von Jemand/Etwas", später: hijodealgo oder hidalgo). Das heißt: der Caballero stammt normalerweise aus dem Adel. Man kann aber auch Ritter auf Grund bestimmter geistiger oder körperlicher (kriegerischer) Qualitäten werden. Wer aufsteigt in den Ritterstand, in die Caballería, erwirbt dadurch einen adligen Sonderstatus und die Hidalguía (materieller Vorteil: die Steuerfreiheit). Wer aufsteigen darf, wird in den Siete Partidas nicht spezifiziert, dafür aber, wer nicht aufsteigen darf: der Geistliche, der Verrückte, der Unmündige, der Arme (vorgeblich, weil ein Ritter nicht betteln darf), der Krüppel, der Händler, der Verräter, der Kriminelle, der Mörder (es sei denn, er sei freigekommen und die Anschuldigung zurückgenommen), usw. Auch käuflich darf der Rang eines Caballero nicht sein, weil sich Adel nicht kaufen läßt.85* Wenngleich der Gesetzestext nicht in allen Einzelheiten eindeutig ist, läßt sich doch feststellen, daß die Aufnahme in die Caballería verstanden wird als Aufnahme in die Hidalguía, in den Adel, so daß — bei allen Unterscheidungen von Hidalgo und Caballero — ein grundsätzlicher Zusammenfall der beiden Kategorien anzunehmen ist (der Hidalgo ist Hidalgo und Caballero aus Erbschaft, der Caballero ist Caballero und Hidalgo aus Verdienst und Dienst: im Prinzip ist der Hidalgo auch Caballero und umgekehrt).

Die böfiscbe Erziehung des Caballero Ob adlig oder nicht: wie bereits angedeutet, müssen wir uns die Caballeros, die die Reconquista besorgten, als einen wilden Kriegerhaufen vorstellen, der vom Ideal des höfischen Ritters nach französischem Vorbild weit entfernt ist. Dies machte eine um so intensivere ideologische Schulung notwendig, damit innerhalb der Ritterschaft bestimmte Prinzipien militärischer Tugend und höfischer Vasallentreue durchgesetzt werden konnten. So heißt es bereits 45

in den Siete Partidas (im 20. Gesetz)86, daß der Ritter mit der entsprechenden Literatur vertraut gemacht werden muß, wenn er nicht gerade Krieg führt. Dabei soll jede andere Lektüre als die der cantares de gesta oder anderer Kriegsgeschichten verboten sein. Noch gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts, verfaßt ein berühmter Zeitgenosse Alfonsos, Ramón Llull, den vielleicht wichtigsten Traktat zum Ritterwesen, das Ubre del Orde de Cavalleria (Buch vom Kitterorden), das wenige Jahre später Don Juan Manuel zur Abfassung seines Libro del Caballero y del Escudero (Das Buch vom Kitter und vom Schildknappen)87 veranlaßte. Die Schrift Llulls, die — auch in Übersetzung — weite Verbreitung fand, ist ein Traktat der Pflichten und Tugenden des Ritters, der z. T. die Gesetze aus den Siete Partidas vertieft und erweitert. Vorgetragen wird die Ritterlehre von einem alten Eremiten, der selbst in seiner Jugend ein tapferer Ritter gewesen ist. Zu ihm kommt ein escuyer, ein junger Ritter (genauer: Schildknappe), der auf dem Weg zu einem großen Turnier ist und der vom Ritter belehrt wird. Wichtigste Elemente dieser Belehrung: die soziale Funktion des Ritters als polizeiliches und militärisches Werkzeug des Königs wird definiert. Aus ihr leiten sich seine Aufgaben (Schutz der Kirche, des Königs und der Laienstände) ab. Bemerkenswert, daß, wie in den Romanen der matière de Bretagne, darauf hingewiesen wird, der König sei für sich allein schwach88, (auch der König muß übrigens erst den Rittergrad erwerben, den er von einem Ritterorden erhält) und der Ritter habe die Königsmacht so zu verteidigen wie das Recht der Nichtadligen und der Armen. 89 Der Ritter ist daher auch „escut" (Schild) zwischen „Rey et son pöble", zwischen dem König und seinem Volk. 90 Vom höfischen Aventure-Ideal findet sich — wenn überhaupt — nur eine Spur in der Pflicht des Ritters, zum Waffentraining und zur Schulung der kämpferischen Tugenden an Tunieren teilzunehmen.91 Das reale Individual-Abenteuer jedoch ist ganz eindeutig in die Kategorie des illegalen Raubrittertums und der Wegelagerei abgeglitten: 92 die allgemeinste und umfassendste Pflicht des Ritters nämlich ist, dem Gemeinwohl zu dienen. Er muß „amador de be comú" sein, das Gemeinwohl (um den Lohn der Steuerfreiheit) lieben.93

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Der Hidalgo und die Herausbildung der spanischen Nation Im 14. Jahrhundert ist die Reconquista fast ausschließlich zur Angelegenheit des Binnenstaates Kastilien geworden: sowohl Portugal als auch Aragon/Katalonien sind in diesem Jahrhundert auf die zunehmende Entwicklung ihres Stadtbürgertums und des Seehandels orientiert. Vor allem Aragon/Katalonien mit dem Handelszentrum Barcelona nimmt einen gewaltigen ökonomischen und politischen Aufschwung: Tunis wird erobert, die Regierungsgewalt der Könige von Aragon über Sizilien hergestellt, Teile Griechenlands werden besetzt, Handelsniederlassungen in Kleinasien gegründet und die Konkurrenten in Pisa und Genua bekämpft. In Barcelona gründen die Handelsbürger den „Consell de Cent" 9/> (den „Rat der Hunderte") und die Ständevertretung, die „Corts", aber politische und ökonomische Krisen zwingen Aragon/Katalonien zu Beginn des 15. Jahrhunderts trotz erbitterter (bewaffneter) Gegenwehr der Bürger (vor allem Barcelonas) unter die Herrschaft Kastiliens, die mit Juan II. (1406—1454) beginnt, mit Enrique IV. (1454—1474) trotz aller innenpolitischen Schwierigkeiten fortgesetzt wird, und in der Übernahme der Herrschaft durch seine Schwester Isabel, verheiratet mit Fernando, König von Aragon, die endgültige politische Einigung Spaniens bringt. Diese Zeit der Einigung Spaniens und der Herausbildung der absoluten Monarchie, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einen bedeutenden ökonomischen Aufschwung bringt (Kauffahrerei, Wollexport) 95 und in deren Verlauf auch die Reconquista 1492 mit der Eroberung Granadas abgeschlossen wird, ließ die Zahl der zum Militärdienst benötigten Hidalgos bzw. Caballeros erheblich anschwellen und die Hidalgos selbst nach Abschluß der Reconquista, nach der Herausbildung der absoluten Monarchie und der Befriedigung des Landes in die Krise gelangen, die das französische Ritterwesen im 13. Jahrhundert im wesentlichen hinter sich gebracht hat. Bereits Juan II. hatte in größtem Umfang Bauern und Handwerker in den Ritterstand erhoben, „so daß die Cortes von Zamora des Jahres 1432 dem Könige die starke Belastung der steuerpflichtigen Bevölkerung vorstellten, wenn so zahlreiche Personen neu die Ritterwürde erlangten und damit das Privileg der Steuerfreiheit erhielten" 96 . Juan II. aber benötigte die neuen Ritter in der Auseinandersetzung mit aufrührerischen Feudalherren, und auch Enrique IV. und Isabel und Fernando, „los 47

Reyes Católicos" (die „ K a t h o l i s c h e n K ö n i g e " ) setzten diese Politik fort, die die H i d a l g o s in das große soziale D i l e m m a führen mußte. Der K ö n i g (vor allem Isabel und Fernando, der sich auch z u m Großmeister der drei in Spanien existierenden Ritterorden ernennen ließ, womit er die unmittelbare K o m m a n d o g e w a l t über die spanische Ritterschaft gewann) spielte das aufsteigende Stadtb ü r g e r t u m zusammen mit den Rittern g e g e n den Großadel aus, b e k ä m p f t e aber gleichzeitig die Ritter mit den v o n den „ R e y e s Católicos" (1486, 1488) unterstützten und privilegierten B ü r g e r wehren, den Hermandades. 9 7

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Blatte"

In dieser E p o c h e der erheblichen V e r m e h r u n g der Ritterschaft durch Nichtadlige und der mit ihr bewerkstelligten Zentralisierung der Macht am K ö n i g s h o f stellte sich f ü r die H i d a l g o s unausweichlich die F r a g e nach der sozialen Funktion entweder als Soldat im (Ritter-)Heer, das v o n z. T . gerade ernannten H i d a l g o s gebildet war, oder als H ö f l i n g (daß D o n E n r i q u e de Villena in den vierziger J a h r e n des 15. Jahrhunderts u. a. seine Kunst mit dem Messer schneiden, einen Traktat höfischen Benehmens, verfaßte, ist kein Zufall). D e n Versuch, den sich abzeichnenden Niederg a n g des Ritter-Kriegers zu beeinflussen oder gar aufzuhalten und dem Ritter in der V e r b i n d u n g v o n Einzelkrieger, Soldat, Heerführer und H ö f l i n g einen neuen sozialen Standort zu verschaffen, stellt der bereits erwähnte R o m a n Tirant lo Blanc dar, der genau u m die Jahrhundertmitte entstand. In ihm finden wir s o w o h l die Realistik der K a m p f s c h r i f t e n des kastilischen Adels, der cantares de gesta, als auch die erstrebte Nobilitierung und V e r h ö f l i c h u n g des Ritters durch R a m ó n Llull, dessen Traktat v o n Martorell in den R o m a n eingearbeitet wird. Sein geistreicher Einfall besteht darin, das Libre del Orde de Cavalleria in das A u s g a n g s e l e m e n t eines R o m a n s zu verwandeln, mit dem er die B e d e u t u n g des Ritters für die „república", für das G e m e i n w o h l 9 8 beweisen will und — dies gibt d e m R o m a n durchaus tragische Dimensionen — d o c h nur seinen U n t e r g a n g beweist (daß Cervantes diesen R o m a n hochschätzte 9 9 , ist ebensowenig Zufall wie die Tatsache, daß der Protagonist Tirant lo Blanc am E n d e des R o m a n s unritterlich stirbt). Martorell verlängert die v o n Llull gestaltete E p i s o d e der Be48

gegnung zwischen altem Eremiten und jungem Ritter in die Vergangenheit und in die Zukunft: die Lebensgeschichte des Eremiten wird erzählt bis zu dem Zeitpunkt, da ihm der junge Schildknappe begegnet, und dessen Lebensgeschichte, im Roman also die Tirant lo Blancs, wird weiter verfolgt bis zum Tod. Das Buch ist als Summe und als Erprobung angelegt: die Vorstellung vom Rittertum, die der Eremit (in der Transkription des Libre del Orde de Cavalleria) vermittelt, ist das Ergebnis des Rittertums in seiner Geschichte, und die Vita des jungen Ritters Tirant lo Blanc ist der Versuch, die (ethischen und sozialen) Errungenschaften des Rittertums in der zeitgenössischen Wirklichkeit zu realisieren, an ihr zu erproben. Eine märchenhafte Fiktionalisierung wäre daher der Intention des Autors diametral entgegengesetzt gewesen. Zwar kennt er die matière de Bretagne und erwähnt z. B. „les aventures de Lançalot" 100 , aber er verzichtet grundsätzlich auf Märchenszenen zugunsten eines eindrucksvollen Realismus, der Cervantes begeisterte. Geht man davon aus, daß es sich im Tirant lo Blanc um einen politischen Roman handelt (was zweifellos der Fall ist), dann ist der Realismus mehr als verständlich: auf die kastilisch-katalanische Kriegsrealität des 15. Jahrhunderts konnte mit Geschichten von Feen und Zauberern kaum Einfluß genommen werden. Martorell konstruiert daher seinen Roman mit Elementen aus der zeitgenössischen Geschichte Kataloniens, die mit dem Kampf um Rhodos bis ins Jahr 1444 reicht, also nahezu zeitgleich mit der Entstehung des Romans selbst ist. Die wichtigste Struktur, die Thematik der Eroberung Konstantinopels durch Tirant lo Blanc, der Kämpfe in Kleinasien und Afrika, die den Hauptteil des Romans und damit der Lebensgeschichte Tirant lo Blancs ausmacht, entstammt der Chronik Ramön Muntaners, der 1302 dem katalanischen Abenteurer-Heer angehörte, das unter Führung Roger de Flors gegen den Handelskonkurrenten Genua und gegen die Türken aufbricht. Durch den Frieden von Caltabellota im Jahr 1302 war dieses Heer beschäftigungslos geworden, „ohne Möglichkeit, guten Sold zu erlangen oder sich selbst mit reicher Beute zu versehen, die der Krieg ihm geliefert hatte." 101 Roger de Flor, Ritter vom Templer-Orden, erhält daher vom König von Aragon die Erlaubnis zu einem Beutezug gegen die Türken, der in vielem dem Beute' zug des vierten Kreuzzuges ähnelt, den Villehardouin beschrieb. Martorell, dem Roger de Flor die Vorlage für seinen Tirant lo 4

Neriich, Kritik

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Blanc liefert und dem die materiellen Motive ebensowenig verborgen blieben wie die Tatsache, daß es sich um eine wilde Soldateska handelte, die ihre Massaker und Beutezüge in Kleinasien veranstaltete, und nicht um Ritter, versucht nun, die aktuelle Realität mit dem Ideal höfischer Gesittung in Einklang zu bringen. Dabei bedient er sich zwar der verschiedensten Mittel, aber die Grundkonzeption ist ziemlich klar und eindeutig. 102 * Martorell versucht, die Veränderung des Ritterwesens ins soldatische Militärwesen dadurch zu rechtfertigen, daß er der alten Ritterschaft „moderne" Kampfmethoden unterstellt: der Eremit war nicht nur Ritter gewesen, sondern er war in den Kämpfen mit den „Heiden" auch zum Spezialisten der Kriegslist geworden (wenngleich sie ihm natürlich von der Schlechtigkeit des Gegners aufgezwungen war). Er setzt sich in einer bestimmten Situation an die Spitze seines Landes (bei Martorell England) und dessen Ritterarmee und schlägt den (islamischen) Agressor mit Bluff, Sprengstoff, Fußangeln (und Grausamkeit sowieso). Aus dieser „modernen" Kriegstaktik führt Martorell in „ursprüngliches" Rittertum: ein Zweikampf zwischen dem Eremiten/König/Heerführer und dem islamischen Heerführer/König bringt die Entscheidung in diesem Krieg. Der Eremit kehrt nach siegreich bestandenem Zweikampf in seine Einsamkeit zurück, um dort seiner Frömmigkeit entsprechend Gott zu dienen und das Ideal des Ritterwesens zu studieren. Sein Wissen gibt er dann weiter an Tirant lo Blanc. Tirant seinerseits, vertraut mit der Ritterdoktrin (Ramón Llulls) zieht zuerst an den Hof, wo er Turniere und Zweikämpfe besteht, um dann von England aus als Capitán mit einem Schiff zur Befreiung von Rhodos aufzubrechen. Auf dieser Fahrt schließen sich immer mehr Ritter an, darunter auch große Herren wie der Sohn des französischen Königs und etwas später auch der König von Sizilien. Die Geschichte soll uns hier weiter nicht interessieren. Wichtig für uns ist, daß aus dem fahrenden (Turnier-)Ritter Tirant der Führer eines Massenheeres wird, der kolonialen Besitz erobert und ausbeutet und als Cäsar seines Imperiums („Princip i César de l'Imperi grec") endet. Der Ritter hört damit auf zu existieren. Das kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß Tirants Liebe zur Prinzessin Carmesina unerfüllt bleibt und Tirant an einer Krankheit stirbt, ganz unritterlich wie ein Nichtadliger, ein Bürger oder — ein König.

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Vom Hidalgo %um Soldaten Tirant lo Blatte stellt den letzten, verzweifelten Versuch dar, „die traditionelle ritterliche und die moderne strategische Kampfesweise, zugleich aber auch den Anspruch des Idealen und die 'Erfordernisse des Lebens' miteinander zu vermitteln und das Neue an das Althergebrachte anzuschließen103". Doch der Realismus der Darstellung feiert auch hier (wie später bei Balzac) seinen Triumph über die (wahrscheinliche) Intention des Autors (dessen partiell ironischer Ton wohl vor allem aus der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal resultiert, die er überbrücken will). Die realen Gründe für die zeitgenössische Kriegsführung ließen sich nicht länger verbergen: Landbesitz, Ausbeutung, (See-)Handel sind die, auch im Tirant lo Blanc nicht verschwiegenen, tatsächlichen Triebfedern für Kriege, die nichts Ritterliches im Sinn des Ideals an sich haben und zum Massenschlachten geworden sind, das Söldner besorgen und das Martorell in seiner Grausamkeit präzis beschreibt. Für die Ritterheere im Inneren Spaniens, für die Masse der Hidalgos (in bestimmten Gegenden war die Hälfte der Bevölkerung Hidalgos),104 bot der Roman Martorells und Galbas absolut keine Perspektive mehr.105* Abgesehen davon, daß die einst bekannte und gepflegte Erwerbsform der Abenteuer-Beutezüge106 mit der zunehmenden Zentralisierung und Befriedung des Landes immer unpraktikabler wurde, werden mit der Rückeroberung Konstantinopels durch die Türken, mit der Herausbildung der Handelskonkurrenz der anderen Nationen und dem dadurch entstehenden internationalen (wenn auch prekären) Gleichgewicht auch Beutezüge wie der des Roger de Flor unmöglich. An die Stelle der von international zusammengewürfelten Abenteurerheeren betriebenen Plündereien tritt der nationalstaatliche Machtkampf, der eine andere Kriegsführung und ein disponibles Massenheer notwendig macht, für das in Spanien Gon^alvo de Córdoba (1443—1515), genannt „El Gran Capitán", der 1504 Neapel für die spanische Krone erobert, die Grundlage schafft. In diesem Massenheer wird ein großer Teil der beschäftigungslosen Ritter absorbiert.

Wohin mit dem Hidalgo? „Die Hidalguía als Würde und Vorrecht eines Kriegerstandes hatte damit ihren Sinn verloren . . . Das Waffenhandwerk war zu einem bloßen Gelderwerb geworden und vertrug sich nicht mehr mit 4»

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dem Ehrbegriff des Adels und den Vorstellungen der altständischen Gesellschaftsordnung."107 Es ist daher nicht überraschend, daß viele Hidalgos den Weg zum Soldatenhandwerk nicht einschlagen. Auch von der Möglichkeit, die Hidalguía aufzugeben und sich als Bürger eine neue Existenz aufzubauen, wird kaum Gebrauch gemacht,108 wobei freilich bemerkt werden muß, daß der arme Hidalgo bei einer Preisgabe seiner Hidalguía sogar noch sein einziges Privileg, die Steuerfreiheit, eingebüßt hätte, ohne etwas dabei zu gewinnen, denn auch vom Bürgertum aus war ohne Kapital kein Aufstieg möglich, ganz abgesehen davon, daß die soziale Struktur die Rittermassen gar nicht hätte absorbieren können. Die Existenz verarmter, beschäftigungsloser Hidalgo-Massen wird daher zu einem der gravierendsten sozialen Probleme Spaniens im ausgehenden 15., im 16. und 17. Jahrhundert: auch die Einrichtung von immer mehr Beamtenstellen, die nur der Hidalguía vorbehalten sind, schafft keine grundsätzliche Abhilfe. Es blieb dem Hidalgo, der auf seine Hidalguía besonderen Wert legte, nur die Möglichkeit des Aufstiegs am Hof als Cortesano, als Hofmann, oder die ehrenvolle, aber unerträgliche Rolle des adligen Nichtstuers und ggf. Hungerleiders (von dem uns die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts manches Porträt überliefert hat). Der Andrang zum Hof war natürlich ungeheuerlich, und mit ihm, d. h. mit der Herausbildung der absoluten Monarchie entstand auch das (für Spanien) neue Ideal des Hofmanns, das z. B. von Antonio de Guevara (1480?—1545) mit seinem Fürstenspiegel Libro áureo del Emperador Marco Aurelio (Das Goldene Buch des Kaisers Marc Aurel, 1529) propagiert wurde.109 Guevara aber sieht gleichzeitig die sozialen Probleme, die sich für die Masse der Hidalgos aus der Zentralisierung und damit für die Gesellschaft insgesamt ergeben. Er widmet ihnen einen ausführlichen Kommentar, in dem er Vorschläge für eine „praktische" Lösung dieser Probleme mit der Propagierung einer neuen „edlen" Ideologie verbindet: den Menosprecio de Corte y Alabanya de Aldea (Geringschätzung des Hofes und Lob des Dorfes, 1539). Der Hofmann Guevara bettet seine Ratschläge in vielerlei moralische Betrachtungen ein. So handelt er z. B. über den Vorteil eines aktiven gegenüber dem Nachteil eines passiven Lebens, das zur Melancholie führen muß110 — ein Thema, das für die gesamte Zeit der Herausbildung des modernen Kapitalismus von größter Bedeutung sein wird.111 Auf dem Hintergrund des allgemeinen Lobes des aktiven Lebens auf dem Land, 52

das den Vorteil hat, friedlich und gesund zu sein, zeichnet sich die politische Intention Guevaras besonders deutlich ab: „Es ist der Vorteil des Dorfes, daß der Hidalgo oder der reiche Mann, der in ihm lebt, der Beste unter den Guten oder einer der Besten ist, was am Hof oder in den großen Städten nicht der Fall sein kann, weil dort viele andre leben, die ihn, was den Reichtum angeht, übertreffen." 112 Während das Hofleben teuer sei, gewähre das Landleben wirtschaftliche Vorteile, da z. B. die Haushaltskosten und der Personalaufwand geringer seien. 113 Man brauche keine (höfischen) Diener und keinen Schildknappen, 114 und der Hidalgo genieße trotz ärmlicher Kleidung auf dem Dorf größere Achtung als ein mit Pelzen gekleideter Adliger bei Hof. 1 1 5 „Die Leser dieser Schrift bitte ich, daß sie sich dies eher zu Herzen nehmen, statt darüber zu lachen, denn es ist ein vernünftiger Rat für den armen Hidalgo, auf einem Esel Essen zu suchen statt auf einem Pferd Hunger." " 6 *

Wer nicht übers Meer fährt, besteht keine Abenteuer Guevaras Ratschläge sind nicht aus der Luft gegriffen: zum einen blüht, während er seinen Traktat verfaßt, die Schafzucht und damit der Wollhandel auf, zum anderen ziehen nicht nur zahlreiche Adlige, sondern auch zahlreiche Stadtbürger aufs Land, 1 1 7 aber sowohl für das eine als auch das andere braucht man ein Minimum an Kapital, und auch das reicht nicht mehr aus, als um 1550 die große Krise in Spanien einsetzt. Wie auch immer: sein Rat konnte keine große Erleichterung bringen, vorausgesetzt, er wurde überhaupt befolgt. Wenig Erleichterung brachte auch die Entdeckung und Eroberung Amerikas für das Hidalgo-Problem. Zwar gingen (neben Schafshirten und Söldnern) auch Hidalgos, „die von den Großgrundbesitzern ruiniert worden waren", 1 1 8 nach Amerika. Sie besetzten dort die relativ wenigen Kommandoposten oder sie versuchten, ihre Abenteuercaballero-Existenz fortzusetzen, ohne seßhaft zu werden und sorgten so für die überseeische Kontinuität der spanisch-mittelalterlichen Ritterideologie. 119 Doch spätestens nach 1560 war auch diese Möglichkeit weitgehend erschöpft 1 2 0 und der Abenteuer-Existenz auch in dieser Hinsicht grundsätzlich ein Ende bereitet, so daß man das spanische Sprichwort „Quien 53

no se aventura, no pasa la mar" „Wer nichts wagt, kommt nicht übers Meer" (wahrscheinlich zur Zeit der Conquista entstanden) umdrehen könnte: „Wer nicht übers Meer fährt, besteht keine Abenteuer", denn in Spanien selbst blieb neben den kärglichen genannten Möglichkeiten nur noch der Eintritt ins Kloster bzw. der Beruf des Priesters. Nicht zuletzt darauf ist zurückzuführen, daß die unzähligen Priester nach 1570 zu einer regelrechten (ebenfalls unproduktiven) Landplage wurden, was den Literaten (wie z. B. Quevedo) natürlich nicht entging.

Kitterdämmerung und Kitterroman Die Zeit der Herausbildung der absoluten Monarchie mit all ihren Konsequenzen für die Ritterschaft (Verwandlung in Militär, Entwicklung zum Cortesano, verarmte Hidalguía, Auswanderung, Verbeamtung, Priesterlaufbahn) ist in Spanien wie überall sonst die Zeit der Ritterdämmerung, des Untergangs der Caballeros. Die Hidalgos, die sich nicht den neuen Verhältnissen anpassen konnten, waren Legion. Dies genau ist die Zeit, in der in Spanien (nicht überraschend) nicht nur die matière de Bretagne aufgegriffen und adaptiert wird, sondern auch eine enorme Produktion unrealistischer, von Drachen und Zauberern, Riesen und Feen bestimmter märchenhafter Ritteromane einsetzt.121 Dem Verlust der realen Bedeutung des Ritterwesens entspricht eine massenhafte Propagierung des märchenhaften Ritterabenteurer-Ideals, dem Garci Ordoñes de Montalvo 122 * mit dem berühmten Amadis de Gaula (Amadis von Gallien, 1492) als erstem Werk dieser Gattung gleich sein bedeutendstes Denkmal setzt. Ihm folgte eine Flut mehr oder weniger bedeutender Nachahmungen, die uns hier nicht weiter interessieren sollen. Sie werden im Don Quijote im Gegensatz zu Tirant lo Blanc und auch zum Amadis selbst alle verurteilt. Das Geschick des Protagonisten, Amadis, wird bestimmt vom bösen Zauberer Arealaus und von der guten Fee Urganda, die Amadis bei seinen aventuras zur Seite steht. Dadurch wird Amadis, dessen Geburt bereits von merkwürdigen Vorfällen begleitet war, weitgehend zum Spielball von Mächten, die ihn beherrschen, ohne daß er sich dagegen wehren könnte (bezeichnend z. B. das Kapitel, in dem der von Arealaus verzauberte und für tot erklärte Amadis wieder entzaubert wird, da ein Mann wie er so nicht sterben darf, 54

sondern Gott viel eher wolle, daß von seiner „Hand die andern sterben, die es verdienen." 123 ) „Dadurch," schreibt Hans-Jörg Neuschäfer, dessen kurze und treffende Analyse hier zitiert sein soll, „gerät der Held . . . in eine so große Abhängigkeit vom guten Feenzauber, daß seine Aventüre vollends märchenhaft wird; auch bleibt sie wegen des fehlenden Zielpunktes funktionslos und erscheint so weitgehend nur noch als selbstzweckhaftes Spiel. Funktionslos ist das Abenteuer auch insofern, als es hier nicht mehr im Auftrag und zum Ruhm einer festumrissenen und an einem Ort — dem Artushof — konstituierten feudalen Gesellschaft, sondern gleichsam auf eigene Rechnung unternommen wird. Amadis hat damit auch keinen festen 'Standort' mehr, von dem er ausgehen und an den er am Ende zurückkehren könnte; er ist nur noch fahrender, stets in der Welt umherirrender Ritter." 124 Hält man sich vor Augen, daß im Jahr der Entdeckung Amerikas für das spanische Ritterwesen und damit für das Ritterwesen überhaupt die Stunde geschlagen hat, ist die Transponierung des Ritter-Abenteuers in die unabschließbare Irrationalität fiktiver literarischer Märchenaventuren adäquater und genialer Ausdruck einer geschichtlichen Situation, was den Amadis im Gegensatz zu den an ihm orientierten Nachahmungen nicht nur vor der Verurteilung durch Cervantes gerettet haben dürfte. Mehr aber noch als die Ritterromane selbst muß uns das Echo interessieren, das sie gefunden haben: ihre Verbreitung war ungeheuerlich und erstreckte sich auf alle europäischen Ländern.

Konterrevolutionäre Ritterabenteuer-Ideologie

Zum spanischen Kitterroman In seiner Schrift Der deutsche Bauernkrieg hat Friedrich Engels mit bewundernswürdiger Klarheit die Fraktionierung der verschiedenen Klassen des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts dargelegt. Wenngleich auf die deutschen Verhältnisse bezogen, sind die von Engels analysierten Verhältnisse doch in der Grundstruktur repräsentativ für die Zustände in Europa ganz allgemein (freilich stets in ihrer nationalspezifischen Ausprägung, die von der in Deutschland — vor allem in Italien und England — durchaus abweichen konnte): „Aus der feudalen Hierarchie des Mittelalters war der mittlere Adel fast ganz verschwunden; er hatte sich entweder zur Unabhängigkeit kleiner Fürsten emporgeschwungen oder war in die Reihe des niederen Adels herabgesunken. Der n i e d e r e A d e l , die R i t t e r s c h a f t , ging ihrem Verfall rasch entgegen. Ein großer Teil war schon gänzlich verarmt. . . Die Entwicklung des Kriegswesens, die steigende Bedeutung der Infanterie, die Ausbildung der Feuerwaffe beseitigte die Wichtigkeit ihrer militärischen Leistungen als schwere Kavallerie und vernichtete zugleich die Uneinnehmbarkeit ihrer Burgen . . . Das Geldbedürfnis der Ritterschaft trug zu ihrem Ruin bedeutend bei. Der Luxus auf den Schlössern, der Wetteifer in der Pracht bei den Turnieren und Festen, der Preis der Waffen und Pferde stieg mit den Fortschritten der gesellschaftlichen Entwicklung, während die Einkommensquellen der Ritter und Barone wenig oder gar nicht zunahmen. Fehden mit obligater Plünderung und Brandschatzung, Wegelagern und ähnliche noble Beschäftigungen wurden mit der Zeit zu gefährlich . . . Um ihre zunehmenden Bedürfnisse zu decken, mußten die gnädigen Herren zu denselben Mitteln ihre Zuflucht nehmen wie die Fürsten. Die Bauernschinderei durch den Adel wurde mit jedem Jahr weiter ausgebildet. Die Leibeigenen wurden bis auf den letzten Blutstropfen ausgesogen . . . Die Justiz wurde 56

verweigert und verschachert, und wo der Ritter dem Gelde des Bauern noch nicht beikommen konnte, warf er ihn ohne weiteres in den Turm und zwang ihn, sich loszukaufen."125 Auch mit den „übrigen Ständen", den Fürsten, der Geistlichkeit und den Städten „lebte der niedere Adel. . . auf keinem freundschaftlichen Fuß . . . Mit den Städten lag er sich fortwährend in den Haaren; er war ihnen verschuldet, er nährte sich von der Plünderung ihres Gebiets, von der Beraubung ihrer Kaufleute, vom Lösegeld der ihnen in den Fehden abgenommenenen Gefangenen. Und der Kampf der Ritterschaft gegen alle diese Stände wurde um so heftiger, je mehr die Geldfrage auch bei ihr eine Lebensfrage wurde." 126 Daß das, was Engels für den deutschen Kleinadel konstatiert, in potenzierter Weise für die Hidalguía in Spanien galt, haben wir gesehen: sie hatte ihré entsprechende Kampfliteratur hervorgebracht, die sich mit Windeseile über Europa ausbreitete. Denn wenn wir fragen, wessen Interessen die Ritterabenteuer-Literatur in der Nachfolge des Amadis ausdrücken konnte, so ist zumindest die Negation einigermaßen genau zu präzisieren. Ganz gewiß drückte die Literatur, die den abenteuernden, fahrenden Ritter (den „Chevalier errant") und damit notwendigerweise das von Engels beschriebene Sozialverhalten der Ritterschaft verherrlichte, n i c h t die Interessen der Bauern und des niederen Bürgertums aus. Doch auch das Stadtbürgertum konnte sich im Ritterabenteurer nur schwer wiedererkennen, und nicht anders konnte es dem Fürsten bzw. König gehen.127* Dennoch mußte gerade die Haltung des Fürsten bzw. Königs sowie die der Geistlichkeit und die der Fraktionen des Bürgertums, die mit Fürst und Klerus verbunden waren, gegenüber der modernen Ritterideologie zwiespältig sein, zumal es vor allem dem Fürsten und der höheren Geistlichkeit darauf ankam, die verfeindeten Klassen gegeneinander auszuspielen bzw. die Klassengegensätze in der ihnen jeweils günstigsten Balance zu halten: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten," schreibt Engels, und es ist klar, daß dies mit besonderer Schärfe für die Zeit der Entstehung der Nationalstaaten gilt, „da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse." 128 Natürlich gibt es innerhalb der verschiedenen Klassen divergie57

rende und miteinander im Streit liegende Fraktionen, kommt es zu Bündnissen zwischen Fraktionen verschiedener Klassen usw. Dies gilt auch für den ideologischen Ausdruck dieser divergierenden oder konvergierenden Klasseninteressen, und zwar auch im Hinblick auf die Ideologie des untergehenden, niederen Adels, die sich u. a. im Ritterabenteuer-Roman ein Vehikel schafft. Viele Forscher haben es sich angewöhnt, diese Ritterromane abgehoben von den Klassenkämpfen und Klasseninteressen aus einem abstrakt-modernen Gesichtswinkel als weitgehend klassenunspezifische Unterhaltungsliteratur für ein ebenfalls abstrakt behandeltes (Massen-) Publikum zu betrachten. Es gilt aber für die Ritterabenteuer-Ideologie des 16. Jahrhunderts das gleiche, was Engels für die religiösen Auseinandersetzungen feststellt: „Auch in den sogenannten Religionskriegen des sechzehnten Jahrhunderts handelte es sich vor allem um sehr positive Klasseninteressen, und diese Kriege waren Klassenkämpfe, ebensogut wie die späteren inneren Kollisionen in England und Frankreich, Wenn die Klassenkämpfe damals religiöse Schibboleths trugen, wenn die Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der einzelnen Klassen sich unter einer religiösen Decke verbargen, so ändert das nichts an der Sache und erklärt sich leicht aus den Zeitverhältnissen."129 Wenn auch die theologischen Streitigkeiten zwischen Anhängern der Reformation und der Gegenreformation, zwischen Protestanten und Katholiken ganz andere Dimensionen hatten, als die Diskussion um die Ritterromane, so ist diese doch keineswegs unerheblich, zumal das märchenhaft-ritterabenteuerliche Schibboleth gar nicht von den religiösen Auseinandersetzungen zu trennen ist, der Streit um die Ritterromane vielmehr weit in die innerkirchlichen Auseinandersetzungen reichte. So aber wie „die deutsche Ideologie" „in den Kämpfen, denen das Mittelalter erlag, noch immer nichts weiter als heftige theologische Zänkereien" sah,130 so sieht die Forschung bis auf den heutigen Tag (freilich mit Ausnahmen) im Disput um den Ritterroman nichts weiter als Geschmackskontroversen zwischen Humanisten, Neoaristotelikern, Schwärmern und Moralaposteln oder aber innerliterarische Gattungsproblematik. Einen Versuch zur Differenzierung in der Analyse der Rezeption des Ritterromans unternahm Werner Krauss in Die Kritik des Siglo de oro am Kitter- und Scbäferroman.131 Hier soll dies nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich versucht werden, die von Krauss 58

analysierte Reaktion auf den Ritter- (und Schäfer-)Roman in Relation zu den grundsätzlichen Klassenverhältnissen der damaligen Zeit zu setzen, wobei die Kritik in Spanien als Paradigma dienen solli32 und von den ideologischen Detaildifferenzen abstrahiert werden muß. Erstens: „Es ist verständlich, daß man zunächst die neue, weltliche Literatur ohne Unterschied als ein christliches Ärgernis kennzeichnet," schreibt Krauss, 133 und mit Engels kann man ergänzen: „Die G e i s t l i c h k e i t , die Repräsentantin der Ideologie des mittelalterlichen Feudalismus, fühlte den Einfluß des geschichtlichen Umschwungs nicht minder. Durch die Buchdruckerei und die Bedürfnisse des ausgedehnteren Handels war ihr das Monopol nicht nur des Lesens und Schreibens, sondern der höheren Bildung genommen." 134 Im Fall der Ritterideologie des 16. Jahrhunderts kam hinzu, daß die Allianz zwischen Klerus und Rittertum als den zwei Säulen der mittelalterlich-feudalen Macht geschwächt war und der Klein- bzw. Ritteradel nunmehr nach weltlicher Rechtfertigung suchen mußte. Das bedeutete die Verdrängung der christlichen Ethik zugunsten weltlicherer Tugenden, vor allem zugunsten der (physischen und geistigen) Liebe zwischen Mann und Frau. Insofern erhielt sogar der Ritterroman ein progressives Element, das freilich durch die märchenhafte Fiktionalisierung relativiert wurde. Auf der anderen Seite konnte es sich der Klerus freilich nicht leisten, ganz mit dem Klein- bzw. Ritteradel zu brechen, da dessen Fraktionen und vor allem dessen Ideologie bis hinein in den Hof- bzw. Großadel reichten. Die Kirche verhielt sich klug, indem sie den Ritterroman grundsätzlich verurteilte, jedoch nie auf den Index setzte, 135 sondern bisweilen sogar geistliche Propagandaliteratur im ritterabenteuerlichen Gewand produzierte und propagierte. 136 Zweitens: Während die Kirche den Ritterroman verurteilt, aber nicht verbietet, untersagt (1531) der König (Karl V. von Spanien) zunächst den Export von Ritterromanen nach Amerika bzw. ihren Druck dort, und 1555 verlangen die Cortes (Reichsstände) das generelle Verbot auch für Spanien. Die bereits gedruckten Romane sollen eingezogen und verbrannt werden, 137 aber in Wirklichkeit bleiben die Ritterromane völlig unbehelligt. Auch das ist im Grund verständlich: die Ritterromane repräsentieren zwar nicht die Interessen der absoluten Monarchie, aber diese ist an einem Ausgleich mit dem Kleinadel bzw. an dessen Befriedung interessiert (was

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natürlich in besonderem Maße für Spanien gilt), zumal sie aus ihm ihr Beamtenheer rekrutiert und die Ritterideologie auch auf die Ideologie des Hofadels ausstrahlt. Von daher ist erklärlich, daß die Ritterideologie zunächst auch Eingang fand in das höfische Verhalten und Denken der absoluten Monarchie (vor allem in Spanien, aber auch in Frankreich und anderswo): 1549 z. B. wird vor Karl V. ein Ritterroman aufgeführt.13® Drittens: Nahezu einstimmig ablehnend ist das Urteil der Humanisten, der gelehrten Vertreter des Bürgertums, die den Ritterroman jedoch nicht verbieten, weil sie dies nicht können. Ihre Kriterien für die Verurteilung sind vor allem, daß die Lektüre von Ritterromanen vom aktiven Leben in der Wirklichkeit ablenkt, zu sinnlosen Zeitverschwendungen und haltlosen Träumereien führt und der Ritterroman gegen das (neoaristotelische) Prinzip der Wahrscheinlichkeit verstößt. Was hier dichtungstheoretisch motiviert wird, hat einen klassenkämpferischen Kern: aus den Ritterabenteuer-Romanen sind das Bürgertum und die vom Bürgertum realisierten Veränderungen der tatsächlichen Wirklichkeit ausgesperrt. Sie produzieren vielmehr ein propagandistisch im Interesse einer anderen Klasse und deren Verbündeten verfälschtes, unrealistisches Bild von der Welt, das darüber hinaus massenwirksam gestaltet und über den Druck massenweise verbreitet ist. Daß diese Literatur in Spanien, wo das Bürgertum den Übergang zum modernen Industriekapitalismus nicht schafft und nach 1550 in eine entscheidende Krise gerät, von der es sich so rasch nicht erholen sollte, eine speziell verhängnisvolle politische Wirkung hatte, liegt auf der Hand.

Kitter, Höfling, Heros In dem Maß, in dem sich die Flut der Ritterabenteuer-Romane über Europa ergießt, bildet sich Widerstand gegen sie heraus, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird. Auch hier sollen wieder nur einige Positionen dieser Entwicklung abgesteckt werden, die von Land zu Land verschieden ist, grundsätzlich aber von zwei Polen bestimmt wird: dem Bürgertum und der absoluten Monarchie, für die die Ritterabenteuer-Ideologie ganz oder partiell unannehmbar war. Bezeichnend ist, daß die Entstehung und der Höhepunkt der modernen Ritterabenteuer-Ideologie in die Über60

gangszeit von feudalistische! Zerrissenheit in absolutistische Nationalstaaten fällt, in den Beginn der absoluten Monarchie. Wie virulent in dieser Zeit noch der Kleinadel war, zeigt sich neben der Adelsrevolte in Deutschland 1522139 u. a. in den Religionskriegen in Frankreich. In Spanien allerdings entwickelten sich die Dinge auf Grund des Niedergangs des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts anders als im übrigen Europa. Wie gezeigt, assimiliert der Hof Karls V. teilweise die Ritterideologie, wobei das Ziel der Befriedung und Einbeziehung des Kleinadels in den Beamtenapparat der absoluten Monarchie eine entscheidende Rolle spielt. Eine wesentliche ideologische Mittlerfunktion übte dabei der Cortegia.no des Baldassare Castiglione (1528) aus, der 1534 von Juan Boscän ins Spanische übertragen wurde, und in dem die Verherrlichung des (ritterlichen) Waffenwesens mit moderner höfischer Lebens- und Liebesauffassung (bei der sich der Einfluß des Amadis durchaus feststellen läßt140) eine Verbindung eingeht. Ein Traktat höfischer Aventure-Ideologie ist der Cortegiano nicht mehr,141 sondern vielmehr der Entwurf eines idealen Hofmannes, der seine Dimensionen allerdings in den italienischen Verhältnissen gewinnt, in denen er steht. Die Rezeption in den anderen Ländern verschafft ihm eine jeweils spezifische, andere Funktion. Dennoch finden sich in ihm auch für Spanien neben den Anschlußstellen für eine Ideologie des ritterlichen Kleinadels die Anschlußstellen für die Ideologie der absoluten Monarchie. Es ist nicht länger der Fahrende Ritter, der als Menschheitsideal gilt. Dieses Menschheitsideal wird vielmehr grundsätzlich am heroischen Krieger, dem Helden gewonnen (der dann freilich Attribute sowohl der ritterlichen als auch der humanistischen Ideale erhält), und als Modelle für diesen Helden gelten nicht länger Lancelot oder gar Amadis, sondern Alexander oder Achill. Akzeptiert wird dieser Held freilich nur, wenn er adliger Herkunft ist und außer im Waffenhandwerk auch in Literatur, Musik und Kunst bewandert ist, um sich — nicht zuletzt im Umgang mit der adligen Dame — höfisch bewegen zu können. Zweifellos war der Cortegiano eine wichtige ideologische Orientierung in der Herausbildung des (spanischen) Hofzeremoniells, das allerdings nicht länger von der Ideologie der Ritteraventüre bestimmt werden konnte. Die Herausbildung der absoluten Monarchie machte (nicht nur in Spanien) eine besondere Gattung 61

notwendig, denn weder als König Artus noch als (einer seiner fahrenden) Ritter bzw. als ein Amadis konnte der absolute Monarch noch verherrlicht werden. Die neoaristotelische Dichtungstheorie — auch wenn sie infolge der gesellschaftlichen Verhältnisse in Spanien, die auf Grund des Fehlens eines starken Bürgertums viel länger einen starren ständisch-feudalistischen Anstrich von Mittelalter behielt, sich nicht auf allen Gebieten und vor allem nicht in jener Reinheit durchsetzen konnte, die sie in Frankreich auszeichnet — lieferte das entsprechende Konzept (so wie übrigens andererseits dieses Konzept, die Interpretation der aristotelisch-horazischen Poetik von der gesellschaftlichen Notwendigkeit bestimmt war): das Epos nach dem Vorbild Homers und vor allem Vergils schien als einzige Gattung angemessen, Würde und Bedeutung des königlichen oder sogar kaiserlichen Staatenlenkers adäquat zum Ausdruck zu bringen. Zwei Jahre nach dem Tod Karls V. erscheint eine Carolen, und wieder sechs Jahre später verfaßt Luis Zapata ein deutlich gegen die Ritterromane abgesetztes Epos Carlos famoso (Der berühmte Karl): die Epenproduktion sollte in Spanien bis hinein ins beginnende 19. Jahrhundert (!) fortdauern und vor allem die Theoretiker erhitzen.142 Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein aber bestehen Epos und Ritterromane nebeneinander, das eine als Versuch, dazu beizutragen, die spanische Monarchie zu verherrlichen und zu stabilisieren (übrigens mit durchaus besseren Ergebnissen als etwa in Frankreich), der andere als Traum einer Klasse, die zum Untergang verurteilt, nicht untergehen kann, weil kein entschiedenes, revolutionäres Bürgertum vorhanden ist, ihm den Todesstoß zu versetzen. Es läßt sich vielmehr selbst von der Nostalgie der Hidalguía anstecken und träumt lethargisch von Märchen-Aventuren.

Das tragische Abenteuer Nur vorübergehend trug die Entdeckung Amerikas ein wenig zur Linderung des sozialen Elends in Spanien bei. Mit der großen Krise nach 1550 verlor das Bürgertum seine geschichtliche Perspektive : es imitierte den Adel, kaufte Land und zog sich auf seinen Besitz und aus der vita activa, dem Handel zurück.143 Die Verherrlichung des Abenteuers, ob als Kolonialabenteuer in Amerika, ob — und schon gar als Ritter-Abenteuer — in Spanien, konnte 62

eigentlich nur noch Erbitterung oder Ironie hervorrufen. Die Brevísima relación de la destrucción de las Indias (Kur^e Darstellung der Zerstörung [West-]Indiens) von Las Casas (1542) hatte mit der Beschreibung der Grausamkeiten, die die Spanier an den Indianern verübt hatten, zusammen mit der Erfahrung der Auswanderer erheblich zur Desillusionierung beigetragen. Zwölf Jahre später erschien anonym ein kleiner Roman, La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas j adversidades (in der Übers, v. 1614: Leben und Wandel des Lazarillo de Tormes), den die Literaturgeschichten noch heute — völlig zu Unrecht — in der Kategorie der Abenteuerromane unterbringen.144 In Wirklichkeit handelt es sich um einen dezidierten Anti-Abenteuerroman, denn die Abenteuer, von denen in autobiographischer Form die Rede ist, sind von keinem Abenteurer freiwillig gesucht worden. Es sind Schicksalschläge, die ein Betteljunge erleidet, von denen er hin- und hergestoßen wird: betrogen, halbverhungert, fast zum Krüppel geschlagen. Wenn überhaupt, so gehören diese „Abenteuer" in den Zusammenhang der rekonstruierten Bedeutung von *ad-ventura, dessen, was ohne Zutun der leidenden Person zustößt. Angesichts des Auseinanderklaffens von (guter) Intention des Protagonisten, des Betteljungen und Blindenführers Lazarillo, und der nicht beabsichtigten (bösen) Abenteuer, die ihm in Form sozialer Ungerechtigkeit und unmenschlicher Handlungen seiner Zeitgenossen zustoßen und ihn selbst zu bösen Handlungen zwingen oder zur Resignation, kann man sogar behaupten, daß die „Abenteuer" des Lazarillo eher in den Bereich des von Kurt von Fritz beschriebenen „Tragischen" 145 als in den des bisher hier untersuchten, geschichtlich je verschiedenen Abenteurertums gehören. Vorgestellt wird Lazarillo, der kleine Lazarus, ein Vertreter des nach Hunderttausenden zählenden Lumpenproletariats des 16. Jahrhunderts, das in ganz Europa, vor allem aber in Spanien vegetiert und für das es vor seinem Übergang ins Proletariat keine Aussicht auf Befreiung aus seiner sozialen Misere gibt. Die „Lösungen", die die spanische Literatur der Zeit anbietet, sind in Wahrheit keine Lösungen. Dem Ärmsten der Armen stehen nur unmenschliche Möglichkeiten offen: das Dasein als Bettler oder Krimineller (mit dem beinahe sichren Ende am Galgen), die Auswanderung ins hoffnungslose Unbekannte (wenn überhaupt) oder — immerhin noch als beste aller Lösungen — die Knechtsexistenz in religiöser Heuchelei und moralischer Lumperei. Bis dahin schafft es immer63

hin der Lazarillo. Der anonyme Verfasser erzählt als Autobiographie den Schicksalsweg dieses Menschen, der als Kind in Salamanca von seiner Mutter einem Blinden als Diener bzw. Blindenführer geschenkt wird. Der Blinde hat nichts Eiligeres zu tun, als Lazarillo zu brutalisieren und ihm seine menschlichen Empfindungen aus dem Leib zu quälen, eine Behandlung, die er bei allen seinen andren Herren, deren Diener er noch sein wird, erleiden muß (vor allem bei einem Priester, der ihn beinahe totschlägt). Die Episode, die uns hier am meisten interessiert, ist die seines Dienstes bei einem Escudero, einem niederen Ritter, der zur Hidalguía gehört und verlangt, daß man ihn als Hidalgo behandelt und respektiert. Dieser Hidalgo ist total verarmt, so daß Lazarillo für ihn mit betteln muß. Nichts kann den Niedergang der Hidalguía besser kennzeichnen, als daß sie sich — wie in diesem zweifellos nicht sehr seltenen Beispiel, daß die Vida de Lazarillo schildert — sogar vom Lumpenproletariat durch betteln ernähren lassen muß. Selbst zu betteln kommt natürlich nicht in Frage, denn das verstieße gegen die Ehre, die honra. Erstaunlich ist, mit welcher Hartnäckigkeit verschiedene Forscher (unter ihnen namhafte wie Marcel Bataillon) immer wieder behauptet haben und behaupten, dieser kleine Roman, der in einer genau festgelegten und benannten Welt spielt, in dem nichts Märchenhaftes ist, in dem das Elend, der Hunger und die Erniedrigung genau beschrieben sind, sei nicht realistisch, enthielte keinerlei soziale Anklage, sei nichts weiter als ein heiteres literarisches Kunstwerk. 146 Wer freilich diesen Roman heiter nennt, wie Marcel Bataillon gar „un livre pour rire", „ein Buch zum Lachen" 147 , der muß auch (als eine von zahlreichen ähnlichen Episoden) erheiternd finden, wie der blinde Bettler Lazarillo einen Krug ins Gesicht schlägt: „Der Schlag war so hart, daß ich ohnmächtig wurde, und die Quetschung war so stark, daß die Scherben des Krugs, die mir ins Gesicht gedrungen waren, sie an mehreren Stellen zerrissen hatten und mir die Zähne ausbrachen, die mir seit der Zeit fehlen." 148 Er muß nicht nur dieses und andere Verbrechen an einem Kind heiter finden, sondern auch Totschlag, ununterbrochenen Hunger und unaufhörliche Erniedrigung. Er muß auch das Ende des kleinen Romans heiter finden: Lazarillo wird Weinausrufer und darf die Magd eines Priesters heiraten, mit der dieser schläft: „Das war die Zeit meiner Größe," läßt der anonyme Autor Lazarillo sagen, „und ich war auf dem Gipfel meines Glücks angelangt." 149 64

Die Tatsache, das Marcel Bataillon (zusammen mit anderen, aber auch im Gegensatz zu anderen) abstreitet, daß der Lji%arillo eine Kritik der herrschenden Verhältnisse darstellt, ist überraschend, denn er kennt die Fakten, die eindeutig gegen diese These sprechen. Er weiß, daß das Land in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise steckt und die Bevölkerung in Massen zur Bettelei gezwungen ist. Auch ist ihm bekannt, daß die beschäftigungslosen, armen Hidalgos ein soziales Problem ersten Ranges darstellen. Seine These, dies sei ausschließlich „ein Buch zum Lachen", stützt er vor allem auf die Tatsache, daß der anonyme Autor des iM^arillo Elemente der sogenannten volkstümlichen Farcen verarbeitet, in denen manche Episode des Romans vorstrukturiert ist (warum diese Farcen produziert und verbreitet wurden, interessiert ihn hingegen nicht) 150 . Diese unbestreitbare Tatsache ist allerdings relativ unerheblich, denn der anonyme Autor hat die Farcenelemente völlig verändert, indem er sie in einen ganz bestimmten funktionalen Zusammenhang gebracht hat, sie zu einem autobiographischen Bericht umgestaltet und in einen genauen lokalen und zeitlichen Kontext stellt. Orte der Handlung sind Salamanca und Toledo, und die zeitlichen Anspielungen deuten eindeutig auf Ereignisse der Regierungszeit Karls V. hin. Der Roman mußte bei seinem Erscheinen als politisches Pamphlet verstanden werden, und daß dies auch der Fall war, zeigt das Verbot von 1559.i 51 * Auch hier ist Bataillons Reaktion wieder überraschend. Er tut dieses Verbot als ganz nebensächlich ab, ebenso wie die Tatsache, daß alle späteren Ausgaben des Ladrillo in Spanien (aber auch — im Gegensatz zum protestantischen — im katholischen Deutschland) nur in „gereinigter" Form erscheinen durften. Um die politische Bedeutung des Romans richtig einschätzen zu können, müssen wir uns fragen, wer ihn geschrieben hat. Über den Autor sind genügend Mutmaßungen angestellt worden, wobei die These, daß es sich um einen reformerischen (erasmisch bzw. protestantisch beeinflußten) Geistlichen handeln könnte (eine These, die auch Bataillon vertritt 152 ), absolut plausibel ist. Wir wollen den Weg der Negation gehen: der Autor ist nicht identisch mit dem erzählenden Protagonisten, dem Lazarillo, denn das Lumpenproletariat ist analphabetisch, der Verfasser jedoch ist ein hochgebildeter Mann. Der Autor ist darüber hinaus kein Vertreter der Hidalguía oder des verkommenen Klerus seiner Zeit (selbst wenn er soziologisch gesehen der einen oder der anderen Schicht 5

Neriich, Kritik

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angehören sollte: ihre Interessen vertritt er nicht). Andererseits ist kaum denkbar, daß es dem Autor ernsthaft um eine Interessenvertretung des Lumpenproletariats gegangen ist. Die Gestalt des Lazarillo wird vom anonymen Autor vorgeschoben, sein Elend wird benutzt, um die Interessen der einzigen Klasse zu artikulieren, die die verrotteten Zustände umstürzen bzw. abändern könnte. Über den Lazarillo gelingt ihm die Denunziation und Demaskierung bestimmter Klassen und ihrer Moral, die dem Fortschritt der Gesellschaft im Wege stehen: sowohl der Hochadel als auch das Handelsbürgertum sind aus seiner Kritik ausgespart. Die Herren, denen Lazarillo dient, sind — abgesehen vom blinden Bettler — ausnahmslos Vertreter der niederen Geistlichkeit, der untersten Gerichtsbarkeit und der Hidalguia. Daß in der Gestalt des Lazarillo dabei gleichzeitig die unterste aller Klassen, die Vorläuferin des Proletariats, literarisch in die Weltgeschichte eintritt, ist jedoch ein Faktum von außerordentlicher Bedeutung. In dieser Parodie des Ritterabenteuer-Romans und der Kritik an seinem Helden, dem Hidalgo, durch einen Vertreter des Lumpenproletariats scheint zum ersten Mal durch, daß für diesen Vorläufer des modernen Proletariats (so wie später für die moderne Arbeiterklasse) Abenteuer und (Ritter-)Abenteuer-Ideologie keine brauchbare Waffe im Klassenkampf, im Kampf für die Freiheit sind. Im Gegenteil: Abenteuer und (Ritter-)Abenteuer-Ideologie stehen den Entrechteten ausschließlich feindlich gegenüber. Was Lazarillo versucht, das ist, den auferlegten Abenteuern in einer unmenschlichen Gesellschaft zu entkommen. Wie das gelingen kann, können aber weder er noch sein anonymer Schöpfer in jener Zeit erkennen.

Der optimistische Tod Don Quijotes Die Welt, in der Lazarillo geschlagen wird, in der er Hunger leidet und in der er einen Ort sucht, an dem er ein auch nur einigermaßen erträgliches Leben fristen könnte, ist eine Welt ohne Perspektive und Optimismus, weil die einzige Klasse, die das Elend (partiell) beseitigen und die Verhältnisse revolutionieren, die Optimismus und Hoffnung auf Befreiung aus der Misere verbreiten könnte, das Bürgertum, darniederliegt. Das Bürgertum ist nur zur gegenreformatorischen Gleichschaltung fähig, die z. B. bereits im ersten „Nachfolger" des Lazarillo, im Gu^män de Alfa-

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racbe von Mateo Alemán (1599—1604) dokumentiert wird. Es bleiben nur die Bejahung der herrschenden Verhältnisse oder ihre utopischreaktionäre Kritik in der Verherrlichung vergangener Zeiten, die besser waren, ritterlicher, und deren ethische und soziale Normen noch immer als gültig dargestellt werden. Oder es bleiben Resignation und Zynismus wie in Carlos Garcías La desordenada codicia de los bienes ajenos (Die liederliche Gier nach fremden Besitz) von 1619153* oder in Quevedos Historia de la vida del Buscón (Das Leben des Buscón, verfaßt 1603/1604, erschienen 1626), oder endlich die Melancholie wie im Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha von Miguel Cervantes Saavedra aus den Jahren 1600—1615. Während im Buscón ein Vertreter der ärmsten Volksschichten bei dem Versuch scheitert, auf ehrliche Weise zu gesellschaftlichem Wohlstand und Ansehen aufzusteigen, von seinen Gegenspielern aus den höheren Klassen in die Kriminellenexistenz abgedrängt wird und endlich ohne Hoffnung auf ein besseres Leben in Begleitung einer Prostituierten nach Amerika auswandert, zieht mit dem Don Quijote, jenem Alonso Quijana aus der Mancha ein Vertreter der verarmten Hidalguía auf unrealisierbare Abenteuer in Spanien, schlägt sich an der sozialen Wirklichkeit wund und stirbt an ihr. Die Melancholie des Alonso Quijana, der sich eine zweite Existenz als Don Quijote erträumen muß, weil er sein „kümmerliches Leben" (Werner Krauss) nicht mehr ertragen kann, ist die Melancholie des zur Inaktivität verurteilten spanischen Volkes, das im Untergang der Armada 1588 seine letzten Hoffnungen auf große (Schifffahrts-)Abenteuer begräbt, ist die Melancholie — tatsächlich — der Hidalguía und ihrer Ideologen, aber auch — da die Melancholie Don Quijotes natürlich auch die Melancholie von Cervantes ist — die Melancholie des spanischen Bürgertums: 154 „Neben dem eigentlichen Mittelstand, den die Hidalgos bilden, spielt das Bürgertum keine beachtliche Rolle.", schreibt Werner Krauss. „Mit der Schließung der spanischen Manufakturen war die Wirtschaftsmacht des Bürgerstandes gebrochen."155 Lazarillo überlebt in der Erniedrigung und im geheuchelten Einverständnis, Buscón wandert aus und weiß, daß sich dadurch nichts ändern wird, Don Quijote aber stirbt und bittet das Volk, Sancho Pansa um Vergebung, weil er, der Hidalgo, es in die Irre geführt hat: „Verzeih mir, Freund, daß ich Dir Anlaß gegeben habe, so verrückt zu erscheinen, wie ich, indem ich Dich in den gleichen Fehler verfallen ließ, in den ich verfallen war, zu glauben, es gäbe 5»

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fahrende Ritter in dieser Welt." 156 Auf dem Sterbebett enthüllt Don Quijote, was er in Wahrheit gewesen ist: der Ideologe des Ritterabenteuers, der konterrevolutionäre Ideologe, der — auch wenn es in gutem Glauben geschah — das Volk verführt hat. Sein Tod ist der einzige Hoffnungsschimmer in einer melancholischen Welt. 157 * Mit ihm geht eine Epoche der nutzlosen Träumerei, des sozialen Stillstands zu Ende (oder sollte doch zumindest zu Ende gehen). Was bleibt, wenn der Traum endgültig aus ist, wenn Don Quijote gestorben ist, wenn nicht die illusionslose Bejahung der realen Welt, des aktiven Lebens?

Der Held im Niemandsland Als 1661/1667 Baltasar Gracián seinen Roman E/ Criticón verfaßte, war Spaniens ökonomischer und politischer Abstieg mit dem Abfall Portugals, dem Aufstand Kataloniens und der im Frieden von Münster 1648 beschlossenen Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande besiegelt. Ähnlich wie Cervantes läßt Gracián ein reisendes Freundespaar auftreten (bei dem freilich aus gutem Grund das Herr/Knecht-Verhältnis in Wegfall kommt: Gracián wäre nie eingefallen, das Volk zum Protagonisten einer seiner Schriften zu machen). Critilo und Andrenio reisen durch Spanien, Italien, Frankreich, Deutschland, und Gracián benutzt für die Darstellung ihrer Reise grundsätzlich das Schema und die Erzählstrategie des griechischbyzantinischen bzw. pikaresken Romans. Dies sind freilich nur formale äußerliche Übereinstimmungen: in Wirklichkeit handelt es sich um einen Anti-Abenteuerroman, dessen Ziel feststeht, bevor die Reise begonnen hat: „Critilo und Andrenio," schreibt Karl Borinski, „sind . . . theoretische Geister, d. h. weder Eulenspiegel noch 'problematische Naturen' . . . Sie reisen ferner nicht des Abenteuers halber, sondern sie reisen eben durch die Welt, durch das Leben." 158 Genau genommen handelt es sich um eine Reise durch die Seele des Menschen, und damit um überhaupt gar keine Reise (obwohl die Abstraktion durch das Festhalten an konkreten, geschichtlichen Daten wie der Entdeckungs- bzw. Überseeschifffahrt durchbrochen wird), sondern um den Versuch einer totalen Demaskierung des Menschen, um die Entlarvung aller menschlichen Schwächen und Gemeinheiten. In ihr verbindet sich Lob der Vergangenheit mit Verurteilung der Gegenwart, die einem 68

Dschungel gleicht, in dem der Mensch mit seinesgleichen um das Dasein kämpft, „denn jeder einzelne ist des anderen Wolf" 1 5 9 . „Glaub mir," sagt Critilo zu seinem Freund und Schützling Andrenio, „es gibt keinen Wolf, keinen Löwen, keinen Tiger, keinen Basilisken, der dem Menschen gleichkäme: er übertrifft sie alle an Wildheit . . ."160 Alle Laster des Menschen werden von Graciän in seinem Criticön allegorisiert bzw. im Exempel vorgestellt. Alle Schlechtigkeiten, alle Verbrechen, alle sozialen Ungerechtigkeiten werden aus diesem endlosen Lasterkatalog abgeleitet, aus den seelischen Defekten des Menschen. Dadurch erhält der Roman trotz dieser minutiösen Bestandsaufnahme der Laster des Menschen und ihrer A u s w i r k u n g e n im Zusammenleben der Menschen den Charakter steriler Abstraktion. Nicht die Stellung des konkreten Menschen in der Gesellschaft, nicht der reale ökonomische und politische (Klassen-)Kampf entscheidet über die moralischen und gesellschaftlichen Qualitäten der Menschen und die Stellung Graciäns bzw. seiner Protagonisten zu ihnen, sondern abstrakte Sittenvorstellungen bilden die Grundlage für die Be- und Verurteilung eines ebenso abstrakt gefaßten klassenunspezifischen, grundsätzlich verworfenen „Menschen". Ein Verständnis der Graciänschen Weltsicht ist allein aus der ökonomischen und politischen Situation Spaniens möglich, genauer: aus dem Fehlen einer politischen Kraft, auf die Optimismus hätte gründen können. Die Hoffnungen, die er in seinen frühen Schriften auf die spanische Monarchie, auf Philipp IV. gesetzt hatte, waren angesichts der Krisen und Niederlagen Spaniens zerstoben. Die einzige Kraft, die Spaniens Untergang hätte aufhalten können, das aufsteigende Bürgertum, war in Spanien so gut wie inexistent. Graciän behandelt es nur unter dem Gesichtspunkt des zu verurteilenden Krämergeistes, des Geizes und des seelenverderbenden Reichtums. Dabei ließ ihn die ungleiche Verteilung des Besitzes, das anwachsende Vermögen der Reichen auf Kosten der Armen nicht gleichgültig, im Gegenteil 1 6 1 , aber sub specie aeternitatis, sub specie religionis, sub specie animae hominis bewegt ihn dies nicht allzu sehr: die sehende Fortuna 1 6 2 hat die Funktion der göttlichen Vorsehung, der Arme wird im Jenseits belohnt (empörend ist lediglich die Haltung der erbarmungslosen Reichen), und der wahre Christ schätzt materiellen Besitz ohnehin gering. Ja, allein in der Armut, vor allem wenn sie aus dem Verlust vor-

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herigen Reichtums resultiert (wie im Fall des Critilo selbst), kann der Mensch aus einem von lasterhaften Trieben beherrschten Tierwesen zu einem Menschen, zu einer persona werden 163 . „Was mir der Reichtum an Unglück zufügte, machte die Armut durch Wohltaten wieder wett," sagt Critilo zu Andrenio. „Das kann ich wahrhaftig behaupten, denn in ihr fand ich die Weisheit, die ich bis dahin nicht gekannt hatte . . . ich begann zu lesen, ich begann zu wissen und ein Mensch [persona] zu sein, denn bis dahin hatte ich kein vernünftiges Leben [vida racional] geführt, sondern ein tierisches [bestial] . . . 164 Graciäns Verurteilung des Besitzstrebens ist kategorisch: in Geld, in Reichtum und Luxus sieht er die Grundübel seiner Zeit. Dabei geht er über die abstrakte Verurteilung des Reichtums schlechthin, wie sie sich in der Bibel und in der christlichen Tugendlehre ganz allgemein findet, hinaus, indem er das Besitzstreben in der nationalstaatlichen geschichtlichen Perspektive sieht, auch wenn er die tatsächlichen ökonomischen Gesetze, nach denen sich Spaniens Niedergang vollzog, nicht durchschaut. Oder vielmehr: gerade weil er diese ökonomische Gesetzlichkeit nicht durchschaut, kann er zu dieser speziellen Verurteilung von Reichtum und Besitzstreben gelangen. Denn die Oberfläche der geschichtlichen Ereignisse scheint ihm recht zu geben. Spanien, so sieht er, war zu seiner Einheit und Größe gelangt, bevor der Reichtum, bevor Gold und Silber aus Amerika nach Spanien gebracht wurden und seine Politik bestimmten. Mit der auf Gold und Silber beruhenden Machtpolitik Spaniens aber begann gleichzeitig sein Untergang (so wie sich Critilos moralischer Abstieg als Folge von Kolonialbesitz in Amerika vollzieht). Von hier erklärt sich auch, daß Graciän seinen Abscheu vor dem durch Gier nach Reichtum pervertierten Mächtigen auf die ungeheure Masse der Armen, den populacho oder vulgo, wie er sagt: den Pöpel übertrug. 165 * Denn streben nicht gerade Arme nach Verbesserung ihrer materiellen Situation, statt ihre Armut (wie der Moralapostel Graciän, der immerhin auskömmlich lebte) mit Gleichmut und geistiger Tugendhaftigkeit zu ertragen? Also ist auch ihre Seele bereits von Gier befleckt und verdorben, was um so gefährlicher ist, als gerade sie bereit sind, Risiken einzugehen, denn sie haben nichts zu verlieren. Graciäns Blick geht nicht zu Sancho Pansa, seine Hoffnung ruht nicht auf dem Volk, das er fürchtet: 166 sein Blick geht über den Sumpf der vom Hofleben dominierten Großstadt der spanischen 70

Monarchie nicht hinaus. Er schildert ihn subtil und vernichtend (unter Einschluß der heruntergekommenen Hidalgos, der „Gentilhombres o Escuderos" 1 6 7 ). Das positive Menschheitsideal, das er dem (abstrakten) Menschen seiner Zeit, dem Wolf unter Wölfen entgegensetzt, ist an einer idealisierten Vergangenheit gewonnen. Gigantes, Riesen und pigmeos, Zwerge, sind Kategorien, die immer wieder auftauchen: der moderne Mensch (im damaligen Spanien und in der Sicht Graciáns) ist bisweilen ein Riese in der äußeren Erscheinung, aber ein Zwerg im Bereich des Seelischen oder umgekehrt: 1 6 8 die Harmonie von Leib und Seele, äußerer Erscheinung und innerer Veranlagung, ja, letztlich von Praxis und christlicher Weltanschauung ist verloren gegangen. Die tatsächlichen Giganten sind untergegangen mit der heroischen Zeit, in der die Könige noch selbst das Schwert führten, statt es durch Stellvertreter führen zu lassen, „denn es ist ein großer Unterschied, ob der Herr kämpft oder der Knecht" 1 6 9 . Damals war die Gesellschaft, so glaubt Gracián, noch männlich. Nun aber seien „die Männer schwach und effcminiert" 1 7 0 , „die Feldherren von heute" gingen „in Taft gekleidet" und teilten „Schwerthiebe aus Seide" aus. 1 7 1 „Von wie kurzer Dauer war doch die Tapferkeit in dieser Welt," ruft Andrenio aus, und erfährt, daß dies u. a. auf ein Gift zurückzuführen sei, auf ein Pulver: das Schießpulver. 1 7 2 Vor den Helden der Vergangenheit (vor allem Spaniens), dem Cid, dem König Jaime, Fernando el Católico, Carlos V. (dem „Non plus ultra aller Kaiser" 1 7 3 ), ja selbst vor einem Cortés 17 ' 1 scheinen ihm die bedeutenden Männer der Gegenwart nur Schatten zu sein, 175 die es zulassen, daß Spanien (vor allem zugunsten Frankreichs 1 7 6 ) ausblutet. Vor dem Rad der Zeit steht Critilo und wartet (als deutliche Kritik an den Zuständen der Zeit Philipps IV.), daß „jene berühmten Fünften" wieder erscheinen, „die in der ganzen Welt gerühmt und bewundert w u r d e n : ein Don Fernando V., ein Karl V., ein Pius V. Hoffentlich geschieht dies und erscheint ein Don Philipp V. in Spanien. Und falls er geboren wird, was für ein großer König müßte das sein, der in sich die ganze Tapferkeit und Weisheit seiner Vorgänger vereinte. Aber leider ist gewiß, daß eher alle Übel eintreten, statt Besserung . . ," 177 Das wahre Heldentum, das auf Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit beruht, ist für Gracián aus der Welt verschwunden, ja, der Verachtung preisgegeben. Als Critilo und Andrenio am Ende ihrer Lebensreise in die Unsterblichkeit eingehen, sehen sie denn auch dort die wahren Hel71

den der Vergangenheit wie z. B. Roland und den Cid, die sich die Augen zuhalten. 178 Critilo und Andrenio aber waren dem Weg „der herausragenden Tugend, der heroischen Tapferkeit" gefolgt und zum wahren „Ruhm, zum Thron der Achtung und zum Zentrum der Unsterblichkeit" gelangt. 179 Wer aber waren bzw. sind Critilo und Andrenio? Hier liegt das eigentliche Problem der Graciánschen Tugendlehre: Critilo, der geläuterte Gesellschaftsmensch, und Andrenio, der über die Schlechtigkeit der Welt aufgeklärte (desengañado) Naturmensch, bilden eine Einheit: den heroischen Weisen, den — übertrüge man es in die Diktion unserer Zeit — unbestechlichen Intellektuellen, den „ingenio agigantado" 180 . Das Ideal, das Gracián in der Negation des abstrakten Menschen entwirft, ist kein realisierbares Heldenideal für den Herrscher, für den Adel und schon gar nicht für die Bourgeoisie (ganz abgesehen von ihrer spezifischen Situation in Spanien). Es ist das stoisch-christliche Tugendideal für den Intellektuellen seiner Zeit, für den culto varón, der die Welt durchschaut, vor ihrer Verderbtheit und vor ihren Gefahren die Augen nicht verschließt, sondern männlich-tapfer den Gefahren unter den Wolfsmenschen trotzend und mit militärischer Klugheit den Weg zu seiner Integrität, zu seiner perfección 181 geht. Die Schriften Graciáns sind strategische Anleitung für den Kampf dieses Heros in der modernen, für ihn grundsätzlich außerhalb seiner selbst perspektivelosen Welt. Werner Krauss hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß es falsch wäre, Gracián einfach als reaktionär abzutun (und damit für die Sünden seiner Exegeten im 19. Jahrhundert büßen zu lassen). 182 Als genialer Kritiker seiner Zeit steht er in der kämpferischen letzten Front des Humanismus und mobilisiert und militarisiert 183 den Geist gegen die Korruption eines verfallenden feudal-absolutistischen Systems. Wenn er die Perspektive des Kampfes in das Innere des heroisch-weisen Menschen verlegt und das Maß dieses Menschen an der idealisierten Vergangenheit gewinnt, dann deshalb, weil die spanische Realität keine andere Perspektive erlaubte oder zu erlauben schien. Graciáns Pessimismus entspricht der allgemeinen Orientierungslosigkeit in Spanien. Sein lebensfernes und lebensunfähiges Menschhcitsideal ist im Niemandsland des Klassenkampfes angesiedelt (er ist kein kleinbürgerlicher Ideologe — es gab kein Kleinbürgertum im Spanien jener Zeit —, auch wenn die kleinbürgerlichen Ideologen des 19. Jahrhunderts seine Ideologeme von der Männlichkeit bis hin zum Lob 72

der Besitzlosigkeit für ihre Zwecke verwenden sollten). Und dieses Ideal ist weder für die reaktionären Kräfte der feudal-absolutistischen Monarchie, noch für das aufsteigende Bürgertum brauchbar (vom Volk, von den Bauern, den Handwerkern, den Manufakturarbeitern ganz zu schweigen). „Das Volk tritt ihm wie eine schädliche und in ihrem Unverstand unbegreifliche Macht in den Weg.", schreibt Werner Krauss. „Damit hat die Vorbildhaftigkeit des heldischen Menschen schon von vornherein den Ansatz in der Urkraft des Daseins verloren. Sie bedarf einer Transzendenz, einer Einstrahlung übersinnlicher Kräfte, um sich in dieser Volksferne zu behaupten."184 Schon in Graciäns Traktat El Heroe (1637) war der Hinweis auf die Irrealisierbarkeit des Ideals nicht zu übersehen: „Held der irdischen Welt zu sein, ist wenig oder nichts; aber Held des Himmels viel." 185 War schon sein Ideal in Spanien ohne Bezug zu den realen Kräften seines Volkes, so war es überall da, wo — wie in Frankreich oder England — das Bürgertum die Perspektive revolutionärer Veränderungen eröffnete, völlig unbrauchbar (auch übrigens für die Vertreter der feudal-absolutistischen Monarchie, was Graciäns relativ geringe Bedeutung für die ideologischen Auseinandersetzungen des 17. und 18. Jahrhunderts18"5 bzw. seine völlige Verurteilung durch die Kräfte der Aufklärung verständlich macht). Es mußte erst die Bourgeoisie den Adel überwinden und das Industrieproletariat hervorbringen, damit freigesetzte kleinbürgerliche Ideologen in ihrer eigenen, neuen Perspektivelosigkeit in Graciän irrtümlich einen Geistesverwandten und Vorläufer erblicken konnten: an die Stelle seines guten christlichen Gewissens, seiner heroischen Verzweiflung und seiner zornigen Kritik trat die schlechte Apologetik einer unterdrückenden Klasse, die sich mit umfunktionierten Ideologemen Graciäns pseudo-heroisch-abenteuerlich schmückte.

Der abenteuerliche Fürst

Die Geburt des Gondottiere Aus den verschiedensten Gründen hat Italien relativ wenig zur Herausbildung einer originellen, spezifisch italienischen Variante der r i t t e r l i c h e n Abenteuer-Ideologie beigetragen: was in Italien, von den Reali di Francia über Boiardos Orlando innamorato und Ariosts Orlando Furioso bis hin zu Torquato Tassos Gerusalemme liberata oder seinem Goffredo produziert wurde, ist italienische Adaptation französischer Heldenlieder oder Ritterromane. Die grundsätzliche Entwicklung der italienischen Literatur ist getragen von bürgerlich-humanistischen Kräften, die bereits früh z. B. in den Novellen Boccaccios ein literarisches Mittel zur Herausbildung einer realistischen Weltdarstellung und einer realistischen Selbstdarstellung entwickelt hatten. 187 Der Mensch beginnt, sich aus der hierarchischen Ordo-Struktur der mittelalterlichen Welt zu lösen und sein (je individuelles) Leben selbst zu entwerfen: „Eine solche Wahlmöglichkeit hatte weder die Katze im Exemplum noch Alexius (beide folgen automatisch ihrer Bestimmung), ja, nicht einmal der höfische Ritter.", schreibt Hans-Jörg Neuschäfer: „Der Mensch erhält in den Novellen Boccaccios also ein bisher ungeahntes Maß an moralischer Freiheit, hat sich in dieser Freiheit aber auch selbst zu behaupten und zu verantworten." 188 Die Voraussetzung für diese Entwicklung ebenso wie für den Beitrag Italiens zur Herausbildung der modernen Abenteuer-Ideologie bildet die Entwicklung der italienischen Städte und des italienischen Handelskapitalismus. Auf Grund seiner besonderen Situation, auf die wir hier nicht weiter eingehen können (Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser, politische Zersplitterung Italiens, usw.) hatte sich in Italien bereits im 13. Jahrhundert ein Stadtstaatswesen herausgebildet, zu dem Genua und Venedig ebenso gehörten wie Mailand und Florenz. Was Italien jedoch daran hinderte, einen z. B. England vergleichbaren Weg zum modernen Kapitalismus einzu74

schlagen, war das Fehlen einer zentralen (Königs-)Macht, die Herausbildung der Nation gegen E n d e des Mittelalters: „ Z w a r blieben das ganze Mittelalter durch Sprachgrenzen und Landesgrenzen weit davon entfernt sich zu decken; aber es war doch jede Nationalität, Italien etwa ausgenommen, durch einen besonderen großen Staat in E u r o p a vertreten, und die Tendenz, nationale Staaten herzustellen, die immer klarer und bewußter hervortritt, bildet einen der wesentlichsten Fortschrittshebel des Mittelalters." Engels, der die Rolle der zentralen Staatsgewalt bei der Herausbildung der modernen Welt aus der mittelalterlichen Gesellschaftsverfassung analysiert, fährt fort: „In jedem dieser mittelalterlichen Staaten bildete nun der K ö n i g die Spitze der ganzen feudalen Hierarchie, eine Spitze, der die Vasallen nicht entraten konnten und gegen die sie sich zugleich im Stand permanenter Rebellion befanden . . . Daher dieses jahrhundertlange Wechselspiel der Attraktion der Vasallen zum königlichen Zentrum hin, das allein sie gegen außen und gegen einander schützen kann, und die Repulsion vom Zentrum, in die jene Attraktion unaufhörlich und unvermeidlich umschlägt; daher der ununterbrochene K a m p f zwischen Königtum und Vasallen, dessen ödes Getöse alles andre übertäubte während jener langen Zeit, wo der Raub die einzige, des freien Mannes würdige Erwerbsquelle w a r ; daher jene endlose, sich immer neu erzeugende Reihe von Verrat, Meuchelmord, Vergiftung, Heimtücke und aller erdenklichen Niederträchtigkeiten, die sich hinter dem poetischen Namen der Ritterlichkeit versteckt und in einem fort von Ehre und Treue redet. Daß in diesem allgemeinen Wirrwarr das K ö n i g t u m das progressive Element war, liegt auf der Hand. E s vertrat die Ordnung in der Unordnung, die sich bildende Nation gegenüber der Zersplitterung in rebellische Vasallenstaaten. Alle revolutionären Elemente, die sich unter der feudalen Oberfläche bildeten, waren ebenso auf das K ö n i g t u m angewiesen wie das K ö n i g t u m auf sie." 1 8 9 So weit kam es in Italien (wie man auch Engels' Hinweis auf seine Ausnahmestellung entnehmen kann) gar nicht: die Städte lagen mit den Fürsten und untereinander im K r i e g und konkurrierten gegeneinander, wobei gerade die Macht des frühentwickelten Handelskapitalismus eine entscheidende Grundlage der allgemeinen Anarchie bildete. D a ist zum einen die Konkurrenz um Absatzmärkte, da ist zum anderen die Unsicherheit der Transportwege, und das Bürgertum, das den Aufstieg der Städte bestimmt, versucht die Märkte und die Transportwege zu sichern. Zunächst be75

gleitet es daher die Warentransporte zu Lande und zu Wasser selbst, bewaffnet und von Bewaffneten umgeben, aber bald überträgt es die militärische Funktion der Warensicherung auf seine Agenten: „Waffengänge, die sich ununterbrochen wiederholen, stören die Handelskompagnien . . . im 14. Jahrhundert hören die Geschäftsleute auf, das Schwert zu gürten und sich in die Stadtmiliz . . . einzureihen. Sie beschließen Kriege, sie finanzieren Kriege, aber sie begehen sie nicht mehr in Person. Selbst die unter ihnen, die adligen Ursprungs sind, haben den Geschmack am Waffenhandwerk verloren . . . ist es nicht vernünftiger und ökonomischer . . . Söldner zu finanzieren, die kämpfen, während die Kaufleute aktiv im Kontor das Geld für ihren Sold verdienen? Dies ist das System der condotta: der Geschäftsmann . . . hat den condottiere geschaffen: diese zwei entgegengesetzten und einander ergänzenden Menschentypen charakterisieren die italienische Gesellschaft des XVI. Jahrhunderts.", schreibt Yves Renouard. 190 Bald aber entwickelten sich diese Condottieri als Anführer der Söldnerheere, die z. T. über die Alpen nach Italien geholt wurden, zu einer regelrechten Landplage: „Die bloße Existenz der [Söldner-] Kompagnien barg den unaufhörlichen Anreiz zu Krieg und Verwüstung in sich, denn sie wollten leben, ja Reichtümer und Schätze sammeln, und wenn sie das nicht im Dienste eines bestimmten Herrn tun konnten, dann eben auf eigne Faust. . . Wohl haben auch andere Länder . . . Ansätze zu gleichen Erscheinungen erlebt, aber die staatliche Macht war dort noch so stark, daß sie sich nicht richtig entfalten konnten." 191 Wir wollen auch das nicht im einzelnen verfolgen: sicher ist, daß die Condottieri nicht nur Banden- bzw. Söldnerführer blieben, sondern — dies als besondere italienische Erscheinung, die nur auf Grund der politischen Zerrissenheit Italiens zustande kommen konnte — in den verschiedenen Stadtstaaten die Macht an sich reißen und wie Francesco Sforza z. B. (1450) zum Herzog (von Mailand) emporsteigen konnten.

Der Condottiere als Fürst Diesen Zusammenhang analysiert (und beklagt) Niccolö Machiavelli in seiner berühmten Schrift II Principe (Der Fürst; erste Fassung 1513): „Bevor König Karl VIII. von Frankreich nach Italien kam, teilten sich in die Herrschaft dieses Landes der Papst, die Vene76

zianer, der König von Neapel, der Herzog von Mailand und die Florentiner. Diese Mächte hatten ihr Augenmerk hauptsächlich auf zweierlei zu richten: daß kein Fremder an der Spitze eines Heeres in Italien eindrang und keiner von ihnen sein Reich vergrößerte. Ihre Hauptsorge galt dem Papst und den Venezianern. Um den Venezianern Halt zu gebieten, mußten alle übrigen sich verbinden, wie bei der Verteidigung von Ferrara, und um den Papst in Schach zu halten, bedienten sie sich der römischen Barone. Da diese in zwei Parteien, die Orsini und Colonna, gespalten waren, gab es zwischen ihnen stets Anlaß zu Streitigkeiten, und indem sie sich mit den Waffen in der Hand unter den Augen des Papstes gegenüberstanden, schwächten sie dessen Macht." 192 Mit schuld an dieser Zerstrittenheit Italiens, die er fremden Mächten (Karl VIII., Fernando el Catölico, u. a.) 193 ermöglichte, Italien anzugreifen und partiell zu unterjochen, hat nach berechtigter Ansicht Machiavellis das Söldnerwesen: „Es dürfte mir nicht schwerfallen, für diese Behauptung Glauben zu finden, denn der jetzige Verfall Italiens hat keine andre Ursache, als daß das Land sich lange Jahre auf Söldnertruppen verlassen h a t . . . Ich will noch gründlicher darlegen, wie unheilvoll das Söldnerwesen wirkt. Ein Söldnerführer 194 * ist entweder ein hervorragender Feldherr oder nicht. Im ersteren Fall kann sich der Fürst nicht auf ihn verlassen, denn er wird stets seine eigne Macht zu begründen suchen, indem er entweder seinen Herrn oder gegen dessen Willen andre niederwirft. Ist er aber nicht tüchtig, so führt er gewöhnlich den Untergang des Fürsten herbei." 195 Das einzige probate Mittel, diesem Dilemma zu entgehen, ist nach Machiavelli: „Der Fürst muß persönlich ins Feld ziehen und sein eigner Feldherr sein; die Republik muß einen ihrer Bürger ausschicken, und wenn er sich als nicht tüchtig herausstellt, ihn absetzen, ist er aber ein hervorragender Feldherr, ihn durch die Gesetze in Schranken halten." 196 In der Realität Italiens aber wird der Söldnerführer, der „capitano mercenario" oder „condottiere", weder durch einen starken Fürsten oder König noch durch eine starke Stadtrepublik in Schranken gehalten. Machiavelli zitiert Beispiele nach Belieben, unter denen vor allem Francesco Sforza und Cesare Borgia einen hervorragenden Platz einnehmen. Machiavelli jedoch beließ es nicht bei Diagnose und Klage. Sein „scharfsinniger italienischer Genius" (Marx) bewies sich gerade darin, daß seine Methode dialektisch war oder doch zumindest ununterbrochen in die Richtung der realen Dialektik tendierte. 197 * 77

Seine Negation der italienischen Verhältnisse bedeutet nicht ihre schlichte Verneinung. Im Gegenteil: in der dialektischen Aufhebung ganz bestimmter Qualitäten sowohl der allgemeinen politischen Verfassung Italiens und seines Condottiere-Wesens als auch andrer politischer Verfassungen (z. B. der absoluten Monarchie in Frankreich oder Spanien) und deren organisatorischen und weltanschaulichen Systemen entwirft er eine politische Herrschaftskonzeption, deren Vorzüge und Nachteile in ihrem Realismus liegen. Die grundsätzlichen politischen Qualitäten des Herrschers, der die von ihm ersehnte Einigung Italiens und damit den Aufstieg des Bürgertums zu modernen Formen seiner Existenz garantieren könnte, entnimmt er dem Condottiere-Wesen, wobei sein grundsätzlicher Fehler darin besteht, zwar bisweilen den Klassenkampfcharakter der geschichtlichen Entwicklung zu erkennen und zu benennen, 198 * nicht aber für den eigentlichen Motor der geschichtlichen Entwicklung, sondern den Gang der Geschichte für abhängig vom Willen der (großen) Individuen zu halten. Das Herrscherideal, das er entwirft, der principe, enthält daher durchaus die Züge des „großen Abenteurers", die ein moderner Interpret in der Burckhardt-Nachfolge an ihm entdeckt, 199 aber es enthält auch die Züge des großen Fürsten bzw. des absoluten Monarchen, mehr noch, es enthält darüber hinaus die des seßhaften Stadtbürgers und sogar noch des Rittertums. Dies alles entspricht völlig dem inneren Zustand Italiens, macht aber seinen Fürstenspiegel damit auch relativ ungeeignet für eine Verwendung außerhalb Italiens (wobei nicht übersehen werden darf, daß selbst in Italien Machiavellis Schrift keine praktische Nutzanwendung nach sich ziehen konnte). Der Bürgersinn Machiavellis, der auf Erkenntnis der realen Welt und auf Praxis gerichtet ist, schlägt immer wieder durch: „Ich lasse . . . die Phantasien über den Fürsten beiseite und rede nur von dem Tatsächlichen." 200 Zum Tatsächlichen gehört für ihn die Erkenntnis, die ein Ideologe des Ritterwesens, des Feudaladels oder der absoluten Monarchie so nie formuliert hätte: „Die Menschen verfahren verschieden, um das Ziel, das jeder vor Augen hat, Ruhm und Reichtum, zu erlangen . . ." 201 Der Fürst, dem Machiavelli allgemein und konkret seine Sympathie schenkt, ist der aus dem Bürgertum aufgestiegene Herrscher, der sich seine Macht erobert hat: seine Schrift ist Lorenzo di Medici gewidmet. Seit 1513 herrschte er in Florenz. Seine Familie hatte ihren Aufstieg als reiche Kaufmannsfamilie bereits im 13. Jahrhun78

dert begonnen. Wichtiger noch als diese individuelle Herkunft eines seiner Herrscher war freilich die allgemeine politische Verfassung Italiens: die Fusion von Bürgertum und Fürstenadel schien Machiavelli besonders günstige Voraussetzungen für die Errichtung eines modernen, zentralisierten Italiens zu bieten (der wichtigste Grund für di6 Unbrauchbarkeit seines Traktates im Ausland). Die einzelnen Qualitäten des Fürsten, den Machiavelli entwirft, werden vom unterstellten Streben jedes Menschen nach Ruhm und Reichtum und von der realen Herrschaftspraxis italienischer Potentaten bestimmt, und da Machiavelli sich von der Kampfpraxis der Condottieri leiten läßt, sieht er die wichtigste Qualität zunächst einmal in der individuellen Kriegs- bzw. Kampftüchtigkeit des Fürsten selbst. Gerade hier aber liegt ein weiterer Grund für die Unanwendbarkeit des Traktats in der Entwicklung des modernen Staates: der absolute Monarch kann nicht mehr selbst das Schwert führen, geschweige denn persönlich Kampf- und Geländetechnik studieren, wie Machiavelli es empfiehlt (bis hin zu „Lagerplatz aussuchen, die Marschrichtung bestimmen, das Schlachtfeld wählen", usw. 202 ). Hier, wo er sich vom Ritterwesen beeinflussen läßt (bzw. von der Kampfpraxis der Condottieri), ist Machiavelli eindeutig rückwärts gewandt, was nicht zuletzt in seiner Forderung zum Ausdruck kommt, der König solle sich (im Gegensatz zum Bürger) athletisch stählen (z. B. bei der Jagd). Im Gegensatz zu diesen unbrauchbaren Vorschlägen (im Hinblick auf die Machtpolitik eines absoluten Monarchen und die Herausbildung eines Nationalstaates) steht Machiavellis Hellsichtigkeit in bezug auf das stehende Heer, das er für die notwendige Voraussetzung zur Durchsetzung der Politik des principe, des Fürsten hält, wobei beachtlich ist, daß er Karl VII. von Frankreich ganz zu Recht für den Begründer der modernen Heerespolitik und die Wiederabschaffung der Infanterie (der francs archers) für eine Torheit hält. Der Principe ist also von vielen Widersprüchlichkeiten bestimmt: zum einen polemisiert Machiavelli gegen das unzuverlässige Abenteuerertum der Söldner, macht aber gerade das Abenteurertum der Söldnerführer zum integralen Bestandteil der Erob'erungs- und Herrschaftspraxis des principe. Dieses anarchische Element versucht er zu stabilisieren, indem er entscheidende Wesensmerkmale der absoluten Monarchie in sein Herrschaftsideal zu integrieren sucht, was vor allem in der Propagierung des stehenden Heeres und der nationalstaatlichen Machtpolitik seinen 79

Ausdruck findet. Folge dieser fundamentalen Widersprüchlichkeit ist die Einbeziehung weiterer heterogener Elemente bürgerlicher und ritterlicher Lebensformen in die Idealkonstruktion seines principe, von dem man sagen kann, daß er die Funktion eines absoluten Monarchen mit der eines Abenteuer-Condottiere, eines profitwütigen Handelsbürgers und eines (turnifer- und jagderprobten) Ritters verbinden soll. Daß für diese widersprüchliche Gestalt die den verschiedenen sozialen Bereichen entstammenden und entsprechenden ethischen Systeme keine große Relevanz besitzen können, liegt in der Natur der Sache und in der Natur der realen Machtverhältnisse in Italien. Machiavelli ist hier so realistisch, daß auch in dieser Hinsicht sein Traktat für die Zeitgenossen in England, Frankreich, Spanien unbrauchbar war. Dem absoluten Herrscher kann ebensowenig wie dem Bürgertum, das den absoluten Herrscher braucht, um sich in dieser Epoche entfalten zu können, Machiavellis radikaler Gedanke akzeptabel erscheinen: „Man muß nämlich wissen, daß es zweierlei Waffen gibt: die des Rechtes und die der Gewalt. Jene sind dem Menschen eigentümlich, diese den Tieren. Aber da die ersten oft nicht ausreichen, muß man gelegentlich zu andern greifen. Deshalb muß ein Fürst verstehen, gleicherweise die Rolle des Tieres und des Menschen durchzuführen." 203 Erst in der Epoche des Imperialismus wird dieser Gedanke, der von Machiavelli als (dialektische) Reflexion der Rolle der Gewalt in der Geschichte intendiert war, als (undialektisches) „philosophischanthropologisches" Prinzip eine Geltung erlangen, die Machiavelli ihr nicht geben konnte und wollte: Mussolini, der„duce", suchte seine Legitimation vom pseudo-machiavellistischen CondottierePrincipe (mit-) herzuleiten.

Das Geschäft des Adventurers

Die ökonomische Aventure Was die Forschung unbeachtet gelassen hat, ist die Tatsache, daß der Chevalier des höfischen Romans, der auf aventure zieht, nicht auf den Einfall kommt, sich Aventurier, also „Abenteurer" zu nennen.204* Überraschen freilich kann dies nicht, denn wie wir feststellen konnten, ist die Verherrlichung der aventure in den höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts lediglich ein Vorwand. Gesucht wird das Gegenteil, nämlich soziale Sicherheit, Ruhe und Ordnung — im Grunde die Verbeamtung am Hof (daher auch die ununterbrochenen Apelle an die largesse, die Großzügigkeit des Königs). Kehren wir noch einmal zum Begriff der aventure zurück. Elena Eberwein sagt über ihre eigne Bestimmung des Aventure-Begriffes anhand der Lais der Marie de France: „Nicht nur das rein Lexicographische mußte . . . ausgewählt werden: z. B. blieben rein juridische Bedeutungen unberücksichtigt, weil sie teils zu weit geführt hätten, teils nichts wesentlich Neues brachten . . ." 205 Ob dies ihre tatsächlichen Gründe sind (deren Fragwürdigkeit offen zutage tritt, wenn man bedenkt, daß sie — wie übrigens die anderen Interpreten der höfischen Aventure-Ideologie — nicht einmal geprüft hat, ob die „juridische" Bedeutung sich bisweilen mit der nicht,,juridischen" verbindet), oder ob sie nicht einfach andere Aventure-Bedeutungen unberücksichtigt ließ, damit ihre eigene Deutung nicht ins Wanken geriet, muß angesichts ihrer wiederholten wütenden Attacken gegen Frédéric Godefroy 206 allerdings bezweifelt werden. Tatsächlich bringt Godefroy in seinem Dictionnaire de l'ancienne langue française eine einseitige, für uns aber besonders interessante Auswahl von Aventure-Belegen (nahezu) ausschließlich in juristischer bzw. ökonomischer Bedeutung, wobei die ersten Beispiele bis in das späte 13. Jahrhundert reichen. Neben der Bedeutung von Erträgnis, Zuerwerb, Einkunft („Tous 6

Neriich, K r i t i k

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les droiz, aventures, emolumenz, seignouries", 1305; „Et tous les profiz, esploiz, adventures, et esmolumanz du dit cenz ou rente", 1345), findet sich das Wort aventure auch noch in der Bedeutung von Fang, Beute oder Ernte, die zu erwarten sind (Godefroy umschreibt diese Bedeutung selbst etwas ungenau mit „produit éventuel"): „Aulcuns pescheurs avoient jectet en mer leurs roits, ung illec present acheta Yadventure de ce cop." („Einige Fischer hatten ihre Netze im Meer ausgeworfen; einer, der dort anwesend war, kaufte den [zu erwartenden] Fang."), oder: „Dont acheta Yadventure future des oliviers . . ." („ . . . [er] kaufte die zu erwartende Olivenernte . . .").207 Natürlich muß man sich vor voreiligen Schlüssen hüten, darf aber doch feststellen: es ist unwahrscheinlich, daß in einer Zeit, da die Aventureritter-Ideologie noch völlig im Mittelpunkt höfischen Denkens und höfischer Romanproduktion stand, also mit dem gesamten ideologischen Bedeutungsballast befrachtet ist, dieser Terminus plötzlich in einer Bedeutung gebraucht wird, der von der höfischen Ideologie nicht das geringste anzuhaften scheint (und faktisch auch nichts anhaftet), wenn er nicht bereits seit langem in dieser Bedeutung gebraucht worden wäre. Daß aventure zuerst in einem literarischen Text (und damit auch in einem literarischen Kontext) belegt ist, der nichts mit juristischer oder ökonomischer Terminologie zu tun hat, liegt zunächst schlicht daran, daß juristische Texte bis 1200 in Latein verfaßt wurden. Erst danach beginnt man, juristische bzw. — „ökonomische" Texte auch in der Volkssprache zu redigieren. Es liegt also nahe, zu vermuten, daß aventure schon vorher umgangssprachlich in dieser Bedeutung gebräuchlich gewesen ist, ja allen-eventus (usw.)-Theorien zum Trotz bin ich der Meinung, daß es sich sogar um die ursprüngliche Bedeutung handelt, zumal nicht recht einzusehen ist, warum ein *adventura hätte erfunden werden müssen, wenn ein eventus bereits die Bedeutung abgedeckt hatte. Diese Überzeugung wird dadurch bestärkt, daß aventure in der Erträgnis-, Zugewinn-, oder BeuteBedeutung nicht nur völlig mit der Erwerbsart des Aventure-Rittertums übereinstimmt, sondern auch manchen nicht sehr klaren Aventure-Beleg aus der höfischen Dichtung ins rechte Licht rücken könnte. 208 Daß die aventure zumindest in der Kreuzzugsliteratur diese Bedeutung haben kann, ist nicht zu leugnen: wir sahen es bei Villehardouin.

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Li borjois chevalier Daß die Existenz von aventure in juristisch-ökonomischer Bedeutung (bzw. in der Bedeutung von Beute, Fang usw.) und die gleichzeitige Idealisierung der Aventure im höfischen Sinn die Entstehung des Begriffes aventurier verzögert, zumindest aber die Aufnahme dieses Terminus in die höfische Literatur verhindert hat, ist wahrscheinlich, kann aber auf Grund der Belegsituation nicht entschieden werden. Bemerkenswert jedoch, daß die Erstbelege alle aus dem 15. Jahrhundert stammen, zumal der Terminus dann nicht nur im Französischen, sondern auch im Deutschen (ofenthürer u. ä.), im Spanischen und Italienischen (aventurero, avventuriero) sowie im Englischen (adventurer) auftaucht. Gemeint ist damit nie: der Ritter, sondern (pejorativ) der Bandit und (positiv) der Soldat oder — was uns hier am meisten interessieren soll — der Kaufmann. Verglichen mit England, wo der Begriff adventurer eine neue Menschheitsepoche anzeigt, ist die Verwendung des Begriffs aventurier für den Kaufmann in Frankreich relativ selten, wofür die gesellschaftlichen Verhältnisse verantwortlich gemacht werden müssen. Kehren wir noch einmal in die Zeit der höfischen Aventure-Ideologie zurück und erinnern wir uns an die Aggressivität der höfischen Ideologen gegen Ii vilains bzw. Ii borjois, die wir aus den Klassengegensätzen erklärten. Diese Feindseligkeit gegenüber dem Bürgertum stellt sich in dem Augenblick ein, in dem es den Kleinadel an ökonomischer und z. T. auch an politischer Bedeutung zu überholen beginnt, in dem Augenblick, da der (Kleinbzw. Ritter-)Adel außer seiner ritterlich-militärischen Fähigkeit nichts anderes mehr in die Waagschale zu werfen hat als seine höfische Ideologie. Es beginnt der weltanschauliche Kampf gegen das Bürgertum, der freilich viele Facetten hat und durchaus nicht in allen (literarischen) Dokumenten anzutreffen ist. So finden sich z. B. bereits in dem Epos Le Montage Guillaumt (Wilhelms Möncbtum) aus dem Wilhelm-Zyklus (chansons de geste über Wilhelm von Aquitanien, gest. 812, der u a. die Araber in Südfrankreich und in Spanien bekämpfte), das 1180 — also zeitgleich mit den höfischen Romanen von Chrestien de Troyes — entstand, wichtige Szenen, die dem höfischen Anti-Bourgeois-Affekt krass widersprechen. Auf dem Fischmarkt erblickt ein freier Bürger („uns frans borjois") den als Mönch verkleideten (und ver6»

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spotteten) Wilhelm und lädt ihn ein, bei ihm zu Hause zu speisen. Nähme Wilhelm die Einladung an, sagt der Bürger, würde er sich sehr geehrt fühlen („jou meisme en serai honorés"). Wilhelm und sein Diener (Famulus) gehen („volentiers et de gré" — „mit dem größten Vergnügen") mit, werden reich bewirtet und wollen nach dem Essen zahlen, worüber ihr Gastgeber sehr erzürnt ist („mout en est aires"). E r hat Wilhelm trotz seiner Mönchskutte erkannt und erklärt, daß er selbst von ihm schon manche Wohltat empfangen habe und sich nun freue, Wilhelm seinerseits helfen zu können. Wilhelm nennt ihn daraufhin „tapfer und weise" und gibt sich offen zu erkennen. Als er aufbricht, bedankt er sich für die Ehre („ounor"), die er durch die Einladung empfangen habe. Der Bürger bietet ihm an, ihn zum Schutz vorBanditen zu begleiten: „G'iraiovous, se vous le comandés." („Ich gehe mit Euch, wenn Ihr es befehlt"), was Wilhelm aber nicht zuläßt. 209 Diese Szene läßt ein anderes Verhältnis zum Bürgertum erkennen, das auch der geschichtlichen Realität entspricht : das gute Verhältnis zwischen Fürsten bzw. K ö nig und reichem Stadtbürgertum. Der „frans borjois" ist der Bürger, den der König gegen den renitenten Feudaladel ausspielt und der sich trotz der Abgrenzungsversuche des Adels hat durchsetzen können. Ebenso bedeutend wie die beschriebene Szene zwischen Wilhelm und dem freien (Stadt-)Bürger ist eine andere, in der sich Landris, der Vetter Wilhelms, als Kaufschiffer ausgibt und wohl auch betätigt. Dem heidnischen König Synagon, der sein Schiff gekapert hat, erklärt er: „Herr, ich werde Euch nicht belügen. Wir fahren übers Meer nach Sizilien und leben von unseren Waren, von Seidentuch und Stoffen aus Almeria. Oft verkaufen wir Alaun, Brasilholz und Wachs . . . Zimt, Weihrauch und Lakritze, Pfeffer und Kümmel und andre gute Gewürze. Wir sind Kaufleute." 2 1 0 Wenn auch Ernst Robert Curtius mit seiner Behauptung, Landris sei Kauffahrer, zu weit geht,2U so hat er doch die Bedeutung dieser Szene, die zusammen mit der zuerst erwähnten beweist, daß es auch eine der höfisch-antibürgerlichen Ideologie entgegengesetzte adlig-probürgerliche gab, richtig erkannt: Landris kennt überhaupt keine moralischen Bedenken, sich als Seehändler auszugeben und zu betätigen. Einem „konservativen" höfischen Ritter würde dies nicht einfallen. Die beiden Szenen kennzeichnen die beiden wesentlichen Pole des positiven Verhältnisses zwischen König/Großadel und Bürgertum: während der König zunächst mit dem Stadtbürgertum ein

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positiv-interessiertes Verhältnis eingeht212, verbündet sich der Kreuzzugsadel mit den Seehändlern, was exakt der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht. Der Mittelmeerraum wimmelt seit dem frühen Mittelalter von Kauffahrern und Kauffahrkompagnien, 213 auf die die Kreuzzügler aus Transport- und Verpflegungsgründen von allem Anfang an angewiesen sind. Schon bald schließen sich die Kreuzzugsritter und die Handelsschiffer zusammen oder die Ritter selbst übernehmen die Funktion, verwandeln sich in Schiffskapitäne und Kaufleute — ein Prozeß, den wir aus den hier nur auswahlweise herangezogenen Texten Villehardouins und Martorells eindrucksvoll ablesen können: „Sind die Kreuzfahrer die großen Verlierer der christlichen Ausbreitung des 12. Jahrhunderts," schreibt Le Goff, „so sind die großen Gewinner letzten Endes die Händler, sich immer weiter von ihrem westlichen Ausgangspunkt hinauswagten." 214 Daran waren Adlige (vor allem der italienische, aber auch der katalanische Stadtadel) durchaus beteiligt, so wie andererseits viele Bürger auf dem Weg über die Handelsschiffahrt in die Reihen des Adels aufstiegen.215 Die Frontstellung ist keineswegs so eindeutig, wie Italo Siciliano noch 1968 behauptet: 216 bei der Beurteilung des Verhältnisses von Bürgertum und Adel müssen die verschiedenen Fraktionen genau unterschieden und differenziert beurteilt werden. Die größte Feindseligkeit herrscht zweifellos dort, wo der König das Stadtbürgertum gegen den Feudaladel ausspielt, um die Königsmacht durchzusetzen. Dabei erhebt der König auch (vor allem in Frankreich) Bürger in den Adelsstand oder erteilt ihnen Privilegien, die sie dem Adel gleichstellen und wesentlich zur Herausbildung des Stadtpatriziats beitragen.217 Diese Tatsache erklärt auch den Erfolg, den höfische Kultur und höfische Literatur in Frankreich bei den frans borjois haben : er reicht bis in die Zeit des Bourgeois Gentilhomme von Molière und danach.218

Die Chevaliers du Commerce Aventüren im Sinn von (zustoßendem) Ungemach hatten die Kaufleute sowohl zu Wasser als zu Lande natürlich auch in Frankreich immer zu bestehen gehabt. Daher schlössen sie sich früh zu „Compaignies", zu Schutzbünden bzw. Gilden zusammen: bereits im 9. Jahrhundert bestand eine „Confrérie des marchands de l'eau" 219 . Die Herausbildung der Städte, der „Communes" mit ihren wechsel85

seitigen Beistandsverpflichtungen, die die „borjois" sich gaben, trug zur Herausbildung solcher Organisationen entscheidend bei. 220 So bildeten sich schon von 1072 bis 1083 Gilden bzw. Hansen der „Marchands" (Händler) in Paris, die sich zu Wasser und zu Land mit ihren Warentransporten wechselseitig schützten, wobei im übrigen die Bewaffnung bis in Details vorgeschrieben war und bestraft wurde, wer sich an diese Vorschriften nicht hielt. 221 Im Prozeß der Herausbildung der Städte und der Zusammenarbeit von König und Bürgertum, das zum Adel oder zum adelsgleichen Patriziat aufsteigt, ändern sich (spätestens im 13. Jahrhundert) diese Schutzbündnisse: „Die Gilden werden. jetzt aristokratische Bünde und isolieren sich (von den Handwerks- und Zunftgenossenschaften — M. N)." 222 Die wirtschaftliche Stagnation im 14. und 15. Jahrhundert, der Zeit großer Hungersnöte und Pestepidemien sowie des Hundertjährigen Krieges, verschärft diese Entwicklung: „Das reichgewordene Großbürgertum lebt von nun an von der Rente oder kauft Feudalbesitz und imitiert die Feudalherren." 223 Einen Eindruck von diesem Vorgang vermittelt E. Coornaert: „Im Norden waren die Gilden relativ früh zu Patriziern geworden: in Valenciennes und in Tournai (die Bürger dieser Stadt waren adlig) bildeten die Tuchhändler eine chevalerie. Arras besaß um 1430 einen .Prinzen des Weinhandels', und in Reims wurden die Großkaufleute die .Ritter der Nation von Reims' genannt. Die Kaufmann-,Ritter' des Languedoc, die in der .Militärmiliz des Waren-Ordens' eingeschrieben waren, hatten durchaus das Recht, sich als Mitglieder einer Aristokratie zu betrachten. Die Sechs Korporationen von Paris bildeten eine solche . Aristokratie seit dem 15. Jahrhundert — hatten nicht die Goldschmiede unter ihnen von Philippe de Valois das Recht erhalten, Wappen zu führen? . . . Bald werden die Mitglieder des .Handels' ganz geläufig 'Adlige' [.nobles hommes'] genannt." 224 Diese mehr oder weniger intensive Assimilation des Handelsbürgers an den Adel sollte (zusammen mit dem Streben nach „noblesse de robe") ein entscheidendes Merkmal der Entwicklung des französischen Bürgertums bleiben.

Das geheiligte Risiko Die entscheidende Wende in der Geschichte der Abenteuer-Ideologie bahnt sich in England an. Während sich in Frankreich das aufsteigende Bürgertum dem (Hoch-)Adel assimiliert oder in den 86

Beamtenadel aufsteigt (auf jeden Fall aber die adlige Lebensweise nachahmt und sich weitgehend die höfische Ideologie zueigen macht), beginnt in England das Bürgertum in Opposition zum Hochadel und zum Klerus, aber im Bündnis mit dem Kleinadel, den Weg zu weltgeschichtlicher Bedeutung, zur Durchsetzung seines ökonomischen Systems, des Kapitalismus einzuschlagen. Eine seiner Waffen war die adventure. Bereits im 14. Jahrhundert dichtet Chaucer in denCanterburj Tales-. „Us moste putte oure good in áventúre./ A marchaunt, truly, may not ay endure,/ Truste me wel, in his prosperitye,/ Some tyme his good is drowned in the see,/ And some tyme cometh it sauf unto the londe." 225 Deutlich ist in diesen Versen ein Echo auf Thomas von Aquins „Sicut navis undis marinis jactatur in altum nunc, & nunc in profundis; sie homo per fortunam nunc in prosperitate levatur, nunc in adversitate dejicitur." 226 zu erblicken, was um so verständlicher ist, als f o r t u n a als Begriff (Schicksal, Glück) und als Allegorie (Frau Fortuna) schon früh synonym mit a v e n t u r e gebraucht wird, wie z. B. der Beleg in Watriquet de Couvins Li miroir as Dames (Der Damenspiegel) zeigt. Hier stellt sich Fortuna vor: „Bruder, man nennt mich Aventure, /Gott hat mich auf Erden eingesetzt. . ,"227. In der englischen Version des Alexius-Liedes um 1400 ist die Rede von „dame auenture", und in einem Glossar aus dem Jahr 1440 heißt es: „Awntyr . . . or happe: Fortuna fortuitis." 228 Chaucer verläßt diesen Bedeutungskontext nicht, wenn er in dem zitierten Beleg auf das Kaufmannsrisiko hinweist. 229 Der Kaufmann bzw. der Kauffahrer geht das Risiko ein, und er kann es auch mit Stolz tun, denn nicht nur, daß Jesus selbst „geabenteuert" hat (indem er sein Leben riskierte), wie ebenfalls noch im 14. Jahrhundert William Langland schreibt,230 sondern die Kirche hatte das Risiko des Geld- bzw. Handelsgeschäfts geradezu mit Nachdruck geheiligt. Das mag sich paradox anhören, ist jedoch nicht unverständlich.231 Die Kirche hatte schon früh den bezinsten Geldverleih, den Wucher verboten. Den Wechsel von Geld von einer Währung in eine andere jedoch belegte sie keineswegs mit Verbot.232* Die ursprünglichen Bankiers (in Oberitalien) waren daher zunächst einmal (offiziell) Geldwechsler: „Im Mittelalter waren fare il banco und fare il cambio synonyme Begriffe." 233 Von den Theologen (wie z. B. Thomas von Aquin) werden die Wechselverträge legitimiert: sie erlauben den Bankiers, ihr Geld gewinnbringend anzulegen, sobald dies mit einem Risiko, nämlich dem Wechsel von 87

einer Währung in eine andere verbunden ist, ohne daß daraus der Vorwurf des Wuchers gegenüber den Geldwechslern abzuleiten wäre. 234 Das Geld wurde von den Kaufleuten gewechselt, den „marcheants", von denen Le Montage Guillaume spricht und die schon früh zu Wasser und zu Lande Fernhandel betreiben. Als sich im 11.—12. Jahrhundert das Wechselwesen entwickelt, hat der „ambulatorische" Charakter des Handels bereits mit der Kauffahrerei und ihren Gilden und Hansen einen internationalen organisatorischen Rahmen bekommen. Es mußte also mit verschiedenen Währungen gehandelt werden, was den Bankiers die Möglichkeit zu verdecktes Kreditbzw. Wuchergeschäften bot. 235* Zwar waren diese Geschäfte („mutuum in fraudem usurarum" = „Wechsel zu Wucherzwecken") offiziell von der Kirche verboten, aber es war nur schw\'r möglich, ihnen auf die Spur zu kommen (sofern dies überhaupt erwünscht war). Der Deckmantel für die Wuchergeschäfte war der offiziell erlaubte Geldwechsel: „Cambium non est mutuum" = „Geldwechsel ist kein Wucher", hatte die Kirche beschlossen, weil der c a m b i u m im Gegensatz zum m u t u u m ein (tatsächliches) Risiko für den Geldwechsler enthielt. Der Geldwechsel war verstanden als Wechsel von Währung von einem Ort an einen anderen.236 Er vollzog sich im Prinzip in der Weise, daß sich ein Händler an einem bestimmten Ort eine bestimmte Summe Geld in der an diesem Ort gültigen Währung aushändigen ließ. Diese Summe war an einem vorausbestimmten Ort in der dort gültigen Währung wieder zurückzuzahlen, und zwar mit einem Gewinn für den Geldwechsler (den Bankier), weil dieser das Risiko des Verlusts seines Geldes (die Handelswege waren unsicher, die Entfernungen z. T riesig, so daß es sehr lange dauern konnte, bevor der Bankier sein Geld zurückerhielt) eingegangen war. Tatsächlich war es möglich, diesen Vorgang mit christlicher Nächstenlieben zu bemänteln. Beispielsweise konnte ein Reisender in einem fernen Land in Not geraten sein, so daß es nur christlich-barmherzig war, ihn aus dieser Not zu befreien, indem man ihm Geld gab, damit er in seine Heimat zurückkehren konnte, wo er dann das geliehene Geld zurückzuerstatten hatte. So vollzog sich dies auch in der Tat, obwohl mit dem feinen, entscheidenen Unterschied, daß der Geldleiher normalerweise keineswegs ein in Not geratener Reisender, sondern ein Kaufmann war, der mit dem geliehenen Geld an Ort und Stelle Waren einkaufte, auf 88

seine Wagen oder auf sein Schiff lud, mit ihnen zu dem vorher bestimmten Ort fuhr, die Waren dort gewinnbringend absetzte und aus dem erzielten Gewinn sowohl seine Unkosten und seinen Lebensunterhalt finanzierte (bzw. seinen Reichtum vermehrte) als auch den Gewinn des Bankiers (den verdeckten Zins) aus diesem Profit beglich. So primitiv bzw. umständlich dieser Geldverkehr, der ganz der Umständlichkeit des Handelsverkehrs der damaligen Zeit entsprach, auch war: er steht nicht nur am Anfang des modernen Geldverkehrs des Handelskapitalismus, er gab auch einem ganz bestimmten Handelstypus seinen adäquaten Namen: dem Aventure-Handel, der in Rudimenten bis hinein ins 19. Jahrhundert bestand. 237 *

Die Mercbant Adventurers Während in Frankreich die vom Adel und partiell vom aufsteigenden bzw. aufgestiegenen Bürgertum gemeinsam getragene höfische Aventure-Ideologie die positive Verwendung von a v e n t u r i e r (statt chevalier) für Händler, Kaufmann, Kauffahrer usw. wenn nicht verhindert, so doch zumindest stark eingeschränkt zu haben scheint, gehört der Terminus aventure in den verschiedenen dialektalen Varianten bald zur gängigen Handelsterminologie im deutschen Sprachraum, wo er in der Bedeutung von Risiko (das übrigens auch a n g s t genannt wurde 238 ) die weiteste Verbreitung fand: bereits um 1300 ist er in dieser Bedeutung in Braunschweig verwendet 239 , und in den Handelsverträgen der Hanse ist er ganz geläufig: „Handelsverträge werden in Lübeck bei zwei Partnern u p u s e r t w i g e r a v e n t h u r e , in Königsberg bei drei Partnern u p u s e r 3 e v e n t u e r abgeschlossen." 2,40 Abenteuer kann aber auch der Gewinn selbst sein, wie Erich Maschke anhand von Dokumenten der Ravensburger Gesellschaft nachweist: „1479 erwartet die Filiale in Valencia guten a b e n t y r im Zuckergeschäft, und a u b e n t ü r i g e r s a f f r a ist gewinnbringender Safran." 241 Die Ware selbst kann Abenteuer heißen, und der Kaufmann endlich legt sich selbst den Titel Abenteurer zu: „Im Zusammenhang damit werden reisende Kaufleute und vor allem Juwelenhändler als Abenteurer bezeichnet, ohne daß hier das Wort schon einen üblen Beigeschmack hätte" schreibt Werner Welzig: „Es bildet vielmehr eine regelrechte Berufsbezeichnung. So erläßt der Straß89

burger Magistrat 1482 eine 'Ordnung der Goltsmiede und Ofentürer' . . ." 242 In der Tat; daß der Begriff Abenteurer als Bezeichnung für den Kaufmann einen „üblen Beigeschmack" gehabt hätte, wäre angesichts der höfischen Aventure-Ideologie und der kirchlichen Heiligsprechung des Risikos mehr als verwunderlich gewesen. Daß auch „Juwelenhändler" (wie Welzig sagt) bzw. Goldschmiede sich bisweilen Abenteurer nennen, hat seinen Grund darin, daß sie auch und vor allem Geldwechsler bzw. -leiher sind (in England ist der Terminus goldsmith bis hinein ins 18. Jahrhundert synonym mit Bankier) und über diese ihre Tätigkeit am Aventure-Handel beteiligt sind (d. h. auch Risiken eingehen). Es sind daher auch nicht „vor allem Juweliere", die sich selbst Abenteurer nennen, sondern die Fernkaufleute: „Von Bedeutung wurde seit dem Mittelalter die Zuspitzung des Begriffes 'Abenteuer' auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge und darin auf das Kapitalrisiko", schreibt Bruno Kuske: „Man unterschied den Aventiurehandel von dem Vertrieb an fest bestimmmte Abnehmer, also für die Fälle, in denen der Kaufmann mit seiner Ware auszog, ohne deren Absatzmöglichkeit genau zu kennen oder indem er sie irgendwie an Vertreter oder Kommissionäre verschickte. Hierbei entwickelten sich sehr verschiedene Gewohnheiten — diese insbesondere in den Vereinbarungen von Handelsgesellschaften untereinander oder von Kontrahenten. Man beschränkte die 'Aventiure' auf bestimmte Mengen des gemeinsamen Umsatzes, auf begrenzte Transportstrecken . . . Man behielt sich vor, bei einer Beförderung etwa vom Niederrhein nach Venedig nur die Hälfte der eventure mitzutragen, die andere dem Partner zuzuschieben . . . Der Fernhändler, der zudem in der Lage und bei Kapitalkräften ist, die Unsicherheit des Warenziels auf sich zu nehmen, nannte sich daher im Mittelalter selbstbewußt beruflich 'Abenteurer'." 243 Weltgeschichtliche Bedeutung gewinnt der Terminus in England, wo er zur stolzen Berufsbezeichnung für „diejenige Korporation englischer Kaufleute" wird, „deren Fernhandel besonders riskant war" 244 . Erste Belege für die Selbstbenennung als adventurers finden sich in den Jahren 1443/1444 („Adventurers of the Mercercy" — zum Vergleich: in Frankreich nennen sich die seßhaften Händler „Chevaliers de la mercerie"), und bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts figurieren die adventurers im Londoner City-book als the merchant adventurers. 245 Das Bewußtsein des Eingehens von Risiken spielt bei dieser Selbstbenennung durchaus 90

eine entscheidende Rolle. Die Gilde von St. George in Hull ließ als Mitglieder nur zu, wer keinen anderen Lebenserwerb hatte außer „by grete aventoure". Damit war vor allem das Risiko des Seehandelsgeschäftes gemeint, wie aus einem Beleg aus dem Jahr 1439 bereits hervorgeht: „Maistres and Mariners of certein Schippes and Vesseles . . . aswell of aventure of Wynde and of the See, as by rekelesnesse . . . have hert and brused other Schippes and Vesseles."246 Die Bildung der merchant adventurer — Genossenschaften ist verbunden mit der zunehmenden Bedeutung der englischen Wollund Tuchfabrikation und der mit dieser zusammenhängenden Handelsschiffahrt im 15. Jahrhundert, wenngleich die Anfänge zunächst bescheiden sind, zumal bis weit hinein ins 16. Jahrhundert der Löwenanteil im Seehandel mit englischer Wolle und englischem Tuch der Hanse zufiel, die in London mit dem berühmten Stalhof ihre Zentrale besaß. Dennoch: „Das zunehmende Volumen des Überseehandels, das von englischen Handelsleuten bewegt wurde," konstatiert E . M. Carus-Wilson, „spiegelt sich auch in der wachsenden Bedeutung der Kaufleute, die im Auslandshandel spezialisiert sind, innerhalb der englischen Gesellschaft, besonders im Tuchhandel." 2 4 7 Die Tuchhändler, die merchant adventurers, waren mit ihren Privilegien streng von den Wollhändlern, den merchant staplers unterschieden, die der Company of Staple angehörten und lediglich das Rohmaterial Wolle bis nach Calais fahren durften: „Die Tuchhändler waren an keine Gilde [Company] und an keinen Hafen gebunden, und für den Absatz ihrer Waren bestand keine Versicherung. Sie konnten sie im Norden, Süden, Osten und Westen absetzen, wo immer sie eine Absatzmöglichkeit fanden. Sie trachteten danach, ausländischen Produzenten von den Märkten zu verdrängen, die ihnen zu jeder Zeit auf Grund von Krieg oder aus diplomatischen Gründen verschlossen werden konnten. Sie setzten ihre Waren und manchmal auch sich selbst auf Reisen zu fernen und nicht immer gastfreundlichen Ländern aufs Spiel. Aus faktischen Abenteurern wurden sie auch namentlich zu Abenteurern, Als 'venturer' oder 'adventurer' unterschieden sie sich von den 'Merchant Staplers' und von den seßhaften Händlern zu Hause." 2 4 8 Zur Durchsetzung ihrer Interessen sahen sich die merchant adventurers gezwungen, recht bald zu genossenschaftlichen Organisationsformen zu gelangen, da sonst die Übermacht der genossen91

schaftlich organisierten anderen in- und ausländischen Seehändler (der sogenannten nationen) zu groß gewesen wäre: „als 'fellowship of adventurers' ('Abenteurer-Genossenschaft' — M. N.), die sich aus gemeinsamen Interessen konstituierte, verbanden sie sich sowohl im Inland als auch im Ausland zu Gruppen" 249 , obwohl eigentlich das Prinzip der Assoziation dem Bekenntnis zur risikoreichen adventure entgegengesetzt zu sein schien, sollte doch über die Genossenschaft die adventure gerade soweit wie möglich dem unberechenbaren Risiko entzogen werden (eine innere Widersprüchlichkeit, die uns noch intensiver beschäftigen wird). Die Entwicklung der adventurer-Genossenschaften ist bahnbrechend für den englischen Seehandel ganz allgemein. 1457 wird der felyship adventurers bereits zugestanden, auf jede Tuch-Warenladung, die mit bestimmten Schiffen nach England gebracht wird, Abgaben zu verlangen. 250 Dabei bildete sich zum Verdruß anderer Händler eine besondere Rechtsprechung heraus, die vom Court of Adventurers praktiziert wurde, 251 was zu Spannungen (und bisweilen zu Mord und Totschlag) zwischen den mercers adventurers und anderen „divers felyshippes aventerers" führt. 252 1489 finden wir eine genauere Spezifizierung dieser anderen „Fellowship Adventurers of the City" (London), die in der „Courte of the felishippes aventerers" organisiert sind: Tuchhändler, Großhändler, Kürschner und andre „wie unsre TuchhändlerCompany" 253 . Aber auch Kleinhändler (haberdashers), Fischhändler oder Schneider, konnten ihnen, wenngleich seltener angehören. 254 Die größte Adventurers-Genossenschaft war zweifellos die „Company of Merchant Adventurers of England, trading to Holland, Zealand, Brabant, Hainault and Flanders", später kurz „the Merchant Adventurers of England" genannt. Daß Holland zuerst genannt wurde, ist insofern besonders kennzeichnend, als im 15. Jahrhundert die Seehandelsbeziehungen zwischen England und den Niederlanden die entscheidende Bedeutung hatten. Die Zentrale der „Merchant Adventurers of England" lag in Brügge bzw. Antwerpen, während die der Hanse in London lag. Die Handelsschiffahrt war noch keine nationale Angelegenheit, geriet aber dann mit der Herausbildung der Nationalstaaten in deren Sog bzw. in den der absoluten Monarchien. So begann die Abgabepflicht für die merchant adventurers an den König von England, der dafür Handelspatente verlieh, spätestens seit dem Tod Edwards IV. dermaßen auf den Genossenschaften zu lasten, daß sie sich zur 92

Wehr setzten und u. a. größere Privilegien für ihr Geld verlangten. 255 Konkurrenzdruck und gemeinschaftliche Interessen (vor allem gegenüber der Hanse und damit gegenüber dem a u s l ä n d i s c h e n Konkurrenten) führten bald zum Zusammenschluß aller Adventurer-Genossenschaften und damit zugleich zu einer derart großen Bedeutung der Organisation für die englische Wirtschaft, daß die adventurer dein König um militärischen Beistand bei ihren Unternehmungen bitten mußten und konnten, womit sie nebenbei auch den Anstoß zur Einrichtungen einer „royal navy" gaben. 256 1492 liefen Adventure-Schiffe unter Begleitung von Kriegsmarine aus, was unter Henry VII. und Henry VIII. zur Regel werden sollte. 257 Ungefähr gleichzeitig begannen die adventurers, offensiv gegen die Hanse, ihren größten Rivalen neben den staplers, vorzugehen. 258 Der König unterstützte sie bald in diesem Kampf, denn er begann, die Bedeutung einer nationalstaatlichen Handelsmarinepolitik zu erkennen. Im Prozeß der Herausbildung der merkantilistischen Politik schützte er denn auch zunehmend den eigenen Seehandel zuungunsten des ausländischen, vor allem der Hanse, deren Privilegien Elisabeth I. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erheblich einschränken sollte.

Zum Aufstieg des Bürgers in der Literatur Sucht man nach einer Begründung für die Selbstbenennung des (Fern-)Kaufmanns als adventurer, so darf man die höfische Aventure-Ideologie nicht aus dem Auge verlieren: das Bekenntnis zum Risiko ist der höfischen Aventure-Ideologie als Bejahung des realen bürgerlichen (Handels-)Abenteuers sicherlich trotzig entgegengesetzt, andererseits aber ist es doch — wo immer dies möglich — zunächst in die Formen der höfischen Ideologie selbst gehüllt. Das, was die Forschung unter „Verbürgerlichung der höfischen Literatur" faßt, ist ein dialektischer Prozeß. Das Bürgertum erobert sich in der Aneignung der höfischen Kultur und Ideologie nicht nur soziale Privilegien des Adels, es verändert nicht nur in der Aneignung die höfische Kultur und Ideologie in seinem Sinn (in Richtung bürgerliches Interesse und Ausdruck dieses Interesses), es verändert sich auch selbst in dieser Aneignung, 259 * macht sich konkurrenzfähiger, und d. h., es verwendet die kulturellen und ideologischen Waffen des Adels in der Klassenauseinandersetzung (z. T. unbewußt) gegen den Adel selbst. 260 * 93

Das kann freilich nur so lange von klassenkämpferischer Wirksamkeit bleiben, solange aus der Mimikry nicht Assimilation an den Adel bzw. Identifizierung mit diesem wird (wie z. B. vor allem in Frankreich, aber auch in Italien, usw.). Diese Gefahr war in England auf Grund der ökonomischen und politischen Entwicklung, 2 6 1 d. h. auf Grund der unterschiedlichen Klassenkampfsituation, nicht so groß: ein Ritterwesen wie in Frankreich oder auch in Deutschland oder gar in Spanien hat es in England nie gegeben. 262 Bereits im 14. Jahrhundert kommt es in England zu einer ökonomischen und politischen Verbindung zwischen reichem Stadtbürgertum und Kleinadel (gentry), die im Parlament als House of Commons dem aus Hochadel und Hoher Geistlichkeit gebildeten House of Lords gegenüberstehen. An einer bedingungslosen Propagierung der höfischen, den Nichtadel desavouierenden Ideologie (die in Frankreich vom Bürgertum im Fall seines Aufstiegs partiell unterlaufen bzw. von ihm selbst propagiert wird) kann ihnen nicht sehr gelegen sein, und tatsächlich spielt die höfische Aventure-Ideologie in England eine weitaus geringere Rolle als in Frankreich, von wo sie im übrigen importiert wird. Bis weit hinein ins 14. Jahrhundert ist in England Französisch die Sprache des Adels und damit auch die offizielle Staatssprache. Die höfische Ideologie wird daher in der Originalsprache ihrer französischen Produkte nach England gebracht, wodurch ihrer Rezeption von vornherein enge Grenzen gesetzt waren (zumal zu dieser Zeit Texte nur handgeschrieben oder mündlich verbreitet wurden). Einen „selbständigen" englischen Ritterroman im eigentlichen Sinn hat es im Grund nie gegeben. 263 Als man in England begann, englische Romane zu verfassen, war die Zeit des Rittertums bereits vorbei, bestand schon das Bedürfnis nach einer anderen Literatur, die nicht mehr ausschließlich die des Rittertums war. Im Gegenteil: die seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts verfaßte ausschließlich höfisch-ritterliche Literatur trägt, soweit vorhanden, durchaus in den Formen der Zeit „konterrevolutionäre" Züge. Dennoch darf man sich auch für England die geschichtliche Entwicklung nicht als eine bezuglose Abfolge verschiedener Klassen und ihrer jeweiligen (im übrigen durchaus nicht einheitlichen, sondern höchst widersprüchlichen) ideologischen Systeme vorstellen, was auch für das Verhältnis des mittelalterlichen englischen Bürgertums zur höfischen Literatur gilt. Dieses Bürgertum (von dem die merchant adventurers nur eine Avantgarde darstellen)

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setzt (wie in Frankreich, Deutschland, oder sonstwo) der höfischen Ideologie zunächst keineswegs eine radikal-oppositionelle Weltanschauung entgegen. Vielmehr „funktioniert" es nach und nach die höfische Ideologie „um", bevor es sie offensiv bekämpfte (und zwar mit Waffen, die z. T. in der Umfunktionierung, d. h. der angeeigneten und veränderten Kultur gewonnen worden waren). Das geschieht auf verschiedenen Ebenen. Das Bürgertum „verbürgerlicht" die höfische Literatur bzw. Ideologie sprachlich, formal und ideologisch — sei es, daß die höfische Literatur parodiert wird, sei es, daß die bürgerliche Welt als Hintergrund eingeführt wird, sei es, daß auch handelnde Personen als Repräsentanten des Bürgertums auftreten usw.: die Grenzen und Übergänge sind fließend und entsprechen den wechselnden, sich widersprechenden oder sich deckenden verschiedenen Klasseninteressen. Dieser dialektische Prozeß der Verbürgerlichung der höfischen Literatur bzw. Ideologie und der Verhöflichung des aufsteigenden Bürgertums beginnt in England schon relativ früh. Genaugenommen beginnt er bereits mit der Durchsetzung des Englischen als offizielle Staatssprache, die dadurch auch literarisch hoffähig wird. In den Canterbury Tales von Chaucer (1380—1400) wird eine repräsentative Auswahl von Gestalten aus den verschiedenen Klassen der Gesellschaft vorgestellt. Zwar ist die Hierarchie streng eingehalten, aber der „parfit gentil knight" („perfekte höfische Ritter") 264 , der den Personenreigen anführt, ist schon durch seinen sozialen Standort vom Modellritter des höfischen französischen Romans unterschieden. Keine Märchenwelt bildet den Hintergrund für seine aventures, sondern die genau benannte Topographie von Rußland bis in den Mittelmeerraum. Wichtiger aber noch: er befindet sich auf einer Pilgerfahrt in Begleitung ganz un-höfischer Personen, einer Pilgergruppe, auf deren Gemeinsamkeitsgefühl Chaucer den Akzent legt, 265 und zu dieser Pilgergruppe gehört auch ein Kaufmann, der eingehend und mit Sympathie vorgestellt wird. Doch nicht nur als Mitglied der Pilgergemeinschaft, die sich wechselseitig Geschichten erzählt, tritt uns ein Kaufmann entgegen. Auch in der Geschichte, die der Seemann, ein anderes Mitglied der Pilgergemeinschaft, vorträgt, begegnet ein (gehörnter und betrogener, aber durchaus ehrbarer) Kaufmann als Protagonist, wobei für uns nicht uninteressant ist, daß Chaucer versucht, seinem Leser im Rahmen dieser Geschichte einen Einblick in das damalige Kredit- bzw. Wucherwesen zu geben. 95

Der dialektische Prozeß der Verbürgerlichung der höfischen Literatur findet in den verschiedenen Ländern unterschiedlich intensiv statt. Wir können ihn hier nicht im einzelnen verfolgen, sondern nur auf einige zentrale Punkte in der Entwicklung hinweisen, die für die Herausbildung der Abenteuer-Ideologie von besonderer Wichtigkeit sind. Allgemein kann man feststellen, daß neben der höfischen Literatur, die verbürgerlicht, eine Literatur entsteht, die immer offener Ausdruck der aufsteigenden Klasse ist, wobei auch hier die Entwicklung national verschieden ist (obwohl allenthalben von einem zunehmenden Realismus geprägt).266 Ein Wandel in der Bewertung des Adels und der Ritter-Aventure kündigt sich bereits an, wenn Jean de Meun in der Fortsetzung des Roman de la Rose (Rosenroman etwa 1275) die Vorschriften des Andreas Capelanus für die Verhöflichung des Ritters in implizite Adelsschelte und Aufwertung des Nichtadligen umsetzt. Er läßt — in Anlehnung an antike Quellen — die allegorisierte Natur Auskünfte über die natürliche (moralische) Gleichheit des Menschen verbreiten und stellt fest, daß niemand gentilhomme ist, es sei denn auf Grund seiner entsprechenden Tugenden, und niemand vilain, es sei denn auf Grund des Fehlens dieser Tugenden. „Noblesse", so schreibt er, „kommt vom rechten Mut, denn Adel allein aus der Herkunft ist kein Adel, der etwas taugt, wenn nicht ein großes Herz dazukommt.", also Tapferkeit. Um diese zu lernen, soll sich der gentilhomme der heroischen Taten seiner Vorfahren erinnern, wobei ihm die clercs, im Grund die Intellektuellen behilflich sein können, denn diese, die selbst nobles sind oder es doch aus geistig-moralischer Überlegenheit sein sollten, können als Schriftgelehrte die Taten der Alten vermitteln. Der clerc, so schreibt Jean de Meun, „liest in den alten Erzählungen / die vilenies (Schandtaten — M. N.) aller vilains / und die Heldentaten der toten Helden: / eine wahrhaftige Fundgrube der courtoisie". Zwar stellt Jean de Meun die Bedeutung und Funktion des Adels bzw. des Ritters keineswegs in Frage, aber sein Hinweis darauf, daß auch derjenige, der von seiner Hände Arbeit lebt, damit noch kein vilain ist, kann ebenso wenig übersehen werden wie der Hinweis darauf, daß mancher Held vergangener Zeiten niederer Abkunft war. Wichtiger noch: das Prinzip der vita activa wird von ihm proklamiert. Paresse und noblesse, Faulheit und Adel sind unvereinbar, wobei freilich mit Blick auf den Adel bzw. Ritter in erster Linie an die militärische Aktivität gedacht ist. Wie auch immer, der wahre Adlige muß dem 96

Grafen Robert d'Artois, dem Bruder von Louis IX., Saint Louis, der während des siebenten Kreuzzuges getötet wurde, nacheifern, darf niemals müßiggehen, muß gebildet sein und „largece (largesse — M. N.), eneur (honneur — M. N.), chevalerie" aktiv vertreten. 267 Mit der polemisch gegen den müßiggehenden Adel gerichteten Bejahung der vita activa ist der ideologische Boden für die Kritik an der märchenhaften, irrationalen Ritter-Aventure vorbereitet, auf dem ihre Parodierung, wie im Dit d'aventures (der „ersten Parodie des Ritterromans," die noch im 13. Jahrhundert geschrieben wurde, wie Michail Bachtin feststellt) 268 entstehen sollte. In ihr drückt sich literarisch-bürgerliches Selbstbewußtsein in impliziter und expliziter Kritik an der höfischen Aventure-Ideologie vom Roman de Kenart in seinen verschiedenen Variationen bis hin zum Ulenspiegel (ca. 1478) und zum Reinke de Vos (1498) 269 aus. Wenn dabei allerdings der positive Entwurf eines bürgerlichen Menschheitsideals verhältnismäßig lange auf sich warten läßt, so ist das auf die Entwicklung des Klassenkampfes zurückzuführen, der zu den zuvor beschriebenen Aneignungsformen des höfischen Kulturgutes führt. Dazu kommt, daß sich noch keine Gruppe innerhalb des Bürgertums als Avantgarde der aufsteigenden Klasse durchgesetzt hat bzw. vom Bürgertum als dessen eigene Avantgarde erkannt worden ist. Die Tatsache, daß der Schiffskaufmann und die Handelsschiffahrt insgesamt nur eine relativ untergeordnete Rolle spielen, kann nur aus der Fraktionierung der Bürgertums im Mittelalter abgeleitet werden, auf die Armando Sapori zu Recht verweist, der (für Italien) zwischen der Welt der Handwerker und deren Lehrlingen und der von ihm so bezeichneten Welt der Avantgarde unterscheidet, der des Groß- bzw. Fernhändlers und seiner Handelsorganisationen. 270 Wenn die Ideologen des mittelalterlichen Bürgertums den Großkaufleuten und ihren Handelsorganisationen mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstehen, dann deshalb, weil sie in ihnen noch nicht uneingeschränkt die hauptsächlichen Vertreter ihrer eigenen Interessen erkennen können. Das liegt daran, daß der Fernhandel tatsächlich noch nicht die alle gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionierende Kraft ist und daß sich darüber hinaus die Welt des Großhandels (zumal in Italien, aber auch in Frankreich) mit der des Adels berührt, mit ihr verbündet, mit ihr sogar partiell identisch wird, was wiederum andere ideologische Faktoren ins Spiel bringt (bestimmt von Mißtrauen 271 ). Erst in dem Augenblick, da sich Großadel bzw.

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Neriich. Kritik

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Fürsten und Könige und Bürgertum als die zwar antagonistischen, aber im Kampf gegen den niederen Adel und kleine Feudalherren aufeinander angewiesenen Klassen gegenüberzustehen beginnen, ändert sich nach und nach auch die Stellung des Kaufmanns bzw. Fernhändlers im bürgerlichen Bewußtsein bzw. in seiner literarischen Artikulation. Dabei steht bezeichnenderweise von Anfang an das Gemeinwohl, das Wohl des Landes (d. h. der sich allmählich herausbildenden Nationalstaaten) im Vordergrund. So heißt es z. B. bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Gilles de Muisits Gest des marcbands (Vonden Kaufleuten)-. „KeinLand kann sich aus eigener Kraft behaupten; / Deswegen mühen sich die Kauflcute ab und streben danach, / Das, was in den Ländern fehlt, in alle Länder zu bringen; / Deswegen darf man sie nicht ohne Grund vertreiben. / Die Kaufleutc reisen über das Meer und zurück, / um die Länder zu versorgen und sich untereinander lieben zu lassen. / Und die guten Kaufleute tun nichts, wesgegen man sie tadeln müßte, / eher handeln sie so, daß man sie liebt und für loyal und gut hält. / Sie lassen Fürsorge und Liebe in allen Ländern erblühen,/ und deswegen soll man sich sehr freuen, wenn sie sich bereichern."272 Und im Dit des marchands lesen wir: „. . . daß man die Kaufleute / mehr als alle anderen Leute ehren muß, / denn sie ziehen über Land und überSee / und in viele fremde Länder / um graue und verschiedenfarbige Wolle einzukaufen / . . . / Gott möge alle Kaufleute vor Unheil schützen / . . . / Die Heilige Kirche wurde zuerst von Kaufleuten gegründet, / und wisset, daß die Ritterschaft die Kaufleute schützen soll . . ."273, weil diese den notwendigen Luxus garantieren.

Fortunatus Daß sich bürgerliches Selbstbewußtsein dort besonders stark herausgebildet hatte, wo die Gesellschaftsverhältnisse am weitesten in Richtung Handelskapitalismus revolutioniert waren, in Italien also, ist naheliegend, und zwar hatte es sich sowohl in Abgrenzung vom ritterlichen Adel und seiner Ideologie als auch (besonders da, wo der Adel selbst Träger des Handelskapitalismus war) in Adaption ritterlich-höfischen Denkens bzw. in der Konservierung oder Imitation adliger Lebensformen entwickelt. Es war ein in sich widersprüchliches Gemisch von Ideologemen, wie es bei Machiavelli anzu98

treffen ist und in den anarchischen Verhältnissen Italiens seine Erklärung findet. Wenn wir hier nicht so ausführlich auf die italienische Entwicklung eingehen, dann deshalb, weil sie zur Herausbildung der modernen bürgerlichen Weltanschauung(en) weniger beigetragen und damit auch auf die Herausbildung der modernen bürgerlichen Abenteuer-Ideologie weniger eingewirkt hat, als die Geistesgeschichte bislang glauben machte. Ihr Beitrag ist weitgehend indirekter Natur. Um Mißverständnisse zu vermeiden: selbstverständlich kann man den Beitrag Italiens, der italienischen Renaissance seit Dante für die Herausbildung der modernen europäischen Philosophie, Literatur, Kunst gar nicht hoch genug veranschlagen, aber dieser Beitrag verliert spätestens gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts seine Vorrangstellung. Dies ist ein Prozeß, der bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit der Herausbildung der absolutistisch-bürgerlichen Nationalkulturen bzw. -literaturen in England und Frankreich, aber auch mit der (später unterbrochenen) Entwicklung in Deutschland sowie in Portugal und Spanien einsetzt. Die Gründe dafür liegen nicht in der Philosophie, in der Kunst, in der Literatur. Die Bewegung des Überbaus, seine Entwicklung ist abhängig von der Entwicklung des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse und d. h. von der Entwicklung des Menschen, und diese ist in „letzter" (bzw. erster) „Instanz" bestimmt von der ökonomischen Entwicklung, von der Entwicklung der Produktivkräfte und der durch diese veränderten bzw. revolutionierten Produktions- bzw. Gesellschaftsverhältnisse. Spätestens aber seit der Entdeckung der Neuen Welt und des europäisch-ostindischen Handelsweges um das Kap der Guten Hoffnung Ende des 15. Jahrhunderts verlagert sich das Zentrum der kapitalistischen Produktionsweise von Italien und dem Mittelmeerraum nach Portugal, Spanien, England, den Niederlanden und Frankreich (auch die Entwicklung in Deutschland wird von diesem geschichtlichen Ereignis entscheidend tangiert). Das heißt, daß in den bisher (gemessen an Italien) eher rückständigen Regionen die Entwicklung der Produktivkräfte oberhalb der italienischen Produktionsverhältnisse fortgesetzt wurde, oder mit anderen Worten, daß in ihnen und nicht in Italien die Grundlagen des modernen Kapitalismus geschaffen wurden (und zwar nach dem Niedergang Portugals und Spaniens in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor allem in England, den Niederlanden und 7*

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in Frankreich). Die Entwicklung der Produktivkräfte und die von ihr bedingte Umwälzung der Produktionsverhältnisse in diesen Ländern erforderte Normen und Methoden der geistigen Auseinandersetzung, der Erkenntnis, der Orientierung, die sich in Italien auf Grund der fehlenden entsprechenden materiellen Entwicklung und damit auch der fehlenden Notwendigkeit, sich mit ihr geistig auseinanderzusetzen, gar nicht oder nur in Ansätzen hatten herausbilden können. Das Verhältnis der revolutionären Klasse, des Bürgertums in den Ländern, in denen sich der moderne Kapitalismus durchsetzte, war daher gegenüber Italien und seiner Kultur ein (ausgesprochen dynamisches) Erbeverhältnis. Das heißt: die ökonomische und politische Entwicklung Italiens bis hin zum 16. Jahrhundert war gegenüber allen anderen europäischen Ländern höher, weiter in Richtung Kapitalismus und Sprengung der feudalen Fesseln getrieben und hatte deshalb einen entsprechenden fortschrittlichen Überbau produziert. In dem Augenblick jedoch, da diese Entwicklung nicht nur durch die andren Länder überholt wird, sondern auch zu stagnieren beginnt, können diese andren Länder in ein kulturelles, ideologisches, politisches Erbeverhältnis zu Italien (und d. h. zur italienischen Renaissance) treten. Selbstverständlich kommt die geistige Entwicklung Italiens (ebenso wie auch die ökonomische) nicht unmittelbar und abrupt zum Stillstand, aber seit Ende des 17. Jahrhunderts ist Italien sowohl eine ökonomisch-politische als auch eine geistige Provinz Europas geworden. Italiens Beitrag zur Herausbildung der modernen bürgerlichen Weltanschauung seit der Mitte bzw. dem Ende des 17. Jahrhunderts ist relativ unbedeutend (grundsätzlich wird sich dies erst im 20. Jahrhundert etwas ändern); sein wichtiger Anteil liegt in der Renaissance, deren Errungenschaften durch die Bourgeoisie in den entwickelten kapitalistischen Staaten in die Neuzeit tradiert werden, bevor die Arbeiterklasse beginnt, sie sich anzueignen und aufzuheben. Den Beginn dieser (weltgeschichtlichen) Verlagerung des Schwerpunktes in der ökonomischen und geistigen Entwicklung Europas vom Mittelmeerraum in den Westen und Nordwesten Europas widerspiegelt u. a. ein kleiner Roman, dem von der Forschung zwar gerade in letzter Zeit größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dessen Bedeutung jedoch insgesamt m. E. nicht richtig gewürdigt worden ist. Es ist der 1509 in Augsburg veröffentlichte und ohne Zweifel unmittelbar zuvor verfaßte 274 * anonyme For100

tunatus, dessen Titel bereits das veränderte Bewußtsein des modernen europäischen Bürgertums im Vergleich zum (handels-)bürgerlichen Denken der italienischen Renaissance zum Ausdruck bringt. Um die Dimensionen dieses Bewußtseinswandels zu erhellen, soll Leon Battista Albertis Traktat Deila Tamiglia (Über das Hauswesen, 1434) exemplarisch herangezogen werden. Albertis Schrift ist ganz vom Eifer durchdrungen, die gesellschaftliche und moralische Bedeutung seiner Familie unter Beweis zu stellen. Diese Familie verfügt seiner Darstellung nach über alle vorstellbaren Qualitäten und Tugenden, ist anständig, fleißig, sozialgesonnen, staatsbewußt (usw.). Das Bürger-Ideal, das Albprti in Deila Famiglia entwirft, ist das exakte Pendant zu Machiavellis Ideal vom Fürsten: ritterliche Tugenden (Bejahung physischer Kampfvorbereitung in der Kindes- und Jugenderziehung mittels Bogenschießen, Reiten usw.) verbinden sich mit nicht-ritterlichen Idealen (Sparsamkeit, ausdauernder Fleiß, Buchführung usw.). Kennzeichnend für diese ambivalente Haltung gegenüber den grundsätzlich klassenantagonistischen Sphären gesellschaftlicher Tugendideale sind die Auslassungen Gianozzo Albertis, der im Dialog die Frage, ob alle Albertis von Abkunft Ritter gewesen seien (oder nur ihrer Verdienste wegen so genannt wurden), mit einer genealogischen Aufzählung beantwortet: ja, alle Albertis waren ursprünglich Ritter: „Aber lassen wir diese Stammbaumforschungen, die mit unserem Gegenstand, dem Haushalten, nichts zu tun haben. . ,"275 Ergänzt wird die Mühe Albertis, den Wert und die Bedeutung seiner Familie unter Beweis zu stellen, von der Furcht, sie könne diese ihre Bedeutung wieder verlieren, könne aus der Geschichte verschwinden wie schon so viele berühmte Geschlechter vor ihr. Schuld daran hätte dann, so Alberti, allein das schlechte Glück, das Schicksal, der Zufall — kurz: die launenhafte Fortuna. Im Begriff der Fortuna konzentriert sich in der Tat das Selbstverständnis des (Handels-)Bürgers der italienischen Reanaissance gegenüber der diesseitigen und jenseitigen Welt insgesamt, gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, den geschichtlichen Klassenantagonismen in Italien im besonderen.276 Aus der Sicht des (Handels-)Bürgers der italienischen Renaissance ist der Mensch (d. h. er selbst, der Bürger) dem Willen der blinden Fortuna, der planetarischen Konstellation, dem Zufall (der unstabilen Verhältnisse), dem Willen Gottes (bzw. dem des jeweiligen Fürsten) unterworfen. 277 * Der Bürger steht der Fortuna noch grundsätzlich leidend gegen101

über (das heißt: er beherrscht die Gesellschaft noch nicht vollständig). Wie Alfred Doren mit Recht schreibt, ist Albertis Deila Famiglia ein „Versuch, sich selbst und andere gegen jene verführerischen Dämonen zu schützen, die immer wieder auf die gefährlichen Wege der Frau Welt, des Unberechenbaren, des Abenteuers lockten und zu diesem Zweck gleichsam, literarisch wenigstens, das gefährdete Ich in einen gegen Zugwinde aller Art gesicherten, von enger Stubenluft erfüllten geschlossenen Raum zu bannen, der von dem lebendig handelnden Menschen immer wieder gesprengt worden ist."278 Zwar ist damit nicht der ganze Alberti erfaßt, denn er gibt in Deila Famigfia auch Gebrauchsanweisungen zur Niederzwingung der Fortuna (woraus man freilich auch seine Angst vor ihr ablesen kann), und äußert sich in anderen Schriften noch aggressiv-abfälliger über sie (er spricht sogar von ihrer Schwäche, träte man ihr nur entschieden gegenüber 27 »). Zweifellos läßt sich auch in andren Dokumenten jener Zeit eine entschlossenere, wagemutigere Haltung gegenüber der Fortuna nachweisen,280 derzufolge der „neue Unternehmer zugleich Welteroberer und sorgsam wachender, vorsichtig wägender Familienvater" ist, „vertrauend auf die Gunst der Fortuna, die sein Segel bläht, während er selbst, die Hand fest am Steuer, als virtuoso des Lebens das Schifflein seines Geschicks und seiner geschäftlichen Unternehmungen durch stürmische Wellen lenkt." 28 ! Aber diese — erst ansatzweise vorhandene — Neuorientierung kommt, weltgeschichtlich gesehen, zu spät. Nicht das italienische, das Bürgertum andrer Länder wird die Welt erobern und damit Fortuna unterwerfen, ein Prozeß, den der anonyme Verfasser des Fortunatus mit den Mitteln eines (für seine Interpreten des 19. und 20. Jahrhunderts: naiven) Märchens darstellt. Wie bereits erwähnt, findet das gewandelte Bewußtsein des im europäischen Großhandel tätigen Bürgertums, sein Bewußtsein, dem niederen Adel, dem Ritter definitiv überlegen zu sein, nahezu von gleich zu gleich mit den Vertretern des Großadels zu verkehren, ja sogar den König wenn nicht zu beherrschen, so doch zu manipulieren, schon im Namen des Protagonisten bzw. im Titel des Romans seinen Ausdruck: Fortunatus, der von Fortuna Erkorene. Dabei spielt Fortuna in (allegorischer) Person nur eine relativ bescheidene Rolle im Roman. Sie zeigt sich einmal kurz dem aktiven, wagemutigen Mann, der ihre Gunst verdient, denn sie braucht sich dem Bürger(tum) nur einmal zu offenbaren und zu schenken, 102

dann ist ihr Erscheinen (im Roman bzw. in der Geschichte der Klassenkämpfe) nicht mehr nötig. Der Bürger hat sie in der Hand, beherrscht sie in seiner Aktivität, weiß, wie er sie ununterbrochen neu „verwerten" kann: sie ist präsent in allen seinen Handlungen, und wo sie ihm entgleitet, da liegt dies nicht an irgendeinem obskuren, undurchschaubaren Fehler der blinden Fortuna, sondern an nachweisbaren praktischen Fehlern des Bürgers bzw. des Bürgertums. Doch gehen wir systematisch vor: Fortunatus, Sohn bürgerlicher, ehemals wohlhabender Eltern, die ihr Vermögen durch den Leichtsinn des Vaters, der auf ritterlich-zu-großem Fuß leben wollte, verloren haben, sieht für sich in seiner Heimatstadt Famagusta auf Cypern keine Zukunft. Er bricht auf in die Ferne, kommt nach mehreren Abenteuern nach London, wird des Landes verwiesen, gelangt nach Frankreich, verirrt sich in der Bretagne in einem tiefen Wald, begegnet dort der Fortuna, die ihm ein unerschöpfliches „geltseckel" schenkt, durchwandert Europa, läßt sich dann in Famagusta nieder, gründet eine Familie und bricht nach einer Weile, seine Frau und seine beiden Söhne Ampedo und Andolosia zurücklassend, zum zweiten Mal, nun nach Griechenland, Kleinasien, Indien auf. Von dort kehrt er zurück, nachdem er dem König Soldan von Alexandria einen Zauberhut, das „wunschhütlin" gestohlen hat, mit dessen Hilfe man sich an jeden beliebigen Ort wünschen kann. Nach dem Tod des Fortunatus kommt es entgegen seinem letzten Willen, nie „geltseckel" und „wunschhütlin" zu trennen, zum Streit um die Erbschaft zwischen den Brüdern, der dadurch entschieden wird, daß Ampedo mit dem Hut in Famagusta bleibt und Andolosia, der reisen möchte, mit dem „geltseckel" auf Abenteuer zieht. Er verspricht, nach sechs Jahren zurückzukehren und dann die Zauberbörse für den gleichen Zeitraum dem Bruder zu überlassen. Andolosia kommt auf seinen Reisen nach London, wo ihm die Königstochter Agrippina den Beutel entwendet. Andolosia kehrt nach Cypern zurück, bemächtigt sich des Zauberhutes und wünscht sich nach London zurück. Dort verliert er zunächst auch den Zauberhut an Agrippina, gewinnt dann aber mit List und Zauberkunst sowohl den Zauberhut als auch die Zauberbörse zurück und macht sich dann dem König von England so unentbehrlich, daß er die Heirat Agrippinas mit dem „iungen künig von Cipern" selbst vermittelt. Nach der Hochzeit wird er jedoch von zwei Grafen gefangengenommen und ermordet. Aber der Zauber des „seckels" ist an Fortunatus bzw. seine leiblichen Nachkommen

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gebunden. Daher verliert die Zauberbörse ihre Zauberkraft, zumal inzwischen auch Andolosias Bruder vor Gram gestorben war und zuvor noch das „wunschhütlin" vernichtet hatte. Der König läßt die beiden Grafen, die sich verraten haben, henken und bestattet Andolosia feierlich in Famagusta. Wir wollen das Werk, das vom 16. bis hinein ins 18. Jahrhundert zu den meistgelesenen Romanen gehörte282, hier nicht in allen Einzelheiten analysieren, einige Aspekte aber sind für unser Thema von erheblicher Bedeutung. Im Fortunatas, das bestätigt die neuere (auch nichtmarxistische) Forschung eigentlich einstimmig, ist allen menschlichen Gefühlen und Bindungen unter Einschluß des „Familienverhältnisses" der „rührend-sentimentale Schleier abgerissen": sie sind „auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt." 283 Das „Band zwischen Mensch und Mensch" ist nichts „als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'" 284 *, von der sowohl Fortunatus als auch Andolosia sprechen:285 wo kein Besitz ist, da ist „alle liebe auß". 286 In dieser unverhüllten Gleichsetzung von menschlichen Beziehungen und „pargelt"-Verhältnissen im Fortunatus offenbart sich allerdings eine relativ große Hilflosigkeit des anonymen Autors, der die tatsächliche Geld- und Wechselwirtschaft seiner Epoche nicht recht durchschaut und nur ihre zauberhafte Wirkung diagnostiziert. Lediglich an zwei Stellen ist von Wechseln die Rede, einmal in polemischer Weise (ein junger Florentiner Kaufmann betrügt seinen Vater mit den unheimlichen Wechseln)287, und einmal mystifizierend-märchenhaft: Fortunatus ist das „seckel" gestohlen worden, und bei der Suche nach ihm sagt er: „mir ist mer umb den seckel dann umb das gelt, so ich verloren hab. da ist ain klains Wechsel brieflin inn, das doch niemand kains pfennigs wert nützen mag." 288 Auch der „blatz, da die wechssler und kauffer waren" 289 dient nur als Hintergrund für eine erneute Geldschöpfung aus dem unversiegbaren Zaubersäckel. Von hier erklärt sich der Rückgriff des anonymen Verfassers auf das Märchen vom Zaubersäckel, obwohl man gleichzeitig unterstellen muß (die „wunschhütlin"-Thematik legt dies nahe, wie wir sehen werden), daß es ihm auch bewußt um Mystifikation geht, zumal der Verfasser offensichtlich nicht in der Lage ist, die von ihm konstatierte Bedeutung und Wirkung des frühkapitalistischen Monetarismus mit einer adäquaten bürgerlichen Ethik zu bemänteln und zu rechtfertigen. 104

Der Zuhälter als Finanzexperte Betrachten wir zunächst nur den Lebensweg des Fortunatus, so werden wir feststellen, daß die entscheidenden Ereignisse in seinem Leben mit der Schiffahrt zu tun haben und sich in Hafenstädten ereignen 290 *, und zwar von der Geburt in der Hafenstadt Famagusta über London, Venedig, Alexandria bis zurück nach Famagusta, wo er stirbt. Doch die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der unbekannte Verfasser darzustellen versucht, beginnt noch vor der Geburt des Fortunatus. Sein Vater Theodorus ist ein wohlhabender Bürger, der von Grundstückzinsen lebt. Wie seine Vorfahren den Besitz erworben haben, wird nicht gesagt. Theodorus aber, der ein Müßiggängerdasein führt, ahmt den Lebensstil des Adels „mit stechen, turnieren, vil knecht, kostlich roß" nach, was ihn zum Verkauf des Erbes und damit zum Ruin führt. Fortunatus sucht der Misere zu entkommen und begibt sich zum Meer: „do hielt ain galee in dem port, die was der Venediger galee, da die pilgerin gen Jerusalem auf gefaren waren." 291 Welche Bedeutung die Kreuzzüge für die Entwicklung des Handels gehabt haben, wurde bereits erwähnt: der Beginn des (individuellen) Aufstiegs von Fortunatus ist logisch eingebettet in diesen geschichtlichen Entstehungskontext des Fernhandels. Wichtig für uns: kein unbestimmtes Fernweh treibt Fortunatus in die Welt, sondern der Wunsch nach einem besseren Leben: „Ich byn iung, starck vnnd gesund, ich will gan in frembde land vnnd dienen, es ist noch vil glücks in dieser weit, ich hoffen zu got, mir werd sein auch ain tail." 292 Der Weg führt ihn nach London, „da nun von allen orten der weit kaufleüt ligend vnd da iren gewerb tribend". 293 Dort verdingt sich Fortunatus bei einem Florentiner Kaufmann, der ihn sofort einstellt, „das er gut furt in die schiff zuladen vnd wenn schiff kamen, die zu entladen . . ," 294 Als Fortunatus dann auf Grund eines Mordfalls, in den er durch die Verbindung zu einem Geschäftsfreund seines Herrn mittelbar verstrickt ist, aus dem Land gewiesen wird, hat er bereits das Wesentliche gelernt: daß es nicht sosehr auf Besitz, auch nicht auf den Besitz von Geld, sondern auf die Vermehrung dieses Besitzes ankommt. Denn jedesmal, wenn er sich Geld verdient hat, gibt er es aus und ist ruiniert, so daß der Zuhälter der Dirne, mit der Fortunatus sein Geld durchgebracht hat, ihn belehren kann: „wie 105

bist du ain narr, do du nit dann fünffhundert Cronen hettcst, dass du sy nit an andere kauffmannschatz gelegt hast, dann dass du sy der torechten frawen angehenckt hast." 295

Die Zauberbörse der Fortuna Dem anonymen Verfasser des Fortunatas, so können wir resümieren, sind (wenn auch natürlich nicht in dieser Terminologie und in dieser Schärfe) zwei Dinge klar: „Die Bereicherungssucht als solche [ist] ohne Geld unmöglich, alle andre Akkumulation und Akkumulationssucht erscheint naturwüchsig, durch die Bedürfnisse einerseits, die bornierte Natur der Produkte anderseits bedingt.. ."296 An dieser Borniertheit scheitert der Adel, so wie auch Fortunatus Vater in der Imitation des Adels gescheitert war. Das zweite: die ausschließliche „Akkumulation von Gold und Silber, von Geld", versetzt zwar in den Stand, ausgeben zu können, ist „die erste historische Erscheinung des Ansammeins von Kapital und das erste große Mittel desselben",297 aber der so angesammelte Reichtum trägt stets die Tendenz zur Abnahme in sich, wenn er nicht (mindest in dem Maß der Ausgaben) ständig vermehrt wird: „Dazu müßte das Wiedereingehn des Akkumulierten in die Zirkulation selbst als Moment und Mittel des Aufhäufens gesetzt sein." 298 Dies genau ist die Lehre, die der Zuhälter Fortunatus erteilt. Dieser begreift, daß Geld Geld hecken muß, und da er das Produkt seines Verfassers ist, können wir schließen, daß der Verfasser des Fortunatus weiß, daß Geld als Handelskapital Geld heckt. Er weiß sogar, mit welchen Mitteln man beim Kauf und Verkauf von Waren operieren muß, um Höchstgewinne zu erzielen, nur eins scheint er nicht zu wissen oder aber nicht wissen zu wollen, wie man zu dieser Zeit, der Zeit der Abfassung des Fortunatus, mehr Geld als zum Lebensunterhalt nötig verdienen kann, um investieren zu können. Der Umschlag von Geld als Tauschmittel in Geld als Kapital ist dem Verfasser ein Rätsel. Er schickt denn auch Fortunatus in den bretonischen Märchenwald, wo er auf die „iunckfraw des glücks", Fortuna, stößt, die ihm das Zaubersäckel schenkt: „nym hyn den seckel vnd so offt du darein greiffest (in welchem land du ymer bist oder kommest, was dann von guldin in den land lauffig sind), als offt findestu zehen stuck goldes des selben lands werung . . Z'299 106

Vom verrückten Kapitalisten %um rationalen Scbat^bildner Der anonyme Verfasser des Fortunatas hat mit seinem Griff in die Märchenkiste drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: zum ersten enthebt ihn die Zauberbörse der schwierigen Erklärung ökonomischer Zusammenhänge, zum zweiten gestattet er ihm die märchenhafte Rechtfertigung des (bürgerlichen) Reichtums weniger und damit — da ja ein Geschenk des Zufalls, nämlich der Fortuna — der Armut vieler. Der Reichtum des Bürgers Fortunatus ist märchenhaft erklärt: erzieht mit einem Berater namens Lüpoldus und einem Troß Diener kreuz und quer durch Europa, wobei er vor allem Handels- und Hafenstädte aufsucht. Wenn wir uns fragen, welche Bürger denn in jener Zeit tatsächlich in dieser Art und mit dieser Begleitung durch Europa ziehen, so werden wir feststellen, daß die Kaufleute dies taten und Fortunatus also den mittelalterlichen Kaufmann repräsentiert, der noch in eigener Person Risiken auf sich nahm und Abenteuer bestand.300* Der allgemeinen Entwicklung des (kontinentalen) aufsteigenden Bürgertums im frühen Mittelalter entsprechend, sieht Fortunatus in der sozialen Gleichstellung mit dem Großadel das erstrebenswerte Ziel. Während sein Vater noch im Konkurrenzkampf mit dem Klein- bzw. Ritteradel seinen Besitz verschleuderte, setzt Fortunatus sein (unerschöpfliches) Vermögen ein zum Bau von geistlichen und weltlichen Prunkbauten in seiner Heimatstadt Famagusta, in die er zurückgekehrt ist.301* Er beschließt zu heiraten, und auch hier zeigt sich der historische Sinn des anonymen Verfassers: das aufsteigende Bürgertum ist von größter Wichtigkeit für den Landesfürsten bzw. den König, der ihm Privilegien verleiht, die denen des Adels in nichts nachstehen, oder der es in den Adelsstand hebt. Der König von Cypern besteht darauf, daß Fortunatus in den Adel einheiratet und vermittelt die Heirat mit Cassandra, der Tochter eines verarmten Grafen. Die Heirat stößt auf erhebliche Vorbehalte in der gräflichen Familie, die dem modernen Reichtumsmerkmal Geld302 mißtrauisch gegenübersteht. Dabei kommt durchaus die ökonomische Vernunft (der Vergangenheit) zu Worte: „er hat weder land noch leüt," sagt der Graf zum König von Cypern, „hatt er dann vil bar gelt gehebt oder noch, so sieht ir wol, er hat vil gelts verpauen, das keinen nutzen tregt, so mag er das auch onwerden (verlieren — M. N.) vnd zu armüt kommen, wie sein vater zu armüt kommen ist, wann (denn — M. N.) 107

es ist bald geschehen, das grosse barschafft bald verthon wirt." 303 Das ist im Prinzip richtig, nur ist das Mittel dagegen, das vor allem die Gräfin, die Schwiegermutter fordert, 304 nicht sehr probat: Fortunatus soll „land und leüt" kaufen, d. h . : er soll Feudalherr werden. In Wirklichkeit aber sind „land und leüt" z. T. (je nach regionalem Entwicklungsstand) zum Stein am Hals des Adels geworden, der den Adel im Kokurrenzkampf mit dem Bürgertum nach unten zieht. Der Beweis — abgesehen von der Armut der gräflichen Schwiegermutter selbst —: Fortunatus kauft den Besitz des Grafen von Ligorno auf, denn der „hat not vnd muß bar gelt haben . . Z'305 Es ist daher keineswegs „höchst unlogisch" wie Dieter Kartschoke meint, 306 wenn Fortunatus sein Geld „arbeiten" läßt, d. h. im Warenhandel investiert, obwohl er doch ein unerschöpfliches Zaubersäckel besitzt, sondern umgekehrt könnte als „unlogisch" bezeichnet werden, daß der anonyme Autor sich trotz seiner genauen Beobachtungen und Kenntnisse der Hilfskonstruktion eines Märchens bedient. Allerdings ermöglicht sie es ihm, das Bürgertum (Fortunatus) nicht nur in die (lehrreiche) Sackgasse hinein-, sondern auch wieder aus ihr herauszuführen. Die Sackgasse ist die des Aufgehens des Bürgertums im Adel und in der Funktion des feudalen Großgrundbesitzers. Die diesem Aufgehen innewohnende Stagnation des Bürgertums ist nur dann überwindbar, wenn das Bürgertum (Fortunatus) die Fesseln der Adelsimitation sprengt. Das wiederum ist nur möglich, wenn das Bürgertum (Fortunatus) wieder Handel treibt, aktiv wird. Da Fortunatus ein Zaubersäckel hat und ihn die Adelsimitation (im Gegensatz zu seinem Vater) daher nicht ruinieren kann, besitzt er das nötige Kapital, um erneut in den Handel zu investieren und damit aus dem „Schatzbildner" Fortunatus, „dem verrückten Kapitalisten", zum modernen Kapitalisten, dem „rationalen Schatzbildner" zu werden: „Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt. . Z'307 Fortunatus, dem auch „kurtzweil" und „spatziernreiten" nicht über die Langeweile hinweghelfen, verläßt daher zum zweiten Mal Famagusta, und zwar diesmal mit dem ganzen Erfahrungsreichtum, den er (das Bürgertum) gesammelt hat: „ich hab das halb tayl der weit besehen," sagt er und meint Europa, „so will ich das

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ander tayl auch besehen . . Z'308 Er bricht auf nach Indien. Aber er reist nicht mehr wie vordem als Einzelabenteurer mit einem Troß, er reist — als Merchant Adventurer, der das Abenteuer finanziert und von anderen praktizieren läßt: 309 * „Fortunatus lyeß ym [sich] gar eylenntz ayn gute galee machen vonn allem vortayl. die weil man die gallee machet, bestalt er och kaufleüt vnd sant die nach kaufmanschatz mit alleraly war zukauffen, so er dann wol wißt in die haidenschaft dienen." 310 Nach außen hin fährt Fortunatus in der Tat bereits als Tourist, denn die Geschäfte besorgen seine Angestellten. In Alexandria angekommen, schickt er sein Schiff unter dem Kommando eines Schiffsführers (patron) auf Handelsfahrt: „. . . vnnd machet Fortunatus ainen andern patron an sein statt, befalch dem, das er mit der gallee mit sampt den andern kaufleüten vnnd allem gütt in dem namen gots hynfure gen Cathelonia, Portugall, Hyspania, Engeland, in Flandern, vnd von einem land füren zu dem andern vnd ire gewinn merten . . ." 311 Fortunatus reist allein weiter nach Indien und befiehlt dem „patron", ihn in zwei Jahren wieder in Alexandria abzuholen. Zwei Jahre später, bei der Rückkehr von Fortunatus aus Indien, läuft das Schiff denn auch in Alexandria ein: „Vnnd wiewol Fortunatus nit bey yn was gewesen, noch hetten sy so wol gewunnen vnd brachten die galleen so wol geladen mit so gütter vnnd kostlicher kauffmanschatz, das sy dreymal besser was, dann do sy Fortunatus von ym [sich] hett gesant. . ,312

Die Ubiquität des Kapitalisten Außer Profit aus dem Abenteuer-Handel bringt Fortunatus noch etwas anderes von der Reise nach Indien zurück: den Zauberhut, den er dem König Soldan von Alexandria stiehlt. Wer ihn aufsetzt und sich irgendwohin wünscht, findet sich sogleich an dem gewünschten Ort wieder. Während die Interpreten des Fortunatus viel über das Zaubersäckel nachgedacht haben, blieb der Zauberhut so gut wie unbeachtet, obwohl das eine (Märchen-) Motiv in Zusammenhang mit dem anderen steht und das eine nicht vom anderen getrennt werden darf. Die Reise, die Fortunatus nach Indien führt, sieht ihn zwar vordergründig als interessierten Privatreisenden, in Wahrheit aber erkundet er Handelsmöglichkeiten 109

und Warenangebot (er bringt Warenproben mit zurück) 313 : der Handelsweg nach Indien führt über Alexandria, und dort besorgen die Türken den Zwischenhandel und verteuern den Einfuhrpreis der Waren aus Indien, d. h. sie schmälern den Profit der Importeure in Europa. 314 Ihre europäischen Handelspartner sind Venedig, Genua, Florenz und Katalonien, die deswegen auch nicht sehr erbaut über die unerwartete Konkurrenz aus Famagusta sind. 315 Nachdem Fortunatus mit dem Zauberhut des Soldan von Alexandria nach Famagusta zurückgekehrt ist, schickt Soldan einen Unterhändler zu Fortunatus, der ihn bittet, das „wunschhutlin" wieder zurückzugeben. Dieser Unterhändler ist bezeichnenderweise ein venezianischer Kaufmann. Die Erklärung dieser Episode scheint mir ebenso wichtig wie einfach und einleuchtend zu sein: 1498, sechs Jahre nach der Entdeckung Amerikas, entdecken die Portugiesen den Seehandelsweg nach Indien über das Kap der Guten Hoffnung. Welche Bedeutung dies für die europäische Handelsschiffahrt gehabt hat, kann heute nur noch schlecht ermessen werden. 316 Für Alexandria aber bedeutet die Eröffnung des Seehandelsweges um das Kap der Guten Hoffnung einen nahezu blitzartigen Untergang, und auch Venedigs Handel wird dadurch (wie durch die Entdeckung Amerikas) empfindlich getroffen. Diese Entdeckungen sind aber nicht mehr rückgängig zu machen: Fortunatus kann daher das „wunschhfitlin", das die Möglichkeit des europäischen Handelsschiffers symbolisiert, von nun an an jedem beliebigen Ort der Welt Handel treiben (aus seinem Zaubersäckel schöpfen) zu können, gar nicht zurückgeben. Deshalb antwortet er auch gelassen: „ . . . Fortunatus . . . fragt nit darnach, ob er den künig soldan ertzürnet het, so er doch nit mer in sein land wolt" 3 1 7 , weil der Weg um das Kap der Guten Hoffnung jetzt offen steht. Nur so erklärt sich die Situation beim Tod des Fortunatus: er reist nicht mehr (in Person), obwohl er doch gerade zuvor den Zauberhut gestohlen hat, sondern er residiert am Ort, ist unermeßlich reich und kann überall hingelangen, wo er hingelangen möchte (ohne sich zu bewegen!). Das kapitalistische Handelsprinzip hat sich weltweit durchgesetzt.

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Neue Dimensionen des Klassenkampfes Umwandlung des Geldes in Kapital (Zaubersäckel) und Eroberung der ganzen Welt als Handelsschauplatz (Zauberhut) sind die beiden Säulen bürgerlichen Wohlstandes und bürgerlicher Macht. W o das eine zugunsten des anderen vernachlässigt wird (sofern dies überhaupt möglich ist), da muß der Reichtum versiegen. Daher befiehlt Fortunatus seinen Söhnen, nach seinem T o d Säckel und Hut stets gemeinsam aufzubewahren, ein Befehl, dem sie nicht Folge leisten. Daran gehen sie zugrunde. Während Ampedo das Geld, das er vor Andolosias Abreise vorsorglich aus dem Säckel schöpfte, nicht „arbeiten" läßt, obwohl er die Handelsmöglichkeiten (Zauberhut) besitzt, reist Andolosia durch die Welt, imitiert den Hochadel, macht ihm Konkurrenz in höfischen Spielen und Amouren und gibt sein Geld nutzlos aus. Dabei hat sich die politische Situation bzw. die Klassenlage verändert. Während der König (von Cypern) in Fortunatus noch das aufsteigende Bürgertum gegen den Adel ausspielt und zur Abstützung seiner Macht braucht und fördert, empfindet der König (von England) nun (nach dem Ruin des Kleinadels) das Bürgertum (Andolosia) als unmittelbaren Klassengegner und Konkurrenten (auch wenn er es weiterhin benötigt, aber das muß er erst lernen: in Spanien wurde es nicht begriffen). In der Gestalt seiner Tochter Agrippina bemächtigt sich der König von England erst des Zaubersäckels und dann des Zauberhutes. Doch da er mit dem Zauberhut nichts anfangen kann (Agrippina wirft den entwendeten Zauberhut achtlos unters Bett, wo ihn Andolosia wiederfindet 3 ! 8 ), weil der absolutistische König selbstverständlich nicht „abenteuern" kann wie ein Händler, 319 * gelingt es Andolosia in zähem Kampf mit Agrippina (der Monarchie) beides zurückzuerobern und den König von seiner Unentbehrlichkeit und Nützlichkeit zu überzeugen. Er rettet den König bzw. die Monarchie (indem er Agrippina rettet und damit die Nachfolge sichert) und wird zum Berater und Produzenten des Wohlstandes: das handelskapitalistische Bürgertum übertrumpft alle anderen Klassen, was den Neid dieser anderen wecken muß. Nach der von Andolosia empfohlenen Hochzeit Agrippinas mit dem König von Cypern findet ein großes Tunier statt: „vnd auff ainen tag stach der künig vnd die hertzogen, des andern tags die graffen, freyen vnd ritter, den dritten tag die edlen vnnd der fursten vnd herren knecht vnd diener . . . N u n vnder

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dem gestech so stach Andolosia auch vnnd wenn die graffen, freyen vnnd ritter stachen, kam er allweg kostlicher vnd baß [besser] gerüst auff den plan dann der anderen kainer, on allain den künig macht er sich nicht geleich vnd thet allweg das best in allen ritterlichen spylen, die man trib, vnnd gewan offt den breüß (Preis - M . N.) . . ."320 Der eigentliche Sieger ist Andolosia (das Bürgertum). Über ihm steht nur noch der König (allenfalls noch „die hertzogen"). Der ständischen Ordnung („von eeren") wegen, d. h. aus politischen Gründen wird der Preis aber dem Grafen Theodoro von England gegeben, dem (kleinen) Hochadel, der eigentlich vom Bürgertum bereits besiegt ist, so daß der Preis „von billichait" Andolosia zustünde. Der (kleine und verarmte) Hochadel ist aus naheliegenden Gründen über Andolosias Reichtum und seine politischen Erfolge (als Berater und Finanzier des Königs) erbost, raubt Andolosia das „geltseckel" und ermordet ihn, wodurch aber das „geltseckel" seine Wirkung verliert (denn der Hochadel versteht nicht Handel zu treiben). Der König richtet die Mörder Andolosias, rächt damit das Bürgertum bzw. verweist den Hochadel in seine Schranken, ergreift Partei für das Bürgertum gegen den Adel und besiegelt damit eine weltgeschichtliche Allianz: 321 * „ E s ist die Epoche, die mit der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts anhebt. Das Königtum," schreibt Engels, „sich stützend auf die Städtebürger, brach die Macht des Feudaladels und begründete die großen, wesentlich auf Nationalität basierten Monarchien, in denen die modernen europäischen Nationen und die moderne bürgerliche Gesellschaft zur Entwicklung kamen; und während noch Bürger und Adel sich in den Haaren lagen, wies der deutsche Bauernkrieg prophetisch hin auf zukünftige Klassenkämpfe, indem er nicht nur die empörten Bauern auf die Bühne führte . . ., sondern hinter ihnen die Anfänge des jetzigen Proletariats, die rote Fahne in der Hand und die Forderung der Gütergemeinschaft auf den Lippen." 3 2 2

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Die Zeit, die Riesen zeugte

Der genossenschaftliche Abenteurer In Ergänzung und Nachtrag zum HI- Buche des „Kapital" schreibt Engels: „Der Kaufmann war das revolutionäre Element in dieser Gesellschaft, wo alles sonst stabil war, stabil sozusagen durch Erblichkeit." 323 Gemeint ist hier die feudale Gesellschaft des Mittelalters, gedacht ist nicht an ein politisch-revolutionäres Bewußtsein des Kaufmanns, sondern an seine gesellschaftliche Aktivität: „In diese Welt trat nun der Kaufmann, von dem ihre Umwälzung ausgehen sollte. Aber nicht als bewußter Revolutionär; im Gegenteil, als Fleisch von ihrem Fleisch, als Bein von ihrem Bein. Der Kaufmann des Mittelalters war durchaus kein Individualist, er war wesentlich Genossenschaftler, wie alle seine Zeitgenossen."324 Das, was Engels über den Kaufmann im Mittelalter ganz allgemein ausführt, gilt von den merchant adventurers im besonderen, so paradox dies auch zunächst klingen mag, verbindet sich doch (auf Grund der ideologischen Vorarbeit der bürgerlichen Ideologen) für uns der Begriff des Abenteurers geradezu mit dem des Individualisten und keinesfalls mit dem des korporationsmäßig bzw. genossenschaftlich Organisierten. Dennoch läßt sich gerade auch aus der Notwendigkeit zum genossenschaftlichen Zusammenschluß der adventurers ihr Recht auf diese Selbstbenennung ableiten. Auf die Unsicherheit der Verkehrswege, die Risiken des Warentransportes zu Wasser und zu Lande wurde bereits hingewiesen. Dazu kam, daß es kein internationales Handelsrecht gab, der Kaufmann also am jeweiligen in- oder ausländischen Handelsort der jeweiligen (fürstlichen oder stadtbürgerlichen) Willkür ausgesetzt war, was, wie ausgeführt, einerseits zu gildenförmigen Handelsorganisationen führte, andererseits innerhalb dieser Handelsorganisationen ein von anderen, konkurrierenden Handelsorganisationen (Gilden, Hansen) unterschiedenes bzw. diesen ent8

Neriich, Kritik

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gegengesetztes gemeinsames Eintreten für gemeinsame Interessen voraussetzte. Das galt besonders an ausländischen Handelsorten, wo die Kaufleute im übrigen bemüht waren, genossenschaftliche Niederlassungen für ihre Organisation („nation") zu gründen: „Auch an diesen Marktorten war also gemeinsame Beratung und einträchtiges Auftreten für die Fremdkaufleute notwendig", schreibt Simon van Brakel. „Der Umgang mit ihren Landsleuten, welcher von den Kaufleuten um so stärker gepflegt werden mußte, da der weit geringere internationale Verkehr die nationalen Verschiedenheiten auch stärker hervortreten ließ, und der Umstand, daß auch die Privilegien aus ökonomischen und politischen Gründen meist den Angehörigen eines bestimmten Reiches verliehen wurden, führten dazu, daß diese Verbindungen nicht nur die Angehörigen einzelner Städte, sondern ganzer Nationen umfaßten. Zu demselben Ergebnis mußte das dem ganzen Mittelalter eigene Bestreben führen, auch im Auslande bei Streitigkeiten das Urteil von den Landsleuten der Beteiligten und ihrem heimischen Rechte gemäß fällen zu lassen. Diese Gewohnheit. . . brachte die Notwendigkeit mit sich, einige der Ältesten der 'Nation' als Richter zu bestellen, die denn auch mit der Vertretung der gemeinschaftlichen Interessen den Behörden gegenüber, mit der Aufsicht über die Häuser und Kapellen der Nation und der Einsammlung der von den Landsleuten zu zahlenden Beträge beauftragt wurden." 3 2 5 Den wesentlichen Kern dieser Organisationen legt Engels bloß: „Der Mittelpunkt der ganzen Organisation war die gleiche Beteiligung jedes Genossen an den der Gesamtheit gesicherten Vorrechten und Nutzungen . . . dasselbe gilt in nicht mindrem Grad von den kaufmännischen Genossenschaften, die den überseeischen Handel ins Leben riefen. Die Venetianer und die Genuesen im Hafen von Alexandria oder Konstantinopel, jede 'Nation' in ihrem eignen Fondaco — Wohnhaus, Wirtshaus, Lagerhaus, Ausstellungsund Verkaufsraum nebst Zentralbüro — bildeten vollständige Handelsgenossenschaften, sie waren abgeschlossen gegen Konkurrenten und Kunden, sie verkauften zu unter sich festgestellten Preisen, ihre Waren hatten bestimmte, durch öffentliche Untersuchung und oft Abstempelung garantierte Qualität, sie beschlossen gemeinsam über die den Eingebornen für ihre Produkte zu zahlenden Preise etc. Nicht anders verfuhren die Hanseaten auf der deutschen Brücke (Tydske Bryggen) zu Bergen in Norwegen und ebenso ihre holländischen und englischen Konkurrenten. Wehe dem, der 114

unter dem Preis verkauft oder über dem Preis eingekauft hätte! Der Boykott, der ihn traf, bedeutete damals den unbedingten Ruin, ungerechnet die direkten Strafen, die die Genossenschaft über die Schuldigen verhängte." 3 2 6 Für die merchant adventurers war es der stint of trade, nach dem sie zu handeln hatten, eine Vorschrift, der zufolge der einzelne adventurer nur eine ganz bestimmte Menge Waren jährlich verkaufen durfte, 327 und bestimmte ordinances untersagten schlechtes Benehmen, Raufhändel, Fluche, Glücksspiel, 328 die Ehen mit Ausländern 329 * usw., vor allem aber verboten sie dem adventurer, einem anderen die Kunden wegzunehmen. 330 Mit anderen Worten: die freie Konkurrenz der merchant adventurers untereinander war zunftmäßig streng untersagt. Die Genossenschaft, bei den adventurers die fellowship, die sich später in sogenannten mysteries (von lat. ministerium) organisierte, hatte Monopolcharakter, der auf Privilegien und genossenschaftlichen Anteilen beruhte und der — wie wir sehen werden — die unentwickelte feudalistische Produktion zur Voraussetzung hatte. „Das Bestreben der Kaufleute," schreibt Engels, ist, „absichtlich und bewußt darauf gerichtet,. . . (die) . . . Profitrate für alle Beteiligten gleichzumachen. Die Venetianer in der Levante, die Hanseaten im Norden zahlten jeder dieselben Preise für seine Waren wie seine Nachbarn, sie kosteten ihm dieselben Transportkosten, er erhielt dafür dieselben Preise und kaufte ebenfalls Rückfracht ein zu denselben Preisen wie jeder andre Kaufmann seiner 'Nation'. Die Profitrate war also für alle gleich. Bei den großen Handelsgesellschaften versteht sich die Verteilung des Gewinns pro rata des eingeschoßnen Kapitalanteils . . . Die gleiche Profitrate, die in ihrer vollen Entwicklung eins der Endergebnisse der kapitalistischen Produktionsweise ist, erweist sich hier also in ihrer einfachsten Form als einer der Punkte, wovon das Kapital historisch ausgegangen, ja sogar als ein direkter Ableger der Marktgenossenschaft, die wieder ein direkter Ableger des Urkommunismus ist. Diese ursprüngliche Profitrate war notwendig sehr hoch. Das Geschäft war sehr riskant, nicht nur wegen des stark grassierenden Seeraubs; auch die konkurrierenden Nationen erlaubten sich manchmal allerlei Gewalttätigkeiten, wenn sich Gelegenheit bot; endlich beruhte der Absatz und die Absatzbedingungen auf Privilegien fremder Fürsten, die oft genug gebrochen und widerrufen würden. Der Gewinn müßte also eine hohe Assekuranzprämie einschließen. Dann war der Umsatz langsam, 115

die Abwicklung der Geschäfte langwierig, und in den besten Zeiten, die allerdings selten von langer Dauer, war das Geschäft ein Monopolhandel mit Monopolprofit. Daß die Profitrate im Durchschnitt sehr hoch war, beweisen auch die damals gültigen sehr hohen Zinsraten, die doch immer im ganzen niedriger sein mußten als der Prozentsatz des üblichen Handelsgewinns." 331 In der von Engels mit Recht betonten Gefährlichkeit des Handels, im äußeren und inneren Risiko des Geschäftes liegt die Berechtigung zum Führen des Titels adventurer, zumal der Kaufmann normalerweise selbst noch an Bord seines Schiffes die Risiken auch physischer Art persönlich auf sich nahm. Denn so wie der noch unentwickelte, mittelalterlich-genossenschaftliche Handel (nicht nur) der adventurer grundsätzlich individuelles Großhändlertum bzw. den großen Handelskapitalisten ausschloß (wobei von einzelnen Ausnahmen ebenso abgesehen sein soll wie von regionalen Unterschieden), so machte die Begrenztheit der jeweiligen Einzelkaufmanns-Aktivität im Rahmen der Genossenschaft, Gilde, Hanse prinzipiell die individuelle Aktivität des Kaufmanns notwendig. Das heißt, wie van Brakel in seiner Untersuchung über die merchant adventurers ausführt: „. . . daß im Mittelalter die Person des Kaufmanns der Träger der Unternehmung und seine persönliche Tüchtigkeit die eigentlich bewegende Kraft des Handels war. Dem Kapital kam nur eine sekundäre Bedeutung zu; es war sozusagen dem Kaufmann angegliedert. . . Ja, auch die Vorstellung, daß eine Person unter Umständen nur als Beauftragter einer Firma, als Organ eines Geschäfts in Betracht kam, mußte dem Mittelalter fremd sein. Denn auch wenn der Kaufmann nicht selber seine Waren begleitete, sondern deren Vertrieb einem Diener oder Faktor anvertraute, mußte dieser den Fremden gegenüber wohl selbstständig auftreten. Die Entfernung und das mangelhafte Postwesen erschwerten ja in hohem Maße den Verkehr mit der Heimat." 332

Zur Demontage des Kaubtier-Mythos Daß der Kapitalist und seine Manager „Unternehmergeist" haben müssen, „Entschlußfreudigkeit", „Wagemut", „Risikobereitschaft" und „Führungsqualitäten", ist eine der Standardweisheiten, mit denen die Apologeten des kapitalistischen Systems noch heute die öffentliche Meinung propagandistisch beeinflussen, wor116

auf später noch einzugehen sein wird. 333 Oft unausgesprochen, öfter aber dreist ausgesprochen, steht dahinter die These, diese Qualitäten besäße nicht jeder und schon gar nicht die Arbeiterklasse (ein Argument, das in der Diskussion über die „Mitbestimmung" immer wieder aufzutauchen pflegt). Dazu müsse man eben geboren sein. Einer der Hauptpropagandisten derartiger Ideologeme, deren Bedeutung angesichts der Tatsache, daß sie inzwischen (auch über die massenhafte Verbreitung imperialistischer Schundliteratur und Schundfilme) kurrente Münze geworden sind, nicht überschätzt werden kann, war Werner Sombart, der u. a. in seinem Buch Der Bourgeois den „Unternehmergeist" aus rassisch-biologischen Eigenschaften abzuleiten vorgab. Wir wollen hier nur einen Aspekt aus der Produktion dieses später ganz zum Faschismus übergewechselten Apologeten des „kapitalistischen Geistes" — dessen Methode der Plünderung und Verfälschung der Marxschen Werke von Lenin genau charakterisiert wurde334* und der sich bereits 1913 einen „Blutsgläubigen" 335 nannte — näher betrachten, der bis auf den heutigen Tag in zahllosen Variationen durch die Schriften der bürgerlichen Ideologen geistert. Sombart teilt u. a. die Welt ein in „Helden-" und „Händlervölker", wobei selbstverständlich in der damaligen Hochblüte deutschen Imperialismus das deutsche Volk unter die „HeldenVölker" (via Germanen und Friesen) subsumiert wird. Da aber dieses „Heldenvolk" auch wacker Handel treibt, muß beides vereint und gerechtfertigt werden: der Heroismus und der Profit. Sombart schafft dies vor allem über die Biologie: der „kapitalistische Geist", den es zu rechtfertigen gilt, entsteht seiner vorgeblichen336* Meinung nach dort, wo Helden (Unternehmer) und Händler (Bürger) sich „kreuzen" (von anderen Umständen abgesehen): „Für die Beantwortung der Fragen nach den Grundlagen des kapitalistischen Geistes genügt die Feststellung: daß es jedenfalls besondere Bourgeoisnaturen (eine Kreuzung von Unternehmer- und Bürgernaturen) gibt; Menschen also, deren Veranlagung sie disponiert, kapitalistischen Geist rascher zu entwickeln als andere, wenn eine äußere Veranlassung auf sie einwirkt; die alsdann die Strebungen des kapitalistischen Unternehmers eher und intensiver zu den ihren machen, die die bürgerlichen Tugenden bereitwilliger annehmen; die die ökonomischen Fähigkeiten leichter und vollständiger sich aneignen als andere, heterogene Naturen." 337 117

Was uns an diesen Theoremen hier interessiert, ist die „heldische" Komponente. Der (Ur-)Held nämlich, der seine Qualitäten in der „vorkapitalistischen" Ära entwickelt, ist ein halb kriegerischer, halb raubtierhafter Freibeuter, Pirat, Räuber. Dabei spielt nach Sombart vor allem der Seeraub eine entscheidende Rolle: „Dem Seeraub als sozialer Einrichtung begegnen wir schon in den i t a l i e n i s c h e n Seestädten während des Mittelalters. Amalfi, Genua, Pisa, Venedig sind alles Herde des organisierten Seeraubs . . . und die ersten Formen der kapitalistischen Unternehmungen sind diese Raubzüge." 338 Was danach, Sombart zufolge, alles noch passierte, soll außer acht gelassen werden (es geht sowieso kunterbunt durch Raum und Zeit). Halten wir nur fest, daß der kriegerisch-raubtierhafte Charakter des Bourgeois (des Kapitalisten) über den Seehandel ausgebildet und vererbt wird: „Verschieden . . . wirkt der Handel, als Tätigkeit geübt, je nachdem er als Seehandel oder als Binnenhandel betrieben wird. Bei jenem waltet lange Zeit noch . . . der abenteuerlich-freubeuterische Zug vor; in ihm also bildet sich der ' w a g e n d e ' Kaufmann aus." 339 Auch hier sollen die Irrationalismen übersprungen werden, mit denen Sombart vorgibt, Geschichtsschreibung zu betreiben; der moderne Kapitalist, der „Überunternehmer", wie Sombart in Anlehnung an Nietzsches „Übermenschen" formuliert, tritt diese (Bluts-)Erbschaft des „'wagenden' Kaufmanns" an: „Großunternehmer sind Männer, die verschiedene der sonst getrennten Unternehmertypen in sich vereinigen: die Freibeuter und gerissener Kalkulator, Feudalherr und Spekulant in einem sind, wie wir es an den amerikanischen Trustmagnaten großen Stils wahrnehmen können." 340 Was uns hier entgegentritt, ist eine wichtige Variante der Apologetik des Kapitalismus über die Abenteuer-Ideologie, und wenn an dieser Stelle kurz auf sie eingegangen sein soll, bevor sie im Kontext des deutschen Imperialismus des 19./20. Jahrhunderts analysiert wird, dann deshalb, weil sie den Seehandel als vom Piratentum, vom Seeraub abgeleitet zu einem ihrer wirksamsten Axiome macht, wobei der Pseudo-Argumentationszusammenhang stets in die gleiche Richtung läuft: Kapitalismus entspringt dem eingeborenen Erwerbs- und Abenteuertrieb („Instinkt", wie Sombart sagt), ist das Privileg weniger und — da natürlich — gleichzeitig die Rechtfertigung der Unterdrückung und Ausbeutung der Masse. Daß dabei in einem Wirrwarr „geistes"-geschichtlicher Daten auch die merchant adventurers bemüht werden, versteht sich nahezu

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von selbst. 341 Es soll daher hier auf einige manipulativ unterstellte Falschaussagen aufmerksam gemacht werden. Wie wir sahen, ist der Begriff der aventure bzw. des Abenteuers im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung von verschiednen gesellschaftlichen Kräften bzw. Klassen zur Bezeichnung unterschiedlicher Dinge und Aktivitäten verwendet worden. Ursprünglich bezeichnet der Begriff *adventura aller Wahrscheinlichkeit nach (bzw. in den ersten juristischen Belegen sogar nachweisbar) einen mehr oder weniger sicheren Vermögenszuwachs, ein Erträgnis, eine Ernte, einen Fang. Über die nicht absolute Sicherheit des Erträgnisses bewegt sich der Begriff in den semantischen Bereich der Bezeichnung von Risiko und findet Verwendung zur Bezeichnung einer Existenz- bzw. Erwerbsform, als die Träger dieser Existenz- bzw. Erwerbsform auf Grund der sich verändernden Klassenkampfsituation einer Ideologisierung ihrer Existenz bzw. Erwerbsform bedürfen. Mit dieser Ideologisierung deutet sich gleichzeitig das Ende der von ihr gemeinten Existenz- und Erwerbsform an: die Verherrlichung der Ritter-Aventure dient vor allem der Stabilisierung einer sozialen Situation, konkret: der Sicherung der privilegierten Stellung des Kleinadels im Rahmen der sich herausbildenden Fürstenbzw. Königshöfe. Das Aventure-Denken dient also geradezu dem Gegenteil von Aventure-ExiStenz, nämlich der Abwehr von sozialen Risiken, der Sicherung der gesellschaftlichen Privilegien und der Unterdrückung bzw. Bekämpfung der aufsteigenden revolutionären Klasse, des Bürgertums. Einen ähnlichen dialektischen Prozeß der Herausbildung und Verwendung von Abenteuer-Ideologie werden wir auch auf Seiten des Bürgertums zu analysieren haben: von ihrer Funktion als emanzipatorische Ideologie des aufsteigenden Bürgertums innerhalb des feudalistischen Systems zunächst unbewußt, dann bewußt gegen das feudalistische System gerichtet (wovon die Selbstbenennung als aventurier, adventurer, Abenteurer lediglich eine erste Vorform darstellt) bis hin zur Verwendung als Ausbeutungs- und Unterdrückerideologie, wobei sich der dialektische Charakter auch in anderer Hinsicht niederschlägt. Ist die bürgerliche AbenteuerIdeologie als menschheitsbefreiende gegen den Adel gerichtet, als ausbeuterische gegen das Proletariat bzw. gegen das unruhige Kleinbürgertum, so ist in ihr von a l l e m A n f a n g an stets die Dialektik von Ausdehnung, Machterweiterung, Profitvergrößerung und Sicherheit enthalten. In welcher Weise diese Dialektik

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zur Geltung kommt bzw. wirksam wird, ist abhängig vom realen geschichtlichen Prozeß, von der Entwicklung des Klassenkampfes. So wie im Fall des Rittertums benutzt der (Handels-)Bürger den (dem Klassengegner entwendeten, ideologischen) Abenteuer-Begriff zur Bezeichnung einer bereits lange praktizierten Existenzbzw. Erwerbsform, deren Entstehungsursachen in den Produktionsverhältnissen liegen und nicht in der geistigen oder biologischgeistigen Einstellung zur Welt. Der (Handels-)Bürger nennt sein Unternehmen adventure, weil es gefährlich ist, und nicht weil er die Gefahr sucht. Im Gegenteil: von A n f a n g an trachtet er danach, die Risiken seiner Existenz- bzw. Erwerbsform zu reduzieren, was sich u. a. in der Gilden- bzw. Hansenbildung niederschlägt. 342 * Keineswegs aber sucht er das Risiko des Risikos wegen, oder weil er ein geborener Abenteurer, ein Raubtier, ein Gewaltmensch ist. Die Spekulationen über eine Geburt des Kapitalismus aus Abenteurer- bzw. Räubergeist, die sich allerdings aus der Ideologisierung der kapitalistischen Erscheinungsformen herleitet, sind völlig unhaltbar. Im Grunde hat Engels dazu bereits alles Nötige in seiner Widerlegung von Eugen Dühring gesagt, der die modernen (kapitalistischen) Eigentumsverhältnisse ähnlich wie Sombart als „Gewalteigentum" zu definieren suchte, d. h. durch die Behauptung, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse beruhten auf durch Gewalt (Raub usw.) in Besitz genommenem Eigentum, das „diejenige Herrschaftsform" sei, „welche nicht etwa bloß eine Ausschließung des Nebenmenschen von dem Gebrauch der Naturmittel zur Existenz, sondern auch, was noch weit mehr bedeutet, die Unterjochung des Menschen zum Knechtsdienst z u g r u n d e l i e g e n hat" 3 4 3 . Mit Recht sagt Engels, Dühring stelle „das ganze Verhältnis auf den Kopf. Die Unterjochung des Menschen zum Knechtsdienst, in allen ihren Formen, setzt beim Unterjocher die Verfügung voraus über die Arbeitsmittel, vermittelst deren allein er den Geknechteten verwenden, und bei der Sklaverei außerdem noch die Verfügung über die Lebensmittel, womit allein er den Sklaven am Leben erhalten kann. In allen Fällen also schon einen gewissen, den Durchschnitt überschreitenden Vermögensbesitz. Wie ist dieser entstanden? Jedenfalls ist es klar, daß er zwar geraubt sein, also auf G e w a l t beruhn kann, aber daß dies keineswegs nötig ist. Er kann erarbeitet... sein. Er muß sogar erarbeitet sein, ehe er überhaupt geraubt werden kann. Das Privateigentum tritt überhaupt in der Geschichte keineswegs auf als Ergebnis des Raubs 120

und der Gewalt. Im Gegenteil. Es besteht schon, wenn auch unter Beschränkung auf gewisse Gegenstände, in der uralten naturwüchsigen Gemeinde aller Kulturvölker. Es entwickelt sich bereits innerhalb dieser Gemeinde, zunächst im Austausch mit Fremden, zur Form der Ware. Je mehr die Erzeugnisse der Gemeinde Warenform annehmen, d. h. je weniger von ihnen zum eignen Gebrauch des Produzenten und je mehr sie zum Zweck des Austausches produziert werden, je mehr der Austausch auch im Innern der Gemeinde die ursprüngliche naturwüchsige Arbeitsteilung verdrängt, desto ungleicher wird der Vermögensstand der einzelnen Gemeindemitglieder, desto tiefer wird die alte Gemeinschaft des Bodenbesitzes untergraben, desto rascher treibt das Gemeinwesen seiner Auflösung in ein Dorf von Parzellenbauern entgegen . . . Selbst die Bildung einer naturwüchsigen Aristokratie . . . beruht zunächst keineswegs auf Gewalt, sondern auf Freiwilligkeit und Gewohnheit. Überall, wo das Privateigentum sich herausbildet, geschieht dies infolge veränderter Produktions- und Austauschverhältnisse, im Interesse der Steigerung der Produktion und der Förderung des Verkehrs — also aus ökonomischen Ursachen. Die Gewalt spielt dabei gar keine Rolle. Es ist doch klar, daß die Einrichtung des Privateigentums schon bestehn muß, ehe der Räuber sich fremdes Gut a n e i g n e n kann; daß also die Gewalt zwar den Besitzstand verändern, aber nicht das Privateigentum als solches erzeugen kann." 344 *

Die kleine genossenschaftliche Räuberei Selbstverständlich sind Raub und Piratentum, von Bürgern betrieben, auch mit der vorkapitalistischen Handelspraxis verbunden, aber sie können angesichts der Machtverhältnisse im feudalen Mittelalter und auch verglichen mit der Gewalt, die sich zum einen in der feudalen Ausbeutung bzw. in der Beutekriegspolitik niederschlug und die zum anderen aus der Durchsetzung des Kapitalismus in Handel und Produktion und dem ihm innewohnenden Prinzip der freien Konkurrenz entspringen sollte, nur relativ unbedeutend sein, auch wenn sie in den Zeiten feudaler Beutekriege (z. B. während der Kreuzzüge) besonders in Erscheinung traten. Mit anderen Worten: die vom Handelskapital im Mittelalter ausgeübte gewaltsame Aneignung entsprach den unent121

wickelten ökonomischen Verhältnissen bzw. der unentwickelten ökonomischen und politischen Macht des Handelsbürgertums selbst. Das Handelsbürgertum als grundsätzlich unterdrückte Klasse konnte Raub und Piraterie lediglich im Rahmen des ihr Möglichen betreiben (wobei sich in Italien tatsächlich einiges anders verhält). E s konnte sich nicht mit dem Adel und schon gar nicht mit den Fürsten bzw. Königen anlegen, vermochte sich also allenfalls an Konkurrenten anderer „Nationen" oder an Piraten schadlos zu halten. Dabei legte ihm die genossenschaftliche Organisationsform Zügel an und die relative Kleinheit der Beute (die Schiffe hatten nur ein geringes Ladevermögen usw.), machte Raub und Piraterie notwendigerweise zu einer (wenn auch im Einzelfall und gemessen an den allgemeinen Dimensionen lukrativen) Nebentätigkeit, was sie ökonomisch gesehen auch war. Plünderung und Raub erscheinen als abgeleitete Formen des Handelskapitals in „den Vorstufen der kapitalistischen Gesellschaft", 345 wo es „bloß die vermittelnde Bewegung zwischen Extremen, die es nicht beherrscht, und Voraussetzungen, die es nicht schafft" 3 4 6 , darstellt. Das Handelskapital fungiert als Vermittler zwischen „austauschenden Produzenten" 347 bzw. „Produktionssphären", „die ihrer innern Struktur nach noch hauptsächlich auf Produktion des Gebrauchswertes gerichtet sind" 3 4 8 . Die „Extreme", die „austauschenden Produzenten", „bleiben selbständig gegen den Zirkulationsprozeß", d. h. sie produzieren nicht für den Austausch, sondern für den Gebrauch, sie produzieren daher Gebrauchswerte und keine Waren. Den Austausch von Gebrauchswerten nehmen deren Produzenten jedoch die Kaufleute ab: „Das Produkt wird hier Ware durch den Handel. E s ist der Handel, der hier die Gestaltung der Produkte zu Waren entwickelt; es ist nicht die produzierte Ware, deren Bewegung den Handel bildet. Kapital als Kapital tritt hier also zuerst im Zirkulationsprozeß auf. Im Zirkulationsprozeß entwickelt sich das Geld zu Kapital. In der Zirkulation entwickelt sich das Produkt zuerst als Tauschwert, als Ware und Geld. Das Kapital kann sich im Zirkulationsprozeß bilden und muß sich in ihm bilden, bevor es seine Extreme beherrschen lernt.. Z'349 Zwar wirkt der Handel mit seiner Verwandlung der Produkte in Waren auflösend auf die alten Produktionsverhältnisse; bis er jedoch dazu beigetragen hat, sie zu sprengen, legen auch sie ihm ihre Schranken auf. Solange die Produktion noch weitgehend auf den Gebrauchswert orientiert ist, kann auch innerhalb der Zirku122

lation nur eine beschränkte Warenbewegung stattfinden, auch wenn diese sowohl die Tendenz auf Umwandlung der Produkte in Waren, d. h. auf Sprengung der feudalistischen Produktionsverhältnisse, als auch die Tendenz zum uneingeschränkten Konkurrenzkampf und damit auch zu Raub und Plünderung in sich enthält. Wenn grundsätzlich die beiden „Extreme", nämlich Verkäufer und Käufer der Produkte, als Produzenten von Gebrauchswert einander gegenüberstehen, also Produkt äquivalent von Produkt ist, muß der zwischengeschaltete Handel seinen Profit mit der Rate machen, die über dem Produktenäquivalent liegt: 3 5 0 „Solange das Handelskapital den Produktenaustausch unentwickelter Gemeinwesen vermittelt," schreibt Marx, „erscheint der kommerzielle Profit nicht nur als Übervorteilung und Prellerei, sondern entspringt großenteils aus ihr. Abgesehen davon, daß es den Unterschied zwischen den Produktionspreisen verschiedner Länder ausbeutet (und in dieser Beziehung wirkt es hin auf die Ausgleichung und Festsetzung der Warenwerte), bringen es jene Produktionsweisen mit sich, daß das Kaufmannskapital sich einen überwiegenden Teil des Mehrprodukts aneignet, teils als Zwischenschieber zwischen Gemeinwesen, deren Produktion noch wesentlich auf den Gebrauchswert gerichtet ist und für deren ökonomische Organisation der Verkauf des überhaupt in Zirkulation tretenden Produktenteils, also überhaupt der Verkauf der Produkte zu ihrem Wert von untergeordneter Wichtigkeit ist; teils weil in jenen frühern Produktionsweisen die Hauptbesitzer des Mehrprodukts, mit denen der Kaufmann handelt, der Sklavenhalter, der feudale Grundherr, der Staat . . . den genießenden Reichtum vorstellen, dem der Kaufmann Fallen stellt . . Z' 351 Noch sind der Bestimmung des Warenwertes aus der Tatsache, „die Hauptbesitzer des Mehrprodukts" übervorteilen zu müssen, Grenzen gesetzt. Sie ergaben sich auch aus der genossenschaftlichen Organisationsform des Handels, da von daher die Profitrate bestimmt wurde, durch Absprache innerhalb der „Nationen" und Anteilsprofit, wie Engels es analysierte. Die Profitrate wurde noch nicht, wie in der Epoche des vollentwickelten Handels- (und Industrie-)Kapitalismus, von der freien Konkurrenz bestimmt, die Konkurrenz fand statt zwischen den verschiedenen „Nationen": „Diese durch das genossenschaftliche Zusammenwirken erwirkte hohe, für alle Beteiligten gleiche Profitrate hatte aber nur lokale Geltung innerhalb der Genossenschaft, also hier der 'Nation'. Venetianer, Genuesen, Hanseaten, Holländer 123

hatten, jede Nation für sich und wohl auch mehr oder weniger anfangs für jedes einzelne Absatzgebiet, eine besondre Profitrate. Die Ausgleichung dieser verschiednen Genossenschafts-Profitraten setzte sich durch auf dem entgegengesetzen Weg, durch die Konkurrenz. Zunächst die Profitraten der verschiednen Märkte für eine und dieselbe Nation. Bot Alexandrien mehr Gewinn für venetianische Waren als Cypern, Konstantinopel oder Trapezunt, so werden die Venetianer für Alexandrien mehr Kapital in Bewegung gesetzt und dies dem Verkehr mit den andern Märkten entzogen haben. Dann mußte die allmähliche Ausgleichung der Profitraten zwischen den einzelnen, nach denselben Märkten dieselben oder ähnliche Waren ausführenden Nationen an die Reihe kommen, wobei sehr häufig einzelne dieser Nationen erdrückt wurden und vom Schauplatz verschwanden. Dieser Prozeß wurde aber fortwährend von politischen Ereignissen unterbrochen . . Z'352 bzw. bestimmt, denn nach politischen Ereignissen richtete sich auch das Konkurrenzverhalten der Nationen untereinander, das je nach politischen Verhältnissen durchaus die Form der Kaperei, der Plünderung, der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen verfeindeter „Nationen" bzw. zwischen diesen und Kaperern bzw. Interlopern (Handelsschiffen, die keiner „Nation" angehörten) annehmen konnte.

Die Morgenröte der kapitalistischen

"Produktionsära

„Es unterliegt keinem Zweifel," erklärt Marx, „ — und gerade diese Tatsache hat ganz falsche Anschauungen erzeugt — , daß im 16. und im 17. Jahrhundert die großen Revolutionen, die mit den geographischen Entdeckungen im Handel vorgingen und die Entwicklung des Kaufmannskapitals rasch steigerten, ein Hauptmoment bilden in der Förderung des Übergangs der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische. Die plötzliche Ausdehnung des Weltmarkts, die Vervielfältigung der umlaufenden Waren, der Wetteifer unter den europäischen Nationen, sich der asiatischen Produkte und der amerikanischen Schätze zu bemächtigen, das Kolonialsystem, trugen wesentlich bei zur Sprengung der feudalen Schranken der Produktion. Indes entwickelte sich die moderne Produktionsweise, in ihrer ersten Periode, der Manufakturperiode, nur da, wo die Bedingungen dafür sich innerhalb des Mittelalters 124

erzeugt hatten. Man vergleiche z. B. Holland mit Portugal." 353 Tatsächlich wäre es ein entscheidender Irrtum, die Entwicklung des (Handels-)Kapitalismus aus der Entdeckung neuer Handelswege, der Neuen Welt und ihrer Ausbeutung abzuleiten. Die Produktionsverhältnisse hatten sich vielmehr bis zur Zeit der Entdekkung des Schiffsweges um das Kap der Guten Hoffnung und Amerikas bereits so weit entwickelt, daß die Ausweitung des Handels und die Entdeckung neuer (kürzerer, und damit schnellerer) Handelswege unbedingt notwendig geworden war. Es ist durchaus nicht unerheblich, daß Kolumbus nicht zur Entdeckung einer Neuen Welt aufbrach, sondern einen Weg suchte, auf dem man rascher und bequemer nach Indien gelangen konnte. Ebenso bemerkenswert ist, worauf Engels verweist, daß auch nach Indien und nach Amerika „zunächst vorwiegend noch Genossenschaften" 354 handelten. Das heißt: die Genossenschaften waren einerseits so weit emporgestiegen, daß sie der Ausweitung des Marktes bedurften, und sie waren andererseits — in dieser Übergangsphase — in der Lage, diese Ausweitung vorzunehmen. Ausgangsbasis für die gesamte Entwicklung war die ursprüngliche Akkumulation, 355 bei der der Handel eine erhebliche Rolle spielt: „Geld und Ware sind nicht von vornherein Kapital, sowenig wie Produktions- und Lebensmittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital. Diese Verwandlung selbst aber kann nur unter bestimmten Umständen vorgehn, die sich dahin zusammenspitzen: Zweierlei sehr verschiedne Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft ; andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind. Mit dieser Polarisation des Warenmarktes sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion gegeben. Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus . . . Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmitteln." 356 125

Wir wollen den von Marx am Beispiel Englands analysierten Prozeß der ursprünglichen Akkumulation, der in der „Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden" (mit den blutigsten und brutalsten Methoden) seine „Grundlage" 3 5 7 hat (und damit in der „agrikolen Revolution", der „Genesis des kapitalistischen Pächters" und ihrer „Rückwirkung auf die Industrie" über die „Freisetzung" des verjagten Bauern zur Verwandlung in Lohnarbeiter bzw. Proletarier) nicht ausführlich darstellen, sondern — diesen Prozeß als notwendig für die Entwicklung des Handelskapitalismus vorausgesetzt — die Rückwirkung des Handelskapitalismus auf die Herausbildung des modernen (industriellen) Kapitalismus anhand von Marx und Engels kurz umreißen: „Der Handel wird natürlich mehr oder weniger zurückwirken auf die Gemeinwesen, zwischen denen er getrieben wird;", stellt Marx fest, „er wird die Produktion mehr und mehr dem Tauschwert unterwerfen, indem er Genüsse und Subsistenz mehr abhängig macht vom Verkauf als vom unmittelbaren Gebrauch des Produkts. Er löst dadurch die alten Verhältnisse a u f . . . Indes hängt diese auflösende Wirkung sehr ab von der Natur des produzierenden Gemeinwesens." 358 Daß in Ländern wie England und Holland, wo der Prozeß der ursprünglichen Akkumulation schon weit vorangetrieben war, die Rückwirkung des Handels auf diesen Prozeß tiefgreifender war als in entwicklungsmäßig zurückgebliebenen wie Portugal oder Spanien, beweist die Geschichte. Grundsätzlich aber geht auch dort wie überall die „Entwicklung des Handelskapitals" in „die Richtung der Produktion auf Tauschwert", also vom Gebrauchs- zum Tauschwert und damit zur Auflösung der ursprünglichen Produktion: „Wieweit er aber die Auflösung der alten Produktionsweise bewirkt, hängt zunächst ab von ihrer Festigkeit und innern Gliederung. Und wohin dieser Prozeß der Auflösung ausläuft, d. h. welche neue Produktionsweise an Stelle der alten tritt, hängt nicht vom Handel ab, sondern vom Charakter der alten Produktionsweise s e l b s t . . . In der modernen Welt. . . läuft sie (im Gegensatz zur antiken Sklavenhaltergesellschaft — M. N.) aus in die kapitalistische Produktionsweise. E s folgt hieraus, daß diese Resultate selbst noch durch ganz andre Umstände bedingt waren als durch die Entwicklung des Handelskapitals." 359 Einer dieser andren Umstände ist die Trennung der „städtischen Industrie . . . von der agrikolen" 360 , also die Entwicklung der 126

Städte. Ein weiterer Faktor aber war die eingangs genannte Sprengung der geographischen Enge durch die Entdeckung neuer Handelswege bzw. der Neuen Welt.3®** Doch auch dieser Prozeß ist von Anfang an ein dialektischer: die Produktionsverhältnisse trieben zur geographischen Ausweitung und Akzellerierung des Handels, der Handel wirkt zurück auf die Produktionsverhältnisse (Manufaktur bzw. Industrie), und diese wiederum akzellerieren die Entwicklung des Handels: „ . . . wenn im 16. und zum Teil noch im 17. Jahrhundert die plötzliche Ausdehnung des Handels und die Schöpfung eines neuen Weltmarkts einen überwiegenden Einfluß auf den Untergang der alten und den Aufschwung der kapitalistischen Produktionsweise ausübten, so geschah dies umgekehrt auf Basis der einmal geschaffnen kapitalistischen Produktionsweise. Der Weltmarkt bildete selbst die Basis dieser Produktionsweise. Andrerseits, die derselben immanente Notwendigkeit, auf stets größrer Stufenleiter zu produzieren, treibt zur beständigen Ausdehnung des Weltmarkts, so daß der Handel hier nicht die Industrie, sondern die Industrie beständig den Handel revolutioniert." 362 Daß dabei noch andre Faktoren von entscheidender Bedeutung sind, zeigt Engels, der auf die politische Beeinflussung der jeweiligen, national verschiedenen Entwicklung verweist. Mit anderen Worten: die Klassenkampfsituation spielt eine entscheidende Rolle in dieser Entwicklung (aber auch diese ist selbstverständlich jeweils Resultat des zuvor dem Wesentlichen nach beschriebenen Prozesses der ökonomischen Entwicklung). Wo sich die Fraktion des Adels, die auf Seiten der absoluten Monarchie steht, zusammen mit dem jeweiligen Fürsten bzw. König zu einem (ökonomisch und politisch notwendigen) Bündnis mit dem Handelsbürgertum bereit zeigt (wie z. B. in England), wo die „allgemeine Goldgier Völker und Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert, der Kindheitsperiode der modernen bürgerlichen Gesellschaft, in überseeische Kreuzzüge nach dem goldnen Gral jagte" 363 , beschleunigte dies die Entwicklung ungemein. Zwar trieben zuerst die Genossenschaften diesen Handel mit den überseeischen, ausgeplünderten Ländern, schreibt Engels: „Aber erstens standen hinter diesen Genossenschaften größere Nationen. An die Stelle der levantehandelnden Katalonier trat im Amerikahandel das ganze große vereinigte Spanien s364* neben ihm zwei große Länder wie England und Frankreich; und selbst Holland und Portugal, die kleinsten, 127

waren immer noch mindest ebenso groß und stark wie Venedig, die größte und stärkste Handelsnation der vorigen Periode. Das gab dem fahrenden Kaufmann, dem merchant adventurer des 16. und 17. Jahrhunderts einen Rückhalt, der die ihre Glieder auch mit den Waffen schützende Genossenschaft mehr und mehr überflüssig, ihre Kosten daher direkt lästig machte. Dann entwickelte sich jetzt der Reichtum in einzelner Hand bedeutend schneller, so daß bald vereinzelte Kaufleute ebensoviel Fonds auf eine Unternehmung wenden konnten wie früher eine ganze Gesellschaft. Die Handelsgesellschaften, wo sie noch fortbestanden, verwandelten sich meist in bewaffnete Korporationen, die unter dem Schutz und der Oberhoheit des Mutterlandes neuentdeckte ganze Länder eroberten und monopolistisch ausbeuteten. Je mehr aber in den neuen Gebieten Kolonien vorwiegend auch von Staats wegen angelegt wurden, desto mehr trat der genossenschaftliche Handel vor dem einzelnen Kaufmann zurück, und damit wurde die Ausgleichung der Profitrate mehr und mehr ausschließlich Sache der Konkurrenz."»» Lassen wir die Details des Mechanismus unbeachtet, nach dem die Konkurrenz die Profitrate regelt 366 (und auch das Problem der verkehrten Widerspiegelung der ökonomischen Verhältnisse in der Konkurrenz 367 ), und bringen wir es auf die (Marxsche) Formel: die Konkurrenz ist der „heftigste Kampf" „zwischen den Kapitalisten . . . um ihren individuellen Raumanteil am Markt", den sie durch „Verwohlfeilerung der Ware" zu erweitern suchen 368 . Das hat einerseits Auswirkungen auf den jeweiligen Grad der Ausbeutung von Arbeitskraft (der Arbeiter) zur Steigerung der Profitrate, die dann konkurrentiell gesenkt werden kann, andererseits aber auch auf die Methoden der Absperrung des Konkurrenten von den Rohstoffquellen bzw. vom Markt (usw.), wobei nationalstaatliche Machtpolitik sich durchaus (zumal in der „Kindheitsperiode der modernen bürgerlichen Gesellschaft") mit dem Individualinteresse der Genossenschaft bzw. des Einzelkapitalisten verbindet. Die Konkurrenz ist (zusammen mit dem Kredit) der „mächtigste Hebel" zur Vernichtung des konkurrierenden Kapitalisten (bzw. zur Zentralisation der zersplitterten Kapitalien). Im Gegensatz zum genossenschaftlichen Kapitalisten kennt der emanzipierte moderne Kapitalist seinesgleichen nicht mehr und kann ihn auch auf Grund der unausweichlichen „immanenten Gesetze" der ka128

pitalistischen Produktion nicht mehr kennen: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot." 369 Zunächst einmal schlägt er jedoch in der uns hier interessierenden Epoche im Verbund mit seinem Fürsten bzw. König und der diesen stützenden Fraktion des Adels neben dem politischen Gegner des Königs (und damit auch des Bürgertums), der feudalistisch oppositionellen Fraktion des Adels, und später neben dem Konkurrenten der eigenen Klasse die Eingeborenen ferner Länder tot, oder er versklavt sie, indem er sie zur Ware macht (als Ware im Sklavenhandel) oder in Lohnsklaven (vor allem für die geraubten bzw. eroberten Bergwerke) verwandelt: Das Handelskapital in seiner überwiegenden Herrschaft, sagt Marx im Anschluß an seine Feststellung der aus dem „Produktenaustausch" „zwischen unterentwickelten Gemeinwesen" durch das Handelskapital entspringenden „Prellerei" „stellt . . . überall ein System der Plünderung dar, wie denn auch seine Entwicklung bei den Handelsvölkern der alten wie der neuern Zeit direkt mit gewaltsamer Plünderung, Seeraub, Sklavenraub, Unterjochung in Kolonien verbunden ist."370 Und im ersten Band des Kapital spezifiziert er: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz."371

Wucher hemmt den Unternebmergeist Man kann sich den Prozeß der Revolutionierung der Produktionsverhältnisse, dessen Protagonist das Handels- bzw. Manufakturbürgertum ist, kaum anarchisch genug vorstellen: gewaltsame Expropriation der Kleinbauern geht einher mit Bauernaufständen, Adelsrevolten, Religionskriegen, Beutekriegen, Sklavenhandel und Völkermord. Der politische Rahmen, in dem sich diese anarchische Umwälzung vollzieht, ist der der sich herausbildenden absoluten Monarchie. Sie ist auf das Bürgertum ebenso angewiesen wie dessen unmittelbarer Klassengegner, der Feudaladel, der sich der Heraus9

Nerlich, K r i t i k

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bildung der absoluten Monarchie widersetzt und daher in Opposition steht sowohl zum K ö n i g als auch zu dessen Handlanger, dem Bürgertum. Sowohl der K ö n i g (und damit die absolutistisch orientierte Fraktion des Adels) als auch der reaktionäre Feudaladel haben sich im Verlauf dieser Auseinandersetzung in die gleiche Abhängigkeit v o m Bürgertum begeben, dessen schärfste Waffe das Geld ist. Indem das Bürgertum der einen und der anderen Fraktion Geld leiht, macht es sich die eine und die andere zum Schuldner, wobei freilich das Resultat je verschieden ist. Während der K ö n i g und die absolutistisch orientierte Adelsfraktion mit dem geliehenen Geld (man denke an das spektakuläre Beispiel der Fugger!) die Machtmittel erwirbt, um den renitenten Feudaladel zu unterjochen und die politische Herrschaft (über diesen Feudaladel u n d das Bürgertum) zu sichern, das Land zu einen und Eroberungspolitik nach außen zu betreiben, saugt der bürgerliche Geldleiher den anti-absolutistischen Adel bzw. Kleinadel (über die Wucherzinsen) aus: „der Adel konnte . . . (das Geld — M. N . ) . . . nicht mehr entbehren," schreibt Engels, „und da er wenig oder nichts zu verkaufen hatte, da auch das Rauben jetzt nicht ganz so leicht mehr war, mußte er sich entschließen, v o m bürgerlichen Wucherer zu borgen. Lange ehe die Ritterburgen von den neuen Geschützen in Bresche gelegt, waren sie schon v o m Geld unterminiert . . . D a s Geld war der große politische Gleichmachungshobel der Bürgerschaft. Überall, wo ein persönliches Verhältnis durch ein Geldverhältnis, eine Naturalleistung durch eine Geldleistung verdrängt wurde, da trat ein bürgerliches Verhältnis an die Stelle eines feudalen. Zwar blieb die alte brutale Naturalwirtschaft auf dem Lande in bei weitem den meisten Fällen bestehn; aber schon gab es ganze Distrikte . . . wo Herren und Untertanen schon den ersten entscheidenden Schritt getan hatten zum Übergang in Grundbesitzer und Pächter, wo also auch auf dem Lande den politischen Einrichtungen des Feudalismus ihre gesellschaftliche Gundlage abhanden kam." 3 7 2 Sie wären ihnen freilich nicht abhanden gekommen, hätte in der Zwischenzeit nicht der zuvor skizzierte Prozeß der ursprünglichen Akkumulation stattgefunden bei gleichzeitiger Herausbildung des Handelskapitals bzw. der zunehmenden Warenproduktion. Denn der Wucher an sich kann die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht revolutionieren: „ D i e charakteristischen F o r m e n . . . , worin das Wucherkapital in den Vorzeiten der kapitalistischen Produktionsweise existiert, sind zweierlei . . . e r s t e n s , der Wucher 130

durch Geldverleihen an verschwenderische Große, wesentlich Grundeigentümer; z w e i t e n s , Wucher durch Geldverleihen an den kleinen, im Besitz seiner eignen Arbeitsbedingungen befindlichen Produzenten, worin der Handwerker eingeschlossen ist, aber ganz spezifisch der Bauer . . . Beides, sowohl der Ruin der reichen Grundeigentümer durch den Wucher, wie die Aussaugung der kleinen Produzenten führt zur Bildung und Konzentration großer Geldkapitalien. Wieweit aber dieser Prozeß die alte Produktionsweise aufhebt, wie dies im modernen Europa der Fall war, und ob er an ihrer Stelle die kapitalistische Produktionsweise setzt, hängt ganz von der historischen Entwicklungsstufe und den damit gegebnen Umständen ab." 373 Es handelt sich bei der vorkapitalistischen Form des Wuchers also grundsätzlich um Konsumentenkredite: 374 das geliehene Geld wird — vereinfacht formuliert — von den Borgern restlos ausgegeben, heckt also kein neues Geld. Die Rückzahlung unter Wucherbedingungen (Zinsen bis über 200 Prozent waren keine Seltenheit 375 , obwohl die Höhe des Zinses weniger entscheidend war als die Tatsache, daß das Geld nicht „arbeitete") mußte aus der „Mehrarbeit" des „Opfers" 376 erfolgen: aus dem, was Leibeigene oder Kleinproduzenten über das zum eigenen Verbrauch bzw. dem des Feudalherrn Notwendige produzieren. Auch wenn der Wucherer mit seinen Forderungen über diese „Mehrarbeit seines Opfers" noch hinausging und „nach und nach sich die Eigentumstitel auf seine Arbeitsbedingungen selbst, Land, Haus etc., erwirbt und beständig damit beschäftigt ist, ihn so zu expropriieren", 377 (was Luther z. B. genau erkennt und verdammt 378 ), so wird damit noch nicht die Produktionsweise verändert: „Der Wucher zentralisiert Geldvermögen, wo die Produktionsmittel zersplittert sind. Er ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an sie als Parasit fest und macht sie miserabel. Er saugt sie aus, entnervt sie und zwingt die Reproduktion, unter immer erbärmlichem Bedingungen vorzugehen. Daher der populäre Haß gegen den Wucher . . . Revolutionär wirkt der Wucher in allen vorkapitalistischen Produktionsweisen nur, indem er die Eigentumsformen zerstört und auflöst, auf deren fester Basis und beständiger Reproduktion in derselben Form die politische Gliederung ruht." 379 Mit diesem „populären Haß" verbindet sich z. B. bei Luther auch religiöser Eifer und theologische Polemik (vor allem gegen die katholische Wucherauffassung 380 ), was ihn im übrigen jeder mo9»

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dernen Form des Wuchers gegenüber unzugänglich macht. Sein Verdikt ist kategorisch: er mißbilligt den Wucher in jeder Form. 381 * Allerdings macht der Wucher gerade in jener Zeit eine entscheidende Metamorphose durch, die auch die öffentliche Diskussion bestimmt und die ohne den zuvor skizzierten Prozeß der Herausbildung der kapitalistischen Produktion unverständlich wäre. Zum einen findet das Wucherkapital in dem Maße Verwendung im Handelskapitalismus, aus dem es hervorgegangen ist, in dem der Handel expandiert: das Wucherkapital verwandelt sich in Geldhandlungskapital. 382 Zum anderen wird das Wucherkapital verändert durch eben den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation, der auch den Handel immer stärker wachsen läßt: „das Mittelalter," schreibt Marx, „hatte zwei verschiedne Formen des Kapitals überliefert . . . das Wucherkapital und das Kaufmannskapital. . . Das durch Wucher und Handel gebildete Geldkapital wurde durch die Feudalverfassung auf dem Land, durch die Zunftverfassung in den Städten an seiner Verwandlung in industrielles Kapital behindert. Diese Schranken fielen mit der Auflösung der feudalen Gefolgschaften, mit der Expropriation und teilweisen Verjagung des Landvolks. Die neue Manufaktur ward in See-Exporthäfen errichtet oder auf Punkten des flachen Landes, außerhalb der Kontrolle des alten Städtewesens und seiner Zunftverfassung." 383 Das Wucherkapital wurde im Zusammenhang mit dieser Entwicklung zu einem Hemmschuh für die kapitalistische Produktion in ihren Anfängen: Geld als Handelskapital (aber auch als Kapital für die Manufaktur) 384 wird immer notwendiger, aber die Höhe der Wucherzinsen und die langsame Umlaufzeit des Geldkapitals innerhalb der feudalistischen Produktion macht die Geldaufnahme (zum Warenkauf) schwierig. Der Kaufmann beginnt (als Kaufmann: oft war auch er gleichzeitig Wucherkapitalist), immer schärfer gegen den Wucher in seiner mittelalterlichen Form (und nicht grundsätzlich wie Luther) zu polemisieren. 385 Dazu kommt, daß die zunehmende kapitalistische Produktion eine immer größere Ausdehnung von Märkten und Entfernungen mit sich bringt, so daß auch das der feudalistischen Produktion abgepreßte Wucherkapital zusammen mit dem aus diesem und dem Handel resultierenden Handelskapital nicht länger die Warenbewegung bewältigen kann r386 „Kredit ist hier also unerläßlich," folgert Marx, Kredit, der nur aus dem in der kapitalistischen Produktion gewonnenen Mehrwert selbst geschöpft werden kann, „Kredit, dem Umfang nach 132

wachsend mit dem wachsenden Wertumfang der Produktion und der Zeitdauer nach mit der zunehmenden Entfernung der Märkte. E s findet hier Wechselwirkung statt. Die Entwicklung des Produktionsprozesses erweitert den Kredit, und der Kredit führt zur Ausdehnung der industriellen und merkantilen Operationen." 387 Sehen wir auch hier von den Details dieser Entwicklung vom mittelalterlichen Wucher zum modernen Kredit als einer speziellen Erscheinungsform des (industriellen) Kapitals ab, „das sich in einer bestimmten Phase des Reproduktionsprozesses befindet," 3 8 8 * — „in ihrer Kindheitsphase" sucht die „schon erstarkte kapitalistische Produktion das zinstragende Kapital (das Wucherkapital — M. N.) gewaltsam dem industriellen (bzw. kommerziellen — M. N.) zu unterwerfen," 389 indem gegen die hohen Zinsen und die Eintreibungsformen des Wucherkapitals polemisiert und gekämpft wird (d. h. bei grundsätzlicher Anerkennung der Notwendigkeit des Geldhandels = Wucher gegen dessen Erscheinungsformen und „gegen die Größe des Zinses" 3 9 0 ), was sich u. a. in der Forderung nach zwangsweiser Festsetzung des (niedrigeren) Zinses niederschlug. Denn „das zinstragende Kapital bewährt sich nur als solches, soweit das verliehene Geld wirklich in Kapital verwandelt und ein Überschuß produziert wird, wovon der Zins ein Teil [ist]." 391 Das aber war mittels Wucherkapital nicht zu erreichen. So überraschend es zunächst anmuten mag: die Polemik gegen das Wucherkapital bzw. den Wucherzins trägt bei zur Herausbildung der modernen Abenteuer-Ideologie (und bildet — z. T . bis heute —392* einen integralen Bestandteil dieser Ideologie). Marx hat darauf — tout en passant — hingewiesen, als er vom Wandel des Kredits vom (Wucher-)Konsumentenkredit zum zinstragenden Kapitalkredit handelte: „Was das zinstragende Kapital. . . vom Wucherkapital unterscheidet, ist in keiner Weise die Natur oder der Charakter dieses Kapitals selbst. Es sind nur die veränderten Bedingungen, unter denen es fungiert, und daher auch die total verwandelte Gestalt des Borgers, der dem Geldverleiher gegenübertritt. Selbst wo ein vermögensloser Mann als Industrieller oder Kaufmann Kredit erhält, geschieht es in dem Vertrauen, daß er als Kapitalist fungieren, unbezahlte Arbeit aneignen wird mit dem geliehenen Kapital. E s wird ihm Kredit gegeben als potentiellem Kapitalisten. Und dieser Umstand, der so sehr bewundert wird von den ökonomischen Apologeten, daß ein Mann ohne Vermögen, aber mit Energie, Solidität, Fähigkeit und Geschäftskenntnis sich 133

in dieser Weise in einen Kapitalisten verwandeln kann — wie denn überhaupt in der kapitalistischen Produktionsweise der Handelswert eines jeden mehr oder weniger richtig abgeschätzt wird —, so sehr er beständig gegenüber den vorhandnen einzelnen Kapitalisten eine unwillkommene Reihe neuer Glücksritter ins Feld führt, befestigt die Herrschaft des Kapitals selbst, erweitert ihre Basis und erlaubt ihr, sich mit stets neuen Kräften aus der gesellschaftlichen Unterlage zu rekrutieren."393 Daß dieser von Marx analysierte Tatbestand zur (angesichts der Zentralisation der Kapitalien) immer rareren Ausnahme wurde, ist selbstverständlich. In der „Kindheitsperiode" aber lagen hier tatsächlich reale Möglichkeiten, die ihren ideologischen Ausdruck alsbald in der Verherrlichung — der unternehmerischen, wagemutigen Jugend finden (eine Erscheinung, die dem ständisch-feudal gegliederten Mittelalter durchaus fremd sein mußte). Der Wucher in seiner herkömmlichen Form erschien als das Alte, Überlebte, der Kredit hingegen als das Neue, Lebendige: „Das Kreditsystem ist ursprünglich p o l e m i s c h e Form gegen die altmodischen Wucherer (Goldsmiths, Juden, Lombarden etc.) Die Schriften, in denen seine ersten Geheimnisse auseinandergesetzt werden im 17. Jahrhundert, sind alle in dieser polemischen Form gehalten."394 Diese polemische Haltung gegenüber dem altmodischen Wucher kommt in Thomas Wilsons Discourse upon Usurj von 1572 zum Ausdruck, auch wenn sein Verfasser den Wucher insgesamt ablehnt. In seinem in Dialogform gehaltenen Traktat läßt er nämlich durch einen Rechtsgelehrten (lawyer) Argumente für moderne Formen des Wuchers vorbringen, wobei im übrigen bezeichnend ist, daß er eines neuen Wortes für (Handels-)Kredit bedarf, um diesen vom mittelalterlichen Wucher abzugrenzen. Er meint, wenn z. B. vier Personen sich zusammentäten, von denen zwei das Kapital beibrächten, die beiden anderen ihre Arbeitskraft und ihren Fleiß, warum sollten dann die, die ihr Geld riskierten (to adventure), nicht am Profit aus dem gemeinsamen Unternehmen profitieren, selbst wenn sie müßig zu Hause säßen: „Vielleicht aber," sagt der lawyer zu seinen Gesprächspartnern, „werdet ihr sagen: das ist kein Wucher. Ich kann nicht sagen, was ihr Wucher nennt."395 Bereits ein Jahr vor Erscheinen des Traktats war in einem der Regierung unterbreiteten Memorandum festgestellt worden: „Wucher [usury] und ehrlicher Zins [trewe interest] sind so entgegengesetzt wie Falschheit und Treue. Denn Wucher enthält in 134

sich selbst Ungleichheit und unnatürliche Teilung, während ehrlicher Zins die Gleichheit und die natürliche Teilung beachtet." 396 Wucher, so heißt es weiter, zerstöre den Wohlstand der Gesellschaft, ehrlicher Zins hingegen sei eine Errungenschaft der menschlichen Gesellschaft. Ganz ähnlich argumentiert auch der lawyer im Discourse upon Usurj (und partiell auch der gelehrte Doktor, der Calvin als Zeugen für kirchliche bzw. theologische Tolerierung gemäßigten Zinses zitiert 397 ): was für ein Gewinn könne darin liegen, so fragt er, erworbenes Geld brach ruhen zu lassen, statt es einem andren Kaufmann zur Nutzung zur Verfügung zu stellen?398 Ja, den Geldverleih zu verbieten, könne sogar durchaus ein Zeichen von Hartherzigkeit sein.399 Außer Zweifel steht eigentlich bei allen (außer dem Kaufmann, der darin eine Restriktion sieht) die (mittelalterliche) Auffassung des gerechtfertigten Geldwechsels (cambium) und des Handels insgesamt, sofern Risiko (adventure) vorhanden bzw. Arbeit geleistet wird. Abgelehnt werden Geld- und andre Geschäfte, wo beides fehlt. 400 Gegen diese Auffassung tritt allein der Kaufmann, parodistischerweise Gromelgayner genannt, auf, wobei sein Standpunkt von Wilson überpointiert wird, damit er ihn um so besser und einfacher erledigen kann. Gromelgayner ist gegen jegliche Einschränkung des Handels und des Geldgeschäftes sowie gegen eine Festlegung der Zinsgröße 401 (während der lawyer z. B. die Festlegung des Zinsfußes vorschlägt 402 ): wer den (unbeschränkten) Profit verbietet, sagt Gromelgayner, zerstört den Handel, denn wo nichts zu holen ist, da wage auch niemand etwas.403 Ganz davon abgesehen könne man das Geldverleihen gar nicht verbieten, seien doch Staat und Adel auf das Borgen bei den Kaufleuten angewiesen: „We lend not for usurie, but for interest, and by exchange." („Wir leihen nicht zu Wucherzwecken, sondern auf Zins und für Wechselgeschäfte.") 404 , stellt er fest, aber durch seinen apprentice (Angestellter eher als Lehrling) läßt er feststellen, was Marx als Traum des Kapitalisten schlechthin bezeichnet (die direkte Umwandlung von G in G t ): wo immer es sich ermöglichen ließe, würde der Kapitalist gern Profit erzielen, ohne sein Kapital beim Investieren „in Waren jenseits des Ozeans" zu riskieren („Adventure . . . in merchaundizes beyonde the seas"), ohne sich dem Verlust durch Schiffbruch, Piraten oder unzuverlässige Angestellte auszusetzen.405 Die Argumente des Kaufmanns sind so radikal und damit so unbrauchbar, daß sie auch die Wirksamkeit der Argumente des lawyer 135

beeinträchtigen, und es kommt, wie Thomas Wilson es wünscht: am Ende siegt der Geistliche mit seinem (mittelalterlichen) Standpunkt, und der Kaufmann zeigt sich zur Reue bereit. Aber — und das ist nicht unwesentlich — auch die modernen gemäßigten und radikalen Ansichten zur Wucher/Kreditfrage werden vorgetragen: tatsächlich deutet sich damit bereits an, was R. H. Tawney als grundsätzliche Tendenz der weiteren Entwicklung bezeichnet: „die Säkularisierung der gesamten Diskussion"406, ein Prozeß, der eigentlich mit Francis Bacon bereits im wesentlichen abgeschlossen ist. Bei ihm finden wir bestätigt, was Marx für die Schriften des 17. Jahrhunderts zur Wucherfrage ausführte: bei grundsätzlicher Anerkennung der Notwendigkeit des Geldhandels (des Kredits) polemisiert Francis Bacon gegen die „altmodischen Wucherer". Das führt ihn aber keineswegs zur Blindheit gegenüber dem Kredit. In der dritten Ausgabe seiner Essays von 1625 sagt er im Kapitel Of Usury (Über den Wucher), das er bezeichnenderweise zwischen die Kapitel Of Fortune (Über Glück! Fortuna) und Of Youth and Age (Über Jugend und Alter) plaziert, „Der Wucher wird mit zahlreichen geistvollen Schmähreden bedacht"407, er aber zöge es vor, die Nachteile und Vorteile des Geldhandels gegeneinander abzuwägen. Seine grundsätzliche Erkenntnis hinsichtlich der Nachteile: der Wucher in seiner traditionellen Form entzieht das Geld der Zirkulation und lähmt den Handel, schädigt damit den Staat, der weniger Steuern einnimmt usw. „Auf der andern Seite sind die Vorteile des gewerbsmäßigen Geldverleihs erstens, daß er, obwohl in gewissen Beziehungen dem Handel schädlich, ihn doch in einigen andern fördert; denn es steht fest, daß der größte Teil des Handels bei jungen Kaufleuten vermittels Zinsanleihen betrieben wird, so daß, falls der Wucherer sein Geld zurückzöge oder vorenthielte, augenblicklich eine große Stockung im Handel eintreten würde . . . Deswegen ist es müßig, von der Abstellung des Wuchers zu sprechen."408 Bacons Vorschläge sind auf Behebung der Nachteile bei Bewahrung der Vorteile gerichtet. Zwei Dinge müßten dazu miteinander verbunden werden: „Das eine, daß man den Zahn des Wuchers so abwetzt, daß er nicht zu sehr beißen kann. Das andere, daß man auf Mittel und Wege sinnt, Geldleute dazu zu bewegen, den Kaufleuten zur Aufrechterhaltung und Belebung des Handels Darlehen zu geben. Dies aber ist nur möglich, wenn man zwei voneinander verschiedene Arten des Wuchers einführt: eine gemäßigtere und eine schärfere; wenn man 136

nämlich dem gewerbsmäßigen Geldverleih allgemein einen niedrigen Zinsfuß aufzwingt, so erleichtert das allerdings das landläufige Borgen, aber der Kaufmann kann das Geld mit der Laterne suchen. Dabei ist zu bedenken, daß der Kaufmannsberuf, als einer der einträglichsten, wohl hohe Zinsen zahlen kann, andere Berufe jedoch weniger. Um nun beiden Fällen gerecht zu werden, müßte das Verfahren in kurzen Worten dieses sein: es müßten zweierlei Zinssätze für den Geldverleih bestehen, der eine ein leichter und allen zugänglich, der andere nur mit Erlaubnis an bestimmte Personen und für gewisse Handelsplätze."409Als niedrigen Zinssatz schlägt Bacon 5 Prozent vor. Er soll als allgemeine Basis gelten. Bekannten Kaufleuten sollte jedoch von dazu autorisierten Wucherern zu höherem Zins geliehen werden. Das heißt aber nicht nur, daß weniger bekannte, also vor allem junge Kaufleute ebenfalls zu niedrigem Zinsfuß borgen dürften, auch die größeren Kaufleute dürfen nicht zu arg geschröpft werden: „Sodann erteile man gewissen Personen die Erlaubnis, bekannten Kaufleuten zu einem höheren Zins Darlehen zu geben, jedoch mit folgenden Vorsichtsmaßregeln: man lasse den Satz, auch sogar beim Kaufmann, etwas niedriger sein, als er bisher zu zahlen gewohnt gewesen; denn vermöge dieser Verbesserung wird man allen Borgern, seien sie Kaufleute oder sonst etwas, einige Erleichterungen verschaffen." 410 Der Kompromiß, den Bacon hier vorschlägt, verlängert sich bis hinein in seine Überlegungen über Jugend und Alter, wobei die Akzente auf der Kombination von jugendlichem Unternehmungselan und Sachkenntnis des Alters liegen: „Junge Leute übernehmen in der Leitung und Handhabung von Geschäften mehr, als sie durchführen können; rühren mehr auf, als sie wieder beizulegen vermögen; jagen zum Ziel, ohne Mittel und Wege zu bedenken. Sie folgen ein paar Grundsätzen, auf welche der Zufall sie blindlings geführt; scheuen sich nicht vor Neuerungen, die unbekannte Beschwerden mit sich bringen . . . Bejahrte Menschen machen zu viele Einwürfe, überlegen zu lange, wagen zu wenig, bereuen zu früh . . . begnügen sich mit einem mittelmäßigen Erfolg. Es ist daher wünschenswert, beide Lebensalter zusammenarbeiten zu lassen; den Vorteil davon hat die Gegenwart. . ."4U* Neununddreißig Jahre nach Bacons Essays wird der Traktat England's Treasure by Forraign Trade (Englands Wohlstand aus dem Fernhandel) von Thomas Mun (1571—1641, seit 1615 Mitglied des Direktoriums der Ostindischen Kompanie) veröffentlicht, in dem 137

noch einmal die Nützlichkeit des Geldgeschäftes für „jüngere und ärmere Kaufleute" unterstrichen wird (ohne daß Mun weitere Ausführungen zur Höhe des Zinsfußes macht): „Wie viele Kaufleute und Ladenbesitzer," schreibt er, „haben nicht mit wenig Geld oder mit gar keinem begonnen und sind jetzt sehr reich geworden, indem sie mit dem Geld andrer Leute Handel trieben."412 Fünf Jahre danach, 1669, verfaßt Josiah Child (1630-1699, seit 1674 ebenfalls Mitglied des Direktoriums der Ostindischen Kompanie) sein Hauptwerk A Discoure of Trade (Traktat über den Handel), in dem er — einer der entschiedensten Bekämpfer des großen Zinses — scharf gegen den unmodernen Wucher polemisiert. Was uns interessiert, hat Marx bereits (aus einer französischen Übersetzung) exzerpiert. Diese Auszüge enthalten einen Argumentationszusammenhang, der uns im 18. Jahrhundert namentlich in Frankreich immer wieder begegnen wird, und zwar als integraler Bestandteil der grundsätzlichen Argumentation gegen die feudal-staatliche Begrenzung des Handels und damit auch gegen die feudale Unterdrückung ganz allgemein: die Bejahung des Risikos (des Mutes), die Polemik gegen die Faulheit und die implizite Schlußfolgerung, daß Wagemut und Fleiß, realisiert in Handel und Manufaktur, nützlich für den Staat sind. Josiah Child wirft einem Kontrahenten (Thomas Manley) in der Diskussion über den Zinsfuß vor: „Als Vorkämpfer der furchtsamen und zitternden Bande der Wucherer errichtet er seine Hauptbatterie an dem Punkt, den ich für den schwächsten erklärt habe . . . " (den großen Zins), und Child fährt fort: „Ich bin der Verteidiger der Industrie, und mein Gegner verteidigt die Faulheit und den Müßiggang." Patriotische Schlußfolgerung: „Wenn es der Handel ist, der ein Land bereichert, und wenn die Herabsetzung des Zinses den Handel vermehrt, so ist eine Herabsetzung des Zinses oder Beschränkung des Wuchers ohne Zweifel eine fruchtbare Hauptursache der Reichtümer einer Nation." 413

Vom kleinen und vom großen Dieb oder die Angst vor der Anarchie —~i Kehren wir zurück zur (gewaltsamen, anarchischen) Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu Beginn des 16. Jahrhunderts: sie rief — natürlich — auch Furcht und Schrecken hervor. Ein Beispiel dafür ist Luther, der im übrigen einen viel schärferen Blick 138

als spätere Apologeten des kapitalistischen Systems (wie z. B. Sombart) dafür hatte, daß nicht der ständisch-genossenschaftliche Kaufmann des Mittelalters, sondern der moderne Handelskapitalist (dem größeren Umfang seiner Aktivitäten entsprechend) „Raubtier"-Qualitäten entwickelt. „Nu ist bey den kauffleutten eyne grosse klage/ vber die Edel leut odder reuber / wie sie mit grosser fahr [Gefahr] müssen handeln / vnd werden druber gefangen / geschlagen / geschetzt vnd beraubt / etc." 414 , schreibt Luther in seinem Traktat Von Kaufshandlung und Wucher (1524). Die Kaufleute, von denen an dieser Stelle die Rede ist, können nur kleine, ständischgenossenschaftliche Händler sein, wie sie das Mittelalter hervorgebracht hatte und wie sie Luther — wie wir sehen werden — im Grunde billigt. Dennoch macht er sich an dieser Stelle über sie lustig, und zwar nicht, weil er die Strauchdiebe und Raubritter rechtfertigen wollte (diese, so wünscht er, sollten vom Fürsten bzw. König bestraft werden), sondern weil er gegen die Großkaufleute, die modernen Handelskapitalisten, aber auch gegen die großen Genossenschaften polemisieren will, gegen die er die Strafe Gottes beschwört. Denn diese Kaufleute, die er verabscheut, sind natürlich außerhalb der Reichweite von Strauchdieben und Raubrittern (man denke auch hier wieder an die Fugger), unterliegen keinerlei derartigen Gefahren, es sei, daß einem ihrer Gommis zu Lande oder zu Wasser etwas zustoßen würde. Aber auch das täte ihrem Reichtum keinen größeren Abbruch, und gerade das empört Luther, der in den Großkaufleuten, genauer: in der Allianz von Handelsbürgertum und Fürsten bzw. König eine Bedrohung der ständisch-feudalen, weil göttlichen Ordnung erblickt: das Geld, so erkennt er richtig, ist daran schuld, das Geld ist des Teufels: „Wie sollt das ymmer mügen Göttlich vnd recht zugehen / das eyn man ynn so kurtzer zeyt so reych werde / das er Konige vnd Keyser auskeuffen mochte? Aber weyl sie es dahyn bracht h a b e n / das alle wellt ynn fahr vnd verlust mus handeln / Heur gewynnen / vber eyn iar verlieren / Aber sie ymer vnd ewiglich gewynnen / vnd yhre verlust mit ersteygertem gewynn bussen können / ists nicht wunder / das sie bald aller weit gut zu sich reyssen. Denn eyn ewiger gewisser pfennig / ist ia besser / denn eyn zeytlicher vngewysser gulde. N u kauffschlagen yhe solche gesellschaften / mit eyttel ewigen gewissen gülden / v m b vnsere zeytliche / vngewisse pfennige. Vnd solt noch wunder seyn / das sie zu Konige vnd wyr zu Bettler werden?" 4 1 5 139

Eigentlich, befindet Luther, sollten Könige und Fürsten dieser Verkehrung der Ordnung, dieser Akkumulation von Geld und dem damit verbundenen Machtzuwachs Einhalt gebieten: „Aber ich höre / sie haben kopff vnd teyl dran / Vnd geht nach dem spruch Esaie. 1. Deyne Fürsten sind der diebe gesellen worden. Die weyl lassen sie diebe hengen / die eyn gülden odder halben gestolen haben / vnd hantieren mit denen / die alle wellt berauben / vnd Stelen serer [mehr] / denn alle ander / Das ia das Sprichwort war bleybe / Grosse diebe hengen die kleynen diebe . . ."/,1(i Es wird, so Luther prophetisch, zum Weltbrand kommen, wenn man den Großkaufleuten bzw. den Gesellschaften nicht das Handwerk legt. 417 Da dies aber im Augenblick niemand tut, straft Gott die großen Kaufleute in den kleinen, indem er ihnen Räuber und Strauchritter auf den Hals hetzt: „Wie wol es seyn mag," kommentiert er die Klage der kleinen Kaufleute, „das etwa eynem für Gott vnrecht geschehe / das er der andern entgellten mus / ynn wilcher rotte er funden wird / vnd betzalen / was eyn ander gesundigt hat. Aber weyl solch gros vnrecht vnd vnchristliche dieberey und reuberey vber die gantze wellt durch die kauffleut / auch selbst vnterander geschieht. Was ists wunder / ob Gott schafft / das solch gros gut mit vnrecht gewonnen / widderumb verloren odder geraubt wird / vnd sie selbst dazu vber die kopffe geschlagen odder gefangen werden." 418 Wohlgemerkt: Luther meint mit „die gantze wellt" keineswegs ein eventuelles Unrecht gegenüber den ausgeplünderten Eingeborenen ferner Länder (denn diese sind keine Christen), er meint die neuen Formen des Handelskapitals, die sich vor allem in der Konkurrenz auswirken, die er als „dieberey" und „reuberey" „selbst vnterander" bezeichnet, die Profitmacherei über Handelsmonopole und vor allem den Geldverleih an den Großadel, mit dem dieser in die Abhängigkeit des Handels- und Wucherkapitals gelangt: Martin Luther warnt vor dem drohenden Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus dem die Kaufleute als „konige" hervorgehen könnten. Die „gantze wellt" ist die Christenheit in feudaler Verfassung.

Utopia oder der Versuch, die Anarchie

bändigen

Der implizite Mahnruf an Fürsten und Könige, für die göttliche Ordnung zu sorgen und d. h.: in der Entmachtung des Bürgertums die alte Ordnung wieder herzustellen, verhallte zunächst ohne 140

Echo: die Reaktion des absolutistischen Adels sollte erst später einsetzen. Die Beklemmung angesichts der anarchischen Veränderung der Produktionsverhältnisse bzw. der gesellschaftlichen Ordnung beschlich aber nicht nur den großen protestantischen Theologen, sie bestimmt auch die Schrift von Thomas Morus, die 1516 mit dem Titel Utopia erschien und die von der Forschung zu Unrecht als „the first great English romance" der Seefahrerliteratur419 bezeichnet wird, spielt doch gerade die Seefahrt in diesem Roman eine durchaus zwiespältige Rolle. Von einem Luther diametral entgegengesetzten selbstbewußten Bürgertum getragen, stellt die Utopia den Versuch dar, den entfesselten (Produktiv-)Kräften den richtigen Weg im Interesse des Bürgertums zu zeigen, die innere und äußere Anarchie der Maßlosigkeit bzw. der abenteuerlichen Ferne in eine rationale, überschaubare (insulare) Ordnung zu überführen. Daß dies nicht ohne innere Widersprüchlichkeiten geschehen kann, liegt auf der Hand. Adels- und Fürstenschelte, die das Selbstbewußtsein des englischen Bürgertums eindrucksvoll bezeugt, verbindet sich mit einem Lob der durch bürgerliche Tugendlehre, religiöse Toleranz und nationalpolitische Weisheit gebändigten vita activa zu einem politischen Traktat, der nicht als Utopie verstanden werden kann, sofern man diesem Begriff die Bedeutung unterlegt, die er heute gemeinhin besitzt.420 Die Utopia liefert keine Vision in der Zukunft liegender, erwünschter oder unerwünschter gesellschaftlicher Verhältnisse (oder technischer Entwicklungen usw.), sie stellt vielmehr die Negation der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse in England dar und enthält in dem aus dieser Negation gewonnenen Entwurf einer anderen, nach Morus besseren Gesellschaftsordnung sowohl retrograde als auch progressive Elemente einer Ideologie, die man als Versuch zur Handlungsorientierung eines gemäßigten Bürgertums verstehen muß (was Zeitgenossen wie Guillaume Bude im übrigen auch taten421). Dennoch: zwar ist durchaus richtig, „daß Morus mit seiner Utopia eine Antwort auf die Probleme seiner Zeit zu geben sucht, und zwar eine Antwort auf die Frage, wie das durch die ökonomische Entwicklung freigesetzte Individuum auf eine neue Weise in eine humane und gerechte Gesellschaftsordnung integriert werden kann," 422 aber da er die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten dieser Entwicklung nicht durchschaut, muß sein Lösungsvorschlag unerfüllbar bleiben. Nur in einem sehr engen Sinn von „praktisch nicht realisierbar" könnte der Roman „utopisch" genannt werden: im Ge141

gensatz zu den meisten seiner Nachahmer verlegte Morus sein gesellschaftliches Gegenbild zum englischen Staat seiner Zeit nicht in ein Traumreich jenseits dieser Welt oder in eine erträumte Zukunft, sondern in die durchaus mögliche Realität der noch n i c h t e n t d e c k t e n W e l t . Sein Roman erscheint nur vierundzwanzig Jahre nach der Entdeckung Amerikas, als der neue Kontinent noch längst nicht erforscht war und die Entdeckung bis dahin unbekannter Völker und Gesellschaftsordnungen absolut nicht in den Bereich des Unmöglichen gehörte (erst zehn Jahre nach Erscheinen der TJtopia entdeckt, erobert und zerstört Pizarro den Inkastaat, der übrigens verblüffende Analogien zum Staatsentwurf des Thomas Morus besitzt). Morus selbst verankert seinen Roman fest in den geschichtlichen Kontext seiner Zeit, zum einen in den der „agrikolen Revolution" in England, des Bauernlegens zwecks Verwandlung des Ackerlandes in Weideflächen (für die Schafswollproduktion), der Zeit, in der die „Schafe sogar Menschen fressen, Länder, Häuser, Städte verwüsten und entvölkern," 423 zum anderen in den Kontext der Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der Jahrhundertwende: als Kritiker der englischen Zustände und als Berichterstatter über den Staat Utopia tritt der portugiesische Abenteurer Raphael Hythlodeus auf, ein Reisegefährte des Amerigo Vespucci (1451—1512). Und gerade darin ist einer der fundamentalen Widersprüche im Werk des Thomas Morus zu erblicken: im Plädoyer für die Entdeckungsreisen, für die geographische Entschlüsselung der Welt bei gleichzeitiger Polemik gegen den uneingeschränkten Großhandel und die entstehende Verbindung von Handels- und Industriekapital. Sein Entwurf einer „kommunistischen" Gesellschaft, in der nicht mehr als sechs Stunden am Tag gearbeitet wird, in der eine kollektiv geplante Produktion existiert, die den eigenen Bedarf abdeckt, den Export des Überschusses ermöglicht und den Import nur auf wenige, notwendige Waren beschränkt, „die ihnen daheim fehlen (denn das ist fast nichts außer Eisen), . . . außerdem eine große Menge Silber und Gold", 424 einer Wirtschaftskonzeption also, die ein merkwürdiges Gemisch von „kommunistischen" Ideen und merkantilistischem Denken darstellt, ist grundsätzlich aber, was die innere Organisierung der Produktion angeht, an der mittelalterlich-ständischen Produktion von Gebrauchswerten orientiert.425 Mit dieser Wirtschaftskonzeption jedoch beseitigt Thomas Morus theoretisch die Ursachen, denen sie ihre Entstehung verdankt. 142

Sein Plädoyer für eine weitgehende Abkapselung des Landes von der Umwelt (Utopia ist eine Insel wie England, ja sie wurde von den Utopiern sogar gewaltsam und demonstrativ mittels eines riesigen Kanalbaus vom Festland getrennt 426 ) muß notwendigerweise zu zahlreichen Ungereimtheiten führen. Bezeichnenderweise bildet denn auch das Reisen — eine der wichtigsten gesellschaftlichen Tätigkeiten im Zeitalter des beginnenden Kapitalismus 427 — ein besonderes Problem für Morus. Abgesehen von einer gewissen Indifferenz gegenüber dem Reisen ganz allgemein, die er den Utopiern unterstellt (wenn überhaupt sind sie nur als eine Art von touristischen Gesellschaftsreisenden unterwegs): 428 einerseits können die Utopier als von der Umwelt relativ abgeschnittenes Inselvolk keine eigenen geographischen Kenntnisse bzw. Kenntnisse über andre Völker und deren Handel erwerben, andererseits aber sind auch sie auf diese Kenntnisse angewiesen. Sie müssen daher ihre Kenntnisse aus der Vermittlung durch Fremde erlangen: „Jeder Fremde, der schaulustig dorthin kommt, wenn ihn irgendeine besondere Geistesgabe auszeichnet oder wenn ihn die auf langer Wanderfahrt erworbenen Kenntnisse vieler Länder empfiehlt . . . wird mit offenem Herzen aufgenommen, denn sie lassen sich gern erzählen, was überall in der Welt vor sich geht." 4 2 9 Die Utopier sind also an jenen Kenntnissen interessiert, die sie offenbar nicht selbst erwerben können oder wollen. Sie lassen sie sich aber gern von anderen beibringen. Also muß für sie darin auch ein Nutzen stecken. In der Tat: erzählt nicht auch ein Seefahrer dem englischen Inselvolk zu dessen Nutzen die Geschichte von Utopia, nachdem er zuvor den Utopiern von Europa berichtet hat? Was Thomas Morus für das utopische und damit auch für das englische Inselvolk verneint, die große Seefahrt, die Abenteuer-Schiffahrt, das bejaht er in der Gestalt des Raphael Hythlodeus, den er respektvoll einen neuen „Ulysses", ja einen „Piaton" nennt, und der ein leidenschaftlicher Abenteurer ist, nach Utopien gelangt „getreu seiner Sinnesart, der die Reiselust über ein schönes Grabmal geht . . ."430 Die Utopier aber sind auf den Zufall angewiesen, der einen solchen Abenteurer zu ihnen führt, denn „ . . . des Handels wegen empfangen sie nicht gerade häufig Besuche. Was sollten auch die Zureisenden dort einführen außer Eisen oder Geld oder Silber, das doch jeder lieber mit zurückbringen möchte?" 4 3 1 Zurück wovon? Morus rührt hier an einen zentralen Nerv der wirtschaft143

liehen Prosperität des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts: was wäre England ohne die Handelsschiffahrt? Was wäre Utopien? Erneut verwickelt er sich in Widersprüche. Die Utopier sind einerseits von der Umwelt abgeschnitten, bedürfen, da sie nicht reisen, der Belehrung durch Fremde, die die Reiselust zu ihnen führt, andererseits aber treiben sie doch Seehandel, und zwar i n t e l l i g e n t e r als die Engländer selbst: „Ihre eigenen Ausfuhrartikel. . . glauben sie mit gutem Grunde besser selbst zu exportieren, als von anderen abholen zu lassen, weil sie so die auswärtigen Völker ringsum besser kennenzulernen hoffen und nicht als Seefahrer Praxis und Erfahrung verlieren zu wollen." 432 Was Morus hier seinen Utopiern als Maxime ihres Handelns unterstellt, ist eine der wichtigsten Kampfforderungen des englischen Handelsbürgertums seiner Zeit, in der sich die Appelle der merchant adventurers an den König in immer eindringlicherer Form häufen. Der Seehandel sollte nicht länger den Ausländern, konkret: der Tuch-(und Woll-)Export aus England nicht länger der Hanse, die an ihm einen viel größeren Anteil als die merchant adventurers hatte 433 *, überlassen bzw. die Ausländer mit entsprechenden Privilegien ausgestattet werden, sondern diese sollten den „kynges subiettes marchauntes" — „den Kaufmanns-Untertanen des Königs" gewährt werden 434 . Paradoxerweise befindet sich also Morus, der für insulare Isolation eintritt, mit seiner Aufforderung, es den Utopiern (auch in Bezug auf diese Handelspraxis) nachzutun, in vollster Übereinstimmung mit den Forderungen der mobilen, reisenden, seefahrenden expandierenden Avantgarde seiner Klasse, deren Selbstbewußtsein gerade in diesen inneren Widersprüchlichkeiten des Staatsentwurfs von Morus durchschlägt. Das gilt auch für seine Polemik gegen die unnützen Stände: „Ist das etwa nicht ein ungerechter und undankbarer Staat, der so viel Gunst verschwendet an die sogenannten Edelleute, an Juweliere [Wucherer — M. N.] und sonstige Angehörige dieser Menschenklasse, die aus Tagedieben oder bloßen Schmarotzern und Angehörigen unnützer Luxusgewerbe besteht, dagegen den Bauern, Köhlern, Tagelöhnern, Fuhrleuten und Schmieden, ohne die überhaupt kein Staat bestehen könnte, gar keine Fürsorge zuwendet.. ." 435 Zwar ist seine Adelsschelte mehr als gerechtfertigt, und auch die furchtbaren Auswirkungen des Bauernlegens durch die feudalen Großgrundbesitzer werden von ihm zu Recht gegeißelt. Aber hier wie in seiner Polemik gegen die Groß-Schiffahrt oder die Herr144

schaft des Goldes bzw. Geldes (bei gleichzeitiger Bejahung einer vom Staat betriebenen Wechsel- und Kreditwirtschaft 436 bzw. merkantilistischer Staatsschatzpolitik) sieht Morus nicht (und kann dies wohl auch nicht sehen), daß gerade in dem von ihm Attackierten die Basis gegeben ist, die es ihm als dem Repräsentanten eines rationalen Bürgertums ermöglicht, durch den Mund seines Raphael Hythlodeus verkünden zu lassen, „daß die Untertanen sich einen König wählen in ihrem eigenen, nicht in des Fürsten Interesse . . . und deshalb sei es Pflicht des Fürsten, mehr für seines Volkes Wohlergehen als für das eigene zu sorgen . . ," 437 Auch den dynamischen Klassenkampfprozeß der (vorübergehenden) geschichtlichen Allianz von Bürgertum und König samt absolutistisch orientierter Fraktion des Adels durchschaut Morus nicht- für eine Gesellschaft, deren Produktions- und damit Klassenkampfverhältnisse sich revolutionieren, ist daher auch sein politischer Gesellschaftsentwurf unbrauchbar: „Je dreißig Haushaltungen wählen sich jährlich einen Vorsteher, den sie mit einem älteren Ausdruck Syphogranten, mit einem jüngeren Phylarchen nennen. An der Spitze von je zehn Syphogranten mitsamt ihren Familienverbänden steht ein Vorgesetzter, der früher Tranibor, neuerdings Protophylarch heißt. Endlich ernennen alle Syphogranten zusammen, zweihundert an der Zahl, in geheimer Abstimmung und nach vorhergehender Eidesleistung, den nach ihrem Urteil tüchtigsten zu wählen, einen Fürsten aus vier Bewerbern, die ihnen das Volk namhaft macht. . . Das Fürstenamt wird auf Lebenszeit übertragen, falls dem nicht der Verdacht tyrannischer Gelüste entgegensteht." 438

Gelächter oder die grundsätzliche Bejahung der Anarchie 9876543210 Utopier (Frauen und Kinder selbstverständlich nicht mitgezählt), „Handwerker aller Berufe, Professoren der Freien Künste", gründen in Dipsodie eine Kolonie, „um . . . das Land aufzufrischen, zu bevölkern und zu zieren" 439 . 1546 erscheint der Roman, in dem dieses erzählt wird: Le Tiers Livre des Fakts et

Dicts Héroïques du Bon Pantagruel (Das Dritte Buch von den heroischen Taten und Erzählungen des Guten Vantagruel) von François Rabelais. Pantagruel, Sohn des Riesen Gargantua, König von Utopien, hat sein Land vom Feind befreit, das Land der Gegner, Dipsodie, erobert. Jetzt besiedelt er es. Was liegt da näher als brave, fleißige 10

Neriich, K r i t i k

145

Utopier anzusiedeln, zumal Rabelais selbst das Riesengeschlecht der Grandgousier, Gargantua und Pantagruel in diesem Utopien angesiedelt hatte. Es ähnelt freilich dem Utopien des Thomas Morus in nichts, was nicht heißen soll, daß es keine Gemeinsamkeiten zwischen Rabelais und Morus gäbe. Gemeinsam ist ihnen die Abscheu vor den sinnlosen Eroberungskriegen ihrer Zeit (wenn Pantagruel selbst ein Land erobert, dann deshalb, weil das eigene zuerst angegriffen und besetzt wurde und weil er das Land des Gegners von einem Tyrannen befreit), gemeinsam ist ihnen das bürgerliche Selbstbewußtsein vor Fürstenthronen, gemeinsam ist ihnen die Bejahung praktischer Wissenschaften und gemeinsam ist ihnen die Toleranz in Glaubenssachen. Sonst aber: welch ein Unterschied zwischen dem auf Maß und Disziplin, Vorschrift und Fleiß bedachten Morus und dem in jeder Hinsicht unmäßigen Rabelais, dessen Bücher über Gargantua und Pantagruel trotz oder gerade wegen ihrer Unmäßigkeit sehr viel realistischer sind als der Roman von Morus, der im übrigen so humorlos ist wie das Leben der von ihm erdachten Utopier mit ihren Syphogranten : „Das wichtigste und beinahe einzige Geschäft der Syphogranten ist, dafür zu sorgen, daß keiner müßig herumsitzt, sondern jeder fleißig sein Gewerbe treibt." 440 Diese Vorstellung einer permanenten Kontrolle jedes Individuums muß für Rabelais unerträglich sein. Sein Ideal ist das des selbstverantwortlichen, geistigen und körperlich harmonisch zur (individuellen und gesellschaftlichen) Freiheit ausgebildeten Menschen, wie ihn die (Elite-)Schule, die Abtei Thélème hervorbringt, die Pantagruels Vater durch Frère Jean des Entommeurs erbauen, einrichten und verwalten läßt: „ T u w a s du w i l l s t " , ist die Devise dieser Hochschule der Lebenskunst, „denn freie Menschen, wohlgeboren, gut geschult, an guten Umgang gewöhnt, haben von Natur einen Trieb, der sie zu tugendhaften Taten treibt und vom Laster fernhält. Sie nennen ihn Ehre." 4 4 1 Diese Ehre hat nur noch entfernt mit dem ritterlich-höfischen Ehrbegriff zu tun. Was in der Abtei Thélème vertreten wird, das ist das Prinzip der epikuräischen, renaissancehaft-aufgeklärten Lebensbejahung, hinter der jedoch stets ein Rest von Skepsis lauert, denn es darf nicht vergessen werden, daß alles — also auch alles, was Rabelais bejaht — durch die Groteske, durch das Gelächter, mit dem es von Rabelais präsentiert wird, gleichzeitig auch eine entscheidende Relativierung erfährt. Zwar kann kein Zweifel be146

stehen, daß Rabelais die Revolution seiner Zeit, den Aufbruch des (bürgerlichen) Menschen aus seiner (mittelalterlichen) Gefangenschaft, in ihrer Totalität bejaht, aber er ist sich ihrer Widersprüchlichkeit und Grausamkeiten voll bewußt. Während Pantagruel in der Erschaffung einer neuen Ordnung, konkret in der neuen Herrschaftsform der absoluten Monarchie (symbolisiert in der Beratung des riesenhaften Fürsten Pantagruel durch seine nichtadligen Berater) den Schlüssel zu gesellschaftlicher Harmonie erblickt, sieht sein Freund und Begleiter Panurge den Schlüssel zum Glück des Menschen in einem anarchischen, die gesellschaftlichen Verhältnisse unablässig umstürzenden und vorwärtsreißenden Prinzip: dem Kreditwesen. Pantagruel hat Panurge eingesetzt zur Verwaltung einer Vogtei, aber Panurge verwaltet „so gut und weise", daß er „das sichere unsichere Einkommen der Vogtei von drei Jahren" innerhalb von vierzehn Tagen ausgibt. 442 Pantagruel macht ihm (ganz im Sinne des Thomas Morus) Vorhaltungen und betont die Notwendigkeit der Sicherung des Wohlstands. Wenn Panurge reich werden wolle, so müsse er vor allem erst einmal sparen.443 Panurge aber bekundet geringen Respekt gegenüber dieser Art von Reichtum. Seiner Meinung nach ist tatsächlicher Reichtum gerade auf Verschuldung, d. h. auf Kreditaufnahme gegründet: „ . . . mein ganzes Leben hindurch habe ich die Schulden für eine Verbindung und Verkettung von Himmel und Erde gehalten, für den einzigen Lebensunterhalt des Menschengeschlechts."444 Es ist müßig darüber nachzudenken, ob Rabelais dem Handelsund Geldwesen seiner Zeit so naiv gegenüber gestanden hat, wie es diese und andere Stellen in seinem Roman nahelegen könnten, aber noch in der Vagheit der beschriebenen Episode scheint — nicht zu Ende gedacht oder durchgehandelt, sondern in der Burleske verhüllt und mit einem Achselzucken Pantagruels, der Panurge nicht glaubt, besiegelt — der Antagonismus der beiden Prinzipien vom rationalen Schatzbildner (Panurge) und dem unvernünftigen Kapitalisten (Pantagruel) durch, der im Fortunatus mit größerer Präzision, aber auch mit größerer Nüchternheit und Trockenheit die Handlung bestimmt. Und dennoch: was Fortunatus bzw. der anonyme Verfasser des Augsburger Romans weiß, das ist auch Rabelais nicht unbekannt und gewinnt als skeptischer Bodensatz innerhalb der Burleske nur noch schärferes Profil. So wie Fortunatus erkennt, daß die Liebe „aus" ist, wenn Kapital bzw. Geld fehlt, so erkennt Panurge, daß allein das Geld in seiner modernen Form 10»

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das menschliche Verhalten bestimmt: „Kein Mensch wird einen andern retten, umsonst wird er 'Hilfe' schreien, 'Feuer', 'Wasser', 'Mord', niemand wird ihm helfen. Warum? Er hatte nichts geliehen, also schuldete man ihm nichts . . . Kurz, aus dieser Welt werden Glauben, Hoffnung und Mitleid verbannt sein" 445 — wenn nicht weiter Kredite aufgenommen, Geldgeschäfte getätigt werden können. Und schon schlägt wieder burleske Ironie durch: gäbe es keine Geldgeschäfte mehr, so wären „Glauben, Hoffnung und Mitleid" aus der Welt verschwunden: „Denn die Menschen sind geboren, um den Menschen zu helfen." 446 Somit sind Kredit und Barmherzigkeit eins geworden. Wenn Pantagruel trotz seiner Panurge entgegengesetzten Meinung mit einem Achselzucken darüber hinweggeht, dann deshalb, weil der Reichtum der Welt unerschöpflich zu sein scheint: 447 * was ist gemessen daran die Verschwendungssucht des Panurge, deren rationalen Kern er nicht akzeptieren will oder kann. Die großen Zahlen, mit denen Rabelais jongliert, sind nicht funktionslos. Sie signalisieren das Unerschöpfliche des irdischen Reichtums, das Unmaß dieses (blutigen) Ausbruchs aus alten unfreien, den feudalen Verhältnissen, den Rabelais mit seinem Gelächter bedenkt. Wenn den Leser (auch und gerade heute noch) bei diesem Gelächter ein Gefühl des Entsetzens beschleicht, dann hat das angesichts der geschichtlichen Realität durchaus seine Berechtigung. Der Optimismus von Rabelais ist grenzenlos, umfaßt alle Länder und Kontinente. Er ist auf die Zukunft gerichtet, zu der man durch ein Meer von Blut waten muß: die Zahl der Gepfählten, Gespießten, Verbrannten, Gevierteilten, Geköpften in seinen Romanen kann angesichts der in der realen Welt Gepfählten, Gespießten, Verbrannten, Gevierteilten, Geköpften nur von weltfremden Gelehrten oder Zynikern für nichts als literarisches Spiel gehalten werden. Diejenigen, die Rabelais' Bücher verboten und Rabelais verfolgten, haben das ganz sicher nicht getan (obwohl ihre Gründe wahrscheinlich nur partiell im Realismus der von ihm geschilderten Grausamkeiten gesucht werden dürfen: die waren zu alltäglich). Der Optimismus des Bürgertums hat in den z. T. wahnsinnigen Paroxysmen dieser Zeit seinen Preis, und das Gelächter allein läßt sie ertragen und den Preis nicht zu hoch erscheinen. 448 * Die Forschung hat wiederholt betont, daß in den Romanen Rabelais' u. a. auch eine Parodie auf den Ritter-Abenteuerroman zu erblicken sei. Das ist grundsätzlich richtig, aber die Funktion die148

ser Parodie ist zu klären. Auch die spanischen Schelmenromane, die novelas picarescas, stellen, wie wir sahen, Parodien auf den RittefAbenteuerroman dar, aber sie sind Ausdruck von Hoffnungslosigkeit so wie die Ritterromane selbst (auch wenn die klassenspezifischen Ursachen verschieden sind). Weder der Ritterroman noch der spanische Schelmenroman sind abschließbar bzw. werden von ihren Autoren abgeschlossen: geht in den Ritterromanen die Abenteuersuche ins unendlich Märchenhafte oder ins märchenhaft Unendliche, so nehmen in den spanischen Schelmenromanen die Leidensabenteuer der meisten ihrer Protagonisten kein Ende. Sie brechen zu ihrer Fahrt auf, ohne ein reales Ziel zu besitzen oder zu erreichen. Anders bei Rabelais: das Ziel wird genannt. Es ist — die „dive bouteille", die „göttliche Flasche". Das darin eine Parodie des Gral gesehen werden kann, den die Ritter des König Artus suchten, ist durchaus nicht unwahrscheinlich. Galt ihre Suche einem unerreichbaren Ziel im Jenseits der realen Welt, so ist das der Pantagruel, Panurge, Frère Jean des Entommeurs, Epistemon ein demonstrativ irdisches: es ist der Wein, der selbstverständlich eine Symbolfunktion besitzt (und gleichzeitig auch der reale Wein ist): „Gute Leute, hoch illustre Trinker . . .", redet Rabelais seine Leser an449* und lädt sie ein, nach Herzenslust aus seinem Faß zu trinken, denn dieses Faß sei „unerschöpflich", und auf seinem Grund, der unerreichbar sei, läge Hoffnung, „non désespoir", keine Verzweiflung.^ Das Faß ist Rabelais' Buch, der Wein, der aus ihm getrunken werden kann und der unerschöpflich und voll Hoffnung ist, ist die unendliche Fülle des Lebens. Zu ihr hin ist alles in Bewegung, sie ist das Ziel einer ebenfalls nicht abschließbaren Reise, nicht weil ihr ein Ziel fehlt, sondern weil das Ziel unerschöpflich ist, die Reise daher nie an ein Ende gelangen kann und doch unaufhörlich in ihm selbst stattfindet. Das Ziel wird ununterbrochen in der Aktivität des Daseins erreicht: die Reise durch das Leben zum Leben findet in der Praxis des Menschen statt, und wenn Rabelais von Reise spricht, so meint er die Reise als Symbol und als reale Reise zu Land und zu See. So wie zuvor der anonyme Autor des Fortunatus oder Thomas Morus, so verankert auch Rabelais seine grotesken, gigantischen, symbolischen Reisen fest im geschichtlichen Kontext seiner Zeit. Jacques Cartier (1494—?) bricht 1534 westwärts auf und entdeckt ein Jahr darauf Kanada. Pantagruel folgt den Spu149

ren Cartiers mit seinen Schiffen und seinen Begleitern,45* und die Wahl dieser Reiseroute erfolgt in bewußter Abkehr von der zu langen Reiseroute nach Ostindien, der die Portugiesen folgen: „ . . . über den Äquator und am Kap der Guten Hoffnung vorbei." 452 Die geographischen Einzelheiten der Reisen Pantagruels und seiner Gefährten sollen hier nicht untersucht werden. Auf sie kommt es auch weniger an als auf das grundsätzliche Bekenntnis zur (Handels*) Schiffahrt, das Rabelais auf seine Weise gigantisch ausgestaltet: „Schöpft aus meinen Tresoren so viel ihr immer m ö g t . . .", sagt Gargantua zu Pantagruel und seinen Freunden, „ . . . nehmt Besatzung mit so viel ihr mögt, große Steuerleute, kleine Steuerleute, Dolmetscher, so viel ihr mögt, und setzt die Segel bei günstigem Wind im Namen und Schutz Gott des Erlösers . . ."453

Pantagruel und Panurge Fragen wir ganz prosaisch nach den beiden Protagonisten des Romanzyklus (unter Absehung von Gargantua), so können wir feststellen (wobei wir für einen Augenblick die Tatsache beiseite lassen, daß beide als burleske und zugleich ernste Symbolgestalten mehr sind als das): Pantagruel ist ein Fürst und Panurge ein Abenteurer, der den Fürsten begleitet und berät. Wir haben hier — neben anderen Personenkonstellationen — als eines der wichtigsten Elemente des Romans »eine Partnerschaft von Fürsten und Nichtadligen, die uns sowohl im Fortunatus als auch in der Utopia, in der Thomas Morus dem König rät, sich von Gelehrten beraten zu lassen, begegnet ist (unter den Beratern von François I. waren zu Beginn seiner Regierungszeit auch Bürger, und im übrigen ließ er sich von einem speziellen Beraterstab, dem Conseil des Affaires so beraten wie Pantagruel durch seine Gefährten)/'54 Diese Partnerschaft freilich ist nicht so prosaisch, aber auch nicht so märchenhaft gehalten wie in der Utopia oder im Fortunatus, sie überschreitet die geschichtliche Faktizität ebenso wie den Pragmatismus des Thomas Morus oder das antiquiert Märchenhafte des Fortunatus. Wie Erich Auerbach richtig beobachtet, stellen die einzelnen Gestalten in den Romanen Rabelais' — im Widerspruch zur neoaristotelischen Dichtungstheorie, die ihm nicht unbekannt gewesen sein kann — zwar bemerkenswerte Typen dar, keineswegs 150

aber „einheitliche Charaktere": „Rabelais hat sehr energisch ausgeprägte und eindeutige Typen geschaffen, aber er ist nicht immer geneigt, sie eindeutig festzuhalten; sie beginnen leicht zu schillern, eine andere Person schaut unversehens aus ihnen hervor, je nach Lage und Laune. Wie stark verändern sich Pantagruel und Panurge im Laufe des Werkes! Und auch im einzelnen Augenblick bekümmert er sich nicht viel um die Einheit der Person, wenn er behagliche Pfiffigkeit, Geist, Humanismus und eine immer wieder durchscheinende Grausamkeit durcheinandermischt." 455 E s ist daher sinnlos, wenn man die eine Gestalt gegen die andere ausspielt, um sie etwa als besonders typisch für die damalige Zeit, schon gar nach Burckhardschem Beispiel als „den Renaissancemenschen" vorzustellen.'556 Das Bild, das Rabelais vom Menschen seiner Zeit entwirft, und das in burlesker Negation der damaligen Gegenwart z. T . das Bild vom physisch und geistig befreiten Menschen der Zukunft ist, von dem man daher mit gewissem Recht behaupten darf, es sei exemplarisch für die Zeit, die wir Renaissance nennen (ohne zu vergessen, daß auch die Utopier des Morus, der Fortunatus, aber auch der Cortegiano, usw. zum Bild des Menschen jener Zeit gehören), ist das Bild, das von der Gesamtheit der in allen Gestalten der pantagruelinischen Romane versammelten neuen Qualitäten des Menschen ableitbar ist. Sowenig es angängig ist, alle diese Qualitäten in einer Gestalt versammelt zu sehen, sowenig ist es angängig, eine Gestalt zu isolieren und in ihr unter Abstraktion vom Gesamtzusammenhang eine bestimmte Qualität repräsentiert zu sehen: „Das Aufgehen und Einswerden des Menschen in der natürlichen Welt, das Triumphieren des AnimalischKreatürlichen gestattet auch genauer zu bemerken, wie vieldeutig und darum mißverständlich das Wort Individualismus ist, das sehr oft, und gewiß nicht ohne Berechtigung, in Verbindung mit der Renaissance gebraucht wird", schreibt Auerbach, „Ohne Zweifel ist der Mensch in Rabelais' allen Möglichkeiten offener, mit allen Aspekten spielender Weltansicht freier als zuvor in seinen Gedanken, im Geltendmachen seiner Instinkte und Wünsche. Ist er darum stärker individuell? Das ist nicht leicht zu entscheiden. Zumindest hängt er weniger fest an seinem eigentümlichen Wesen, er ist protcischer, eher geneigt in eine andere Haut zu schlüpfen; und die gemeinsamen, überindividuellen Züge, zumal die animalischen, instinktiven, werden sehr stark hervorgehoben." 4 5 7 Dies vorausgeschickt, sei auf die Erziehung des Pantagruel und 151

die Funktion des Panurge besonders verwiesen. Pantagruel ist nicht nur von Natur körperlich und geistig besonders begabt, er wird auch nach den fortschrittlichsten pädagogischen Gesichtspunkten erzogen. Sein Vater Gargantua schickt ihn nach Paris, wo er nach Ablauf einer bestimmten Zeit den als Dokument humanistischen Denkens jener Zeit berühmt gewordenen Brief erhält, in dem Gargantua ihn auffordert, sich „in Tugend, Ehrsamkeit und Tapferkeit sowie in allen liberalen und ehrlichen Wissenschaften" zu perfektionieren.458 Dabei übt Gargantua Kritik an der Vergangenheit, am Niedergang der Wissenschaften (im Mittelalter), der es ihm verwehrt hätte, sich so zu bilden wie es nun seinem Sohn möglich sei. Das Studium der alten Sprache (Griechisch, Latein, Hebräisch, Chaldäisch) sei zu neuer Blüte gelangt, und die Möglichkeit ihm zu obliegen, sei größer als je zuvor (tatsächlich hatte François I. gerade auf diesem Gebiet die Reform vorangetrieben) : „Ich sehe," sagt Gargantua, „daß heute Räuber, Henker, Abenteurer, Stallknechte gelehrter sind als die Doktoren und Prediger meiner Zéit." 459 Selbst die Frauen und Mädchen seien nun von Bildungshunger befallen (Rabelais widmet Le Tiers Livre dem Geist der Marguerite de Navarre) ; vor allem aber solle Pantagruel Sprachen lernen und sich darüber hinaus in den a r t e s l i b e r a l e s wie Geometrie, Arithmetik und Musik schulen (dagegen jedoch die Finger von der Astrologie lassen). Großes Gewicht sei zu legen auf die Geographie und die Naturwissenschaft („faietz de nature") sowie auf das Studium der Medizin und endlich der Heiligen Schrift. Dies alles müsse Pantagruel studiert haben, wenn er zurückkehre, denn dann beginne die Schulung in „chevalerie et les armes", im Waffenhandwerk, damit er das Land schützen und regieren könne. Unmittelbar nach Erhalt dieses Briefes begegnet dem Pantagruel ein junger, ärmlich gekleideter Mann, der ihn und seine Kenntnisse sinnvoll ergänzen wird, den er sogleich in sein Herz schließt und der ihn nicht mehr verlassen wird: „Seht ihr diesen Mann . . . .?" fragt er seine Begleiter, „er ist nur durch Zufall arm, denn ich versichere euch, nach seiner Physiognomie zu urteilen ist er von Natur aus reicher und edler Abstammung, aber die Abenteuer, die wißbegierige Menschen bestehen, haben ihn in seine Notlage gebracht." 460 Es ist Panurge, den er anspricht, und der ihm in vierzehn Sprachen (darunter Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Englisch und Holländisch) antwortet. Über die Gestalt des Panurge ist schon viel geschrieben worden, 152

wobei u. a. der Akzent auf seine Verwandtschaft mit dem antiken Gott Hermes gelegt wurde. 461 Mit Rccht, aber die Rechnung läßt sich auch anders aufmachen. Hermes ist (u. a.) der Gott der Reisenden und der Kaufleute, doch so, wie die Gestalt des Panurge in ihrer Funktion als Hermes mit aller Realistik in die zeitgenössische Gegenwart eingebettet ist (die erste Information über seinen Lebenslauf bezieht sich auf die Teilnahme an einer geschichtlichen Expedition gegen die Türken im Jahr 1502462), ist sie als aktiv am (burlesken) Geschehen' teilnehmender Freund und Begleiter Pantagruels mehr als nur mythologische Reminiszenz und humanistisches Bildungszitat: der Fürst Pantagruel verbindet sich mit dem Gott des Handels und dadurch mit dem Handelsbürgertum selbst. Panurge repräsentiert also nicht nur den Gott Hermes, sondern auch den Kaufmann, die Avantgarde des Bürgertums, was nicht nur seine Ansichten zum Kreditwesen erklärt, sondern auch seine Fähigkeit, auf genau dreiundsechzig verschiedene Arten und Weisen zu Geld zu kommen, sowie seine praktischen Fertigkeiten und^eine Kenntnisse (aber auch seinen Mangel an Heroismus und seine Vorliebe für die List, die ihm auch als Hermes zusteht). Die Episode, in der sich sein Handelstalent, seine Funktion als Kaufmann am deutlichsten mit der des Widdertragenden Hermes verbindet, ist die, in der er einem Kaufmann den besten Hammel abkauft und diesen Kaufmann (den Konkurrenten) dadurch ruiniert. 463

Der Merchant Adventurer geht von Bord

Die dreifache Geburt des Kapitalisten Pantagruel und Panurge — wer, wenn nicht sie verkörpern in der Literatur die Dimensionen jener Zeit, von der Engels in der Dialektik der Natur schreibt: „Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuernde Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht. Fast kein bedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht, der nicht vier bis fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fächern glänzte . . . Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist, daß sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beidem. Daher jene Fülle und Kraft des Charakters, die sie zu ganzen Männern macht. Stubengelehrte sind die Ausnahme: entweder Leute zweiten und dritten Rangs oder vorsichtige Philister, die sich die Finger nicht verbrennen wollen." 464 Die Heroen jener Zeit — Engels nennt einige stellvertretend: Leonardo da Vinci, Dürer, Machiavelli, Luther. — Geboren aber war doch schon der Mensch, der sich die Finger nicht mehr verbrennen wollte, der dafür bezahlte und heute noch dafür bezahlt, daß andere für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen, den Profit, der nicht mehr zu den Abenteurern, zu den Riesen zählt, sondern der — gesichtslos — die Fäden zusammenhält, an denen sie bald alle mehr oder weniger hängen, an denen Abenteurer zucken wer154

den, bis sie zu Managern, Vertretern, Söldnern oder Reklamespezialisten verkommen sind: der Kapitalist. Er wird geboren in dieser Zeit der „überwiegenden Herrschaft" des Handelskapitals, einer Übergangszeit, in der — wie aus der Formulierung allein bereits hervorgeht — neben der „überwiegenden" Produktionsweise auch andre Produktionsweisen weiter bestanden bzw. neu entstehen. Zum einen dauert natürlich die feudale Produktionsweise (regional unterschiedlich intensiv), zum anderen der genossenschaftlich-ständische Handel an, der erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts (in England) zugrunde gehen sollte: „Mit der Erweiterung der Warenproduktion aber, und namentlich mit dem Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, traten auch die bisher schlummernden Gesetze der Warenproduktion offener und mächtiger in Wirksamkeit. Die alten Verbände wurden gelockert, die alten Abschließungsschranken durchbrochen, die Produzenten mehr und mehr in unabhängige, vereinzelte Warenproduzenten verwandelt. Die Anarchie der Produktion trat an den Tag und wurde mehr und mehr auf die Spitze getrieben." 4 6 5 Protagonist des Prozesses ist der h o m o n o v u s , der Neue Mensch, der Kapitalist, der in dreifacher Gestalt die Bühne der Weltgeschichte betritt — um aus ihr als Individualität zu verschwinden: „ E r s t e n s , der Kaufmann wird direkt Industrieller; dies ist der Fall bei den auf den Handel gegründeten Gewerben, namentlich bei Luxusindustrien, welche von den Kaufleuten mitsamt den Rohstoffen und den Arbeitern aus der Fremde eingeführt werden, wie im fünfzehnten Jahrhundert in Italien aus Konstantinopel. Z w e i t e n s , der Kaufmann macht die kleinen Meister zu seinen Zwischenschiebern (middlemen) oder kauft auch direkt vom Selbstproduzenten; er läßt ihn nominell selbständig und läßt seine Produktionsweise unverändert. D r i t t e n s , der Industrielle wird Kaufmann und produziert direkt im großen für den Handel." 4 6 6 Ohne hier auf die qualitative Verschiedenheit weiter einzugehen („Der Produzent wird Kaufmann und Kapitalist. . . Dies ist der wirklich revolutionierende W e g " , sagt Marx an andrem O r t 4 6 7 ) , gemeinsam ist allen drei Typen von Kapitalisten die Aneignung der Produktionsmittel (wenn auch in unterschiedlicher Form, was für uns durchaus relevant ist). Dadurch verwandelt sich der bisherige Besitzer der Produktionsmittel, der mit diesen selbständig produziert hatte, in einen bezahlten Arbeiter, der statt wie bisher sein Produkt nun seine Arbeitskraft verkauft. Die Verwandlung 155

in den Lohnarbeiter jedoch verwandelt gleichzeitig den Käufer der Arbeitskraft, den Kapitalisten: „Konzentration größrer Massen von Produktionsmitteln in der Hand einzelner Kapitalisten ist also materielle Bedingung für die Kooperation von Lohnarbeitern, und der Umfang der Kooperation, oder die Stufenleiter der Produktion, hängt ab vom Umfang dieser Konzentration. Ursprünglich erschien eine gewisse Minimalgröße des individuellen Kapitals notwendig, damit die Anzahl der gleichzeitig ausgebeuteten Arbeiter, daher die Masse des produzierten Mehrwerts hinreiche, den Arbeitsanwender [den zukünftigen Kapitalisten — M. N.] selbst von der Handarbeit zu entbinden, aus einem Kleinmeister einen Kapitalisten zu machen und so das Kapitalverhältnis formell herzustellen."'568 Den „Arbeitsanwender selbst von der Handarbeit zu entbinden", d. h. zunächst einmal, daß der Kapitalist (in seiner revolutionären Gestalt des Industriellen, der zum Kaufmann und Kapitalisten wird) nicht länger im materiellen Produktionsprozeß tätig ist, was mit anderen Vorzeichen natürlich auch für den Kapitalisten gilt, der sich als Kaufmann der Produktionsmittel bemächtigt: nicht nur, daß er nicht im materiellen Produktionsprozeß selbst tätig wird, sondern er braucht auch beim Handelsgeschäft nicht mehr in Person Hand anzulegen, Waren zu tragen, selbst zu verkaufen, die Transporte durchzuführen, usw. Man kann sogar sagen, daß dieser Prozeß des Rückzuges aus der materiellen Durchführung des Produktionsprozesses im Zeitalter der „überwiegenden Herrschaft" des Handelskapitals beginnt: je größer der Handelskapitalist wird (und je mehr er damit gleichzeitig die Entwicklung zum modernen Kapitalismus vorantreibt), um so weniger braucht er selbst in die Mühen und Gefahren des Warentransportes einzugreifen. 469 * Das heißt aber nichts weiter, als daß der Kapitalist (in welcher der drei Gestalten auch immer) in eigener Person und mit dieser eigenen Person, mit ihren physischen Qualitäten und Erscheinungsformen, für den Produktions- und Zirkulationsprozeß irrelevant geworden ist — ein Vorgang, den wir bereits im Fortunatus kennenlernten, in dem der Verfasser uns sozusagen zwei Etappen in der Entwicklung des Handelskapitals vor Augen führt: die erste Etappe ist bestimmt von Fortunatus als selbst praktizierendem merchant adventurer, die zweite von Fortunatus als dem Handelskapitalisten, der seine Geschäfte Agenten, Angestellten, Kapitänen, „patronen" zur Ausführung überläßt. 156

Wie das Individuum aussieht, das als Kapitalist fungiert, ist für die kapitalistische Produktion völlig gleichgültig. Ob es klein oder groß, schön oder häßlich, kräftig oder schwach, geistreich oder ungebildet ist, das hat grundsätzlich keinerlei Auswirkungen mehr auf den Produktions- bzw. Zirkulationsprozeß, auch wenn er ihn zumindest in der Anfangszeit (und z. T . bis heute, wo Figuren wie die Thyssen-Erben in Argentinien oder die Brüder Sachs allerdings längst zur Tagesordnung gehören 470 ) noch selbst steuert: „Als bewußter Träger dieser Bewegung [des Kapitals] wird der Geldbesitzer Kapitalist.", stellt Marx fest: „Seine Person, o d e r v i e l m e h r s e i n e T a s c h e , ist der Ausgangspunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. Der objektive Inhalt jener Zirkulation — die Verwertung des Werts — ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital." 4 7 1 Die Funktion des Kapitalisten, „mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital", als Individualität aber für den Produktionsprozeß völlig gleichgültig zu sein, oder anders ausgedrückt: in seiner individuellen Erscheinungsform (jung — alt; schön — häßlich; mutig — feige) seine g e s e l l s c h a f t l i c h e F u n k t i o n nicht mehr erkennbar bzw. ablesbar machen zu können, stellt die Apologeten des Kapitals (aber auch diejenigen, die — als Gegner des Kapitals — den Kapitalisten literarisch bzw. künstlerisch gestalten) vor erhebliche Schwierigkeiten: „Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht, das, wie der geistreiche Lichnowski sagt, keinen Datum nicht hat. Nur soweit steckt seine eigne transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Aber soweit sind auch nicht Gebrauchswert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung sein treibendes Motiv. Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen . . . Nur als Personifikation des Kapitals ist der Kapitalist respektabel. Als solche teilt er mit dem Schatzbildner den absoluten Bereicherungstrieb. Was aber bei diesem als individuelle Manie erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist. Außerdem macht die Entwicklung der kapitalistischen Produktion eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unterneh157

men angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf." 4 7 2 * Daß sich im Verlauf der weiteren Entwicklung eine Veränderung im Verhältnis der Einstellung des Kapitalisten zum akkumulierten Kapital einstellt, er aufhören wird, „bloße Inkarnation der Kapitals zu sein," 473 d. h. daß er fortfährt, a u c h Inkarnation des Kapitals zu sein, dazu allerdings mit neuen Qualitäten versehen, was seinen Niederschlag vor allem im Verhältnis von Kapitalist zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit finden wird („Der Luxus geht in die Repräsentationskosten des Kapitals ein." 474 ), kann nicht übersehen werden. E s ändert aber nichts an dem Tatbestand, daß der Kapitalist als Kapitalist in der Selbstdarstellung bzw. in der Darstellung durch seine Apologeten immer weniger Wert darauf legen wird, als Abenteurer vorgestellt zu werden (wo dies wie z. B. bei Spengler u. a. geschieht — da entspricht dies der jeweiligen geschichtlichen Klassenkampfsituation, eine Entwicklung, die wir zu analysieren haben werden.). Aus dem nach außen hin bewußt als Abenteurer Erscheinenden, dem wagemutigen, Risiken suchenden und jedem Risiko trotzenden Unternehmer, wird nach und nach in der apologetischen Darstellung der Abenteuer erleidende, nämlich R i s i k e n ausgesetzte, um das Gemeinwohl besorgte, um Ordnungsstiftung bemühte Unternehmer (dies heute die gängige Präsentation). Diese Verschiebung in der (Selbst-) Darstellung des Kapitalisten vom Abenteurer zum ordnungsliebenden, staatserhaltenden (gefährdeten, ja verfolgten) Unternehmer ist nur möglich, weil sich in seiner individuellen Erscheinung nicht offenbart, daß er es ist, der alle Abenteuer und alle Abenteurer in Bewegung setzt, bezahlt (um Profit zu machen), daß er es ist, der das „anarchische System der Konkurrenz" 4 7 5 , die „Anarchie und Katastrophen der kapitalistischen Produktion" 476 und damit die Anarchie im kapitalistischen System ganz allgemein trägt. Als „mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapitel" fungiert er so, wie „die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise" ihm von der Konkurrenz,, als äußere Zwangsgesetze" „aufgeherrscht" sind: er aber, als Individualität nicht sichtbar, macht sich die Finger nicht mehr schmutzig.

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Die Kehrseite der kapitalistischen Anarchie Zwei Faktoren ermöglichen es dem Kapitalisten u. a., als Ordnungsgarant aufzutreten: die Tatsache, daß man dem Kapitalistenindividuum nicht ansehen kann, daß es als personifiziertes Kapital Finanzier und Organisator der „Anarchie und Katastrophen der kapitalistischen Produktion" und damit der gesellschaftlichen Anarchie insgesamt ist, sowie seine Funktion als Finanzier und Kontrolleur der größten Unterjochungsmaschinerie der Weltgeschichte, in deren Inneren die strengste hierarchische Ordnung herrscht: der kapitalistischen Produktion. Ursprünglich, sagt Marx, „erschien . . . das Kommando des Kapitals über die Arbeit nur als formelle Folge davon, daß der Arbeiter statt für sich, für den Kapitalisten und daher unter dem Kapitalisten arbeitet. Mit der Kooperation vieler Lohnarbeiter entwickelt sich das Kommando des Kapitals zum Erheischnis für die Ausführung des Arbeitsprozesses selbst, zu einer wirklichen Produktionsbedingung. Der Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld wird jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld. Alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf größrem Maßstab, bedarf mehr oder minder einer Direktion . . . Diese Funktion der Leitung, Überwachung und Vermittlung, wird zur Funktion des Kapitals, sobald die ihm untergeordnete Arbeit kooperativ wird. Als spezifische Funktion des Kapitals erhält die Funktion der Leitung spezifische Charaktermerkmale." 477 Je größer die Massen der zur Ausbeutung unterworfenen Arbeiter werden, desto größer wird der Antagonismus „zwischen dem Ausbeuter und dem Rohmaterial seiner Ausbeutung" 478 , den Arbeitern: „Die Kooperation der Lohnarbeiter i s t . . . bloße Wirkung des Kapitals, das sie gleichzeitig anwendet. Der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtkörper liegen außer ihnen, im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft." 479 * Das heißt: die kapitalistische Produktionsweise bringt zusammen mit dem homo novus, dem Kapitalisten, seinen „Schatten" (Engels), den Lohnarbeiter, den Proletarier hervor, und zwar mit wachsender Produktion wachsend massenweise, und dieses Arbeitsheer wird unter die „despotische Form" der kapitalistischen 159

Produktion gezwungen. Der Proletarier betritt seinerseits die Bühne der Weltgeschichte von Anfang an als diesem „Despotismus" unterworfen, als Ein- und Untergeordneter, Befehligter, Ausgebeuteter: als G e g e n b i l d des Abenteurers, und — in seiner Gestalt als revolutionäres Element, Klasse, die berufen ist, die gesellschaftliche Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise zu beseitigen bzw. aufzuheben, deren materieller Produzent er gleichzeitig ist — als A n t i - A b e n t e u r e r . Seine Tätigkeit ist ihm vorgeschrieben, jeder Handgriff verordnet, die Lebenszeit einem genauen Zeitplan unterworfen, ja sein Leben selbst zum größten Teil in streng geregelte Arbeitszeit verwandelt. Ihm fehlt alles, was den adventurer zum adventurer macht: die Möglichkeit, aus freiem Entschluß fortzuziehen und zurückzukehren, Wagnisse in der Ferne zu suchen; sein Aktionsradius ist der Gang von der Wohnung zur Fabrik und von der Fabrik zur Wohnung (jede Vergrößerung seines Aktionsradius muß er sich erst später als organisierte Arbeiterklasse erkämpfen: mehr Freizeit, dann Urlaub, ja das Recht, überhaupt zu reisen, usw.). Seine einzige Freiheit besteht darin, seine Arbeitskraft zu verkaufen, sofern er für sie Abnehmer findet. D a r f der Kapitalist als Kapitalist (aus ökonomischen und politischen Gründen) nicht länger als Abenteurer, als adventurer auftreten (und tut er dies auch nicht), so k a n n der Arbeiter als Arbeiter nicht Abenteurer sein (er hörte denn auf, als Arbeiter zu existieren). Versucht er es freiwillig oder gezwungen, so verkommt er zum Lumpenproletarier, zum Dieb bzw. er wird (wie im England der Zwangsexpropriation) als solcher behandelt. 480 * Seine Existenz als Lohnarbeiter des Kapitals reicht von der Scylla Proletarierexistenz bis zur Charybdis Arbeitslosigkeit. Die Sprengung dieses sozialen circulus vitiosus, die Befreiung aus diesem „Despotismus", der ihn beherrscht, kann der Arbeiter als Arbeiter nicht in einer (unmöglichen oder erträumten) Verwandlung in einen Abenteurer finden. Sie liegt — wie er zu dieser Zeit noch nicht erkennen kann — woanders als im Abenteurertum (obwohl man ihn dies später, heute massenweise, glauben machen will): „Es ist die treibende Kraft der gesellschaftlichen Anarchie der Produktion, die die große Mehrzahl der Menschen mehr und mehr in Proletarier verwandelt, und es sind wieder die Proletarier, die schließlich der Produktionsanarchie ein Ende machen werden." 481 * Für die Kritik der modernen Abenteuer-Ideologie (vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts) ist der zuvor in bezug auf den Ka160

pitalisten und den Proletarier vermerkte Tatbestand die Voraussetzung, was nicht zuletzt für besonders zynische Varianten gilt, in denen z. B. von Arbeitslosigkeit als besonders günstiger Voraussetzung dafür gesprochen wird, daß der Lohnarbeiter die Enge seines Daseins zur Suche nach Abenteuern durchbricht. Noch freilich existiert das Massenheer der Proletarier nur in ersten und allerersten Formationen. Es koexistiert mit der großen Masse der feudalen Leibeignen und den handwerklichen Kleinstproduzenten, bevor noch die kapitalistische Produktion sie alle hineinzwingt in die versklavende, materielle Produktion der „sozialen Produktionsanarchie" : „Das Hauptwerkzeug . . . womit die kapitalistische Produktionsweise diese Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion steigerte, war das gerade Gegenteil der Anarchie: die steigende Organisation der Produktion als gesellschaftlicher in jedem einzelnen Produktionsetablissement. Mit diesem Hebel machte sie der alten friedlichen Stabilität ein Ende. Wo sie in einem Industriezweig eingeführt wurde, litt sie keine ältere Methode des Betriebes neben sich . . . Das Arbeitsfeld wurde ein Kampfplatz. Die großen geographischen Entdeckungen und die ihnen folgenden Kolonisierungen vervielfältigten das Absatzgebiet und beschleunigten die Verwandlung des Handwerks in die Manufaktur. Nicht nur brach der Kampf aus zwischen den einzelnen Lokalproduzenten; die lokalen Kämpfe wuchsen ihrerseits an zu nationalen, den Handelskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die große Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarkts haben den Kampf universell gemacht. . . Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung reproduziert sich als G e g e n s a t z z w i s c h e n der O r g a n i s a t i o n der P r o d u k t i o n in d e r e i n z e l n e n F a b r i k u n d d e r A n a r c h i e d e r P r o d u k t i o n in d e r g a n z e n G e s e l l s c h a f t . " 4 8 2 In der Dialektik dieses Prozesses liegt der Schlüssel dafür, daß der Kapitalist seine Abenteurerhaut abstreifen, seine anarchische Funktion als personifiziertes, gesichtsloses Kapital zur Ausführung auf seine Agenten, seine Angestellten übertragen kann, was er von der Produktionsweise her auch tun muß. Dabei ist ein historischer Wandel zu beachten, der der Entwicklung der kapitalistischen Produktion und der aus ihr resultierenden Arbeitsteilung entspricht. Lage in der Anfangsphase Durchführung des Adventure-Geschäftes, Beaufsichtigung der an ihm arbeitend beteiligten Personen, Transport und Geschäftsabschluß noch in der Hand 11

Neriich, Kritik

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eines dazu beauftragten patron, der sich oft selbst noch adventurer nannte, eines als Manager, Aufseher, und Vertreter mit Prokura fungierenden Kapitäns z. B., so zersplittert sich nach und nach diese Funktion und wird entsprechend der immer spezialisiertere Arbeitsteilung nötig machenden Produktionsentwicklung auf verschiedene Personen verteilt. Der Bogen reicht vom Manager bis hin zum Vertreter, der von Haus zu Haus zieht und die Ware eines Konzerns anbietet (ein Beruf übrigens, für den mit allen nur denkbaren Klischees aus der Abenteuer-Ideologie geworben wird). Aus dem ursprünglichen Adventurer-Angestellten wird so nach und nach der spezialisierte „kommerzielle Lohnarbeiter", der im übrigen eine ganz spezielle Erbschaft übernimmt: die äußeren Erscheinungsformen des weiland genossenschaftlichen adventurers und die des ständischen Kleinkaufmanns, und zwar a r b e i t s t e i l i g . Der mit Prokura versehene Manager muß „Entschlußfreudigkeit" und „Risikobereitschaft" zeigen (obwohl er bei zu viel „Entschlußfreudigkeit" bzw. „Risikobereitschaft" natürlich entlassen wird); der Vertreter im Außendienst muß gut aussehen, jung sein (Entlassungen aus Altersgründen sind die Regel, wobei übrigens vierzig Jahre u. ä. sehr oft bereits die Altersgrenze sind, die nicht überschritten werden darf); er, wie auch der Büroangestellte oder die (gut aussehende) Sekretärin müssen Fremdsprachen beherrschen usw. 483 . Alle zusammen müssen sie natürlich sauber angezogen sein, sich höflich benehmen, erhaltene Befehle ohne Widerrede ausführen usw.: alle diese Qualitäten übernimmt der kommerzielle Lohnarbeiter — wie gesagt arbeitsteilig — als Erbschaft aus den Verhaltens- und Erscheinungsvorschriften der genossenschaftlich-ständischen Kaufleute, so wie sie uns in den verschiedensten Handbüchern der Epoche bzw. in den Zunftvorschriften begegnen. Alle diese Qualitäten, die für den kommerziellen Lohnarbeiter Pflicht, ja sogar die Voraussetzung dafür sind, daß er überhaupt Arbeit findet, sind für die Personifikation des Kapitals, den Kapitalisten — grundsätzlich unwesentlich. Auch diese vorhandenen bzw. nichtvorhandenen bzw. unwesentlichen Qualitäten entsprechen der Dialektik von äußerer Anarchie und innerer hierarchischer Ordnung, die Engels beschreibt: „Während, auf Basis der kapitalistischen Produktion, der Masse der unmittelbaren Produzenten der gesellschaftliche Charakter ihrer Produktion in der Form streng regelnder Autorität und eines als vollständige Hierarchie gegliederten, gesellschaftlichen Mechanismus des Arbeitsprozesses ge162

genübertritt — welche Autorität ihren Träger aber nur als Personifizierung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, nicht wie in früheren Produktionsformen als politischen oder theokratischen Herrschern zukommt —, herrscht unter den Trägern dieser Autorität, den Kapitalisten selbst, die sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten, die vollständigste Anarchie, innerhalb deren der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion sich nur als übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür geltend macht." 484

Von gorgel- und kegelstecbern Noch aber ist die Entwicklung längst nicht so weit gediehen, noch existieren nicht nur echte adventurers neben Handelskapitalisten, die adventurers für sich arbeiten lassen, noch sind auch für die Großkaufleute, die nur langsam ihre riskanten Aktivitäten aufgeben, um als gesichtslose Personifikation des Kapitals zu fungieren, noch sind auch für den Manufakturisten die Geschäfte riskant: noch ist das Risiko über Versicherungen, Bank- und Kreditsystem, Devisenschiebereien und ähnliches nicht in dem gleichen Maße vergesellschaftet wie der Profit privatisiert. Noch nennen sich sogar die frühen Industriellen Abenteurer, 485 weil ihre Geschäfte unsicher sind und sie morgen in der allgemeinen anarchischen Umwälzung wieder verschwunden sein können, verschluckt vom stärkeren Konkurrenten oder vernichtet oder verjagt vom Klassenfeind, vom absolutistischen Adel und seinem Monarchen, (denn das darf über der Allianz zwischen diesen und dem Bürgertum nicht übersehen werden, daß es sich um eine Allianz zwischen Bürgertum und einer Fraktion des klassenantagonistischen Adels gegen eine andere Adelsfraktion handelt, und daß, je mehr diese besiegt oder vernichtet, der Klassenantagonismus wieder schärfer wird und bisweilen zur nackten Unterdrückung des Bürgertums führt). Noch also existiert eine unterdrückende Klasse über den echten adventurers, über dem städtisch-zünftigen Handwerker, aber auch über dem frühen Kapitalisten in seiner dreifachen Gestalt. Die Zeit der Revolutionierung der Produktionsverhältnisse war auch eine Zeit schärfster Klassenkämpfe, und wenn diese Zeit Riesen brauchte, dann auch im Kampf gegen den unterdrückenden Adel. Die Zeit brauchte Riesen und sie zeugte sie, und die Verherrlichung des Unternehmertums, der Aktivität, des Reisens, des Handels, des — 11*

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Abenteuers war bestimmt von dieser Klassenkampfsituation: „Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde." 486 Und im Kampf gegen diese Ordnung war auch die bürgerliche Abenteuer-Verherrlichung wirksam, die bürgerliche, das sei betont, denn die konterrevolutionäre Ritterabenteuer-Ideogie war — vor allem als Import aus Spanien — durchaus virulent. „Wo . . . die ökonomischen Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten, setzte ihnen die politische Ordnung Zunftfesseln und Sonderprivilegien auf jeden Schritt entgegen. Lokalvorrechte, Differentialzölle, Ausnahmegesetze aller Art trafen im Handel nicht nur den Fremden oder den Kolonialbewohner, sondern oft genug auch ganze Kategorien der eignen Staatsangehörigen; zünftige Privilegien lagerten sich überall und immer von neuem der Entwicklung der Manufaktur quer über den Weg. Nirgendwo war die Bahn frei und die Chancen für die bürgerlichen Wettläufer gleich — und doch war dies die erste und immer dringlichere Forderung." 487 Auch innerhalb der bürgerlichen Abenteuer-Verherrlichung, mit der das Bürgertum implizit und explizit gegen das Begrenzte, Bestehende, für den Aufbruch zu neuen, fernen Horizonten plädierte, war dies die erste Forderung. Noch ist auch die bürgerliche Abenteuer-Verherrlichung Vehikel von grundsätzlichen Freiheitspostulaten und damit Waffe im Kampf für die Freiheit des Menschen (oder sie wird es — einmal formuliert — doch sein): „Die Forderung der Befreiung von feudalen Fesseln und der Herstellung der Rechtsgleichheit durch Beseitigung der feudalen Ungleichheiten, sobald sie erst durch den ökonomischen Fortschritt der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt war, mußte bald größere Dimensionen annehmen. Stellte man sie im Interesse der Industrie und des Handels, so mußte man dieselbe Gleichberechtigung fordern für die große Menge der Bauern, die in allen Stufen der Knechtschaft, von der vollen Leibeigenschaft an, den größten Teil ihrer Arbeitszeit unentgeltlich dem gnädigen Feudalherrn darbringen und außerdem noch zahlreiche Abgaben an ihn und den Staat entrichten mußten." 488 Noch — und (mit Ausnahme Englands) grundsätzlich bis hin zur Französischen Revolution von 1789 — liefert die Umwandlung der 164

Produktion von Gebrauchs- in Tauschwerte, die mähliche Ablösung der feudalen durch die kapitalistische Produktionsweise die Grundlage für die freie Entwicklung des Individuums (bei gleichzeitiger Hervorbringung der unfreien, nach dem Sieg der Bourgeoisie unterjochten Arbeiterklasse): „Die universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte.", schreibt Marx in den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie-. „Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert."489 Der Zusammenhang zwischen der „Produktion auf der Basis der Tauschwerte" und der Herausbildung des „universal entwickelten" Individuums war schon im Fortunatas augenfällig: die Kenntnisse und Fertigkeiten, die Fortunatus erwirbt, dienen alle dem Zweck, reich zu werden (als Handelskapitalist), so wie der Reichtum dann dazu dient, seine Neugier zu befriedigen, „land und leüte" kennenzulernen. Die Ausweitung des Handels treibt Fortunatus in die Welt, denn er will reich werden, und seine Aktivität in der (Handels-)Welt zieht die Notwendigkeit nach sich, Fremdsprachen zu erlernen und geographische Kenntnisse, Kenntnisse von Sitten und Gebräuchen verschiedener Nationen zu erwerben (was sich dann sogleich als individuelle Neigung, als individuelles Interesse niederschlägt). Rund ein halbes Jahrhundert vor dem Erscheinen des ersten deutschen (Handels-)Routenhandbuchs, des Kaißbächlin von Jörg Gail (erschienen bezeichnenderweise in Augsburg 1563) schreibt Fortunatus auf seinen Reisen durch Europa alles auf, was ihm bemerkenswert erscheint und was sich bei ihm mit der Vorform einer Kundenkartei verbindet: „ . . . do er allso die länder und künigreich alle durchtzogen, ir sitten vnd gewonhaiten vnd ire gelauben gar eben gesehen vnd gemerckt het, auch selb ein buchlin gemacht, darinne er aller künig vnd hertzogen, graffen, freyen macht vnd auch noch was die gaystlichen fürsten, Bischoff, abbt, prelaten vnd land vnd leütten, dazwischen so er getzogen was, gesehen hatt vnnd was ain yeder vermocht. . ."490 Bereits dem 14. Jahrhundert (und über Marco Polos Beschrei165

bung seiner Reise nach China bereits dem ausgehenden 13. Jahrhundert) war die Verbindung von Reisebeschreibung und (für den Handel) nützlicher Sammlung von geographischen und gesellschaftlichen Kenntnissen durch den berühmten Traktat von Giovanni Pegolotti Practica della mercatura (Handbuch des Handels, 1342) bekannt, dem im 15. Jahrhundert neben Albertis Della Famiglia die Schriften des Giovanni da Uzzano und Bennedetto Cotruglis folgen sollten.491 Ihnen allen haftet jedoch noch nicht diese Unbegrenztheit der Welt und des Individuums an, die Fortunatus bzw. den gleichnamigen Roman charakterisieren. Natürlich zeichnet sich das „universal entwickelte" Individuum in der mächenhaften Gestalt des Fortunatus, aber selbst noch in Gestalt des Raphael Hythlodeus und sogar noch in den Gestalten der Kumpane Pantagruels erst in schwachen Umrissen ab, aber zu Gestalten wie Francis Bacon, der in seiner Grundlegung der modernen Naturwissenschaften, im Novum Organum, London 1620, mit Stolz auf die Universalität seiner Aktivitäten vom Wissenschaftler bis zum Staatsmann verweist („rae videant, hominem inter homines aetatis meae civilibus negotiis occupatissimum" — „man möge doch mich anschauen, den von allen Menschen meines Zeitalters in Staatsgeschäften am meisten Beschäftigten." 492 ), ist die Entwicklung bereits im Fortunatus vorgezeichnet. Was ihn mit Bacon und dem von Marx gemeinten „universal entwickelten" Individuum verbindet, ist die Neugier, der Durst nach Bildung, nach physischer und geistiger Motilität, das Verlangen nach praktisch verwendbaren Kenntnissen, nach der Verbindung von Wissen und Aktivität in der Gesellschaft. Die Zeit ist in der Tat voll solcher Individuen, die Engels „Riesen" nennt, die „vier bis fünf Sprachen" sprechen, die „weite Reisen" machen und die „in mehreren Fächern" glänzen. Und dennoch wird — wie gesagt — auch in dieser Zeit jener Typus Mensch geboren (und bleibt nicht unbemerkt von seinen Zeitgenossen), der sich persönlich aus der „Zeitbewegung" davonstiehlt, der aus dem „praktischen Kampf" verschwindet bzw. diesen den andern überläßt, der sich die Finger nicht verbrennen will, der sich in die gesichtslose Anonymität begibt, und zwar in dem Maße, in dem die Aktivität, die er zunächst selbst betrieb, dann leitete und organisierte, seinen sozialen Aufstieg sichert.493* Nicht überraschend ist es Luther, der bei allem, was Großkaufmann heißt, Unrat wittert: „Wenn eyn kauffman den beuttel vol gellts hat / vnd nicht mehr will mit seynen gutern vber land odder meer eben166

teur stehen," sagt er in dem Traktat Von Kaufshandlung und. Wucher, „sondern gewissen [risikolosen — M. N.] handel habe / so bleybt er ymer ynn eyner grossen kauffstadt / Vnd wo er eynen kauffman weys / der gedrenget wird von seynen leyhern / das er gellt mus haben zu zalen vnd doch nicht hat / sondern noch gute wahr hat / So macht ihener eynen aus von seynen wegen / der dissem die wahr ab keuffen soll / vnd beutt yhm .viij. gülden / do er sonst gerne .x. gillt. Will der selbe nicht / so macht er eynen andern aus / der yhm sechs odder sieben beutt / Das der arm man sorgen mus / die wahre wolle abschlagen / Vnd fro wird / das er die acht nympt / auff das er bahr gellt kriege / vnd nicht allzu grossen schaden vnd schände tragen müsse. Auch geschichts / das solch benottige Kauffleut / selbs solch Tyrannen ansuchen vnd die wahr anbieten / vmb bahr gellt willen / das sie bezalen mugen / So hallten sie denn hart / bis sie die wahr wol feyl genug kriegen / vnd darnach geben / wie sie wollen /. Solche fynantzer heyst man die gorgel Stecher odder kegelstecher / Sind aber für grosse geschickte leute gehallten." 494 Was Luther so erbost, ist zum einen die rücksichtslose Konkurrenz der Kaufleute untereinander, zum anderen aber — und dies eigentlich noch viel mehr — die Tatsache, daß es Kaufleute gibt, die nicht länger in Person ebenteur (Abenteuer) bestehen und darüber hinaus auch jedem Risiko geschäftlicher Art aus dem Weg gehen wollen. Dabei erkennt Luther genau die Motive, die den Kaufmann dazu bewegen, andere Handelsformen als die des persönlichen adventures zu entwickeln: größere Sicherheit und höherer Profit. Der Kaufmann kämpft nicht mehr mit Wegelagerern, Strauihrittern, Piraten oder den Gefahren der Natur, sondern er führt über seine Agenten den Krieg gegen den Konkurrenten. Diesen ruiniert er über Finanzgeschäfte oder er zwingt ihn, nach Auskundschaftung seiner Notlage bzw. mit Bluff, seine Ware unter dem Preis zu verkaufen. Dieser Typus Kaufmann will keine „ebenteur mehr stehen", sondern er finanziert seine Geschäfte, die er von Strohmännern oder Angestellten ausführen läßt, und seine Benennung als „fynantzer" zeigt an, daß die Verbindung von Handels- und Wucherkapital inzwischen geläufig geworden war. Die Kaufleute, vor allem die Handelsschiffer, hatten freilich schon lange zuvor begonnen, ihr Risiko auf das mögliche Minimum zu drücken. Dazu gehörte die Herausbildung der Gilde- bzw. Hanseorganisation, dazu gehörte aber auch der „bargeldlose" Verkehr, das Geldverleihgeschäft in der Form der beschriebenen Wech167

selwirtschaft, das die Unabhängigkeit vom individuellen, mehr oder weniger unkontrollierten Wucherer zum Ziel hatte. Die Entwicklung von „Kreditassoziationen" setzt bereits im „12. und 14. Jahrhundert in Venedig und Genua" ein. Sie „entsprangen aus dem Bedürfnis des Seehandels und des auf denselben gegründeten Großhandels, sich von der Herrschaft des altmodischen Wuchers und den Monopolisierern des Geldhandels zu emanzipieren." 495 Zur gleichen Zeit beginnt das Versicherungswesen sich auszubilden. 496 Mit diesen Maßnahmen Hand in Hand geht die p r a k t i s c h e Sicherung des (See-)Handels, die viele Formen hat: Verbesserung des Kommunikationssystems, Verbesserung und Sicherung der Transportwege (durch Gründung von Filialen, „Nationen"-Niederlassungen, usw.); Verbesserung des Schiffbaus und der militärischen Ausrüstung der Schiffe sowie die Herausbildung des commenda-Systems: der eine Partner investiert Geld oder Ware, der andere übernimmt (bei Anteil am Geschäft über Geld oder Ware oder aber auch ohne Anteil) die Ausführung des Transportes. Der Gewinn wird je nach Anteil des investierten Kapitals der jeweiligen Partner (bzw. des vereinbarten Anteils für Übernahme des physisch-leiblichen Risikos) berechnet und verteilt. 497 Nicht sehr lange danach ist aus dem zunächst gleichberechtigten Gesellschafter, der das Risiko in Person übernahm, aus dem socius, der den Transport im commenda-System besorgt, der Angestellte geworden, der zu diesem Zweck engagierte Transport- bzw. Schifffahrtsspezialist, eine Mischung von Händler, Kapitän und Söldner, der condottiere, von dem bereits kurz im Machiavelli-Kapitel die Rede war, oder der angestellte adventurer usw. Dazu kommt als weiterer Sicherheitsfaktor der Erwerb von Privilegien für die Ausfuhr, den Transport und den Umschlag bestimmter Waren, den sich die verschiedenen nach commenda-System und seinen geschichtlichen Variationen gebildeten Gesellschaften in Form des Handels- und Transportmonopols zu beschaffen suchten. Sie stellten sich bei Abgabe bestimmter Zahlungen unter den Schutz eines Fürsten oder einer Stadt, die ihnen Lande-, Stapel- und Verkaufsrechte oder sogar Monopole gewährten bzw. verkauften, und versuchten so mit Hilfe der staatlichen Obrigkeit den Handelskonkurrenten auszuschalten. Auch die merchant adventurers verfahren nach diesem Prinzip, was Luther ihnen nicht verzeihen kann (genauso wenig wie die Absprache der Profitrate, auf die wir anhand der Darstellung von Engels bereits ein168

gegangen sind): „Dis stuck / höre ich / treyben die Engelender kauffleute am grobesten vnd maysten / wenn sie Englische oder Lundische tucher verkeuffen. Denn man sagt / sie hallten eynen besondern rad zu diesem handel / wie eyn rad ynn eyner stad / Vnd dem rad müssen alle die Engelender gehorchen / die englische odder lundische tucher verkeuffen / bey genanter strafe. Vnd durch solchen rad wird bestympt / wie theur sie yhre tucher geben sollen . . . Der oberste von diesem rad heyst / der Koyrtmeyster / vnd ist nicht viel weniger gehallten denn eyn fürst." 498 Gemeint ist der „courte—maister" oder Governor der Courts der Merchant Adventurers. Er hatte an den Niederlassungen der Adventurers darauf zu achten, daß der „stint" eingehalten und alle sonstigen Vorschriften und Abmachungen innerhalb der Gesellschaft, der fellowship, respektiert wurden bzw. mußte eventuell anfallende Rechtsstreitigkeiten schlichten. 499 Die Festsetzung der Preise unter Ausschaltung (eventuell preissenkender Konkurrenz) durch die genossenschaftlichen Monopolisten, hier die adventurers, gilt für Luther als unerhörte Sünde: „Diese leut sind nicht werd / das sie menschen heyssen / odder vnter leutten wonen / Ja sie sind nicht werd / das man sie unterweisen odder ermanen sollt / Syntemal der neyd vnd geytz so grob / vnuerschampt hie ist / das er auch mit seynem schaden / andern zu schaden bringt / auff das er ia alleyne auff dem platz sey. Recht thet hie welltliche oberkeyt / das sie solchen nemen alles was sie hetten / vnd trieben sie zum lande aus." 500 Dieser letzte Satz (in Verbindung mit Luthers Polemik gegen die Großkaufleute, w e i l sie sich zu Königen machen, also weil sie mittels ihres Geldes soziale Machtpositionen erlangen, die das feudale Gefüge und die Position des Adels gefährden) läßt Müntzers Vorwurf, Luther verschweige mit Absicht den wahren Grund der allgemeinen gesellschaftlichen Misere, den Feudaladel, um diesem zu schmeicheln, 501 nicht unwahrscheinlich erscheinen. Die Begründung, die Luther gibt, ist nämlich wenig überzeugend. Während er gegen die katholische Wuchertheorie polemisiert, die Geldgeschäfte toleriert, wenn sie mit einem gewissen Risiko verbunden sind („Das alles hat so eyn hübschen scheyn . . Z' 502 ), bemüht er gerade in der Verurteilung der Handelsgenossenschaften bzw. der Großkaufleute den Monopolhandel wegen seines Charakters als Risikoschutz: „auff das sie yhres gewynstes gewis bleyben / Wilchs widder die art vnd natur ist / nicht allein der kauffsguter / sondern aller zeytlicher gueter / die Gott will unter die fahr vnd vnsicherheyt haben. Aber 169

sie habens funden vnd troffen / das sie durch ferliche / vnsichere / zeitliche wahr / sichern / gewissen vnd ewigen gewinst treyben. Aber darüber mus gleichwol alle wellt gantz aus gesogen werden / vnd alles gellt ynn yhren schlauch syncken vnd schwemmen." 503 Daß ein Theologe mit theologischen Argumenten expliziter Bejaher des risikohaften Handels und des ebenteurs im Handelskapitalismus fungiert, entspricht ganz der traditionellen Kirchenlogik in Sachen Ökonomie.

Adventure-Lebrlinge und Konkurrent Den seit 1490 zur Führung eines Wappens berechtigten adventurers war es auf Grund entsprechender Parlamentsbeschlüsse 504 gegen Ende des 15. Jahrhunderts möglich, so gut wie jeden englischen Seehändler (mit Ausnahme der staplers, deren RohwollexportPrivileg ausschließlich nach den Niederlanden allerdings keine größere Expansion und damit Bedrohung der adventurers zuließ) 505 in ihre Reihen zu zwingen, wovon sie aus zwei Gründen unter Anführung ihrer Hauptorganisation, der Merchant Adventurers of London auch ausgiebig Gebrauch machten: erstens, nicht jeder Händler konnte die verlangten Aufnahmegebühren bezahlen oder die sonstigen Bedingungen zur Aufnahme in die f e l l o w s h i p erfüllen, wodurch die Zahl der Händler klein bzw. der Gesamtprofit der Genossenschaft groß gehalten wurde; zweitens, das Monopol des Handels konnte befestigt und intensiviert werden: „Indem den Kaufleuten aus anderen Teilen Englands der direkte Handel nach den Niederlanden erschwert wurde," konstatiert van Brakel, „konnten die Londoner sowohl die Tücher in England zu niedrigem Preis einkaufen, wie auch, weil die Konkurrenz in der 'Marte-Towne' teilweise beseitigt wurde, zu höherem Preise verkaufen." 5 0 6 Damit sind grundsätzlich die Voraussetzungen erfüllt, unter denen die merchant adventurers zu der wohl politisch bedeutendsten Fraktion des Bürgertums in England im 16. und z. T. noch im 17. Jahrhundert werden konnten : zu dessen Avantgarde. 1654 erhalten sie durch Elisabeth I. (nur sechs Jahre nach deren Thronbesteigung) den Status eines „body politick", einer staatlichen Körperschaft mit entsprechenden Privilegien, 507 die 1586 noch einmal bestätigt werden. 1572 erhalten sie die erste Einladung der Hansestadt Hamburg, sich dort niederzulassen, was entsprechende unwillige Reaktionen andrer Hansestädte nach sich zog: 1578 wird die Einladung auf Druck 170

Lübecks wieder zurückgezogen. Ab 1611 können sich die adventurers definitiv in Hamburg niederlassen, wo ihr letztes Kontor bis 1805 bestanden hat.»» In der Zwischenzeit haben sie entscheidende Siege über ihre größten Widersacher errungen. Zum einen sind die Stapler dadurch bedeutungslos geworden, daß keine Rohwolle, sondern nur noch Fertigfabrikate als Tuche aus England exportiert werden dürfen, 509 * wofür die adventurers das Monopol besitzen, und zum anderen hat die Krone auf Drängen der adventurers die Handelsprivilegien der Hanse aufgehoben, die 1598 ihre Niederlassung in London, den Stalhof, schließt. Die adventurers sind auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt. Zu wichtigen politischen Ereignissen werden ihre Repräsentanten von der Krone herangezogen: sie sind bei Empfängen von Diplomaten und Fürsten zugegen, 510 Adlige werden Ehrenmitglieder oder sogar aktive Mitglieder der adventurers, 511 sie verbinden sich mit Personen oder Personengruppen, die nach Übersee fahren (Amerika, Ostindien) und erweitern damit ihren Aktionsradius, wozu auch die Ausweitung des Handels über die nord-östliche Fahrroute nach Moskau gehört: 1554/55 wird die Moskauer, 1581 die Levantiner Handelskompanie gegründet. Alle diese Erfolge der adventurers signalisieren jedoch gleichzeitig bereits ihre Auflösung in andere Handelsformen bzw. -Organisationen. Die Beobachtung der geschichtlichen Daten bestätigt auch hier erneut und überzeugend die Analysen des gesamten Prozesses durch Marx und Engels. Die Umwälzung der Produktionsweise in Richtung kapitalistische Produktion mit der aus ihr entspringenden freien Konkurrenz sprengt den genossenschaftlichen Verband, und zwar von innen und von außen. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts haben sich in der Hand verschiedener adventurers genug Kapitalien gebildet, daß sie ihr adventure-Gcschäft nicht mehr in Person durchzuführen brauchen: „Konnte noch im 15. Jahrhundert, wie die Parlamentsakte von 1497 uns lehrt, der fahrende Kaufmann, der zu regelmäßig wiederkehrenden Zeitpunkten mit der ihm von der Fellowship erlaubten Quantität Tücher zu den flämischen Messen zog, um dort in althergebrachter Weise sich einen redlichen Gewinn zu erwerben, als typisch gelten, so wurde seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts der Kommissionshandel die vorherrschende Betriebsweise. Der Kaufmann bleibt zu Hause und dirigiert von dort aus seine Handelsunternehmungen." 512 171

Die fahrenden Kaufleute verschwinden nach und nach aus dem praktischen Handelsverkehr (ein Prozeß, der nicht von heut auf morgen vollzogen ist), und ein neue Typus (Schiffs-)Händler wird geboren: der „Lehrling" (er war es zu Beginn des 17. Jahrhunderts tatsächlich bis zu sieben Jahre lang, aber meist verbarg sich jemand anders unter dem Deckmantel eines „Lehrlings"). War der „Lehrling" zunächst ein potentieller junger Kaufmann (der dies nach genossenschaftlichem Ritus auch geworden wäre), so verbirgt sich mit dem steigenden Verschwinden der Kaufleute aus dem praktischen Warenhandel immer öfter ein Agent bzw. Angestellter des residierenden Kaufmanns hinter dem Titel „Lehrling": „In den Laws and Ordinances treffen wir an . . . Lehrlinge, welche als Faktor oder 'Atturney' auftreten . . . Faktoren trieben Handel für fremde Rechnung, aber ohne den Namen des Auftraggebers zu nennen . . . Häufig findet man aber auch den Ausdruck 'his Masters factor'. . . Atturneys scheinen Prokuristen gewesen zu sein, denen eine formell geschriebene Vollmacht gegeben wurde, welche dem Gouverneur gezeigt werden sollte." 513 An der Funktion dieser „Lehrlinge" läßt sich die auflösende Wirkung der Konkurrenz deutlich ablesen: Mitglied in der fellowship der adventurer konnte nur werden, wer sich einkaufte bzw. alle andren Bedingungen weiter erfüllte. Damit war aber nur formell der Aufstieg zum merchant adventurer möglich. In Wirklichkeit jedoch stiegen nur noch die wenigen auf, die auch (meist durch Erbschaft) ausreichend Kapital in der Hand hatten, und deren Zahl nahm ständig ab. Übrig blieben die reichen „Brüder": „Sowohl in den Laws and Ordinances als in den Records of the Merchant-Adventurers of New Castle finden wir denn auch häufig Bestimmungen, welche den Zweck verfolgen, die anfängliche Gleichheit zwischen den Brüdern zu erhalten, und zu verhindern suchen: 'that the rieh eat out the poor.' Aber offenbar waren diese Versuche vergeblich. Aus dem Jahre 1548 wird uns ja berichtet, daß der ganze Wollenund Tuchhandel zu New Castle in den Händen von zwei oder drei reichen Brüdern konzentriert war." 514 Daß dadurch einer ganzen Reihe von „brethren" die Möglichkeit genommen wurde, selbst in Person oder mittels eines „Lehrlings" Handel zu treiben, liegt auf der Hand: „Während der Handel sich nach und nach in den Händen der reichen Brüder konzentrierte, entstand eine ganze Gruppe von Mitgliedern, die sich nicht mehr auf eigene Rechnung am Handel beteiligten." 515 Diese sogenannten 172

„untrading brethren" verlegten sich nun auf ein anderes, immer noch einträgliches Geschäft. Zwar konnten sie keinen Handel mehr treiben, weil ihnen das dazu nötige Kapital fehlte, aber ihnen stand immer noch als Mitgliedern der adventurers-fellowship nach dem stint of trade das Recht auf eine bestimmte Quote zu exportierender Tuche sowie das Halten eines Lehrlings zu: „Es war nämlich verboten, mehr als einen Lehrling zu gleicher Zeit zu halten: gestattet war aber, daß Lehrlinge von einem zum anderen Meister übergingen. Diese Bestimmung benützend, nahmen nun die 'untrading brethren' Lehrlinge an, bloß um sie später in den Dienst der reichen Kaufleute, die ein größeres Personal bedurften, übergehen zu lassen." 516 Daß dies Gelegenheit für allerhand Scheingeschäfte bot, bei denen mehr oder weniger offen die Stoffquoten auch direkt abgetreten wurden, liegt auf der Hand. 517 Auch kleinere Einlagemöglichkeiten in a d v e n t u r e s waren für die „untrading brethren" gegeben (als eine Vorform der Aktieneinlage). Wie auch immer: den sich herausbildenden großen Kapitalisten waren alle diese Umwege natürlich lästig. Die großen Kapitalisten setzten denn auch alles daran, die Vorschriften der fellowship mit mehr oder weniger lauteren Mitteln zu umgehen. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert dafür der reichste adventurer der Nation, Sir Thomas Gresham (1519—1579), der schon früh im Dienst der Krone stand und von Elisabeth I. sowohl den Titel eines „königlichen Kaufmanns" als auch den eines Ritters (knight) erhielt (1559). Gresham, der 1566 die Londoner Börse gründete, trat nach außen und aus repräsentativen Gründen durchaus für die Respektierung der genossenschaftlichen Vorschriften ein, spielte aber unter der Hand nachweislich den König zu seinen Gunsten gegen die adventurer-Konkurrenz, also gegen die eigene Genossenschaft aus. 518 Der Grund dafür: während der große Fernkaufmann mehr oder weniger rücksichtslos jeden Trick anwandte, um im Innern der fellowship die Konkurrenten zu besiegen, benutzte er nach außen die Genossenschaft, weil sie Privilegien besaß und eifersüchtig hütete. Mit ihrer Hilfe bekämpft der große Fernkaufmann — die fellowship in ein Instrument für seine eigenen individuellen Interessen verwandelnd — die ausländische Konkurrenz (bzw. die inländische außergenossenschaftliche), solange diese Art von Privilegienschutz (genossenschaftlicher Monopolhandel) noch wirksam war. Zu den ausländischen, aber auch inländischen Konkurrenten 173

gehörten die sogenannten interlopers, Schiffshändler, die keiner Korporation angehörten. Ihr Entstehen ist nur erklärbar aus dem zuvor beschriebenen Prozeß der Zentralisation des Kapitals in -wenigen Händen und der Herausbildung des Angestelltenheeres, das sich u. a. nach und nach in den Handelsstädten ansiedelte, in denen zuvor die adventurers anläßlich ihrer Geschäfte persönlich auftraten und ihre Niederlassungen mit eigener Rechtssprechung (die „courts") hatten. Jetzt aber traten die „Lehrlinge" auf den Plan und bildeten Kolonien: „Diese Kolonien bestanden in erster Linie aus den Lehrlingen, die 'on this side of the seas' den größten Teil ihrer Lehrjahre verbrachten, die Geschäfte des Meisters hier verwalteten und zu gleicher Zeit den Handel erlernten. Daneben entstand aber eine große Gruppe Mitglieder, welche von den Niederlanden aus auf eigene Rechnung mit ihrem Mutterlande handelten oder als Faktoren die Geschäfte der in England zurückgebliebenen Brüder verwalteten. Auch die Rechtsstellung mußte sich dementsprechend ändern. Für eine Gruppe Kaufleute, welche sich nur vorübergehend im Auslande aufhielten und nach ihren eignen Grundsätzen Handel trieben, war der Genuß des heimischen Rechtes geradezu eine Notwendigkeit. Dies war aber nicht mehr der Fall, nachdem anstatt dieser kommenden und gehenden Scharen sich Kolonien von auf längere Zeit angesiedelten Leuten gebildet hatten, die durch den täglichen Umgang, durch tägliche Geschäfte und Heiraten dauernd mit den Eingeborenen verbunden waren, ja sich mit ihnen zu vermischen anfingen." 5X9 Daß diese Entwicklung die adventurers in England verdrießen mußte, die sich nur langsam diesen Veränderungen anpaßten, kann nicht überraschen. Wenn sie sich überhaupt anpaßten, dann wiederum nur — aus Geschäftssinn, denn die „Lehrlings"-Frage unter Einschluß der Koloniebildung und der partiellen Verselbständigung war nur Ausdruck der allgemeinen Umwälzung der Produktionsverhältnisse. Aus dem beschriebenen Vorgang lassen sich nämlich auch die Gründe für eine weitere entscheidende Veränderung ableiten, die notwendigerweise das genossenschaftliche System sprengen half, wobei sich die schwindende Notwendigkeit eigener Rechtshoheit in den „Lehrlings"Kolonien mit dem wohl entscheidenderen wachsenden Bedürfnis nach jeweiligem Übergreifen nationalstaatlicher Rechtssprechung über das partikulare, autonome Rechtssystem der einzelnen Kolonien verband. Mit der Intensivierung des internationalen Handelsverkehrs ging auch ein Abbau lokaler fürstlicher oder städtischer 174

Justizwillkür notwendigerweise einher, was die jeweilige partikulare Rechtshoheit der Handelsgesellschaften überflüssig machte. Mit anderen Worten: der jeweilige Fürst bzw. die jeweilige Stadt hatte ein zunehmendes Interesse daran, fremde Kaufleute nicht länger abzuschrecken. Darüber hinaus begannen sie, aus eben denselben Gründen (Intensivierung des Handels, Ausnützen der Konkurrenz — auch beim Kauf von Waren —, Stärkung des eigenen Handels bzw. Aufbau einer eigenen Handelsmarine) traditionelle Privilegien ausländischer Handelsorganisationen auf eigenem Boden, wo immer dies möglich war, zu beseitigen. Bot z. B. ein interloper, ein unabhängiger Händler seine Ware preiswerter an als eine Handelskompanie, z. B. die adventurers, so kaufte der Fürst bzw. die Stadt jetzt bei diesem (woraus sich dann auch die Rechtfertigung der eignen interlopers gegenüber den ausländischen Kompanien ableiten ließ), und sie machten so an der Konkurrenz zwischen den interlopers und den Kompanien ihren Schnitt. Die interlopers „brauchten sich nicht an die schwerfällige Betriebsweise der Merchant-Adventurers zu halten und konnten die modernen Handelsgewohnheiten, welche sich an.der Amsterdamer Börse zu bilden anfingen, annehmen. Dieser Vorgang ist bezeichnend für die Änderung der Umstände. Nicht mehr war für die Engländer der Genuß der Privilegien und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft der Merchant-Adventurers die notwendige Voraussetzung, um an dem Handel mit den Niederlanden teilzunehmen. Auch ohne Privileg war der Kaufmann gegen Unrecht und Gewalt gesichert, und viele Häfen standen den Interlopern offen. Die Beteiligung der Interloper an dem Tuchhandel war denn auch nicht mehr zu beseitigen." 520 Die adventurers reagierten nach vergeblichen Versuchen, die interlopers zu verdrängen, in zweifacher Hinsicht: sie versuchten, die Zahl ihrer Mitglieder nach Möglichkeit klein zu halten, damit die immer noch bestehenden Privilegien sich nur auf wenige verteilen konnten. Das war sozusagen die konservative Art der Reaktion: die merchant adventurers zogen „sich zurück in der stolzen Bewußtheit ihrer Superiorität als Mitglieder der alten Bruderschaft und begnügten sich mit einem verächtlichen, sei es auch etwas verdrießlichen Herabsehen auf die Emporkömmlinge, die ohne Privilegien und ohne Stint of Trade so gute Geschäfte machten". 521 Die fortschrittliche Art, auf die unliebsame Konkurrenz zu reagieren, bestand allerdings darin, diese Konkurrenten für sich arbeiten zu lassen und damit selber das nicht-mehr-genossenschaftlich gebun175

dene, freie Unternehmertum zu praktizieren und die adventurerOrganisation noch weiter auszuhöhlen: „Auch den Interlopern ließen sie," nämlich die „untrading brethren" (z. T. zugunsten der reichen adventurers), wie van Brakel ausführt, „den Genuß der Rechte der Gesellschaft zuteil werden, indem sie die Interloper nominell als ihre Lehrlinge annahmen und ihnen gestatteten, auf eigene Rechnung Handel zu treiben. Sehr verbreitet scheint der Mißbrauch gewesen zu sein, daß Merchant-Adventurers Interlopern gestatteten, auf ihren (der Mitglieder) Namen Güter zu versenden und dadurch von den den Mitgliedern zustehenden Zollvergünstigungen zu profitieren." 522

Mercbant Adventurers und

"Entdecker-Abenteurer

Die Entwicklung der Adventurer-Genossenschaft ist gekennzeichnet von dem Kampf zwischen den genannten neuen Elementen und den konservativen und konservierenden alten: „Für die Verhältnisse, wie sie sich unter dem Einfluß der neuen Betriebsweise entwickelt hatten, war das Kleid nicht mehr passend. Insbesondere entstand die Gefahr, daß in den General-Courts, welche nach wie vor auf dem Kontinente abgehalten wurden und noch immer als das höchste Organ der Gesellschaft galten, nicht die Londoner Großhändler, sondern die in den Niederlanden ansässigen Brüder die Mehrheit bildeten. Denn nicht nur die vollberechtigten Brüder durften in diesen Courts eine Stimme abgeben, auch den Lehrlingen, welche Faktor oder 'Atturney' waren, stand dies Recht zu. Daß die Londoner Kaufleute, die von alters her gewöhnt waren, in der Gesellschaft die erste Rolle zu spielen, dies nicht ohne weiteres geschehen ließen, ist begreiflich. Da sie auch beim Hofe durch ihren Reichtum einflußreich waren, gelang es ihnen vielfach, ihren Ansichten zum Sieg zu verhelfen." 523 Diese Beobachtung van Brakels ist überaus wichtig, denn fassen wir die zuvor dargestellte Entwicklung nicht in ihrer geschichtlichen Prozeßhaftigkeit, dann übersehen wir, daß die adventurers noch bis mindestens zum Ausbruch der Revolution von 1642 bis 1648 wenn nicht die, so doch eine der führenden ökonomischen und politischen Kräfte gewesen sind, was uns wiederum hindert, bestimmte Erscheinungsformen der Abenteuer-Verherrlichung zu verstehen. 524 * Daß diese traditionsgemäß der politisch-sozialen Abgren176

zung gegenüber dem Kleinhändler und den mit diesem verbundenen niedrigen Schichten des Bürgertums dient, ist die eine Seite, die Thomas Wilson 1572 in seinem Traktat A Discourse upon Usury zum Ausdruck bringt: „ . . . touchynge retaylers at home . . . I place them in a lower degree, as not worthy the name of merchaunts . . . Whereas the merchant adventurer is and maye be taken for a lordes fellow in dignitie, aswell for hys hardye adventurynge upon the seas, to carrye out our plentye, as for his royall and noble whole sales, that he makes to dyvers men upon hys retourne, when he bryngeth in our want." 5 2 5 Deswegen müsse der merchaunt adventurer hoch geehrt („highly chearyshed") werden. Eine andere Quelle für die sich herausbildende moderne Abenteuer-Verherrlichung ist das kaufmännische Übersee- und Entdeckungsabenteuer, mit dem sich die kleine genossenschaftliche adventure des englischen Seehändlers binnen kürzester Zeit verbindet und das doch notwendigerweise ebenfalls auf die Auflösung des alten Adventurer-Verbandes bzw. der diesem entsprechenden Handelsform hin wirken mußte. Ein Dokument, das uns die Dimensionen deutlich macht, in denen zuvor gehandelt und gedacht wurde, und die ihrerseits veranschaulichen, welche Sprengkraft die Entdeckung neuer Handelswege nach Ostindien bzw. nach Amerika im Hinblick auf Aktivitäten und Weltbild der a d v e n t u r e r s haben mußte, ist das anonyme Libel of English Policie aus dem Jahre 1436, in dem die Bedeutung des Handels insgesamt, die Notwendigkeit des Schutzes des englischen Seehandels, der englischen Schiffahrt und der Küsten des Landes im speziellen dargelegt werden. Am Ende der Übersicht über die verschiedenen Länder und ihren jeweiligen Warenhandel sagt der Verfasser: Und nun bin ich am Schluß mit all den waren Um die es not tut unsre see zu wahren. Sie zieht gen ost, west, nord und süd sich her; Am schärfsten aber wahrt das enge meer Zwischen Calais und Dover, dergestalt, Daß feinde nie durchdringen mit gewalt, Daß sie sich fügen unserm machtgebot, Von unsern küsten und Calais bedroht. 526 Diese enge Welt gerät natürlich mit den großen überseeischen Entdeckungen aus den Fugen, was wiederum Auswirkungen auf die fellowship der adventurers hat. Einer der ersten großen Entdecker12

Neriich, Kritik

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Abenteurer Englands ist — ein Italiener, der durchaus als Vorbild für die Märchengestalt des jungen Fortunatus gedient haben könnte. So wie Fortunatus aus Cypern nach London, kommt 1477 Giovanni Caboto (1425—1498) aus Genua nach Bristol in England, wo er bis an sein Lebensende bleiben wird. Als John Cabot geht er in die Ahnenreihe der großen Entdecker ein. Schon 1490 versucht er, einen neuen Seehandelsweg nach China zu finden, und 1496 bricht er, ausgestattet mit einem Patent des englischen Königs für das Handelsmonopol mit allen Ländern, die er entdecken wird, nach Westen auf. Seine Reisen führen ihn u. a. von Labrador bis Florida. Sein Sohn Sebastiano (geboren 1472 in Venedig, gestorben 1557 in London) setzt mit zwei kurzen Unterbrechungen, während derer ihn der spanische König als „Pilot" beruft, die Entdeckungsfahrten seines Vaters fort, wobei er sich u. a. mit den adventurers verbindet. Zwar gingen diese bisweilen nur sehr zögernd auf Angebote zur Zusammenarbeit mit den Übersee-Entdeckern bzw. Abenteurern ein, 527 doch grundsätzlich bestand diese Verbindung (in sich entfaltenden Dimensionen) von allem Anfang an, ja, z. T. waren die Übersee-Fahrer ursprünglich selbst adventurers, wie z. B. der Londoner Kaufmann Robert Thorne, der, seine Unternehmungen ideologisierend, 1527 schreibt: „. . . ich hatte immer und habe noch heute ein nicht geringes Interesse an diesem Geschäft.. . Ich vermute, daß ich, so wie manche Krankheiten erblich sind und vom Vater auf den Sohn übergehen, dies Streben oder Verlangen nach Entdeckungen von meinem Vater geerbt habe, der zusammen mit einem anderen Kaufmann aus Bristow namens Hugh Eliot Neufundland entdeckte." 528 Sein Hang zum Ideologisieren hindert ihn jedoch keineswegs, in anderen Dingen eher einen realistischen Blick zu haben, so wenn er feststellt, daß Karl V. von Spanien „in jede Expeditions-Flotte eine gewisse Geldsumme investierte, an deren Erträgnis er Pfund um Pfund verdient, so wie es andre adventurers auch tun." 5 2 9 Im gleichen Jahr 1527 richtet derselbe Robert Thorne einen Aufruf an Heinrich VIII. von England, es dem spanischen Kaiser und dem König von Portugal nachzutun: „Die Erfahrung beweist, daß alle Fürsten naturgemäß danach streben, ihre Herrschaftsbereiche und Königreiche auszudehnen und zu vergrößern." 5 3 0 Würde ein Fürst also nicht wie alle andren dieser Epoche entsprechende Aktivitäten entwickeln, dann müßte das Volk für gewiß halten, es mangle ihm an „noble courage". Diese aber besäße Heinrich VIII., und es wäre 178

ein Jammer, würde er sich an diesem einträglichen Geschäft nicht beteiligen. Da aber Portugal und Spanien in östlicher und westlicher Richtung schon das weite Land entdeckt und in Besitz genommen hätten, böte sich für England vor allem die Entdeckung fremder Länder im Norden bzw. eines nördlichen Seewegs zu den „tartarischen" Ländern und nach China an: „Ihre Untertanen," ruft er Heinrich VIII. zu, „brauchten nicht mehr die Hälfte des Weges, den die andren zurücklegen müssen, zu bewältigen . . Z'531 Die Beteiligung der Krone an derartigen Unternehmungen war deshalb unerläßlich, weil die Kaufleute, die die Reisen unternahmen, entdecktes Land nur dann ausbeuten konnten, wenn der jeweilige Monarch bzw. Fürst es als erobertes Land in Besitz nahm, bevor die nationalstaatliche Konkurrenz es ihm und damit seinen handelsfreudigen Untertanen wegnahm. Andererseits war auch die Beteiligung von anderen Kaufleuten, hier der merchant adventurers nötig, damit das notwendige Kapital für ein solches Unternehmen zusammengebracht werden konnte. Für den Plan des Robert Thorne ist 1553 die entscheidende Stunde herangerückt: Sebastian Cabot erhält den Auftrag, eine derartige Expedition durch das Polarmeer von der Mysterie and Companie of the Marchants adventurers for the discoverie of Regions, Dominions, Islands and places unknown, deren governor er ist, finanzieren und durchführen zu lassen, eine Aufgabe, die den ursprünglichen Aktivitäten der adventurers nahezu diametral entgegengesetzt ist. In den Ordinances, Instructions, and advertisements für diese Reise, die erhebliche Opfer an Menschenleben fordern sollte, heißt es, daß angesichts der drohenden Gefahren im nördlichen Eismeer alle die „schwankenden Geister und zweifelnden Köpfe" („wavering minds, and doubtful heads") sich aus dieser adventure zurückziehen sollten,532 womit sowohl das Entdeckungsabenteuer mit seinen Risiken als auch das (riskante) Geschäft gemeint ist. Aufgebracht wird das Geld durch eine Subventionskampagne, durch Gelder der a d v e n t u r e r s und zu einem (kleinen) Teil durch Einlagen der Krone. Der nordöstliche Weg nach Rußland wird gefunden, und zwei Jahre später gründen die m e r c h a n t a d v e n t u r e r s eine Kompanie in Moskau, deren Geschichte u. a. später von John Milton geschrieben werden sollte.533 Ihr erster governor ist niemand anders als Sebastian Cabot. Unter seinen vierundzwanzig assistants (die London natürlich nicht verlassen haben) sind die größten und reichsten — natürlich seßhaften — adventurers: Thomas Gresham, Andrew Judde, usw. In der Charta der Gesellschaft wird 12»

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denn auch die Hoffnung ausgesprochen, daß das Unternehmen bzw. die Gründung der Kompanie eine „profitable adventure" 5 3 4 würde. Für unsere Arbeit wichtiger: die Gründung der AdventurerEntdeckungsgesellschaft wird von einem Stellvertreter des Königs, der sich — wie gesagt — ebenfalls als adventurer beteiligte, begrüßt, von „Master Henry Sidney, a noble young Gentleman", der u. a. erklärt, daß das Kapital der adventurers zwar nötig sei, der Ruhm aber dem die Expedition ausführenden adventurer gehöre: „Wir setzen ein wenig Geld auf das Glück und den Zufall der Fortuna, er aber riskiert sein Leben (das dem Menschen teuerste aller Dinge) auf der wilden See und in der Ungewißheit vieler Gefahren. Wir werden hier leben und ruhig mit unseren Freunden und Bekannten zu Hause bleiben, während er, der sich damit abmüht, die ungebildeten und widerspenstigen Matrosen zu guter Ordnung und Gehorsam zu bewegen, in wievielen Sorgen sich plagen und quälen wird . . . Wir werden unsere eignen Küsten und unser eignes Land bewachen, er wird fremde und unbekannte Königreiche suchen. Er wird seine Sicherheit bei barbarischen und wilden Völkern aufs Spiel setzen und sein Leben zwischen den monsterhaften und schrecklichen Meerestieren riskieren. Deshalb müssen Sie (die merchant adventurers — M. N.) diesen Mann, der von ihnen Abschied nimmt, wegen der Größe der Gefahren und der Vorzüglichkeit seiner Aufgabe lieben und ehren, und falls es so glücklich endet, daß er wieder zurückkehrt, so ist es Ihre Aufgabe und Pflicht, ihn großzügig zu belohnen." 5 3 5 Dieser Passus ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: erstens wird die Verbindung von Krone, merchant adventurers und Entdecker- bzw. Eroberer-Abenteurern als Selbstverständlichkeit behandelt; zweitens wird mit dem Blick auf die „barbarischen und wilden Völker" deren Unterjochung und Ausbeutung a priori gerechtfertigt; drittens wird die aktive Tätigkeit des Seereisens, Entdeckens, Unterjochen und Ausbeutens als mannhaft-mutige und patriotische Tat geadelt. Damit ist sozusagen die koloniale Ausbeutungspolitik mit königlichem Segen versehen und eventuellen moralischen Bedenken entzogen. Den merchant adventurers öffnet sich damit ökonomisch und politisch ein neues Aktionsfeld: in der Verbindung mit der absolutistischen Macht- und Eroberungspolitik sprengen sie auch in dieser Richtung die ständische Beschränktheit ihrer Aktivitäten, wobei sie die Genugtuung haben, Männer ihrer eignen Herkunft auf Grund ihrer Geschäfte, ihrer Taten und ihres 180

Reichtums bis in den Adelsrang und in die allerhöchsten staatlichen Würden aufsteigen zu sehen: Frobisher, Drake und Raleigh sind nur einige wenige, große unter vielen anderen.

Der Feudaladel als Adventurer Daß diese Phase der ursprünglichen Akkumulation mit entsprechender Ideologisierung verbunden war, sahen wir am Beispiel des Robert Thorne, aber auch in der Rede des Henry Sidney. Mit dem Namen Sidney ist auch eine weitere, für die merchant adventurers durchaus fragwürdige Quelle der Abenteuer-Ideologie, derer sie sich dennoch bedienen werden, angedeutet. Ein andrer Sidney ist es, der auf diesem Gebiet Entscheidendes leistet: der 1554 geborene adlige Dichter Philip Sidney. Nach mehrjährigem Aufenthalt auf dem Kontinent beginnt er seine poetische Produktion, die ganz bestimmt ist von spanischen und italienischen Vorbildern, von einer Mischung von Schäferidylle und Ritterideal. Seine Arcadia (in der ersten Fassung 1581, in der zweiten 1584) ist ein Prosaepos, in dem sich Schäferszenen mit Berichten von Schlachten, von Schiffbruch, von Verwandlungen usw. verbinden. Die Harmonisierung von (mittelalterlichem) Ritter- und renaissancehaftem Hofmann- bzw. ArcadiaIdeal ist um so bezeichnender, als Sidney nicht etwa ein weltfremder, zurückgezogener Poet, sondern ein am adventure-Leben seiner Zeit durchaus beteiligter Staatsmann gewesen ist. Nachdem er vergeblich versucht hatte, an Drakes Plünderfahrten gegen die Spanier teilzunehmen (was Elisabeth I. ihm untersagte), beteiligte er sich am niederländischen Freiheitskampf, wurde Gouverneur von Vlissingen und starb 1586 an einer Verwundung, die er sich in der Schlacht bei Zütphen zugezogen hatte. Sidneys Werk und Sidney s Leben bilden eine effektive Einheit und sind exemplarisch für eine Fraktion der englischen Gesellschaft, die sich aus ganz andren Motiven als etwa die merchant adventurers (nämlich denen des Auf- und Ausbaus eines weltweiten Handelsnetzes) an den kolonialen Beutezügen beteiligte: der feudale Hochadel glaubte hier innerhalb der absoluten Monarchie ein Tummelfeld für seine feudalherrschaftlichen Aktivitäten gefunden zu haben. Er stürzte sich in die großen Übersee-Abenteuer, um dort die alte feudale Beutepolitik zu betreiben, für die in England keine Möglichkeit mehr bestand, zumal in Ausübung dieser Übersee-Abenteuer 181

nicht nur eine Fortsetzung dieser Beutepolitik in weltweitem Maßstab gewährleistet, sondern mit ihr auch eine einverständliche Zusammenarbeit mit der Krone möglich schien: wurden nicht sogar Nichtadlige auf Grund dieser Übersee-Abenteuer in den Adelsstand gehoben? Dazu kam, daß der Wettlauf um die Entdeckung, Eroberung und Besitznahme ferner Länder zwischen den verschiedenen europäischen Nationen (Spanien, Portugal, Frankreich, England, den Niederlanden) zu einer Ausweitung der Kriegführung auf das Meer (und in jene fernen Länder) geführt hatte. Der Kaperkrieg wird u. a. von englischer Seite zunächst auf privater Ebene (Frobisher, Hawkins, Cavendish, Drake z. B.) gegen Spanien geführt, wenn auch mit stillschweigender oder expliziter Billigung durch die Krone (ihm verdankt u. a. Drake 1581 seine Ernennung zum Ritter), und nimmt dann in der Phase der offenen Auseinandersetzungen zur Zeit des niederländischen Freiheitskampfes immer drastischere Formen an. Dies ist eine Entwicklung, die übrigens das Kaperwesen der damaligen Zeit, die Kaperei durch p r i v a t e e r s , also auf eigene Faust, entscheidend begünstigt hat: vor allem im Ärmelkanal waren die Schiffe der verschiedenen Nationen vor englischen, aber auch niederländischen und französischen Kaperern nicht sicher 5 3 6 *. Daß dies ein günstiges Terrain für feudalaristokratische Freibeuter war, liegt auf der Hand. Exemplarisch für diesen Typus waren Gestalten wie Sir Thomas Cavendish (gestorben 1592) und der Graf von Essex. Cavendish ging 1586 auf Kapferfahrt gegen die Spanier und machte reiche Beute, nicht etwa, um — wie ein merchant adventurer — mit dem erbeuteten Kapital Handel zu treiben, sondern um die Beute auszugeben, was relativ rasch getan war. 1591 zog er aus zur nächsten Kaperei. Ganz ähnlich Essex, der Favorit Elisabeth I., der zusammen mit Norris und Drake auf eigene Faust Piratenpolitik betrieb, durch die Gunst der Königin in höchste Staatsämter gelangte (wie übrigens auch Drake und Raleigh), sich dann aber in Frondepolitik gegen die Krone verstrickte und 1601 hingerichtet wurde. Die wenigen, spektakulären Beispiele genügen, um auf die wesentlichen Auswirkungen der (spätestens nach dem Sieg gegen die spanische Armada unter tätiger Mitwirkung zahlreicher derartiger Kaper-Abenteurer, an ihrer Spitze Francis Drake, 1588 der möglichen Kritik entzogenen) Freibeuter-Tätigkeit des feudalen Hochadels (aber auch der mit diesem verbundenen nicht-adligen Kaperer) hinzuweisen : erstens ist seine Verbindung mit den Übersee-Abenteuern nur eine vorübergehende, sporadische, von anderen Klasseninteressen 182

getragene als die der merchant adventurers, wovon z. B. George Peckkam im Jahre 1583 in seinem „true report of the late discoveries, and possession taken in the right of the Crowne of England of the Newfound Lands", dem ausführlichen Bericht über Humfrey Gilberts Siedlungen, Zeugnis ablegt: er teilt die adventurers in zwei Kategorien, die „Noblemen and Gentlemen" einerseits, denen er Landeroberungen, Landbesitznahme, Fortifikationen, Ausbeutung von Metallurgie und Edelsteinen sowie Jagdmöglichkeiten in Aussicht stellt, und die „merchants", denen er gute Handelsmöglichkeiten verspricht.537 Kurz: er möchte die feudalen Zustände vergangener Zeiten in die Kolonien exportieren. Zweitens stellt die unstabile Partnerschaft der feudaladligen Übersee-Abenteurer einen Störfaktor für den systematischen Ausbau des Überseehandels dar (von mehr oder weniger planvoller industrieller Exploitierung der eroberten Gebiete ganz zu schweigen), und drittens tragen die feudalaristokratischen Freibeuter Elemente einer reaktionären Ritterabenteuer-Ideologie in die bürgerliche Abenteuerverherrlichung, wofür u. a. die Poesie Edmund Spensers ein bezeichnendes Beispiel liefert. Obwohl bürgerlicher Herkunft wird Spenser, den mit Philip Sidney eine langjährige Freundschaft verband, zum Poeten der partiell rückwärts gewandten höfischen Ritterabenteuer-Ideologie. In seinem zu Ehren der Königin Elisabeth verfaßten Epos Die Feenkönigin (1580—1599) versucht er, die Artus-Legende als allegorische Verherrlichung der absoluten Monarchie (und insofern fortschrittlich) wiederzubeleben, in deren Mittelpunkt neben König Artus die Feenkönigin Gloriana Elisabeth) steht. Natürlich müssen seine Ritter, die alle bestimmte Tugenden verkörpern, in diesem unvollendeten Werk permanent a d v e n t u r e s jeder (mittelalterlichen) Art (wie z. B. Kämpfe mit Drachen u. a.) bestehen. Die Feenkönigin repräsentiert in eindrucksvoller Weise den Versuch des Hofadels, eine höfische Ideologie auch im Zeitalter des beginnenden Manufakturkapitalismus und des hochentwickelten Handelskapitalismus zu artikulieren bzw. im Rahmen der absoluten Monarchie durchzusetzen, die als klassenspezifische Weltanschauung ideologische Waffe im Kampf gegen "das immer mächtigere Bürgertum war. In Spensers Epos werden nicht nur die mittelalterlichen Ritterideale bemüht: die Lebensformen der ununterbrochen auf adventure ziehenden knights sind vom höfischen Ideal eines Governors, des englischen Fürstenspiegels von Thomas Elyot (1531), vor allem aber des 1561 ins Englische übersetzten Cortegiano von Baldassare

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Castiglione 538 * und von den politischen Ideen Machiavellis bestimmt. Dennoch findet sich auch in Spensers Werk eine Widerspiegelung der — in der realen Übersee-adventure vollzogenen — mehr oder weniger spontanen, äußerlichen Interessenverbindung der beiden antagonistischen Klassen. Im Sechsten Buch der Veenkönigin wird eine allegorische Gestalt (Serena) auf eine einsame Insel verschlagen, was Spenser mit folgendem Kommentar versieht: In these wylde deserts, where she now abode, There dwelt a saluage nation, which did Hue Of stealth and spoile, and making nightly rode Into their neighbours borders; ne did giue Them selues to any trade, as for to driue The painfull plough, or cattle for to breed, Or by aduentrous marchandize to thriue; But on the labours of poore men to feed, And serue their owne necessities with others need.539

Klassenantagonismen im Zauberwort Mit der Beschreibung der Eingeborenen auf jener fernen Insel liefert Spenser inmitten der höfischen-ritterlichen Allegorie seines Märchenepos von der Veenkönigin die Rechtfertigung der kolonialistischen ursprünglichen Akkumulation. Die Eingeborenen arbeiten nicht, leben nicht einmal von adventrous marchandize, treiben also keinen Handel, ja Ironie der Argumentation: sie leben angeblich von Diebstahl und Plünderung. Kurz, sie sind reif, als englische Sklaven nützliche Arbeit zu leisten und damit „menschwürdig" zu werden. Daß sich die bürgerlichen adventurers diese Rechtfertigung ihrer eigenen Ausbeutungspolitik gefallen ließen, versteht sich von selbst: ihre Skrupellosigkeit bei der Unterjochung, Ausrottung, Versklavung der Eingeborenen ferner Länder erhielt in der von der Krone gebilligten Ausrottungs- und Versklavungspolitik der feudaladligen Übersee-Abenteurer ihr Alibi (z. B. hatte John Hawkins bereits 1564 die offizielle Billigung für den Sklavenhandel erhalten 540 ). Daß man dabei gelegentlich in ideologische Widersprüche geriet, störte keineswegs, und so konnte man denn auf der Höhe der spanischenglischen Auseinandersetzungen gemütsruhig gegen die unmenschliche Politik der Spanier gegenüber den Eingeborenen polemisieren, 184

über die man durch die Schrift des Fray Bartolomé de Las Casas Brevísima relación de la destrucción de las Indias (1542 verfaßt, 1552 erschienen: Kur%e Darstellung der Zerstörung [West-] Indiens) informiert war. Das Zauberwort, in dem die Interessen der verschiedenen Klassen und Schichten zu konvergieren schienen, war adventure. Das Ritterabenteuer, das genossenschaftliche Handelsunternehmen, die mannhafte Tat, die Angestelltenexistenz, der Unternehmer, der nicht mehr selbst auf Handelsreisen ging, ja das gefährliche Unternehmen und die Ware selbst544* — alles trug den gleichen Namen: adventure. Dennoch wäre es verfehlt, über diesem zauberhaften Schlüsselwort die ideologischen Differenzen zu übersehen, die in den verschiedenen ideologischen Systemen stecken und sich an diesem einen Punkt miteinander zu verbinden scheinen: die Klassenantagonismen werden nur oberflächlich (wenn überhaupt) in ihm verdeckt. Allein aus ihnen jedoch läßt sich erklären, was der bürgerlichen Wissenschaft so große Schwierigkeiten verursacht hat.5/*2 Das praktische (Handels-) Bürgertum zieht aus der prekären Berührung der Klassen und ihrer Ideologien in der adventure und deren Verherrlichung seinen ökonomischen und politischen Nutzen. Der Hinweis auf die spontane, vorübergehende, selten längerfristige kommerzielle Übersee-Adventuretätigkeit des Adels (wobei noch genau zwischen Hochadel, Kleinadel, geadeltem Bürgertum, aber auch dem Adel, der Handel treiben l ä ß t , unterschieden werden muß), der in den verschiednen ökonomischen Traktaten der Epoche auftaucht, 50 dient dem Bürger nur dazu, seine eigene Würde und gesellschaftliche Bedeutung zu unterstreichen. Der Handel, so wird argumentiert, ist so ehrbar, der Kaufmann so hoch gestiegen, sein gesellschaftlicher Nutzen so offenbar, die Ehrung durch den Monarchen so unwiderlegbar, daß auch der Adel insgesamt sowohl den Handel als damit auch das (Handels-)Bürgertum dadurch ehrt und anerkennt, daß er selbst z. T. Handel treibt (wobei dann noch alle untergeordneten Ideologeme fruchtbar gemacht werden können: die notwendige Tapferkeit, das mannhafte Eingehen von Risiken, usw. — dies alles ist auch eines Adligen würdig). In Wahrheit aber legt das Bürgertum keinen gesteigerten Wert auf die Beteiligung von Adligen im Handel, und was einen Schüler von Max Weber wie z. B. Crohn—Wolfgang, der sich mit den a d v e n t u r e r s auseinandergesetzt hat, verblüfft, findet leicht eine Erklärung: ungefähr gegen 1603 erklärt die East India Company, sie wolle lieber die geplanten Reisen aufgeben, als „any 185

gentleman in any place of charge or commandment" — „irgendeinen Gentleman an irgendeinem Platz im Bereich der Fracht oder des [Schiffs-JKommandos" anzustellen. 544 Die Kaufleute hatten nämlich inzwischen ihre Erfahrung mit dem feudaladligen Übersee-Abenteurer (-Plünderer und -Piraten) gemacht (bzw. machen lassen): selbst Drake war mit diesem Typus nicht immer zu Rande gekommen. 545 Frech, renitent, faul, planlos, beutegierig, plünderungswütig, jedem Nützlichkeitsdenken abhold: „Niemals hat es Männer gegeben, die schlechter dazu geeignet waren, das nüchterne Geschäft der Gründung einer Kolonie oder der Unterwerfung eines fremden Volkes durchzuführen . . .", schreibt einer ihrer Apologeten noch Jahrhunderte danach. 546 Dennoch: adventure ist das Zauberwort dieser Epoche, in dem sich alle zusammenfinden, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven und zu unterschiedlichen Zwecken. 1617 erlebt diese scheinbare Übereinstimmung den politischen Höhepunkt und das Ende. Jakob I. entläßt Sir Walter Raleigh aus der Haft, in der dieser seit Elisabeths Tod gehalten wird, weil Raleigh dem Hof einen Plan für eine erfolgversprechende Fahrt zu einer unbekannten Goldmine in Übersee vorgelegt hat. Der König verleiht Raleigh das Patent für diese Reise und die Rechtshoheit über die zu diesem Zweck ausgerüstete Flotte: „ . . . da wir glaubwürdig informiert sind, daß verschiedene Kaufleute und Schiffseigner und andere bereit wären, Sir Walter Raleigh bei diesem Unternehmen zu unterstützen, falls sie — in bezug auf gesetzliche Gefahr, in der sich der benannte Sir Walter Raleigh jetzt (in der Haft — M. N.) befindet — genügend Sicherheit hätten, ihren verdienten Anteil des anfallenden Profits zu erhalten, und da wir auch informiert sind, daß verschiedene andre Gentlemen, die Verwandten und Freunde des benannten Sir Walter Raleigh und verschiedene Kapitäne und andere Befehlshaber wünschen, Sir Walter Raleigh zu folgen und ihr Leben mit ihm bei dieser Reise aufs Spiel zu setzen [to adventure], vorausgesetzt sie werden von ihm befehligt und von keinem andern: geben wir bekannt, daß wir . . ., bemüht in jeder Hinsicht und auf jede Weise unseren liebenden Untertanen Vorteil und Wohlstand zuteil werden zu lassen, dem benannten Sir Walter Raleigh und seinen Freunden und Gesellschaftern unsere fürstliche Förderung zuteil werden lassen, um somit andere zu ähnlichen lobenswerten Fahrten und Unternehmungen zu ermutigen, die danach geplant und ausgeführt werden, und vor allem auch zum Zweck der Ausweitung und Förderung der Bekehrung 186

wilder Völker sowie der Steigerung des Handelsverkehrs und der Waren, die von unseren Untertanen unseres Königreiches benötigt werden . . ."547 Die einzige Einschränkung: Raleigh, der wie seine Kollegen und Waffengefährten Frobisher, Drake u. a. den Beutekrieg gegen Spanien und andere zu führen verstanden hatte, darf kein spanisches Schiff kapern oder sich sonstwie an spanischem Besitz vergreifen. Denn die Zeiten haben sich geändert: die protestantische Elisabeth ist tot, und mit Jakob I. sind Katholizismus und feudale Reaktion auch nach England zurückgekehrt. Der spanische Botschafter warnt denn auch vor Raleigh, und es kommt, wie beinahe mit Notwendigkeit zu erwarten war : Raleigh gerät mit den Spaniern in Santo Tomé aneinander, wird bei seiner Rückkehr gefangengenommen und auf Betreiben der spanischen Krone 1618 hingerichtet. Unter den Richtern, die Jakob I. das Todesurteil formulieren ließ, befindet sich auch einer der größten Apologeten der Entdeckungsreisen: Francis Bacon.

Falstaff oder die Demontage des BJtterabenteurers In diesem dargestellten äußeren Zusammenfall der Interessen der verschiedenen Fraktionen der grundsätzlich antagonistischen Klassen im Begriff bzw. in der Verherrlichung der adventure, der die Klassenantagonismen und divergierenden Interessen zwar partiell verdeckte, keineswegs aber aufhob, steckt der Schlüssel für den nach Robert Weimann „schreienden Widerspruch" 548 zwischen der parodistischen Verurteilung der Ritterromantik und der gleichzeitigen Propagierung von Ritterabenteuer-Idealen durch (oft) die (gleichen) bürgerlichen Autoren.549* In ihrer Haltung zur adventure offenbart sich die gleiche Dialektik, die den Prozeß der Aneignung der höfischen Kultur durch das Bürgertum bei gleichzeitiger Verarbeitung bzw. „Umfunktionierung" 550* dieser Kultur auch und vor allem zur Waffe im Kampf gegen den Feudaladel kennzeichnet. Dieser Tatbestand erklärt das Ineinanderdringen der verschiedensten Elemente bzw. die zwiespältige Haltung des Bürgertums gegenüber der höfischen AbenteuerIdeologie, durch die sich manch (Handels-)Bürger eine höhere Weihe verleihen zu können glaubte, was z. B. das von Weimann mustergültig interpretierte Schauspiel von Francis Beaumont Tbe Knigbt of tbe Burning Pestle (Der Ritter von der Flammenden Keule, etwa 1613) kritisiert.5-51 187

Während Beaumonts Kritik dem Bürgertum gilt, das sich mit falschen Federn schmückt, richtete knapp 2wanzig Jahre zuvor Shakespeare einen überaus scharfen Angriff auf die ritterliche Ausbeuter-Verherrlichung selbst. In König Heinrieb der Vierte (erster Teil etwa 1597; zweiter Teil 1597/98) zeigt er den Kampf zwischen dem absoluten Monarchen und dem rebellierenden Feudaladel, wobei zwar Shakespeares grundsätzliche Sympathie offensichtlich der Monarchie gilt, dennoch die Feinde des Königs keineswegs ohne Respekt oder Anteilnahme dargestellt sind. Respektlos aber ist die grundsätzliche, vernichtende Kritik am parasitären, herumabenteuernden feudalen Kleinadel, der in der Gestalt seines depravierten, allein ob seiner Urviehhaftigkeit nicht gänzlich unsympathischen Repräsentanten Falstaff einer regelrechten Demontage seiner gesellschaftlichen Existenz und ihrer ritterabenteuerlichen Ideologisierung unterzogen wird. Falstaff gehört zu der Gesellschaft des jungen Prinzen und Kronprätendenten Heinrich, einer Gesellschaft von jugendlichen Nichtstuern, deren Beschäftigung zwischen Saufen, Bordellbesuchen, Wegelagerei und Zechprellerei schwankt. Einmal zur Macht gelangt, wird sich Heinrich dann von dieser Gesellschaft lossagen, ja, ihren hemmungslosesten (übrigens ganz im Sinn der von Georges Duby untersuchten mittelalterlichen juvenes keineswegs mehr jungen) Vertreter, nämlich Falstaff, in Haft setzen lassen. Der Wandel in Gesinnung und Handeln des Prinzen ist äußerst geschickt durch beide Stücke hindurch vorbereitet: zusammen mit seinem Vertrauten Poins distanziert sich Heinrich bereits zu Beginn des von Shakespeare gestalteten Geschehens von seiner liederlichen Begleitung, der er allerdings noch lange eine distanziert-ironische Treue hält. Die Entfremdung wird jedoch in den Kämpfen mit den Feinden der Monarchie immer entschiedener, so daß die endgültige Trennung Heinrichs nach dessen Thronbesteigung von seinem feudal-ritterlichen Anhang nur noch für diesen selbst überraschend ist. Bis dahin dienen die immer sporadischer werdenden Begegnungen zwischen Heinrich und Poins und Falstaff und dessen Gesellen Shakespeare dazu, das nutzlose Parasitendasein, die Rodomontaden und Gemeinheiten des verkommenen Kleinadels zu demaskieren. Heinrich stellt Falstaff mit Hilfe von Poins unablässig Fallen, in die dieser schwerfällig und dümmlich tappt. Diesen Mechanismus setzt Shakespeare sofort bei Beginn des Stückes in Bewegung. Poins schlägt der Gesellschaft um Prinz Heinrich vor, Kaufleute zu überfallen, um wieder zu Geld zu gelangen, 188

das ihnen ausgegangen ist (Geld übrigens, das — wie Shakespeare betonen läßt — eigentlich in den Staatsschatz gehörte: der Diebstahl an den Kaufleuten ist also gleichzeitig Diebstahl am König und an seinem Volk): Poins:

Falstaff:

Poins: Falstaff: Prinz Heinrich: Falstaff:

Aber Jungen! Jungen! morgen früh um vier Uhr nach Gadshill. Es gehen Pilgrime nach Canterbury mit reichen Gaben, es reiten Kaufleute nach London mit gespickten Beuteln; ich habe Masken für euch alle, ihr habt selbst Pferde; Gadshill liegt heute nacht zu Rochester, ich habe auf morgen abend in Eatschap Essen bestellt, wir könnten es so sicher thun, wie schlafen. Wollt ihr mitgehen, so will ich eure Geldbeutel voll Kronen stopfen; wollt ihr nicht, so bleibt zu Haus und laßt euch hängen. Hör' an Eduard: wenn ich zu Haus bleibe und nicht mit gehe, so lass' ich euch hängen, weil ihr mitgeht. So, Fleischktumpen! Willst du dabei sein, Heinz? Wer? ich ein Räuber? ich ein Dieb? Ich nicht, meiner Treu. Es ist keine Redlichkeit in dir, keine Mannhaftigkeit, keine echte Brüderschaft; du stammst auch nicht aus königlichem Blut, wenn du nicht das Herz hast, nach ein paar Kronen zuzugreifen. 552

Zum Schein geht Heinrich dann auf den Plan ein, um Falstaff und zwei andere Spießgesellen in die Falle gehen zu lassen, die Poins vorbereitet hat. Zusammen mit Poins will er — verkleidet — Falstaff das geraubte Geld wieder abnehmen, um dessen Feigheit zu demaskieren: Poins: Wir wollen früher oder später aufbrechen, und ihnen einen Platz der Zusammenkunft bestimmen, wo es bei uns steht, nicht einzutreffen; dann werden sie sich ohne uns in das Abenteuer wagen, und sobald sie es vollbracht, machen wir uns an sie. 553 189

Zu zweit fallen sie über Falstaff und seine Kumpane her, die sofort die Flucht ergreifen und die Beute ihres Überfalls auf unbewaffnete Kaufleute zurücklassen. Um ihre Feigheit zu kaschieren, bringen Falstaff und seine Kumpane sich oberflächliche Verwundungen bei (mit scharfem Gras ritzen sie sich die Nasen, um Nasenbluten zu erzeugen und Blutflecken auf ihrer Kleidung zu haben), und Falstaff macht sogar sein Schwert schartig, damit es aussehe, als habe er gekämpft: „ . . . wenn ich nicht mit fünzigen gefochten habe," schwindelt Fallstaff Poins und Heinrich vor, H so will ich ein Bündel Radiese sein. Wenn ihrer nicht zwei- bis dreiundfünfzig über den armen alten Hans her waren, so bin ich keine zweibeinige Kreatur." 5 5 4 Als aber dann Heinrich den wahren Zusammenhang enthüllt, die Feigheit Falstaffs entlarvt und diesen zur Rede stellt, da antwortet er mit einer listigdreisten Tollheit: „Laßt euch sagen, Freunde: kam es mir zu, den Thronerben umzubringen? sollte ich mich gegen den echten Prinzen auflehnen? Du weißt wohl, ich bin so tapfer wie Herkules: aber denke an den Instinkt: der Löwe rührt den echten Prinzen nicht an. Ich werde lebenslang von dir und mir desto besser denken: von mir als einem tapfern Löwen, von dir als einem echten Prinzen. Aber beim Himmel, Bursche, ich bin froh, daß ihr das Geld habt. Wirtin, die Thüren zu! Heute nacht gewacht, morgen gebetet." 5 5 5 Keine Schäbigkeit gibt es, die Shakespeare in dieser traurigkomischen Gestalt nicht enthüllte, keine raubritterhafte Gemeinheit, keine moralische Verkommenheit, und seine Kritik ist getragen von der gemeinsamen Ablehnung und Bekämpfung der in ihr repräsentierten Parasitenkaste des Kleinadels durch Bürgertum und Monarchie. Falstaff schickt Heinrich einen Brief: Poins (liest):

„John Falstaff, Ritter", — jedermann muß das wissen, so oft er Gelegenheit hat, sich zu nennen. Gerade wie die Leute, die mit dem König verwandt sind, denn die stechen sich niemals in den Finger, ohne zu sagen: da wird etwas von des Königs Blut vergossen. Wie geht das zu? sagt einer, der sich stellt, als verstehe er nicht, und die Antwort ist so geschwind bei der Hand wie die Mütze eines Borgers: Ich bin des Königs armer Vetter, mein Herr. Prinz Heinrich: Ja, sie wollen mit uns verwandt sein, und wenn sie es von Japhet ableiten sollten. Aber den Brief! 190

Poins:

„Sir John Falstaff, Ritter, dem Sohne des Königs, der seinem Vater am nächsten, Heinrich, Prinzen von Wales, Gruß." — Ei, das ist ein Attestat. Prinz Heinrich: ^Still! Poins: „Ich will dem ruhmwürdigen Römer in der Kürze nachahmen;" — er meint gewiß in der Kürze des Atems, — „ich empfehle mich dir; ich empfehle dich, und ich verlasse dich. Sei nicht zu vertraulich mit Poins, er mißbraucht deine Gunst so sehr, daß er schwört, du müssest seine Schwester Lene heiraten. Thu Buße in müßigen Stunden, wie du kannst, und somit gehab dich wohl. „Der Deinige bei Ja und Nein, (das will sagen, je nachdem du ihm begegnest,) H a n s F a l s t a f f für meine vertrauten Freunde, J o h n für meine Brüder und Schwestern, und Sir J o h n für ganz Europa." 556

Der Mercbant Adventurer als Venezianer Stellt die Demaskierung Falstaffs eine kategorische Verurteilung der (raub-)ritterlich-feudalen Lebensführung (und nur eine partielle implizite Verurteilung der ritterlich-höfischen Ideologie) dar, so ergänzt Shakespeare ungefähr zur gleichen Zeit557 diese Verurteilung durch eine explizite Kritik der höfischen Ritterabenteuer-Ideologie bei gleichzeitiger grundsätzlicher Bejahung der bürgerlichen adventure im Kaufmann von Venedig, einem Stück, das — wie kaum ein andres von Shakespeare — Fehldeutungen ausgesetzt gewesen ist. Nennen wir gleich eine grundlegende Fehldeutung, denn sie führt mit Notwendigkeit ins interpretatorische Niemandsland bzw. in die „allgemein-menschliche" Spekulation: das Stück, so heißt es bei zahlreichen Interpreten, spiele in einer andren Welt als der zeitgenössischen englischen. Der Schauplatz sei zum einen das Venedig der Renaissance, zum anderen ein Märchenort nemens Belmont. Natürlich soll gar nicht geleugnet werden, daß dieses Stück auch Märchencharakter hat, daß Belmont ein feenhafter Un-Ort ist, aber er ist — wie wir zeigen werden — 191

in einem andren Sinn eine Utopie als Utopia bei Thomas Morus. Dennoch teilt der Kaufmann von Venedig mit der Utopia die Verankerung in gesellschaftlichen Problemen der Aktualität des damaligen Englands: der Kaufmann von Venedig ist ein höchst subtiles ökonomisch-politisches Schlüsselwerk und darüber hinaus die brillanteste Darstellung der Auseinandersetzung zwischen höfischer und bürgerlicher Abenteurer-Tätigkeit bzw. Abenteuer-Verherrlichung, die bis heute angefertigt worden ist (was übrigens daran liegt, daß man beide fast nie unterschieden hat, sondern alles einer vagen, modernen Vorstellung von Abenteuer subsumierte). Nehmen wir von den Argumenten, die dafür vorgebracht wurden, daß das Stück nicht die englische Gesellschaft zeige, sondern das Venedig der Renaissance (und die oft über die platte Schlußfolgerung, es müsse sich um Venedig handeln, es stünde ja so im Titel, nicht hinausgelangen), das Argument, das am rationalsten zu sein scheint. Shakespeare, schreibt Wyston Hugh Auden, stelle in seinen Stücken ein England vor, dessen Reichtum feudalem Landbesitz entspringe und nicht „accumulated capital": England sei (zumindest in Shakespeares Stücken) ökonomisch gesehen „selfsufficient", decke also seine Bedürfnisse selbst, produziere Geldwerte und keine Waren: „production is for use, not profit." 558 Die (Groß-)Kaufleute, die bei Shakespeare auftreten, müßten daher Repräsentanten eines andren Wirtschaftssystems sein: „Im Kaufmann von Venedig und in Othello" folgert Auden denn auch, „zeigt Shakespeare einen ganz andren Typus von Gesellschaft. Venedig produziert nichts selbst, weder Rohmaterial noch Fertigfabrikate. Seine Existenz hängt nur von finanziellem Profit ab, der im internationalen Handel erworben werden kann . . . d . h . : indem hier billiger gekauft und dort teuer verkauft wird, und sein Reichtum liegt in seinem akkumulierten Kapital." 559 Halten wir uns nicht mit einer Diskussion der unter marxistischen Gesichtspunkten problematischen Terminologie auf: zunächst liegt natürlich die Frage nahe, ob denn Shakespeare in seinen Römerdramen Probleme Roms, in seinen Stücken wie Heinrich IV. oder Heinrieb V. Probleme des 15. Jahrhunderts auf der Bühne gestalten wollte und was das wohl für ein merkwürdiges „Historikerpublikum" gewesen sein mag, daß an derartigen Stücken hätte Gefallen finden können. Daß Shakespeare geschichtliche Ereignisse bzw. Vorlagen benutzte, um die Probleme seiner Zeit an ihnen beispielhaft abzuhandeln, dürfte allerdings im allgemeinen 192

in der Shakespeare-Forschung außer Zweifel stehen. Erlaubt scheinen Zweifel jedoch nach wie vor zu sein, wenn es um den Kaufmann von Venedig geht, was freilich eher auf das Konto der wirtschaftsgeschichtlichen Uninformiertheit der Interpreten zurückzuführen sein dürfte. Denn daß Shakespeare entgangen sein sollte, was spätestens seit Thomas Morus in literarischer Fiktion und ökonomischem Traktat (z. T. von den gleichen Autoren) abgehandelt wurde, ist nicht nur unwahrscheinlich, es ist absurd (ganz abgesehen davon, daß er die revolutionären Umwälzungen in der Produktionsweise tagtäglich erleben konnte und mußte). Entgangen ist es z. B. dem Shakespeare-Interpreten Auden, daß in England eine „agrikole Revolution" stattgefunden hatte, daß die Agrikultur kapitalistisch geworden war, der Manufakturkapitalismus einen immensen Aufschwung genommen hatte und Englands Warenhandel jedes bis dahin gekannte Maß sprengte. Die adventurers waren überall: bei Hof, zu Lande, zu See, auf dem Kontinent, in Rußland, in Asien, in der Neuen Welt. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, so faßt Robert Weimann die Entwicklung zusammen, kam es „— nach dem Urteil der Forschung — zu einer 'rapiden Manufakturbildung' . . ., ja einer frühen 'industriellen Revolution' . . .: Allein die Kohleerzeugung konnte sich derart erhöhen, daß die Belieferung Londons in einem reichlichen Jahrzehnt um mehr als das Dreifache (1580: 11000 t; 1591/92: 35000 t) a n s t i e g ; . . . Auch die Eisenerzeugung konnte erstaunlich gesteigert, der Fertigungsprozeß entscheidend verbessert werden . . . Da auch die Erzeugung von Glas, Kupfer und Zinn erheblich anstieg und sich die Transportmittel wesentlich verbesserten, waren die Voraussetzungen für jene außerordentliche Bauund Reparaturkonjunktur der Shakespearezeit gegeben . . . Diese Bauaktivität mochte vielleicht sogar die seit langem bedeutendste Industrie Englands, die Tucherzeugung, in ihrer produktionsfördernden und marktbildenden Bedeutung für die Volkswirtschaft übertreffen. Sie mußte den Binnenmarkt ebenso stimulieren wie der 'primitive Kapitalimport', der durch waghalsige Entdeckungsfahrten, kaufmännische Unternehmungen und räuberische Expeditionen über die Meere zustande kam. Es war dies eine gewaltsame Form des Außenhandels, der von neugegründeten Aktiengesellschaften gestützt wurde, deren Aktionäre — wie bei Drakes Weltreise — einen Rekordprofit von 4700 Prozent einstecken konnten."»»

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Neilich, Kritik

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Nur einer dürfte nach W. H. Audens Vorstellung von all dem nichts gemerkt haben: Shakespeare. Was freilich W. H. Auden ganz offensichtlich selbst nicht gemerkt hat, ist die Tatsache, daß Antonio, der königliche Kaufmann von Venedig, einen für d i e s e Stadt, n i c h t aber f ü r London bzw. E n g l a n d geradezu a t y p i s c h e n Handel treibt: seine Schiffe verkehren „von Tripolis, von Mexiko, von England,/ von Indien, Lissabon, der Barbarei . . ."561* Es ist den Interpreten Shakespeares, die so energisch in Antonio einen italienischen Renaissance-Kaufmann sehen wollten und wollen562*, tatsächlich entgangen, daß in der italienischen Renaissance kein Schiffsverkehr nach Indien und Amerika stattfinden konnte, weil zum einen der Weg ums Kap der Guten Hoffnung, zum andren Amerika noch nicht entdeckt waren, und daß Venedig nach der Entdeckung des ostindischen Schiffahrtsweges bzw. Amerikas an dem entsprechenden Handel nicht nur relativ geringen (oder gar keinen) Anteil hatte, sondern durch diese Entdeckungen aus dem Zentrum des Handels verdrängt wurde. Der Bedeutungsverlust Venedigs war dem 16. Jahrhundert durchaus bewußt, ja Shakespeares Zeitgenossen war dieser Bedeutungsverlust sogar so geläufig, daß sie London bzw. England für die geschichtlichen Nachfolger Venedigs gehalten zu haben scheinen,563 was eine rationalere Erklärung ermöglicht, warum Shakespeare sein Stück nach Venedig verlegte. Daß dabei auch politische Gründe eine entscheidende Rolle gespielt haben dürften, liegt — ist man sich der politischen Brisanz des Stückes erst bewußt — nahe. Es ist zu nahezu allen Zeiten eine literarische List beim Schreiben der Wahrheit über aktuelle ökonomische, politische, weltanschauliche Probleme gewesen, diese in andre Zeiten und andre Regionen zu verlegen. 564 Wenn Shakespeare also eine italienische Vorlage, eine Erzählung aus Ser Giovannis II Pecorone (verfaßt wahrscheinlich gegen Ende des 14. Jahrhunderts, veröffentlicht 1558565,) benutzte, um sie im Kaufmann von Venedig zu verarbeiten, dann nicht um Probleme aus dem Venedig des 14. oder 15. Jahrhunderts, sondern um Probleme aus dem England seiner Zeit zu gestalten und zu verhandeln. Antonio ist selbstverständlich ein englischer merchant adventurer in venezianischem Kostüm, und zwar ein bedeutender von der Kategorie der Judde oder Gresham: er ist ein seßhafter „royal merchant", ein „königlicher Kaufmann." 566 *

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Die Melancholie des seßhaften Bruders Man muß die Entwicklung des Adventure-Handels in England vor Augen haben, um zu einem Verständnis des geheimnisvollmelancholischen Antonio zu gelangen, der die Interpreten immer wieder zu erstaunlichen Erklärungsversuchen veranlaßt hat.567* Denn selbst da, wo die Forschung nicht daran gezweifelt hat, daß Antonio der fiktionale Repräsentant des englischen merchant adventurers ist, kam es bisweilen zu überraschenden Feststellungen, wie z. B. bei Jürgen Kuczynski, der meint, Antonio, „der kapitalistische, antifeudale Kaufmann" sei von Shakespeare als „Verschwender" dargestellt und trüge nicht die Züge „des englischen Kaufmanns." 568 Hier liegt ganz offensichtlich eine Verwechslung mit Bassanio vor, denn Antonio ist im Gegensatz zu diesem tatsächlich, wie W. H. Auden schreibt, „ein nüchterner Kaufmann, der ökonomische Enthaltsamkeit" im eigenen, privaten Konsum und Lebensaufwand „praktiziert." 569 Auch ist zu relativieren bzw. zu präzisieren, wenn Kuczynski schreibt, im Kaufmann von Venedig stünden sich „der alte feudale Wucherer — eine Gestalt, die in der Übergangszeit zum Kapitalismus eine besondere Rolle spielt — in der Person von Shylock und Antonio, der Kaufmann von Venedig, der die frühe Zeit des Kapitalismus vertritt" 570 , gegenüber. Zwar ist richtig, daß sich in Shylock und Antonio die „zwei verschiedene^) Formen des Kapitals" gegenüberstehen, die das Mittelalter „überliefert" hat, wie Marx im Kapital schreibt: „das Wucherkapital und das Kaufmannskapital" 57 !*, aber wir stehen mit Shakespeares Stück (1594—1597) nicht mehr am Anfang der Entwicklung: der Manufakturkapitalismus expandiert und der Handelskapitalismus hat längst — wie wir sahen — die Entwicklung durchlaufen, die Engels anhand der Auflösung des genossenschaftlichen Handels skizziert. Kurz: Antonio ist einer jener seßhaften „brethren" der merchant adventurers, die nicht etwa aus Mangel an Kapital nicht mehr (selbst) in Person Handel treiben, sondern die auf Grund ihres großen Kapitals die Ausführung ihrer Geschäfte schon längst Angestellten und Agenten übertragen haben. Von ihm sind zahlreiche andre merchant adventurers abhängig: erstens der junge adventurer, der über kein Kapital verfügt, Kredit aufnimmt und noch in eigener Person auf venture geht (im Stück: Bassanio); zweitens die „Lehrlinge" oder atturneys, die als angestellte adventurers für Antonio in Ostindien, in Afrika, im Mit13*

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telmeerraum, in Amerika Handel treiben (Gestalten wie Salanio, Salarino, Graziano dürften zu der Sorte der „untrading brethren" gehören, die kein Kapital besitzen, um Handel treiben zu können, 572 * aber auch nicht als Angestellte arbeiten, sondern als ArbeitskraftMakler in der Vermittlung von „Lehrlingen" Geld verdienen). Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis Antonio-Bassanio zu sehen, und aus ihm läßt sich auch im wesentlichen die Melancholie des Antonio erklären: „Für wahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht," sagt Antonio zu Beginn des Stückes, als er die Bühne betritt (I 1): Ich bin es satt; ihr sagt, das seid ihr auch. Doch wie ich dran kam, wie mir's angeweht, von was für Stoff es ist, woraus erzeugt, das soll ich erst erfahren. Und solchen Dummkopf macht aus mir die Schwermut, ich kenne mit genauer Not mich selbst. Die Vermutung seiner Freunde, er sei traurig bzw. besorgt, weil er sein Kapital in verschiedene Schiffe investiert habe, die nun überall in der Welt auf dem unberechenbaren Meer schwämmen, weist er entschieden zurück, denn in der weiten Streuung seiner Kapitalinvestitionen sieht er seine Sicherheit, so daß er nicht besorgt sei: Glaubt mir, das nicht; ich dank' es meinem Glück, Mein Gut ist e i n e m Schiff nicht anvertraut, Noch e i n e m Ort; noch hängt mein ganz Vermögen Am Glücke dieses gegenwärt'gen Jahrs: Deswegen macht mein Handel mich nicht traurig. 573 * Auch die Unterstellung, er könne verliebt sein, weist er zurück — nahezu empört wegen der Zumutung. Er leiht seinem Freund Bassanio dreitausend Dukaten, damit dieser ein Schiff ausrüsten kann, um nach Belmont zu fahren, wo die reiche und schöne Erbin Porzia zu erobern ist: die Prätendenten müssen, um Porzias Hand zu gewinnen, unter drei Kästchen auswählen, einem goldenen, einem silbernen, einem bleiernen, und wer das Kästchen wählt, in dem Porzias Porträt sich befindet, der darf sie zu seiner Gemahlin machen. Bassanio ist der Glückliche. 196

Die dramatische Verwicklung allerdings hat inzwischen in Venedig begonnen. Da Antonio das Geld nicht liquide hatte, um das ihn Bassanio bat, besorgt sich Antonio die dreitausend Dukaten bei einem Geldleiher, dem jüdischen Wucherer Shylock, mit dem er im übrigen verfeindet ist. Der Vertrag, auf dessen Zustandekommen wir hier nicht eingehen wollen, sieht vor, daß Antonio nach Ablauf von drei Monaten das Geld zurückerstatten muß. Sollte ihm das nicht gelingen, so wäre Shylock berechtigt, dem Antonio ein Pfund aus seinem Fleisch zu schneiden. Allen Beteiligten scheint dieser Schuldschein nicht mehr als ein Scherz zu sein, zumal niemand daran zweifelt, daß Antonio das Geld rechtzeitig zurückzahlen kann (am wenigsten er selber), aber das Unwahrscheinliche geschieht: alle Schiffe des Antonio gehen unter, der Schuldschein verfällt, und Shylock fordert Antonios Schuld vor Gericht ein — das Gesetz ist auf seiner Seite. Antonio wird verhaftet. Die Gerichtsverhandlung steht bevor. Da erreicht Bassanio, der inzwischen Porzia gewonnen hat, in Belmont die Nachricht vom Unglück seines Freundes, worauf Porzia ihn auffordert, sofort nach Venedig zurückzukehren, um seinem Freund zu helfen. Sie selbst bricht ohne Wissen Bassanios zusammen mit ihrer Vertrauten Nerissa nach Venedig auf, wo sie als Rechtsgelehrter verkleidet vor Gericht auftritt, die Rechtmäßigkeit von Shylocks Schuldeinforderung bestätigt, diesen aber dadurch hereinlegt, daß sie ihm sagt, er dürfe zwar ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Antonio schneiden, dabei aber keinen Tropfen Blut vergießen, denn davon stünde nichts im Schuldschein. Vergieße er jedoch Blut, das Blut Antonios, eines Christens, so fiele Shylocks „Hab und Gut, nach dem Gesetz Venedigs,/ dem Staat Venedigs heim". Als Shylock die Unmöglichkeit der Einziehung seiner Schuldforderung erkennt, versucht er, das ihm von Bassanio ursprünglich angebotene Geld anstatt der vertraglich vorgesehenen Schuldforderung zu erhalten, aber Porzia als Rechtsgelehrte verhindert auch das, weil der Handel so nicht abgeschlossen war und obendrein der Jude Shylock „dem Leben eines Bürgers nachgestellt". Deswegen müsse er bestraft werden, indem die eine Hälfte seines Besitzes dem Staat Venedig, die andere Hälfte dem Opfer seines Anschlags, Antonio, zugeteilt würde. Antonio verzichtet auf seinen Anteil zugunsten Jessicas, der Tochter Shylocks, und ihres (christlichen) Mannes Lorenzo. Jessica hatte Shylock verlassen, als Bassanio nach Belmont auf197

brach, um Porzias Hand zu gewinnen, und sie hatte sich mit ihrem Geliebten Lorenzo ebenfalls nach Belmont begeben (und zwar ausgerüstet mit einem Teil des Schatzes, den sie ihrem Vater Shylock entwendet hatte). In Belmont waren Jessica und Lorenzo von Porzia als deren Verwalter für die Zeit ihrer Reise zur Gerichtsverhandlung nach Venedig eingesetzt worden. In Belmont treffen sich — nach einigen Quiproquos — die verschiedenen Paare (Porzia/Bassanio; Graziano/Nerissa; Jessica/Lorenzo) sowie Antonio wieder: alles löst sich im Glück der verheirateten Paare auf, und sogar die Schiffe des Antonio, die vermeintlich untergegangen waren, treffen wieder ein und machen Antonio reicher als je zuvor.

Und dennoch: obwohl das Stück Der Kaufmann von Venedig heißt und obwohl Antonio nicht nur im Mittelpunkt des Stückes, der Gerichtsszene wieder auftritt, sondern auch am Ende sozusagen das Stück beschließen hilft, hat die Shakespeare-Exegetik immer wieder konstatiert, daß Antonio ein merkwürdige blasses Schattendasein im Stückzusammenhang spielt (woraus dann zu Unrecht geschlossen wurde, nicht er stünde im Mittelpunkt des Dramas, sondern sein Gegenspieler Shylock). Tatsächlich ist richtig, daß alle Gestalten außer Antonio in irgendeiner Weise physisch-körperlich, in Person aktiv sind. Ihre gesellschaftliche Funktion und ihre äußere Erscheinung in dieser Aktivität fallen in eins, wohingegen die gesellschaftliche Funktion des Antonio, die — wie zu zeigen sein wird — in Wahrheit das gesamte Stück bewegt und zusammenhält, aus diesem, aus seiner Person herausverlegt, auf zahllose andre, auf Juniorpartner (wie Bassanio), auf Angestellte wie die Kapitäne und Matrosen seiner Schiffe usw. übertragen ist. Antonio hat nicht einmal wie der Schatzbildner des Mittelalters, der Wucherer, Bargeld zur Verfügung, denn er hat alles verwandelt in Warenkapital: Antonio als Person ist n i c h t s , als personifiziertes Kapital ist er der Motor des Stückes, das Shakespeare durchaus nicht zufällig nicht Shylock, Porzia, Venedig oder Belmont oder sonstwie nannte, sondern Der Kaufmann von Venedig. Als personifiziertes Kapital aber ist Antonio in seiner individuellen Erscheinung im Gegensatz zu den andren unter Einschluß Shylocks — gleichgültig, gesichtslos. Erst von hier wird der (doch stets gesuchte „tiefere") Sinn des Dialogs zwischen Graziano und Shylock verständlich, aus dem immer nur die bekannten Sätze des Antonio herausgenommen und 198

psychologistisch-immanent interpretiert wurden und werden. Graziano stellt fest, Antonio habe sich verändert (I 1): Ihr seid nicht wohl, Signor Antonio; Ihr macht Euch mit der Welt zuviel zu schaffen: Der kommt darum, der mühsam sie erkauft. Glaubt mir, Ihr habt Euch wunderbar verändert. Also war Antonio nicht immer so, wie er nun ist, und diese Veränderung (zur Melancholie) muß zusammenhängen mit seinen Versuchen, die Welt „mühsam" zu „erkaufen". Die Antwort Antonios wurde und wird von seinen Interpreten irgendwo in einer vermuteten Gefühlswelt angesiedelt (wie z. B.: Antonio habe gerade zuvor erfahren, obwohl davon nichts im Text steht, daß Bassanio ihn zugunsten einer Frau, Porzias, verlassen wolle, und deshalb sei Antonio traurig, da er seine Liebe zu Bassanio — auch dem Sittenkodex seiner Zeit entsprechend — nicht realisieren könne 5 7 4 ): Mir gilt die Welt nur wie die Welt, Graziano: Ein Schauplatz, wo man eine Rolle spielt, und mein' ist traurig. Im Gegensatz zu den Shakespeare-Interpreten versteht Graziano diese Antwort m. E. richtig. Er weiß, daß Antonio das Auseinanderfallen von sozialer Funktion und individueller Erscheinung meint, dem Antonio als Kapitalist notwendigerweise unterworfen ist, und er versucht, „Trost" zu spenden, indem er ihm darlegt, daß selbst da, wo soziale Funktion und individuelle Erscheinung bzw. Aktivität in eins fallen bzw. zu fallen scheinen, oft nichts andres zu finden ist als falscher Schein, Täuschung und Verstellung. Was aber trauert dann der noch um solchen Schein, der — wie Antonio — gar keinen besitzt? „Laßt den Narren mich spielen," ruft Graziano, sich selbst als Beispiel benutzend, aus: mit Lust und Lachen laßt die Runzeln kommen, und laßt die Brust von Wein mir lieber glühn, als lärmendes Gestöhn das Herz mir kühlen. Weswegen sollt' ein Mann mir warmem Blut da sitzen wie ein Großpapa, gehaun in Alabaster? Schlafen, wenn er wacht? 199

Und eine Gelbsucht an den Leib sich ärgern? Antonio, ich will dir etwas sagen; ich liebe dich, und Liebe spricht aus mir: Es gibt so Leute, deren Angesicht sich überzieht gleich einem stehnden Sumpf, und die ein eigensinnig Schweigen halten, aus Absicht, sich in einen Schein zu kleiden von Weisheit, Würdigkeit und tiefem Sinn; als wenn man spräche: „Ich bin Herr Orakel; tu' ich den Mund auf, rührt' sich keine Maus!" O mein Antonio, ich kenne deren, die man deswegen bloß für Weise hält, weil sie nichts sagen: sprächen sie, sie brächten die Ohren, die sie hörten, in Verdammnis, weil sie die Brüder Narren schelten würden. Ein andermal sag' ich dir mehr hievon. Doch fische nicht mit so trübsel'gem Köder nach diesem Narrengründling, diesem Schein.

Der Bollen des Antonio Das, was verschiedenen Kritikern ein Mangel in der Gestaltung des Antonio zu sein schien, seine Färb- und Gesichtslosigkeit, seine Nicht-Individualität, stellt eine besonders geniale Leistung Shakespeares dar, ist es doch gerade diese Qualität, in der sich Antonios (gesellschaftliches) Wesen als personifiziertes Kapital ausdrücken kann. Gerade darin offenbart Shakespeare Antonios Wesen, daß er ihn im Gegensatz zu den andren Gestalten, vor allem Shylock/ Jessica, Bassanio/Porzia (aber auch Graziano/Nerissa und sogar zum Narren Lancelot/Gobbo/Vater/Negerin) ohne jeden privaten Bezug darstellt: sein Haus wird, im Gegensatz zu Shylocks Haus und Porzias Palast, nicht gezeigt, Frau und Kinder oder überhaupt Familie scheint er nicht zu besitzen, auf die Frage, ob er verliebt sei, antwortet er mit „Pfui!" — wäre dies alles nicht so, besäße er Familie, Frau und Kinder, hätte er ein Haus, würde auch er irgendwelchen Gefühlsregungen gehorchen, so würde abgelenkt vom Wesentlichen. Der u n i n t e r e s s a n t e Privatmann Antonio würde den Blick auf seine g e s e l l s c h a f t l i c h e F u n k t i o n verhindern, die Shakespeare offenlegen will. 200

Gemütsregungen kennt Antonio nur in dreierlei Hinsicht: erstens im Hinblick auf seine gesellschaftliche Aktivität bzw. seine Rolle in der Gesellschaft, wie er selber sagt: sie erfüllt ihn mit Traurigkeit; zweitens im Hinblick aufBassanio, dem er in Freundschaft zugetan ist; drittens im Hinblick auf Shylock, den er haßt. Würden wir diese dreifache Gemütsbewegung aus irgendwelchen psychischen Veranlagungen oder Veranlassungen erklären wollen, so wie die Interpreten es mit Vorliebe tun575*, so säßen auch wir dem Schein auf, vor dem Graziano warnt: wir sähen nur das Äußere, nicht aber das Innere der Sache, das Wesentliche (von dem der Schein, das Äußere bzw. die Verwirklichung des Wesentlichen in Schein und Äußerem, in der Materialisierung nicht getrennt werden kann). Betrachten wir zunächst seine Melancholie, die aus seiner „Scheinlosigkeit" entspringt, aus seiner individuellen Bedeutungslosigkeit, seiner leiblich-physischen Inaktivität, aus der notwendigen Abtretung seiner gesellschaftlich-materiellen Funktion (handelskapitalistische Geschäfte zu treiben) an Stellvertreter, Agenten, Angestellte. Die einzig mögliche Alternative, die ihn aus dieser Melancholie erlösen könnte, kommt ihm bezeichnenderweise nie in den Sinn: der (tatsächlich „romantisch"-kindliche bzw. jugendliche) Verzicht auf das Kapital, das er arbeiten bzw. zirkulierend Profit abwerfen läßt, der Rückzug in die Aktivität des selbsttätigen (Kleinst-)Unternehmers, die Selbstreduktion auf die Größenordnung eines Bassanio. Einer derartigen (möglichen) kindischen Regung kommt er nicht nach, sondern er flüchtet sich in Selbstmitleid und Sentimentalität. Der Gegenstand seiner sentimentschwangeren Zuneigung ist Bassanio, was die Interpreten zu allerlei Vermutung unter Einschluß seiner Homosexualität veranlaßte, obwohl — oder vielleicht: weil — es dafür auch nicht einen konkreten Hinweis im Kaufmann von Venedig gibt. Wesentlich näher liegt die Vermutung, daß Antonio, der merchant adventurer, der nicht mehr selbst auf Abenteuerfahrt geht, in Bassanio, dem aktiven adventurer, seiner eigenen Jugend nachtrauert. Doch verlassen wir zunächst das Sentiment und wenden wir uns seiner Grundlage zu. Bassanio hat, so erfahren wir von ihm selbst, bei Antonio Kapital aufgenommen, Geld geliehen, um Geschäfte zu machen, die aber nichts oder doch zu wenig einbrachten: wie auch immer, Bassanio hat zu viel ausgegeben und ist bei Antonio verschuldet. Dennoch rechnet er fest darauf, daß Antonio ihm wieder Geld leiht, und er wird in dieser Zuversicht nicht enttäuscht. Welche Funktion näm201

lieh hat Bassanio für Antonio? Die Antwort liegt auf der Hand, sie liegt in der realen Geschichte, sie braucht nur abgelesen zu werden: das ganze 16. Jahrhundert hindurch (und z. T. noch später) investieren zahllose Antonios, reiche merchant adventurers, die nicht mehr selbst zur See fahren, in Übersee-Adventures, finanzieren Übersee-Adventurers, die in unbekannte Gegenden fahren auf der Suche nach Gold, Silber, nach neuen Rohstoffquellen, neuen Warenmärkten und Handelsmöglichkeiten. Diese Unternehmungen waren keineswegs immer erfolgreich, und die Kaufleute investierten nach Möglichkeit nur so viel Kapital in sie, wie sie aus dem Profit aus andren Geschäften abzweigen konnten, ohne diese bzw. ihre Existenzgrundlage zu gefährden. Nicht anders verhält sich Antonio (mit der Einschränkung, daß er einmal die genannte Vorsichtsregel außer acht läßt); nicht anders versteht es Bassanio: Bassanio verkörpert das Adventure-Risiko, das der reiche Kaufmann, der nicht mehr selber fährt, auf sich nimmt in der Finanzierung großer adventures, und das er der' möglichen großen, bisweilen — wie wir an Drakes Beispiel sahen — sogar riesigen Profite wegen liebt. Aber ist da nicht auch Bassanios „richtige" Liebe zu Porzia? Auch Antonio fragt Bassanio nach dieser Dame, und Bassanio spricht — von Geschäft! Für ihn ist die Porzia-Affäre zuallererst einmal ganz schlicht ein Adventure-Unternehmen mit Aussicht auf Profit, zu dem er Kapitaleinlagen (von Antonio) braucht. Wen das überrascht (und verschiedene Interpreten wiesen und weisen derartige Erkenntnisse empört als Shakespeares nicht würdig zurück), der hat Shakespeare nicht aufmerksam genug gelesen: in der Verbindung von sozialem Wohlstand bzw. Geld(kapital) und Liebe hat nicht etwa die Liebe die Priorität (und auch umgekehrt dem Geld die Priorität zuzuerkennen, ist nicht ohne weiteres statthaft) — das eine ist mit dem andren so verbunden, daß beide Elemente nicht getrennt werden können. Das aber ist eigentlich für eine Zeit nicht sonderlich überraschend, in der Geld bzw. Kapital die entscheidende (revolutionäre) Waffe gegen feudale Unterdrückung, materielle und geistige Knechtschaft ist. Erst einer Zeit, in der das Kapital die Menschheit unterjocht, kann die Verbindung Geld—Liebe (bzw. Ökonomie und menschliches Gefühl) suspekt werden (weil die Ideologen des Kapitals ein großes Interesse daran haben, diese Verbindung von Ökonomie und menschlichem Empfinden zu tabuisieren). Zu Shakespeares Zeit aber wird die Verbindung von b ü r g e r l i c h e m Reichtum (in der Form des Handelskapitals z.B.) und 202

Liebe durchaus von den fortschrittlichen anti-feudalen Kräften bejaht. Mit welcher Unbekümmertheit diese Bejahung erfolgte, kann man Der Widerspenstigen Zähmung entnehmen. Der reiche (!) Petruchio kommt nach Padua und hört dort durch seinen Freund Hortensio von einer immens reichen, aber zänkischen jungen Frau, die zu freien wäre. Hortensio meint, so reich sie auch sei, er könne sie dem Petruchio nicht empfehlen, worauf dieser: Signor Hortensio, unter alten Freunden braucht's wenig Worte. Weißt du also nur ein Mädchen, reich genug, mein Weib zu werden (denn Gold muß klingen zu dem Hochzeitstanz) — sei sie so häßlich als Florentius' Schätzchen, alt wie Sibylle, zänkisch und erbost wie Sokrates' Xanthippe, ja noch schlimmer, ich kehre mich nicht dran, und nichts bekehrt zu andrer Meinung mich, und tobt sie gleich dem Adriat'schen Meer, vom Sturm gepeitscht: Ich kam zur reichen Heirat her nach Padua, wenn reich, kam ich zum Glück hierher nach Padua.576 Petruchio ist nicht etwa ein häßlicher, ein unsympathischer Alter, sondern im Gegenteil ein vor Leben überschäumender, schöner, geistreicher und entschlossener Jüngling, der seine Vitalität nicht zuletzt seinem Reichtum dankt: „du kennst die Kraft des Goldes nicht!," ruft er Hortensio zu: „Sag ihres Vaters Namen, das genügt/: Ich mach' mich an sie, tobte sie so laut/ wie Donner, wenn im Herbst Gewitter kracht."577 Der Zufall (bzw. Shakespeare) will es, daß die zänkische Jungfrau auch schön ist, und so kommt im Fall des Petruchio zum Geschäft noch die Liebe, und dem Komödienschluß steht nichts mehr im Wege. Im Kaufmann von Venedig verhält es sich nicht anders. Nicht das Geld als (Handels-)Kapital ist negativ zu bewerten, sondern das Geld, das den kapitalistischen Handel be- oder verhindert: das akkumulierte Wucherkapital des Shylock. Das gilt mit veränderten Vorzeichen grundsätzlich auch für das Geld/Gold in Shakespeares Timon von Athen, wo Shakespeare Akkumulationstrieb und Verschwendungssucht gegenüberstellt, um die verheerenden Folgen des einen und des andren, besonders aber die der rücksichtslosen Thesaurierung, der rücksichtslosen Besitzvermehrung zu zeigen. 203

Daß Shakespeare sich der Zerstörungs- und Auflösungspotenzen, die im Geld schlummern bzw. durch dieses freigesetzt werden, voll bewußt ist, wie die von Marx im Kapital zitierte Rede des Timon beweist, 578 zeugt nur noch einmal von der genialen Scharfsinnigkeit Shakespeares: auch im Kaufmann von Venedig wird die menschheitsbefreiende Kraft des Handelskapitalismus gefeiert, ohne daß Shakespeare seine Gefahren übersähe. Für Antonio/Bassanio hat das Geld als Handelskapital die Funktion der Waffe, mit der die Unterdrückung durch den Feudaladel (Marokko, Arragon usw.) ebenso überwunden wird wie das mittelalterliche Wucherkapital (Shylock). Bassanio braucht Antonios Kapitaleinlage, um seinen Konkurrenten im Kampf um Porzia ebenbürtig zu sein (I 1): „O mein Antonio, hätt' ich nur die Mittel,/ den Rang mit ihrer einem zu behaupten,/ so weissagt mein Gemüt so günstig mir,/ ich werde sonder Zweifel glücklich sein." „Den Rang mit ihrer einem zu behaupten"? — wer sind denn diese so gefürchteten Konkurrenten des Bassanio? Ausnahmslos (und die Shakespeare-Interpreten scheinen dies weitgehend übersehen zu haben) feudale Kleinadlige oder große Feudalherren. Die Tatsache, daß Bassanio beim Namen Porzia zunächst an ein Adventure-Geschäft denkt und erst danach dies mit Liebesdenken noch erhöht, ist also nicht nur durchaus „moralisch", es ist durchaus revolutionär (und alles andre wäre eine Beleidigung für Porzia gewesen): Bassanio kämpft gegen die feudale Knechtung und die knechtische Gesinnung, gegen die feudale Herrenmoral, für die Menschheitsbefreiung, für die Liebe, die ohne diese Freiheit nichts wäre. Liebe und Freiheit sind in eins gesetzt, und die Waffe im Kampf um beides ist das Handelsgeschäft, die HandelsAdventure, die Bassanio als Stellvertreter bzw. Juniorpartner Antonios ausführt. Mit welchem Unverständnis Shakespeares Interpreten Antonio (bzw. Bassanio) bisweilen gerade da verniedlichen, wo er groß ist, ergibt sich nicht zuletzt aus ihren Kommentaren zum Kreditaufnahme-Dialog zwischen Bassanio und Antonio. Von Antonio nach jener „lady" gefragt, zu der Bassanio fahren möchte, um sie für sich zu gewinnen, erinnert Bassanio Antonio zunächst an die Schulden, die er noch bei ihm hat, um dann eine völlig richtige, wagemutige Rede anzuschließen, die vom Shakespeare-Experten Quiller-Couch allerdings „windy-nonsense", „windiger Blödsinn" genannt wird 579 :

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In meiner Schulzeit, wenn ich einen Bolzen verloren hatte, schoß ich seinen Bruder von gleichem Schlag den gleichen W e g ; ich gab nur besser acht, um jenen auszufinden, und beide wagend, fand ich beide oft. Ich führ' Euch dieses Kinderbeispiel an, weil das, was folgt, die lautre Unschuld ist. Ihr lieht mir viel, und wie ein wilder Junge verlor ich, was Ihr lieht; allein, beliebt's Euch noch einen Pfeil desselben Wegs zu schießen, wohin der erste flog, so zweifl' ich nicht: Ich will so lauschen, daß ich beide finde. W o nicht, bring ich den letzten Satz zurück und bleib' Eu'r Schuldner dankbar für den ersten. 580 * So wie z. B. Raleigh Jakob I. 1617 die Finanzierung einer AdventureExpedition zu einer Goldmine in Guayana vorschlägt, so schlägt Bassanio Antonio eine Adventure-Fahrt vor, die hohen Profit abwerfen soll. Es ist nicht das erste Unternehmen (der erste „Bolzen"), in das Antonio Kapital steckt, aber dieses wird nach Meinung Bassanios nicht nur erfolgreich sein, sondern so viel Profit einbringen, daß es auch die Verluste der vorherigen Unternehmen ausgleicht. Derjenige aber, der diesen neuen „Pfeil", diesen neuen „Bolzen" abschießt, ist nicht etwa Bassanio, sondern Antonio. Es ist also Antonio, der das Unternehmen entscheiden und beschließen und finanzieren muß, und es ist Bassanio, der es in seinem Auftrag ausführt. Daß Bassanio das Unternehmen zuallererst ganz nüchtern als ein Geschäft betrachtet und nicht etwa als ein Liebesdrama, ergibt sich im übrigen auch aus einem andren „Detail": was ist, wenn dieses Unternehmen trotz Bassanios günstiger Prognose doch scheitern sollte? Bassanio ist nüchtern genug, diese Möglichkeit ins Augen zu fassen. Bräche ihm dann das Herz aus ungestillter Liebe? Sorgen einer bürgerlichen Exegetik, die kein gutes Gewissen mehr besitzt, Ausdruck sentimentalen Jammers „über den Abstand zwischen der bürgerlichen Wirklichkeit und seinen nicht minder bürgerlichen Illusionen über diese Wirklichkeit" 5 8 1 ! Bassanio hat nur einen Gedanken für diesen Fall: er wird Antonios Kapitaleinlage zurückbringen (d. h. er schätzt das Verlust-Risiko gering ein, denn — in der Tat — er braucht das Geld zu Repräsentationszwecken, Hochzeitsgeschenken, usw.. Erringt er Porzia nicht,

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entstehen ihm auch weiter keine größeren Ausgaben, und er kann Antonio das Kapital zurückbringen). Das ist ein Unternehmen, das Antonio interessiert, denn Bassanios Adventure-Geschäfte hat er bislang aus seinem ProfitÜberschuß in der Hoffnung auf Gewinn finanziert. Finanziert er ihn jetzt nicht weiter, so besteht die Gefahr, alles, was er zuvor investiert hatte, zu verlieren (Bassanios Zwei-Bolzen-Geschichte). Wagt er jedoch noch einmal, so besteht die Möglichkeit, daß er die vorherigen Verluste ausgleicht und darüber hinaus den großen Gewinn macht, den er zuvor mit Bassanios Unternehmen nicht erreicht hatte. Bassanio ist zuversichtlich, seine Rede ist überzeugend : „Unstreitig tut Ihr jetzt mir mehr zu nah," sagt Antonio zu Bassanio, als dieser ihn bittet, ihm trotz seiner Schulden das Kapital vorzustrecken, „da Ihr mein Äußerstes in Zweifel zieht,/ als hättet Ihr mir alles durchgebracht. / So sagt mir also nur, was soll ich tun . . . "Und hier endlich kommt auch die Freundschaft zu ihrem Recht: mit diesen Worten, mit denen Antonio seine Bereitschaft bekundet, dem Adventure-Fahrer Bassanio die Expedition zu finanzieren, hat Antonio die Freundschaftsprobe bestanden, die übers Kreditgewähren abzulegen war. Denn dem Herausgeber der Cambridger Edition ist ganz entgangen, daß das, was er als „windy nonsens" bezeichnet, die Variation einer solchen Freundschaftsprobe darstellt, die Shakespeare aus einem der wichtigsten Kaufmannshandbücher der Renaissance, aus L. B. Albertis Deila Famiglia bekannt war. Gianozzo Alberti erklärt, er würde es ablehnen, je einen Freund um einen Kredit zu bitten, so wie er es ablehnen würde, zu borgen. Darauf fragt ihn Adovardo Alberti: „Sagt mir doch Gianozzo: wenn Ihr einen Bogen hättet, würdet Ihr ihn nicht spannen wollen und ein oder das andere Mal in Friedenszeiten einen Pfeil abschießen, um zu sehen, was er in der Schlacht wider die Feinde taugen möchte?" 582 Gianozzo bejaht, und Adovardo erklärt seine Frage: „Ich möchte damit nur sagen, daß ich glaube, so müsse man es auch mit den Freunden machen: in friedlicher, ruhiger Zeit sie erproben, damit man wisse, was sie in bedrängter wert sind; in kleinen, häuslichen Angelegenheiten sie auf die Probe stellen, um zu wissen, wie sie sich in großen und öffentlichen bewähren würden; prüfen, wie eilig sie es haben, zu deinem Nutzen und zu deiner Ehre beizutragen, wie bereit sie sind, dich im Mißgeschick zu tragen und zu unterstützen und aus dem Unheil zu retten."583 206

Shakespeare rückt die Dinge zurecht: nicht der Kreditaufnehmer stellt (zumindest bei einem so großen Kredit und einer so riskanten Adventure-Unternehmung) den Kreditgeber auf die Probe, schießt in diesem und mit diesem einen Pfeil ab, sondern der Geldverleiher, der Kapitalist schießt einen Bolzen (und zwar hier: einem oder mehreren andern hinterher). Dennoch: wie bei Alberti realisiert sich auch hier in Kreditgewährung und Handelsunternehmen Freundschaft: die Beziehungen zwischen Bassanio und Antonio sind komplizierter als die Freundschaftsprobe in Deila Famiglia, aber sie sind solide, so solide, wie die Geschäfte des Antonio. Erst freilich in dem Augenblick, da Antonio überzeugt ist und die Sache spruchreif wird, kann Bassanio auch privat-persönlich über jene „lady" sprechen, nach der Antonio gefragt hatte: In Belmont ist ein Fräulein, reich an Erbe, und sie ist schön und, schöner als dies Wort, von hohen Tugenden; von ihren Augen empfing ich holde stumme Botschaft einst. Ihr Nam' ist Porzia; minder nicht an Wert als Catos Tochter, Brutus' Portia. Auch ist die weite Welt des nicht unkundig, denn die vier Winde wehn von allen Küsten berühmte Freier her; ihr sonnig Haar wallt um die Schläf ihr, wie ein goldnes Vlies: Zu Kolchos' Strande macht es Belmonts Sitz, und mancher Jason kommt, bemüht um sie. O mein Antonio, hätt' ich nur die Mittel, den Rang mit ihrer einem zu behaupten, so weissagt mein Gemüt so günstig mir, ich werde sonder Zweifel glücklich sein. Auch die Anwort, die Antonio darauf gibt, bestätigt noch einmal, wie bei Shakespeare Ökonomie und seelische Empfindung in eins gesetzt werden. Antonio fragt nicht weiter nach Porzia, äußert nicht den Wunsch, ihr zu begegnen, Bassanio mit ihr glücklich zu sehen (im Sinn eines verheirateten Paares). Er antwortet auf Bassanios Lob der Schönheit Porziens:

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Du weißt, mein sämtlich Gut ist auf der See; mir fehlt's an Geld und Anstalt, eine Summe gleich bar zu heben; also geh, sieh zu, was in Venedig mein Kredit vermag: Den spann' ich an, bis auf das äußerste, nach Belmont dich für Porzia auszustatten. Geh, frage gleich herum, ich will es auch, wo Geld zu haben: ich bin nicht besorgt, daß man uns nicht auf meine Bürgschaft borgt. Es ließen sich noch zahlreiche Belege für diese unauflösliche Verbindung von Besitz- bzw. Profitvorstellungen und Liebesempfindungen beibringen (man denke nur an die erste Reaktion Porzias, als Bassanio sie durch die richtige Kästchen wähl gewonnen hat: sie wäre gern [III 2] „noch tausendmal so schön, zehntausendmal so reich"), uns soll jedoch zum Ende dieses Abschnittes ein anderes Zitat zeigen, wie sehr Antonio sich als der fühlt, der et in Wirklichkeit ist: der Finanzier, der eigentliche Träger des AdventureGeschäftes. Die Teilnehmer an der Expedition wollen eigentlich noch ein Abschiedsfest veranstalten, aber Antonio entscheidet anders. Als er Graziano, einen der mitfahrenden adventurers trifft, ruft er ihm zu (II 6): Ei, ei, Graziano, wo sind all die andern? Es ist neun Uhr, die Freund' erwarten Euch. Kein Tanz zu Nacht, der Wind hat sich gedreht, Bassanio will im Augenblick an Bord; wohl zwanzig Boten schickt' ich aus nach Euch.

Homo novus Antonio versus bomo antiquus Sbylock Natürlich ist den Interpreten nicht entgangen, daß in der Auseinandersetzung zwischen Antonio und Shylock auch das Problem des Wuchers eine Rolle spielt. Wie mir scheint, sind sie jedoch oft von einem entscheidenden Mißverständnis ausgegangen: sie haben Antonios religiös getarnte Polemik gegen Shylock für bare christliche Münze genommen und statt vom tatsächlichen Konflikt zu sprechen (bzw. statt den Text genau zu lesen), haben sie die mittelalterlich-kirchliche Wucherdiskussion bzw. Wucher-Verurtei208

lung zitiert und Antonio unter diese Position subsumiert. 584 Antonio ist aber nicht der Vertreter der mittelalterlichen Kirche bzw. des kirchlichen Wucherverbotes, sondern des modernen Handelskapitals: Antonio polemisiert der allgemeinen — zuvor mit Marx und Engels dargestellten — Wucherdiskussion der Epoche entsprechend gegen das mittelalterliche Wucherkapital und tritt a k t i v ein für moderne Handelskredite. Daß er sich dabei auch vorgeblich christlich-religiöser Argumente bedient, wird nicht nur — wie zu zeigen sein wird — von Shakespeare verurteilt, es macht Antonio sogar zum ausgesprochenen Zyniker. 585 * Fromm ist er immer nur, wenn er gegen Shylock bzw. das Wucherkapital polemisiert, 586 * sonst aber verschwendet er keinen Gedanken an Gott und die Kirche — Antonio im Gebet: ein unvorstellbares Bild. Spiegelverkehrt zu Antonio, dem personifizierten Handelskapital, steht Shylock, das personifizierte Wucherkapital. Shylock haßt Antonio, und über den wichtigsten Grund für seinen Haß läßt Shakespeare den Zuschauer nicht im unklaren: „Wie sieht er einem falschen Zöllner gleich!", sagt Shylock über Antonio (I 3): „Ich hass' ihn, weil er von den Christen ist,/ doch mehr noch, weil er aus gemeiner Einfalt/umsonst Geld ausleiht und hier in Venedig/den Preis der Zinsen uns herunterbringt." Und damit tut Antonio etwas, was dem ökonomischen Ideal der Epoche entspricht: den Zins zu beschränken ist die aktuelle Forderung dieser Zeit, um Geld in Handel oder Manufaktur investieren zu können. Während Shylock seinen Wucherkredit als Konsumkredit versteht 587 * und dezidiert gegen das Investieren von Kapital in den See- bzw. Großhandel polemisiert, 588 * verwendet Antonio sein Geld als Kapital in Handelsgeschäften. Auf diesem Hintergrund ist der Dialog zwischen Antonio und Shylock zu verstehen, als Antonio für das adventure-Geschäft mit Bassanio Kredit aufnehmen will (I 3): Antonio: Shylock, wiewohl ich weder leih' noch borge, um Überschuß zu geben oder nehmen, doch will ich, weil mein Freund es dringend braucht, die Sitte brechen. — Ist er unterrichtet, wieviel er wünscht? Shylock: Ja, ja, dreitausend Dukaten. Antonio: Und auf drei Monat. Shylock: Ja, das vergaß ich — auf drei Monat also. Nun gut denn, Eure Bürgschaft! Laßt mich sehn — 14

Neriich, Kritik

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Doch hört mich an: Ihr sagtet, wie mich dünkt, daß Ihr auf Vorteil weder leiht noch borgt. Antonio: Ich pfleg' es nie. Wir dürfen das wesentliche Argument dieses Dialogausschnittes nicht übersehen: Antonio gibt keine Wucherkredite. Abgesehen davon, daß er mit seinem Kapital eigene Geschäfte mittels Angestellten ausführen läßt, stellt Antonio anderen adventurers, z. B. Bassanio, Kapital zur Verfügung, so daß diese Handel treiben können. Aus dem Profit, den sie erzielen, erhält er — wie wir von Bassanio hörten — seinen Anteil (seine Einlage plus entsprechende Profitquote). I n s o f e r n kann Antonio zu Recht erklären, er leihe oder borge nicht auf Vorteil (wie der mittelalterliche bzw. feudale Wucherer), um so mehr, als sich seine Investitionen bzw. seine Kredite vom mittelalterlichen Seedarlehen unterscheiden, dessen Zinsfuß bei ca. 35 Prozent lag : 5 8 9 Antonio stellt — wie er sagt — sein Geld „umsonst" zur Verfügung, was heißt, daß er entweder zu niedrigem Zinsfuß leiht oder aber Kapital in der Form der Aktieneinlage hergibt und somit seinen Zins aus dem erwirtschafteten (Handels-)Profit, nicht aber aus dem (Grund-)Besitz des Borgers gewinnt. Er kann sich dabei sogar auf christliche Tugenden wie die Barmherzigkeit berufen, zumal die Kirche diese Form des Kredits stets geduldet hatte 590 und sich im 16. Jahrhundert — nicht zuletzt unter dem Einfluß Calvins — eine neue Argumentation herausgebildet hat: was ist hartherziger, seinen Reichtum in einer Truhe (als Schatz) zu verschließen oder aber ihn anderen zur Verfügung zu stellen, die mit seiner Hilfe aktiv werden und Besitz gewinnen können (in diese Richtung gehen auch die Überlegungen Bacons59i)? Abgesehen von seinem eigenen unmittelbaren Profit im Handelsgeschäft hat Antonio mit seinen Krediten aber auch etwas anderes im Sinn: er will den Konkurrenten Shylock ruinieren, indem er ihm das Geschäft verdirbt. Um diesen Zusammenhang ganz zu verstehen, muß man sehen, daß sowohl Antonio als auch Shylock Repräsentanten zweier verschiedener Systeme sind: Handelskapital versus feudales Wucherkapital, oder kürzer: kapitalistirche Produktionsweise gegen feudale. Erst hier erklärt sich, was die Verwunderung zahlreicher Interpreten hervorgerufen hat: wieso ein derart potenter Kaufmann wie Antonio nicht woanders einen Kredit hätte aufnehmen können (z. B. bei einem Adventurer-Bru210

der), -warum nicht andre Kaufleute Antonio zu Hilfe eilten, als sein Schuldschein an Shylock verfiel usw. Shakespeare stellt den von ihm beobachteten, geschichtlichen Prozeß des Aufeinanderpralls zweier ökonomischer und politischer Systeme dar. Zwar gestaltet er Individuen, aber diese sind gleichzeitig Symbolgestalten, die das jeweils andre System verkörpern. Allein dadurch werden die Dimensionen des Hasses und des wechselseitigen Vernichtungswillens bei Antonio und Shylock verständlich. Hier geht es nicht um einen „normalen" Konkurrenzkampf, sondern um die Auseinandersetzung zwischen altem und neuem System, Kapitalismus und Feudalismus, Bürgertum und Feudaladel (plus entsprechendem ökonomischen System, zu dem auch das Wucherkapital gehört), und diese Auseinandersetzung kann nur mit der Vernichtung des Gegners enden: „Ich will sein Herz haben, wenn er verfällt," sagt Shylock (III 1), „denn wenn er aus Venedig weg ist, so kann ich Handel treiben, wie ich will." Natürlich gibt es in der Wirklichkeit — und Shakespeare weiß dies so gut wie jeder Zuschauer — nicht nur e i n e n Handelskapitalisten Antonio. Shylocks Rede hat also nur dann einen Sinn, wenn Antonio das Handelskapital insgesamt personifiziert (was nicht hindert, daß an andrer Stelle Antonio auch von andren Kaufleuten spricht: 5 9 2 * im Gegenteil, dadurch macht Shakespeare erst recht auf die symbolische Funktion der Gestalten aufmerksam). Als personifiziertes Handelskapital verleiht Antonio seinen Krediten noch eine besondere Wucht. Es sind sozusagen Dumpingkredite gegen das Wucherkapital: „Oft hab' ich Schuldner, die mir vorgeklagt," kommentiert Antonio diesen Kampf mit Shylock (III 3), „davon erlöst, in Büß' ihm zu verfallen; deswegen haßt er mich." Daß dies tatsächlich so ist, hat uns Shylock bereits bestätigt. 593 Antonio ruiniert ihm das Geschäft, Antonio will ihn vernichten und Antonio ist ganz offensichtlich der Stärkere, denn er hat Erfolg bis zu dem Augenblick, da er (anscheinend) zu hohe Risiken eingeht, da er seine Adventure-Unternehmen nicht mehr aus dem erwirtschafteten Profit, aus dem zirkulierenden Kapital finanziert, sondern auf der Jagd nach Profit Fremdkapital aus dem alten feudalen Wuchersystem aufnimmt. Er schreibt Shylock den berühmten (nur aus der Tatsache, daß es sich um den auf Vernichtung zielenden Kampf der genannten Systeme handelt, bei dem das moderne kapitalistische vom Sieg völlig überzeugt ist 5 9 4 *, verständlichen) Schuldschein aus, und als die ersten Nachrichten von An211

tonios geschäftlichen Mißerfolgen eintreffen, triumphiert Shylock. Einer der Freunde Antonios fragt ihn, ob es zutreffe, daß Antonio einen „Verlust zur See" gehabt habe, und Shylock antwortet (III 1): Shylock: Da hab' ich einen andern schlimmen Handel: ein Bankrottierer, ein Verschwender, der sich kaum auf dem Rialto darf blicken lassen; ein Bettler, der so schmuck auf den Markt zu kommen pflegte! — Er sehe sich vor mit seinem Schein! (Er hat mich immer Wucherer genannt — er sehe sich vor mit seinem Schein! — ) Er verlieh immer Geld aus christlicher Liebe — er sehe sich vor mit seinem Schein! Salarino: Nun, ich bin sicher, wenn er verfällt, so wirst du sein Fleisch nicht nehmen: wozu wär' es gut? Shylock: Fische mit zu ködern. Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache. Er hat mich beschimpft, mir 'ne halbe Million gehindert; meinen Verlust belacht, meinen Gewinn bespottet, mein Volk geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde verleitet, meine Feinde gehetzt. Und was hat er für Grund? Ich bin ein Jude.

Antonio bat das blutigste Gesiebt Von allen Interpreten des Kaufmann von Venedig, speziell der Gestalt des Antonio, scheint mir Brecht den schärfsten Blick gehabt zu haben, denn vom ersten Augenblick des Auftritts von Pierpont Mauler in der Heiligen Jobanna der Schlachthöfe (Mauler tritt auf zu Beginn des Stückes wie Antonio, und wie Antonio verkündet Mauler seine Melancholie) über die Vertragsspielereien bzw. -listen bis hin zum Ausspielen der christlichen Religion gegen den (kapitalistischen) Konkurenten sind die Analogien, ist das Muster des Kaufmann von Venedig nicht zu übersehen. Von allen Interpreten also scheint mir Brecht den Charakter Antonios am schärfsten durchschaut und in der Gestalt Pierpont Maulers richtig interpretiert, angeeignet und zu einer modernen Gestalt des US-amerikanischen Kapitalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verarbeitet zu haben. Als Johanna vor Pierpont Mauler tritt, der den Makler Slift auffordert, sich als Mauler auszugeben, damit Johanna ihn nicht erkennt, läßt sie sich nicht irre machen:. 212

Johanna: Mauler: Johanna: Mauler: Johanna:

deutet auf Mauler: Sie sind der Mauler. Nein, der ist's. Sie sinds. Wie kennst du mich? Weil du das blutigste Gesicht hast.595

Das blutigste Gesicht im Kaufmann von Venedig hat Antonio. Genauer: er hat, wie Solanio sagt, zwei Gesichter: einen Janus-Kopf 596 *. Noch genauer: das individuell gesichtslose personifizierte Kapital Antonio hat — was uns zunächst beschäftigen soll — wie Pierpont Mauler ein blutiges Gesicht. So wie Johanna das Gesicht des Mauler erkennt, wird das des Antonio von Shylock erkannt. Shylock stößt dabei bis an das Wesen der Sache vor, enthüllt die Heuchelei. Als Antonio vor ihm mit christlichem NächstenliebeSentiment erklärt, er leihe nicht, er borge nicht „um Überschuß zu geben oder nehmen", verwickelt ihn Shylock in ein Gespräch, das von der Forschung — wie mir scheint — kaum beachtet oder falsch — nämlich im wesentlichen auf Shylocks Geldgeschäfte bezogen — interpretiert wurde (I 3): Shylock: . . . Ihr sagtet, wie mich dünkt, daß Ihr auf Vorteil weder leiht noch borgt. Antonio: Ich pfleg' es nie. Shylock: Als Jakob Labans Schafe hütete — er war nach unsrem heil'gen Abraham, weil seine Mutter weislich für ihn schaffte, der dritte Erbe — ja, ganz recht, der dritte. Antonio: Was tut das hier zur Sache? Nahm er Zinsen? Shylock: Nein, keine Zinsen; was man Zinsen nennt, das grade nicht: gebt acht, was Jakob tat: Als er mit Laban sich verglichen hatte, was von den Lämmern bunt und sprenklicht fiele, das sollte Jakobs Lohn sein, kehrten sich im Herbst die brünst'gen Mütter zu den Widdern; und wenn nun zwischen dieser woll'gen Zucht das Werk der Zeugung vor sich ging, so schälte der kluge Schäfer Euch gewisse Stäbe, und weil sie das Geschäft der Paarung trieben, steckt'er sie vor den geilen Müttern auf, die so empfingen; und zur Lämmerzeit 213

fiel alles buntgesprengt und wurde Jakobs. So kam er zum Gewinn und ward gesegnet: Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt. Antonio: Dies war ein Glücksfall, worauf Jakob diente; in seiner Macht stand's nicht, es zu bewirken, des Himmels Hand regiert' und lenkt' es so. Steht dies, um Zinsen gutzuheißen, da? Und ist Eu'r Gold und Silber Schaf und Widder? Shylock: Weiß nicht; ich lass' es eben schnell sich mehren. Doch hört mich an, Signor! Antonio: Siehst du, Bassanio, der Teufel kann sich auf die Schrift berufen . . . Fassen wir zusammen: erstens fragt Shylock, ob er recht gehört habe, daß Antonio nie des Gewinnes wegen Geld leihe oder borge; zweitens: als Antonio dies bejaht, erzählt Shylock eine Geschichte, ein Exempel; drittens: Antonio unterbricht ihn, unterstellt, daß Shylock dieses Exempel (Labans und Jakobs) erzählt, um seine eigenen Wuchergeschäfte zu rechtfertigen. Auf seine Frage, ob Jakob Zinsen nahm, antwortet Shylock viertens: „Nein, keine Zinsen; was man Zinsen nennt, das grade n i c h t . . . " , und fährt fort, fünftens das Exempel weiterzuerzählen. Sechstens: Antonio weist noch einmal eine Verwandtschaft zwischen Shylocks Geldgeschäften und Jakobs Gewinn an Herdenvieh zurück, spricht vom Zufall, dem Jakob seinen Gewinn verdankte und rechtfertigt diesen gegenüber Shylock. Provokatorisch fragt er Shylock siebentens, ob er etwa sein Gold und Silber mit Jakobs Vieh vergleichen wolle, worauf Shylocks achtens demonstrativ diese Diskussion abbricht und zu Antonios Kreditwunsch übergehen will. Die Diskussion aber hat ganz offensichtlich in Antonio einen Stachel hinterlassen, so daß er neuntens zu Bassanio gewandt Shylock als Nicht-Christen, Anti-Christen, als Teufel denunziert. Solange man diesen Dialog so mißversteht, wie ihn Antonio offensichtlich mißverstehen w i l l , ist auch hier der Sinn des Zusammenhanges nicht greifbar, kann auch der Sinn des Stückes, der in jedem Detail und im Gesamtzusammenhang des Stückes steckt, nicht offenbar werden. Shylock benutzt die Laban/JakobLegende keineswegs, um seine eigenen Geschäfte zu erklären oder zu rechtfertigen, sondern um Antonios Behauptung zu widerlegen, er leihe oder borge nie des Vorteils wegen. Nur so hat die Frage 214

Shylocks einen Sinn, für die er die Verhandlung unterbricht: habe ich recht gehört, Sie leihen oder borgen nie des Vorteils wegen? Das englische Wort ist advantage/Vorteil (Gewinn, Profit usw.), und als Antonio diese Behauptung bekräftigt, beginnt Shylock mit der Erzählung der Geschichte, was nur dann einen Sinn hat, wenn Antonio dadurch widerlegt wird (wozu sonst sollte Shylock sie erzählen? sich gegenüber Antonio zu rechtfertigen?) Antonio versteht Shylock (im Gegensatz zu Shakespeares Interpreten) sofort, aber er will ablenken. Für advantage setzt er interest (Zinsen) und fragt, Shylock unterbrechend, ob Jakob (Wucher- bzw. Kredit-) Zinsen genommen habe. Die Antwort Shylocks macht deutlich, was die deutsche Übersetzung nicht wiedergibt, wie subtil Shakespeare die schwierigsten ökonomischen Probleme darzustellen weiß. Nein, (Wucher- bzw. Kredit-)Zinsen nahm Jakob nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn, dem man dem Wort Zinsen/ interest beilegt. Man? Antonio, der aus advantage interest gemacht hat: „ N o , not take interest — not as you would say / Directly interest . . ," 5 9 7 „Nein, er nahm keine Zinsen —," so müßte die korrekte deutsche Übersetzung lauten, „jedenfalls nicht das, was sie d i r e k te Z i n s e n nennen würden . . ." Also nimmt Jakob i n d i r e k t e Zinsen: er investiert Sach- bzw. Warenkapital (Vieh) in ein Unternehmen, das von Laban und ihm gemeinsam getragen wird. Jakob geht ein Risiko ein. Shylock meint Antonio, und Antonio versteht dies ganz genau: er verteidigt, er rechtfertigt Jakob (was kaum Sinn ergäbe, meinte Shylock sich selbst), und auch hier läßt der englische Text keinen Zweifel an der Richtigkeit dieser Interpretation: „This was a venture, sir, that Jacob served for- / A thing not in his power to bring to pass, / But swayed and fashioned by the hand of heaven . . ," 5 9 8 Dies ist die Rechtfertigung des (riskanten) Adventure-Geschäftes, über dessen Ausgang allein der „Himmel" entscheidet. Es ist Antonios Selbstrechtfertigung gegenüber Shylock, die Rechtfertigung des Handelskapitalismus gegenüber dem (wie Child sagte: ängstlichen) Wucherkapital. Antonio aber weiß, daß Shylock verstanden hat, daß es in beiden Fällen um Profit geht, daß der Profit sich nur auf unterschiedliche Weise realisiert und eine Moraldiskussion über das größere Recht der einen oder der anderen Erwerbsform keine entscheidenden Vorteile bringen kann, ja u. U. sogar für das Handelskapital nachteilig wäre, da der erzielte Profit unendlich größer ist als der aus dem Wucherkapital. Darum antwortet er mit „christ215

licher" Polemik, darum bricht auch Shylock die Diskussion ab, weil er sieht, daß sie nicht weiter führt, sondern daß es auf die Vernichtung des Gegners, auf den Kampf ankommt (wie Antonio richtig sagt: Shylock möge ihm nicht als Freund Geld leihen, sondern als Feind [I 3]). Immer wieder hat die Shakespeare-Forschung darüber gestritten, ob Shakespeare Shylock aus Antisemitismus auf die Bühne gestellt hat oder nicht, denn in der Tat, die Sache scheint rätselhaft, gab es doch in England schon seit langem keine jüdischen Wucherer mehr. 599 Die Antwort auf diese Frage ist ein kategorisches, unzweifelhaftes Nein. Im Gegenteil: Shakespeare stellt, wie sich zeigen läßt, Shylock u. a. auf die Bühne, um gegen Rassismus und gegen religiöse Intoleranz zu kämpfen. Er billigt Antonios unsaubere, pseudo-christliche Polemik nicht. In der Gestalt des Shylock übt er zum einen Kritik an den üblen Erscheinungsformen des feudalen Systems, des feudalen Wuchers 600 * (d. h. — und das sei mit allem Nachdruck betont — er billigt Shylocks gesellschaftliche Funktion als Wucherkapitalisten absolut nicht), zum anderen aber kritisiert er in Shylock (als Opfer) die Methoden des Handelskapitalismus: Antonio treibt Kolonialhandel. „Das Kolonialsystem," schreibt Marx, „reifte treibhausmäßig Handel und Schiffahrt. Die 'Gesellschaften Monopolia' (Luther) waren gewaltige Hebel der KapitalKonzentration. Den aufschießenden Manufakturen sicherte die Kolonie Absatzmarkt und eine durch das Monopol potenzierte Akkumulation. Der außerhalb Europa direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital." 6 0 1 An dieser Plünderung, Versklavung, an diesem Raubmord beteiligt sich auch — Antonio, und dies ist die zweite Quelle seiner Melancholie, die ja zunächst einmal die seines Schöpfers Shakespeare i st. Selbstverständlich weiß Shakespeare, was sich in den Kolonien bzw. in den überseeischen Ländern abspielt. In dieser Zeit schlägt die Polemik gegen die Grausamkeit der Spanier gegenüber den Eingeborenen aus durchaus naheliegenden Gründen gerade in England hohe Wellen, wobei die Schrift von Las Casas über die Zerstörung Westindiens die Funktion des dokumentarischen Zeugnisses besitzt: die Engländer aber treiben es nicht anders als die Spanier: 6 0 2 * „Die Behandlung der Eingebornen," konstatiert Marx, „war natürlich am tollsten in den nur zum Exporthandel bestimmten Pflanzungen, wie Westindien, und in den dem Raubmord preisgegebenen 216

reichen und dichtbevölkerten Ländern, wie Mexiko und Ostindien." 603 Gerade dort jedoch, in Mexiko, in Ostindien, treibt Antonio u. a. seinen Handel, und er treibt ihn so wie die andern, er muß ihn so treiben wie die andern (will er der Konkurrenz widerstehen): blutig. Auch deswegen hat Shakespeare einen Juden zum Gegenspieler Antonios gemacht, denn Shakespeare mißbilligt die Greuel der kolonialen Ausbeutung so wie er religiösen Fanatismus, Intoleranz (auch gegenüber Juden 6 0 4 *) mißbilligt. Allein ein Vertreter einer verfolgten, mit vorgeschützten „christlichen" Argumenten erniedrigten und gepeinigten Rasse konnte Antonio bzw. den Vertretern des „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" (Marx) zur Welt kommenden Kapitalismus die Anklage entgegenschleudern, die Shylock vor Gericht erhebt (und allein ein Jude konnte sie in dieser Form erheben). Als Shylock vor Gericht von der Gegenseite vorgehalten wird, er könne im Himmel auf keine Gnade hoffen, bestünde er auf der Einlösung des Schuldscheins und damit auf dem Tod Antonios, antwortet er (IV 1): Welch Urteil soll ich scheun, tu' ich kein Unrecht? Ihr habt viel feiler Sklaven unter euch, die ihr wie eure Esel, Hund' und Maultier' in sklavischem verworfnem Dienst gebraucht, weil ihr sie kauftet. Sag'ich nun zu euch: „Laßt sie doch frei, vermählt sie euren Erben; was plagt ihr sie mit Lasten? Laßt ihr Bett so weich als eures sein, labt ihren Gaum mit eben solchen Speisen!" — Ihr antwortet: „Die Sklaven sind ja unser"; und so geb ich zur Antwort: das Pfund Fleisch, das ich verlange, ist teu'r gekauft, ist mein, und ich will's haben. Wenn Ihr versagt, pfui über Eu'r Gesetz! So hat das Recht Venedigs keine Kraft. Shylock hält mit seiner Grausamkeit den Grausamkeiten der handelskapitalistischen Welt einen kleinen, bescheidenen Spiegel vor. Die Interpreten, die in wechselnder Reihenfolge von der Grausamkeit Shylocks gehandelt haben, übersahen mit wenigen Ausnahmen 6 0 5 * eine — entscheidende — Kleinigkeit: Shylock fordert sein Recht nach dem Gesetz, und das Gesetz, das Handelsgesetz Venedigs (also 217

das handelskapitalistische Gesetz auch Londons) bestätigt ihm nachdrücklich sein Recht. Das Gesetz ist grausam, das Gesetz ist gültig — niemand anders als Antonio bestätigt dies (wie Pierpont Mauler) ausdrücklich immer wieder606*, so wie auch Porzia in der Rolle als Rechtsgelehrter die Gültigkeit des Gesetzes betont,607* und alles, was Shylock versucht, ist, dieses blutige Gesetz zur Vernichtung des Konkurrenten im blutigen Sklaven- und Ausbeutungshandel gegen dessen Träger, das Handelskapital, zu richten, was ihm von Bassanios Seite eine kuriose Beschimpfung einträgt (IV 1): O sei verdammt, du unbarmherz'ger Hund! Und um dein Leben sei Gerechtigkeit verklagt. Du machst mich irre fast in meinem Glauben, daß ich es halte mit Pythagoras, wie Tieresseelen in die Leiber sich von Menschen stecken; einen Wolf regierte sein hünd'scher Geist, der, aufgehängt für Mord, die grimme Seele weg vom Galgen riß und, weil du lagst in deiner schnöden Mutter, in dich hineinfuhr; denn dein ganz Begehren ist wölfisch, blutig, räuberisch und hungrig. Bassanio irrt oder lügt. Er tut so, als wüßte er nicht genau, daß „wölfisch, blutig, räuberisch und hungrig" der koloniale AdventureHandel verfährt und daß Shylock sich nur zur Wehr zu setzen sucht. Gleichviel: das alte System („old 608 * Shylock"), das feudale Wucherkapital, das versucht, die Gesetze der Konkurrenz gegen das Handelskapital einzusetzen, dem sie entspringen und die ein halbes Jahrhundert nach Bassanios Rede im Kaufmann von Venedig von Hobbes zur Basis seiner Gesellschaftskonzeption verklärt werden sollten, kann den Kampf nicht siegreich beenden. Der Handelskapitalismus und seine Gesetze sind mächtiger. Nicht nur, daß Antonio seine Schuld gegenüber Shylock am Ende nicht einlöst, daß er ungeschoren davonkommt: er besiegt seinen Gegner mit Porzias Hilfe, genauer — er vernichtet ihn. Und auch hier zeigt sich wiederum Shakespeares Genialität. Die härteste physische Bestrafung Shylocks, ja ein Todesurteil wäre ein banaler Akt, ein banaler Schluß gewesen. Shakespeare geht es um den geschichtlichen Sieg des Bürgertums, der kapitalistischen Produktionsweise. Antonio verwandelt das angehäufte Wucherkapital Shy218

locks, das ihm nach Spruch des Gerichtes zur Hälfte zufällt, über die testamentarische Verschreibung an Jessica, Shylocks Tochter und ihren Geliebten Lorenzo in Handelskapital: er gibt den Schatz in die Zirkulation.

Falstaff international In der grundsätzlichen Einstellung Shakespeares gegenüber dem bürgerlichen Abenteuer liegt eine Parallele zu der Rabelais': ohne die Augen vor dem Greuel der kapitalistischen Sklaven- und Ausbeutungs- und Raubmordpolitik zu verschließen, ja, diese auf das schärfste verurteilend, bejaht Shakespeare den Sieg Antonios, setzt er seine ganze Hoffnung auf die menschheitsbefreiende Macht der neuen ökonomischen Produktionsweise, den Kapitalismus. Hat er auch Sympathie für das tragische Leiden Shylocks als Repräsentant einer unterdrückten und verfolgten Rasse, so hat er doch nicht das geringste Mitleid mit Shylock als dem Repräsentanten eines die Freiheit des Menschen unmöglich machenden Systems, des Feudalismus. 609 * Von dumpfer Gewinnsucht getrieben, von filzigem Geiz beherrscht, ist Shylock religiösem Wahn verhaftet. Sogar die zynische Handhabung religiöser Argumente durch Antonio ist dem gegenüber bereits ein „Fortschritt", kündigt sie doch die Auflösung religiöser Zwangsvorstellungen an und stellt somit eine V o r s t u f e zur religiösen Toleranz im Reiche Porzias dar. Shylocks Existenz- und Erwerbsform zieht die Verdummung und Versklavung seiner Mitwelt nach sich: der Diener Lanzelot Gobbo wird wie ein Sklave gehalten, ja nicht einmal ausreichend zu essen wird ihm gegeben, und Jessica, Shylocks Tochter, lebt im Hause ihres Vaters wie eine Gefangene: unterjocht, abgesperrt von der Welt, menschenunwürdig. Wenn die Jugend Venedigs ihrer Lebensfreude im karnevalistischen Maskenspiel Ausdruck verleiht, muß Jessica Fenster und Türen verschließen 610 * (II 5): „Was? Gibt es Masken?," fragt Shylock:

Jessica, hör an: Verschließ die Tür, und wenn du Trommeln hörst und das Gequäk der quergehalsten Pfeife, so klettre mir nicht an den Fenstern auf, 219

steck nicht den Kopf hinaus in offne Straße, nach Christennarren mit bemaltem Antlitz zu gaffen; stopfe meines Hauses Ohren, die Fenster, mein' ich, zu, und laß den Schall der albern Geckerei nicht dringen in mein ehrbar Haus. Sowohl Lanzelot als auch Jessica brechen aus diesem Gefängnis feudaler Sklaverei aus: der eine schließt sich dem jungen adventurer Bassanio an, die andre flieht mit dem adventurer Lorenzo in eine bessere Welt, in der der Mensch als Mensch, in der die Frau als Mensch geachtet wird: „Und nun sag deine Meinung, liebes Herz", bittet Lorenzo seine schöne Jüdin (III 5), die nur knechtischen Gehorsam gelernt hat. Aber nicht nur im Sieg Antonios über Shylock und in der Befreiung Jessicas (und auch Lanzelots) begrüßt Shakespeare den h o m o n o v u s , den Kapitalisten: Antonio hat einen Januskopf, und die kapitalistische Produktionsweise hat in der Epoche ihrer Auseinandersetzung mit der feudalen durchaus zwei Gesichter: erstens den blutigen Konkurrenzkampf und die noch blutigere Unterjochung der Neuen Welt (die des Proletariats konnte Shakespeare noch nicht erblicken) und zweitens das der Befreiung vom Feudalismus, das der Erschaffung einer lichteren, besseren Welt: Belmont, das Reich Porzias, und bei der Eroberung dieses Reiches vollendet Bassanio mit dem politischen den ökonomischen Sieg Antonios über den Feudalismus. Auch dies hat die Interpreten des Kaufmann von Venedig wenig oder gar nicht beschäftigt. Alle Gegner des Bassanio bei der Werbung um Porzia sind Fürsten bzw. mehr oder weniger heruntergekommene Kleinadlige: Falstaffs in internationaler Variation. Und Bassanio besiegt sie alle. Zunächst kapituliert der Kleinadel, der bereits so angeschlagen ist, daß er es gar nicht mehr zur entscheidenden Probe kommen läßt. Der Zuschauer lernt seine Vertreter nicht einmal selbst kennen. Die um Porzia werbenden Kleinadligen werden ihm nur im Dialog zwischen Porzia und Nerissa, ihrer Vertrauten, beschrieben. Nerissa stellt die einzelnen Gestalten vor, und Porzia versieht sie mit ironischen Kommentaren. „Zuerst ist da der neapolitanische Prinz" beginnt Nerissa (I 2), und Porzia ergänzt: „Das ist ein wildes Füllen, in der Tat. Er spricht von nichts als seinem Pferde und bildet sich nicht wenig auf seine 220

Talente ein, daß er es selbst beschlagen kann. Ich fürchte sehr, seine gnädige Mutter hat es mit einem Schmied gehalten." Der nächste ist ein Pfalzgraf: „Er tut nichts wie stirnrunzeln," erklärt Porzia, „als wollt' er sagen: 'Wenn Ihr mich nicht haben wollt, so laßt's!. . . Ich möchte lieber an einen Totenkopf mit dem Knochen im Munde verheiratet sein als an einen von diesen. Gott beschütze mich vor beiden!" — dem Neapolitaner und dem Pfalzgrafen. Der französische Prätendent Monsieur Le Bon ist nichts als ein höfisch-ritterlicher Prahlhans, ein französischer Falstaff, und der „junge Deutsche, des Herzogs von Sachsen Neffe", säuft. Porzia findet ihn „Sehr abscheulich des Morgens, wenn er nüchtern ist; und höchst abscheulich des Nachmittags, wenn er betrunken ist." Von allen diesen nutzlosen Parasiten wird nur einer mit politisch kluger Zurückhaltung beurteilt: Faulconbridge, der „junge Baron aus England". „Er ist eines feinen Mannes Bild," läßt Shakespeare Porzia sagen, aber schon ihre Begründung, warum sie weiter über ihn nichts sagen kann, stellt eine Kritik am englischen, ungebildeten Adel dar, der gerade das nicht kann, was (wie Fortunatus, wie Pantagruel und Panurge zeigen) zum Handwerkszeug des Handelsbürgertums gehört: „Ihr wißt, ich sage nichts zu ihm, denn er versteht mich nicht, noch ich ihn. Er kann weder Lateinisch, Französisch noch Italienisch; und Ihr dürft wohl einen körperlichen Eid ablegen, daß ich nicht für einen Heller Englisch verstehe."611* Und daran schließt eine weitere Kritik am englischen Adel an: er fördert den eigenen Handel zu wenig. Porzia vertritt — für das Elisabethanische Publikum leicht verständlich — die merkantilistische Position der zeitgenössischen Ökonomen: „Wie seltsam er gekleidet ist! Ich glaube, er kaufte sein Wams in Italien, seine weiten Beinkleider in Frankreich, seine Mütze in Deutschland und sein Betragen allenthalben." Daß damit auch die generelle Unzivilisiertheit des englischen Adels an den Pranger gestellt ist (eine Kritik, auf die wenige Jahre später Beaumont in Tbe Knight of tbe Burning Pestle z. B. replizieren wird, indem er den Spieß einfach umdreht), liegt auf der Hand. Dennoch ist das Urteil über den englischen Baron insgesamt positiver als über die andren feudalen Kleinadligen, hat er sich doch — wacker für die absolute Monarchie (vor allem in der Auseinandersetzung mit dem schottischen Adel) geschlagen:

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Nerissa: Was haltet Ihr von dem schottischen Herrn, seinem Nachbarn? Porzia: Daß er eine christliche Nachbarnliebe an sich hat, denn er borgte eine Ohrfeige von dem Engländer und schwor, sie wieder zu bezahlen, wenn er imstande wäre; ich glaube, der Franzose ward sein Bürge und unterzeichnete für den andern. Alle diese Prätendenten sind jedoch bereits geschlagen und stecken von allein auf. „Ihr braucht nicht zu fürchten, Fräulein," sagt Nerissa, „daß Ihr einen von diesen Herrn bekommt; sie haben mir ihren Entschluß eröffnet, welcher in nichts anderm besteht, als sich nach Hause zu begeben und Euch nicht mehr mit Bewerbungen lästig zu fallen, Ihr müßtet denn auf eine andre Weise zu gewinnen sein als nach Euers Vaters Vorschrift in Ansehung der Kästchen."

Kritik der höfischen Abenteuer-Ideologie und hob des bürgerlichen Risikos Wo immer auch die berühmte Kästchenepisode interpretiert wurde, daß die feudalen Kleinadligen sich an die Kästchen nicht herantrauen, die Wahl des richtigen Kästchens von vornherein als aussichtslos betrachten, ist (u. a.) als q u a n t i t é n é g l i g e a b l e betrachtet worden. Es ist aber keine quantité négligeable: in dem Verzicht des feudalen Kleinadels, in den Wettbewerb um Porzia einzutreten, ist ein geschichtlicher Prozeß beschrieben, ein Fazit gezogen. Der Kleinadel ist besiegt. Die Protagonisten der Epoche stehen sich nunmehr unmittelbar gegenüber (wenn auch unter verständlicher Aussparung des Problems der absoluten Monarchie: allein in der Bezeichnung Antonios als „königlicher Kaufmann" ist zu erkennen, daß Shakespeare auch im Kaufmann von Venedig für die monarchistische Verfassung eines Bürger-Staates eintritt): das Bürgertum und der feudale Großadel. Damit kommt es auch zu einer Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Weltanschauungen. Das, was im Begriff der adventure zusammenzufallen schien, wird im Kaufmann von Venedig von Shakespeare präzise auseinandergehalten und gegeneinander gesetzt — höfischreaktionäre und fortschrittlich-bürgerliche (Abenteuer-)Ideologie. 222

Da nach Shakespeares Überzeugung (und nach Maßgabe der geschichtlichen Fakten) die bürgerliche Abenteuer-Ideologie bzw. (korrekter) das Bürgertum den Sieg davon trägt bzw. tragen muß, stellt sich für ihn das Problem, wie er diese geschichtliche Wahrheit in einem Staat verbreiten kann, der noch vom Feudaladel, wenn auch dem absolutistisch gesonnenen, beherrscht wird. Er greift zu einer seiner zahlreichen von Brecht612 bewunderten Listen beim Schreiben der Wahrheit: die Repräsentanten des reaktionären Großadels stammen aus dem spanisch-maurischen Raum, ihre höfische (Abenteuer-)Ideologie stammt aus der geistigen Welt des Amadis und seiner Nachfolger, transportiert aber auch weltanschauliche Vorstellungen, die zum ideologischen Arsenal des Großadels insgesamt, also auch dem des englischen gehörten (wobei anzumerken ist, daß die m a t i è r e e s p a g n o l e auch beim englischen Adel überaus beliebt war). Damit macht Shakespeare seine Attacke auf Großadel und reaktionäre höfische Ideologie unangreifbar ; attackiert er sie doch in der Gestalt des nationalen Feindes Spanien (mit dem es — wie bereits erwähnt — 1588 nach langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen England und Spanien zur entscheidenden Schlacht im Ärmelkanal kommt, die mit der Vernichtung der spanischen Flotte, der Armada endet). Bassanios einzig annähernd ebenbürtige Gegner sind Feudalfürsten, der Prinz von Marokko und der Prinz von Arragon. Sie nehmen als erste den Kampf um Porzia auf, der in der Wahl eines der drei Kästchen besteht: des goldenen, des silbernen, des bleiernen. In einem liegt das Bildnis Porzias. Wer dieses Kästchen wählt, soll ihr Gemahl sein, hat sie errungen. Der Prinz von Marokko ist der erste, der die Entscheidung wagt, und er tut dies im rodomontadenhaften Stil der spanischen Ritterromane „Führt mich zu dem Kästchen," ruft er (II 1) Porzia zu: daß ich gleich mein Glück versuche. Bei diesem Säbel, der den Sophi schlug und einen Perserprinz, der dreimal Sultan Suliman besiegt — die wildsten Augen wollt' ich überblitzen, das kühnste Herz auf Erden übertrotzen, die Jungen reißen von der Bärin weg, ja, wenn er brüllt nach Raub, den Löwen höhnen, dich zu gewinnen, Fräulein! 223

Auf jedem dieser Kästchen, vor denen auch Marokko steht, befindet sich eine Devise, die den Wählenden leiten soll (II 7): Von Gold das erste, das die Inschrift hat: „Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher Mann begehrt." Das zweite, silbern, führet dies Versprechen: „Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient." Das dritte, schweres Blei, mit plumper Warnung: „Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein alles dran." Jeder der drei Prätendenten (Marokko, Arragon, Bassanio) erklärt ausführlich, was ihn zur Wahl des einen Kästchens und zur Nichtwahl der andren führt. Zunächst der Prinz von Marokko: So leit' ein Gott mein Urteil! Laßt mich sehn, ich muß die Sprüche nochmals überlesen. Was sagt dies blei'rne Kästchen? „Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein alles dran." Der gibt — wofür? Für Blei? Und wagt für Blei? Dies Kästchen droht: wenn Menschen alles wagen, tun sie's in Hoffnung köstlichen Gewinns. Ein goldner Mut fragt nichts nach niedern Schlacken, ich geb'also und wage nichts für Blei. Marokkos Überlegungen sind zwischen zwei Negationen eingespannt: für Blei will er nichts wagen, zumal Blei als Fassung für Porzias Bildnis ihm ebenso wenig angemessen zu sein scheint wie das Motiv, das zur Wahl des Bleis führen soll: Profitstreben, genauer: aktives Bemühen (Arbeit) um Gewinn. Der Vertreter des Großadels vertritt die Ansicht, daß ihm gegeben werden muß, ja daß ihm (nach offizieller Ideologie, die noch im 18. Jahrhundert offen von Montesquieu vertreten wird) nur l a r g e s s e , die Ausgabe, die Verschwendung angemessen ist. Auch Silber will Marokko nicht, denn zwar verdient er, wie er meint, Porzia auf Grund seiner Geburt, seines Ranges, seiner Erziehung, aber gleichzeitig versucht er, die höfische Liebeskasuistik mit seinem Standesdünkel zu kombinieren: Porzia gebührt noch größere Verehrung als ihm selbst, denn jeder verehre sie nach ihrem Wert und ihrer Schönheit. Marokko wählt das goldne Kästchen und öffnet es (II 7):

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O Hölle, was ist hier? Ein Beingeripp, dem ein beschriebner Zettel im hohlen Auge liegt? Ich will ihn lesen. „Alles ist nicht Gold, was gleißt, wie man oft Euch unterweist. Manchen in Gefahr es reißt, was mein äußrer Schein verheißt: Goldnes Grab hegt Würmer meist. Wäret Ihr so weis' als dreist, jung an Gliedern, alt an Geist, so würdet Ihr nicht abgespeist mit der Antwort: Geht und reist!" Der Prinz von Arragon hat für das bleierne Kästchen keine andre Meinung als Marokko, aber er verschmäht auch Gold, denn er will nicht begehren „was mancher Mann begehrt" (II 9): Was mancher Mann begehrt? — Dies m a n c h e r meint vielleicht die Torenmenge, die nach Scheine wählt, nur lernend, was ein blödes Auge lehrt; die nicht ins Innre dringt und, wie die Schwalbe, im Wetter bauet an der Außenwand, recht in der Kraft und Bahn des Ungefährs. Ich wähle nicht, was mancher Mann begehrt, weil ich nicht bei gemeinen Geistern hausen noch mich zu rohen Haufen stellen will. Nun dann zu dir, du silbern Schatzgemach! Sag mir noch mal die Inschrift, die du führst: „Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient." Ja, gut gesagt: denn wer darf darauf ausgehn, das Glück zu täuschen und geehrt zu sein, den das Verdienst nicht stempelt? Maße keiner sich einer unverdienten Würde an . . . . . . Wohl zu meiner Wahl: „Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient." Ich halt es mit Verdienst: gebt mir dazu den Schlüssel, und unverzüglich schließt mein Glück hier auf. Die Argumente Arragons entsprechen vollkommen der feudal-fürstlichen Weltanschauung: Verdienst kann nicht erworben werden, 15

Nerlich, Kritik

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Verdienst entspringt dem Blutsadel, ist also der herrschenden Klasse eingeboren. Doch auch Arragons Wahl ist — natürlich — falsch: Arragon: Was gibt's hier? Eines Gecken Bild, der blinzt und mir' nen Zettel reicht? Ich will ihn lesen. O wie so gar nicht gleichst du Porzien! Wie gar nicht meinem Hoffen und Verdienst! „Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient." Verdient' ich nichts als einen Narrenkopf? Ist das mein Preis? Ist mein Verdienst nicht höher? Der Gewinner im Streit um Porzia ist Bassanio — mit geschichtlicher Notwendigkeit, die sich in der dramaturgischen Logik widerspiegelt: Bassanio ist der letzte Freier Porziens, ist der Repräsentant des siegreichen Bürgertums. Bevor Bassanio zur Wahl des Kästchens schreitet, läßt Porzia Musik erklingen, und ein Chor sagt Bassanio, welches Kästchen er zu wählen habe. Dieser Chor ist einer der Schlüssel zum Verständnis des Stückes (III 2): (Eine Stimme — M. N.):Tell me where is Fancy bred, Or in the heart, or in the head? How begot, how nourished? All. Reply, reply. (Eine Stimme — M. N.) :It is engendred in the eyes, With gazing fed, and Fancy dies . . . In the cradle where it lies. Let us all ring Fancy's k n e l l . . . I'll begin it — Ding, dong, bell. Ich habe hier den englischen Text zitiert, da die Schlegelsche Übersetzung sachlich falsch ist. 613 * Das ist freilich nahezu unvermeidlich, denn der englische Text ist von Shakespeare so angelegt, daß er zwei entgegengesetzte Verständnismöglichkeiten zuläßt, was genau der Intention entspricht, mit der Porzia den Gesang erschallen läßt: wählt Bassanio falsch, so ist es eine Trauermusik; wählt Bassanio richtig, so ist es ein Jubelchor. Das Schlüsselwort für das Verständnis der Verse ist fancy, was zum einen Geschmack, Mode, Lust (wovon Schlegel sich leiten ließ) usw., zum andern aber Imagination, Anschauung, Phantasie, (kreatives) Denken usw. meinen kann. Je nachdem welche Bedeutung man 226

fancy zumißt, erhalten die Verse einen positiven oder einen negativen Sinn. Hier soll nur der positive und Bassanio richtig leitende Sinn dargelegt sein, und der ist in der Richtung von fancy = Imagination, Anschauung, Phantasie usw. zu erblicken. Eine Prosaübersetzung ergäbe ungefähr: (Eine Stimme): Sag mir, wo entsteht die Imagination, In der sinnlichen Wahrnehmung (im Herzen, im Gefühl), oder im Verstand (im Kopf) ? Wie wird sie erzeugt? Wie wird sie bewahrt (ernährt) ? Alle: Antworte, antworte! (Eine Stimme):Sie wird in der sinnlichen Wahrnehmung (im Auge) gezeugt, doch wird sie allein durch Anschaun bewahrt (genährt, gefüttert), dann stirbt sie noch in der Wiege (in der sinnlichen Wahrnehmung, im Auge), wo sie l i e g t . . . Shakespeares Verse stellen die poetische Fassung des philosophischen Credos der bürgerlichen (revolutionären) Weltanschauung der Epoche dar, des empirischen Sensualismus: die poetisch verschlüsselte, philosophische Quintessenz des Systems von Francis Bacon. Die Erstausgabe seiner Essays erschien 1597 (also ungefähr zur Zeit der endgültigen Version des Kaufmann von Venedig), aber aus dem Widmungsbrief an seinen Bruder erfahren wir, daß zahlreiche Abschriften bereits vorher in eingeweihten Kreisen zirkulierten614 (und daß sie Shakespeare, der mit dem Hofleben eng verbunden war, entgangen sein sollten, ist unwahrscheinlich). Im ersten dieser (zehn) Essays stellt Bacon fest, daß der Nutzen des Denkens, der Studien nicht in diesen selbst liegt, sondern in der Beherrschung der Natur: „Sie vervollkommnen die Natur und werden von (praktischer — M. N.) Erfahrung vervollkommnet. Schlaue Menschen setzen sie fort, schlichte Gemüter bewundern sie, weise Menschen aber benutzen sie, denn sie lehren nicht den Nutzen in sich selbst. Der ist vielmehr eine Weisheit außerhalb und überhalb der Studien, die aus der (praktischen) Erfahrung gewonnen ist." 615 Shakespeares Fancy-Gedicht ist eine Polemik gegen Kontemplation und Apriorismus616, gegen scholastisches Denken und Inaktivität, gegen die Vorstellung von der Unveränderbarkeit 15*

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der Welt, die von Marokko und Arragon vertreten wird. Es ist die Bejahung der sinnlichen Wahrnehmung (gegen Arragon), aber diese sinnliche Wahrnehmung führt zu nichts (stirbt), wenn sie nicht durch aktives Verhalten gegenüber der Natur, durch praktische Tätigkeit und Erfahrung genährt wird (gegen Marokkos Verurteilung der Praxis). Der merchant adventurer Bassanio, der auch ein „scholar and soldier" (I 2) ist, also ein typischer zeitgenössischer Entdecker (im Novum Organum weist Bacon immer wieder auf die Bedeutung der Entdeckungsfahrten für die Naturwissenschaften, für das moderne wissenschaftliche Denken hin), realisiert in der Adventure-Fahrt nach Belmont, in der riskanten Werbung um Porzia, in der Kästchenwahl das weltanschauliche Bekenntnis des (revolutionären) Bürgertums. Er wählt das Kästchen aus Blei, das die Devise trägt, die das Leitthema des AdventureHandels sein könnte: „Wer micht erwählt, der gibt", nämlich konkret seinen Kapitalanteil oder seine Fähigkeiten, seine Arbeitskraft, „und wagt se in alles dran." (III 2). Daß Bassanios erster Gedanke übrigens wieder einem Handelsstreit gilt, sei nur en passant erwähnt : — So ist oft äußrer Schein sich selber fremd, antwortet Bassanio indirekt/direkt auf den Chor: die Welt wird immerdar durch Zier berückt. Im Recht, wo ist ein Handel so verderbt, der nicht, geschmückt von einer holden Stimme, des Bösen Schein verdeckt? Im Gottesdienst, wo ist ein Irrwahn, den ein ehrbar Haupt nicht heiligte, mit Sprüchen nicht belegte . . . So ist denn Zier die trügerische Küste von einer schlimmen See, der schöne Schleier, der Indiens Schönen birgt; mit einem Wort die Scheinwahrheit, womit die schlaue Zeit auch Weise fängt. Darum, du gleißend Gold, des Midas harte Kost, dich will ich nicht; noch dich, gemeiner, bleicher Botenläufer von Mann zu Mann; doch du, du magres Blei, das eher droht als irgend was verheißt, dein schlichtes Ansehn spricht beredt mich an: Ich wähle hier, und sei es wohlgetan! 228

Belmont oder die bezwungene Fortuna Die Rede Bassanios vor dem Kästchen ist von Sigmund Freud kritisiert worden, er fand sie anspruchslos: „ . . . was er zur Verherrlichung des Bleis gegen Gold und Silber sagen kann," meint er, „ist wenig und klingt gezwungen." 617 Allerdings glaubt Freud auch, den (ewig gleichen ) Schlüssel zum Verständnis der Kästchenwahl gefunden zu haben: die Kästchen, so schreibt er, sind „Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie Büchsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw." 618 — kurz: das Wesentliche an der Frau ist die Vagina, und damit ist auch das Wesentliche an Porzia, an Jessica, an Nerissa die Vagina und die Weltgeschichte reduziert auf den variantenarmen Antagonismus zwischen dieser und dem Penis (Bassanio, Graziano, Lorenzo usw). Damit aber ist Freuds Interpretation, die der Shakespeare-Deutung noch heute als bahnbrechende, geniale Leistung gilt, 619 noch nicht auf ihrem Höhepunkt angelangt: das Wesentliche an Bassanio, das in Umkehrung zum Wesentlichsten an Porzia bzw. der Frau ganz allgemein ja auch nur das gewisse Allgemeine ganz allgemein sein kann, zeigt sich in besonderer Weise. Freud übernimmt, um dies darzulegen, eine Deutung Eduard Stuckens: „Wer die drei Freier Porzias sind, erhellt aus dem, was sie wählen: Der Prinz von Marokko wählt den goldnen Kasten: er ist die Sonne; der Prinz von Arragon wählt den silbernen Kasten: er ist der Mond; Bassanio wählt den bleiernen Kasten: er ist der Sternenknabe."620 Nun hat in der Tat Shakespeare die mythologischen Anspielungen nicht verborgen, aber welchen Sinn es gehabt haben könnte, einem Elisabethanischen Publikum mitzuteilen, ein Prinz von Marokko sei die Sonne, ein Prinz von Arragon der Mond und Bassanio ein „Sternenknabe", mögen die mythologischen Götter wissen. Daß Gold seit der Antike metaphorisch für Blendwerk und (falschen) Schein stehen kann, Silber für die (Mond-)Nacht, den Tod (usw., usf.), ist für sich weder sonderlich neu noch aufregend. Im Kaufmann von Venedig können aber Gold und Silber keine andre Bedeutung haben, als die, die Shakespeare ihnen gibt. Bassanio verschmäht Gold, weil es den falschen Schein (feudalfürstliche Herrlichkeit) repräsentiert und weil es „des Midas harte Kost" ist. König Midas von Phrygien hatte Dionysos gebeten, zu bewirken, daß alles, was Midas anrühre, sich in Gold verwandle. Die Folge: er konnte weder trinken noch essen, da alle Dinge in sei229

nem Mund zu Gold wurden. Wenn Marokkos Streben nach Gold und Arragons nach Silber einen Sinn in Shakespeares Stück hat, dann zunächst einmal den, das feudaladlige Schatzbildungs-Korrelat zum Wucherkapital Shylocks zu bilden: im Unmaß aufgehäuft, verliert Gold, Silber, Reichtum seinen Sinn, Quelle von nützlichem Besitz zu sein.621* Bassanio hingegen interessiert Geld nur als Kapital zum Investieren in Waren bzw. in Handelsunternehmen. Deshalb wählte er Blei und mit dem Blei die adventure. Hier aber kommt auch die Mythologie zu ihrem Recht, wenn auch nicht so, wie die bürgerliche Psychoanalyse sie versteht, sondern so, wie Shakespeares Zeit sie handhabte. Tatsächlich symbolisiert Gold auch die Sonne (Helios, Sol, Apollo) und Silber den Mond (Luna), und daß die Astrologie im Kaufmann von Venedig eine bemerkenswerte Rolle spielt, hat die Shakespeare-Forschung festgestellt. 622 Um den Sinn von Blei aber scheint man sich recht wenig gekümmert zu haben. Erinnern wir uns an Solanio, der Antonio in Zusammenhang mit dem doppelgesichtigen Janus brachte. Janus, Gott des Anfangs und des Endes (so wie Antonio der Protagonist des Anfangs und des Endes dieses Stückes ist), war nach einer römischen Legende der erste König Italiens. Er, der ursprünglich aus Griechenland stammte, von dort mit einer Flotte nach Italien gekommen war, hatte gegen Ende seiner Herrschaft einen Mitregenten, der auch sein Nachfolger werden sollte: Saturnus. Dessen Regierungszeit war der Antike, dem Mittelalter und der Renaissance und damit auch Shakespeare Vertraut als das G o l d e n e Z e i t a l t e r . Saturnus, der die Menschen erzogen und Recht und Gesetz zur Herrschaft gebracht hatte, war — der Gott des Bleis. Tatsächlich haben verschiedene Interpreten von Belmont, von Porzias Reich, im Zusammenhang mit dem G o l d e n e n Z e i t a l t e r gesprochen, freilich nur als mehr oder minder verbindlicher Redensart von einem Land, in dem Frieden und Glück herrschen und das ein Traum von einer glücklichen, verlorenen Vergangenheit sei.623* Dies gibt aber keinen Sinn. Denn sollte Antonio, der Handelskapitalist, sollte Bassanio der adventurer, sollte das Bürgertum den kleineren und größeren Feudaladel, das Wucherkapital und die gesamte feudale Produktionsweise bzw. das gesamte Feudalsystem ideologisch und materiell bekämpfen und vernichten, nur um von einer besseren Vergangenheit zu träumen? Wenn Shakespeare Antonios Sieg bejaht, wenn er die Niederlage des Feudal230

adels begrüßt, wenn er Bassanio Porzia gewinnen läßt, dann deshalb, weil er davon überzeugt ist, daß die neuen (revolutionären) Kräfte durch alles (von ihnen verursachte) Unrecht, durch alle Ausbeutung, durch alles Blut hindurch der Menschheit den Weg in die Freiheit bahnen: Belmont ist nicht der Traum eines v e r g a n g e n e n G o l d e n e n Z e i t a l t e r s , Belmont ist die Z u v e r sicht in ein k o m m e n d e s G o l d e n e s Z e i t a l t e r , in das die mutigen Menschen, die das Risiko des Kampfes auf sich nehmen, gelangen. Bassanio als Herkules, als den ihn Porzia bezeichnet: die Verkörperung des Mutes, des titanenhaften Selbstvertrauens, wie es in dieser Zeit der Freund Philip Sidneys, Giordano Bruno in der 1585 erschienenen, Sidney gewidmeten Schrift De gli eroici furori (yon den heroischen 'Leidenschaften) verkündet — Bassanio als merchant adventurer. Belmont ist das Reich der Fortuna und Porzia die so weit in die individuelle Gestaltung transponierte, säkularisierte Fortuna, daß dies den modernen Interpreten des Stückes entgangen zu sein scheint624*. Und dennoch läßt sich erst von dieser Einsicht her die Gestalt und Funktion der Porzia verstehen. Denn welchen Sinn ergäbe es, die geschichtliche Auseinandersetzung zwischen Wucherkapital und Handelskapital auf der einen, Feudaladel und Bürgertum auf der andern symbolisch-dramatisch darzustellen, wenn als geschichtlicher Preis für die siegende Klasse, für die siegende Produktionsweise lediglich eine beliebige (wenn auch noch so schöne, junge, reiche) Dame zufiele? Sollte der Kleinadel ganz Europas sich zum Wettbewerb um eine solche Dame versammeln, um ihn dann gar nicht aufnehmen zu können? Sollte der feudale Großadel (nach Marokkos Auskunft) aus der ganzen Welt zu diesem Wettbewerb herbeiströmen und dann einer solchen (beliebigen) Dame wegen den Kampf mit dem Bürgertum führen und verlieren? Erst wenn man in Porzia Fortuna erkennt, ergibt dieser große Streit einen Sinn, denn um die ökonomische und politische Macht, um das Schicksal, um die Zukunft, um Fortuna geht es in diesem Kampf zwischen den Klassen, und während der Kleinadel schon so erledigt ist, daß er erst gar nicht mehr in den Kampf um die Zukunft, um das Schicksal eingreifen kann, ereilt dieses den feudalen Großadel im Kampf gegen das Bürgertum, das die Zukunft gewinnt, über das Schicksal triumphiert: Fortuna unterwirft. Damit hat die Fortuna-Diskussion des 16. Jahrhunderts die ent231

scheidende Wende erhalten: wie mir scheint, signalisiert der Kaufmann von Venedig den Abschluß der Renaissance-Auffassung der Fortuna. Hier geht es nicht länger um das Schicksal eines Individuums, des Individuums, das sich gegen die Macht der Sterne, der Fortuna zur Wehr zu setzen hat; hier geht es nicht einmal mehr allein um den Versuch des Individuums, sich gegen die Fortuna durchzusetzen, diese zu bezwingen 625 : dieser individuelle Kampf gegen die Fortuna ist aufgehoben in dem von Shakespeare vor Augen geführten Kampf von K l a s s e n ! Man mag das Stück bis in die allerkleinsten Details zerlegen, man wird keinen andern Antagonismus finden als den zwischen Kleinadel, feudalem Großadel und Bürgertum, zwischen feudaler Ausbeutung bzw. Wucherkapital und Handelskapital. Und das entscheidende: der Sieg im Kampf um Fortuna fällt einer Klasse zu, nicht weil Fortuna launisch ist, sondern weil nur diese Klasse sie auf Grund ihrer Aktivität und ihres Wagemutes erobern kann, weil die andren Klassen dazu nicht (mehr) in der Lage sind. Doch gehen wir auch hier systematisch vor: Erstens: nach Auskunft der Theoretiker des Mittelalters und der Renaissance ist der Wohnsitz der Fortuna (einer Darstellung des Alanus ab Insulis [ca. 1118—ca. 1203] zufolge, die allgemein übernommen wurde) ein (mehr oder weniger) zugänglicher Berg (in Fregosos Traktat Dialogo di Fortuna von 1531 „ein wunderschöner Platz auf einer Bergspitze, wo Fortuna ihre Geschenke verteilt" 626 ), eine Vorstellung, die — wie Howard R. Patch anhand einer Stelle aus Troilus und Cressida (1600/1601, III 3) nachweist627 — Shakespeare völlig vertraut war. Porzia wohnt in Belmont = schöner Berg. Zweitens: der Palast der Fortuna ist stets von Musik durchklungen. 628 In Porzias Palast erklingt Musik bei Bassanios Kästchenwahl, und als Porzia aus Venedig zurückkommt, treten Musikanten aus dem Palast hervor: „He, kommt und weckt Dianen auf mit Hymnen,/ rührt eurer Herrin zartes Ohr mit zartem Spiel, / zieht mit Musik sie heim!" (V 1). Und auch die Episode, die der Shakespeare-Exegetik Anlaß zum Nachdenken gegeben hat, findet hier ihre Erklärung: die Szene zwischen Jessica und Lorenzo, in der Lorenzo ihr die Bedeutung der Musik erklärt. Lorenzo hat Jessica in den Palast der Fortuna gebracht, nach Belmont, in das Reich der aktiv erworbenen Freiheit, in dem — wie im Goldenen Zeitalter — Frieden und Harmonie herrschen. Lorenzo nennt Jessica das Beispiel von den wilden Tieren, die durch Musik zur „Sittsamkeit" gebracht 232

werden: „Drum lehrt der Dichter, / gelenkt hab' Orpheus Bäume, Felsen, Fluten, / weil nichts so störrisch, hart und voll von Wut, / das nicht Musik auf eine Zeit verwandelt. (Verwandlung ist — wie wir sehen werden — Wesensmerkmal der Fortuna — M. N.) / Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst, / den nicht die Eintracht süßer Töne rührt, / taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken; / die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht, / sein Trachten düster wie der Erebus. / Trau keinem solchen! — Horch auf die Musik!" (V 1). Drittens: zum Palast der Fortuna gehört ein schönet Garten. 629 Die harmonische, von Musik und Lichtspiel bestimmte Schlußszene, die das Stück zum glücklichen Ende bringt (V 1), spielt im lieblichen Palastgarten der Porzia. Viertens: in der Residenz der Fort u n a herrscht eine „celestial atmosphere" — eine „himmlische, Atmosphäre". 630 * „Komm, Jessica!", sagt Lorenzo (V 1): „Sieh, wie die Himmelsflur / ist eingelegt mit Scheiben lichten Goldes! / Auch nicht der kleinste Kreis, den du da siehst, / der nicht im Schwünge wie ein Engel singt, / zum Chor der hellgeaugten Cherubim." 631 Und als Porzia aus Venedig zurückkommt, da geschieht dies — demonstrativ, denn Porzia weist mit Nachdruck darauf hin (V 1): zwischen Nacht und Tag, zwischen Mond und Sonne (Fortuna ist astrologischen Vorstellungen der Renaissance entsprechend die Distanz zwischen Sonne und Mond) 632 , und Porzias Bemerkungen über den Mond können nur ein Ziel haben: Fortuna zu evozieren, den Zuschauer an Fortuna denken zu lassen (wobei man nicht vergessen darf, daß derartige Vorstellungen der damaligen Zeit ganz geläufig waren): die Veränderbarkeit der Fortuna, schreibt Patch, „führt unvermeidlich zu einem Vergleich mit dem Mond", denn auch der Mond verändre sich jeden Tag (usw.). 633 „So löscht der größre Glanz den kleinern aus.", sagt Porzia zu Nerissa, als sie bei ihrer Rückkehr aus Venedig in der Nacht eine Kerze aus dem Palastinnern scheinen sieht, was Nerissa mit dem Kommentar versieht, man könnte die Kerze nicht sehen, würde der Mond scheinen. Die Szene ist — wie die ganze Nacht/Morgen-Schlußszene — unverständlich, setzt man sie nicht zum Fortuna-Mythos in Verbindung: Schlegel z . B . hat sie nicht verstanden 634 *: „So löscht der größre Glanz den kleinern aus. / Ein Stellvertreter strahlet wie ein König, / bis ihm ein König naht; und dann ergießt / sein Prunk sich wie vom innern Land ein Bach / ins große Bett der Wasser. Horch, Musik!" 233

Doch damit nicht genug: was erfahren wir eigentlich explizit über Porzia? Einige Angaben nur, die nach wenig ausschauen. Porzia, die Herrscherin über Belmont, ist die „lebende Tochter" eines „toten Vaters" (I 2).— wie Fortuna. Fortuna war die einzige unter allen antiken Gottheiten, schreibt Patch, „die den Religionswechsel in der Ankunft des Christentums überlebte"635. Alle andren, auch ihr Vater Jupiter gingen unter, aber Fortuna tritt das ganze Mittelalter und die Renaissance hindurch immer wieder als Vollzieherin des göttlichen (christlichen) Willens auf. Es ist daher durchaus kein Widerspruch, wenn Porzia, die im übrigen unentwegt in mythologischen Gleichnissen redet, vor Gericht Gott (von Schlegel mißverständlich mit „Gottheit" übersetzt) und Gottes Gnade beschwört. Der „tote Vater" der Porzia hat ihr mit seinem „letzten Willen" vorgeschrieben, sie dürfe sich nur von dem freien lassen, der unter den drei Kästchen das richtige auswählt: „Ist es nicht hart, Nerissa," klagt Porzia (I 2), „daß ich nicht e i n e n wählen und doch keinen ausschlagen darf?", worauf Nerissa zur Antwort gibt: „Euer Vater war allzeit tugendhaft, und fromme Männer haben im Tode gute Eingebungen: also wird die Lotterie, die er mit diesen drei Kästchen von Gold, Silber und Blei ausgesonnen hat, daß der, welcher seine Meinung trifft, Euch erhält, ohne Zweifel von niemandem recht getroffen werden als von einem, den Ihr recht liebt." Die Shakespeare-Forschung hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Vorlage für diese Kästchenwahl aus der mittellateinischen Sammlung von Legenden, Märchen und Novellen stammt, die unter dem Namen Gesta Romanorum Mitte des 14. Jahrhunderts in England verfaßt wurde und bis ins 16. Jahrhundert hinein eine Art Volksbuch war. Wichtiger aber scheint mir in diesem Kontext, daß Nerissa von einer „Lotterie" spricht. Die Vorstellung von Los/Lotterie (und Zufall) und Fortuna ist Mittelalter und Renaissance ganz geläufig gewesen: 636 setzt man also Fortuna ein, so ergibt Nerissas Rede erst einen Sinn. Tatsächlich kann Fortuna sicher sein, daß sie von niemandem recht getroffen werden kann, der sie nicht liebt, oder anders gewendet: daß der, der sie trifft, sie auch liebt. Auf der andern Seite entspricht Porzias Abhängigkeit von der Kästchenwahl völlig der Auffassung der späten Renaisssance, daß nur der Mutige, Aktive Fortuna erobern bzw. damit von ihr geliebt werden kann. Fortuna gibt und nimmt.637 Porzia gibt und nimmt: sie gibt sich und ihren Reichtum Bassanio, nachdem dieser sie in der Kästchen234

wähl erobert, verdient hat. Dadurch aber hat sie gleichzeitig Antonio alles genommen, denn das Adventure-Unternehmen Bassanios hat ihn zum Opfer Shylocks werden lassen, hat ihn vernichtet. Jetzt gibt Porzia Antonio über Bassanio das Geld, das dieser lieh, mehrfach zurück. Gleichzeitig aber weiß sie, daß dies nichts nützen wird, daß Shylock auf der Einlösung des Scheins besteht, und sie eilt nach Venedig, um dort — in veränderter Gestalt — Shylock, der durch sie nach oben gestiegen war, alles zu nehmen und ihn nach unten zu stürzen. Antonio aber wird von ihr wieder nach oben gehoben: von Porzia erhält er die Hälfte von Shylocks Vermögen und von Porzia erhält er — seine Schiffe zurück. Die Bewegung, die Shakespeare dramatisch gestaltet hat, ist die des Rades der Fortuna: sie liebt es, Menschen z. B. durch Gefängnishaft auf die Probe zu stellen,638 und in ihren Prüfungen stellt sich heraus, was wahre Freundschaft ist.639 Aus Kerkerhaft ruft Antonio Bassanio, und Bassanio erklärt vor Gericht, er sei bereit, auf alles einschließlich Porziens zu verzichten, wenn er dadurch nur Antonio retten könnte (er zeigt auch hier wieder Mut, verzichtet auf Fortuna, was diese ihm nicht übelnehmen kann, sondern was ihre Zuneigung steigern muß). Im Zusammenhang mit der Gerichtsszene ist noch auf einen andren Zusammenhang zu verweisen, der der Shakespeare-Deutung große Rätsel aufgegeben hat.640* Porzia hat außer ihrem „toten Vater" noch einen andern Verwandten: einen „cousin", der Rechtsgelehrter in Padua ist. Dieser verschafft Porzia nicht nur die juristischen Argumente, die sie vor Gericht einsetzt, sondern auch die — Verkleidung. Sie schickt, bevor sie nach Venedig aufbricht, ihren Diener Balthasar mit einem Brief zu diesem Vetter und sagt: „ Sieh zu, was er dir für Papiere gibt / und Kleider, bringe die in höchster Eil' / zur Überfahrt an die gemeine Fähre, / die nach Venedig schifft." (III 4). Es ist immerhin kurios, daß ein Rechtsgelehrter auch Verkleidungskünstler sein soll: blicken wir uns in den mythologischen Handbüchern der Zeit nach einem Verwandten der Fortuna um, der es verstanden hätte, mit derlei Tricks zu arbeiten und obendrein auch noch rechtskundig gewesen wäre, so stoßen wir auf — Merkur. In einer bemerkenswerten Darstellung in den fimblemata des Alciati, die Shakespeare selbstverständlich so wie jedem Dichter seiner Zeit bekannt waren, wird Fortuna gezeigt, die mit einem Fuß auf einer Kugel, mit dem andren (als Verdeutlichung ihrer Instabilität) auf dem Meer steht, und neben 235

Fortuna sitzt Merkur, der in bildlichen Darstellungen kaum je sitzend gezeigt wird. 641 Er verkörpert das (Handels-)Recht und die Rechtsprechung. Merkur (griechisch Hermes) aber, auch das war Shakespeares Zeitgenossen vertraut, ist mit dem Bild des Widders verbunden, den er auf seinen Schultern trug, und der Widder heißt auf Englisch bel'wether, auf Französisch bélier. Porzias „cousin", der Rechtsgelehrte aus Padua, der sich aufs Recht und aufs Verkleiden versteht, heißt Bellario. Bellario verschafft Porzia nicht nur die Verkleidung, die sie so unkenntlich macht, daß auch Bassanio sie vor Gericht nicht erkennt, er gibt Porzia einen Brief an den Dogen mit, in dem er dem Gericht zu Venedig empfiehlt, den „jungen Doktor" (Porzia) trotz seines zarten Alters zuzulassen: „Ich ersuch Euch," schreibt er an den Dogen (IV 1), „laßt seinen Mangel an Jahren keinen Grund sein, ihm eine anständige Achtung zu versagen: denn ich kannte noch niemals einen so jungen Körper mit einem so alten Kopf." — „jung schiene sie nach ihrem Antlitz zu sein, und sei doch reif an Jahren", heißt es in Trissinos Epos L'Italia liber ata dai Goti (Das von den Goten befreite Italien, 1547 ff.) über eine Fortuna-Variation.6'*2 Ist Porzia Fortuna, so ergibt auch der zitierte Satz Bellarios einen tieferen Sinn. Porzia/Fortuna bedarf allerdings der Hilfe Merkurs grundsätzlich nicht, um vor Gericht erscheinen und plädieren zu dürfen: die Fortuna als Richterin bzw. als Rechtsgelehrte vor Gericht war Shakespeares Zeitgenossen nicht unbekannt (ganz abgesehen davon, daß sie in der mythologischen Tradition als Tochter Jupiters auch die Tochter des Rechts war und menschliches Denken und Richten ihre Verwandten waren643). Von 1583 bis 1586 entsteht in England Giordano Brunos Spaccio della bestia trionfante (Die Vertreibung der triumphierenden Bestie), eine Arbeit, die wie De gli eroici furori Philip Sidney gewidmet war. -In dieser satirischen Schrift, in der die alternden mythologischen Götter Gericht halten, tritt auch die blinde Fortuna auf und verlangt einen Platz unter den richtenden Göttern. Doch obwohl diese den Scharfsinn der Fortuna durchaus anerkennen,644 erhält sie lediglich die Erlaubnis, im Himmel umherzuirren. Das, was die Götter zögern läßt, Fortuna in ihren Rat aufzunehmen, ist das, was Giordano Bruno in seiner Darstellung an ihr mißbilligt: ihre absolute Bezugslosigkeit im Hinblick auf den von ihren Entscheidungen Betroffenen, die an Zynismus grenzte, handelte es sich nicht um die blinde Fortuna. Sie ist eine allen feindliche Göttin (und trägt damit deut236

liehe Spuren der italienischen Renaissance-Tradition), Repräsentantin einer weitgehend pessimistischen oder doch perspektivelosen Haltung gegenüber dem Schicksal, der blinden Fortuna. Daß Shakespeares Porzia/Fortuna eine Menschenfreundin ist und als Menschenfreundin vor Gericht auftritt und entscheidet, könnte durchaus eine Antwort auf Giordano Brunos perspektivelose Fortuna-Kritik sein: das (Handels-)Bürgertum fürchtet Fortuna nicht, es erobert sie. Wie auch immer: wenn Porzia Fortuna ist, bekommt auch eine ihrer Fragen, die sie vor Gericht stellt, eine andre Dimension: „Wer ist der Kaufmann hier, und wer der J u d e ? " Zwar meint Gustav Landauer, Porzia habe in Wirklichkeit gar keinen Zweifel daran, wer Antonio und wer Shylock sei, sie frage vielmehr, um über den Klang des häßlichen fremden Namens Shylock für Zuschauer (und Gericht) zu unterstreichen, daß es sich um ein verworfenes Subjekt und einen Juden handle 645 (obwohl ja eigentlich alle darüber informiert sind), aber der tatsächliche Grund dürfte woanders liegen: Porzia/Fortuna erkennt Antonio, den sie retten will, nicht, denn er ist für sie — so gesichtslos wie für Publikum (und Interpreten). Eigentlich müßte nämlich Antonio aus der Gunst der Fortuna entlassen sein, weil er grundsätzlich nichts mehr riskiert, nichts wagt, Fortuna nicht erobert. Er hat, wie wir sahen, bereits zu Beginn des Stückes mitgeteilt, daß er in seinen Geschäften nichts riskiere und nichts fürchte, da er sein Kapital so investiert hat, daß z. B. beim Verlust eines Schiffes immer noch nichts für seinen Reichtum zu fürchten sei. Und dennnoch: Antonio hat etwas gewagt, aber sein Wagnis ist unsichtbar, realisiert sich außerhalb seiner Person, realisiert sich in einer Sache, in einem Kredit, den er in Form des handelsuntauglichen Wucherkredits bei seinem Todfeind aufnimmt, realisiert sich endlich materiell sichtbar in der adventure des Bassanio. Erst durch die Aktivität des Bassanio wird Porzia/Fortuna auf Antonio aufmerksam: über B a s s a n i o rechtfertigt Shakespeare den modernen K a p i t a l i s t e n . Bassanio enthüllt Porzia/Fortuna, daß er sein Unternehmen nur dank einer Kapitaleinlage von Antonio hatte durchführen können, und daß Antonio diese Kapitaleinlage durch einen Kredit vom Wucherer beigebracht habe: „denn, in der Tat," erklärt Bassanio (III 2), „mich selbst verband ich einem teuren Freunde, / den Freund verband ich seinem ärgsten Feind, / um mir zu helfen." 237

Porzia/Fortuna (und mit ihr der Zuschauer) erkennt, daß Antonio mit Bassanios adventure ein Risiko auf sich genommen hat, und sie bietet Bassanio unverzüglich eine Geldsumme in beliebiger Höhe an, damit er seinen Freund aus der Schuld befreie. Gleichzeitig aber weiß sie, wie bereits gesagt, daß Bassanio dies gar nicht kann, daß nur sie dies vermag. Dennoch schickt sie Bassanio nach Venedig (stellt sie die Freundschaft Bassanios auf die Probe) und trägt ihm auf, Antonio (jetzt, nachdem sein Wagnis erkannt ist) mit nach Belmont zu bringen. Als sie von Lorenzo daraufhin gelobt wird, daß sie ein so „echt Gefühl" für wahre Freundschaft habe und großzügig die „Trennung vom Gemahl" dieser Freundschaft zuliebe ertrüge, da antwortet sie, wie Fortuna zu antworten hat (III 4 ) : Noch nie bereut' ich, daß ich Gutes tat, und werd' es jetzt auch nicht: denn bei Genossen, die miteinander ihre Zeit verleben und deren Herz ein Joch der Liebe trägt, da muß unfehlbar auch ein Ebenmaß von Zügen sein, von Sitten und Gemüt. Dies macht mich glauben, der Antonio, als Busenfreund von meinem Gatten, müsse durchaus ihm ähnlich sein. Wenn es so ist, wie wenig ist es, was ich aufgewandt, um meiner Seele Ebenbild zu lösen aus einem Zustand höll'scher Grausamkeit! Doch dies kommt einem Selbstlob allzu nah . . . Auch hier wieder ist jedes Detail verständlich, sieht man, daß es Fortuna ist, die spricht: so wie Bassanio sie auf Grund seiner Risikobereitschaft, seines nüchternen Auges und der praktischen Erprobung wegen errungen hat, so ist sie ihm als Fortuna zugetan, so ist sie als Fortuna allen zugetan, die so sind wie Bassanio. Also auch Antonio, obwohl er gesichtslos geworden ist. Vor Gericht ist sie jedoch inzwischen informiert, vor Gericht dreht sie das Rad mit mächtigem Schwung und stürzt den triumphierenden Shylock von einer Sekunde zur andren in den Abgrund, reißt Antonio nach oben. Aber nicht, und das ist wiederum ein Zeugnis Shakespearescher Genialität, weil göttlicher Wille (allein) es so will, sondern weil Antonio es mit seinem Wagnis über Bassanio, mit seinem „Bol-

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zen" verdient hat. Es ist ein Märchenschluß, gewiß, aber geschichtlich gesehen ist es absolut kein Märchen: das Handelskapital triumphiert über das feudale Wucherkapital, bekommt von der Fortuna das Vermögen des Wucherkapitals zugespielt und verwandelt es in Handelskapital, und selbst die verlorengeglaubten Schiffe sind ganz plötzlich wieder da. Und wer noch immer daran gezweifelt haben sollte, daß Porzia Fortuna verkörpert, der müßte spätestens durch den Schluß des Stückes eines Besseren belehrt sein. Antonio kommt zusammen mit Bassanio und Graziano nach Belmont, wo kurz zuvor Porzia und Nerissa eingetroffen sind. „Antonio seid willkommen," ruft Porzia ihm zu: „Ich habe beßre Zeitung noch im Vorrat, / als Ihr erwartet. Diesen Brief erbrecht; / Ihr werdet sehn, drei Eurer Galeonen / sind reich beladen plötzlich eingelaufen ; / ich sag' Euch nicht, was für ein eigner Zufall / den Brief mir zugespielt hat." Wieder und endgültig in diesem Stück ist es Porzia, die Reichtum bringt, und sie kündigt ihn mit einem Brief so an, daß jeder aufmerksame Zuschauer (der Zeit) spätestens da merken muß, daß er Fortuna vor sich hat: der Brief ist nicht geöffnet, aber sie weiß, was in ihm steht. Wie sie zu diesem Brief, zu dieser Nachricht gekommen ist: sie will es nicht sagen. Wäre Porzia nicht Fortuna, so wäre diese Szene in der Tat „unbelievable" — „unglaubwürdig", und der Schluß des Stückes so „absurd", wie der Herausgeber der kritischen Cambridger Ausgabe meint, weil er die Logik des Stückes nicht begriffen hat. 646

Die schöne Jüdin und der Narr Es ließen sich noch viele Beweise oder Indizien dafür vorbringen, daß Porzia Fortuna verkörpert: von der Tatsache, daß Porzia bereits vor der Wahl weiß, in welchem Kästchen ihr Porträt liegt (II 2: sie würde am liebsten ein Weinglas auf eins der beiden andren stellen, um den versoffnen sächsischen Prätendenten irrezuführen) über Jessicas Feststellung (III 5), daß „die arme rohe Welt . . . ihresgleichen nicht" habe, bis zu der Feststellung, daß Porzia die venture des Bassanio ist, und venture und Fortuna seit Chaucers Zeiten auch in der englischen Literatur synonym sind oder doch sein können. 647 Das alles ist aber nicht so wichtig wie die Tatsache, daß Porzia zwar Fortuna verkörpert, gleichzeitig aber auch Porzia ist, nicht nurBassanios adventure, nicht nur Fortuna, nicht nur eine 239

schöne, geistreiche Frau, sondern auch Bassanios Geliebte: ein Mensch. Die einzigartige Leistung Shakespeares beruht u. a. darin, daß er den Fortuna-Mythos vollkommen entmythologisiert, vollkommen säkularisiert hat: es sind Menschen, die das Schicksal beherrschen, die durch Kalkulation und Wissenschaft, durch Experiment und rational beherrschte, mutige Aktivität die alten, unfreien Gesellschaftszustände beseitigen und eine zukünftige, freie, lichte, heitere Welt aufbauen. Der Kaufmann von Venedig ist das Schauspiel des revolutionären Bürgertums, ist die subtilste, weil kritischste Bejahung des bürgerlichen Abenteuers bei gleichzeitiger Negation des Feudalsystems und der ihm entsprechenden höfisch-ritterlichen Abenteuer-Ideologie: Shakespeare richtet in der Bejahung des bürgerlichen Abenteuers (trotz der von ihm erkannten und verurteilten Verbrechen) seinen Blick auf eine Zukunft, in der die Menschheit befreit, emanzipiert, gleichberechtigt, frei von jeglichem religiösen oder rassischen Wahn glücklich leben wird. Wir wollen abschließend nur einen Aspekt dieser Zukunftsvision ins Auge fassen: die Bekämpfung der religiösen Intoleranz und des Rassenwahns. Die Shakespeare-Forschung hat lange gestritten und streitet noch immer darüber, ob Shakespeare Antisemit war, weil er den Shylock mit so mörderischem Haß ausgestattet hat. Die Diskussion ist vor dem Hintergrund einer genauen Lektüre schlicht unverständlich. Demonstrativ verweist Shakespeare Rassenvorurteil und religiösen Eifer aus Belmont, dem zukünftigen Reich der Freiheit, und d. h., daß er sie als Bestandteile des Reiches der Unfreiheit, der alten (mittelalterlich-feudalen) Welt verurteilt. Die Dinge können nicht offensichtlicher sein als Shakespeare sie macht: der Prinz von Marokko ist ein Mohr, und da er offensichtlich rassische Vorurteile und Kränkungen gewohnt ist, bittet er Porzia, ihn wegen seiner Hautfarbe nicht zurückzuweisen. Porzia antwortet ihm unmißverständlich, daß die Hautfarbe für sie keine Rolle spielt (eine Antwort, die sie sowohl als Fortuna als auch als aufgeklärter, gebildeter Mensch gibt — II 1): Bei meiner Wahl lenkt mich ja nicht allein die zarte Fordrung eines Mädchenauges. Auch schließt das Los, woran mein Schicksal hängt, mich von dem Recht des freien Wählens aus. Doch, hätte mich mein Vater nicht beengt, mir aufgelegt durch seinen Willen, dem 240

zur auf Ihr mit auf

Gattin mich zu geben, welcher mich solche Art gewinnt, wie ich Euch sagte: hättet gleichen Anspruch, großer Prinz, jedem Freier, den ich sah bis jetzt, meine Neigung.

Nicht die Hautfarbe ist es, die Marokko bei der Wahl scheitern läßt: Lanzelot Gobbo, der Narr, schwängert eine Mohrin, und er — wird sie heiraten (in Belmont): „Es tut mit leid," erklärt er mit üblichem Wortwitz (III V), „wenn ich ihr etwas weis gemacht habe; aber da das Kind einen weisen Vater hat, wird es doch keine Waise sein." (Der englische Text enthält ein andres Wortspiel: wie auch immer — niemand nimmt an Lanzelots Verhältnis zu einer Mohrin Anstoß). In Belmont endlich wird Lorenzo seine schöne Jüdin heiraten, die von allen verehrt wird: von Graziano, der sie sieht und ausruft, sie sei eine Göttin (II 6), von Lanzelot, der sie liebt und neckt, von Porzia, die ihr zusammen mit Lorenzo die Verwaltung ihrer Güter überläßt: in dem ganzen Stück gibt es niemanden, der Jessica verurteilte, weil sie Jüdin ist, und wegen ihrer Flucht aus dem väterlichen Haus und des Diebstahls an Shylocks Juwelen und Dukaten verurteilen sie außer Shylock selbst — einzig und allein Shakespeares Interpreten! Sogar ein gewitzter Kopf wie Heine nennt Jessicas Diebstahl — wenn auch mit üblicher Ironie — einen „der infamsten Hausdiebstähle", auf den „nach dem preußischen Landrecht . . . fünfzehn Jahre Zuchthaus" stünden. 648 Ohne jede Ironie aber wetteifert der Herausgeber der Cambridger Ausgabe, Sir Arthur Quiller-Couch mit „old Shylock" um die Wette (wobei immerhin zu bemerken ist, daß Shylock Jessica verflucht und gleichzeitig liebt, was man von Quiller-Couch nicht behaupten kann): „Jessica ist schlecht und unloyal, untöchterlich, eine Diebin, frivol, raffgierig, ohne mehr Gewissen als eine Katze und nicht einmal mit der Liebe zum Haus versehen, deretwegen man der Katze verzeiht. Völlig ohne Herz, mit schlimmeren als tierischen Instinkten, stehlend, um huren zu können . . Z'649 usw. Ein Antisemit könnte nicht menschenverachtender eifern als dieser humanistische Philologe, der glaubt, er müsse Shakespeare wegen seiner Gestaltung des Shylock entschuldigen, weil Shakespeares Zeit eine „von unsrer modernen Toleranz" in Judenfragen weit entfernte Haltung eingenommen hätte. 650 In der Tat. Denn um zu zeigen, daß die Raffsucht kein jüdisches, 16

Neriich, Kritik

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kein biologisches, kein Rassemerkmal ist, um zu zeigen, wie verlogen die pseudo-christliche Argumentation Antonios ist, hat Shakespeare die schöne Jessica auf die Bühne gestellt und nach Belmont gebracht, wo sie von allen geliebt und geachtet wird. Das thesaurierte, nutzlose, lebensfeindliche Geld des Vaters hielt sie in dessen Haus in entwürdigender Versklavung und Verdummung. Die Aneignung der Juwelen und des Geldes war ihr Recht, das Recht zur Notwehr, das Mittel zur Freiheit, zur Emanzipation, ein Naturrecht (ganz ähnlich handelt Harpagons Sohn in Molieres Avare, denn Harpagon versklavt seine Kinder ebenso wie Shylock). Die Fesseln aber, die sie in Shylocks Haus quälen, sind keineswegs spezifisch jüdisch, denn der Schatztrieb, dem diese Fesselung, Unterdrückung, Versklavung und Verdummung zu danken sind, ist nicht jüdisch, er ist Ausdruck und Form einer bestimmten ökonomischen Erwerbsform, die dem mittelalterlichen Feudalismus angehört. Shakespeare macht ganz deutlich, daß auch Jessica „jüdische Jüdin" ist, nämlich von jüdischem Vater und von jüdischer Mutter (III 5), und daß Shakespeare dies mit besondrer Absicht betont, liegt auf der Hand: Jessica besitzt keine einzige als „jüdisch" verschriene Eigenschaft — sie rafft kein Geld, haßt keine Christen (so wie die aufgeklärten Christen auch sie nicht hassen), im Gegenteil: Jessica gibt Geld aus, bringt Geld in die Zirkulation,651* und zusammen mit Lorenzo wird sie das Kapital des Vaters, das ihnen Porzia/Fortuna und Antonio zuspielten, dazu benutzen, um Belmont weiter aufzubauen, um dort als freier Mensch unter freien Menschen zu leben. Die Kräfte, die diese Emanzipation ermöglichen, stecken in der neuen ökonomischen Produktionsweise. Es ist ein Freund Antonios, Lorenzo, der Jessica liebt und ihr bei der Flucht hilft, es sind die Freunde Antonios, Bassanios und Porzias, die sich schützend vor Jessica stellen, und sie tun dies ohne die geringsten Vorbedingungen. Nur einer scheint diese allgemeine Freude und Sympathie nicht zu teilen: der Diener Lanzelot (der es aber, wie wir aus seinen früheren Sympathieerklärungen für Jessica wissen, nicht ernst meint). Er sagt zu Jessica in Belmont, sie sei als Jüdin verdammt, und aus dieser Verdammnis könne sie nichts und niemand erlösen. Als Lorenzo hinzukommt, beklagt Jessica sich (scherzhaft) über Lanzelot, und Lorenzo tadelt (ebenfalls scherzhaft) den närrischen Diener, der ihm mit einer Reihe von Wortspielen antwortet. Bei seinem Abgang von der Bühne kommentiert Lorenzo (III 5): 242

O heilige Vernunft, was eitle Worte! Der Narr hat ins Gedächtnis sich ein Heer Wortspiele eingeprägt. Und kenn' ich doch gar manchen Narrn an einer bessern Stelle, so aufgestutzt, der um ein spitzes Wort die Sache preisgibt. Das heißt: Shakespeare legt demonstrativ die christlich-antijüdische Verdammungsthese einem Narren in den Mund, sagt aber durch Lorenzo, daß es leider viele hohe Herren gäbe, die derlei Narreteien nicht als Spaß vorbrächten. An eine Kritik seiner Interpreten hatte Shakespeare dabei allerdings wohl weniger gedacht als an die Ideologen des feudalen Mittelalters: immerhin heißt der Narr auch noch — Lanzelot!

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Von der Verherrlichung der Adventure zur These vom bellum omnium contra omnes

Die konterrevolutionäre Denunziation der bürgerlichen Adventure Was in Christopher Marlowes Famous Tragedy of the BJcb Jew of Malta (Der Jude von Malta, etwa 1588) als Lob des Fernkaufmanns nur kurz angelegt war, fand im Kaufmann von Venedig seinen Höhepunkt. Die ihn umgebende bzw. ihm folgende Welle mehr oder minder bedeutender Verherrlichung des Kaufmanns in der erzählenden und dramatischen Literatur rückte zwei Mythen in den Mittelpunkt: den des armen Kaufmanns, der zu Reichtum kommt (sei es vom kleinen adventurer zum großen, sei es vom grocer zum großen adventurer) bzw. die Erhebung des Kaufmanns in den Adelsstand oder doch seine Gleichsetzung mit dem Adel. Dabei tut sich besonders Thomas Deloney mit der „Verwendung ritterlich-romantischer und heiligenlegendenhafter Motive zum Zwecke der Verherrlichung eines bürgerlichen Handwerker- und Kaufmannstums"652* hervor. In die gleiche Richtung orientieren die sogenannte Whittington-Legende653 oder Thomas Heywoods Schauspiel The Four Prentices of London (Die vier Angestellten von London, entstanden etwa 1600), in dem vier Grafensöhne den Kaufmannsberuf ergreifen, diesen preisen und dem Adelsdienst gleichstellen und mit dem Ritterideal verbinden, indem sie — als Kaufleute und Ritter — zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbrechen.654 Natürlich ließ die Reaktion nicht lange auf sich warten. Sie war um so dezidierter, je reaktionärer die Politik des Hofes nach Elisabeths Tod und der Thronbesteigung durch Jakob I. wurde (der sich allerdings gerade den Kaufmann von Venedig im Jahr 1605 vorspielen ließ655). Intensiviert wurde die politische Reaktion und Repression durch eine ökonomische Krise erheblichen Ausmaßes, für die man — die merchant adventurers mit ihrem Monopol von unbearbeiteten Tuchen verantwortlich machte (bezeichnenderweise wiesen die adventurers diese Anschuldigung zurück und nannten die interlopers als die Sündenböcke656). Wie auch immer: die Hosti244

lität gegenüber den merchant adventurers wuchs zusehends, wofür grundsätzlich mit der reaktionären Politik Jakobs I. ein günstiges Terrain gegeben war, zumal der König selbst den Kaufleuten mit Mißtrauen und Verachtung gegenüberstand: „Die Kaufleute glauben," erklärte er „in einer seiner feudalen Anwandlungen" (Kuczynski), „daß das ganze Reich nur für ihr Fortkommen da sei; und indem sie es als ihr Recht in Anspruch nehmen, sich auf Kosten des Restes der Bevölkerung zu bereichern, entführen sie uns notwendige Waren, führen bisweilen überflüssige ein und manchmal liefern sie dafür überhaupt nichts."657 Die Auseinandersetzungen zwischen der feudal-absolutistischen Reaktion und dem Bürgertum spitzten sich vor allem in den Streitigkeiten zwischen Krone und merchant adventurers zu, wobei zweifellos Konkurrenten der adventurers (wie z. B. William Cockayne658) das Feuer schürten. Die adventurers reagierten auf ganz bezeichnende Weise: sie erhöhten durch entsprechende Erlasse (vor allem ab 1608659) ihre ohnehin schon bemerkenswerte Exklusivität. Als sie dann auch noch bestimmte Abgaben an die Krone verweigerten, kam es zum offenen Konflikt, der 1614 mit der Aufhebung ihrer Privilegien und der Einrichtung einer neuen Handelskompanie unter staatlicher Aufsicht, der King's Merchant Adventurers of the New Trade of London seinen Höhepunkt hatte.660 Ihren ideologischen Ausdruck fand die absolutistische Reaktion gegen die adventurers u. a. in Francis Beaumonts bereits erwähntem Schauspiel Tbe Knigbt of the Burning Pestle (Der Ritter mit der Flammenden Keule, 1613).661* Verglichen mit dem Kaufmann von Venedig handelt es sich freilich nur um relativ geistlose Polemik. Die Bejahung des bürgerlichen Abenteuers, der Kaufmanns-Adventure ist bei Shakespeare von allen ritterabenteuerlichen Reminiszenzen frei (allein die Antike ist groß genug, um dem Bürgerabenteuer Identifikation zu ermöglichen: so wenn Bassanio und seine Gefährten sich mit Iason und den Argonauten identifizieren), ja die Verherrlichung des bürgerlichen Abenteuers ist sogar polemisch gegen den feudalen Klein- und Großadel und gegen seine höfisch-ritterliche Weltanschauung gerichtet. Die einzige nichtadlige Nutzanwendung der höfischen Ritterabenteuerromantik besteht in der Namensgebung für den Narren: ihn Lanzelot zu nennen, stellt selbstverständlich ebenfalls ironische Kritik am höfischen Menschheitsideal dar. Beaumont will nun den Spieß umdrehen und dem (Handels-)Bürgertum unterstellen, es ahme die höfische Gesellschaft in der mißlungenen 245

Übernahme der Ritterabenteuer-Ideologie nach. Die Mittel, die Beaumont dafür einsetzt, sind aber — von einigen bühnentechnischen Einfällen abgesehen — nicht nur unzureichend, sie decken in der funktionslosen, zur „Klamotte" tendierenden Übertreibung auch die Unaufrichtigkeit der Kritik auf. Eine Schauspielertruppe will ein Stück mit dem Titel Tbe Landoti Mercbant aufführen, doch bereits nach den ersten Sätzen, die der Prolog spricht, wird die Aufführung von einem Zuschauer unterbrochen. Er stellt sich als Free-man, als Mitglied der „edlen Stadt" vor, als grocer von Beruf (hier Krämer), der sich den neumodischen Kram verbittet und fragt, warum man nicht einen der bekannten Stoffe auf die Bühne bringe: die Legende von Whittington, die Historie der Königin Eleonore „oder Leben und Tod von Sir Thomas Gresham, mit der Einrichtung der königlichen Börse."662 Er jedenfalls wünsche, daß etwas zu Ehren der „Commons of the City" aufgeführt würde. Auf die Frage, was er denn von einem Stück über „Leben und Tod des dicken Drake" hielte663, antwortet er: „Ich mag das nicht; ich will vielmehr einen Bürger sehen, und er soll aus meinem eignen Handelsstand kommen." Seine Frau, die sich inzwischen in das Gespräch zwischen g r o c e r und Schauspieler eingemischt hat, schlägt vor, Rafe, den Angestellten des Krämers, einen Part in diesem gewünschten Stück übernehmen zu lassen. Die Schauspieler willigen ein, und so kommt denn Rafe begleitet von zwei Lehrlingen, Tim als s q u i r e (Knappe) und George als d w a r f (Zwerg), auf die Bühne und greift als der „Ritter von der Flammenden Keule" in das Geschehen des „eigentlichen" Theaterstückes ein, wobei er durch Zurufe und Kommentare des g r o c e r s und seines Weibes lautstark unterstützt und bisweilen auch kritisiert wird. Ein Londoner Kaufmann mit dem bezeichnenden Namen Venturewell tritt auf und entläßt seinen „Lehrling" Jasper (der ein typischer Adventurer-Pseudo-Lehrling ist, denn er hat die Verwaltung über alle In- und Auslandsgeschäfte Venturewells inne664), weil Jasper Venturewells Tochter Luce (unstandesgemäß) liebt. Venturewell will sie mit seinem reichen Freund Humphrey verheiraten. Natürlich ist Luce keineswegs damit einverstanden. Sie flieht mit Jasper in einen Wald, wo sie Rafe treffen, der als „Ritter von der Flammenden Keule" von Jasper verprügelt wird (usw. usf.): das Stück entbehrt im Grunde jeden literarischen Interesses — Jasper bekommt am Ende Luce, Rafe verwandelt sich zurück in den Angestellten des grocer usw. 246

Was uns hier angeht, ist etwas andres: ist die implizite und explizite Polemik des Autors gegen das von ihm unterstellte höfisch-ritterliche, deplazierte und schlecht nachgeahmte Abenteuerdenken des Handelsbürgertums sowie gegen das Handelsbürgertum selbst. Venturewell, der seßhafte adventurer, ist eine groteske, despotische Gestalt; sein Freund Humphrey ein Feigling, der von sich behauptet: „Ich bin von adlig Blut und sehe adlig aus." 665 Jasper ist der Sohn eines Trunkenboldes und einer Halbverrückten; der Krämer und seine Frau sind plump und ungebildet, und Rafe ist ein naiver Tölpel. Bezeichnend ist, daß der adventurer Venturewell und die mit ihm verbundenen Gestalten gar nicht an Abenteuer, sondern an Profit und reiche Heirat denken (bzw. Luce und Jasper an private Liebe) und daß die Schwärmerei für (Ritter- und Märchen-)Abenteuer dem seßhaften grocer, seiner Frau, seinem Angestellten und seinen Lehrlingen unterstellt wird. Während Shakespeares Bekenntnis zur bürgerlichen adventure mit einer deutlichen Verurteilung der höfischen Abenteuer-Ideologie verbunden ist, stellt Beaumont die Bürger als vorgebliche Anhänger dieser Ideologie vor, was bei ihnen einhergeht mit der Distanzierung von der eignen Klasse, mit Größenwahn, mit Albernheit. So sagt Rafe z. B., nachdem ihm die Rolle des „Ritters von der Flammenden Keule" zugeteilt wurde, er habe noch nie etwas von einem „Grocer Errant", einem „Fahrenden Krämer" gehört. Wenn er also die Rolle eines Ritters spiele, so wolle er diese auch richtig spielen, und dazu gehörten nun einmal nach Aussage der Ritterbücher ein Knappe und ein Zwerg. Mit diesen zusammen wolle er dann auf adventure ziehen.666 Seine Rede ist gespickt mit Zitaten aus Amadis und Palmer in von England, (einem Nachfolger des Amadis, entstanden in Portugal um die Mitte des 16. Jahrhundercs), und wo er zusammen mit squire Tim und dwarf George im Bühnenspiel auf die andern (bürgerlichen) Gestalten trifft, bezieht er ganz unritterlich Prügel. Die Verbindung von Bürger und (ritterlich-höfischem) Abenteuer wird von Beaumont in jeder Hinsicht verneint und lächerlich gemacht: abenteuerliches Leben und entsprechende Ideale (bzw. entsprechende Weltanschauung) können nach Beaumont vom Bürger nicht in Anspruch genommen werden. Sein Knigbt of tbe Burning Pestle ist die aggressive Ergänzung zu jener Declaration of tbe Demeanor and Carriage of Sir Walter Kaleigb, Knigbt (Erklärung %ttm Verhalten und Benehmen des Sir Walter Raleigb, Ritter) von 1618, in der es heißt, es sei Raleigh gelungen, für die Durchführung seiner Expedition nach Guayana 247

"many brave captains and other knights and gentlemen of great blood and worth to hazard and adventure their lives and the whole or a great part of their estates and fortune in this his voyage" 6 6 7 * zu finden.

Die vergebliche Reaktion oder neue Dimensionen des Abenteuers Die Kehrseite von Beaumonts Stück, das sozusagen das Bestehen von Abenteuern und ihre Verherrlichung zu einem Exklusivrecht des Feudaladels stempeln möchte, ist die ungewollte Konsequenz, die sich aus der Tatsache ergibt, daß das Bürgertum faktisch tatsächlich die praktischen adventures realisierte (und keineswegs so einfältig und albern war, wie Beaumont es darstellt). Die ökonomische Macht besaß es bereits, die politische sollte es binnen kurzem gewinnen. Tatsächlich wäre eine Imitation des höfisch-ritterlichen Lebensstils und der Ritterabenteuer-Ideologie durch das Bürgertum lächerlich gewesen: allein der Gedanke ist schlecht vorstellbar. Damit aber beweist Beaumont, was er gewiß nicht beweisen wollte: daß die aufsteigende, revolutionäre Klasse, das Bürgertum, mit dem Ritterabenteuer und seiner Verherrlichung nichts mehr anfangen konnte. Beaumont bestätigt nur indirekt, was Shakespeare bereits dargestellt hatte — daß die Ritterabenteuer-Ideologie nicht mehr brauchbar war. Das gilt selbstverständlich auch mit Blick auf den Adel: in der Welt des expandierenden Manufakturkapitalismus hätte ein Ritterabenteurer, auch wenn er Adliger gewesen wäre, nur eine komische Figur sein können (allenfalls eine traurige wie Don Quijote eine war). Die politische Reaktion der feudal-absolutistischen Monarchie in England war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Produktionsweise hatte sich zur kapitalistischen gewandelt, und eine Rückkehr zur altmodischen feudalen war selbstverständlich unmöglich. Das spiegelt sich auch (als Detail im Gesamtzusammenhang) in der weiteren Entwicklung der AdventurerCompany. 1617 wurden die königliche Gesellschaft wegen totalen Mißerfolgs aufgelöst und die adventurers in ihre alten Rechte wieder eingesetzt, die 1634 erneuert wurden. Dennoch beginnen sie für uns — weil im Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Entwicklung in England immer irrelevanter —668 ihr Interesse einzubüßen. Im Jahr der „Glorious Revolution" 1688 wird das Privileg des 248

Tuch-Monopol-Exports, weil ebenso obsolet geworden wie die genossenschaftliche Organisation bzw. das, was von ihr übrig geblieben war, aufgehoben: die adventurers führen im 18. Jahrhundert nur noch ein Schattendasein. 1805 schließen sie ihr letztes Kontor in Hamburg. 669 Ihre Bedeutung für die Herausbildung der modernen bürgerlichen Abenteuer-Ideologie ist jedoch — wie gezeigt werden sollte — erheblich gewesen. Bereits relativ früh hatte die Ideologisierung der Adventure-Tätigkeit eingesetzt, wobei die Betonung der ethischen Qualitäten, die in der adventure unter Beweis gestellt werden mußten (Tapferkeit, Risikobereitschaft usw.), stets verbunden war mit der der Nützlichkeit für (Privat-)Handel und Staat (Entdeckungen, Eroberungen, Vergrößerung des Nationalreichtums, Herstellung von Handelsverbindungen usw.)670*. In seiner Komödie Die beiden Veroneser (1590—1594) spricht Shakespeare noch aus einer anderen Perspektive das Lob des Abenteuers aus, wobei sich seit der Antike geläufige Vorstellungen von Jugend, Aktivität, Handel und Schiffahrt mit der modernen Adventure- und Entdeckertätigkeit verbinden. Das Stück beginnt mit einem Dialog zwischen Valentin und Proteus, den beiden Veroneser Freunden. Proteus ist verliebt in Julia, und Valentin macht sich über ihn lustig, rät ihm, sich nicht von der Liebe knechten zu lassen und es so zu machen, wie er selbst es tut (I 1: Übersetzung Ludwig/Dorothea Tieck): Hör' auf, mir zuzureden, teurer Proteus; Wer stets zu Haus bleibt, hat nur Witz fürs Haus. Wenn Neigung nicht dein junges Herz gefesselt Den süßen Augenwinken deiner Schönen, Bät ich dich eh'r, du möchtest mich begleiten, Die Wunder fremder Länder zu beschaun, Anstatt daheim im dumpfen Traum die Jugend In thatenloser Muße zu vernutzen. Wenig später jedoch muß auch Proteus Verona verlassen und Valentin in Mailand Gesellschaft leisten — auf Befehl seines Vaters, der im Reisen eine pädagogische Notwendigkeit erblickt. Auch hier wiederum verbindet sich antiker Topos mit beobachteter moderner Praxis. Panthino, der Diener von Proteus' Vater Antonio, sagt diesem, es verwundere Antonios Bruder, daß er Proteus „daheim . . . seine Jugend" verbringen läßt (I 3): 249

Panthino: Da mancher, der geringer ist als Ihr, Den Sohn auf Reisen schickt, sich auszuzeichnen: Der in den Krieg, um dort sein Glück zu suchen; Der zur Entdeckung weitentlegner Inseln; Der zur gelehrten Universität. Für dieser Wege jeglichen und alle, Meint er, sei Proteus, Euer Sohn, geschickt. Mir trug er auf, es Euch ans Herz zu legen, Daß Ihr ihn nicht länger daheim behaltet; Zum Vorwurf würde es dem Greis gereichen, Hätt' er die Welt als Jüngling nicht gesehn. Antonio: Nun, dazu darfst du mich nicht eben drängen, Worauf ich schon seit einem Monat sinne. Wohl hab' ich selbst den Zeitverlust erwogen, Und wie er ein vollkommner Mann nicht ist, E h ' ihn die Welt erzogen und geprüft. Erfahrung wird durch Fleiß und Müh' erlangt Und durch den raschen Lauf der Zeit gereift. . . Das Verlassen der heimatlichen Enge, das Reisen in jungen Jahren ist aus zwei verschiednen Perspektiven beleuchtet: der des Jugendlichen, der das Reisen als Gegensatz zur unnützen Tatenlosigkeit und als Abwechslung von der heimatlichen Alltäglichkeit empfindet, und der des Erwachsenen (mit pädagogischem Interesse). Zwar sind es zwei Personen, die die Perspektive des Erwachsenen vertreten, da aber ihre Ansichten übereinstimmen, können wir beider Meinung zusammenfassen. Erstens: Reisen ist offensichtlich nicht nur das Privileg besser gestellter Kreise, sondern sogar Ausweis sozialen Ranges; zweitens: Reisen haben einen nützlichen Zweck (hier ist eine genaue Stufung vorgenommen: in den Krieg zu ziehen, um dort sein Glück zu suchen, dürfte die konventionellste Form gewesen sein, und steht daher am Anfang der Klimax, deren zweites Glied die moderne Abenteuer-Entdeckerreise und deren Höhepunkt das Studium an einer ausländischen Universität ist); drittens: Reisen ist ein Privileg der Jugend, das Alter reist nicht mehr und kann das in der Jugend eventuell Versäumte nicht mehr aufholen; viertens: erst durch Reisen wird man zu einem vollkommenen Mann. 6 7 1 Halten wir fest, daß hier ein Gesamtzusammenhang hergestellt ist, der unter dem Stichwort R e i s e einen ganzen Komplex ver-

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schiedener Tätigkeiten umfaßt: von der Tätigkeit als Soldat übet die des Abenteurer/Entdeckers bis hin zum Wissenschaftler, und der diesen gesamten Komplex beherrschende Gedanke ist der des aktiven, praktischen Erwerbs von Kenntnissen in der Reise- bzw. Entdeckertätigkeit,672* ein Gedanke, der grundlegend ist für das philosophische System von Francis Bacon. Es gehört zu den typischen, erklärbar-notwendigen Widersprüchlichkeiten der Klassenkampfsituation des beginnenden 17. Jahrhunders in England, daß Jakob I., mit dem 1603 die Reaktion der feudal-absolutistischen Monarchie gegen das Bürgertum gleich ganz massiv einsetzt, den bedeutendsten Vertreter der bürgerlich-revolutionären Weltanschauung 1603 erst zum Ritter schlägt und zum königlichen Rat macht und dann 1619 sogar zum Lord-Kanzler ernennt, den „wahre(n) Stammvater des e n g l i s c h e n M a t e r i a l i s m u s und aller m o d e r n e n e x p e r i m e n t i e r e n d e n Wissenschaft," wie Marx über Bacon urteilt: „Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die sinnliche P h y s i k als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft . . . Nach seiner Lehre sind die S i n n e untrüglich und die Q u e l l e aller Kenntnisse. Die Wissenschaft ist E r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t und besteht darin, eine r a t i o n e l l e M e t h o d e auf das sinnlich Gegebene anzuwenden. Induktion, Analyse, Vetgleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode. Unter den der M a t e r i e eingebornen Eigenschaft ist die B e w e g u n g die erste und vorzüglichste, nicht nur als m e c h a n i s c h e und m a t h e m a t i s c h e Bewegung, sondern mehr noch als T r i e b , L e b e n s g e i s t , S p a n n k r a f t , als Qual — um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen — der Materie."673 Der das Wesentliche treffenden Charakterisierung Bacons durch Marx entspricht Bacons Bejahung der Bewegung hin auf das (noch) Unbekannte, die Ferne, die Erkenntnis des empirisch erst noch zu Erreichenden — der Entdeckung neuer Welten im Mikro- und Makromaßstab. Das Titelbild seiner Instauratio Magna ('Die große Erneuerung, 1620) zeigt zwei Schiffe. Das eine ist gerade dabei, durch die Säulen des Herkules zu fahren, das andre ist bereits hindurch gesegelt und verschwindet langsam am Horizont. Die Säulen des Herkules symbolisieren nach Auffassung der Antike und des Mittelalters die Meerenge bei Gibraltar, und diese wiederum bezeichnet das Ende der bekannten Alten Welt. Bei Bacon signalisieren sie die Enge dieser Alten Welt und die Beschränktheit der 251

traditionellen Wissenschaft. 674 Die beiden Schiffe hingegen repräsentieren sowohl ganz konkret die Schiffahrt als auch abstrakt die Neugier des Menschen, seine Naturaneignung: die Wissenschaft. Der T r i e b , der L e b e n s g e i s t , die S p a n n k r a f t , die B e w e g u n g , von denen Marx spricht, beherrschen das menschliche Denken: „Der menschliche Verstand ist unruhig," schreibt Bacon, „es ist ihm unmöglich, stillzustehen oder auszuruhen, vielmehr drängt es ihn immer weiter vorwärts, jedoch vergebens. Daher ist es unvorstellbar, daß da irgendein Ende oder eine Grenze der Welt sei, sondern es stellt sich immer gleichsam notwendig heraus, daß noch etwas andres dahinter ist . . ."675* Die in der Dialektik von Unruhe des Geistes und praktischer Entdeckertätigkeit ständig vorgerückten Grenzen der menschlichen Kenntnis und Erkenntnis beweisen post festum die Enge der vorherigen Welt, der vorherigen Erkenntnis, des vorherigen Wissens, und damit notwendigerweise auch, daß der Mensch die Grenzen des jeweils Bekannten und Erkannten permanent empirisch und reflektierend überschreiten muß. Deswegen muß aprioristischem Denken, das auf keiner oder doch nur geringer experimenteller Erfahrung beruht, Skepsis entgegengebracht werden, was vor allem für die Antike gilt: „Denn in jener Epoche herrschte nur eine kleine und bescheidene Kenntnis von Zeit und Raum, was umso verheerender ist, wenn man alles auf die Erfahrung setzt. Denn . . . (die Alten — M. N.) . . . hatten keine Geschichte, die es wert war, Geschichte genannt zu werden und die tausend Jahre zurückreichte, sondern sie besaßen nur Fabeln und Gerüchte aus dem Altertum. Von den vielen Regionen . . . der Welt kannten sie nur einen kleinen Teil und gaben ohne weitere Spezifizierung allen Einwohnern des Nordens den Namen Skyther und allen Einwohnern des Westens den Namen Kelten. Von Afrika wußten sie über den diesseitigen Teil Äthiopiens hinaus, von Asien über den Ganges hinaus nichts. Noch weniger waren sie selbst über Hörensagen oder ein gutbegründetes Gerücht mit den Provinzen der Neuen Welt vertraut. Im Gegenteil, eine große Zahl von Klimaten und Zonen, in denen unzählige Menschen atmen und leben, waren von ihnen für unbewohnbar erklärt worden . . . In unsrer Zeit dagegen sind sowohl viele Teile der' Neuen und die Grenzen auf jeder Seite der Alten Welt bekannt, und der Berg der Erfahrungen ist ins Unendliche gewachsen." 676 Daß die Polemik gegen die Unkenntnis der Alten auch das Mittelalter sowie die höfische Ritter- und Märchenabenteuerverherr-

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lichung mitumfaßte (der Amadis de Gaula wird eigens zitiert677), sei nur beiläufig erwähnt. Bacon findet die Tatsache, daß sich die Kenntnisse seiner Zeit gegenüber der Antike so ungeheuer vermehrt haben, selbstverständlich, seien jene doch die Jungen, die nun Lebenden hingegen die Späteren und mit Blick auf die Entwicklung der Menschheit die Älteren (was den berühmten Streit zwischen den Alten und den Modernen gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich präludiert): die Späteren hätten die Erfahrungen sammeln können, die die Jüngeren noch nicht besaßen: „Die Tatsache, daß so viele Dinge der Natur durch die fernen Expeditionen zu Wasser und zu Lande, die in unseren Zeiten zugenommen haben, aufgespürt und entdeckt worden sind, die unser Denken mit neuem Licht versehen können, darf nicht gering veranschlagt werden. Wäre es nicht eine Schande für die Menschen, wenn die Grenzen des geistigen Globus so eng blieben, wie sie zur Zeit der Lehren der Alten gewesen sind, während der Raum des materiellen Globus (und d. h. der Erde, der Meere, des Sternenhimmels) so immens gesprengt und erklärt wurde?" 678 Immer wieder weist Bacon auf die Bedeutung der Entdeckung der Neuen Welt für die Revolutionierung des Denkens, der Wissenschaft hin: „Noch einmal," so schreibt er, „tut es gut, die Kraft und die Tugend und die Folgen der entdeckten Dinge festzustellen. Sie kommen nirgendwoanders manifester zusammen als in jenen drei Dingen, die den Alten unbekannt waren . . . die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und der Seekompaß. Denn diese drei Dinge haben das Gesicht und die Ordnung der Welt verändert: erstens, was die Literatur; zweitens, was den Krieg und drittens, was die Schiffahrt angeht . . ."679 Bacon beläßt es nicht etwa bei einer Analogisierung von Entdeckungen materieller und geistiger Art: er sieht die Gemeinsamkeit auch in der Methodik. Sowohl im Bereich der materiellen als auch im Bereich der geistigen Forschung ist die Methode der (experimentellen) Induktion anzuwenden: „ . . . unsere Methode, die mittels Induktion arbeitet," erklärt er gegenüber eventuellen Zweiflern, „läßt sich auf alles anwenden. Denn wir verfassen nämlich die Entdeckungsgeschichte und -tabellen über den Zorn, die Furcht, die Schüchternheit und Ähnliches, nicht weniger auch von den Denkgesetzen der Erinnerung, der Komposition und der Teilung, der Urteile und des Übrigen genauso wie die über Hitze und Kälte, oder über das Licht, über die Vegetation und über Ähnliches." 680 253

Vor dem Hintergrund dieses wissenschaftstheoretischen Credos haben wir Bacons bis an das Ende seines Lebens andauernden Bemühungen zu sehen, die menschliche Psyche zu beschreiben: seine psychologischen Studien nehmen sich in der Tat aus wie tabellarische Verortungen und Beschreibungen (vgl. vor allem seine antithetisch nach pro und contra angelegte Tabelle der Seelenqualitäten in De Dignitate et Augmentis Scientiarum / Über Würde und Vermehrung der Wissenschaften von 1623),681 aus denen dann, so als seien die beobachteten menschlichen Qualitäten physikalische Wahrheiten, Folgerungen nach dem Prinzip U r s a c h e (psychische Fakten) und F o l g e n (Sozialverhalten) abgeleitet werden. Dieses Verfahren ist in mehrfacher Hinsicht für die vorliegende Arbeit von Bedeutung. Zunächst einmal, um den positiven, für die geschichtliche Situation wichtigsten Aspekt zu nennen: die Gründe für die Handlungen des Menschen werden aus jeglichem religiösen, metaphysischen Bezug und damit aus der unveränderbaren Vorherbestimmtheit menschlichen Handelns durch göttlichen Willen bzw. gesellschaftliche (die mittelalterlich-feudalen) Hierarchien und Strukturen herausgelöst und in das handelnde Individuum verlegt, in seine N a t u r . Sie ist es, die letztlich den Menschen beherrscht, lenkt, zu seinen Handlungen veranlaßt: „Die natürliche Anlage wird oft verdeckt, zuweilen überwunden, selten ausgelöscht.", schreibt Bacon in den Essays.662 Er legt daher großen Wert auf die Erziehung, derer es bedarf, um das Individuum für die Gesellschaft nützlich zu machen. Dabei spielt die Gesellschaft ihrerseits eine entscheidende Rolle als Erziehungsinstanz: „Tatsächlich beruht ja auch eine mannigfaltige Entwicklung von Tugenden in der menschlichen Natur auf einer wohlgeordneten, an Zucht gewöhnten Gesellschaft."683 Die Entmystifizierung des Menschen durch die wissenschaftliche oder doch vermeintlich wissenschaftliche Erfassung seiner Natur bzw. seiner Psyche und die Erklärung seiner Handlungen aus ihr stellen einen großen Schritt in Richtung der Befreiung des Menschen aus seiner „Unmündigkeit" dar. Allerdings enthält diese aus der Praxis des Menschen abgeleitete Vorstellung von der (naturwissenschaftlichen) Verortung des Individuums bereits Elemente, die beitragen, aus dieser geistigen Waffe im Kampf um die Freiheit des Menschen ein ideologisches Unterdrückungssystem zu machen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: zwar ist die wissenschaftliche Überzeugung Bacons, menschliche Handlungen 254

aus der methodischen Beobachtung der menschlichen Natur bzw. Psyche ableiten zu können, ein gegen mittelalterlich-religiöses Denken gerichteter revolutionärer Gedanke, aber dieser Gedanke ist objektiv falsch. Er stellt eine unstatthafte Übertragung empirisch-induktiver Methoden der Naturwissenschaft auf einen „imaginierten" Gegenstand dar: das, was Bacon als menschliche Natur bzw. Psyche versteht, ist nichts als seine eigene Vorstellung (und damit die der bürgerlichen Fraktion, deren Ideologe Bacon ist) von der menschlichen Natur bzw. Psyche, eine Vorstellung, die sich aus Klischees, die von der Antike übernommen sind, aus modernen Autoren wie Montaigne und aus eigenen Lebenserfahrungen zusammensetzt. Mit logischer Konsequenz führt ein derartiges Verfahren, menschliches Verhalten, menschliche Praxis aus einer (wie auch immer) spekulativ verstandenen Natur bzw. Psyche des Menschen abzuleiten, zur Erklärung bzw. Rechtfertigung gesellschaftlicher Verhältnisse insgesamt. Der Tendenz nach ist hier bereits angelegt, was bei Hobbes systematisiert werden sollte: die Rechtfertigung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus unterstellter biologischer Gesetzlichkeit, ein Verfahren, das zusammen mit dem der Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse und Verhaltensformen aus der P s y c h e (z. T . kombiniert mit der biologistischen) bis auf den heutigen Tag die Basis für die ideologische Rechtfertigung und Verherrlichung des kapitalistischen Systems, und d. h. die Ausbeutung und Unterdrückung des Proletariats abgibt, wobei die psychologistischen und biologistischen Varianten der Abenteuer-Ideologie eine ganz entscheidende Rolle spielen. Bei Bacon ist dies — wie gesagt — bereits der Tendenz nach angelegt : die biologische bzw. psychologistische Erklärung für das Verhalten des Individuums wird übertragen auf die menschliche Gesellschaft insgesamt: „So wie sich die Gesellschaftsgesetze gegenüber den Sitten und Gewohnheiten verhalten, so verhält sich in den Individuen die Natur zur Gewohnheit." 6 8 4 Diese Identifizierung von Gesellschaftsgesetzen und individueller Natur ist umkehrbar, was zu Konsequenzen im Hinblick auf die Theorien über Innen- und Außenpolitik führen muß: „Kein Körper, weder der menschliche noch der Staatskörper, kann ohne Bewegung gesund bleiben; und für ein Königreich oder einen andern Staatskörper ist tatsächlich ein gerechter und ehrenhafter Krieg die rechte Übung. Ein Bürgerkrieg zwar ist der Hitze eines Fiebers vergleichbar, allein ein auswärtiger Krieg gleicht der durch Leibesübungen

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erzeugten Wärme und trägt dazu bei, den Körper gesund zu erhalten; denn Friedenszeiten verweichlichen den Geist und verderben die Sitten. Aber mag nun das Glück der Menschen abhängen, wovon es will, jedenfalls ist es für die Machtentfaltung nötig, möglichst ständig unter Waffen zu stehen." 685 Ist hier die Zielrichtung anscheinend noch unbestimmt, so wird doch wenig später deutlich, welche konkreten Vorstellungen Bacon u. a. mit dieser These von der notwendigen (kriegerischen) Bewegung des „Staatskörpers" verfolgt: „Kolonien gehören zu den vom Altertum überkommenen, uranfänglichen und heldenmütigsten Unternehmungen. Als die Welt noch jung war, zeugte sie mehr Kinder; nun aber, da sie alt ist, bringt sie weniger hervor; denn ich darf wohl neue Niederlassungen mit Recht als die Kinder der ehemaligen Reiche bezeichnen. Ich bin für Ansiedlungen auf jungfräulichem Boden, das heißt da, wo nicht erst die Bevölkerung ausgesiedelt wird, um sich woanders niederzulassen; denn das wäre eher eine Ausrottung als Pflanzung. Die Besiedelung von Ländern gleicht Baumpflanzungen, weil man darauf rechnen muß, zwanzig Jahre lang einem Nutzen zu entsagen und erst am Ende seinen Lohn zu ernten. Denn die hauptsächlichste Ursache, die den Untergang der meisten Ansiedlungen verschuldete, ist die gemeine und gierige Ausnutzung in den ersten Jahren gewesen. Ein schneller Verdienst ist allerdings nicht zu verschmähen." 686 Daß derartige Vorstellungen durchaus im Interesse des Bürgertums lagen, ergibt sich aus der Natur der beschriebenen Sache: „Zum Kolonisieren eignen sich besonders Arbeiter, Gärtner, Ackerbauern, Schmiede, Zimmerleute, Tischler, Fischer, Vogelsteller; dazu müssen ein paar Apotheker, Ärzte, Köche und Bäcker kommen." 687 Die eigentlichen Profiteure jedoch sind die Kaufleute, wie Bacon wenig später zu erkennen gibt: „Man gewähre Zollfreiheit, bis die Ansiedlung stark geworden ist; und nicht bloß Zollfreiheit, sondern auch die Freiheit, ihre Erzeugnisse dort abzusetzen, wo es am vorteilhaftesten für sie i s t . . .'