Sowjetliteratur in bürgerlicher Sicht: Kritik der Kritik [Reprint 2021 ed.] 9783112574744, 9783112574737


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Sowjetliteratur in bürgerlicher Sicht: Kritik der Kritik [Reprint 2021 ed.]
 9783112574744, 9783112574737

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Erhard Hexelschneider, Wladimir J. Borstschukow Sowjetliteratur in bürgerlicher Sicht

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Erhard Hexelschneider, Wladimir J. Borstschukow

Sowjetliteratur in bürgerlicher Sicht Kritik der Kritik

Akademie-Verlag • Berlin 1980

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR - 1080 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lektor: Dr. Edelgard Schmidt Lizenznummer: 202 • 100/177/80 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5551 Bestellnummer: 753209 8 (2150/55) • LSV 8030 Printed in GDR DDR 6,50 M

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Unvereinbare

7 Positionen

Neues Kräfteverhältnis und Sowjetliteratur Marktmechanismus und Manipulation Antiwissenschaft in wissenschaftlichem Gewand Revolution

und Literatur

38

Die These von der Kunstfeindlichkeit der Revolution - Das Beispiel Majakowski Revolution als Mythos? Sowjetliteratur und Emigration - Die Legende von der e i n e n Literatur . Die Partei und die Schriftsteller

der Sowjetliteratur

Ist der sozialistische Realismus überholt? Ausbruch und Aufbruch Offenheit des sozialistischen Realismus = Uferlosigkeit? . . Parteilichkeit - Volksverbundenheit - Held Idealisierung

der „goldenen

40 47 52 58

Die Funktion der Sowjetliteratur Periodisierung der Literatur oder der Literaturpolitik? . . . Künstlerische Freiheit und Autonomie Autonomie und formale Schule Die Schaffensmethode

13 21 29

Zwanziger"

Literatur in Freiheit oder graue Einheitsliteratur? . . . . Die Linken und der Proletkult

5

58 67 75 80 84 84 89 94 97 105 108 110

Verlorene Illusionen Ästhetischer Reichtum oder formale Stagnation?

116 123

Krieg und Literatur Der Charakter des Krieges Partei und Volk Soldat ist nicht Soldat

125 125 128 132

Multinationale Einheit Sowjetliteratur als multinationale Literatur Nationalismus contra Internationalismus Kritik in der Anpassung

137 137 139 143

Der Kampf um Scholocbow Bemühen um Objektivität Ästhetische Diffamierung Politische Denunziation

149 149 152 154

Sowjetologen, Jesuiten und Opportunisten

156

Anmerkungen

163

Personenregister

184

Vorwort

Nach Angaben des amerikanischen Wissenschaftlers J . J. Dossick wurden in den Jahren 1876 bis 1950 in den USA und Kanada 250 Dissertationen über Rußland und die Sowjetunion verteidigt; 1951 bis 1960 waren es in nur einem Jahrzehnt 600! In der Zeit von 1960 bis 1972 betrug die Gesamtzahl schon rund 1 800, also in nur zwölf Jahren siebenmal mehr als in den vorangegangenen 75 Jahren; 40 Prozent davon sind der russischen Literatur und Sprache gewidmet. Die Anzahl der literaturwissenschaftlichen Dissertationen insgesamt stieg von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren um das Vierfache (67 : 260). 1 Die chilenische Militärjunta setzte 1975 die Werke Gorkis und Majakowskis auf den Index und verbannte sie aus den Universitätsbibliotheken - ein Vergleich zu den faschistischen Bücherverbrennungen von 1933 drängt sich auf. Nachdem in der maoistischen „Kulturrevolution" Chinas die Werke Gorkis, Majakowskis und Scholochows verboten waren, erschien 1976 überraschend Fadejews Roman Die Neunzehn. Sehr umfangreich ist die sowjetische Literatur in den letzten Jahren in der Türkei vertreten; eine Übersetzungserlaubnis wird aber gewöhnlich nur dann erteilt, wenn das Buch in englischer oder französischer Sprache bereits vorliegt.2 Nach zwölfjähriger Pause fand in Paris am 26. Oktober 1977 eine sowjetische Dichterlesung (anwesend waren Simonow, Jewtuschenko, Roshdestwenski, Okudshawa, Suleimenow und andere) vor 2 000 Menschen statt. Im Juni 1977 wurde in Moskau das erste zweiseitige Treffen von Schriftstellern der UdSSR und den USA über Wechselbeziehungen der sowjetischen und amerikanischen Literatur veranstaltet; im Mai 1978 fand das Gegentreffen in den USA statt.

7

Drei sowjetische Autoren, L. Ginsburg, L . Lawlinski und B. Okudshawa, gute Kenner der bundesdeutschen Literaturszene, bestätigten das wachsende Interesse an Sowjetliteratur in der B R D und die zunehmende Zahl übersetzter Titel, mußten aber zugleich konstatieren: „Und dennoch beginnt sich das Lesepublikum der B R D im Grunde erst an die Sowjetliteratur zu gewöhnen, fühlt sich zu ihr hingezogen, findet aber nicht immer die nötige Unterstützung in der Kritik, im System des Buchhandels." 3 Während die antisowjetischen Schriften sogenannter Dissidenten von geschäftstüchtigen Verlegern mit Hilfe der imperialistischen Medien zu „Bestsellern" mit Millionenauflagen gemacht werden, bewegen sich die Auflagen von Werken der Sowjetliteratur zwischen 5 000 bis 6 000 Exemplaren. E s sind sehr unterschiedliche Angaben, mit denen hier versucht wird, knapp einen Einblick in jene Problematik zu vermitteln, die mit der Verbreitung und Interpretation sowjetischer Literatur in einigen Ländern des Kapitals verbunden ist. Freundschaftliche Förderung, nüchterne Geschäftsinteressen oder echte Bereitschaft zu gemeinsamer Diskussion stehen auch in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts neben gewaltsamer Verfolgung von Freunden der Sowjetliteratur und Verboten wichtiger Werke und Schriftsteller. Diese Widersprüchlichkeit beweist: D i e sowjetische Literatur ist ein bedeutendes Feld der ideologischen Auseinandersetzung. Mit dem Entspannungsprozeß, den sich verstärkenden politischen Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten und dem in ihrem Gefolge sich ausweitendem Kultur- und Literaturaustausch setzt sich auch der Kampf um die Sowjetliteratur im Kapitalismus fort. Gewiß, in den siebziger Jahren ist die Sowjetliteratur in einer grundsätzlich anderen Situation als zur Zeit ihrer Herausbildung: D i e Zahl der an ihr Interessierten ist in aller Welt größer geworden; ihre Gegner können nicht umhin, die welthistorische Leistung der Sowjetliteratur zu beachten; sie müssen sich den neuen historischen Gegebenheiten anpassen und sind deshalb gezwungen, ihre Konzeptionen zur Verunglimpfung dieser Literatur zu verändern. Sie suchen auf ihre Weise, die Sowjetliteratur in ihrer immer größer werdenden inhaltlichen und ästhetischen Vielfalt, das Aufdecken erregender Widersprüche und Konflikte des realen Sozialismus, die weitere Differenzierung des sozialistischen Menschenbildes durch die Literatur, das sich entfaltende breite Spektrum unterschiedlicher ästhetischer Konzepte im sozialistischen Realismus und die reichen Erbebeziehungen zu nutzen, um aus solchen wichtigen Momenten heutiger sowjeti-

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scher Literaturentwicklung politisches Kapital zu schlagen. So bietet sich dem in der Geschichte der Auseinandersetzung um die Sowjetliteratur nicht bewanderten Betrachter ein verwirrendes Bild dar, das zu klären und in seinen politischen Hintergründen zu deuten oft recht schwer ist. Hier setzt die vorliegende Untersuchung ein. Sie ist keine Rezeptionsgeschichte der Sowjetliteratur; vielmehr soll am Material der Sowjetliteratur der politische Mißbrauch der Literatur durch die psychologische Kriegführung des Imperialismus gegen den Sozialismus und der Mechanismus imperialistischer Literaturmanipulation nachgewiesen werden. E s geht um die Analyse des Vorganges, wie Kunst und Literatur in die strategischen Pläne des Imperialismus im Kampf gegen den Sozialismus eingeordnet werden. Dazu muß man aber wissen, welches heute die tragenden Konzeptionen bürgerlicher Wissenschaft im Bereich der Sowjetliteratur sind, welche Thesen über Jahrzehnte konstant, welche Konzepte (auch mit Blick auf die achtziger Jahre) unter dem Zwang zur Anpassung in letzter Zeit neuentstanden und wie sie zu bewerten sind. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß das Fortschreiten des Sozialismus und der sozialistischen Literatur auch zu einer differenzierteren Beurteilung ihrer Leistungen in kapitalistischen Ländern geführt hat. Zunehmend entstehen marxistische Untersuchungen zur Sowjetliteratur, aber auch die um Objektivität bemühten Arbeiten von bürgerlicher Seite sind anzahlmäßig im Wachsen begriffen. Dieser Tatbestand signalisiert eine Abkehr von der durch imperialistische Medien durchgängig betriebenen Verketzerung der Sowjetliteratur. Eine systematische Darstellung wurde jedoch nicht angestrebt. So ist diese Untersuchung weder zeitlich-chronologischer Abriß einer „Anti-Geschichte" der Sowjetliteratur noch eine umfassende Übersicht über a l l e Angriffe auf die Sowjetliteratur im Rahmen jenes internationalen „Feldzuges", von dem noch die Rede sein wird. Vollständigkeit konnte schon deshalb nicht das Ziel sein, weil die Literatur in den imperialistischen Staaten stark angewachsen ist. D i e Beschränkung wird auch zeitlich gesetzt: Im Mittelpunkt stehen die siebziger Jahre (bis etwa Mitte 1978), was gelegentliche Rückgriffe auf frühere Zeiten nicht ausschließt. D i e Begrenzung mußte ebenfalls räumlich erfolgen (schon im Hinblick auf die den Verfassern vorliegenden Quellen): Vorrangig behandelt werden Arbeiten aus der B R D , aber auch Schriften aus den USA, aus Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern wurden ausgewertet.

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D i e Auswahl betrifft vornehmlich solche Probleme und Autoren, die in besonderer Weise die Aufmerksamkeit und kritische Diskussion bürgerlicher Wissenschaftler erregt haben und die unabhängig davon auch für die Literaturentwicklung in der Sowjetunion von Bedeutung sind. Gleichzeitig aber können in Verbindung damit Leistungen der sowjetischen Literatur vorgeführt werden, deren Nichtbeachtung durch die bürgerliche Kritik ein deutliches Zurückbleiben der bürgerlichen Wissenschaft hinter dem neuesten Forschungsstand zeigt. Ausgehend vom Gesamtzusammenhang, in dem die Sowjetliteratur in den heutigen Klassenauseinandersetzungen steht, untersuchen die Verfasser die Hauptangriffspunkte imperialistischer Kritik. E s sind dies vor allem drei Problemkreise: die Interpretation der von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hervorgebrachten Literatur, die Einschätzung der Literaturpolitik der K P d S U und die Bewertung des sozialistischen Realismus als künstlerischer Methode. Dem schließen sich drei Kapitel zu spezielleren Fragen an: der literarische Prozeß in den zwanziger Jahren, die Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges und die Behandlung der nichtrussischen Sowjetliteraturen. Exemplarisch für die Verfälschung eines Schriftstellers durch die bürgerliche Kritik steht dann Michail Scholochow im Zentrum der Analyse, dessen Werk in besonderem Maße den politischen und ästhetischen Anwürfen des imperialistischen Gegners ausgesetzt ist. D i e Geschichte der Verbreitung der Sowjetliteratur in den kapitalistischen Ländern ist eine Geschichte der Auseinandersetzung und des Kampfes um ihre Ideen und ihre Ästhetik. Sie ist vorläufig über weite Strecken aber noch die Geschichte ihrer Mißdeutung, ja Fälschung; marxistische Untersuchungen sind gering an Zahl. Wir können uns zweifellos nicht damit begnügen, diese Angriffe nur zur Kenntnis zu nehmen. Alexander Dymschitz wies zu Recht darauf hin, daß es eine große Verpflichtung der marxistischen Kritik ist, sich mit den Verfälschungen des sowjetliterarischen Prozesses auseinanderzusetzen: „Im Namen der Wahrheit aber müssen wir . . . die Lügen der Verleumder entlarven. D a s ist auch im internationalen Maßstab unsere Pflicht." 4 Eben das liegt in der Absicht der Verfasser; daraus erklärt sich der über längere Passagen polemische Charakter der Darstellung. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Arbeiten erschienen, die in diesem Sinne in gründlicher Kritik die Verfälschung der Sowjetliteratur zurückgewiesen und widerlegt haben. Genannt seien hier

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die Monographien von A. Beljajew, W. Borstschukow, A. Dymschitz, I. Golik, W. Jermolajewa/W. Tolstych, A. Owtscharenko sowie die Dissertationen von W. Nikanorow und A. Obidin aus der UdSSR und von A. Hiersche und E. Hexelschneider aus der DDR. 5 Auf ihnen baut die vorliegende Schrift auf, die - verfaßt von einem sowjetischen und einem DDR-Slawisten - die einheitlichen Positionen unserer Wissenschaft im gemeinsamen Kampf f ü r die Sowjetliteratur dokumentieren soll. Für die Kapitel Revolution und Literatur und Die Schaffensmetbode der Sowjetliteratur zeichnet Wladimir I. Borstschukow (GorkiInstitut für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau) verantwortlich; die übrigen Kapitel verfaßte Erhard Hexelschneider (Karl-Marx-Universität Leipzig), in dessen Hand auch die Gesamtleitung lag. Es ist den Verfassern ein Bedürfnis, den slawistischen Literaturwissenschaftlern des Bereiches III am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR für vielfältige Hinweise und Diskussionen zu danken. Besonderer Dank gebührt Hedda Angermann für ihre Recherchen sowie Felicitas Lange und Eberhard Friedrich vom Institut für internationale Studien der KarlMarx-Universität Leipzig.

Unvereinbare Positionen

Neues Kräfteverhältnis und Sowjetliteratur „Jetzt verfolgen nicht wenige Menschen ohne Voreingenommenheit die neue sowjetische Literatur und schätzen sehr ihren Beitrag zur Weltliteratur, die Verschiedenartigkeit und den Reichtum der von ihr gestellten Probleme, die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich zu aktuellen Themen verhält, die Vielfalt ihrer Standpunkte und Stile. Die Schriftsteller, die ihre Verantwortung erkannt haben und bereit sind, ihre - die der Kunst eigenen - Wege zur Lösung der Probleme zu suchen, die ihnen die friedliche Koexistenz gestellt hat, erwarten von der Sowjetliteratur Initiativen zu einer breiten Diskussion dieser Fragen." 6 So kennzeichnete Jean Pérus, ein bekannter französischer Kritiker, Autor des Buches Romain Rolland et Maxim Gorki (1968), die weltweite Wirkung der Sowjetliteratur und ihrer Autoren, aber auch die Hoffnung, die die progressive Menschheit auf diese Literatur setzt. Ähnlich beurteilte die UNESCO die Rolle der sowjetischen Schriftsteller. Anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung des sowjetischen Schriftstellerverbandes telegrafierte der damalige UNESCOGeneraldirektor René Maheu an diese Organisation: „Die sowjetischen Schriftsteller und die UNESCO vereinen solche gemeinsamen Ideen wie die Achtung der Menschenrechte und die Festigung des Friedens auf der Erde; die Verbreitung von Wissen, die Ausweitung des Informationsaustausches, die Entwicklung von Kontakten zwischen einzelnen Vertretern der Kultur und den Völkern." 7 Er charakterisierte mit diesen Worten gleichzeitig einen Grundzug der Sowjetliteratur, der ihr von Anfang an immanent ist. Sie ist auf die Herausbildung sozialistischer Menschen, auf die Verwirklichung kommunistischer Ideale gerichtet und wird somit zu einer zutiefst humanistischen, der Völkerverständigung dienenden Literatur, die die Wahrheit über die Sowjetunion in der ganzen Welt verbreiten hilft. Damit leistet sie auf die ihr gemäße Weise einen Beitrag zur ideellen Fundierung des Friedens und zur Annäherung der Völker 13

unter den Bedingungen eines fortschreitenden Entspannungsprozesses. Die Frage nach dem Verbreitungsgrad der Sowjetliteratur in der Welt und nach ihrer künstlerisch-ästhetischen wie auch inhaltlichpolitischen Ausdeutung ist darum keinesfalls ein Randproblcm. Untersuchungen dazu sind eng verknüpft mit grundsätzlichen Fragen: das Verhältnis von Literatur und Politik in der Situation einer verschärften Auseinandersetzung zwischen sozialistischer und bürgerlicher Ideologie; der Platz des Schriftstellers in den Klassenkämpfen unserer Tage; das Wechselverhältnis zwischen psychologischem Krieg gegen den Sozialismus und die Sowjetunion von seiten führender imperialistischer Kreise und der Verfälschung der Sowjetliteratur durch eine in reaktionären Denkschemata befangene „Kommunismusforschung"; die Rolle der Literatur in der Gegenwart als Mittel der Völkerverständigung. Gerade in den letzten Jahren wird der Zusammenhang von fortschreitendem Entspannungsprozeß und sich ausweitendem Kulturund Literaturaustausch immer deutlicher erkennbar; andererseits ist die Verschärfung des ideologischen Kampfes eine Tatsache. Trotz der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit von Sozialismus und Kapitalismus impliziert, ja fordert die Politik der friedlichen Koexistenz, Bedingungen zu schaffen, damit sich die Völker besser kennenlernen und sich auf die humanistischen Werte ihrer Kulturen besinnen. 8 Dieser Prozeß zunehmenden internationalen Austausches trifft auf die Sowjetliteratur zu. Man kann von einem Siegeszug der Sowjetliteratur in der Welt nach dem zweiten Weltkrieg sprechen. Ihre Verbreitung ist in den einzelnen Ländern zwar durchaus unterschiedlich, erreicht aber insgesamt in den siebziger Jahren eine neue Qualität. Es geht jedoch nicht allein um ein quantitatives Anwachsen übersetzter Sowjetliteratur. Denn die Relation „fortschreitender Entspannungsprozeß - sich ausweitende Literaturbeziehungen" muß besonders für die siebziger Jahre durch eine weitere Relation ergänzt werden, nämlich „erweiterter Kultur- und Literaturaustausch und verschärfte ideologische Auseinandersetzung". Die Situation ist k l a r : Die Verlagerung der Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus vom militärischen Sektor (ohne daß damit die Gefahr einer militärischen Konfrontation restlos gebannt wäre) auf den ökonomischen und geistig-kulturellen Bereich verschärft zwangsläufig den ideologischen Kampf. Durch die wachsende Macht und den zunehmenden Einfluß des Sozialismus in der ganzen Welt werden die imperialistischen Ideologen immer mehr in die historische Defensive

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gezwungen. Sie bemühen sich daher in vielfältiger Weise, neues Terrain zu finden, von dem aus sie - angepaßt an die neuen Gegebenheiten - ihre Angriffe auf den Sozialismus weiterhin starten können. Unter diesem Aspekt erlangen der sich ständig ausweitende Kultur- und Literaturaustausch und die umfangreicher gewordenen Kulturbeziehungen eine erhebliche politische Dimension, die im Entspannungsprozeß um so deutlicher wird, je mehr die Angriffe gegen die Sowjetliteratur in den Dienst der antisozialistischen psychologischen Kriegsführung des Imperialismus gestellt werden. Einige Beispiele für die aktive Literaturpolitik der U d S S R mögen das verdeutlichen: Der sowjetische Schriftstellerverband entsendet ins sozialistische und kapitalistische Ausland jährlich etwa zwischen 500 und 700 Autoren. Etwa die gleiche Anzahl wird als Besucher empfangen. Jährlich werden in der U d S S R rund 450 Werke von Schriftstellern aus sozialistischen Ländern übersetzt und ediert; aus den U S A , Großbritannien, Frankreich und der B R D sind es mehr als 500 Titel. Allein 1976 wurden in der U d S S R ca. 1 500 Werke ausländischer Autoren aus 40 Sprachen der Erde in einer Gesamtauflage von 60 Millionen aufgelegt; umgekehrt erscheinen jährlich etwa 2 500 Titel sowjetischer Schriftsteller in mehr als 50 Ländern der Erde. Mit dem Beitritt der U d S S R im Mai 1973 zum Genfer Welturheberrechtsabkommen vom 6. September 1952 wurde der Literaturaustausch zwischen der U d S S R und den anderen Staaten weiterentwickelt und der Wirkungsradius der Sowjetliteratur sprunghaft ausgeweitet. 1976 unterhielt die Allunionsagentur für Urheberrechte der U d S S R (WAAP) Verbindungen zu etwa 650 ausländischen Verlagen, Firmen und Buchhandelsunternehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden mit ihnen 9 000 Verträge über Buchausgaben innerhalb und außerhalb der U d S S R für eine Gesamtzahl von 10 318 Titeln unterzeichnet (ohne Publikationen in Zeitschriften). 9 Diese wenigen Zahlen beweisen, wie umfangreich die Bemühungen der U d S S R auf kulturellem Gebiet sind. Dabei zielt diese Politik des Literaturaustausches in zwei Richtungen: die Aufnahme aller wertvollen Leistungen der Weltliteratur, zugleich aber die Verbreitung der Sowjetliteratur im Ausland, insbesondere (weil dort bislang am wenigsten erreicht wurde) in den kapitalistischen Staaten und den Entwicklungsländern. Bekanntlich können mittels der Literatur Kenntnisse und Informationen über ein Land, seine Menschen, Sitten und Bräuche recht eindringlich und überzeugend weitergegeben werden. D i e künstleri-

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sehe Aneignung und Aufbereitung der Wirklichkeit in der Literatur erlaubt - so Dieter Schlenstedt - „Gewinn und Übergabe von Erkenntnissen und Kenntnissen über den genannten Gegenstandsbereich, gestattet es, Muster von Grundüberzeugungen und Werten zu bilden und zu vermitteln, ermöglicht es, Anregungen fürs Denken und Impulse fürs Verhalten zu formieren und zu übertragen."10 In der Sowjetliteratur findet der Leser Erfahrungen sowjetischer Schriftsteller über ihre Mitmenschen, deren Leistungen, Probleme und Sorgen, deren geistige Werte und Lebensweise. Da die literarische Umsetzung der Wirklichkeitserfahrung jedoch oftmals recht kritisch erfolgt, verbunden mit Vorschlägen zur Veränderung der Realität im Interesse der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, kann diese Literatur zu böswilligen Verzerrungen mißbraucht werden. Die offene Behandlung der Entwicklungsprobleme des realen Sozialismus und die ästhetische Vielfalt ihrer Lösungsvorschläge widerlegt einerseits die bürgerliche Auffassung, Sowjetliteratur sei nur ästhetisch verbrämte Propagandaliteratur, andererseits ist eine ganze Richtung der sowjetologischen Forschung bemüht, sie ausschließlich als soziologisches Studien- und Analysematerial zu betrachten. Geschärftes Problembewußtsein und Kritik von sozialistischen Positionen aus gibt die Sowjetologie als Kritik am Sozialismus aus. 11 Dennoch bleibt als wichtige Tendenz: Sowohl die künstlerische Leistung der Sowjetliteratur als Literatur einer neuen Gesellschaft, ihr ästhetischer Reichtum und die Kunst ihrer Menschengestaltung als auch die Behandlung völlig neuartiger, für den Leser der kapitalistischen Gesellschaft zunächst sogar unverständlicher Konflikte (erinnert sei an das westeuropäische Echo des Films Die Prämie nach dem Stück von A. Gelman Protokoll einer Sitzung) macht sie anziehend für eine wachsende Zahl von Menschen und bedeutet heute oft die Entdekkung einer neuen Welt. Gerade in den sechziger und siebziger Jahren sind diese Fortschritte unverkennbar. In Italien, Frankreich, Schweden, auch Japan, der BRD und den USA wird das am deutlichsten. Allein in den sechziger Jahren wurden weit über hundert Einzelausgaben von Werken Michail Scholochows in kapitalistischen Staaten und Entwicklungsländern herausgebracht. Eine Reihe von Verlagen ediert auf der Grundlage von Generalabkommen mit der sowjetischen Urheberrechtsagentur WAAP Buchreihen sowjetischer Literatur, so der italienische Verleger Mursia die Bibliothek des sowjetischen Romans (unter anderem mit Werken von Aitmatow, Bondarew und Markow), 16

der Münchener C. Bertelsmann Verlag die Reihe Neue sowjetische Prosa (mit Büchern von Trifonow, Kuwajew, Rasputin, Salygin und anderen), der Planeta-Verlag Barcelona eine Sowjetische Buchserie und der Pariser Verlag Editeurs Français Réunis eine zwölfbändige Ausgabe der multinationalen sowjetischen Lyrik, beginnend mit einer tschuwaschischen Anthologie; finnische Verleger schlössen mit der W A A P fünfunddreißig Verträge ab. Von Bedeutung für die Erforschung der frühen Sowjetliteratur sind die umfassenden, von westdeutschen Slawisten besorgten Nach- und Neudruck-Serien Centrifuga und Slavische Propyläen (Wilhelm Fink Verlag München). Seit Herbst 1973 erscheinen im Damnitz Verlag München im Rahmen der kürbiskern-Reihe Kleine Arbeiterbibliothek Erzählungen und Romane vieler sowjetischer Autoren, so Serafimowitsch, Bykau, Bogdanow, Larionowa. Auch in den U S A gibt es einige Fortschritte. Noch 1967 brachte eine Untersuchung des Gallup-Instituts für Meinungsforschung über das Sowjetunion-Bild amerikanischer Studenten sehr betrübliche E r gebnisse: 70 Prozent der Befragten konnten keinen modernen sowjetischen Schriftsteller nennen; 87 Prozent hatten noch keinen sowjetischen Film und kein Student hatte ein sowjetisches Theaterstück gesehen oder gelesen. Gleichzeitig aber bezeugten 89 Prozent ihr enormes Interesse an der UdSSR. 1 2 Inzwischen hat sich die Situation im Bereich der Belletristik etwas gebessert. Zwar wurden von 1962 bis 1977 nur vier Stücke sowjetischer Dramatik in den U S A gespielt, aber die Macmillan Company New Y o r k hat inzwischen mit der Edition einer auf dreißig Bände berechneten Serie sowjetischer Science fiction-Literatur begonnen, und Ardis Press Michigan publiziert Werke von Axjonow, Bitow, Trifonow, Schukschin und anderen. Dennoch besteht gerade in den U S A , wo die These vom „freien Informationsfluß" und vom „unbegrenzten Literaturaustausch" ständig propagiert wird, offensichtlich noch ein großer Nachholebedarf. Nach dem Index translationum der U N E S C O erschienen dort 1972 nur ca. zwanzig Übersetzungstitel aus den Literaturen der Völker der UdSSR. 1 3 Einer der leitenden Manager der Assoziation amerikanischer Verleger erklärte zwar selbstkritisch : Man zweifle nicht daran, daß in der Sowjetunion gute Schriftsteller leben; man wolle sie auch mehr herausgeben, aber derzeit sei die sowjetische Literatur auf dem amerikanischen Buchmarkt nur schwach vertreten. 14 W e r aber, wenn nicht die leitenden Persönlichkeiten dieser Assoziation, könnte die Situation zum Positiven hin verändern?

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Sowjetliteiatiir

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In der BRD sind, was die Edition sowjetischer Literatur betrifft, in den letzten Jahren unverkennbare Fortschritte erreicht worden, nachdem dieses Land in den fünfziger und in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, verglichen mit Frankreich, Italien und anderen kapitalistischen Ländern, deutlich zurückstand. Die antisowjetische Ostpolitik seiner Regierungen und ein ungezügelter Antikommunismus nach innen und außen erschwerten der Sowjetliteratur den Weg zum Leser in der BRD. 15 Diesen Sachverhalt hatte auch der Schriftsteller Alfred Andersch im Auge, als er in der BRD im Frühjahr 1977 ein öffentliches Gespräch über Unbekannte Sowjet-Literatur begann.16 Andersch, der 1975 erstmalig an einem internationalen Schriftstellertreffen in Moskau teilgenommen hatte, vermerkte in seinem offenen Brief an Konstantin Simonow, daß er selbst die Begegnung mit sowjetischer Literatur zu lange aufgeschoben habe. Er machte deutlich, daß es hier nicht allein um persönliche Schuld oder um Nichtwollen gegangen sei. Andersch entwirft ein Bild der Verbreitung sowjetischer Literatur in der BRD, das den Zusammenhang zur Bonner Ostpolitik deutlich erkennen läßt: „Russisches?" so fragt er, „Russisches fand nicht statt, kam für uns nicht in Frage. Von 1945 bis 1958 tauchte weder ein einzelner Autor noch die moderne Literatur der Sowjetunion als Ganzes am Horizont unseres Denkens auf." Dieser - von Andersch in der Tendenz durchaus richtig gesehene Tatbestand - fand 1958 mit der Herausgabe von Pasternaks Doktor Sbiwago sein Ende: „Das Buch wurde der grandiose Auftakt intensiver Aufnahme eines bestimmten Teils der russischen Literatur aller Bücher nämlich, die in Ihrem Land nicht erscheinen durften." Resümierend kommt er zu dem Schluß: „Die Substanz eines Geistes, welcher der Geist nicht eines Landes, sondern eines Kontinents ist, wird unterschlagen." Das sei so, meint er zuspitzend, weil sich die Rezeption in der BRD vorrangig auf die „Dissidenten" beschränke und zu Beginn der siebziger Jahre systematisch der Eindruck erzeugt worden wäre, „die heutige russische Literatur bestehe aus Alexander Solschenizyn, Alexander Solschenizyn und Alexander Solschenizyn". Andersch fand für diese Thesen Mitstreiter, so den Philosophen Hans Heinz Holz, der den Brief als Dokument von moralisch-politischer Überzeugungskraft bezeichnete.17 Auch Heinrich Boll bestätigte die weit verbreitete Unkenntnis sowjetischer Literatur in der BRD, engagierte sich aber - wie immer in den letzten Jahren für Solshenizyn und gegen den sowjetischen Schriftstellerverband. 18 Andere Kritiker bestritten Anderschs Einschätzung der sowjetlitera18

rischen Rezeption in der B R D energisch, so Arnim Ayren und Henning Rischbieter (wenngleich letzterer am Beispiel der DramatikRezeption zugeben mußte, daß es in der B R D keine kontinuierliche Beschäftigung mit dem sowjetischen Theater gibt). 1 9 Am stärksten und heftigsten reagierte der Slawist Wolfgang Kasack. E r polemisierte grundsätzlich gegen das von Andersch entworfene Bild und meinte, daß die Sowjetliteratur in der B R D umfassend rezipiert werde. Es handele sich „um eine breite, durch unsere pluralistische Auswahl ausgewogene Repräsentation der literarischen Werke eines anderen Landes". 2 0 Einziger Maßstab sei die literarische Qualität. Kasack hat für die B R D , die Schweiz und Österreich (die Verlage beider Länder werden kurzerhand, weil deutschsprachig, für die Analyse der BRD-Rezeption vereinnahmt!) ermittelt, daß (Neuauflagen eingeschlossen) von 1974 bis 1976 insgesamt 103 Titel erschienen sind; in einer neueren Arbeit zählt er für 1977 insgesamt 31 Titel. 2 1 Kasack gesteht selbst ein, daß davon ein Viertel aus der Feder von Dissidenten stammt. E r hält das aber gerade für den Vorzug der Literaturrezeption: „Das Bild, das der Leser im f r e i e n deutschsprachigen Raum von der modernen russischen Literatur in Übersetzungen erhält, ist vielfältig, umfangreich und z u t r e f f e n d . E s entspricht nicht der Repräsentationsvorstellung der sowjetischen Literaturfunktionäre, aber weitgehend dem der u n g e d r u c k t e n l i t e r a r i s c h e n ö f f e n t l i c h e n Meinung." 2 2 (HervorhebungE . H.) Unverkennbar ist hier das Bestreben, die BRD-Rezeption als Modellfall für andere Staaten auszugeben. Dabei wird die Tatsache raffiniert umgangen, daß gerade die B R D bei der Übersetzung sowjetischer Literatur einen erheblichen Rückstand aufzuholen hat, was die gegenwärtige Titelvielfalt in gewisser Beziehung erklärt (Auflagenhöhen verschweigt Kasack ohnehin). Unverkennbar ist auch die Absicht, Emigrantenliteratur als besonders wertvoll zu apostrophieren. Schließlich tut Kasack so, als sei das Übersetzungsangebot eine gesamtgesellschaftliche Leistung der B R D . Tatsächlich aber handelt es sich bei wichtigen Übersetzungen um Bemühungen linker Übersetzer wie Alexander Kaempfe und Hans-Joachim Schlegel oder um Editionen der sonst so verleumdeten D K P , die in die kulturpolitische Pluralismus-Strategie der B R D vereinnahmt werden. Außerdem fehlen seit Jahren wichtige Namen wie Fedin, Granin, Leonow, Tichonow, Markow, Popow, Schukschin und Wassilew. Kasack selbst vermerkt die ungenügende Aufarbei2»

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tung der sowjetischen Lyrik und Dramatik und vor allem auch der nichtrussischen Sowjetliteraturen. Dennoch ist - wie gesagt - die seit dem Abschluß des Moskauer Vertrages (1970) zwischen der UdSSR und der B R D eingeleitete Entwicklung trotz ihrer Widersprüchlichkeit als positiv zu bewerten. Tatsächlich sind gerade in den letzten Jahren bemerkenswerte Autoren der modernen Sowjetliteratur ediert worden: Rasputin, Bykau, Trifonow, Below, Bondarew, Trojepolski, viele Kinderbuchautoren usw. Dieser Aufschwung wird auch von sowjetischen Schriftstellern, die mehrfach in der B R D weilten, festgestellt: „1968 war es Zufall, wenn sowjetische Autoren herausgebracht wurden, jetzt aber geschieht das immer systematischer"23, schrieb zum Beispiel Bulat Okudshawa. Allerdings liegt nach offiziellen Angaben des Frankfurter Börsenvereins des Deutschen Buchhandels der Anteil der belletristischen Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche (die vorrevolutionäre und die Emigrantenliteratur selbstverständlich eingeschlossen) in den Jahren 1964 bis 1974 nur zwischen 2,4 und 3,9 Prozent; 1974 waren es 81 Titel bzw. 3,6 Prozent, 1975 waren es 97 Titel bzw. 4,7 Prozent.24 Der quantitative Anteil der in der B R D übersetzten Literatur ist also doch relativ gering im Vergleich zur amerikanischen, englischen und französischen Übersetzungsliteratur. Noch bedenklicher aber ist es, daß nicht die Sowjetliteratur von der Kritik empfohlen wird, sondern vorrangig und völlig einseitig Dissidenten als eigentliche künstlerische Repräsentanten heutiger russischer Kultur ausgegeben werden. Eine Aufrechnung des Sowjetologen Peter Hübner für die Jahre 1974 bis 1975 und 1976 (erstes Quartal) beweist diese Tendenz für die BRD. J e zwei sowjetische Titel werden durch einen Titel aus der „Dissidentenliteratur" „ergänzt" (69 : 3 4 ) , die mit aufwendiger Reklame angekündigt und in hohen Auflagen vertrieben werden.25 Die Leser werden so auf bestimmte Themen und Klischees dieser Skribenten festgelegt, weil sie nichts anderes kennen. Literatur über die Sowjetunion soll tendenziös auf das „Abarbeiten negativer Erfahrungen" reduziert werden, wie die marxistische Kritikerin Elvira Högemann-Ledwohn vermerkte.26 Das wird auch aus der Themenliste der bestgängigen Titel: Sowjetunion (Stand 1977), vorgelegt vom Barsortiment Georg Langenbrink, erkennbar, in der unter 300 Titeln alle einschlägigen antisowjetischen Schriften aufgeführt sind. Namen wie Gorki, Majakowski, Babel, Leonow, Ehrenburg, Scholochow und Simonow fehlen. Faktisch ist die gesamte sowjetische Belletristik aus diesen „bestgängigen" Büchern ausgeklammert. Der marxistische Kri-

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tiker Friedrich Hitzer (dem die Hamburger Zelt ihre Spalten für eine Antwort auf Kasacks Auslassungen nicht öffnete) kommentierte: „Die Libri-Liste eines der größten westdeutschen Barsortimenter registriert zwar nicht alle Autoren und Titel, sie läßt jedoch den Trend des Bestseller zum Thema Sowjetunion erkennen, der nicht die Folge des Leserinteresses darstellt, sondern das Ergebnis der psychologischen Kriegsführung in den Massenmedien."27 Die von Kasack apostrophierte editorische Vielfalt engt sich damit auf eine kleine Gruppe antisowjetisch und antikommunistisch gesinnter Autoren ein, die oft genug über keinerlei Kunstsinn und künstlerisches Ausdrucksvermögen verfügen. So ist das Bild in vielen kapitalistischen Ländern sehr widersprüchlich. Die perspektivreichste Tendenz, wenn auch gegenwärtig noch nicht die vorherrschende, ist zweifellos die der zunehmenden Verbreitung der Sowjetliteratur. Resümierend meinte dazu der Prosaschriftsteller Juri Bondarew: „Mir scheint, daß das Streben, den Menschen einer anderen Welt kennenzulernen, die stürmische Ausweitung des Interesses der westlichen Leser für unser sozialistisches Leben und zu unserer Welt überhaupt verbunden ist mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Nicht Mode bestimmt die geschärfte Aufmerksamkeit der Menschen des Westens für unsere Denkweise und unsere Sittlichkeit!" 28 Bleibt zu fragen, woher die immer noch bestehende Kluft zwischen wachsendem, vielfach bezeugtem Leserinteresse und nicht immer befriedigtem Bedürfnis rührt und warum bei einer steigenden Zahl übersetzter Titel diese noch zu wenig ein breiteres Publikum erreichen. Anders gefragt: Welcher Art sind die Barrieren zwischen Sowjetliteratur und dem Leser in kapitalistischen Ländern, die ihm den Zugriff zu dieser Literatur erschweren, begrenzen oder die ein nur partiell richtiges, zumeist aber verfälschtes Bild zulassen?

Marktmechanismus und Manipulation Sicherlich gibt es einen entscheidenden Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Kulturniveau und dem Interesse für Sowjetliteratur. Solange die imperialistische Massenliteratur mit ihren menschenfeindlichen Inhalten und Ideen marktbeherrschend, weil am meisten gelesen, ist (jährlich werden zum Beispiel in der BRD 340 bis 370 Millionen Romanhefte produziert, von denen jedes im Schnitt sechs 21

Leser hat), findet ganz ohne Zweifel anspruchsvolle Literatur kaum ein nach Millionen zählendes Leserpublikum. Der Anteil für die Sowjetliteratur reduziert sich somit von vornherein auf die in allen imperialistischen Staaten eng begrenzte Schicht von Lesern, die an wirklicher Literatur interessiert ist. Bürgerliche soziologische Untersuchungen haben wiederholt nachgewiesen, daß sich nur ein Bruchteil der Bevölkerung mehr oder weniger regelmäßig mit Literatur befaßt; literarische Zeitschriften mit Millionenauflagen wie Junost oder Lyrikbände mit 100 000 Exemplaren Startauflage wie in der UdSSR sind undenkbar. Gerade solche Zahlen bezeichnen jedoch ein massenhaftes Lese- und Bildungsinteresse, selbst wenn man natürlich die unterschiedliche Größe der Staaten beachten muß. In den kapitalistischen Ländern greift die Masse noch zur „Literatur vom Fließband", zu Groschenheften billigster Provenienz mit ihren Riesenauflagen. Die Kritikerin Heddy Pross-Weerth macht den Leser, nicht aber das allgemeine Kulturmilieu dafür verantwortlich, daß die Sowjetliteratur in der B R D zum Beispiel (aber Ähnliches gilt mutatis mutandis für andere imperialistische Länder) noch nicht die großen Leserzahlen aufweist: „Das liegt einmal daran, daß diese Literatur zwar viele und hochinteressante Informationen über Land und Leute liefert, aber keine Schnulzen, mit deren Helden und ihren Schicksalen man sich so angenehm identifizieren kann; sie enthält auch nicht jene groben und scharfen Reize, an die wir gewöhnt sind: keine sentimental-verlogenen Katastrophen, keine psychopathologischen Sensationen, keine Sexknüller." 29 Entkleidet man diese Bemerkung einer gewissen intellektuellen Arroganz, so bleibt, daß eine größere Wirksamkeit der Sowjetliteratur nur erreicht werden kann, wenn es den demokratischen Kräften gelingt, die Massenliteratur zurückzudrängen und den Boden für die tatsächlichen Werte der Kultur zu ebnen. So schließt sich ein Bogen vom Ringen für eine wirklich volksverbundene, progressive Literatur in den kapitalistischen Staaten bis zur Verbreitung der ihrem Wesen nach revolutionären Sowjetliteratur. Der komplizierte Kampf um die Demokratisierung des Kulturlebens gegen die Macht der Kulturkonzerne und die herrschende Medienpolitik schließt auch ein, Sowjetliteratur in ihren Leistungen dem Leser zugänglich zu machen. Nicht weniger kompliziert sind die Lesegewohnheiten des Publikums. Manche Leser suchen in der Sowjetliteratur das Exotische und die geheimnisvolle „russische Seele". Sie orientieren sich an der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts und das (so paradox es

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klingen mag) fördert nicht in jedem Fall den Drang, zur Sowjetliteratur zu greifen. Dahinter verbirgt sich - oft unbewußt - das Vorurteil, Sowjetliteratur sei ob ihres revolutionären Anliegens ohne künstlerischen Wert und stelle einen Bruch zur Tradition dar. Wichtiger aber ist wohl, daß das Bild der heutigen Sowjetunion (ein weiteres Paradoxon!) sich im Bewußtsein vieler Leser, gefördert durch die Massenmedien, mit einem veralteten, oft reaktionären Rußlandbild überschneidet, ja, gelegentlich sogar bewußt als solches kultiviert wird. Das ist kein Wunder: Denn wo, so bemerkt der marxistische Kritiker Friedrich Hitzer - wie in der BRD „die Unterrichtung unserer Bevölkerung über die UdSSR einem Kursus in übler Nachrede" gleicht, wird auch der Wirkungsradius einer die Wahrheit über das Leben in der Sowjetunion verbreitenden Literatur bewußt gering gehalten.'10 Auch Niveau und Qualität der Übersetzungen und ihrer Auswahl sind von Belang. In manchen Ländern stehen nur ungenügend qualifizierte Übersetzer zur Verfügung. Hinzu kommt, daß Übersetzungen (außer Dissidenten!) generell nicht besonders bezahlt werden, deshalb oft sehr flüchtig gearbeitet wird, und es nicht immer zu adäquaten Übersetzungen, gelegentlich sogar zu sinnverfälschenden Übertragungen kommt. Einen neueren Fall teilte Godehard Schramm mit. Er bezieht sich auf die Refrain-Zeile des Jewtuschenko-Gedichts „Meinst du, die Russen wollen Krieg?", die unter der flinken Feder eines Übersetzers durch Zusatz nur eines Wortes einen gänzlich anderen Sinn erhielt: „Meinst du, die Russen wollen w i e d e r Krieg?"' 51 Gleichzeitig wird ein Argument, besser eine Schutzbehauptung von westlichen Verlegern immer wieder ins Feld geführt: der Marktmechanismus. Sowjetliteratur sei weitgehend unbekannt, deshalb lohne es nicht, für einen unbekannten Schriftsteller Reklame zu machen. Es entsteht ein Teufelskreis: Ein unbekannter oder weitgehend unbekannter Autor einer kaum gekannten Literatur kann nicht publik gemacht werden, weil er unbekannt oder zu wenig bekannt ist. Das hat zur Folge, daß zwar nicht wenige Titel erscheinen, ihre Auflagenhöhe aber im allgemeinen relativ niedrig bleibt (zwischen 3 000 bis 6 000). Da auch kaum nennenswerte Reklamemittel eingesetzt werden, beträgt der Anteil der verkauften Bücher noch weniger. Ausnahmen wie G. Trojepolskis Weißer Bim Schwarzobr (Belyj Bim Tschornoje ucho), 1976 zunächst mit 3 000 Startauflage, dann als Massenausgabe mit 50 000 Exemplaren bei Ciaassen (Düsseldorf) oder der Erfolg der in erster Auflage (6 000 bis 8 000, Neuauflage: 20 000 bis 30 000 23

Exemplare) rasch vergriffenen Bertelsmann-Serie bestätigen hier nur die Regel. Aber von F. Iskanders Buch Das Sternbild, des Ziegentur (Piper 1973) und Ju. Trifonows Der Tausch (ebenfalls Piper 1974) waren nach einem Jahr nur je 1 600 Exemplare verkauft; von Trifonows Die Zeit der Ungeduld (Neterpenie, Scherz 1975) wurden nur 3 500 Exemplare verkauft trotz einer enormen Presse; Werke anderer Autoren blieben überhaupt liegen.32 Ähnlich ist es in Frankreich, wo Auflagenhöhen von 3 000 bis 5 000 die Regel sind. Hinzu kommen die Preise, die bei Bertelsmanns Reihe Neue sowjetische Prosa um 30 D M pro Buch liegen. All das sind sicherlich hohe, freilich überwindbare Barrieren. Aber der Begriff des Marktmechanismus führt zur manipulativen Wertung der Sowjetliteratur durch die Mehrzahl der bürgerlichen Wissenschaftler. Gewiß, nicht jeder Leser greift zu voluminösen Literaturgeschichten oder akademisch-slawistischen Untersuchungen. Aber es ist unverkennbar, daß eine bestimmte, antikommunistisch und antisowjetisch geprägte Sicht der sowjetologischen Forschung auf die Sowjetliteratur weit verbreitet ist, in den Massenmedien dominiert, von dort unaufhörlich auf den unbefangenen Leser einwirkt und so sein Bild von der Sowjetliteratur und damit zugleich von der Sowjetunion bestimmt. Den entscheidenden Zusammenhang machte Alfred Andersch am Beispiel der Verbreitung Simonows und Solchenizyns transparent, als er von der Marktstrategie des in- und Output in der B R D sprach: „In sowjetischen Angelegenheiten handelt es sich . . . nicht um den Wechsel von Moden, sondern um die stets aktuelle und genau kalkulierte Reproduktion des Kalten Krieges. Weil der Kalte Krieg es verlangt, ist Solschenizyn i n (und er weiß es, facht ihn an, darin unterscheidet er sich von den meisten anderen .Dissidenten', von denen viele nicht wissen, wozu sie dienen), weil Sie, Simonow, nicht in den Kalten Krieg passen, sind Sie und Ihre sowjetischen Kollegen o u t .'