Artistenkostüme: Zur Entwicklung der Zirkus- und Varietégarderobe im 19. Jahrhundert [Reprint 2011 ed.] 9783110935189, 9783484660083


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German Pages 244 Year 1993

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Table of contents :
Vorwort
1 Definitionen
1.1 Zum Begriff ,Artist‘
1.2 Die Sparten der Artistik
1.3 Zum Begriff ,Kostüm‘
2 Die Eigenart des Artistenkostüms: Bedeutung, Funktionen und Wirkung
2.1 ,Theatralität‘
2.2 Ausstattung
2.3 Reklame
2.4 Schau-Effekt
2.5 Glamour
2.6 Die Herstellung der Kostüme
3 Traditionelle Merkmale europäischer Artistenkostüme vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert
4 Zirkuskostüme vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts
4.1 Das militärische Genre: Uniformen und Zirkuslivreen
4.2 Trikots: Die Illusion des nackten Körpers
4.3 Das mythologische Genre
4.4 Das historische Genre: ,Spanische Kostüme‘ und Rüstungen
4.5 Das exotische und folkloristische Genre
4.6 Das ,szenische‘ Genre: Pantomimen- und Transformationskostüme
4.7 Die Kostüme der Spaßmacher
5 Artistenkostüme in Zirkus und Varieté von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
5.1 Die Spezialkostüme der männlichen Artisten
5.2 Artistinnenkostüme: ,Pikante‘ Inszenierungen des weiblichen Körpers
Zusammenfassung
Glossar
Literaturliste
Abbildungsnachweis
Abbildungen
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Artistenkostüme: Zur Entwicklung der Zirkus- und Varietégarderobe im 19. Jahrhundert [Reprint 2011 ed.]
 9783110935189, 9783484660083

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele BandS

Christine Schmitt

Artistenkostüme Zur Entwicklung der Zirkus- und Varietogarderobe im 19. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schnitt, Christine: Artistenkostüme : zur Entwicklung der Zirkus- und Varietdgarderobe im 19. Jahrhundert / Christine Schmitt. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Theatron ; Bd. 8) NE:GT ISBN 3-484-66008-2

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck, Darmstadt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort l 1 Definitionen 9 1.1 Zum Begriff ,Artist' 9 1.2 Die Sparten der Artistik 11 1.3 Zum Begriff ,Kostürri 14 2 Die Eigenart des Artistenkostüms: Bedeutung, Funktionen und Wirkung 16 2.1 .Theatralität' 16 2.2 Ausstattung 19 2.3 Reklame 21 2.4 Schau-Effekt 24 2.5 Glamour 27 2.6 Die Herstellung der Kostüme 31 3 Traditionelle Merkmale europäischer Artistenkostüme vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert 35 4 Zirkuskostüme vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts 41 4.1 Das militärische Genre: Uniformen und Zirkuslivreen . . 44 4.2 Trikots: Die Illusion des nackten Körpers 50 Exkurs: Trikots und Mode im frühen 19. Jahrhundert . . . . 57 4.3 Das mythologische Genre 60 4.3.1 Antike Götter und romantische Luftgeister . . . 61 4.3.2 ,Herkulesse' 66 4.4 Das historische Genre: ,Spanische Kostüme' und Rüstungen 68 4.5 Das exotische und folkloristische Genre 73 4.5.1 Türken und Orientalen 74 4.5.2 Indianer 75 4.5.3 Mohren 77 4.5.4 Chinesen 79 4.5.5 Europäische Volkstrachten 80 4.6 Das ,szenische' Genre: Pantomimen- und Transformationskostüme 83 4.7 Die Kostüme der Spaßmacher 87 4.7.1 Der deutsche Bajazzo 88 4.7.2 Der französische ,Grotesque' 91

4.7.2 Der französische ,Grotesque' 4.7.3 Der englische ,Shakespearean Jester4 4.7.4 Der englische Clown 5 Artistenkostüme in Zirkus und Variete von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg 5.1 Die Spezialkostüme der männlichen Artisten 5.1.1 Akrobatentrikots 5.1.2 ,Unmenschliche' Trikothüllen: die Tier- und Teufelskostüme der Kontorsionisten 5.1.3 Die historische Seiltänzertracht 5.1.4 Dompteurumformen 5.1.5 Die Garderobe der Zirkus- und Varietekomiker 5.1.6 Die Kostüme der Magier 5.1.7 Die , Amazone': Männliche Seriosität der Schulreiterinnengarderobe 5.2 Artistinnenkostüme: ,Pikante' Inszenierungen des weiblichen Körpers Exkurs: Kleidung als erotischer Mummenschanz. Zur Ambivalenz der Prauenmode im späten 19. Jahrhundert . . 5.2.1 Akrobatinnentrikots 5.2.2 Frauen in Hosen, Männer in Röcken: Der Geschlechtertausch in Variete und Zirkus 5.2.3 Das frivole Spiel der Ver- und Enthüllung weiblicher Reize: Zur Auftrittsgarderobe der singenden und tanzenden Frauen des Varietes 5.2.4 Salonstil: Der Einfluß der Varietegarderobe auf die Kostüme der Zirkusartistinnen 5.2.5 Angezogen ausgezogen: Die Nacktdarstellungen der ,Poses plastiques' und .Tableaux vivants' . Zusammenfassung Glossar Literaturliste Abbildungsnachweis Abbildungen

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91 92 93 99 104 104 112 116 118 .121 135 139 143 . 146 150 155 163 179 . 184 192 201 213 221 223

Vorwort

In Hector Malots Roman „Sans Familie" (1878) weiht ein alter Tierdresseur seinen Eleven in die Geheimnisse ihrer Berufsgarderobe ein: Wir sind Künstler, Artisten, die durch ihr bloßes Aussehen Neugierde wecken müssen. Wenn wir wie Bürger oder Bauern gekleidet auf die Straße gingen, glaubst du, daß wir die Leute dazu brächten, uns anzuschauen und stehenzubleiben?1

Ein auffallendes, von der üblichen Alltagskleidung abweichendes Erscheinungsbild ist jahrhundertealte artistische Tradition. Malots arme Straßengaukler aus dem 19. Jahrhundert verhielten sich in dieser Hinsicht nicht anders als die Zirkus- und Varietekünstler von heute. So heißt es beispielsweise in einer Artistenfachschrift aus dem Jahr 1965: Artistenkostüme sollten eigenartig und interessant sein, das Übliche und oft Gesehene vermeiden und die künstlerische Aussage des Auftritts unterstützen.2

Ähnlich äußerte sich vor einigen Jahren der Kostümchef des „Circus Roncalli": Kostüme, Licht und Musik - das sind 75 Prozent der Nummer, Circusleute sollen immer das tragen, was der Betrachter nicht einmal zuhause anziehen würde.3

Man könnte eigentlich annehmen, daß die Artistengarderobe allein schon wegen ihres charakteristischen Schaueffekts die Aufmerksamkeit der Kostüm-, Zirkus- oder Theaterhistoriker auf sich gezogen haben müßte. Dem ist aber keineswegs so. Als Gesamtphänomen wurde sie bislang weder einer systematischen noch historischen wissenschaftlichen Untersuchung für wert befunden. Sieht man von verstreuten 1

Hector Malot: Das Findelkind (Sans Familie). Dt.Übers.v. Robert von Radetzky. Berlin 1948. S.40. 2 Wolf Leder: Geschmackvolle Ausstattung - eine Voraussetzung guter Artistik. In: Die Artisten, ihre Arbeit und ihre Kunst. Berlin (DDR) 1965. S.217. 3 Zit.n. Florian Dering: Artistenkostüme. In: Anziehungskräfte. Variote" de la mode 1789-1986. Kat. München 1986. S.38.

Bemerkungen in der Zirkus- und Varieteliteratur ab, so reduziert sich der Forschungsertrag auf einen Lexikonartikel, ein knappes Buchkapitel und einige wenige Aufsätze in Ausstellungskatalogen und Zeitschriften, die aufgrund ihrer Kürze nicht mehr als eine skizzenhafte Übersicht über Teilaspekte dieses sehr komplexen Themengebiets vermitteln können.4 Eine erschöpfende Abhandlung der Artistengarderobe kann auch die vorliegende Arbeit nicht leisten. Ein solches Unterfangen würde den Umfang einer Dissertation bei weitem übersteigen, abgesehen davon, daß die hierzu nötigen wissenschaftlichen Grundlagen fehlen. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich deshalb im wesentlichen auf das 19. Jahrhundert, das für die Entwicklung der Artistik besonders repräsentativ erscheint. Es war gewissermaßen das Goldene Zeitalter dieser Unterhaltungskunst; ihre heutigen Präsentationsformen haben hier ihre Wurzeln. Die artistische Glanzphase begann mit der Entstehung des Zirkus - ursprünglich nichts anderes als eine Reitmanege für jPferdekünstler1, deren Darbietungen durch diverse Jahrmarktsattraktionen ergänzt wurden. Die ersten Manegen, die der englische Kunstreiter Philip Astley in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts in London und Paris errichten ließ, nannten sich dazumal freilich noch ,Amphitheater'. Erst im neuen Jahrhundert vermochte sich der Zirkus als Name und Institution allgemein durchzusetzen. Während er allmählich seine typische Programmvielfalt entwickelte, kam im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Variete eine neue Form artistischer Unterhaltung auf. Varietes waren Vergnügungstheater mit einem ähnlich abwechslungsreichen Nummernprogramm. Statt Pferdekunststücken dominierten hier jedoch frivolelegante Gesangs- und Tanzdarbietungen. Im Gegensatz zum Zirkus durften die Zuschauer außerdem trinken und rauchen. Der Ausbruch

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Als wichtigste Publikationen seien hier genannt: Alessandro Cervellati: II costume nel circo equestre. In: Enciclopedia dello spettacolo. 11 Bde. Rom 1954ff. Bd.3. Sp. 1616-1618; Florian Dering: Artistenkostüme (Anm.3) S.38-40, MarieClaude Groshens: Les costumes dans les arts de la representation et du spectacle. In: Costume-coutume. Kat. Paris 1987. S.278-311; Henri Thitard: Le costume des artistes du cirque et son evolution. In: La merveilleuse histoire du cirque. 2.Aufl. Paris 1978. S.296-299; Tristan Remy: Evolution du costume des clowns. In: Nouvel age. Revue mensuelle de littorature et du culture. No.3. Paris 1931. S.232-243. Ansätze zu einer systematischen Darstellung der Artistengarderobe lassen sich allenfalls bei Groshens erkennen, die sich im wesentlichen aber nur auf den Aspekt der Abgrenzung zwischen Artisten- und Schauspielerkostüm konzentriert. R6my verdanken wir die einzige detaillierte historische Untersuchung; sie betrifft allerdings nur die Clownerie.

des Ersten Weltkriegs bereitete dem Aufschwung der Artistik ein jähes Ende. Neue Entwicklungen im Bereich der Unterhaltungskunst - die spektakulären Ausstattungsrevuen der zwanziger und dreißiger Jahre, vor allem aber die neuen Medien, Kino und Rundfunk - ließen die Bedeutung der Zirkusse und Varietes im gesellschaftlichen Leben schwinden. Der Zusammenbruch des bürgerlichen Wertesystems des 19. Jahrhunderts, der eine Liberalisierung der Kleidung wie der allgemeinen Sitten zur Folge hatte, reduzierte außerdem den erotischen Reiz der Artistenkostüme, der nicht wenige Zuschauer überhaupt erst in die Vorstellungen gelockt hatte. Innerhalb des hier abgesteckten historischen Rahmens bietet die vorliegende Arbeit erstmals eine gründliche Materialaufbereitung der verschiedenen Spielarten von Artistenkostümen. Sie versucht sie typologisch zu erfassen, ihre Herkunft zu rekonstruieren und ihre schillernden Bezüge zur zeitgenössischen Mode und Kultur sichtbar zu machen. Daß der theoretische Ansatz dabei von der Theaterwissenschaft ausgeht, liegt nahe. Die Zirkus- und Varietegarderobe besitzt zweifellos ein starke Affinität zu den Theaterkostümen. Vorführungen artistischer Kunststücke sind wie das Theaterspiel kultischen Ursprungs. Die ältesten Quellen aus China und Ägypten reichen bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurück. Bei allen Unterschieden, die noch zu klären sein werden, kann vorab gesagt werden, daß die Kleidung des Artisten wie die des Schauspielers über den Aspekt des alltäglichen Sich-Anziehens hinausweist, da sie für den öffentlichen Auftritt vor einem Publikum bestimmt ist und dazu dient, eine Privatperson in eine mehr oder weniger phantastische Figur zu verwandeln. Den signifikanten Eigenschaften und Funktionen der Artistengarderobe widmet sich der einleitende systematische Teil dieser Arbeit. Nach einer Skizzierung artistischer Kostümtraditionen vom Mittelalter bis zur Zeit der Zirkusgründung beginnt dann der eigentliche Themenbereich dieser Arbeit, nämlich die Darstellung der Zirkus- und Varietegarderobe vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Das Materialkorpus wurde durch ausgedehnte Archivstudien, Museums- und Bibliotheksrecherchen erstellt. Die Quellen, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, sind allerdings teilweise sehr lückenhaft, teilweise nur bedingt brauchbar und bedürfen daher einer Erläuterung. Originalgewänder aus dem 19. Jahrhundert haben sich kaum erhalten. Artistenkostüme sind einem außergewöhnlich großen Verschleiß ausgesetzt. Als Sammelobjekte begann man sie zudem erst um 1900 allmählich in Betracht zu ziehen. Eine gewisse Ausnahme bilden auf-

wendig verzierte Clowngewänder, die aber nur für die wohlhabenden Vertreter einer bestimmten artistischen Sparte repräsentativ sind.5 Da die Auftrittsgarderobe der vergangenen Jahrhunderte für eine unmittelbare Betrachtung so gut wie nicht mehr zur Verfügung steht, stützt sich unsere Analyse notgedrungen auf ein viel weniger authentisches Material: auf literarische und bildliche Quellen, bei deren Auswertung der subjektive ,Filter' des jeweiligen Autors oder Künstlers nie außer Acht gelassen werden darf. Besonders unergiebig ist die Quellenlage vor Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis zu diesem Zeitpunkt blieben anschauliche Beschreibungen der Artisten und Kostüme - zumal in deutscher Sprache - rar. Zwar haben uns Goethe und Carl von Holtei mit ihren Romanen „Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795/96) und „Die Vagabunden" (1851) bedeutsame Darstellungen des fahrenden Volkes' hinterlassen, der Auftrittskleidung ihres artistischen Personals aber haben beide Autoren wenig Beachtung geschenkt. Noch über die Jahrhundertmitte hinaus blieben Artistensujets in der deutschen Literatur eine ,Quantite negligeable'. Die fahrenden' waren bei all ihrer Volkstümlichkeit für das Bürgertum so wenig standesgemäß, daß sich kaum ein Schriftsteller dazu herabließ, ihre Darbietungen, geschweige denn ihre Erscheinung, zu würdigen. Ihre Dubiosität im Wertekanon der Gesellschaft ließ die Artisten erst in der zweiten Jahrhunderthälfte, als die traditionellen Kunstauffassungen mehr und mehr ins Wanken gerieten, J.iteraturfähig' erscheinen.6 Die Erörterung der frühen Zirkusgarderobe basiert deshalb vorwiegend auf der Ikonographie. Am weitesten verbreitet waren Holzschnittillustrationen, mit denen die Artisten vom 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert ihre Flugzettel und Affichen schmückten. Aufgrund der groben Bildstruktur sind sie für eine Kostümanalyse allerdings denkbar ungeeignet. Weitaus subtilere Darstellungen zeigen Kupfer- und Stahlstiche, die zudem häufig koloriert sind. Ihre Herstellung war wesentlich aufwendiger und dementsprechend kostspieliger als die Holzschnitt-Technik. Die Unterhaltungskünstler verwendeten Gravuren deshalb nicht für ihre einfachen Ankündigungszettel, sondern gewöhnlich nur für die viel selteneren Dedikationen, Erinnerungsportraits und Bettelgaben. Stiche mit Artistenabbildungen finden sich darüber hinaus reichlich als Buchülu5

Zu den ältesten Artistengewändern, die heute noch besichtigt werden können, zählen zwei reich ausgestattete Anzüge des englischen Komikers William F. Wallett (1808-92), der in einer stilisierten Narrentracht aufzutreten pflegte. Sie wurden in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts angefertigt und befinden sich im Besitz des Londoner „Theatre Museum". Eines davon zeigt unsere Abb.ll. 6 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Die literarische Decadence um 1900. München 1986 und Walter Bauer-Wabnegg: Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk. Erlangen 1986.

strationen und auf graphischen Blättern, die lose im Handel erworben werden konnten. Als Kostümquellen sind auch die Gravuren nicht vorbehaltlos zu gebrauchen. Die Artisten wurden meist nicht allzu realistisch, sondern eher als idealtypische Erscheinungen dargestellt; eine gewisse volkstümlich-naive Stilisierung war dabei nicht unüblich. Anschauungsmaterial, auf dem die Gewänder in allen Einzelheiten und in ihrer stofflichen Qualität erkennbar sind, blieben bis ins frühe 19. Jahrhundert selten. Dank der großen Quantität der erhaltenen Bildquellen ist für die Frühphase der Zirkuskunst aber immerhin ein Überblick über die gebräuchlichsten Kostümtypen und deren charakteristische Elemente gewährleistet. In den vierziger Jahren löste die Lithographie den Holzschnitt in der Artistenwerbung ab. Sie basiert auf einem von Alois Senefelder entwickelten Steindruck-Verfahren, mit dem kostengünstig besonders fein differenzierte Blätter hergestellt werden konnten. Die ersten Affichen waren Schwarz-Weiß-Drucke, obwohl bereits 1837 die Chromolithographie, die erfolgreichste Mehrfarbentechnik, patentiert worden war. Im Zirkus- und Varietegewerbe verwendete man Farbplakate erst zu Beginn der siebziger Jahre. Jules Cheret begründete in Frankreich einen Plakatstil, der durch künstlerisch freie Stilisierung geprägt war und viele Elemente des Jugendstils vorwegnahm. Ganz andere Impulse gingen vom deutschen Artistenplakat aus. Hier ist in erster Linie die 1872 in Hamburg-St.Pauli gegründete Druckerei Adolph Friedländer zu nennen. Friedländers Lithographieanstalt war auf Zirkus-, Variete-, Artisten- und Schaustellerreklame spezialisiert und entwickelte sich auf diesem Gebiet zu einem europäischen Marktführer. Die Besonderheit des Hamburger Betriebs waren fast photographisch genaue Darstellungen, die von einem kompletten Zeichner-Team entworfen wurden. Spezialisten für Portraits, menschliche Figuren, Tiere, Landschaften, Ornamentik und nicht zuletzt für Kostüme garantierten außergewöhnlich lebensechte Illustrationen (Abb. 18).7 Bildnisse einzelner Künstler entstanden meist nach Photographien, zumal bei ausländischen Auftraggebern, die sich nicht persönlich vorstellen konnten. Die Photographie kam in etwa parallel zur Farblithographie in Gebrauch. Ende des 19. Jahrhunderts existierten sogar

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Vgl. Karl-Heinz Feuerstein: Vom Ankündigungszettel zum Schaustellerplakat. In: Hereinspaziert, hereinspaziert. Jahrmarktsgraphik aus drei Jahrhunderten. Kat. München 1975. S. 14.

einige Ateliers, die ausdrücklich „nur für Artisten im Costüm"8 arbeiteten und damit den großen Bedarf in diesem Bereich bezeugen. Die Epoche vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg ist sowohl durch bildliche wie literarische Quellen gut dokumentiert. Die Artisten begannen sich in dieser Blütezeit des Zirkus- und Varietebetriebs zu organisieren und ihre Probleme und Geschäftsbelange in eigenen Fachzeitschriften zu artikulieren. Die international bedeutsamste Publikation neben „The Era" aus London und „The Clipper" aus New York war das deutsche Wochenblatt „Der Artist", 1883 gegründet als „Central-Organ zur Vermittlung des Verkehrs zwischen Directoren und Künstlern der Concertunternehmungen, reisenden Theater, Circus und Schaustellungen"9. Jede Nummer des Journals enthielt Rezensionen aus dem internationalen Artistikgeschehen - von den großen New Yorker, Londoner und Pariser Music Halls bis hin zu den Variete- und Zirkusveranstaltungen der deutschen Mittel- und Kleinstädte. Daneben befaßten sich stets einige Artikel mit den technischen und sozialen Belangen des Gewerbes; gelegentlich wurden auch Kostümfragen erörtert. Über die Tagesaktualität hinaus verstand sich „Der Artist", wie ein anonymer Artikelschreiber betonte, als „eine Zeitschrift für artistische Geschichtsforschung": „wo immer neue Quellen auf unserem Gebiet entdeckt werden: der ,Artist' ist der Ort, wo langsam aber stetig ,alles sich zum Ganzen webt'."10 Zum Schluß sei noch ein besonderes Problem dieser Arbeit angesprochen: die Benennung der Kostüme. Viele Kleidungselemente der alten Artistengarderobe sind heute verschwunden, ihre Namen vergessen. Als Beispiel sei hier nur die ,Rhingrave' (,Rheingrafenhose') erwähnt, eine kurze Rockhose, die die Akrobaten des 18. Jahrhunderts trugen. Häufig besitzen aber auch Kostümteile, die durchaus noch in Gebrauch sind, wie die ,Truse'n, die kurze Hose der Akrobaten, oder das ,Leotard'12, eine Art Gymnastikanzug, Namen, die im allgemeinen nur der Fachwelt geläufig sind. Daß sämtliche bisher genannte Termini der französischen Sprache entnommen sind, ist typisch 8

So inserierte 1895 der Berliner „Artisten-Photograph" Willi Fenz. In: Signor Saltarino: Artisten-Lexikon. Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten, Specialitäten etc. aller Länder und Zeiten. 2.Aufl. Düsseldorf 1895. S.285. 9 Zit.n. Der Artist. Düsseldorf 1883-1932. Nr.1000. Jg.22 (1904). Die folgenden Zitate aus dieser Zeitschrift werden mit der Chiffre A nachgewiesen. 10 In: A. Nr.810. Jg. 18 (1900). 11 Von frz. ^rousses1. Wir fanden diese Benennung zwar in einem heute gültigen Bestellkatalog für Bühnentrikotagen; in Wörterbüchern und Lexika, selbst in einschlägigen Kostümnachschlagewerken dagegen suchten wir vergeblich. 12 Benannt nach dem französischen Trapezkünstler Jules Leotard (1838-1870).

für den Bereich der Kleidung im allgemeinen und den der Artistengarderobe im besonderen. Der deutsche Wortschatz offenbart hier eine ausgesprochene Dürftigkeit, die manchmal fast schon an Sprachlosigkeit grenzt. Da wir oft genug nur das, was wir benennen können, auch optisch wahrnehmen - und vice versa - ist eine wenig detaillierte, grobe Darstellung der Artistenkleidung in deutschsprachigen Texten die Regel. Formulierungen wie „eine hübsche, kleidsame Tracht"13 oder „hoch-elegante Costume"14 können uns ebensowenig ein Bild vom Aussehen der beschriebenen Personen vermitteln wie etwas beraubtere Schilderungsversuche von Artisten „in phantastischer aber höchst geschmackvoll gewählter Tracht"15 oder „in schönen, bunten phantastischen Costümen und Gewändern"16 . Häufig treffen wir in der Zirkus- und Varieteliteratur auch den Ausdruck ,Trikot' an. So wird uns ein „kleiner untersetzter Mann mit gewaltigen, unter dem Tricot sich blähenden Muskeln"17 geschildert oder „der geschmeidige Alfred Delbos (Delbosq) im gelben Seidentrikot"18. Auch hier ist es wieder unmöglich, sich eine genaue Vorstellung von der jeweiligen Garderobe zu machen. Der Terminus ,Trikot' besagt zwar, daß es sich um ein enganliegendes, dehnbares Kleidungsstück in Maschenware handelt,19 da aber weitere Hinweise fehlen, wissen wir nicht, ob die beschriebenen Artisten Leib- und Beintrikots getragen haben, eine kurze Hose oder ein Leotard. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, werde ich mich im folgenden bemühen, die Artistengarderobe sprachlich so präzise wie möglich zu erfassen. Ein im Anhang befindliches Glossar soll das Verständnis der Fachausdrücke erleichtern. Für die Betreuung dieser Arbeit und manch wertvollen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Dieter Borchmeyer. Besonders verpflichtet für hilfreiche Auskunft und Materialeinsicht bin ich außerdem Mrs. Sarah C. Woodcock vom Londoner Theatre Museum, Frau Hermine von Pa13

Carl von Holtet: Die Vagabunden (1851). Berlin 1926. S.335. Saltarino: Pauvres Saltimbanques. Düsseldorf 1891. S.43. 15 Friedrich Gerstäcker: Der Kunstreiter (1860). Leipzig o.J. (ca. 1908). S.17. 16 Alwill Raeder: Der Circus Renz in Berlin. Eine Denkschrift. O.O. (Berlin) 1896. S.13. 17 Anton Freiherr von Perfall: Anca. Eine Cirkusgeschichte. Berlin o.J. (ca. 1897). S.4. 18 Joseph Haiperson: Das Buch vom Zirkus. Beiträge zur Geschichte der Wanderkünstlerwelt. Düsseldorf 1926. S.187. 19 „Trikot (von frz. tricot nach einem nordfranzösischen Textilort; ,T.' wurde um 1800 zu einem allgemeinen Begriff). [...] enganliegendes, meist den ganzen Körper bedeckendes Kleidungsstück in Maschenware, von großer Dehnbarkeit und Biegsamkeit; [...]." (Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon. Stuttgart 1987. S.458). 14

rish, Leiterin des Kostümforschungsinstituts München, Herrn Klaus Schreck, geschäftsführender Gesellschafter der Trikotagenfabrik Zeta GmbH, Herrn Berthold Lang, Leiter des Österreichischen Circus- und Clown-Museums zu Wien und Herrn Rudolf Geller, Vorsitzender der Kunsthistorischen Gesellschaft für Circus- und Varietekunst e.V. in Marburg. Christoph Lehner (LMU-München) war bei der Satzgestaltung behilflich. Das Buch wurde mit lATjjjX gesetzt.

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1. Definitionen

1.1 Zum Begriff ,Artist' Der aktuelle „Duden" vermerkt unter dem Stichwort, Art ist' einen „im Zirkus und Variete auftretende(n) Künstler", der, wie einschränkend erklärt wird, „Geschicklichkeitsübungen ausführt"20. Eduard Romanowski, ein Mitarbeiter der Zeitschrift „Der Artist", definierte den Begriff 1892 allgemeiner als „Körperkünstler", [... ] das heisst als Künstler, dessen Programm hauptsächlich körperliche Kunstleistungen umfasst und dessen Bestreben dahin geht, vermöge dieser seiner Produktionen hauptsächlich auf die Sinne des Beschauers zu wirken.21

Merkwürdigerweise fallen unter diese Bestimmung nicht nur traditionelle Zirkussparten wie Akrobatik, Kunstreiterei oder Clownerie, sondern auch „Gesang, Musik, Tanz und Pantomime", diese „aber meist doch nur, wann sie grotesk ausgeübt werden"22. Im Gegensatz zu Romanowskis Auffassung stand die Ansicht seines Kollegen Leo Heller, der Gesangsnummern prinzipiell nicht zu den „rein artistischen Darbietungen" zählte und lediglich eine „Assimilation des Gesanges an die ihm gegenüber immerhin recht heterogen erscheinende Artistik"23 anerkennen wollte. Bis heute sind diffuse, teilweise sogar widersprüchliche Meinungen über den Gehalt des Begriffes weit verbreitet. Der Diskurs über Artistenkostüme kann deshalb nicht eröffnet werden, ohne genau zu klären, was unter einem Artisten zu verstehen ist. Das Wort ,Artist' erschien in Deutschland erstmals im 16. Jahrhundert in der allgemeinen Bedeutung »Künstler1. Der heute übliche spezielle Sinn kam erst im späten 19. Jahrhundert unter französischem Einfluß in Gebrauch. Während noch das „Allgemeine Theaterlexikon" aus dem Jahr 1846 unter ,Artist' ,,a) Künstler im Allgemeinen, 20

Duden. Bd.5. Fremdwörterbuch. 4.Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 1982. S.86. Eduard Romanowski: Rang, Stufenleiter und Wirkung der artistischen Kunst. In: A. Nr.400. Jg.10 (1892). 22 Ebd. 23 Leo Heller: Die Gesangskunst auf der Varidtebühne. In: A. Nr.1328. Jg.28 (1910). 21

besonders aber b) Schauspieler"24 anführte, ergänzte das „Deutsche Theater-Lexikon" von 1889: „In neuerer Zeit bezeichnen sich namentliche Kunstreiter, Seiltänzer etc. mit dem Kollektivbegriffe als Artisten."25 Dieser Bedeutungswandel schien sich im Laufe der achtziger Jahre vollzogen zu haben. Max Oberbreyer, ein regelmäßiger Autor des Fachorgans „Der Artist", bemerkte dazu in einem Aufsatz des Jahres 1904: [... ] Artist war früher in Italien und Prankreich nur die Bezeichnung für Bildhauer, Maler und Schauspieler, und erst in den letzten zwanzig Jahren etwa nennt man in Deutschland so die Akrobaten, die Kunstreiter, Gymnastiker, Sänger, Mimiker, kurz alle Angehörigen des Circus und Varietes.26

Es ist kein Zufall, daß der Zeitpunkt, den Oberbreyer angab, in etwa mit dem Gründungsjahr 1883 des Journals zusammenfiel. Sein programmatischer Titel hatte, wie Oberbreyer nicht ohne Stolz vermerkte, offensichtlich dazu beigetragen, daß „das Wort ,Artist' in seinem heutigen Sinne erst [... ] populär geworden" war: [... ] unser ^Artist' hat es hauptsächlich wohl herbeigeführt, dass das grosse Publikum und die Presse unter dem Namen Artist heute alles zusammenfasst, was sich im Circus sowie auf Variete und Schaubühnen produziert.27

In dieser generellen Bedeutung, die keineswegs nur auf Geschicklichkeitsübungen zu beschränken ist, wurde der Terminus auch juristisch festgelegt. So heißt es im „Handbuch des deutschen Theater-, Film-, Musik-, und Artistenrechts" (1932): Der Begriff Artist wird als ein Sammelbegriff genommen für die in Varietes, Tingeltangeln, Zirkussen, Meß- und Jahrmarktsbuden u. dgl. auftretenden Künstler, die Kunststücke zeigen. Maßgebend ist also der Begriff des Kunststückes. [... ] Artist ist eine Berufsbezeichnung.28 24

Zit.n. Urs H. Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation. Düsseldorf 1969. S.237. 25 Deutsches Theater-Lexikon. Eine Encyklopädie alles Wissenswerthen der Schauspielkunst und Bühnentechnik. Hrsg.v. Adolf Oppenheim u. Ernst Gettke. Leipzig 1889. S.51. 26 Max Oberbreyer: Die Entwicklung des Artistenstandes und der Artist'. In: A. Nr.1000. Jg.22 (1904). 27 Ebd. 28 Paul Dienstag/Alexander Elster: Handbuch des deutschen Theater-, Film-, Musik- und Artistenrechts. Berlin 1932. S. 195. 10

Unter den [... ] tarifrechtlichen Begriff des Artisten fallen [... ] nicht nur die das Variete in seinen verschiedenartigen Schattierungen, wie Zirkusse, Schaubuden, Spezialitäten-Unternehmungen bevölkernden Darsteller, beispielsweise also Akrobaten, Gymnastiker, Illusionisten, Equilibristen, Athleten, Bauchredner, Trapezkünstler, Kunstreiter, Clowns, ohne daß hiermit eine erschöpfende Aufzählung beabsichtigt ist, sondern auch alle diejenigen Personen, die in der weiten Welt des Kabaretts, der Vortragsbühne und des Cafe Chantant zu finden sind, Unternehmungen, die zusammenfassend unter den Begriff der ,Kleinkunst' gebracht werden können, ohne damit ein ästhetisches Urteil über Wert oder Unwert dieser Kunstgattung abzugeben.29

Als verbindendes Moment der diversen artistischen Fächer wird einzig die professionelle Darbietung bestimmter Kunststücke oder Kunstfertigkeiten genannt, welche [... ] zur öffentlichen Vorführung in gewerberechtlich besonders qualifizierten Unternehmungen [... ] geeignet sind. [... ] Die Kunstfertigkeiten des einzelnen Artisten resp. Artistentruppe werden jeweils als ,Programmnummer' bezeichnet.30

Zusammenfassend können wir den Terminus ,Artist' also als Berufsbezeichnung für all diejenigen Unterhaltungskünstler definieren, die auf Jahrmärkten, in Zirkussen oder Varietes auftreten und dabei bestimmte Kunststücke oder Kunstfertigkeiten in Form eigenständiger Programmnummern zur Vorführung bringen.31

1.2 Die Sparten der Artistik Je nach Art der Kunststücke oder Kunstfertigkeiten unterscheidet die Zirkus- und Varieteliteratur folgende artistische Hauptsparten (die in der Praxis allerdings nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen sind): Die Akrobatik Die Begriffe Artistik und Akrobatik werden fälschlicherweise oft miteinander verwechselt und als Synonyma benutzt. Zweifelsohne gehört 29

Ebd. S.434. Ebd. S.433. 31 Vgl. dazu Vittoria Ottolenghi: „[...] dei protagonist! del theatre di V(arietä) (detto in generale ,artisti' e non attori, quasi a sottolineare la libertä e la versalitä)[...]" (Art. Varietä. In: Encyclopedia dello spettacolo. (Anm.4) Bd.9. Sp.1439). 30

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die Akrobatik zu den wichtigsten und ältesten Sparten der Artistik. Sie kann definiert werden als [... ] eine hochspezialisierte Kunstfertigkeit in Körperübungen, die sich durch Schwierigkeit, Einmaligkeit und Gefährlichkeit von gewöhnlichen Körperübungen abhebt und deshalb beim Zuschauer Erstaunen und Bewunderung hervorruft. [... ] Sie umfaßt vor allem Geschicklichkeitsund Gelenkigkeitskunststücke mannigfacher Arten und Formen. Die akrobatischen Kunststücke, die der Fachmann ,Tricks' nennt, können an Geräten, mit oder ohne Gerät, mit Partner(n) oder ohne Partner vollführt werden.32

Zu den Akrobaten33 zählen beispielsweise die Seiltänzer und Trapezkünstler, die Springer und Äquilibristen (Gleichgewichtskünstler), die Kontorsionisten oder Schlangenmenschen, die Kraftmenschen und Athleten, die Kunstradfahrer, die Jongleure und Messerwerfer. Auch die Sensationsartisten, die um die Jahrhundertwende von sich reden machten, werden im allgemeinen zu den Akrobaten gerechnet. Sie zeigten unter anderem aufsehenerregende Stürze aus der Zirkuskuppel in ein Bassin oder das berühmte ,Looping-the-Loop' - ein Trick, bei dem der Artist unter Ausnutzung der Zentrifugalkraft mit dem Fahrrad oder Auto eine senkrechte Schleife durchfährt. Die Reiterei Unter diese Sparte fallen alle Darbietungen mit und auf Pferden. Die Kunstreiter, die - zumeist stehend - verschiedene Kunststücke auf dem Pferderücken produzieren, gehören ebenso hierher wie die Pferdedresseure und Reiter der ,Hohen Schule', die - im Sattel sitzend kunstvolle Gangarten und Schrittfolgen demonstrieren.34 Die Tierdressur Die Fachwelt unterscheidet Kleintierdressuren (Affen, Hunde, Papageien etc.), Elefanten- und Exotendressuren, Raubtierdressuren und gemischte Dressuren. Während die Berufsbezeichnung in den ersten beiden Fällen Dresseur lautet, spricht man bei der Vorführung von 32

Griech. „Hochgänger" oder „Zehengänger"; wahrscheinlich waren es die griechischen Seiltänzer, die den Akrobaten ihren Namen gaben. 33 Ernst J. Kiphard: Die Akrobatik im Zirkus. (Anm.2) S.52. 34 Nach unserer Definition der Akrobatik als einer „Kunstfertigkeit in Körperübungen" könnte man die Kunstreiter auch unter die Akrobaten subsumieren. Mit gleichem Recht wären die Pferdedresseure der Sparte Dressur einzuordnen. Solche Klassifizierungen haben sich jedoch in der Artistik nicht durchgesetzt. 12

Löwen, Tigern, Bären und ähnlich gefährlichen Tieren von Dompteuren. Die Clownerie Die Sparte der Clownerie umfaßt sämtliche Spaßmacher des Zirkus und Varietes.35 Sie kann auf der Akrobatik aufbauen, doch steht die komische Gestaltung immer im Vordergrund. Es gibt allerdings fließende Übergänge zwischen einem akrobatischen Clown und einem komischen Akrobaten. Die Magie Magier oder Zauberkünstler vollführen Täuschungstricks, die den Gesichtssinn der Zuschauer überrumpeln - allerdings nur zu dem Zweck, sie auf angenehme Weise zu unterhalten. Am häufigsten anzutreffen sind Taschenspieler oder Prestidigitateure, deren Kunststücke im wesentlichen auf Fingerfertigkeit beruhen. Sie ,zaubern' meist mit kleineren Gegenständen wie Spielkarten, Münzen, Tüchern, Zigaretten oder Billardkugeln. Dagegen arbeiten die Illusionisten vorwiegend mit Menschen oder Tieren, die sie mittels technischer Vorrichtungen (Spiegelung, ,Schwarzes Theater*) verschwinden und wieder erscheinen lassen, verwandeln oder ,zersägen'. Zu den Magiern im weiteren Sinne zählen auch Fakire, Gedächtnis- und Rechenkünstler, Bauchredner, Hellseher und andere Beschwörer okkultistischer Phänomene. Gesang und Tanz Sänger(innen) und Tänzer(innen) bilden das Fundament jeder Varietevorstellung. Da insbesondere beim weiblichen Personal mangelhafte Kunstleistungen häufig durch die erotische Präsentation der eigenen Person kompensiert wurden, diskutierten die Fachleute darüber, ob das Genre überhaupt noch als artistisch bezeichnet werden könnte. So stellte Oscar Geller angesichts der üblichen „Tingel-Tangeleusen" 1900 im „Artist" die Frage: „Sind aber die Vertreterinnen der schamlo35

Heino Seitler und Berthold Lang wiesen darauf hin, daß die Bezeichnung Clown heute „als Sammelbegriff für einen Grotesk-Komiker überhaupt" verwendet wird: „Im Publikum und in der Presse werden häufig alle möglichen Artisten, Kunst-Eisläufer, Film-Komiker, Stepp-Tänzer usw., wenn sie eine übertriebene Komik entwickeln, als Clowns bezeichnet, obwohl Kostüm und Maske mit dem klassischen Clown nichts gemein haben. Der Sammelbegriff ,Clown' hat sich heute im Sprachgebrauch allgemein eingebürgert." (Die lustige Person im Wandel der Zeit. Wien 1981. S.28). 13

sen Dekolletage Artistinnen?"36 Als „unberufene Faktoren" im „Kreise der berufenen Artistenschaft" bezeichnete sein Kollege Max Reichardt 1910 eine bestimmte Sorte von Varietesängerinnen, denen „nur [... ] ein frecher Text und keine Stimme" genügte, um als „neuester Stern' auf dem Variete und dem Cabaret (zu) erscheinen"37. Diverse Darstellungs- und Vortragskünste Neben den Sängern und Tänzern brachte das Variete eine ganze Reihe unterschiedlicher Darstellungs- und Vortragskünstler hervor, die vorwiegend männlichen Geschlechts waren. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Sparte gehören Verwandlungskünstler und Soloscha^spieler, Mimiker, Damenimitatoren, Stimmimitatoren, Rezitatoren und Stegreifdichter (Improvisatoren), Kunstpfeifer, Instrumentalisten, Schnellmaler und Silhouettisten. Die Berufsbezeichnung ,Artist' wird im allgemeinen auch auf das Zirkus- und Varietepersonal übertragen - von den Musikern bis zu den Platzanweisern und Requisiteuren. Letztere rekrutieren sich häufig aus Unterhaltungskünstlern, die gerade nicht im Einsatz sind. Da sie meist in Livreen erscheinen, spricht die Fachwelt auch von ,Uniformierten'.

1.3 Zum Begriff ,Kostürri Mit dem Begriff ,Kostüm' bezeichnen wir heute - im Unterschied zum allgemeineren Terminus »Kleidung1 - speziell Verkleidungen und historische Trachten.38 Die Bedeutungsebene des Verkleidens erscheint besonders im Zusammenhang mit dem Theater und verwandten Darstellungsformen. (Sich) Kostümieren kann hier definiert werden als ein rollenmäßiges Gestalten des äußeren Erscheinungsbildes.39 Zum Kostüm zählen nicht nur sämtliche Elemente der Kleidung, sondern darüber hinaus auch Schuhe, Kopfputz, Schmuck und Acces36

Oscar Geller: Die Zukunft des Varietes (II.). In: A. Nr.784. Jg.18 (1900). Max Reichardt: Des Uebels Kern. In: A. Nr. 1316. Jg.28 (1910). 38 Das aus dem Französischen entlehnte Wort ,Kostüm' (Costume) im Sinne von Kleidung bürgerte sich in Deutschland erst Ende des 18. Jahrhunderts ein. Es bezog sich allerdings lange Zeit nicht nur auf Gewänder, sondern auch auf Möbel, Geräte, Sitten und Gebräuche. Noch 1889 definierte das „Deutsche TheaterLexikon" den Begriff als „das bei einzelnen Völkern in einzelnen Zeitaltern in Kleidung, Geräthschaften, Lebensweisen, Sitten und Gebräuchen Übliche" ((Anm.25) S.452). Erst um 1900 setzte sich die heute gängige eingeschränkte Bedeutung endgültig durch. 39 Vgl. Mehlin (Anm.24) S.112.

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soires. Maske und Frisur hingegen, die mit dem Kostüm eine untrennbare Einheit bilden, werden von der Theater- und Kostümforschung meist als eigenständige Kategorie behandelt.40

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Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd.l. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983. Kap.2. Die Erscheinung des Schauspielers als Zeichen. Maske-Frisur-Kostüm. S.94-131. Auch in der Theaterpraxis sind für das Kostüm einerseits, Maske und Frisur andererseits die getrennten Ressorts des Kostüm- und Maskenbildners verantwortlich. 15

2. Die Eigenart des Artistenkostüms: Bedeutung, Funktionen und Wirkung

2.1 ,Theatralität' Artisten sind wie Schauspieler berufemäßige Unterhaltungskünstler. Beide agieren öffentlich vor Zuschauern, beide sind eigens für ihren Auftritt, kostümiert, frisiert und geschminkt. Dennoch besteht zwischen artistischer und schauspielerischer Darstellung ein fundamentaler Unterschied. Während es Aufgabe des Schauspielers ist, im Rahmen einer fiktiven dramatischen Handlung eine bestimmte Rollenfigur zu verkörpern, steht beim Artisten die möglichst effektvolle Präsentation eines Kunststücks oder einer Kunstfertigkeit im Vordergrund. Die künstlerische Verwandlung seiner Person ist dabei lediglich Mittel und nicht Zweck der Darbietung. Ein Artist könnte sich theoretisch auch ganz privat geben, eventuell vorhandene Angst oder Unlust zeigen und auf ein spezielles Auftrittskostüm verzichten; er bliebe trotzdem immer noch Artist. Allerdings würde er mit einer derartigen Vorstellung die Zuschauer vergraulen und damit auch keinen Einnahmen erzielen. Um ein Publikum anzulocken und zu unterhalten, muß er sich auf die Kunst verstehen, seine eigene Person und Leistung auf eine möglichst interessante und attraktive Art zur Geltung zu bringen, sich zu ,verkaufen', wie es im Fachjargon heißt. Ein Mindestmaß an Fiktionalisierung ist dabei unerläßlich. Professionelle Artisten steigern die Wirkung ihrer an sich schon außergewöhnlichen Kunststücke, indem sie bei der Vorstellung alles vermeiden, was an die alltäglichen Plagen ihrer Arbeit, die gewöhnlichen Sorgen und Nöte ihrer Existenz erinnert. Sie verbergen ihre Mühe und persönlichen Gefühle hinter der „gefällige(n) Maske der Eleganz und äusserlichen Leichtigkeit"41 wie jene von Signor Saltarino geschilderten Zirkusreiter, die „unter erzwungenem Lächeln sich zusammennahmen und die perlenden Schweißtropfen verstohlen abwischten, als schämten sie sich des Anscheins der Anstrengung".42 Das berühmte Arioso des Spaßmachers Canio aus Leoncavallos Oper „Pagliacci" (1892): 41

Kurt Robitschek: Schauspieler und Artisten. In: A. Nr.1345. Jg.28 (1910). Signor Saltarino: Cavalcada. In: Hopiah! Zwei Geschichten aus dem Zirkusleben. Weimar 1890. S.40.

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( . . . ) lache, Bajazzo...und jeder wird klatschen! In Possen wandle Qual und Klage, in eine Grimasse Tränen und Weh ... 4 3

kann als unumstößlicher Grundsatz jedes wahren Unterhaltungskünstlers gelten; er ,verkauft' den Zuschauern eine wunderbare Scheinwelt, zu der die Probleme der Realität keinen Zutritt haben. So wenig zufällig und privat wie das Mienenspiel des Artisten sind seine Bewegungen und die Gestaltung seiner äußeren Erscheinung. Die ganze Nummer ist in der Regel genau festgelegt, in Szene gesetzt und sorgfältig geprobt. Der Zirkushistoriker Mark Lewin wies deshalb darauf hin, daß der Artist während seiner Produktion nicht als „eigenes Ich" anzusehen sei, sondern eine „künstlerische Gestalt" verkörpere: In Wirklichkeit bleibt der Zirkusartist, selbst wenn er in einem noch so ,bühnenfremden' Genre arbeitet, niemals ,er selbst' in der Manege, sondern immer und notwendigerweise wird seine eigene Person zur künstlerischen Gestalt, das heißt, verkörpert er einen ,anderen' Menschen. Er ist schon nicht mehr allein und einfach Athlet, Turner, Dompteur und Illusionist; mit seinem Eintritt in die Manege spielt er auf jeden Fall den unbesiegbaren Athleten, den gewandten Turner, den furchtlosen Dompteur, den virtuosen Zauberkünstler, vom Komiker oder Pantomimen ganz zu schweigen.44

Die Rolle, die der Artist in seiner Nummer darstellt, ist allerdings keine Theaterrolle im üblichen Sinn. Anders als der Schauspieler realisiert er im allgemeinen keine literarisch fixierte Dramenfigur. Er agiert aber auch nicht als Privatperson, sondern legt sich für seinen Auftritt ein bestimmtes Aussehen und ein bestimmtes Verhaltens- und Handlungsmuster zurecht, das dazu dient, seine Kunststücke möglichst publikumswirksam zur Geltung zu bringen. Er spielt und inszeniert gewissermaßen seine eigene Rolle, die „vorher durchdacht sein, eine künstlerische Idee haben und schöpferisch konsequent verkörpert sein muß"45. Da diese Rolle des Artisten wie das Theaterspiel in der Öffentlichkeit vor Zuschauern und in einer vom Alltagsleben klar abgegrenzten artifiziellen Situation dargeboten wird, können wir eine Zirkusoder Varietenummer - unabhängig von ihrer jeweiligen dramatischen 43

Ruggero Leoncavallo: Der Bajazzo. Zweisprachiges Textbuch. Dt.Übers.v. Ragni Maria Gschwend. In: Cavalleria rusticana/Der Bajazzo. Texte, Materialien, Kommentare. Hrsg.v. Attila Csampai und Dietmar Holland. Reinbek b. Hamburg 1987. S. 147. 44 Mark Lewin: Artistik - die Kunst des harmonischen Menschen. (Anm.2) S. 10. 45 Ebd. 17

Qualität - als ,theatrale' Veranstaltung bezeichnen.46 Artistenkostüme besitzen dementsprechend die Eigenschaft der ,Theatralität'.47 Wie jedes Bühnenkostüm sind sie speziell für die Anwesenheit von Zuschauern konzipiert, nicht wie die Alltagskleidung für die persönlichen Bedürfnisse ihrer Träger. Während die Kleidung im sozialen Leben neben einer symbolischen Funktion primär eine praktische Punktion besitzt, definiert sich das Artistenkostüm allein durch seinen Zeichencharakter. Es genügt nicht, daß es getragen wird, es muß gesehen und rezipiert werden. Erst in den Augen der Zuschauer erhält es seine Bedeutung. Zusammen mit Maske und Figur zeigt es die Identität der Bühnen- oder Manegenperson an, die in jedem Fall eine artifizielle ist, also nicht mit der sozialen Existenz des Artisten verwechselt werden darf. Zirkus- und Varietekünstler legen sich gewöhnlich eine irreale, märchenhafte Identität zu, die den Zuschauern signalisiert, daß ihre Kunststücke als übernatürliche Wunder zu rezipieren sind. Sie erscheinen als Wesen von idealer Schönheit und Eleganz, aber auch grotesker Häßlichkeit, als Gestalten von übermenschlicher Größe und nahezu körperlos wirkendem Glanz, als geheimnisvolle Fremde, mythologische Geschöpfe und Zwitterwesen, von denen man nicht sagen kann, ob sie Männer oder Frauen, Menschen oder Tiere sind. Ein phantastisches Auftrittsgewand, das sich bedeutend von der Kleidung des Publikums unterscheidet, wirkt naturgemäß besonders theaterhaft. Doch selbst wenn der Artist eine Garderobe wählt, die derjenigen der Zuschauer gleicht, so funktioniert sie, sobald sie auf der Bühne oder in der Manege getragen wird, auf eine andere, außerhalb der Realität stehende Art und Weise. Ein Jongleur etwa, der um 1900 im Frack auftrat, präsentierte sich deswegen nicht persönlicher als wenn er in orientali46

Vgl. dazu Fischer-Lichte: „Von Theater sprechen wir immer dann, wenn folgende Bedingung gegeben ist: A verkörpert X, während S zuschaut." ((Anm.40) S.199). „Wenn A [... ] agiert, um X darzustellen, ist alles, was er tut, wie er es tut und wo er es tut, auf die Anwesenheit von Zuschauern bezogen, für die A's Äußeres das Äußere von X, sein Handeln und Verhalten Handeln und Verhalten von X und der Raum, in dem A agiert, Räume in denen X agiert, bedeuten." (Ebd. S.18f.). 47 Auf dieses Kriterium hat m.E. bislang nur Marie-Claude Groshens hingewiesen, die das Artistenkostüm - im Unterschied zum Theaterkostüm („costume de theatre" ) im strengen Sinne - ausdrücklich als „costume theätralisant" apostrophierte: „[...] le costume est [...] propre a mettre en valeur le fournisseur de la prestation; dans ce cas c'est un costume, ,theatralisant* puisque l'artiste ou l'amuseur, en meme temps qu'il accomplit sä prouesse, la met et se met en scene, en jouant son propre role. Ce costume ne devient costume de theatre au sens strict que lorsque la prouesse effectuee se reduit uniquement h. jouer un role: Avare ou la Coquette." ((Anm.4) S.280).

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scher oder clownesker Aufmachung erschienen wäre. Er spielte einen zeitgenössischen Gentleman, brachte also einen damals besonders modernen und eleganten Personentypus zur Darstellung. Artistische und schauspielerische Auftritte haben viele Berührungspunkte, sie können gelegentlich sogar identisch erscheinen. In den dialogischen Clownszenen des Zirkus und den Komikersketchen des Varietes verkörpern die Artisten tatsächlich wie Schauspieler rein fiktive Rollenfiguren. Dennoch besteht zwischen dem Komödienspieler einerseits und dem Komiker oder Clown andererseits immer ein prinzipieller typologischer Unterschied. Der Beruf des Schauspielers ist es, Dramenfiguren zu verkörpern; das Genre des komischen Schauspielers sind die komischen Rollen. Das Genre des komischen Artisten aber ist dadurch ausgewiesen, Komik zu erzeugen - auf welche Weise das auch immer geschehen mag. Das Publikum zum Lachen zu bringen, ist die spezielle Kunstfertigkeit eines Clowns, und so bleibt das dialogische Rollenspiel bei ihm letztlich immer nur Mittel zum Zweck.

2.2 Ausstattung Bei der Inszenierung einer artistischen Nummer kommt den Kostümen - neben Licht und Musik - eine tragende Bedeutung zu. Die mehr oder weniger phantastische Gestaltung der äußeren Erscheinung ist bei einfachen Straßengauklern gewöhnlich schon die ganze Ausstattung. Artisten, die im Zirkus oder Variete auftreten, treffen auf bessere Inszenierungsbedingungen, ohne daß die Kostüme dabei ihre Dominanz einbüßen. Den Unterhaltungskünstlern stehen hier zwar effektvolle künstliche Lichtquellen zur Verfügung, doch wird auf Dekorationen und Requisiten, wie sie am Theater üblich sind, meist verzichtet.48 Die kreisförmige, rundum offene Zirkusmanege schließt einen perspektivischen Kulissenzauber von vornherein aus. Selbst die großen Varietebühnen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die dafür beste Voraussetzungen geboten hätten, kamen häufig mit einem neutralen Vorhang aus, der den unterschiedlichsten Darbietungen als Hintergrund diente: Die Bühne wurde mit bemalten Vorhängen, Stoffdraperien, wenigen Versatzstücken so eingerichtet, daß mehrere Nummern, mitunter alle, im gleichen Bild .gehen' konnten.49 48

Die Rede ist ausschließlich von Programmnummern, nicht von sogenannten ,Zirkuspantomimen' und diversen Variet6stücken, die den Gesetzmäßigkeiten des Theaters folgen und nicht als originäre artistische Auftrittsformen gewertet werden können. 49 Ernst Günther: Geschichte des Varietes. 2.Aufl. Berlin (DDR) 1981. S.142. 19

Die charakteristische Auffälligkeit und Opulenz der Wanderkünstlergarderobe erklärt sich nicht zuletzt durch das Fehlen einer szenischen Dekoration, das auf diese Weise kompensiert wird.50 Die Wirkung der Kostüme hängt von einer Reihe verschiedener Faktoren ab: von der Gestik und Bewegung der Artisten, von ihrer Distanz zu den Zuschauern, vor allem aber von den jeweiligen Lichtverhältnissen. Tageslicht erfordert völlig andere Stoffe und Farben als Kunstlicht, Kerzen schaffen wiederum andere Bedingungen als Gasbeleuchtung oder elektrisches Licht. So ^schluckt' die Sonne den Glanz von Fütter und Metallfäden, der sich nur bei künstlicher Beleuchtung voll entfaltet. Dafür treten die Farben der Gewänder bei Tageslicht umso greller hervor. Die sich im Freien produzierenden Jahrmarktsartisten fielen demgemäß durch eine extrem bunte Garderobe auf. Für die Kostüme der Zirkus- und Varietekünstler sind dagegen Glitzereffekte typisch, erzeugt durch lichtreflektierende Materialien wie Pailletten, Schmucksteine, goldene und silberne Fransen, Besätze und Stickereien, Brokate, Satin und Lame. Die irreale Atmosphäre, die das diffuse Gaslicht in den Zirkusvorstellungen des letzten Jahrhunderts erzeugte, hat Edmond de Goncourt in seinem Artistenroman „Les freres Zemganno" (1879) eindrucksvoll geschildert: Es gab und gibt auf diesen rasend schnell vorüberziehenden Bildern, bei dieser ständigen Bewegung von Menschen unter grellem Gaslicht, in diesem Reich des Flitters, des Rauschgolds, der angeklecksten Gesichter bezaubernde und seltsame Lichteffekte. So läuft zeitweilig über das mit Rüschen besetzte Hemd eines Äquilibristen ein Geriesel von Flimmerplättchen, das es in ein feuersprühendes Kleid verwandelt. In manchen Seidentrikots erscheint ein Bein mit seinen Höhlungen und Wölbungen, mit seinen weißen und violetten Tönen wie das Rot einer Rose, auf die nur von einer Seite Sonnenlicht fällt. Dem Gesicht eines Clowns, auf dem ein heller Lichtschein liegt, verleiht der grellweiße Puder eine Reinheit, die Regelmäßigkeit und fast den scharfen Schnitt eines aus Stein gehauenen Antlitzes.51

Als 1881 zur Eröffnung des Londoner „Savoy-Theatre" erstmalig elektrisches Licht ein öffentliches Gebäude illuminierte, zog dies größte 50

Vgl. dazu Alessandro Cervellati: „La ricchezza del c. (costume) di circo, anche quando puö sembrare irrazionale, data la scioltezza ehe in alcuni artisti (funambuli, acrobati, volteggiatori, equilibrist!) si esige per l'esecuzione dei loro esercizi, trova la sua ragione sulla necessitä di colmare la carenza del coefficente scenogr., negata alia pista." ((Anm.4.) Sp.1616). 51 Edmond de Goncourt: Die Brüder Zemganno. Dt.Übers.v. Albert Klöckner. Hamburg 1967. S.121f.

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Änderungen in der Bühnengarderobe (und Mode) nach sich. Unter der gleichmäßigen, blendenden Helligkeit milderte sich das Make-up; bunte Kostüme wirkten plötzlich grell und wurden durch weiße oder helle verdrängt, die zudem das Licht besser reflektierten. Statt der farbigen Juwelen sah man nun Diamanten und Straß, da unter elektrischer Beleuchtung nur farblose Steine das faszinierende zerstrahlende Blitzen zeigten. Mit Hilfe der Elektrizität ließen sich außerdem bislang unbekannte Beleuchtungseffekte erzielen. Die amerikanische Tänzerin Loie Füller (1862-1928) führte an den Pariser „Folies-Bergere" 1892 als erste die kreativen Möglichkeiten des farbigen, bewegten Lichts vor. Auf der mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Bühne produzierte sie sich in flatternden weißen Gewändern, die sich durch das Farbenspiel ständig wechselnder Scheinwerferblenden und Projektionen dramatisch belebten. Der Wiener Rezensent des „Artist", Joseph Haiperson, berichtete 1898 aus dem Variete „Ronacher": Miss Fuller beschäftigt einen Generalstab von Electrotechnikern, die aus drei Fronten gleichzeitig die blendenden Lichtstrahlen ihrer Reflectoren auf die Tänzerin senden, sie mit einer Fluth farbiger Lichter förmlich übergiessen, allerlei Figuren, als Schlangen, Engelsköpfe, Lilien und Rosenknospen, in nie gesehener Schärfe auf die wolkenartig geblähten Falten ihres Seidenkleides zaubern. Zum Schlüsse erscheint die Tänzerin wie mitten im Feuer stehend, wie von tausend feurigen Zungen beleckt, von brennrothen Lichtern übergössen - ein Trie, den die trefflichen Reflectoren und ein seidener Schleier wahrhaft täuschend bewerkstelligen.52

Loie Füllers spektakuläre Lichtregie rief nicht nur unzählige Nachahmerinnen und Nachahmer auf den Plan, sie revolutionierte binnen kurzem auch die gesamte Theater- und Zirkusbeleuchtung.

2.3 Reklame Anders als Schauspieler, die ihre Rollen ständig wechseln, halten Artisten gewöhnlich für längere Zeit an einem einmal bewährten Kostümtyp fest. Der Direktor des „Circus Sarrasani", Hans StoschSarrasani (1873-1934), führte seine Elefanten stets im Prachtgewand eines Maharadschas vor, während der Tigerdompteur Togare (Georg Kulovits, geb. 1900) seine größten Erfolge in einer Nachahmung des Filmkostüms Douglas Fairbanks als „Dieb von Bagdad" feierte. Für die Pariser Diseuse Yvette Guilbert (1866-1944) waren lange schwarze "Wiener Brief. In: A. Nr.685. Jg. 16 (1898). 21

Handschuhe typisch, die sie zu betont schlichten Abendkleidern kombinierte. Der Trapezkünstler Jules Leotard (1838-70) wurde so sehr mit seinem Gymnastikanzug identifiziert, daß man das Kleidungsstück nach ihm ,Leotard' benannte. Die Auftrittskleidung eines Artisten verknüpft sich meist derart mit seiner Leistung und Person, daß sie zu seinem besonderen Markenzeichen wird: sie hebt ihn optisch von seinen Kollegen ab und leistet keine unwirksame Eigenwerbung. Die einfachen Jahrmarkts- und Wanderkünstler des 18. und 19. Jahrhunderts bedienten sich notgedrungen gröberer Effekte als das Personal der mondänen Großstadtzirkusse und Varietes. Bei der Zusammenstellung ihrer Garderobe konnten sie nicht wählerisch sein; sie trugen, was sie eben besaßen oder günstig erwerben konnten. Der Zweck ihrer Aufmachung war in erster Linie, Aufsehen zu erregen, und dazu war fast jedes Mittel recht. Gewandstücke von phantastischem Zuschnitt in grellen Farben, billiger Flitter, exotische und folkloristische Zutaten ergaben häufig ein derart groteskes Gesamtbild, daß ihre Träger kaum noch wie reale menschliche Wesen erschienen. Oscar Lindens Erzählung „Der letzte Schimmel" (1892) vermittelt einen anschaulichen Eindruck von Aussehen jener ärmlichen Wandergesellschaften des letzten Jahrhunderts. Die Rede ist hier von „Director Lajos Horväth" und seiner Familie: Der Letztere stack in einem Costume, das halb deutsch, halb ungarisch war. Auf seinem Haupte trug er einen Calpak mit kühn zum Himmel strebender Reiherfeder, und der Schnurrbart, in zwei lange spitze Enden ausgedreht, gab dem Gesichte einen militärischen Anstrich. Ein deutscher Frack hüllte die große magere Gestalt ein und eine enge Hose, mit Schnüren verziert, sowie rothjuchtene Czismen vervollständigten den sonderbaren Anzug. Die Frau trug sich nicht minder auffällig. Eine griechische Jacke mit Goldschnüren geschmückt und mit Pelz verbrämt, ein schreiend rother Rock, dazu hohe rothe Reiterstiefel mit Sporen und auf dem blonden Haupte einen goldgezierten Fez mit blauer Quaste war die Toilette des Weibes. Die vier Kinder, welche lachend neben dem Wagen trabten, hatten sich gleichfalls einer Toilette zu rühmen, die über die Alltäglichkeit hinausging und deren auffallende Zusammenstellung so recht aus dem Zigeunerthum der fahrenden Circusleute, mit allen ihren Extravaganzen und Paradoxen, herausgewachsen war.53

Nicht weniger spektakulär präsentierte sich der Laufkünstler „Meister Federleicht", den M. Palm in seiner literarischen „Skizze" „Der Schnellläufer" (1899) beschrieb: 53

Oscar Linden: Der letzte Schimmel. Eine Episode aus der Circuswelt. In: A. Nr.399. Jg.10 (1892).

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Federleichte Kleidung bestand aus einem abgenutzten grellrothseidenen Wams, gelben Pluderhosen, rothen Strümpfen und leichten Goldkäferschuhen. Sein Kopfputz bildete ein kirchthurmartiger Aufbau, der über und über mit lustig bimmelnden Messingglöckchen besetzt war. In dieser grotesken Gewandung übte Meister Federleicht seine Kunst aus [.. .].54

Das abenteuerlich bunte Erscheinungsbild dieser einfachen Artisten war eine berufliche Notwendigkeit. Die Kostüme fungierten als unübersehbare Werbung für ihre Träger. In den vergangenen Jahrhunderten standen den Fahrenden weder Farbplakate noch ein ausgeklügeltes Reklamesystem zur Verfügung, und so setzten sie ihre Garderobe gezielt als Köder ein, um das Publikum zum Eintritt in ihre Buden und Manegen zu bewegen. Artisten in „verlockenden Kostümen"55 postierten sich auf einem Podium vor dem Eingang, während der Prinzipal oder die Prinzipalin zum Besuch aufriefen: Schon am Eingange der Arena gab es für die Gaffer viel zu schauen. Hier stand Frau Zoe Horväth in einem abgeschossenem polnischen Costume und lud das ,verehrte kunstsinnige Publikum' zum Eintritt ein [...]. Auch Rosa im Zigeunercostüme und Ella als Ballettänzerin lockten die Burschen und Dirnen, Herren und Frauen mit dem süssesten Lächeln in den Circus.56

Noch bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts veranstalteten selbst große Kunstreiter- und Zirkusgesellschaften an neuen Gastspielorten prächtige Paradeumritte, an denen das gesamte Personal „theils in Uniform, theils in phantastischen Costümen"57 teilnahm. Friedrich Gerstäcker hat uns in seinem Artistenroman „Der Kunstreiter" (1860) einen solchen Reklameumzug in allen Einzelheiten überliefert: Voran ritten dem Zuge zwölf Trompeter in roten, abgetragenen und verschossenen, mit unechten Borden besetzten Uniformen, ungeschickte hohe Tschakos mit roten und weißen Federbüschen auf dem Kopfe, 54

M. Palm: Der Schnellläufer. Skizze. In: A. Nr.741. Jg.17 (1899). Perfall: Anca. (Anm.17) S.4. 56 Linden (Anm.53). Besonders bekannt waren einst die Reklameparaden des Schaustellers Michael August Schichtl (1851-1911), der, wie Barbara Krafft bemerkte, geradezu „eine eigene Kunstform" daraus machte: „Da wurde nicht nur das Programm angepriesen und die Artisten vorgezeigt. Einer etwa einstündigen Vorstellung ging eine halbe Stunde Parade voraus, ein ausgiebiger kostenloser Vorgenuß, zu dem das Publikum in Massen strömte." (In: Heute Hinrichtung. Jahrmarkts- und Varietiattraktionen der Schausteller-Dynastie Schichtl. Hrsg. v. Florian Dering u.a. Kat. München, Wien 1990. S.43. 57 Saltarino: Alexandrine Leglere. In: Heidonc En-avant! Circus-Novellen. Düsseldorf o.J. (1894). S.95. 55

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und bliesen einen schmetternden Marsch. Der Zug wollte g e s e h e n werden, und je mehr Lärm sie deshalb machten, desto besser. Unmittelbar hinter diesen folgte der Herr der Schar, der berühmte Monsieur Bertrand, in einem reichbesetzten, schwarzsamtnen Waffenrock, ein schwarzes Barett auf dem Kopfe mit wallenden schneeweißen Straussenfedern, die von einer mit jedenfalls unechten Steinen besetzten Agraffe gehalten wurden. ( . . . ) Den Gegensatz zu ihm bildete ein wunderschönes Weib an seiner Seite. Eine wahrhaft junonische Gestalt, mit Augen voll Glut und Leben und in feuerfarbene, goldgestickte Seide gekleidet [...]. [... ] hinter dem Zuge, der gerade jetzt vorüber war, kam der Hanswurst der Truppe in buntscheckigem Anzüge, die weiße spitze Filzmütze auf dem Kopf, das Gesicht auf die grellste Weise bemalt, auf einem kleinen Pony nachgeritten.58

2.4

Schau-Effekt

Die Artistik ist Schaugewerbe - Showbusiness, wie wir heute sagen - also eine Unterhaltung, die auf spektakulären optischen Effekten beruht. Artisten bieten den Zuschauern eine „Augenweide"59, sie gewähren „Freude am körperlich-Schönen, an den Bewegungen und Formen von Männern und Frauen"60. Dies gilt nicht etwa nur für die Reiter und Akrobaten, deren Aktionen rein körperlicher, bewegungsmäßiger Art sind, sondern paradoxerweise ebenso - wenn auch nicht uneingeschränkt - für die Gesangs- und Vortragskünstler. Im Unterschied zum Opern- oder Konzertbesucher erwartete das Varietepublikum besonders vom weiblichen Kunstpersonal nicht nur ein Vergnügen für die Ohren, sondern in erster Linie eines für die Augen: die Zurschaustellung körperlicher Reize und effektvoller Toiletten. D. Kiss, ein Mitarbeiter des „Artist", konstatierte im Jahr 1900: Der Director verlangt von den weiblichen Mitgliedern seines Ensembles in erster Reihe glänzende Costume, was er damit motivirt, dass das Publicum ins Variete geht, um etwas zu sehen. Ist eine Sängerin nebstbei Künstlerin in ihrem Fache, hat sie auch Stimme und Vortragstalent, so ist das alles von grossem Vortheil, aber dennoch nicht so ganz unerlässlich, wie die Costume.61

58

Gerstäcker (Anm.15) S.7ff. Halperson (Anm.18) S.l. 60 Romanowski (Anm.21). 61 D. Kiss: Bühnen-Luxus. In: A. Nr.778. Jg.18 (1900). 59

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Als die seinerzeit weltberühmte amerikanische Operettendiva Lillian Russell 1898 am Berliner Variete „Wintergarten" gastierte, begeisterte sich ein Rezensent des „Artist": Es ist zweifelsohne, die volle üppige Amerikanerin ist eine Beauty im vollsten Sinne des Wortes, und all die tausend Mittelchen, welche die Toilette einer schönen Frau gewährt, stellen, von seltenem Geschmack zeugend, die herrliche Gestalt in das denkbar beste Licht. Die hohe Erscheinung, welche einen fast fürstlichen Eindruck macht, umschliesst ein mattweisses Kleid, welches ziemlich weit decolletirt ist, so dass die vollen weissen Arme und ein schöner, fast ein wenig zu kräftiger Hals sichtbar werden. Das Gesicht ist regelmässig und trotzdem picant, das Haar hellblond und elegant frisirt. Sie singt schon längst, und dennoch schaut man mehr, als dass man hört.62 Eine Artistin, die es verstand, ihre körperlichen Vorzüge in aufsehenerregenden Toiletten zu präsentieren, konnte selbst mit ausgesprochen dürftigen Kunstleistungen reüssieren. So berichtete der Londoner Korrespondent des „Artist" 1910 über den Auftritt der Barfußtänzerin Lady Constance Stewart-Richardson am „Palace-Theatre": Die anwesenden Lebemänner und Bekannten der Lady sind wenn nicht durch die künstlerischen Leistungen, so doch durch das S c h a u e n auf ihre Kosten gekommen; denn die Aristokratin hatte in Nachahmung eines Kostüms einer bekannten Tänzerin an Durchsichtigkeit des Stoffes jene noch übertroffen. So stark sich zur Schau zu stellen dürfte die Lady selbst in ihrem intimsten Kreise nicht wagen.63 Bei der amerikanischen Sängerin „Miss Deo", die 1899 am Prager Variete „Tichy" auftrat, fiel der offensichtliche Mangel an Stimme nicht ins Gewicht, da sie eine „recht gute Augenweide"64 abgab. Dementsprechend hieß es über eine Anzahl weiterer Chanteusen: Miss Reine Davies ist eine Soubrette, die sich zwar nicht über das Mittelmass erhebt, aber durch hübsche Kostüme ausgleicht, was ihr an Stimme und Vortrag abgeht.65 Nun kamen die Pariser Puppen, Verwandlungssängerinnen, an die Reihe. Zwei nette, leidenschaftliche Damen, welche in schicken und engen Kostümen Pariser Lieder zum besten geben. Was vielleicht an Stimme mangelte, ersetzten sie reichlich an Grazie und schönen Kostümen.66 "Berliner Brief. In: A. Nr.707. Jg.16 (1898). 63 Eine aristokratische - Konkurrenz. In: A. Nr.1306. Jg.28. (1910). 64 Prager Brief. In: A. Nr.736. Jg.17 (1899). 65 Aus New York. In: A. Nr.1311. Jg.28 (1910). 66 Brief aus Gent. In: A. Nr.1344. Jg.28 (1910).

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Umgekehrt erzielten wirklich vorzügliche Darbietungen aufgrund unvorteilhafter Präsentation häufig nicht den verdienten Erfolg. Der legendäre Jongleur Enrico Rastelli (1896-1931) erhielt zu Beginn seiner Karriere trotz schwierigster Kunststücke wenig Applaus. Sein englischer Agent Downs machte ihn schließlich auf seine Fehler aufmerksam: ,Ihre Tricks sind wirklich die schwersten und schönsten, die ich je gesehen habe. Aber Sie bringen sie so ungeschickt, so bäurisch, daß sie nicht ansprechen. Ihr Kostüm schon, dieser Cutaway! Sie sehen darin aus wie ein verunglückter Kinoheld. Und so ernst, als wollten Sie gleich zu predigen anfangen.'67 Enricos Arbeit verbesserte er durch manche Anregungen. So schlug er ihm als Kostüm vor: rosaseidene Bluse, kurze, ebenfalls rosaseidene Hosen, gerollte Seidenstrümpfe und schwarze Lackpumps. In der Tat brachte dieses Kostüm die jugendliche Frische und Lieblichkeit des Jongleurs vortrefflich zum Ausdruck.68

Rastelli errang in seiner neuen Aufmachung Weltruhm; sein elegant stilisiertes Sportdress wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren zum meist kopierten Kostüm der Jongleursbranche. Die Garderobe des Artisten kann über Erfolg oder Mißerfolg seiner Nummer entscheiden. Da sie sein wichtigstes und oft einziges Ausstattungsmittel ist, wird sie automatisch zum Blickfang der Darbietung. Sie vermag die Augen der Zuschauer gezielt auf die artistische Aktion zu lenken, ihre Wirkung zu steigern oder herabzusetzen, sie kann aber auch - im Falle schwächerer Leistungen - bewußt davon ablenken. Die Überrumpelung des Gesichtssinns gelingt umso leichter, als die Artisten bei rasch wechselndem Nummernprogramm nur relativ kurze Zeit zu sehen sind. Schon bei ihrem ersten Erscheinen wird das Auge des Betrachters mit optischen Reizen überflutet. Ein Rezensent des „Artist" schilderte 1904 einen „fortreissenden spanischen Tanz" des australischen Varietestars Saharet (Ciarisse Campbell, 1880-1942), [... ] welcher wie ein mit rasender Geschwindigkeit wechselndes, farbenprächtig blendendes Kaleidoskop an unseren, von der Fülle des Gebotenen schier betäubten Augen vorüberschwirrt und wie der Wind vorüber ist, auf unserer Netzhaut ein komisch wechselvolles Bild von schlenkernden Beinchen, duftigen Jupons, nachtschwarzen Haarlöckchen und feuersprühenden Glutaugen zurücklassend.69 67

August Heinrich Koben Das Wunder der tanzenden Bälle. Der Lebensroman Rastellis. Berlin 1938. S.233. 68 Ebd. S.257. 69 Aus Breslau. In: A. Nr.1000. Jg.22 (1904).

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Die bunten Farben, schimmernden Stoffe, das Funkeln und Glitzern der Steine, Pailletten, der metallenen Borten und Fransen machten die auftretende Person im wörtlichen Sinne zur ,blendenden Erscheinung'. Ihre blendende Erscheinung wirkte geradezu verblüffend; solch farbenprächtiges Gemisch von Sammt und Seide, Spitzen und Juwelen, hatte man, in diesem eigenartigen Arrangement, selbst in Berlin noch nicht gesehen70,

hieß es beispielweise über eine französische Chansonette, die um 1900 am Berliner „Apollo-Theater" gastierte. Heinrich Manns Romanfigur „Professor Unrat" (1905) war von der glänzenden Toilette der Varietesängerin Rosa Fröhlich derart geblendet, daß er sie kaum noch als menschliche Gestalt wahrnahm: Dahinten durchbrach nur etwas Glänzendes den Rauch, ein sehr stark bewegter Gegenstand, etwas, das Arme, Schultern oder Beine, irgend ein Stück helles Fleisch, bestrahlt von einem hellen Reflektor, einherwarf und einen großen Mund dunkel aufriß.71

Die Sinnesverwirrung des Professors wich allerdings sofort ernüchternder Klarheit, als er die Künstlerin später in ihrer Garderobe aus der Nähe kennenlernte: [... ] der Glanz der schönen bunten Farben in ihrem Gesicht, rot, bläulich, perlweiß, hatte gelitten vom Staub. Die Frisur sah eingesunken aus, und als sei von ihrer Leuchtkraft etwas davongeflogen in den qualmigen Wirtssaal. Die blaue Schleife an ihrem Hals hing welk, die Stoffblumen um ihren Rock nickten mit toten Köpfen. Der Lack blätterte von ihren Schuhen, zwei Flecke waren auf ihren Strümpfen, und die Seide ihres kurzen Kleides schillerte aus ermatteten Falten. Das schwach gerundete, leichte Fleisch ihrer Arme und ihrer Schultern kam einem abgegriffen vor, trotz seiner Weiße, die bei jeder raschen Bewegung davon abstäubte.72

2.5 Glamour Nicht alle Variete- und Zirkusschönheiten sind außerhalb ihres künstlerischen Wirkungsbereiches besonders attraktiv. Sie können in Wirklichkeit nichtssagende oder gar häßliche Menschen sein wie jener Star 70

J. Glück: Die Störenfriede. In: A. Nr.1000. Jg.22 (1904). Heinrich Mann: Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen (1905) Leipzig o.J. (ca. 1920). S.54. 72 Ebd. S.68. 71

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eines Provinztheaters, den Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" (1954, beg. 1910) schildern. Ein Operettensänger mit dem ironisch bezeichnenden Doppelnamen Müller-Rose wird dem Leser zunächst als das „Traum- und Musterbild" eines männlichen Bühnenhelden vorgeführt, um sich dann beim Abschminken in seiner Garderobe als abstoßende, mit Eiterpusteln übersäte Kreatur zu entpuppen, über deren Sein und Schein der Ich-Erzähler zu räsonieren beginnt: Dies also, - so etwa gingen meine Gedanken - dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zu dem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Dieser unappetitliche Erdenwurm ist die wahre Gestalt des seligen Falters, in welchem eben noch tausend betrogene Augen die Verwirklichung ihres heimlichen Traumes von Schönheit, Leichtigkeit und Vollkommenheit zu erblicken glaubten! Ist er nicht ganz wie eines jener eklen Weichtierchen, die, wenn ihre abendliche Stunde kommt, märchenhaft zu glühen befähigt sind?73

In der Metapher des Glühwurms faßte Thomas Mann treffend die Doppelexistenz des Unterhaltungskünstlers, der „als niedriges, unansehnliches Lebewesen"74 das Theatergebäude betritt und wieder verläßt und nur im Scheinwerferlicht der Bühne seinen blendenden Glanz zu entfalten vermag. Das Geheimnis dieses Glamours (schottisch-englisch ,Blendwerk, Zauber1) offenbart sich in seinem Umkleideraum. Hier, wo sich die Grenzen zwischen Real- und Kunstexistenz berühren, erweist sich die makellose, verführerische Bühnenerscheinung als optische Täuschung, als das Produkt eines „Gefälligkeitszaubers"75, basierend auf Schminke, Perücke und Kostümierung, vollendet durch künstliches Licht und die Distanz zum Publikum, die es verhindert, das Blendwerk zu durchschauen. Glamour ist ein Effekt, der nur synthetisch erzeugt werden kann - unabhängig davon, wie groß oder gering die natürliche Schönheit eines Menschen auch immer sein mag. Wenn der Artist märchenhaft strahlend die Bühne oder Manege betritt, ist kein Zoll seines Körpers mehr naturbelassen: jedes Stückchen Haut, das nicht bekleidet wurde, ist zumindest geschminkt und gepudert. Wie der bereits zitierte Autor D. Kiss 1898 im „Artist" ausführte, sind Schminke und Puder für die „Bühnen- und Manegenschönheit" 73

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). 3.Aufl. Frankfurt/M. 1975. S.26. T4 Ebd. 75 Ebd. S.27. 28

[... ] nicht jene kleinen Behelfe, welche von Damen nur angewendet werden, um das zu ersetzen, was Mutter Natur ihnen vorenthielt, sondern sie bilden ihr das unerlässliche Requisit, dessen sie nicht entrathen kann, und wenn sie eine zweite Venus ist.76 Die Gesichtszüge werden durch das Schminken plastischer, die Farben reiner, die Augen ausdrücklicher, und zur absoluten Nothwendigkeit wird das Schminken durch das grelle Licht auf der Bühne und durch die Entfernung, die uns vom Zuschauerraume trennt.77

Eine ähnlich idealisierende Wirkung erzielten die Artisten mit der „wuchsverklärenden rosa Haut ihres Trikots"78. Trikotstrumpfhosen waren im 19. Jahrhundert aus sittlichen Gründen für die Darstellung nackter Beine vorgeschrieben. Abgesehen davon spielten hier aber auch ästhetische Gesichtspunkte eine Rolle. Selbst in unseren Tagen, in denen das Tabu der Nacktheit nicht mehr existiert, verzichtet kaum eine Zirkuskünstlerin auf die beinverschönernde Optik der üblichen Gumminetzstrümpfe. Frank Wedekind, der bekanntermaßen ein Faible für das Artistentum hatte, gewann aufgrund seiner zahlreichen Variete- und Zirkusbesuche die Erkenntnis, daß sich die Form der unteren Gliedmaße allein schon durch eine geschickte Farbwahl der Beintrikots optisch erheblich aufbessern ließ. Angesichts der halbenthüllten Wade eines gewissen „Frl. Meiniger" auf der Bühne des Münchner „Gärtnerplatz-Theaters" notierte er 1889 in seinem Tagebuch: Diese Wade ist aber eher zierlich als üppig, vielleicht deshalb weil sie in einem schwarzen Strumpf steckt. Schwarze und rote Trikots lassen die Beine dünner erscheinen als sie sind, während blaue, weiße und fleischfarbene das Gegenteil bewirken. Übrigens wird es einen unangenehmen Eindruck machen, wenn unter dieser schlanken Taille sich zwei korpulente Waden zeigen wollten. Singen kann die Meininger nicht, sie ist keine Nachtigall.79

Großgewachsene, dünne Komiker, die mit ihrer Gestalt einen grotesken Effekt erzielen wollten, wählten vorzugsweise schlank machende schwarze Trikots und verlängerten ihre Körpergröße zusätzlich durch einen hohen Zylinderhut. Typische Vertreter dieses Kostümtyps waren Karl Valentin (1882-1948) und der englische Music Hall-Komiker G.H. Chirgwin (1854-1922): 76

D. Kiss: Bühnen- und Manegenschönheit. In: A. Nr.684. Jg. 16 (1898). Aus dem Künstlerleben. In: A. Nr. 711. Jg. 16 (1898). 78 Th. Mann (Anm.73) S.148. 79 Frank Wedekind. Die Tagebücher. Ein erotisches Leben. Hrsg.v. Gerhard Hay. Frankfurt/M. 1986. S. 139. 77

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Wearing black tights to emphasize the hight of his very thin figure, he made his entrance with his right eye concealed beneath the brim of an enormously high top hat.80

Seriöse hagere Artisten, die muskulöser erscheinen wollten, behalfen sich demgegenüber bis zum Ersten Weltkrieg mit sogenannten ,Wattons', Wattepolstern, die sich ohne Mühen unter das Trikot einschieben ließen. Die Herren verwendeten sie am häufigsten in Form falscher Waden - in der Fachwelt auch als ,Wanderwaden' bekannt, da sie die unangenehme Eigenschaft besaßen, leicht zu verrutschen.81 Die Damenwelt favorisierte komplette Watton-Anzüge mit einer doppelten Trikotschicht, zwischen die (an den strategisch wichtigen Stellen) Watte- oder Zellstoff-,Fleisch' eingelagert war.82 Ein so präparierter Körper war im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs unüblich, da das weibliche Schönheitsideal dieser Zeit eine vollschlanke junonische' Figur erforderte. Hat der Artist das Werk der künstlichen Nacktheit abgeschlossen und seinem Haar - eventuell mit einer Perücke - die gewünschte Farbe und Form verliehen, so vollendet er die „abendliche Verklärung seiner selbst"83 mit einer spektakulären Auftrittsrobe. Wie wir gesehen haben, tragen Artisten Kostüme, die einen großen Schaueffekt besitzen, das heißt eine effektheischende, die Schaulust erregende Optik. Es sind Kostüme, die glitzern und glänzen, die auffallend bunt, auffallend luxuriös, elegant und erotisch attraktiv sind. Charakteristisch ist ein mehr oder weniger phantastisches Moment, das besonders durch die Accessoires zum Ausdruck kommt: hohe oder ausladende Kopfbedekkungen, Federbüsche und Schwungfedern, farbig leuchtende Schärpen und blitzende Juwelen, Schleppen und Hängeärmel, Stelzen, Flügel und andere Attribute, die den menschlichen Körper vergrößern und überhöhen. Der Schaueffekt der Artistengarderobe ist gleichzeitig Ingredienz ihres Glamours - ein Begriff, unter dem wir die Idealisierung der realen Erscheinung einer Person zu einem Wesen von nahezu übermenschlich wirkender, betörender Schönheit verstehen. Artistenkostüme sind Glamourkostüme, da sie die Vorzüge ihrer Träger betonen, ihre körperlichen Mängel geschickt kaschieren oder ausgleichen und schließlich die Augen der Zuschauer durch auffallende Effekte ,blenden'. Ihr starker optischer Reiz zwingt den Gesichtssinn zu einer 80

Roy Busby: British Music Hall. An Illustrated Who's Who from 1850 to the Present Day. London, New Hampshire (USA) 1976. S.35. 81 Vgl. Mehlin (Anm.24) S.116. 82 Nach mündlicher Auskunft von Klaus Schreck, Zeta GmbH. 83 Th. Mann (Anm.73) S.27.

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reflexhaften Reaktion, durch die sich der kritische Verstand zumindest kurzzeitig überrumpeln läßt. So verleihen die Kostüme den Artisten zweifellos eine gewisse psychologische Macht über ihr Publikum, von dessen Eintrittsgeldern sie schließlich ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Eine Ausnahmestellung nehmen die grotesk ausstaffierten Komiker ein, die den artistischen ,Gefälligkeitszauber' praktisch unter umgekehrten Vorzeichen ausführen. Im Rahmen einer ganzen Zirkusoder Varietevorstellung erweisen sie sich als notwendige Kontrastfolie, vor der die strahlende Schönheit ihrer Kollegen umso wirkungsvoller hervortritt.

2.6 Die Herstellung der Kostüme Für die Kostümierung ihrer Nummern haben die Artisten seit jeher selbst zu sorgen. Die Zirkus- und Varietedirektionen verleihen Gewänder und Uniformen im allgemeinen nur für Ensembleauftritte und Helferdienste. In einem der üblichen Artistenkontrakte aus der Zeit der Jahrhundertwende lautete die entsprechende Klausel: Alle Kostüme für seine Nummern stellt der Artist...auf eigene Kosten...Die Kostüme (Trikot, Turnhosen, Schuhe und anderes) müssen stets makellos rein sein und gutes Aussehen zeigen. Der Direktor hat das Recht, die Nummer aus dem Programm zu streichen, wenn diese Bedingungen nicht befolgt werden.[...] (Die Direktion ist nur verpflichtet, Kostüme und Requisiten bereitzustellen, die für Pantomimen und Ensembleauftritte erforderlich sind.)84

In der Frühzeit des Zirkus war die Herstellung der Kostüme noch wenig organisiert. Die Artisten nähten ihre Garderobe gewöhnlich selbst - dies war meist Aufgabe der Ehefrauen - oder ließen sie von einem beliebigen Schneider anfertigen. Einige Hinweise auf die Kostümbeschaffung im frühen 19. Jahrhundert können wir Carl von Holteis Artistenroman „Die Vagabunden" (1851) entnehmen. Anton, der Held des Geschehens, beabsichtigt als Kunstreiter in einem Zirkus aufzutreten. Die Fertigung seiner Künstlermontur überläßt er seiner Geliebten, einer Artistenfrau, die sich nur allzu gern dazu bereit erklärt: Und wie will ich dich kleiden. - Fort mit den geschmacklosen traditionellen Lappen, wie sie um plumpe Stallknechte flattern! Fort damit! Wenn du auftrittst, sollen alle Männer vor Neid gelb werden und alle Weiber vor Mißgunst bersten [.. .]85. 84

Zitiert nach Jewgeni Kusnezow: Der Zirkus der Welt. Dt.Übers.v. M. Orlowa. Berlin (DDR) 1970. S. 163. 85 Holtei (Anm.13) S.143. 31

Als Anton später, von seiner Gefährtin verlassen, in die Dienste eines Kameltreibers tritt, läßt dieser ihn von einem Schneider einkleiden: ,Wir lassen dir eine hübsche, kleidsame Tracht machen, die deine Person heraushebt; ein bischen knapp, bunt und abenteuerlich, wie sich's für den Tierführer schickt. Diese legst du an in jeder Stadt, in jedem größeren Flecken, wo wir mit den Kamelen auf Straßen und Plätzen erscheinen.' [... ] ,Geh und bestelle den Schneider', sagte Anton fest entschlossen; ich will mir die Affengarderobe anmessen lassen.'86

In größeren Städten gab es zu dieser Zeit Umformschneider, die gelegentlich für Zirkusse und Theater arbeiteten, außerdem Trikothersteller, die aus Strumpfwirkereien hervorgegangen waren. Von einer artistischen Kostümindustrie konnte keine Rede sein, da Zirkuskünstler für diese Betriebe nur eine untergeordnete Rolle spielten. Grundlegend änderte sich diese Situation erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Durch das Aufkommen der Varietes vermehrten sich die Auftrittsmöglichkeiten der Artisten explosionsartig. So bestand plötzlich ein ungeheurer Bedarf an Kostümen, die - dem Charakter dieser mehr oder weniger mondänen Etablissements entsprechend - möglichst elegant und aufwendig gearbeitet sein mußten. Im Zuge der allgemein stark anwachsenden Industrialisierung Deutschlands gründeten sich nun zahlreiche, die artistische Klientel beliefernde Kostümateliers und Ausstattungsfirmen, Trikotagenfabriken, Spezialbetriebe für Theaterschmuck und Besatzartikel, für Bühnenstoffe, -schuhe, -perücken und ähnliches mehr. Um sich gegenüber der Konkurrenz abzusetzen, führten die meisten dieser Produktionsfirmen neben ihrem Standardsortiment einige Spezialartikel, die sie in Werbeanzeigen dementsprechend groß herausstellten. E. Rosenbergs „Special-Fabrikgeschäft in Tricots" zu Frankfurt am Main annoncierte „Beinwattons", „Wadenwattons" und „Brustwattons"87, „Ferd. Lotter, Strumpfwaarenfabrik" im thüringischen Zeulenroda warb für ein „Tricot mit elastischem Rand wodurch Gürtel und sonstige Befestigungsmittel in Wegfall kommen"88. Die ebenfalls in Zeulenroda ansässige „Künstler-Tricotfabrik Ferd. Schreck" offerierte die „Anfertigung von Thiercostümen in jeder Art, als Krokodil-, Eidechsen-, Frosch-, Affen- und Teufelscostüme"89. Demgegenüber pries 86

Ebd. S.335. Annonce. In: A. Nr.387. Jg.10 (1892). 88 Annonce. In: A. Nr.676. Jg.16 (1898). 89 Annonce. In: A. Nr.790. Jg.18 (1900). Die Firma (Zeta GmbH, Bruchsal) ist noch heute in Familienbesitz und produziert Bühnen- und Sporttrikotagen. 87

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„Paul Spiegel's Tricot-Fabrik" in Chemnitz als „Specialität: Jockeitricots mit dicker und ohne Naht"90. Die meisten Kostümateliers hatten sich in der Reichshauptstadt angesiedelt, die sich um 1900 zu einem Zentrum der Vergnügungsindustrie entwickelt hatte. Nicht wenige der blendendsten Toiletten deutscher wie internationaler Variete- und Zirkusstars stammten aus den renommierten Berliner Maisons J. Ambach (Friedrichstraße) und E. Verschleisser (Elsasserstraße), die auf „feinste BühnenCostüme, Pariser Genre"91 spezialisiert waren. Der „Artist" versicherte seinen Lesern wiederholt, [... ] dass das Atelier Verschleisser mit dem Welthause der Madame Landolff in Paris in Bezug auf Güte der Stoffe und Geschmack der Arrangements wetteifert, das erwähnte Pariser Atelier jedoch in Bezug auf Billigkeit weit überragt. Die Damen, welche aus Paris kommen, geben es allseitig zu, dass das deutsche Atelier zuverlässiger, schneller und preiswerther arbeitet, als die Ateliers der Modistinnen in Paris.92

Ohne Konkurrenz war das „Ausstattungsinstitut fur Circus- und Varietebühnen Hugo Baruch & Cie", in seiner Glanzzeit „das wahrscheinlich größte Theateratelier, das jemals bestanden hat"93. Hugo Baruch (1848-1905), ein Kölner Schneider, hatte das Unternehmen 1887 gegründet, war 1890 nach Berlin übergesiedelt und konnte bereits vor 1900 große Filialen in London, Brüssel und New York eröffnen. Was immer Artisten und Unterhaltungsetablissements an Ausstattung benötigten, bei Baruch konnten sie es erwerben. Die reichhaltigen Kataloge offerierten unter anderem Stoffe, Knöpfe, Besatzartikel, Federn, Schmuck, Trikotagen, Kostüme (inklusive Kopfbedeckungen und Schuhe), Requisiten, Pferdegeschirre und Schabracken, sogar Theatermöbel und komplette Dekorationen.94 Die „Anfertigung sämmtlicher Circusund Variete-Theater-Costumes" beruhte auf „eigenen Entwürfen, sowie Vorlagen erster Costümmaler"95. Oscar Geller, der 1900 einen „Rundgang durch das Etablissement Hugo Baruch & Co. in Berlin" 90

Annonce. In: Saltarino: Artisten-Lexikon (Anm.8) S.289. Adressen-Liste/Geschäftsfirmen. In: A. Nr.739. Jg.17 (1899). 92 Aus dem Künstlerleben. In: A. Nr.722. Jg.16 (1898). 93 Edith Ibscher: Theaterateliers des deutschen Sprachraums im 19. und 20. Jahrhundert. Diss. Frankfurt/M. 1972. S.94. 94 Die Lipperheidsche Kostümbildsammlung in Berlin ist im Besitz dreier, allerdings nicht vollständig erhaltener Kataloge aus den Jahren 1899 und 1915. Erstaunlicherweise scheinen sich nur wenige Spuren des riesigen Unternehmens erhalten zu haben. 95 Annonce. In: Saltarino: Artisten-Lexikon (Anm.8) S.280. Eine genaue Aufstellung der bei Baruch beschäftigten Kostümdesigner findet sich bei Ibscher (Anm.93) S.96-115. 91

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unternahm, berichtete der Leserschaft des „Artist" nicht nur ausführlich von den diversen Ausstellungsräumen, Werkstätten und Lagerhallen, sondern auch von einem streng gehüteten Raum, in dem sich die Skizzenschränke befanden: Hier werden unzählige Tausende Skizzen für Costume, von ersten, hervorragenden Künstlern entworfen und in Farben ausgeführt, aufbewahrt. Daneben befinden sich gleich die Anprobirräume, die vollkommen abgedunkelt werden können, dass man das Costüm in betreff seiner Farbe bei verschiedenfarbigem electrischem Glüh- oder Bogenlicht beurtheile.96

Der gigantische Betrieb mußte 1927 Konkurs anmelden und erlosch 1937 aufgrund antisemitischer Repressalien - die Baruchs waren Juden - endgültig. Die einst so glanzvolle Artistikindustrie hat mittlerweile längst keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Oscar Geller, der 1900 „mit dem Resultate überaus zufrieden sein" konnte, wenn er von „dieser mächtig blühenden Industrie auf unsere Kunst selbst"97 schloß, hätte heute kaum Grund zur Freude. Es existieren nur noch wenige kleine Kostümateliers für Artisten. In Fachkreisen weltberühmt ist das Pariser Atelier „Vicaire", ein 1932 gegründeter Familienbetrieb in der Rue Richer, nahe den „Folies-Bergere". Nach wie vor nähen sich viele Zirkuskünstler ihre Kostüme nach traditioneller Manier selbst. Vor allem die komischen Anzüge der Clowns sind meist Eigenfabrikate: Wo fände man auch so rasch einen Schneider, der einen Anzug so verschneidern kann, daß die Weste bis an die Knie reicht und der Hinterteil der Hose wehmütige Falten wirft, die bis zum Boden hängen?98

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Oscar Geller: Ein Rundgang durch das Etablissement Hugo Baruch & Co. in Berlin. In: A. Nr.788. Jg.18 (1900) 97 Ebd. "Seitler/Lang (Anm.35) S.27.

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3. Traditionelle Merkmale europäischer Artistenkostüme vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert Das auffallende Erscheinungsbild der Artisten ist wahrscheinlich so alt wie das Gewerbe selbst, das kultischen Ursprungs ist. In China und Ägypten sind Artisten bereits seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. nachgewiesen. Wir sprechen hier aber nur im Kontext unserer christlichabendländischen Kultur, deren Kostümkodex mit dem anderer historischer und ethnischer Systeme nicht zu vergleichen ist, da jeweils von ganz anderen soziokulturellen Voraussetzungen auszugehen wäre. Boucher wies in seinem umfassenden Werk der europäischen Kostümgeschichte darauf hin, daß die fahrenden' Spielleute und Gaukler in der Frühzeit des Mittelalters zunächst einfache und einfarbige Gewänder getragen hatten, sich aber um den Beginn des 12. Jahrhunderts durch die Buntheit und Seltsamkeit ihrer Garderobe bemerkbar machten." Das berühmte Troparium des Klosters Saint-Martial de Limoges enthält allerdings schon vor Mitte des 11. Jahrhunderts Miniaturen von Jongleuren, Musikanten und Tänzern in außergewöhnlich farbenfreudiger Kostümierung.100 Die bunten Gewänder der mittelalterlichen Wanderkünstler waren in der Regel Geschenke, mit denen sie für ihre Darbietungen entlohnt wurden. Musikanten, Spaßmacher, Akrobaten und Tierdresseure wurden gern zum Amüsement des Adels geladen, und zu großen Hoffesten erschienen nicht selten hunderte von Gauklern und Komödianten. Nach Hampe waren „Kleider, Rüstungs- und Schmuckstücke [... ] wohl überhaupt die üblichsten Gaben an die Spielleute, unter denen die geringeren schon mit den getragenen und abgelegten Kleidern der Herren gar wohl zufrieden waren"101. Im 12. und 13. Jahrhundert besaßen die Kleidergaben oft beträchtlichen Wert, da der Akt des Gebens, die „milte", als gesellschaftlich notwendiges Verhalten des Fürsten angesehen wurde.

"Prangois Boucher: Histoire du costume en Occident de l'antiquito ä nos jours. 2.Aufl. Paris 1983. S. 188. 100 Vgl. Tilman Seebass: Musikdarstellung und Psalterillustration im frühen Mittelalter. 2 Bde. Bern 1973. Bd.l. S.9-22; Bd.2. Abb.1-12. 101 Theodor Hampe: Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Jena 1924. S.40. 35

Man veranstaltet Wettbewerbe im Schenken, und eigens ans diesem Grunde kommt man zum Fest. [... ] Bevorzugt werden Kleider und Pferde an Spielleute verschenkt, aber auch Goldpfennige gibt man ihnen. Die Beschreibung der Kleider weist diese als besonders prächtig aus. Nur prunkvolle und schöne Stücke werden verschenkt, und nicht selten auch gibt der Fürst sein eigenes Gewand zum Lohn.102

Faral erwähnte, daß anläßlich der Hochzeit des Grafen Galeas von Mailand mit Beatrice d'Este mehr als siebentausend neue Mäntel an die Spielleute verteilt wurden;103 bei Boehn lesen wir, daß es Fürsten gab, „die kostbare mit den verschiedensten Blumen geschmückte Gewänder, für die sie vielleicht 20 bis 30 Mark Silber bezahlt hatten, Komödianten schenkten, also gewissermaßen Teufelsdienern"104. Wenn auch anzunehmen ist, daß die prächtigen Kleidergeschenke wieder verkauft oder gegen andere Dinge eingetauscht wurden, die man dringend zum täglichen Leben benötigte, so versetzte die fürstliche „milte" die Gaukler nun in die Lage, sich eine spektakuläre, extrem bunte Auftrittsgarderobe zusammenzustellen, die fortan zum Kennzeichen ihres Berufsstandes wurde. Die Wanderkünstler fielen um so mehr auf, als sich das einfache Volk mit ungefärbten oder dunklen Gewändern zu begnügen hatte. Farbige oder gar gemusterte Stoffe galten als außerordentlich kostbar, das Tragen purpurner und roter, aber auch leuchtend blauer und grüner Kleidungsstücke war teilweise noch bis ins 16. Jahrhundert ein Privileg des Adels. Als die Mode der oberen Gesellschaftsschicht allmählich ihre große Farbigkeit verlor, und spätmittelalterlicher Kleiderzierrat wie Schellen und Zaddeln105 verschwanden, verblieben diese Elemente als Charakteristikum der Gaukler- und Narrentracht (Abb.8, 9, 19). Die oft jahrhundertelange Fixierung auf unmodern gewordene Kleidungsstücke war eine traditionelle Kostümierungspraktik der Artisten. Sie kleideten sich altertümlich, um eigentümlich zu erscheinen und die Schaulust der Bürger zu erregen. So gehörte das Federbarett106, das 102

Antonie Schreier-Hornung: Spielleute, Fahrende, Außenseiter. Künstler der mittelalterlichen Welt. Diss. Göppingen 1981. S.94. 103 Edmond Faral: Les Jongleurs en France au moyen age. Paris 1910. S.99. 104 Max von Boehn: Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Berlin 1921. S.62. 105 Zaddeln oder Zatteln (frühhd. ,herabhängende Zacken') bildeten im 14. und 15. Jahrhundert eine beliebte Verzierung der Kleidersäume. Die Säume wurden dar bei zacken- oder zungenförmig ausgeschnitten oder mit gezaddelten Stoffstücken in einer Kontrastfarbe besetzt. 106 Das Barett, eine kappenartige Kopfbedeckung, kam in den verschiedensten Formen und Größen vor. Es gab kleine, eng am Kopf anliegende Varianten ohne Krempe wie auch ausladende, breitkrempige Versionen. So trugen die Lands-

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von etwa 1480 bis 1570 in der Herren- und Damenmode zu finden war, seither zur typischen Kopfbedeckung der Akrobaten (Abb.l, 5). Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts prägte es das Erscheinungsbild der klassischen Hochseilläufer. Die Halskrause des 16. und 17. Jahrhunderts lebt als unentbehrlicher Bestandteil der Clowngarderobe fort (Abb.l, 8-11,13). Dem gleichen Zeitraum entstammten die ^panischen Hosen' oder ,Puffen', Oberschenkelhosen mit kugelförmigen, gepufften Beinen, die auf die spanische Hoftracht zurückgingen und im 17. und 18. Jahrhundert von Akrobaten beiderlei Geschlechts getragen wurden (Abb.l, 5). Goethes Wilhelm Meister erblickt das rätselhaft androgyne Gauklerkind Mignon in solchen Puffen, die damals über enganliegende Kniehosen gezogen wurden: Nachdenkend über dieses artige Abenteuer, ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm entgegensprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe, lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte.107

Die kurzen Hosen, in Prankreich auch ,Trousses' genannt, blieben bis ins frühe 20. Jahrhundert ein charakteristisches Garderobestück der männlichen Akrobaten (Abb. 12). Artistinnen der unterschiedlichsten Fachrichtungen stellten zur gleichen Zeit ihre Beine in erotisch gewagten ,Pagenanzügen' und Korsagen zur Schau (Abb. 16-19). Die Akrobatinnen waren die ersten Frauen, die von Anfang an konsequent Hosen anzogen. Das Tragen dieses explizit männlichen Kleidungsstücks, das sich in der Frauenmode erst im 19. Jahrhundert (als Unterhose) durchzusetzen begann, war für sie eine berufliche Notwendigkeit, wollten sie sich beim Tanz auf dem Seil, bei Sprüngen und Handständen keine ,Blöße' geben. Die Hose der Artistin soll auf ein Dekret Kaiser Justinians (527-65) zurückgehen. So lesen wir bei Holtmont: knechte des 16. Jahrhunderts letztere Form besonders gern bunt und mit großen Straußenfedern geschmückt. Als das Barett nach 1570/80 aus der Mode kam, wurde es von verschiedenen Amtstrachten übernommen. Im 19. Jahrhundert entdeckten es die Künstler der deutschen Romantik wieder; ein berühmter BarettTräger war Richard Wagner. 107 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1895/96). In: Werke. 14 Bde. (Hamburger Ausgabe). 19.Aufl. München 1973. Bd.7. S.91. 37

Justinian, der oströmische Kaiser, kann [... ] als derjenige Herrscher angesehen werden, der dem Volk der Mimen, Seiltänzer und Akrobaten das Beinkleid durch Gesetzeskraft aufzwang: keine Frau durfte sich künftig mehr ganz nackt produzieren, sondern hatte sich wenigstens einer kurzen Hose zu bedienen, die das Geschlechtszeichen verbarg.108

Allerdings ist bereits von den antiken Miminnen und Akrobatinnen überliefert, daß sie - soweit sie nicht der Prostitution nachgingen einen Lendenschurz trugen oder ihr Untergewand mit Bändern nach Art einer Hose über dem Knöchel oder Knie zusammenschnürten.109 Römische Geschicklichkeitskünstlerinnen legten seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert vorzugsweise das ,subligaculum' an, einen aus dem Orient stammenden Hüftschurz, der im Schritt zwischen den Beinen geschlossen war.110 Dokumente von Akrobatinnen in Hosen sind vor dem 17. Jahrhundert selten. Haiperson zitierte einen Bericht aus dem 16. Jahrhundert, in dem von einem „jungen Mädchen in Männerkleidern" die Rede ist, „das springen und sich gleich einem Affen durch einen Reifen überwerfen konnte"111. Ikonographisch überaus interessant ist Matthias Gerungs Gemälde „Melancolia 1585" (Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe). Auf der rechten unteren Bildhälfte befindet sich eine Gruppe von Gauklern, unter ihnen eine weibliche Person, die mit Schwertern hantiert. Ihre Haube weist sie als verheiratete Frau aus. Wie zwei ihrer männlichen Kollegen trägt sie weiße Pumphosen, dazu ein knappes rotes Wams, das die weiblichen Formen betont. Mit 108

Alfred Holtmont: Die Hosenrolle. Variationen über das Thema: Das Weib als Mann. München 1925. S.28. 109 Vgl. dazu ebd.: „Wenn uns die Antike als eine das Physische unreflektiertbetrachtende Weltperiode erscheint, so ist dies nur in bezug auf den Mann richtig; die Frau gab ihren unverhüllten Körper nur in Ausnahmefällen den Zuschauern preis, ja es begegnet Zweifeln, daß die Bilder antiker Nackttänze andere als erotische seien: einzig die sozial vereinsamte, auch kunsttreibende Dirne exhibierte gelegentlich sogar die Geburtsglieder, nicht einer ungehinderten gymnastischen Beweglichkeit zuliebe und weit entfernt vom Unschuldszustande der lakedämonischen Nation. Die Bedeckung zumindest der Lenden ergibt sich für die Land fahrende Akrobatin schon aus der Art der Darbietungen [...]. Die Brust lag bei den Künstlerinnen der Antike fast immer bloß." (S.26ff.) j Cecil Saint-Laurent: Drunter. Eine Kultur- und Phantasiegeschichte der weiblichen Dessous. Dt.Übers.v. Angelica Griem. Wien 1988. S.42. Römische Mädchen in ^ubligaculum1 und .strophium' (einer Art Büstenhalter) - Kleidungsstücke, die unserem heutigen Bikini verblüffend ähnlich sehen - sind auf dem bekannten Fußbodenmosaik der kaiserlichen Villa von Casale auf Sizilien in der Piazza Armerina (4. Jahrhundert n.Chr.) dargestellt. Es handelt sich dabei allerdings nicht - wie oft behauptet - um Artistinnen, sondern um Sportlerinnen in einer Palaestra. ni Halperson (Anm.18) S.28. 38

den grauen Ärmeln einer unterhalb getragenen Weste korrespondieren gleichfarbene Strümpfe und schwarze Schuhe. Das Kostüm der Akrobatin unterschied sich von dem der Männer in erster Linie durch ein der Damenmode entsprechendes Oberteil, das die Büste zur Geltung brachte und trotz der Hosen keinerlei Zweifel an ihrem Geschlecht aufkommen ließ. Während sich die Frauen - auch unter Röcken - männliche Beinkleider anpaßten, bedienten sich viele Akrobaten im 18. Jahrhundert eines merkwürdig feminin wirkenden Kleidungsstücks: der ,Rhingrave' (deutsch auch ,Rheingrafenhose' genannt). Es handelte sich um eine vereinfachte und verkürzte Version jener exzentrischen Rockhose, die modische Kavaliere der Zeit um 1655 bis 80 getragen hatten. Die von den Akrobaten adaptierte Rhingrave bedeckte nur knapp das Gesäß und wurde wie die Puffen über enganliegende Kniehosen gezogen. Dazu kombinierten sie ein Rüschenhemd mit Spitzenjabot, über das sie oft noch eine Weste mit langen Ärmeln streiften. Als die Gaukler um 1800 ihre Rockhosen aufgaben, überlebte die Rhingrave als Kostümelement der Komiker - wenn auch in stark geschrumpfter Form, meist zackig ausgeschnitten und mit Glöckchen besetzt (Abb.8, 9). Eine andere Tradition artistischer Kleidung ist die Verwendung fremdländischer und exotischer Elemente. Diese Eigenart war durch die Internationalität der Wanderkünstler begründet. Haiperson berichtete, daß seit Ende des 15. Jahrhunderts „neben den daselbst heimischen, ihrer Nationalität und Sprache nach als Deutsche anzusprechenden Fahrenden" verstärkt Ausländer auf die deutschen Jahrmärkte strömten, „Italiener, Engländer, Niederländer, zumal Flandrer, Polen, seltener Franzosen [...], die sich auch als Marktschreier aller Art, Bänkelsänger, fahrende Ärzte, Taschenspieler u. dgl. betätigten"112. Im 17. und 18. Jahrhundert erschienen zunehmend auch türkische Seiltänzer. Die bedrohlichen Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reiches hatten diese exotischen Künstler zur besonderen Attraktion der europäischen Jahrmärkte werden lassen. Ihre Authentizität schien aber in den allermeisten Fällen ,getürkt' gewesen zu sein. Zweifel an der Echtheit ihrer Herkunft waren nach Depping durchaus angebracht: Ein Türke war schon an sich eine Merkwürdigkeit; kam dazu noch die zweite Merkwürdigkeit, daß er auf dem gespannten Seile tanzte, so mußte dies den Parisern besonders anlockend erscheinen. Man trug also sicherlich in jener Zeit kein Bedenken, falsche Türken aufzuweisen, so wie heut 112

Ebd.

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zu Tage die Theaterdirektoren falsche Indianer und falsche Wilde sehen lassen, die jedenfalls weniger einfältig sind als die Tröpfe, welche hingehen, um sie anzuschauen.113

Die exotischen Elemente eines türkischen Kostüms beschränkten sich zunächst häufig auf pittoreske Muster und Farbzusammenstellungen. In einer französischen Kupferstichfolge mit Akrobaten des 18. Jahrhunderts114 unterscheidet sich das Gewand eines als „Le Turc" bezeichneten Seiltänzers im Schnitt grundsätzlich nicht von dem seines englischen oder holländischen Kollegen. Nur sind seine Puffen nicht einfarbig, sondern durch Blütenornamente leicht orientalisierend gestaltet. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigten die /Türken' aber meist signifikantere Kostümelemente wie Turbane, Pumphosen und kaftanartige Gewänder (Manteaux turcs) mit der für das Genre typischen Pelzverbrämung. Das türkische Kostüm galt im 17. und 18. Jahrhundert als Inbegriff des Fremdländischen schlechthin. Ein Riese, der sich 1775 auf dem Pariser Jahrmarkt Saint Germain produzierte, erschien nach einem zeitgenössischen Bericht „habille ä la hongroise, avec un manteau turc"115. Das Bestreben nach realistischer Darstellung hielt sich offenbar in Grenzen, ähnlich wie am Theater, wo Türkerien ebenfalls seit dem 17. Jahrhundert in Mode gekommen waren: ( . . . ) der Türke war vor allem pittoresk, man unterschied keineswegs zwischen Tartaren, Indern, Persern o.a. Wichtig war allein der exotisierende Effekt [... ] Nicht die genaue Kopie, sondern das Nachempfinden des orientalischen Charakters war entscheidend.116

n3

Guillaume Depping: Wunder der Körperkraft und Geschicklichkeit des Menschen. Dt.Übers.v. Robert Springer. Berlin 1870. S.203. 114 Kolorierte Stiche von Seiltänzern und Gauklern. 18. Jahrhundert. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (GNN/HB 23782a-i). 115 Zit.n. Emile Campardon: Les spectacles de la foire. 2 Bde. Paris 1877. Bd.l. S.375. 116 Beate Wild: Schäfer, Bauern und Exoten. Die Tracht im Bühnenkostüm. Berlin 1985. S. 10. 40

4. Zirkuskostüme vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts

Das ausgehende 18. Jahrhundert, eine Epoche politischen, sozialen und kulturellen Umbruchs, markiert auch für die Artistengarderobe einen neuen Entwicklungsabschnitt. In den Jahren zwischen 1770 und 1795 vollzogen sich auf den Gebieten der Mode, der Bühnenkleidung wie der Artistik selbst so gravierende Veränderungen, daß die äußere Erscheinung der Unterhaltungskünstler davon nicht unbeeinflußt bleiben konnte. Europas Oberschicht hörte allmählich auf, sich wie in den Jahrhunderten zuvor an der prunkvoll-repräsentativen Mode des französischen Hofes zu orientieren. In Großbritannien kam ein praktischerer und bequemerer Kleidungsstil auf, der teils von bürgerlichen Gewandformen, teils von der griechisch-römischen Antike inspiriert war. Seit etwa 1760/70 begann sich die ,Mode a l'anglaise' auch auf dem Kontinent auszubreiten, doch bedurfte es erst der katalysatorischen Wirkung der Französischen Revolution, ehe die Herren endgültig ihre bestickten Seidenanzüge zugunsten schlichter Tuchfräcke aufgaben und die Damen ihre monströsen Reifröcke und einschnürenden Korsetts ablegten, um sich in lose fallende Mousselinegewänder gräzistischen Gepräges zu kleiden. Die Auseinandersetzung mit der Antike hatte auch auf den Theatern eine grundlegende Reform der Garderobe bewirkt. Anstelle höfischer Prachtgewänder, die für Hirten- und Bauernfiguren kaum weniger aufwendig gehalten waren als für Götterund Heroengestalten, setzte sich nun zunehmend eine wirklichkeitsgetreuere Darstellung historischer, ständischer und fremdländischer Trachten durch. Die ersten Impulse gingen auch hier wiederum von England aus. Das Inselreich hatte sich nach der „Glorious Revolution" von 1688 innerhalb kurzer Zeit zur führenden Industriemacht Europas entwickelt, sein Bürgertum war bildungsmäßig und politisch wesentlich emanzipierter als das des Kontinents. Ende des 18. Jahrhunderts war London die erste europäische Metropole, deren Einwohnerzahl die Millionengrenze überstieg. Dementsprechend groß war das Vergnügungsbedürfnis ihrer Bevölkerung, die im Jahre 1770 den ersten Zirkus erhielt. Das Wort ,Zirkus' ist griechisch-lateinischen Ursprungs und bedeutet Kreis. Der Name rührt von der runden Manege her, die sich im Inneren jedes Zirkusgebäudes oder -zeltes befindet. Ihre Form ergab 41

sich zwangsläufig aus den Vorführungen der ersten Zirkusartisten, die Reitkünstler waren. Die Darbietungen der Akrobaten auf dem Pferderücken, vorwiegend im Stehen auf galoppierendem Pferde ausgeführt, erfordern die Kreisform der Manege, weil nur sie die gleichmäßig leichte Gangart des Tieres ermöglicht, die ihrerseits für eine ruhige, sichere Arbeit des Akrobaten unerläßlich ist. [... ] Ein enger Kreis verleiht dem Pferd bei schnellem Lauf eine merkliche Neigung zum Mittelpunkt, und das ist beim Ausbalancieren des Gleichgewichts für den Akrobaten die günstigste Haltung.117

Als Gründer des Zirkus gilt Philip Astley (1742-1814), ein ehemaliger englischer Kavallerieoffizier, der 1763 nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst beschloß, seinen Lebensunterhalt fortan mit der Vorführung von Reitkunststücken zu bestreiten. Der Gedanke war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Ähnliches war schon seit der Jahrhundertmitte erfolgreich von einer Reihe ehemaliger Reitlehrer, Bereiter und Kavalleristen versucht worden, also Leuten, die im Umgang mit Pferden eine besondere Geschicklichkeit entwickelt hatten. Diese Reitervorstellungen erfreuten sich in England großer Beliebtheit. Gastspiele ,englischer Reiter' auf dem Kontinent machten sie seit den sechziger Jahren auch dort zu einer Modeerscheinung. Das Neue an Astleys Darbietungen war, daß er sich nicht allein auf die Vorführung von Kunststücken mit und auf Pferden beschränkte, sondern daß er diese nach und nach durch Jahrmarktsattraktionen ergänzte. Die Jahrmärkte hatten zu Ende des 18. Jahrhunderts ihre einstige wirtschaftliche Bedeutung als Handelsumschlagplätze längst verloren und waren zu reinen Vergnügungsstätten geworden; viele von ihnen hörten um diese Zeit ganz auf zu existieren.118 Ihre Funktion als Zentrum artistischer Unterhaltung übernahm allmählich der Zirkus, der den fahrenden' völlig neue Perspektiven verlieh und eine beträchtliche Anhebung ihres künstlerischen Niveaus bewirkte. Die diversen Seiltänzer, Springer, Kraftmenschen, Jongleure, Tierdresseure und Spaßmacher hatten sich bislang meist einzeln in Buden und auf freien Plätzen produziert. Nun fanden sie sich unter einem gemeinsamen Dach und in einem ge117

Kusnezow (Anm.84) S.8. Zwei der bedeutendsten Jahrmärkte Europas, die Pariser Vorstadtmärkte SaintGermain und Saint-Laurent, wurden im Jahr 1786 eingestellt. An ihrer Stelle hatte sich auf dem Faubourg de Temple, der während der Französischen Revolution zum Boulevard de Temple wurde, ein dauerhaftes Vergnügungsviertel etabliert, das das ganze Jahr über Besucher anlockte. In dieser Umgebung errichtete Philip Astley 1782 seinen ersten französischen Zirkus, das „Amphitheatre Anglois du Faubourg de Temple".

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meinsamen szenischen Rahmen mit den Reitkünstlern vereint, die ein weitaus höheres Ansehen genossen. Der versierte Umgang mit Pferden galt damals in erster Linie als sportliches Vergnügen für Adel und Militär - Gesellschaftsschichten, die Jahrmarktsbuden gewöhnlich mieden, sich aber im Zirkus gerne einfanden. Astleys Unternehmen war von Anfang an stark am Theater orientiert. Hatten die Kunstreiter und Akrobaten ihre Darbietungen bislang meist in sportlich-abstrakter Manier als Aneinanderreihung verschiedener Höchstschwierigkeiten präsentiert,119 so bemühten sich Astley und seine Nachfolger darum, die einzelnen Tricks in kleine fiktive Handlungen einzubetten oder sie tänzerisch und pantomimisch zu gestalten. (Hierin waren ihnen freilich schon die Seiltänzer vorangegangen.) Wie sehr der Zirkus damals zum Theater tendierte, bezeugen die sogenannten ,Zirkuspantomimen', die gewöhnlich nach Absolvierung des artistischen Nummernprogramms im zweiten Veranstaltungsteil aufgeführt wurden. Die Zirkuspantomime war eine Synthese aus Drama und Artistik, ein Manegestück, das durchaus nicht wortlos zu sein brauchte. In der Frühzeit des Zirkus dominierten heroische Themen mit Schlachtenszenen und Kavalkaden wie „Kampf und Tod des Generals Marlborough" (1789), Astleys erfolgreichste Produktion. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Zirkuspantomime immer mehr zum opulenten Ausstattungsspektakel, bis diese Form der Zirkusunterhaltung nach dem Ersten Weltkrieg schließlich ganz aufgegeben wurde. Da die Kostüme hier stets echte Rollenkostüme waren, also keine Artistengarderobe im speziellen Sinn darstellen, können wir die Zirkuspantomime im folgenden außer Acht lassen. Den Begriff ,Zirkus', den wir heute selbstverständlich für eine bunte artistische Veranstaltung sowie das entsprechende Gebäude oder Zelt benutzen, hat Astley selbst niemals verwendet. Er verstand sein Unternehmen als eine Art Theater mit Pferden und nannte es wegen seiner rund um die Manege angeordneten Zuschauerränge ,Amphitheater 4 . Nachdem er das königliche Privileg erhalten hatte, durfte er es sogar als „Astley's Royal Amphitheatre of Arts" titulieren. Einen 1782 119

So hieß es beispielsweise 1775 auf einem Ankündigungszettel des ,Pferdekünstlers* Hyam: „Herr Hyam springt bei vollem Galopp aus dem Sattel und wieder auf; er reitet gleichzeitig auf zwei Pferden, indem er fest mit den Beinen auf dem Sattel steht, ohne die Zügel zu halten; er läßt das Pferd, im Sattel stehend, im Trab laufen und balanciert auf dem Kopf einen achtjährigen Jungen; er schießt bei vollem Lauf, auf zwei Pferden stehend, aus der Pistole, ladet das Gewehr, befestigt das Bajonett, als bereite er sich zum Angriff vor, ganz wie die Kavallerie vor der Schlacht; er ist in der Lage, auf zwei Jagdpferden stehend, das Gleichgewicht bei jeglichen Sprüngen und jeglichem Galoppieren des Pferdes zu halten." (Zit.n. Kusnezow (Anm.84) S.12).

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in Paris errichteten zweiten Zirkusbau im Vergnügungsviertel Temple annoncierte er analog dazu als „Amphitheatre Anglois du Faubourg de Temple". Dieses Pariser Amphitheater gelangte infolge der Revolutionswirren in die Hände der Artistenfamilie Franconi, die es durch geschickte künstlerische und kommerzielle Führung zum tonangebenden Unternehmen Europas ausbaute. Die Franconis waren es auch, die den Namen ,Zirkus' zum Gattungsbegriff erhoben, als sie einen 1807 eröffneten Neubau „Cirque Olympique" tauften. Der glänzende Ruf des Franconi-Unternehmens hatte zur Folge, daß bald auch außerhalb von Paris das Etikett jAmphitheater1 durch das des ,Zirkus' ersetzt wurde. (Zwar hatte schon 1780 ein englischer Konkurrent Astleys namens Hughes einen „Royal Circus" errichten lassen, doch konnte sich weder der Name noch das Unternehmen auf Dauer gegen Astleys Amphitheater4 behaupten). Über den Ursprung des Ausdrucks ,Cirque' beziehungsweise ,Zirkus' ist viel gerätselt worden. Die Vorliebe des Empire-Zeitalters für die römische Antike mag eine gewisse Rolle gespielt haben. Entscheidender war aber sicher Napoleons Sondererlaß vom 8.6.1806, der besagte, daß „Aufführungen von Raritäten und Kuriositäten von nun an nicht mehr als Theater bezeichnet werden"120 dürften. Das ,Amphitheater' fiel unter diesen Erlaß, und die Franconis mußten, wollten sie ihr Unternehmen nicht gefährden, einen neuen Namen suchen. Dem römisch-klassizistischen Geschmack ihrer Epoche entsprechend nannten sie ihr neues Gebäude ,Zirkus'.

4.1 Das militärische Genre: Uniformen und Zirkuslivreen Die ersten englischen Kunstreiter entstammten dem sportlichen und militärischen Bereich. Entsprechend ihrer beruflichen Herkunft trugen sie nicht die üblichen Rhingrave- und Puffen-Kostüme der Jahrmarktskünstler, sondern Uniformen oder uniformähnliche Sportanzüge. Der „weitberühmte Englische Pferd Bereuter" Jacob Bates, der in den sechziger und siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgreich den Kontinent bereiste, erschien bei seinen Auftritten wie zur Parforcejagd gekleidet in einem ( . . . ) Kostüm nach Art der Piköre: rotes einreihiges Jackett mit Umlegekragen und breiten Manschetten, eng anliegendes Beinkleid, das über dem Knöchel endigte, Stiefeletten, auf dem Kopfe die schwarze Pikörkappe, dazu Jagdreiterpeitsche. Auch die Pferde, die Bates, bis zu vier ne120

Kusnezow (Anm.84) S.25.

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beneinander, stehend und voltigierend, ritt, waren jagdmäßig gesattelt und gezäumt.121

Astley selbst war Kavallerist. Seit seinem 16.Lebensjahr Soldat der britischen Armee, diente er im Siebenjährigen Krieg als Dragoner in General Elliots ,Troupe of Light Horse' (15.Leichtes Kavallerieregiment), wo er sich zahlreiche Auszeichnungen erwarb; bei seiner Entlassung aus dem Armeedienst war er immerhin Sergeant-Major. Seine Dragoneruniform mit der leuchtend roten Jacke, den hellen ledernen Kniehosen, gespornten Stiefeln und dem federgeschmückten Dreispitz122 durfte er behalten. Sie wurde das erste Zirkuskostüm. Die Signalwirkung, die von der Uniform ausging - ihre bunte Farbe und das metallische Glitzern der goldenen Knöpfe, Tressen und Epauletten - prädestinierte sie geradezu für den artistischen Auftritt, dem sie gleichzeitig eine bislang unbekannte Seriosität verlieh. Die Uniform war Ausdruck der engen Beziehung der Kunstreiter zu militärischen Kreisen. Reiter, die bei den Streitkräften besonders populär waren, erhielten aus dem Garnisonsregiment ihres jeweiligen Gastspielorts eine Abordnung von Paukern und Trompetern zugestellt, die ihre Umzüge und Vorstellungen musikalisch begleiteten. In Deutschland soll sich dieser Brauch bis etwa 1860 erhalten haben.123 Der Wiener Hof, einer der glanzvollsten seiner Zeit, bezeugte seine Anerkennung für die Pferdekünstler Hyam, de Porte und Mahyeu dadurch, daß er ihnen das Privileg verlieh, bei ihren Paraden durch die Stadt die kaiserliche Fahne zu entrollen zu dürfen, „vor welcher, wenn der Weg gerade an einer Militärwache vorbeiführte, diese pflichtschuldigst ans Gewehr zu treten hatte"124. Daß bei der allgemeinen Begeisterung für die Kunstreiterei bald viele Jahrmarktsakrobaten und ,Fahrende' - soweit sie es sich finanziell leisten konnten - auf Pferde ,umsattelten', ist verständlich. 1793 mußte der Engländer Astley aufgrund der Revolutionsereignisse sein Pariser „Amphitheatre Anglois" aufgeben. Sein Nachfolger, der aus Italien stammende Artist Antonio Franconi, ursprünglich wohl einer jener „Allerweltskünstler, die oft Dresseure, Spaßmacher, Jongleure und Gaukler in einer Person waren"125, übernahm mit der Leitung dieses ersten französischen Zirkusunternehmens zugleich Astleys militärisches Auftreten. Er ließ das Gerücht verbreiten, er wäre einst 121

Haiperson (Anm.18) S.37. Vgl. Henry Thetard: La merveilleuse histoire du cirque. 2.Aufl. Paris 1978. S.35. 123 Ebd. S.102. 124 Halperson (Anm.18) S.38f. 125 Kusnezow (Anm.84) S.21. 122

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italienischer Offizier gewesen, und betrat die Manege nie anders als in „Gardeuniform und Dreispitz mit Federbusch"126; letzterer war allerdings von auffallend unsoldatischer Größe (Abb.2). Der fingierte militärische Rang sollte offenbar das Tragen der Uniform legitimieren. Mit Franconi wurde es bei den Artisten zur Regel, daß der Prinzipal - ungeachtet seiner Herkunft - in Offiziersmontur erschien: Er trug seine Uniform und den Dreispitz mit dem Federbusch nicht, weil er, wie seine Biographen annahmen, ein Gardeoffizier war, sondern weil er als Prinzipal an der Spitze einer Gesellschaft von Akrobaten stand. Auf seinen Epauletten konnte nur das Zeichen des Amphitheaters von Temple prangen!127

Nach dem Vorbild des Vaters traten auch die Söhne, Laurent und Henri Franconi, stets als Zirkusgeneräle auf, ebenso Christoph de Bach, der auf dem Wiener Prater 1808 den „Circus Gymnasticus" errichten ließ. Auf einem Stahlstich erscheint der „stets in eine prächtige Phantasieuniform gekleidete Mann"128 in einem Galafrack mit goldener Lorbeerstickerei und pompösen Generalsepauletten.129 Wie sehr sich die Artisten mittlerweile mit der Soldatentracht identifizierten, zeigt das Beispiel des Kunstreiters Franz Weitzmann, der um 1800 mit einer kleinen Gesellschaft Deutschland und Holland bereiste: Er war die personificirte Eitelkeit, das Prototyp eines Kunstreiter-Directors alten Schlages - eines alten ,Bankisten', der stets StallmeisterUniform trug und den keines seiner Kinder je in Civilkleidern gesehen hat. Damit die Uniform ,prall' sass, trug er ein Corsett unter derselben, das er Abends beim Schlafengehen auf das denkbar engste Minimum zusammenschnürte und sich die Füsse mit Leinwandbinden ebenfalls fest einschnürte, damit ihm seine eleganten, überaus knappen Reiterstiefeln bei Tage weniger unbequem werden sollten.130

Pseudomilitärisch wie der Prinzipal gab sich in der Frühphase des Zirkus fast das gesamte männliche Personal. Die Stallmeister, die in der Mitte der Manege standen und mit einer langen Peitsche den Lauf der Pferde dirigierten, „präsentierten sich in Uniformen, deren Zuschnitt und Farbe dem Geschmack des einzelnen überlassen blieben, weißer 126

Ebd. S.20. Ebd. S.36. 128 August Heinrich Kober: Zirkus Renz. Der Lebensroman des alten Renz. Wien 1950. S.32. 129 Vgl. Haiperson (Anm.18) S.79. 130 Saltarino (Anm.8) S.217.

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Lederhose und mächtigen Kanonenstiefeln"131. Nicht anders kleideten sich die Dresseure. An Reitern und Akrobaten hingegen sah man am häufigsten [... ] taillierte Jacken im Militärschnitt, kombiniert mit weißen, enganliegenden Hosen, die bis zu den Knöcheln reichten und von breiten Schärpen mit Goldfransen zusammengehalten wurden oder einen von oben bis unten zugeknöpften Frack nach Uniformart mit prächtigen Epauletten, dazu eine weiße, enganliegende Hose aus Sämischleder und Lackstulpenstiefel"132.

Charakteristisch für das Zirkusrepertoire im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts waren Darbietungen, die direkt dem militärischen Alltag abgeschaut waren und den Soldaten schmeichelten. Ein obligatorisches Springerkunststück war der „Bataillesprung über die Kavallerie"133 oder Infanterie. Der Sprungkünstler Finardi zeigte einen Salto über 24 Grenadiere, die Spalier bildend, die Gewehre hochhielten und im Augenblick des Springens eine Platzpatronensalve abfeuerten.134 Der berühmte Seiltänzer Ravel führte zu Beginn des Jahrhunderts Nationaltänze in der Kleidung „eines Husarenoffiziers mit Dreispitz und Sporenstiefeln"135 aus, während Ernst Renz, der Begründer des ersten deutschen Zirkus von Weltrang, um 1835 eine militärische Verwandlungsszene auf dem Drahtseil zum besten gab: Er vertauschte sein Tänzerkleid mit einem Uniform-Frack, machte auf dem Gewehr die Griffe des Exercitiums durch, lud es und feuerte, und was solche Künste noch mehr sind".136

Spaße in und mit der Uniform waren allerdings nicht erlaubt. Der Artist in ,Montur* hatte das Soldatentum (des Landes, in dem er auftrat) zu glorifizieren und durfte es niemals wagen, es der Lächerlichkeit preiszugeben.137 Als der englische Kunstreiter Andrew Ducrow 1820 in Frankreich ein Gastspiel absolvierte, während dem er sich unter 131

Halperson (Anm.18) S.43. Ebd. S.47. 133 Zit.n. Schausteller, Gaukler und Artisten. Schaubudengraphik der Vormärz-Zeit. 2 Bde. Hrsg.v. Hermann Schardt. Essen 1980. Bd.l. Kat.157. 134 Vgl. Kusnezow (Anm.84) S.49. 135 Saltarino (Anm.14) S.36. 136 Raeder (Anm.16) S.15. 137 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Artisten immer wieder mit einem ,Uniformverbot' belegt, weil sich Angehörige des Militärs verunglimpft fühlten. Die Verschärfung der Zensur im Wilhelminischen Reich führte zu einer Häufung der Beanstandungen. Im Jahr 1898 beklagte ein Mitarbeiter des „Artist", „[...] dass in Berlin ein Komiker, der unter anderem auch eine Officiers-Type auf die Bühne brachte, dieses resp. das TVagen der Uniform behördlicherseits untersagt wur132

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anderem als „Le soldat frangais" produzierte, fühlte er sich dazu veranlaßt, eigens zu betonen: When M. Ducrow adorns himself with the French uniform in any of his exercises, this has always been to honor it with a victory - as is proved by the one he obtained in the Cirque de Brotteaux, while wearing the uniform of a French lancer, against three cossacks whom he fought with valor and completely routed.138

Aus den nach realen Vorbildern geschneiderten Uniformen entwickelte sich ein uniformähnlicher Kostümtyp, der für die männlichen Kunstreiter und Akrobaten des frühen 19. Jahrhunderts ebenso charakteristisch war wie ehedem die Puffen- und Rockhosen-Kostüme für die Gaukler des 18. Jahrhunderts. Enganliegende, meist helle Hosen zu knappen, taillenkurzen Spenzerjacken aus buntem Tuch erschienen noch bis in die vierziger Jahre auf Zirkusgraphiken als gebräuchlichste Garderobenstücke (Abb.3). Die langen Pantalons aus Trikotstoffoder Nanking139, die um 1795 bei den Artisten wie beim Militär endgültig die Kniehosen verdrängten, modellierten die männlichen Beine so plastisch, daß keine Kontur verborgen blieb. Seit etwa 1815 fanden sich daneben auch gemäßigtere Hosenbeine oder gar „Pluderhöschen aus weißem Zeug"140, weite, orientalisch wirkende Beinkleider, die an den Knöcheln zusammengebunden wurden.141 Ihren unverwechselbaren Zirkuscharakter erhielten diese halb realistischen, halb phantastischen Gaukleruniformen durch einige Accessoires, die unweigerlich die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen mußten (Abb.3). Altertümlich wirkende Halskrausen und Spitzenkragen fielen auf die Schultern herab; um die Taille schlang sich meist eine Schärpe, de". (Hans Stark: Kunst und Politik. In: A. Nr.717. Jg. 16 (1898)). Im gleichen Jahr meldete das Blatt die Bestrafung des Leiters der „Ersten Wilhelminischen Matrosen-Capelle": „Während die Mitglieder die ähnliche Uniform von Matrosen trugen, war der Capellmeister H. mit der Uniform eines Deckofficiers bekleidet. Wegen unbefugten Tragens einer Uniform wurde H. vom Schöffengerichte zu 6 Mark Geldstrafe verurtheilt." (Aus dem Künstlerleben. In: A. Nr.712. Jg.16 (1898)). 138 Zit.n. Arthur H. Saxon: The Life and Art of Andrew Ducrow and the Romantic Age of the English Circus. Hamden, Conn. 1978. S.99. Siehe auch S. 78f. 139 Dicht gewebter Kattun aus einer rötlichgelben chinesischen Baumwollsorte, benannt nach der Stadt Nanking. 140 Halperson (Anm.18) S.42. 141 Offensichtlich handelte es sich hier um eine Nachbildung der sogenannten Kosakenhosen, die 1814 während der Friedensfeiern in London (dem Sitz der Herrenmode) von den Kosaken des Zaren in Mode gebracht wurden. Die Kosakenhosen waren wie die der Akrobaten im Bund stark gefältelt und hatten weite, knöchellange und im Saum abgebundene Hosenbeine. 48

deren Farbe einen leuchtenden Kontrast zum übrigen Kostüm bildete. Den größten Schaueffekt besaßen mit Sicherheit die Kopfbedeckungen: Auf dem Kopfe trugen die Reiter entweder ein Sammetbarett mit weißer hochstehender Straußenfeder oder den sogenannten Türkenbund, einen mächtigen, mit großen Federn garnierten Turban. In gewissen Piecen traten an deren Stelle Helm, Grenadierhaube, Zwei- und Dreispitze, die [... ] stets mit mehr oder minder reichen Federbüschen und Schwungfedern geziert waren [... ].142

Noch bis zum heutigen Tag hat sich im Zirkus der Brauch erhalten, Musiker, Stallknechte, Platzanweiser und Requisiteure mit einer Livree nach Art der Militäruniform auszustatten. Als Requisiteure beorderte man im 19. Jahrhundert gewöhnlich männliche Artisten, die gerade nicht im Einsatz waren. Die Uniform wurde in diesem besonderen Fall Von der Zirkusdirektion zur Verfügung gestellt. Während der Vorstellung ihrer Kollegen mußten die ,Uniformierten' rund um die Manege an der Barriere Aufstellung nehmen und diesen, falls erforderlich, Hilfestellung leisten sowie Geräte zureichen. War eine Nummer beendet, hatten sie die Manege wieder aufzuräumen und für die nächste Darbietung zu präparieren. Das ,Uniform-Stehen', das sich in den allerersten Zirkustagen etablierte, blieb bis ins 20. Jahrhundert eine Pflicht, die ausdrücklich in Artistenverträgen fixiert wurde. So hieß es um 1900 in einem Kontrakt des Pariser „Nouveau Cirque": Der Artist... verpflichtet sich, mit größter Aufmerksamkeit sämtliche Zirkusarbeiten auszuführen und gemäß dem Brauch, der sich in allen Pferdetruppen eingebürgert hat, die Manege in Ordnung zu bringen, sie für die Vorstellung vorzubereiten und den Teppich aufzulegen, die ihm ausgehändigte Uniformlivree zu tragen und in jeder Vorstellung sich als Uniformierter an der Barriere einzufinden. Der Artist, in die vorgeschriebene Uniform gekleidet, hat stets tadellos frisiert und rasiert zu sein, er ist verpflichtet, Lackschuhe, weiße Krawatte und tadellos reine, gestärkte Wäsche zu tragen.143

Die ,Uniformierten' repräsentierten den Zirkus, an dem sie auftraten; am Zustand ihrer Livreen konnten die Zuschauer den Gesamtzustand eines Unternehmens ablesen. Ihre Einheitskleidung diente zugleich dem Zweck, optisch ein verbindendes Moment zwischen den unterschiedlichen Nummern zu schaffen. In die besonderen Farben ihres Zirkus gehüllt und zu malerischen Gruppen postiert, fungierten sie 142

Halperson (Anm.18) S.43. Zit.n. Kusnezow (Anm.84) S.162.

143

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praktisch als ,lebende Dekoration'. Sie ersetzten die fehlende Ausstattung und erzeugten eine festliche Atmosphäre, durch die sich die Wirkung eines artistischen Auftritts wesentlich erhöhte. Wenn sie etwa beim Erscheinen eines ,Stars' oder des Prinzipals Spalier standen und so deren Ausnahmestellung unterstrichen, forderten sie, wie dies in einer Rezension aus dem russischen „Circus Ciniselli" anklingt, den Applaus geradezu heraus: Die Stallmeisterdienste verrichtenden Artisten waren zum Theil in rothe Fracks und weisse Beinkleider, zum Theil in blaue Costume gekleidet, also in den russischen Landesfarben Weiss, Blau und Roth. Das von den Artisten gebildete Spalier durchschreitend erschien der Director behufs Begrüssung des Publicums in der Manege, wurde [... ] mit stürmischem Jubel empfangen und musste, durch den Applaus veranlasst, immer wieder in der Manege erscheinen.144

4.2

Trikots: Die Illusion des nackten Körpers

Die neben den Uniformen folgenreichste Neuerung für die Artistengarderobe bestand in der Einführung marmorweißer und fleischfarbener Trikots zu Ende des 18. Jahrhunderts. Diese dehnbaren und anschmiegsamen Kleidungsstücke aus gewirkter Maschenware, die wie eine zweite Haut anlagen, dienten dazu, den Körper nackt aussehen zu lassen, ohne daß er es tatsächlich war. Eine reale Entblößung von Leib und Beinen war bei öffentlichen Auftritten noch bis zum Beginn unseres Jahrhunderts undenkbar und unter Strafe gestellt. Von zeitgenössischen Stichen und Gemälden, die Artisten oft in trikotloser Nudität darstellen, darf man sich nicht täuschen lassen: es handelt sich hier lediglich um künstlerische Idealisierungen. Ein Trikotkostüm war in der Regel zweiteilig. Das Beintrikot (eine Art Strumpfhose) traf in Höhe der Taille mit dem Leibtrikot zusammen. Ein kurze Hose oder eine Schärpe kaschierte das illusionsstörende Aufeinandertreffen der beiden Kleidungsstücke und diente gleichzeitig der Befestigung des Beintrikots. Für besonderen Bedarf - etwa für die skandalumwitterten ,Nacktauftritte' des 19. Jahrhunderts - wurden auch einteilige ,akademische' Trikotanzüge angefertigt, die gewöhnlich wattiert waren, um körperliche Mängel auszugleichen (Abb.22). Man verarbeitete meist Woll- oder Baumwollgarne. Die feineren Seidentrikots, die eine ungleich bessere Paßform hatten, waren noch bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts so kostspielig, daß sie nur für besser verdienende Unterhaltungskünstler in Betracht kamen. 144

Circusbrief aus St.Petersburg. In: A. Nr.764. Jg.17 (1899).

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Das Aufkommen der Trikots hing mit der allgemeinen Reform der Bühnenkostüme im 18. Jahrhundert zusammen. Die zunehmende Forderung nach Realismus verband sich dabei mit einem neuerwachtem Interesse an der Antike - ausgelöst vor allem durch die sensationellen Ausgrabungsfunde, die in Pompeji und Herculaneum seit den dreißiger Jahren zutage gefördert wurden. Die pompejanischen Fresken, Statuen und Keramiken zeigten nackte oder nur in leichte Tunika- und Togagewänder gehüllte Menschengestalten, während die herkömmliche antike Bühnengarderobe immer noch stark an der höfischen Mode orientiert war. Allmählich empfand man den pseudoantiken Pomp der Theaterhelden - ihre Reifröcke und Tonnelets145, Helme und Federbüsche - als Diskrepanz und begann sie durch eine realitätsgerechtere Kleidung zu ersetzen. 1794 notierte die Wiener Volksschriftstellerin Caroline Pichler in ihren Lebenserinnerungen: Die römischen und anderen steifen Costumes, die Reifröcke etc. etc. verschwanden vom Theater; die Natur wurde aufs treu'ste nachgeahmt; fleischfarbene Tricots umhüllten Arme und Beine [... ]".146

Ihre Aufzeichnung gilt als einer der ersten Belege für die Verwendung des Wortes ,Tricot' im Bereich des Theaters, obwohl dort diese Art von Kleidung mit Sicherheit schon länger in Gebrauch war.147 Bei den Artisten war die Einführung der Trikots ebenfalls mit der Darstellung antiker Sujets verbunden. Seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts ist von englischen Kunstreitern überliefert, daß sie gelegentlich in anliegender, marmorfarbener Kleidung nach dem Vorbild griechischer und römischer Kunstdenkmäler als ,Lebende Statuen' posierten.148 145

Frz. wörtl. Tönnchen. Kurzer Reifrock des männlichen Tänzer- und Sängerkostüms im 18. Jahrhundert, das sich in Nachahmung der römischen Kriegstracht entwickelt hatte. 146 Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben (1769-1843). 4 Bde. Wien 1844. Bd.l. S.207. 147 Als Vorläufer des Trikots gelten die sogenannten ,calec,ons de precaution', eine Kombination aus Strümpfen und Unterhose (in Strickstoff), die angeblich um 1730 von der Tänzerin Camargo eingeführt wurden, als sie den bis dahin üblichen knöchellangen Reifrock auf Wadenlänge verkürzte. Die ,Unterhosen der Vorsicht', seit 1745 allgemein Pflicht für die Pariser Tänzerinnen, waren bisweilen von fleischrosa Farbe, um den Eindruck von Nacktheit hervorzurufen. (Vgl. Romi (d.i. Robert Miquel): Histoire pittoresque du pantalon . Paris 1979. S.36-46.) 148 Die Verbreitung, wenn nicht gar Erfindung dieses Genres wird einer gewissen Emma Harte, nachmals Lady Hamilton (1765-1815), zugeschrieben, die sich bereits 1781 für den englischen Scharlatan Dr. Graham als Göttin Hygeia produziert haben soll. Goethe sah die Posendarstellerin sechs Jahre später auf seiner 51

Das früheste uns bekannte Bilddokument eines Artisten in Trikots ist ein Gemälde des Schweizer Künstlers Heinrich Freudweiler (175595), „Auftritt der Kunstreitergesellschaft des Herrn Balp in Zürich" (Abb.4), das wahrscheinlich im Jahr 1783 entstand, auf jeden Fall aber vor 1795.149 Der englische Reiterprinzipal präsentiert sich auf einer bretterumzäunten Freifläche vor überfüllten Zuschauerrängen in einer malerisch-statuarischen Pose mit kunstvoll angewinkelten Annen und selbstgefällig gespreizten Beinen. Sein Pferd hat sich nicht weniger pittoresk neben ihm niedergelassen. Offenbar hat Balp gerade eine Reitdarbietung beendet oder ist im Begriff, eine solche zu beginnen. Vom Hals abwärts ist er in einen marmorweißen Trikotanzug gezwängt, der ihn den Zeitgenossen unverkennbar als Statue auswies. Anders als die meisten seiner Kunstreiterkollegen trägt er dabei nicht mehr die üblichen Kniehosen und Strümpfe, sondern zukunftsweisende Pantalons.150 Jeder Zoll der Haltung Balps signalisiert ein geradezu narzistisches Vergnügen an der Exhibitionierung des wohlgestalteten Körpers, dessen Umrisse durch die Knappheit des Trikots plastisch herausgemeißelt scheinen. In den fasziniert starrenden Blicken des Publikums kommt die Attraktivität des Kostüms überdeutlich zum Ausdruck; es ist eine echte ,Schau'-Garderobe. Auch die Accessoires zeigen ein typisch artistisches Gepränge. Für den Farbakzent der ,MarmortKleidung sorgt ein breiter, leuchtend roter Schal mit Goldfransen, der nach Art eines antiken Feldherrnmantels von der linken Schulter herabfällt. Die Manier, in der Balp dieses dekorative Requisit um seine Taille drapiert hat, offenbart allerdings weniger historisierende Absichten als Effekthascherei. Ein weiterer Blickfang ist der gigantische, mit Straußenfedern garnierte Strohhut, ein Relikt aus der pomphaften Heldenstaffage des Barocktheaters. Der phantastische Kopfputz bildet hier einen gewissen optischen Ausgleich zur ungewöhnlichen Entziert haben soll. Goethe sah die Posendarstellerin sechs Jahre später auf seiner italienischen Reise im Hause ihres zukünftigen Gatten, des englischen Gesandten Sir William Hamilton. (Vgl. Goethe: Die italienische Reise. Eintragungen vom 16.3. und 28.5.1787. (Anm.107) Bd.ll. S.209 u. 331). 149 1783 ist ein Auftritt der Kunstreitertruppe Balp in Zürich bezeugt. (Vgl. Fritz K. Mathys: Circus. Faszination gestern und heute. Aarau, Stuttgart 1986. S.15f). Für eine Datierung auf die achtziger Jahre sprechen außerdem Kleidung und Frisuren der dargestellten Zuschauer. 150 Ein anonymer Stich aus dem Jahr 1789 zeigt John Astley, den Sohn des Zirkusgründers, in einem ganz ähnlichen Kostüm, aber noch in Kniehosen, die offenbar aus TYikotstoff gefertigt waren. („Young Astley on Horseback". Aquatinta. Theatre Museum, London).

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blößung des Kunstreiters: er läßt ihn trotz seiner trikotierten Nacktheit nicht unbekleidet erscheinen. Zwar waren auch die Jahrmarktsakrobaten seit Jahrhunderten in einer enganliegenden Garderobe aufgetreten, aber nie hatten sie dabei ihren Körper derart bewußt und unverblümt zur Schau gestellt. Neu an der Aufmachung Balps war außerdem, daß sie keine abstrakte Kostümierung von auffälliger Form und Farbigkeit mehr war, sondern daß sie dem Publikum eine konkrete Rolle signalisierte. Der Kunstreiter erschien als Statue, wobei ihn diese Fiktion moralisch überhaupt erst dazu berechtigte, sich quasi nackt vor der Öffentlichkeit zu produzieren. Über das Auftreten von Artistinnen in ,antiken' Trikotkostümen ist vor Beginn des 19. Jahrhunderts kaum etwas bekannt. Witkowski erwähnte eine Seiltänzerin namens „Zephirine", die um 1800 im Pariser „Theatre de la Montansier" (dem späteren „Cafe de la Paix") „ä peu pres dans le costume de Venus sortant de l'onde"151 erschien, also offenbar in einer ähnlich freizügigen Garderobe wie Balp. Kunstreiterinnen waren im 18. Jahrhundert selten, der Umgang mit Pferden wurde anscheinend zunächst als männliche Domäne empfunden.152 Dies änderte sich, als die Reiterdarbietungen durch den Einfluß des Zirkus ihren sportlichen Charakter einbüßten und zunehmend theatermäßig gestaltet wurden. In „Posen und Attitüden auf galoppierendem Pferde", „Grazieübungen" und „Tanzschritte(n) mit einem Schal"153 waren nun vermehrt Vertreterinnen des schönen Geschlechts zu bewundern. Eines der ersten Kunstreiterinnen-Portraits ist Carle Vernets Gemälde „Exercice de Franconi". (Ein kolorierter Stich nach dem Original kann in der Pariser Nationalbibliothek besichtigt werden.) Es entstand im Jahre 1802 und stellt wahrscheinlich Catherine Cousy dar, eine Schwiegertochter des Pariser Zirkusprinzipals. Graziös mit einem Bein auf dem Rücken ihres springenden Pferdes balancierend, produziert sich die Artistin hier in der „Pose der Siegesgöttin"154, einer für die Artistik um 1800 typischen ,schönen Stellung*. Zur statuenhaften Attitüde paßt die pseudogriechische Aufmachung. Das Haar ist ,ä la greque' frisiert; das extrem kurze, extrem 151

Gustave-Joseph Witkowski/Lucien Nass: Le nu au thoätre depuis l'antiquite jusqu'ä nos jours. Paris 1909. S.134. 152 Auf einem Ankündigungszettel der Kunstreitergesellschaft Hyam aus dem Jahr 1775 wird eine „Jungfer Masson" als „die einzige Reiterin dieser Epoche" angepriesen. (Zit.n. Kusnezow (Anm.84) S. 12). Diese Behauptung war sicher stark übertrieben, bezeugt aber die Ausnahmeerscheinung von ,Pferdekünstlerinnen' zu Beginn der Zirkusära. 153 Ebd. S.30. 154 Th6taid (Anm.122) S.62.

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dekolletierte Gewand im Tunikastil, das zudem transparent ist, verbirgt die plastische Schönheit des fleischfarben trikotierten Körpers an keiner Stelle. Für die Artistinnen hatte die Einführung der künstlichen Haut weitreichende Folgen. Dank der Beintrikots, die Kniehosen und Strümpfe ersetzten, kamen sie nun erstmals ohne männliche Kleidungsstücke aus. Sie legten allmählich ihre gepufften Oberschenkelhosen ab und übernahmen die verkürzten Röcke der Balletteusen, die noch weit über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus ihre charakteristische Auftrittsgarderobe blieben (Abb.5, 7). Auch die Darstellung ,Lebender Statuen' verlor nach der Epoche des Klassizismus nicht an Bedeutung. In Anbetracht der zunehmenden Prüderie des 19. Jahrhunderts erwies sich das Genre, das es den Artisten erlaubte, sich mehr oder weniger ,trikotnackt' zu präsentieren, als wahrer Publikumsmagnet für Zirkusse, Jahrmarktsbuden und Varietes. Die künstlerische Weiterentwicklung der plastischen Posen' und ihre endgültige Etablierung als eigenständiges artistisches Fach wird dem englischen Zirkuskünstler Andrew Ducrow (1793-1842) als Verdienst zugeschrieben.155 Ducrow war der stilprägende und mit Sicherheit am meisten kopierte Artist seiner Zeit. Nach dem Tode von Astley junior im Jahr 1821 übertrug man ihm die Leitung des Londoner „Royal Amphitheatre". Er war nicht nur ein äußerst kreativer und geschickter Kunstreiter und Akrobat, sondern überdies ein talentierter Mimiker, Tänzer und Kostümdesigner156, der seine vielseitigen Fähigkeiten konsequent für eine Theatralisierung der zirzensischen Künste einsetzte.157 Zu Beginn seiner Karriere fiel Ducrow vor allem durch seine statuarischen ,Poses plastiques' zu Pferde auf. Berühmt wurden seine Gladiatorenposen „taken from Drawings made for Napoleon Buonaparte"158 sowie seine Darstellung des ,Fliegenden Merkurs' nach der 155

Vgl. Saxon (Anm.138) S.201. Vgl.dazu ebd.: „Pierce Egan, in his 1827 memoir, writes of his uniting in one person the talents of stage manager, ballet-master, and designer of all the costumes of his company; and Moncrieff also, in regard to this last employment, tells of his possessing ,no small skill in costume, particularly in female costume, though he did sometimes cut the ladies' petticoats a little to short.' [... ] He was often, particularly during the thirties, credited with designing the presses' for the company - for the opening spectacles and more modest entertainments at the end of the evening's program, as well as for the entrees and his own scenes in the circle - and doubtless he was active in this area on many other occasions which went unnoticed in the theatre bills." (S.185). 157 Von Ducrows ,pantomimes on horseback1, die wirklich theatralische Qualität besaßen, wird in einem späteren Kapitel noch die Rede sein. 158 Zit.n. einem englischen Stich: „Mr. Ducrow the Celebrated Equestrian at Ast-

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Bronzefigur Giovanni di Bolognas. Anfang des Jahres 1828 übertrug er das Genre erstmals vom schwankenden Pferderücken auf ein Podest zu ebener Erde. Als „Living Statue or Model of Antiques" verkörperte er eine ganze Serie berühmter Plastiken und Gemäldefiguren aus dem antiken Themenbereich159, wobei er unaufhörlich von einer Position in die nächste überwechselte und nur jeweils für eine gewisse Zeit zu erstarren schien. Ducrows äußere Erscheinung wird als außerordentlich realistisch geschildert. Er soll bei dieser Nummer ein ungewöhnlich transparentes und straff sitzendes jMarmor1-Trikot getragen haben, das aus der Distanz des Zuschauerraums den Eindruck echter Nacktheit täuschend wiedergab. Fürst Pückler-Muskau, der im Oktober des Jahres 1828 in Dublin eine Vorstellung Ducrows besuchte, vermochte selbst bei genauem Hinsehen nicht die Spur der üblichen Trikothaut zu erkennen. Im 40.Brief seines „fragmentarische(n) Tagebuch(s)" berichtete der Fürst aus der irischen Hauptstadt: Bei meiner Zurückkunft ging ich ins Theater, wo der englische FranconiDucrow die Equilibristerei veredelt, indem er auf bewunderungswürdige Weise bewegliche Statuen darstellt. [...] Du siehst, wenn der Vorhang aufgeht, in der Mitte der Bühne ein unbewegliches Standbild, auf einem hohen Postamente, stehen. Dies ist Ducrow, und kaum begreiflich, wie Tricot so dicht überall anliegen, und so täuschend Marmor, hie und da von einer bläulichen Ader unterbrochen, darstellen kann. Ich glaube auch, daß er größtentheils auf der bloßen Haut bemalt war, und nur da, wo unsere Sitten keine Nacktheit erlauben, mit Tricot sich geholfen hatte. Ueberdem erschien er zuerst als ruhender Herkules, wo das Löwenfell ihm alle Verlegenheit ersparte.160

Daß Ducrow tatsächlich vorwiegend unbekleidet aufgetreten wäre, ist aufgrund damaliger Bühnenkonventionen höchst unwahrscheinlich. Pückler-Muskaus gewagte Vermutung wird jedoch verständlich, wenn ley's Amphitheatre Performing his Roman Defence in the different attitudes of the Gladiators." (1817). British Museum, London. 159 Ein Programmzettel vom 25.August 1828 - der Akt wurde inzwischen als „The Venetian Statue or Living Model of Antiquity" angekündigt - listet 19 verschiedene Posen auf: „1. Hercules struggling with the Nemean Lion, in the 6 well known attitudes. 7. Cincinnatus, the Roman, fastening his Sandals. 8. Hercules throwing Lysimachus into the sea, from Canova's chissel. 9. The Slave Remoleur (the Grinder), sharpening his knife while overhearing the Conspirators. 10. Three of the beautiful Poses of the Fighting Gladiator. 11. The African alarmed at the Thunder. 12. Ajax defying the Lightning. 13. Romulus, from David's Picture of the Sabines. 14. Remus's Defence, from the same. The Representation will conclude with three of the celebrated Positions of the Dying Gladiator." (Zit.n. Saxon (Anm.138) S.151). 160 Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Briefe eines Verstorbenen. 4 Bde. Stuttgart 1831. Bd.2. S.162. 55

wir uns vergegenwärtigen, daß die üblichen Trikotanzüge jener Zeit keineswegs eine realistische Imitation der Haut darstellten, sondern als Kleidungsstücke erkennbar blieben. Selbst Ducrow, der sich so lebensecht als Marmorstatue zu präsentieren verstand, war bei seinen früheren Reiterauftritten weitaus weniger illusionsfördernd in Erscheinung getreten. Angesichts seiner Darstellung römischer Gladiatoren im Jahr 1818 hatte ein feinsinniger Zirkusbesucher den Gebrauch der „ignoble tights" beklagt und ein Kostüm gefordert, das den Eindruck antiker Nacktheit nicht schon von vornherein zunichte machte: With a costume better affecting the nude [...], a Chlamys or Greek coat and some trifling accessoires Ducrow could reproduce with an elegant exactitude the antique Statues of Apollo, Mercury, as well as the Gladiator.161

Mit dem zunehmenden Realismus des 19. Jahrhunderts mehrten sich die tadelnden Stimmen, die auf die Diskrepanz zwischen echter und falscher Haut aufmerksam machten und die Abschaffung des unbefriedigenden Surrogats verlangten. Zu den ersten und entschiedensten Kritikern der Trikots gehörte der französische Schriftsteller Theophile Gautier. Durch ihn erfahren wir, daß die fleischfarbenen Anzüge der Tänzer und Zirkusartisten keineswegs den Nuancen menschlicher Haut entsprachen, sondern gewöhnlich in Schattierungen von kräftig rosa bis zart violett hergestellt wurden. Der unnatürliche Farbton der Trikots stach Gautier besonders an den Kostümpartien unangenehm ins Auge, an denen Stoff und Haut unmittelbar aufeinandertrafen: [... ] lä oü la chair finit commence le maillot qui a la pretention de continuer la chair: pretention absurde; le maillot est, d'ordinaire, rose vif ou violet tendre. Rien n'est plus indecent et plus laid.162

Der häßliche Kontrast konnte durch eine Borte an Halsausschnitt und Ärmelenden, einen kleinen Kragen oder Manschetten gemildert werden. Unvermeidlich waren jedoch die Falten, die das Trikot vor allem an den Ellenbogen, den Knien und im Schritt warf. Das Trikot, klagte Gautier 1846 angesichts einer Aufführung von ,Tableaux vivants' am Pariser „Cirque Olympique", zerstöre durch seine Falten und falschen 161

Saxon (Anm.138) S.83. Thoophile Gautier: Histoire de l'art dramatique en FYance depuis vingt-cinq ans. 6 Bde. Leipzig 1858-59. Bd.l. S.8. Im französischen Sprachgebrauch (seltener im deutschen) wird statt des Begriffs ,Trikot' meist der Ausdruck ,Maillot' verwendet, benannt nach dem Kostümbildner Maillot (gest. 1838), der an der Pariser Oper angeblich Wolltrikots für Tänzer beiderlei Geschlechts eingeführt hat. Vgl. Art. „Maillot". In: Enciclopedia dello Spettacolo. (Anm.4) Bd.4. Sp.1871-72.

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Muskeln die klaren Konturen des menschlichen Körpers und mache damit von vornherein den moralischen und ästhetischen Wert derartiger Schaustellungen zunichte: La moralite d'un pareil spectacle ne peut consister que dans le sentiment harmonieux et dans admiration sereine, excites par la contemplation de lignes pures et des contours suaves: or, le maillot ecrase les formes, fait de plis et des muscles impossibles, et ote toute beaute.163

Seine Kritik an der Konvention der trikotierten Nacktheit gipfelte schließlich in der Forderung, den künstlichen Hautersatzes einfach abzuschaffen. An die Stelle des „Stoffes von unangenehmen Rosa" sollte endlich die Haut selbst treten, die - durch perlweiße Schminke und Puder zu Marmor stilisiert - nicht anstößiger wirken würde: Pourquoi, ä la place de ce tissu d'un rose desagreable, ne pas laisser apercevoir la peau elle-meme, idealisee et ramenee au marbre au moyen d'un leger nuage de poudre de riz ou de blanc de perle? Sanctifies par cette päleur, les formes se developperaient dans leur nudite chaste, et les tableaux vivants atteindraient le but qu'ils se proposent.164

Gautiers konsequent realistische Vorstellungen waren seiner Zeit weit voraus. Er hat die Verwirklichung seines Vorschlags nicht mehr erlebt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen sich ,Nacktauftritte', bei denen die Haut der Darsteller dick mit einer perlig glänzenden Schminke überzogen war, allgemein durchzusetzen.165

Exkurs: Trikots und Mode im frühen 19. Jahrhundert Das Genre der ,Lebenden Statuen', das im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff artistischer Libertinage wurde, war um 1800 von diesem anrüchigen Renomme noch weit entfernt. Dies lag weniger an den Zirkuskostümen selbst als an der Betrachtungsweise der Zuschauer, deren Kleidung und Moral zunehmend prüder wurden. Zunächst unterschieden sich die Artistinnen und Artisten in ihrer trikotierten Nacktheit kaum vom Publikum. Die Männermode huldigte dem Ideal antiker Plastik, indem sie hautenge weiße Pantalons aus Trikotstoff oder Nanking166 vorschrieb, die die Beine zu Marmor stilisierten. Den Frauen war es mit der Französischen Revolution gelungen, sich von den entstellenden Kostümgerüsten des Ancien Regime, 163

Gautier (Anm.162) Bd.4. S.366. Ebd. 165 Siehe S.189f. 166 Siehe Anm.139. 164

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Reifrock und Stangenkorsett, zu emanzipieren. In den Jahren von 1795 bis 1804 trugen sie Gewänder im pseudogriechischen Stil, lose fallende Hemdkleider mit hoher, unter dem Busen angesetzter Taille, tiefem Dekollete und kurzen Ärmeln. Was diese ,antiken' Chemisen in den Augen konservativer Zeitgenossen so skandalträchtig erscheinen ließ, war die Verwendung leichter, transparenter Stoffe wie Mull und Mousseline, unter denen sich der weibliche Körper mehr oder weniger deutlich abzeichnete. Eine wirklich modische Frau gab sich unter Kleidern nackt, das heißt, sie verbannte die übliche Unterwäsche und begnügte sich mit hautfarbenen Trikotstrumpfhosen oder -pantalons. Von den Auftrittsgewändern der Artistinnen unterschieden sich die Alltagskleider im wesentlichen nur durch die Rocklänge. Den modischen Enthüllungen des weiblichen Körpers war jedoch nur eine kurze Dauer beschieden. Napoleon, der an der Indezenz der neugriechischen Toiletten wenig Gefallen fand, propagierte, seitdem er sich 1804 zum Kaiser gekrönt hatte, statt der durchsichtigen Gewebe wieder blickdichte, höfisch prunkvolle Samt- und Seidenstoffe. Es gelang ihm damit zugleich, die französische Seidenindustrie anzukurbeln, die durch die Bevorzugung der meist aus England importierten Baumwollgewebe schwere Einbußen erlitten hatte. Unter seiner Regierung kehrte auch das Stangenkorsett in die Frauenmode zurück, die nun zunehmend wieder konservative, verhüllende Formen annahm. Diese Tendenzen verstärkten sich nach der Abdankung Napoleons noch. Sittlichkeit und Scham gehörten in der Restaurationszeit zu den unentbehrlichen Tugenden der bürgerlichen Frau, die nun bis ins 20. Jahrhundert hinein unter der völlig unnatürlichen Zurichtung ihres Körpers zu leiden hatte.167 Seit Ende der zwanziger Jahre schnürte ein rigides Korsett die Körpermitte zur Wespentaille zusammen und zergliederte die Frau optisch in zwei Hälften: in eine edlere Büsten-Partie und eine weniger edle, da ,unreine' untere Körperhälfte, deren physische Existenz hinter glockenförmig weiten Rockmassen verborgen wurde. Das stetig wachsende Rockvolumen erzielte man zunächst durch eine ebenso wachsende Zahl von Unterröcken, die am Saum versteift waren. 1839 entwickelte ein Monsieur Oudinet-Lutel in Paris die Krinoline, einen Unterrock aus Roßhaargewebe (französisch ,crin'). Als die Rockweite in den fünfziger Jahren weiterhin zunahm, genügten Roßhaarstoffe und -Polsterungen nicht mehr. 1856 kam schließlich die Stahlstreifenkrinoline auf den Markt. Weil diese Konstruktion wie ein riesiger Käfig aussah, gab man ihr in Frankreich den Namen ,Jupe cage', deutsche Spötter nannten sie ,Hühnerkorb'. Den Oberkörper zusammen167

Vgl. Grazietta Butazzi: Der Engel. In: Anziehungskräfte. (Anm.3) S.110-115.

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geschnürt, die Beine in die große Halbkugel ihres Reifrocks gesperrt, befanden sich die Frauen der fünfziger und sechziger Jahre modisch ungefähr wieder in dem Zustand, an dem die Französische Revolution ihren Ausgang genommen hatte. Die Männer hatten inzwischen unter dem Einfluß des englischen Dandytums einen unauffälligen, mäßig weiten Anzug in strengen Farben zu ihrer Standardkleidung gewählt, an dessen Prinzip sich bis heute nichts geändert hat. Die Körperfeindlichkeit, die sich in der allgemeinen Entwicklung der Mode offenbarte, veranlaßte Theophile Gautier 1846 zu der Klage, er lebe in einem „Jahrhundert der Paletots"; die Menschen wären so sehr an den Anblick von Kleidern und Korsetts, Gehröcken und Hosen gewöhnt, daß jemand, der die natürliche, gottgewollte Beschaffenheit seines Körpers offen zu zeigen wagte, wie ein Fabeltier, ein höherer Orang-Utan, ein unerforschtes Vogelwesen erscheinen würde: Helas! en ce siecle de paletots, l'oeil a completement desappris la forme humaine, et il n'est pas mauvais de se rememorer, de temps a autre, les morceaux dont se compose notre anatomie. [... ] On est tellement habitue aux robes, aux corsets, aux twines, aux pantalons, qu'une fois debarrasse de ces accessoires, l'etre humain apparait tout d'abord comme un animal fabuleux, un orang-outang superieur, un ornithorhynque d'un genre inedit, rapporte de l'Australie ou de la Nouvelle-Zelande par quelque navigateur hardi. II faut quelques minutes pour se rendre compte que, sous les manches et les redingotes de tout le monde, il y a des bras et des torses assez semblables ä ceux de ces figures figees dans des poses academiques [... ].168

Der (trikot-)nackte Mensch war zu einer kuriosen Attraktion der Zirkusse und Jahrmärkte geworden. Während die Kleidung der Zuschauer zunehmend verhüllendere Formen angenommen hatte, änderte sich an der antikischen Freizügigkeit der Artistengarderobe nichts. War die Zurschaustellung des Körpers ursprünglich vorwiegend ästhetisch motiviert, so trat nun die erotische Komponente in den Vordergrund. In dem Maße, wie die Mode die untere Körperhälfte der Frau durch immer voluminösere Rockmassen verbarrikadierte, wuchs das Interesse des Bürgers an der ,Trikotkunst' der Artistinnen. Die ,maillots roses', die längst aus der Alltagskleidung verschwunden waren, wurden zum Symbol eines aufregenden Sinneskitzels. Bezeichnend für den Voyeurismus, der in den Zirkussen um sich griff, war ein Vorfall am Pariser „Hippodrome", über den Theophile Gautier am 15.Mai 1848 berichtete. Einige Kunstreiterinnen, die als Phrygierinnen in kurzen Gazekleidchen und Trikots „d'un rose plus ou 168

Gautier (Anm.162) Bd.4. S.365.

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moins vif'169 erschienen waren, bewegten sich für manche Zuschauer, die in Ruhe ,anatomische Studien' betreiben wollten, zu schnell. Auf den allgemeinen Zuruf, langsamer zu reiten, drehten die Mädchen ihre Runden schließlich in der Art „ä laisser aux yeux et aux lorgnettes le temps de se satisfaire"170. Die Exhibition der tabuisierten Frauenbeine war ein erotischer Reiz, der dem Bürger des 19. Jahrhunderts nur von Artistinnen, Balletteusen und Prostituierten geboten wurde. Zwar konnten die Zirkuskünstlerinnen wie die Tänzerinnen die Kürze ihrer Röcke durch die erforderliche Bewegungsfreiheit motivieren, dennoch unterschied sich ihr Renomme kaum von dem einer Kokotte. Wie an den Opernhäusern breitete sich auch im Zirkus eine besondere Art des Mäzenatentums aus, das außerhalb der Manege seine Fortsetzung im bezahlten Liebesdienst fand und für die Habitues ein uneingeschränktes Besuchsrecht in den Garderoben ihrer Schützlinge miteinschloß. Ein Mäzenatentum dieser Art schilderte Honore de Balzac in seiner Novelle „La fausse maitresse" (1841). Die Zirkusreiterin Malaga, die sich in der Manege „in einer weißen Tunika mit goldener Borte und in einem Seidentrikot, das sie zur lebenden griechischen Statue macht"171, produziert, erscheint allein schon wegen dieses Aufzugs prädestiniert als Mätresse. Wie der Titel der Novelle andeutet, erfüllt sie diese Rolle allerdings nur scheinbar, nach außen hin.

4.3 Das mythologische Genre Antike Sujets waren zu Beginn der Zirkusära außerordentlich beliebt. Sie entsprachen dem klassizistischen Zeitgeschmack und erlaubten es den Artisten, sich in größtmöglicher Hüllenlosigkeit zur Schau zu stellen. Nicht weniger bedeutsam war jedoch der mythologische Aspekt des Genres, der den artistischen Darbietungen den Anschein des Wunderbaren und Märchenhaften verlieh. Im Zirkus des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts verwies die Antike gewöhnlich auf die Sphäre des Übernatürlichen. Das antike Fach war hier durchaus vergleichbar mit dem ,style noble' des zeitgenössischen Balletts, dessen Protagonisten stets Götter, Halbgötter und sagenhafte Helden des klassischen Altertums waren. Wenn Artisten sich als ,Lebende Statuen' kostümierten, so verkörperten sie dabei meist zugleich eine mythologische oder allegorische Figur, die zum Charakter der jeweiligen 169

Ebd. Bd.5. S.264. Ebd. S.263. 171 Honor6 de Balzac: Die falsche Geliebte. Dt.Übers.v. Friedrich von OppelnBronikowski. In: Ehefrieden. Novellen. Hamburg 1952. S.48. 170

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Nummer paßte. So erschienen Kraftmenschen vorzugsweise als Herkules, Nacktdarstellerinnen als Venus oder Psyche. Die Mythologisierung der artistischen Darbietung spielte im Zirkus von Anfang an eine wesentliche Rolle, denn die Zuschauer erwarteten - und bezahlten dafür -, daß man sie in Staunen versetzte, daß man ihnen Menschen und Dinge vorführte, die außerhalb der Alltagsrealität standen. Das mythologische Kostüm, das den Artisten in ein Sinnbild bestimmter übermenschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften verwandelte, vermochte dieser Erwartung wie kaum ein anderer Kostümtyp Rechnung zu tragen. 4.3.1 Antike Götter und romantische Luftgeister Seiltänzer und Kunstreiter, die auf schwankender Unterlage gewagte Balancen und Voltigen vollführten, erschienen - ihrem luftigen Genre angemessen - in der Frühzeit des Zirkus vorzugsweise als geflügelte Gestalten: als ,fliegender Merkur', als Windgott Zephyr, als Amor oder Amorette. Charakteristische Kostümattribute all dieser Figuren waren Flügel aus vergoldeter Pappe oder drahtumspannter Gaze, die, am Rücken fixiert und (oder) um die Fesseln geschnallt, plastisch die übermenschliche Fähigkeit des Fliegens symbolisierten. Das mythologische Zubehör schien die Einbildungskraft der Zuschauer damals ebenso ,beflügelt' zu haben wie die Leistungen der Akrobaten. Fürst Pückler-Muskau sah 1829 im Pariser „Cirque Franconi" einen mit den Attributen des olympischen Götterboten versehenen Schlappseilkünstler „dicht vor den Logen mit dem classischen Anstand einer Antike vorüberschweben" und bemerkte enthusiasmiert: Er ist der fliegende Merkur, der von Neuem eine menschliche Form angenommen hat; die Luft ist sein wahres Element, und das Seil nur ein Luxusartikel, um sich damit, wie mit einer Guirlande, zu drapieren.172

Andrew Ducrow, der nach dem Vorbild der berühmten Bronzestatue Giovanni di Bolognas in einer äußerst komplizierten Balancestellung auf der Zehenspitze als ,fliegender Merkur1 zu Pferd posierte, evozierte 1831 folgenden poetischen Bericht des englischen Schriftstellers Tickler: Why, the horse is but the air, as it were, on which he flies. What godlike grace in that volant motion, fresh from Olympus, ere yet ,new lighted on some heaven-kissing hill!' What seems ,the feathered Mercury1 to care for the horse, whose side his toe but touches, as if it were a cloud in the 172

Pückler-Muskau (Anm.160) Bd.2. S.303. 61

ether? As the flight accellerates, the animal absolutely disappears, if not from the sight of our bodily eye, certainly from that of our imagination Ein ähnliches Gleichgewichtskunststück zeigte Ducrow in seiner Paradenummer „Le Bouquet d 'Amour, ou Les Jeux de Zephyre et Cupidon". Als Windgott Zephyr schien er mit seinen großen diaphanen Schmetterlingsflügeln, die am Rücken des Tunikakostüms befestigt waren, wirklich über seinem Pferd dahinzuschweben.174 In einer anderen Szene derselben Nummer agierte Ducrow zusammen mit seiner kleinen Schwester Emily, die sich durch Puttenflügel, Pfeil und Bogen als Amor auswies. Höhepunkt der Darbietung war ein ,Pas de deux' , bei dem der als Zephyr kostümierte Reiter den kindlichen Liebesgott auf seinen Schultern in die Luft hielt.175 Der Reitakt zählte zu Ducrows meistkopierten Zirkusnummern. Variationen davon fanden sich noch in der zweiten Jahrhunderthälfte im Repertorie der Kunstreiter. Die Schilderung eines mythologischen ,Pas de deux1 , der angeblich 1858 im „Circus August Blennow" aufgeführt wurde, kann allerdings nur einen groben Eindruck davon vermitteln, wie die Nummer ursprünglich ausgesehen haben mag: Meister Henderson, der Star der Kunstreiter, schien übler Stimmung zu sein, als er im Gewand eines Götterboten vom Olymp die Arena betrat. Finster musterte er das Publikum, dann sprang er mit nackten Füßen auf die beiden ungesattelten Dänenschimmel, nahm die Stehzügel hoch, die Blechpuster setzten ein, und die Chambriere, die große Peitsche des Stallmeisters, ging den Pferden nach und brachte sie in den richtigen Galopp. Und da flog in die Manege eine süße kleine Libelle. Zartrosa ihr Leib, traumblau die schimmernden Flügel. Das Sylphidchen wirbelte 173

Saxon (Anm.138) S.201. Ducrow, der nicht nur Kunstreiter, sondern auch professionell ausgebildeter Tänzer war (vgl. ebd. S.186f.), hat die Figur des fliegenden Zephyrs vom Ballett übernommen. Schon im Jahr 1796 hatte Charles Louis Didelot in London sein berühmtes mythologisches Ballett „Flore et Z4phyre" kreiert, das vor allem durch die Einführung des Realistischen Fliegens' für Furore sorgte. Waren Tänzer und Schauspieler bislang gewöhnlich auf Pappkartonwolken, die an schweren Seilen hingen, vom Himmel auf- und niedergestiegen, so hingen Didelots Tänzer an fast unsichtbaren Drahtseilen. Die Schwerelosigkeit ihres Fluges illustrierten kleine Goldflügel, die man an ihren Tunikakostümen fixiert hatte. „Flore et Zephyre" hielt sich fast 35 Jahre lang mit unverminderter Beliebtheit im Repertoire der europäischen Tanztheater, bis die antike Mythologie dort mit Taglionis romantischem Ballett „La Sylphide" (1832) aus der Mode kam. Andrew Ducrow und seine Kunstreiterkollegen agierten selbstverständlich ohne Drahtseil. Sie übernahmen nur die Flügelkostüme. 175 Die Nummer ist durch zahlreiche Illustrationen dokumentiert. (Vgl. Saxon (Anm.138) S.94f.)

174

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durch den Sand, und wie von einem starken Luftzug gepackt, wurde es plötzlich auf den Rücken eines der beiden Schimmel geweht. Dort, auf dem mächtigen Pferd hin- und hergeschaukelt, warf es Kußfinger ins Publikum. Dann umtänzelte dieses Nichts, dieser anmutige Luftgeist, die Beine des Stehendreiters, hüpfte von Pferd zu Pferd, stieg in die dargebotene Hand des finsteren Meister Henderson und schwang sich auf die Schultern des Mannes, der mit gegrätschten Beinen auf den beiden galoppierenden Schimmeln Balance hielt.176

Schon in den zwanziger Jahren hatten die zahllosen Nachahmungen von „Le Bouquet de Amour" eine auffällige Vermehrung antiker Flügelwesen bewirkt, unter denen nach Karl Döring die (weiblichen) Liebesgötter dominierten: [... ] die Stehendreiterinnen, namentlich die jugendlichen, wählten gern das Gewand der Amorette, das seine Trägerin wie einen leichten, gaukelnden Schmetterling über dem blumenbestickten Panneau schweben läßt.177

Als strahlende „Amorette" erblickte Ferdinand Freiligrath 1824 die junge Zirkusreiterin Minna Hinne, der er mit seinem Gedicht „Landrinette" ein literarisches Denkmal setzte: [... ] ein Mädchen, stehend auf stolzem Pferde! Sechs, sieben Jahre alt! Mit der kleinen Hand Den Braunen zügelnd! Schimmernd im Gewand Der Amoretten! Lächelnd von Geberde.178

Zwanzig Jahre später, 1844, entdeckte Theophile Gautier auf einem Rummelplatz eine ganz anders geartete Amorgestalt - kränklich, glanzlos, mit verschlissener Garderobe: „Un etre pale, souffreteux, habille en Amour, frissonnant sous son maillot de coton trop large et sous son jupe de vieille gaze fanee"179. Das erbärmliche Erscheinungsbild dieses „Pauvre Amour" war symptomatisch für das Genre, das er vertrat. Die Flügelwesen der antiken Mythologie waren zu jener Zeit an den großen Zirkussen längst aus der Mode gekommen. Elfen, Feen und vor allem Sylphiden, die Luftgeister des romantischen Balletts, hatten ihren Platz eingenommen. 176

Paula Busch: Das Spiel meines Lebens. Ein halbes Jahrhundert Zirkus. Stuttgart 1957. S.22. 177 Karl Döring: Ferdinand Freiligrath. Ein Gedenkblatt zur Hundertjahrfeier seines Geburtstages. In: A. Nr.1323. Jg.28 (1910). 178 Ferdinand Freiligrath: Landrinette.I. 1824. (1838). In: Sämtliche Werke. 10 Bde. Hrsg.v. Ludwig Schröder. Leipzig 1906. Bd.2. S. 109. 179 Gautier (Anm.162) Bd.3. S.187.

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„La Sylphide" war eine Kreation der Tänzerin Marie Taglioni (1804-84), die 1832 die Titelrolle im gleichnamigen Ballett ihres Vaters Filippo verkörperte. Sie etablierte dabei nicht nur den Spitzentanz, der bis dahin lediglich vereinzelt dargeboten wurde, sondern auch das Kostüm, das fortan für Tänzerinnen wie Kunstreiterinnen obligatorisch wurde: ein enganliegendes Mieder, das Hals und Schultern freiließ, dazu einen bis zur halben Wade reichenden Glockenrock aus weißem Mousseline, der dann im Laufe des 19. Jahrhunderts allerdings zunehmend kürzer wurde. Kleine Gazeflügel waren optischer Ausdruck ihrer besonderen Spitzentanztechnik, mit der sie den Anschein erwekken konnte, „als berühre sie aus der Luft nur kurz den Boden, um gleich wieder wegzufliegen"180. Aus kostümhistorischer Sicht war das Sylphidengewand nichts anderes als eine der modischen Silhouette der frühen dreißiger Jahre angepaßte Adaption des antik-mythologischen Flügelkleides. Das Kostüm, das Marie Taglioni 1830 am Londoner „King's Theatre" als Flora in „Flore et Zephyre" getragen hatte, war in der Tat nahezu identisch mit dem der Sylphide von 1832.181 Schon seit den ersten Zirkustagen hatten Kunstreiter und Seiltänzer eine enge Affinität zum Tanztheater erkennen lassen.182 Mit der Uraufführung von „La Sylphide", die den Beginn der großen Ära des romantischen Balletts markiert, wurde dieser Einfluß noch dominierender. Der erstmals im Pariser „Cirque Olympique" präsentierte ,Spitzentanz zu Pferd' verdrängte mehr und mehr die statischen ,Grazieübungen' und ,schönen Stellungen'. Die Artisten verlegten einzelne Pas und sogar ganze Teile aus klassischen Balletten auf Drahtseil und Pferderücken. Besonders populär wurde die Nummer „Schotte und Sylphide", eine Zirkusbearbeitung des Balletts, das Marie Taglioni berühmt gemacht hatte. 1840 in Paris kreiert, war sie noch in den siebziger Jahren im Programm des Berliner „Circus Renz" zu finden.183 Das Fach der Sylphide oder ,Taglioni zu Pferd'184, war in diesen Jahr180

Margot Fonteyn: Vom Zauber des lenzes. Dt.Übers.v. Clemens u. Dorothee Wilhelm-Melden. Rüschlikon-Zürich, Stuttgart, Wien 1981. S.209. 181 Vgl. Cyril W. Beaumont: Five Centuries of Ballet Design. London, New York 1939. S.72. 182 So führte das Programm von Astleys Pariser „Amphitheatre Anglois" 1786 u.a. die Nummer „Le Menuet de Devonshire, exocute par sieur Astley fils" auf, eine unverhohlene „Menuett-Kopie des seinerzeit berühmten Ballettmeisters Vestris" (Kusnezow (Anm.84) S. 19). 183 Vgl. Reeder (Anm.16) S.129. 184 Vgl. dazu Haiperson: „Was haben doch unsere Altvorderen von den unterschiedlichen .Fanny Elsslers' und .Taglionis* zu Pferd zu schwärmen gewußt! (...) Was haben alle diese [... ] Grazien, Feen und Sylphiden, klassische Jüngerinnen Terpsichorens auf dem schwankenden Rücken ihrer Renner, für Enthusiasmus zu wecken vermocht!" ((Anm.18) S.162f.) 64

zehnten für die Kunstreiterinnen so charakteristisch, daß es praktisch zum Synonym für das ganze Genre wurde. Wie verbreitet das Ballettkostüm mit den bunten Libellenflügeln in den Manegen der Jahrhundertmitte war, mag die detaillierte Schilderung einer Zirkusvorstellung in Friedrich Gerstäckers Roman „Der Kunstreiter" (1860) belegen. Auf einem weißen Pony erschien zunächst „Mademoiselle Josephine", [... ] ein kleines, vielleicht siebenjähriges, als Elfe gar phantastisch gekleidetes Mädchen. [... ] Sie trug fleischfarbene Trikots, ein kurzes, leichtes rosa Röckchen von durchsichtigem Stoff, das Kleidchen dabei tief ausgeschnitten, und an den halbnackten Schultern ein Paar buntfarbige Flügel [.••l·185

Bald darauf [... ] sprengte das wunderschöne Weib des Kunstreiters und Seiltänzers in die Arena [... ] leicht geschürzt und in ganz ähnlicher, nur weit brillanterer Kleidung wie ,Mademoiselle Josephine' [...]. Und wie sie dahinflog, siegesgewiß - siegesgewohnt! Das hochgeschürzte leichte Kleid im Winde flatternd, die Locken von dem Luftzug gelöst, mit den zarten Fußspitzen den Sattel kaum berührend, glaubte man wirklich, sie habe Flügel, und wäre kaum noch erstaunt gewesen, das Pferd unter ihr davoneilen und sie ihren Rundzug ohne dasselbe fortsetzen zu sehen.186

In den eher sportlich-nüchternen Zirkusvorstellungen des späteren 19. Jahrhunderts legten die Artisten die mythologischen Attribute der klassischen und romantischen Ära weitgehend ab, ohne daß diese jemals ganz aus den Manegen verschwunden wären. Noch um 1900 konnte man bei den Trapezgymnastikerinnen, den graziösen ,Königinnen' und ,Töchtern der Lüfte', gelegentlich ein veritables Flügelpaar am Rücken ihrer Trikotanzüge schaukeln sehen. „Anca", die Titelheldin einer „Cirkusgeschichte" (ca. 1897) Anton von Perfalls, nahm sich in ihrem „Flügelkleide" am Trapez „wie eine Libelle"187 aus; „sie schien wirklich frei zu schweben, nur von dem sich bewegenden Flügelpaare getragen."188 Thomas Mann läßt seine Romanfigur Felix Krull eine Trapezartistin bewundern, an deren Silbertrikot wie „zur Bestätigung ihres Titels als ,Tochter der Lüfte' ein paar kleine Flügel aus weißem Gefieder angesetzt waren"189. Anders als Perfalls kokette „Libelle" erweist sich 185

Gerstäcker (Anm.15) S. 13. Ebd. S.16. 187 Perfall (Anm.17) S.59. 188 Ebd. S.12. 189 Th. Mann (Anm.73) S.149f. 186

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die Künstlerin „Andromache" - gemäß ihres homerischen Namens als ein Wesen von wahrhaft mythologischer Größe: Sie war kein Weib; aber ein Mann war sie auch nicht und also kein Mensch. Ein ernster Engel der Tollkühnheit war sie mit gelösten Lippen und gespannten Nüstern, eine unnahbare Amazone des Luftraumes unter dem Zeltdach, hoch über der Menge, der vor starrer Andacht die Begierde nach ihr verging.190

4.3.2

,Herkulesse'

Eine besondere Disposition zur mythologischen Überhöhung der artistischen Leistung zeigten die ^starken Männer' oder ,Kraftmenschen'. Man nannte sie auch ,Herkulesse', da sie sich seit Ende des 18. Jahrhunderts vorzugsweise mit den Insignien des sagenhaft starken Halbgottes Herkules präsentierten: mit der ,Herkuleskeule', wallendem (falschen) Bart und Haupthaar und einer ,Löwenhaut'; in der Realität des Zirkus handelte es sich dabei meist um eine Schärpe oder ein spärliches Gewand im stilisierten Raubkatzenmuster, das möglichst viel vom gewaltigen, unter der Trikothaut sich abzeichnenden Muskelspiel preisgab. In einer Zirkusvorstellung der Jahrhundertmitte, die uns Gerstäkkers „Kunstreiter"-Roman schildert, erscheint „Monsieur Charles, ,der kleine Herkules'" dementsprechend „in fleischfarbenen Trikots, mit einem kurzen Löwenfell bekleidet und mit einer Keule in der Hand"191. Ernst Renz produzierte sich um 1835 als „Herkules an der Säule": Im Pantherfell [... ] nahm sich die hohe Figur des dunkellockigen 20jährigen mit den feurigen Augen und der kühnen Adlernase prächtig aus [...], während er seine nach alten Abbildungen einstudierten, .klassischen Attitüden' stellte.192

Noch weit bis ins 20. Jahrhundert gehörte ein mehr oder weniger stilisiertes Löwen-, Tiger- oder Pantherfell zu den spektakulärsten Accessoires der Kraftmenschen, wenngleich sie nun auf ihre frühere wilde Haarpracht meist verzichteten und die Herkuleskeule durch moderne Hanteln und Gewichte ersetzten. Die Mitglieder des Wiener AthletenClubs „Herkules", die sich um 1900 im „Etablissement Ronacher" und an ähnlichen Orten zu produzieren pflegten, legten bei solchen Gelegenheiten „ein recht wirksames Galakostüm" an, „welches die schönen kraftvollen Gestalten vortrefflich kleidet": 190

Ebd. S.151.

191

Gerstäcker (Anm.15) S. 14. Kober (Anm.128) S.84.

192

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Den ganzen Körper umschließt ein anliegendes Trikot, welches nur die Arme freiläßt; den Oberkörper umgibt ein getigertes Fell, welches mit goldenen, durch eine Kette verbundenen Löwenköpfen verziert ist. Ein Hinweis auf den gewaltigen Helden des Alterthums, der dem Klub den Namen gab.193

Seit dem späten 19. Jahrhundert legten sich viele ,Herkulesse' neue mythologische Vorbilder zu und stiegen etwa als ,Samson(, ,Siegfried' oder ,Tarzan' in die Manege. Für gewöhnlich war dies jedoch eher ein Namens- als ein Kostümwechsel. So läßt sich in Signor Saltarinos Novelle „Africanus" die Auftrittsrobe des Athleten „Samson" leicht als phantasievolle Variation der typischen Herkulesgarderobe identifizieren, obwohl ausdrücklich betont wird, es handle sich um ein original „numidisches" Gewand: Sein Costüm war durch und durch correct, bis auf die letzte Spange ein numidisches: es bestand aus schwarzem Sammet, besetzt mit Silbersternen und gehalten von Goldspangen - der Schurz war ein Leopardenfell. Sein krauses Haar war schwarz wie der Sammet und nachtschwarz schauten seine Augen. Die Füße umgaben schwarze Sandalen und seine Hüften umgürtete ein goldener Panzerreif, an welchem eine schwere Keule hing. Diese Keule schwang er so leicht, als sei es eine Reitgerte gewesen.194

Fell, Keule und wilde Haarpracht lassen keinen Zweifel an der wahren Abkunft der Kostümierung aufkommen. Auf die einstmals charakteristische Herkules-Perücke verweisen auch bei einem anderen Athleten die falschen „Samson-Locken, [...] die als traditionelles Symbol der physischen Kraft sein Haupt in dichten Massen umwallt hatten", und die nun „vor ihm auf einem kleinen Tische" lagen. In der Privatsphäre seiner Garderobe glich dieser „Samson", der einer ungarischen Erzählung der Jahrhundertwende entstammt, [... ] mit seinem runden kurzgeschorenen Kopfe [... ] einem gemüthlichen Spiessbürger, der seine Sonntag-Nachmittage mit Kegeln zu verbringen pflegt. Mit seinem Berufscostüm hatte er auch den Stolz des Artisten, die zu seinem Handwerk gehörenden drohenden, trotzigen Blicke abgelegt

193

„Illustrierte Chronik der Zeit". Wien 1893. Zit.n. Hanns Glöckle: Geschichte des Sports. Nach Bildreportagen von 1840-1900. München 1987. S. 114. 194 Saltarino: Africanus (Einem alten Kunstreiter nacherzählt). (Anm.57) S.148. 195 Der Athlet. Nach dem Ungarischen von Emil Abrany. Deutsch von Ludwig Wechsler. In: A. Nr.718. Jg.16 (1898). 67

4.4 Das historische Genre: ,Spanische Kostüme' und Rüstungen Die Verwendung historischer Kostümelemente hatte bei den Artisten eine lange Tradition. Sie kleideten sich altertümlich, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, von dessen Eintrittsgeld ihr Lebensunterhalt schließlich abhing. Als die Kunstreiter zu Ende des 18. Jahrhunderts begannen, in antikisierenden Trikotkostümen aufzutreten, verfolgten sie damit jedoch andere Intentionen als die Jahrmarktsakrobaten mit ihren gepufften Oberschenkelhosen und Federbaretts, die sie der spanischen Hoftracht des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts entlehnt hatten. Artisten, die sich jantik4 kostümierten, taten dies weniger eines phantastisch-historisierenden Effekts wegen als vielmehr, um ihre Person und Darbietung zu mythologisieren und zu idealisieren. Der Kostümhistoriker Winfried Klara hat diesen funktionalen Unterschied zwischen beiden historischen Kostümstilen sehr deutlich formuliert: Antike: das bleibt Mythos, Kolossalität, Feierlichkeit, fernes Ideal. Spanisch, das ist Bewegtheit, Phantastik, Altertümlichkeit, Farbe der Historic.196

Interessanterweise erfuhren die traditionellen ^spanischen' PuffenGewänder der Artisten eben zu der Zeit, als die klassizistischen Kostüme in Gebrauch kamen, ganz unvermittelt eine aktuelle Neubewertung. Beides war eine Folge des aufkeimenden Bühnenrealismus. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war an den europäischen Theatern neben dem antiken Genre das Genre der Ritterstücke populär geworden. Im Bestreben, der historischen Handlungszeit dieser Dramen gerecht zu werden, war man zunächst in Frankreich, später in Deutschland auf das sogenannte ^panische' beziehungsweise ,altdeutsche' Kostüm gestoßen, das schon seit langem zum Fundus der französischen Komödie gehörte.197 196

Winfried Klara: Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung. Entwicklungsfragen des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert. Berlin 1931. S.112. 197 Ein wesentliches Datum für die Verbreitung dieser Bühnenmode in Deutschland war die Aufführung von Goethes „Götz von Berlichingen" durch die Kochsche Schauspieltruppe in Berlin am 12.4.1774. Die Bemerkung des Theaterzettels, man habe „alle erforderlichen Kosten auf die nötigen Dekorationen und neuen Kleider gewandt, die in den damaligen Zeiten üblich war" (Zit.n. Boehn (Anm.104) S.390), offenbart den neuen realistischen Anspruch, der allerdings noch nicht mit den Maßstäben des späteren 19. Jahrhunderts gemessen werden darf. Man beschränkte sich, wie Boehn ausführte, im wesentlichen darauf, das „sogenannte spanische Kostüm" zu übernehmen, das in Frankreich bereits

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Ohne es zu wollen, hatten die Artisten diese neue Bühnenmode in vielen Details vorweggenommen. So erwies sich ihre herkömmliche Jahrmarktsmontur plötzlich als hochaktuelle Auftrittsgarderobe, die nur durch einige ,spanische' Verzierungen - Schulterpuffen, Schlitze und Spitzenkragen - aufgefrischt zu werden brauchte. Der Aufzug des Gauklerkindes Mignon, den uns Goethe beschrieben hat, läßt diese Aktualisierung deutlich erkennen. Mignon trug ihre „Beinkleider mit Puffen" nicht mehr zu einem üblichen modischen Miederteil (Abb.l), sondern sie hatte stattdessen ein „kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln"198 angelegt, das heißt mit Puffärmeln, deren Schlitze mit farbigem Seidenfutter unterlegt waren. Derart modernisiert konnten die Artisten ihr altes Standardkostüm ins neue Jahrhundert hinüber retten, wobei sie natürlich die Kniehosen und Strümpfe durch Beintrikots ersetzten. Im Zirkus des frühen 19. Jahrhunderts entwickelte sich das ^panische Kostüm' allerdings in erster Linie zur Männergarderobe (Abb.5). Der einstmals berühmte Kunstreiter Baptiste Loisset (1793-1863) erinnerte sich, als Knabe 1804 „in spanisches Costüm gekleidet"199 gewesen zu sein. In gleicher Aufmachung debütierte Holteis Romanheld Anton als Violinvirtuose zu Pferd: Anton erschien im spanischen Kostüm; so einfach, daß man genau achtgeben mußte, um an der Gediegenheit der Stoffe den Wert derselben zu erkennen. [... ] Während Anton mit der Rechten den Bogen, mit der Linken die Violine hielt, nahm er abwechselnd bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fuße die Spitze des Sattels, wobei der Oberkörper sich in den zierlichsten Wendungen nach dieser oder jener Seite neigte, ohne doch jemals die männliche Kraft aufzugeben.200

Daß das Kostüm trotz seiner gediegenen Einfachheit einer gewissen Phantastik nicht entbehrte, wird an einer späteren Stelle des Romans durch die komischen Rollen Molieres etabliert war. [... ] Dieses aus Spanien stammende, in Paris französisierte Kostüm kam durch Götz von Berlichingen nun auch auf deutschen Bühnen als ,altdeutsches Kostüm' in Mode. Der Zug des Unechten, im schlimmen Sinne Theater mäßigen, der dem neuen Bühnenkostüm anhaftete, lag außer in der Verquickung alter und neuer Bestandteile verschiedener Moden auch noch darin, daß die Rüstung, die dieses altdeutsche Kostüm ergänzte, nicht dem Mittelalter angehörte, sondern den Pappenheimer Kürassieren des Dreißigjährigen Krieges abgesehen war." (Ebd. S.391ff.) Vgl. dazu auch Goethe (Anm.107) Bd.7. S.124f. 198 Ebd. S.91. 199 Zit.n. Saltarino (Anm.14) S.145. 200 Holtei (Anm.13) S.147f. Die Zeit der Handlung ist um 1820 zu datieren. Holtei bemerkte in dem 1851 erschienenen Roman: „Ich muß nur den Leser bitten, zu erwägen, daß eine Reihe von 30 Jahren verflossen ist, seitdem sich begab, was ich zu erzählen versuche." (S.146).

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deutlich, als der junge Kunstreiter das abgelegte Gewand noch einmal musterte: Anton hatte seinen Spanier an den Nagel gehängt. Er saß wie träumend davor, schaute den Putz an, als ob er staunen müßte, daß er solche Tracht getragen und seine anderen Kleidungsstücke in Händen haltend, zögerte er noch, dieselben wieder anzulegen. [... ] Er betrachtete sein Kostüm wie das eines Fremden: Bin ich es denn, der also aufgeputzt vor Tausenden jetzt eben sein Probestück ablegte?201

Leider hat Holtei Antons Garderobe nicht näher beschrieben, wahrscheinlich, weil das ,spanische Kostüm' ziemlich einheitlich zugeschnitten war. Es handelte sich um [ . . . ] ein geschlossenes Wams und kurze Beinkleider [...], die beide in ganz unmöglicher Weise mit Puffen besetzt wurden. Im übrigen waren die Hauptcharakteristika desselben bei den Herren Krause, bei den Damen der hohe Stehkragen, den wir Stuart-, die Franzosen Medicikragen nennen.202

Nur relativ wenige Zirkusartistinnen zeigten sich noch im traditionellen Puffen-Kostüm, das nun unter der Bezeichnung ,Pagenanzug* firmierte - ein Begriff, der im Zusammenhang mit der Theaterpraxis des späten 18. Jahrhunderts entstanden war, die Rollen junger Pagen mit wohlproportionierten Damen zu besetzen203. Die seit Napoleons Kaiserkrönung um sich greifende Prüderie hatte zur Folge, daß die bauschige Hosenform, die die weiblichen Rundungen von Hüfte und Gesäß künstlich vergrößerte, während die Beine ,trikotnackt' exponiert waren, „nicht recht schicksam" erschien. Das jedenfalls war der Eindruck, den zwei derart kostümierte Gleichgewichtskünstlerinnen auf Holteis Romanhelden Anton machten: 201

Ebd. S. 149 Boehn (Anm.104) S.391. 203 Die heute bekannteste weibliche Pagenfigur aus jener Zeit ist sicherlich die des Cherubim in „Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit" (1784). Beaumarchais bemerkte dazu: „Diese Rolle kann nur von einer jungen, sehr hübschen Frau gespielt werden, da wir an unseren Theatern keine wirklich jungen Männer haben, die ihre Feinheiten spüren. [... ] Im ersten und zweiten Akt trägt er die silberbestickte weiße Kleidung eines spanischen Hofpagen, um die Schultern einen leichten blauen Mantel, sein Hut ist mit Federn verziert." (Pierre Augustin Caron de Beaumarchais: Die Figaro-Trilogie. Dt.Übers.v. Gerda Scheffel. 2.Aufl. Frankfurt/Main. 1982. S.lOOf.) Wir wollen dem Einfluß der Hosenrolle auf die Gestaltung der Frauenkostüme im Zirkus hier nicht weiter nachgehen, da er sich im wesentlichen erst nach Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkbar machte (Siehe S.lSlff.). Festzuhalten bleibt jedoch, daß die Artistinnen niemals ganz mit ihrer Tradition gebrochen haben, männliche Beinkleider zu tragen. 202

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Die eine steht mit dem linken, die andere mit dem rechten Fuß, jede auf einem großen vergoldeten Leuchter. Ihre anderen Beine schweben in der Luft. Mit dem einen Arme halten sie sich umschlungen, der andere hilft balancieren. Sie sind angekleidet wie Pagen oder so etwas. Beide sehr gut gewachsen; es sieht also allerliebst aus, doch find' ich es nicht recht schicksam.204

Die erotische Wirkung der androgynen Pagenkostüme mußte auf den Zuschauer um so beunruhigender gewirkt haben, als die Artistinnen nun meist in einer betont weiblichen Aufmachung erschienen. Sie traten in den verkürzten Röcken der Tänzerinnen auf, und wenn sie sich dabei im altertümlichen Stil produzieren wollten, so begnügten sie sich im allgemeinen mit einigen wenigen ,spanischen' Garnituren. Wie die historische Frauengarderobe der Empirezeit aussah, können wir einem Blatt der französischen Kupferstichfolge „Le Bon Genre" entnehmen, „Forioso, ou La Contredanse sur quatre Cordes", das um 1805 entstand (Abb.5). Die Kostüme der beiden Seiltänzerinnen sind nichts weiter als höchst exzentrische Variationen der zeitgenössischen Damenmode. An den wadenlangen, hochtaillierten Empirekleidern stechen vor allem die extrem tiefen Dekolletagen ins Auge, die auf raffinierte Weise auch die Ärmel miteinbeziehen. Es war wohl der Verzicht auf die jahrhundertelang bewährten kurzen Hosen, der die Artistinnen dazu veranlaßte, oben durch die Exponierung der Brust das auszugleichen, was die Röcke unten an den Beinen verhüllten. Historisierende Motive sind nur sehr zurückhaltend angebracht. Die kleinen geschlitzten Ärmelpuffen, die hochstehenden Spitzenkragen und der gezackte Taillensaum der rechten Artistin sind durchweg Elemente, die auch die modische Frauentoilette der napoleonischen Ära aufwies.205 Der altspanische Charakter der Darbietung kommt im wesentlichen nur durch die Männergarderobe zum Ausdruck. Vor allem die Kleidung des linken Seiltänzers läßt ein auffallendes Bemühen um ein altertümliches Erscheinungsbild erkennen. Renaissancemäßig geschlitzt 204 205

Holtei (Anm.13) S.120. Vgl. dazu Erika Thiel: „Die Mode wurde ebenso widerspruchsvoll wie das napoleonische Zeitalter selbst. Während sie am kaiserlichen Hof einerseits den heroisch-strengen Formen des römischen Cäsarenreiches huldigte, griff sie andererseits auf die dem Wesen der antiken Traditionen völlig fremden Puffe und Schlitze, ja sogar auf die Spitzenkrausen des 16. Jahrhunderts zurück. Schon bei den Krönungstoiletten, die der Maler Isabey entwarf, war das Dekollete1 der Kaiserin und ihrer Hofdamen von einem hochstehenden Spitzenkragen umrahmt, und an den Schultern bauschten sich die Ärmel zu kleinen Puffärmeln auf." (Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3.Aufl. Berlin (DDR), Bremerhaven 1973. S.296). 71

sind nicht nur die gepufften Hosenbeine und Ärmel seiner modisch kurzen Jacke, sondern auch das bauschig darunter hervorquellende Hemd, sogar das Federbarett. Die gezackten Säume von Kragen und Hose sollen offensichtlich Wäschespitze andeuten, ebenso ist auch das Muster an den Ärmelenden des Trikots als Spitzenmanschette zu interpretieren. Mit der tatsächlichen spanischen Hoftracht des 16. Jahrhunderts hatte dieses ^panische Kostüm' kaum mehr gemein als das traditionelle Gewand der Jahrmarktsgaukler. Doch ging es den Artisten des frühen 19. Jahrhunderts auch nicht um die Darstellung einer konkreten historischen Realität. Die altertümelnden Puffen, Schlitze und Halskrausen verwiesen vielmehr auf jene nebelhaft ferne Vergangenheit, die von den Romantikern so häufig mit der märchenhaften Formel „Es war einmal" heraufbeschworen wurde. Das spanische Kostüm stand als Zeichen für das Historische, Altertümliche schlechthin. Die Ritterstücke des zeitgenössischen Theaters, die diese sagenhaft ferne Zeit in Mode gebracht hatte, regten die Kunstreiter überdies dazu an, ,altritterlich Übungen', ,Caroussels', Ringelstechen und Turniere, zu veranstalteten, die bei Adel und Militär auf großes Interesse stießen.206 Besonders spektakulär war die Nummer „Ritter im Feuerregen". Der Reiter erschien hier „in voller Rüstung mit heruntergeklapptem Visier" auf einem eigens abgerichteten Pferd und brannte auf seinem Helm unter großem Getöse ein Feuerwerk ab.207 Zwar büßte das ,Genre Troubadour' vor 1850 erheblich an Popularität ein, doch waren die Rüstungen, die altspanischen und altdeutschen Kostüme angesichts des zunehmenden Historismus aus der Artistengarderobe nicht mehr wegzudenken. Nun waren es allerdings hauptsächlich die Damen, die das Genre - dank der erotischen Qualitäten der kurzen Männerhose - neu zu beleben verstanden und ihrem altbewährten Puffen-Kostüm eine unverhoffte Renaissance bescherten.

206

Der Adel selbst fand Vergnügen daran, vor den Kulissen künstlich angelegter Burgruinen und Ritterschlösser ,mittelalterliche' Turniere in historischen Kostümen abzuhalten. In Laxenburg bei Wien, wo Kaiser Franz einen Turnierplatz hatte errichten lassen, fand 1810 zur Feier des Namensfestes seiner dritten Gemahlin „ein besonders glänzendes Turnier" statt, „wobei er und alle Erzherzöge mitkämpften" (Marie Louise Gothein: Geschichte der Gartenkunst. 2 Bde. Jena 1926. Bd.2. S.404f.) Auch professionelle Kunstreiter wurden in Laxenburg bisweilen eingeladen. „Im Juli 1841 [... ] ging es wieder lebhaft auf dem Turnierplatz zu ... Eine Kunstreitergesellschaft produzierte auf dem genannten Platze ihre Künste unter Anwesenheit des Kaisers und Hofes." (Ebd. S.405). 207 Fonteyn (Anm.181) S. 140. 72

4.5 Das exotische und folkloristische Genre Fremdländisch wirkende Kostümelemente gehörten wie die altertümelnde Staffage zum traditionellen Erscheinungsbild der Artisten. In Zeiten, in denen schon kleinere Reisen ein abenteuerliches Wagnis darstellten, vermochten Phantasiegewänder mit exotischen und folkloristischen Motiven die Neugier der seßhaften Bürger ganz besonders zu erregen - zumal echte Exoten vor Mitte des 19. Jahrhunderts sehr selten waren. Daß sich einheimische Unterhaltungskünstler in weithergereiste Fremde verwandelten, war durchaus nicht unerwünscht, sondern entsprach den Erwartungen des Publikums, das sich leicht und gerne täuschen ließ. In Hector Malots Roman „Sans famille" (1878) wird dieser traditionelle artistische „Etikettenschwindel"208 exemplarisch vorgeführt. Der mit einem Affen und mehreren Hunden einherziehende Tierdresseur Vitalis, der den Knaben Remi als neuen Gefährten aufnimmt, verändert und arrangiert als erstes dessen Kleidung, bis sie schließlich wie die pittoreske Tracht eines Ausländers, in diesem Fall, wie die eines Italieners, aussieht: Gleich nach der Rückkehr in die Herberge holte Vitalis eine Schere aus dem Rucksack, nahm sich die Hose vor und schnitt beide Hosenbeine in der Höhe des Kniees ab. [... ] Da Remis Hosenbeine jetzt am Knie aufhörten, befestigte Vitalis die Strümpfe mit roten Bändern, die er mehrfach kreuzweise um die Knöchel und um die Waden schlang; Remis Filzhut umwickelte er ebenfalls mit Bändern und verzierte ihn mit einem Strauß wollener Blumen.209

Dem verdutzten Eleven erläutert er seine Handlungsweise mit folgender Grundregel artistischen Auftretens: ,Das geschieht, damit du nicht aussiehst wie alle anderen Leute. Wir sind in Frankreich, und ich kleide dich italienisch; falls wir, was möglich ist, einmal nach Italien kommen, werde ich dich dort wie einen kleinen Franzosen ausstaffieren.' Da Remi nicht zu staunen aufhörte, fuhr er fort: ,Wir sind Künstler, Artisten, die durch ihr bloßes Aussehen Neugierde wecken müssen. Wenn wir wie Bürger oder Bauern gekleidet auf die Straße gingen, glaubst du, daß wir die Leute dazu brächten, uns anzusehen und stehenzubleiben? Im Leben ist es eben manchmal unvermeidlich, sich den Anschein von etwas Besonderem zu geben. Das ist unangenehm, aber wir können's nicht ändern.'210 208

Dering (Anm.3) S.38. Malot (Anm.l) S.40. 210 Ebd. 209

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Dresseure, die Tiere aus fernen Ländern mit sich führten, kleideten sich gern in Trachten, die dem jeweiligen Lokalkolorit Rechnung trugen und erhöhten so den exotischen Eindruck ihrer Darbietung. Bären wurden meist aus Rußland, Polen oder der Tscheche! importiert und dementsprechend von Artisten in slawischem Aufzug vorgeführt. Signifikante Merkmale des Bärenführers waren Pelzmütze und .polnischer Rock4, ein langes mantelartiges Gewand mit Pelzverbrämung und Schnurenöder Knebel Verschluß. Dagegen erschienen die Begleiter von Elefanten - die Dickhäuter waren noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine äußerst seltene und vielbestaunte Attraktion - gewöhnlich in orientalischer Aufmachung. Ein Reklamezettel der Kunstreiter- und Seiltänzergesellschaft Jacques Tourniaire aus dem Jahr 1823 kündigt die Dressur eines Elefanten mit „Exercitien nach morgenländischer Art" an. „Herr Tourniaire", heißt es weiter, „wird alles aufbieten, die Darstellung mit der glänzendsten Pracht und dem morgenländischen Karakter und Kostüme getreu aufzuführen"211. Die Ankündigung ist mit einem grob ausgeführten Holzschnitt illustriert, der die „Führerin" des Elefanten, „Dem. Louise Tourniaire", in Turban und sackförmigen ,türkischen Hosen', den üblichen orientalisierenden Attributen, zeigt. 4.5.1 Türken und Orientalen. An der Beliebtheit morgenländischer Gewandung, die lange Zeit als Ausdruck des Exotischen schlechthin galt, hatte sich auch im 19. Jahrhundert nichts geändert. Ein um 1830 entstandener Wiener Holzschnitt (Abb.6) vermittelt nach wie vor ein eher märchenhaftphantastisches als realistisches Erscheinungsbild des Türken. Typische Orientalismen sind die weiten Hosen- und Ärmelformen, die pittoresken Sternchen- und Blütendessins sowie der Turban mit der halbmondförmigen Agraffe. Die modisch knappe Weste mit dem angedeuteten Schnürenverschluß weicht - abgesehen von ihrer ,türkischen' Musterung - in keiner Weise von der der damals üblichen Kunstreiteruniform ab. Das exotische Genre der Artisten entwickelte im Zirkus, wo man um Abwechslung und eine theatermäßige Gestaltung der Programmnummern bemüht war, bald eine größere Vielfalt. Neben dem Türken 211

Zit.n. Julius Markschiess-van Trix und Bernhard Nowak: Artisten- und Zirkusplakate. Ein internationaler historischer Überblick. Zürich, Freiburg i.Br.1975. Abb. 13. Mit den Elefanten - in der Regel waren es indische Arbeitselefanten - kamen zugleich die ersten menschlichen Exoten nach Europa. Die Kornaks oder Mahouts, wie man die indischen Elefantenführer nannte, verfügten nicht nur über große Erfahrung im Umgang mit den Tieren, sondern waren ihres fremdartigen Aussehens wegen gleichzeitig selbst eine Attraktion.

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etablierten sich drei neue Rollentypen: der Indianer, der Chinese und der Mohr - Symbolisierungen der Erdteile Amerika, Asien und Afrika. In allen Fällen handelte es sich um ausgesprochene Bühnenexoten, deren charakteristische Masken- und Kostümmerkmale durch eine jahrhundertealte Theaterpraxis fixiert waren.212 Die tradierten visuellen Symbole machten eine Identifizierung des jeweiligen Typus leicht. Der Indianer war an seiner bunten Federkrone und seinem Federröckchen zu erkennen, der Chinese an Zopf, Mongolenbart und zackenförmigen Gewandverzierungen, der Mohr einfach an seiner dunklen Hautfarbe und schwarzen Wollperücke; seine Kleidung war variabel. Ein realistischer Anspruch ist angesichts dieser starken Stilisierungen noch weniger als beim Türken zu erkennen, dessen Kostüm gegenüber dem der übrigen Exoten noch vergleichsweise lebensecht ausfiel. 4.5.2

Indianer

Den größten Schaueffekt boten die amerikanischen ,Wilden' oder Indianer - ein Genre, das bei Männern wie Frauen gleichermaßen beliebt war.213 Der farbenprächtige Federkopfputz, der gigantische Dimensionen annehmen konnte und seine Träger wie phantastische Paradiesvögel aussehen ließ, erinnert frappant an die Ausstattungsrevuen unseres Jahrhunderts. Hier wie dort erfüllte das dekorative Accessoire stets auch den Zweck, freizügig exponierte Nuditäten zu kompensieren. Ein Wiener Holzschnitt, der eine indianische Kunstreiterin der Zeit um 1830 darstellt (Abb.7), vermittelt leider nur einen groben Eindruck des tatsächlich getragenen Gewands. Zweifellos präsentiert sich die Artistin aber „nue(s) jusqu'ä la ceinture"214, das heißt, den Oberkörper 212

Bereits im französischen ,Hofballett' des 17. Jahrhunderts weisen die Indianer, Mohren, Chinesen und Orientalen alle charakteristischen Attribute auf, die für die Zirkusexoten des frühen 19. Jahrhunderts kennzeichnend sind. (Vgl. MarieFrangoise Christout: Le ballet de cour au XVIIe siecle. Iconographie thematique. Genf 1987. S.llSff.) 213 Das Auftauchen der Indianer im Zirkus ist auf den Einfluß der englischen und französischen Jahrmarkts- und Unterhaltungstheater zurückzuführen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts erfreute sich dort das Genre der Seefahrer- und Indianerstücke, in denen sich europäische Eroberer mit amerikanischen Ureinwohnern auseinandersetzen, wachsender Beliebtheit. Die Sujets können in gewisser Weise als Vorläufer der Wild-West-Stoffe unseres Jahrhunderts angesehen werden. (Vgl. Marian Hannah Winter: Le theatre du merveilleux. Paris 1962. S.20-25). Mit dem Ballet „Les Mohicans" (1837) fand dieses Genre sogar Eingang in die Pariser Oper. Theophile Gautiers Uraufführungskritik, die süffisant die zahlreichen Unwahrscheinlichkeiten der Handlung und Ausstattung aufs Korn nimmt, vermittelt einen recht anschaulichen Eindruck vom Aussehen dieser Bühnenindianer (Vgl. Gautier (Anm.162) Bd.l. S.7ff.). 214 Ebd. S.8. 75

in ein rosafarbenes Trikot oder Mieder gezwängt, wie dies Gautier als Kostümierungspraktik der Indianerinnen im Pariser Ballett „Les Mohicans" (1837) beschrieben hat. Der üppige Schmuck der Perlenketten und Armspangen lenkt wie der Kopfputz von der charakteristischen „Tricot-Nacktheit" der amerikanischen „Naturkinder"215 etwas ab. Das eigentliche Kleid der Indianerin reduziert sich auf einen kurzen ballerinenhaften Glockenrock mit stilisierten Feder- und Muschelmotiven, der eine Art Lendenschurz vorstellte, „une espece de pagne de mousseline - de la mousseline dans les inextricables forets de l'Amerique! - enjolive de rubans et de plumes"216. Auch der deutsche Kraftmensch und Geschicklichkeitskünstler Carl Rappo (1800-54) trat traditionell im Indianerkostüm auf, wenn er bei seinen „indianischen Künsten" mit Stäbchen und kleinen vergoldeten Kugeln jonglierte, [... ] welche mit einer so außerordentlichen Fertigkeit untereinander geworfen werden, dass sie die schönsten Gegenstände, als: Feuerregen, Springbrunnen, Sterne etc. bilden, und die Anzahl der Kugeln kein menschliches Auge zu zählen vermag.217

Derartige Geschicklichkeitskunststücke waren erstmals von indischen Gauklertruppen gezeigt worden, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vereinzelt in Europa auftauchten. Im Jahr 1823 gastierten die Brüder Medua und Mooty Samme in Berlin; im Königlichen Schauspielhaus zu Potsdam traten sie mit „Chinesischen Glocken-, Teller- und Stockspielen, sowie als Degenschlucker"218 auf. Einer „Truppe sogenannter indischer Gaukler, deren Künste hauptsächlich im Jonglieren bestehen"219, hatte sich auch Rappo zu Beginn seiner Karriere angeschlossen. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch unterschied man nicht zwischen Jnder1 und Jndianer1, und so erklärt es sich, daß die europäischen Nachahmer der indischen Jongleure, statt in orientalischer Gewandung aufzutreten, lieber zu den auffälligeren Federkostümen griffen. Die Kunstreiterin Cavalcada in Saltarinos gleichnamiger Erzählung trug [... ] ein mit bunten Federn und Muscheln berändertes kurzes Gewand, an Armen und Beinen goldene Spangen, rote Korallen um den Hals und 215

Raeder (Anm.16) S. 17. Gautier (Anm.162) Bd.l. S.8. 217 Reklamezettel Carl Rappos aus dem Jahr 1828. Zit.n. Pin.: Zauberkünstler, Jongleur, Malabrist. In: A. Nr.824. Jg.18 (1900). 218 Karl-Heinz Ziethen: Jongleure. In: Zirkus - Circus - Cirque. Kat. Hrsg.v. Jörn Merkert. Berlin 1978. S. 137. 219 Signor Domino: Wandernde Künstler. Panorama der Artistenwelt und des Cirkuslebens. Berlin 1891. S. 172. 216

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an der Seite ein gelbseidenes Beutelchen mit TVoddeln, aus welchem sie alsbald kleine goldene Jongleurkugeln hervorholte. Nun warf sie den Körper vornüber, schleuderte im Fluge die Kugeln hoch in die Lüfte, fing sie wieder auf, warf sie wieder und brachte, je nachdem sie mit den symmetrischen Gestaltungen wechselte, bald Kreise, bald Quadrate, bald Triangel bildend, allerlei ineinander verschlungene Figuren hervor, und das alles mit unbegreiflicher Behendigkeit und bei so schneller Bewegung des Pferdes, daß man überall, wo sie vorüberflog, inmitten ihrer blitzenden Goldgebilde, den Luftzug stark verspürte.220

Noch im Jahr 1845 wurde Bernhard Carre als „indianischer Jongleur zu Pferd"221 angekündigt, zwei Jahre später „excellirte" der Universalartist Otto Motti im Wiener „Circus Gymnasticus" mit „seinen ,indianischen Jongleurkünsten' zu Pferd mit Stöckchen, Messern und Kanonenkugeln"222. Die traditionelle Indianerkostümierung verschwand endgültig aus dem Zirkus, als Ende der achtziger Jahre mit Buffalo Bills „Wild-West-Shows" die ersten echten Rothäute nach Europa kamen. Als effektvolle Revuegarderobe sind die bunten Federröckchen und -krönen aber heute noch in Gebrauch. 4.5.3 Mohren Mohren erschienen schon auf den Jahrmärkten und bei den Kunstreitertruppen des 18. Jahrhunderts. Oft waren es wirkliche Farbige. So berichtete ein Mitarbeiter der „Zürcher Zeitung" im Jahr 1783, daß die Kunstreitergesellschaft des Herrn Balp als besondere Attraktion „einen Neger" mit sich führe: „(aus Amerika [...]; er redete französisch, war katholisch und hieß Jean-Baptiste)"223. Dieser Farbige ist auf dem besprochenen Freudweiler-Gemälde dargestellt (Abb.4), pittoresk ausstaffiert mit einem federgeschmückten römischen Raupenhelm und dem weiten Anzug eines Jahrmarktbajazzos. Von solchen echten Exoten zu unterscheiden ist der Kostümtyp des Mohren, wie er im Zirkus des frühen 19. Jahrhunderts anzutreffen war: mit rußgeschwärztem Gesicht, in braune oder schwarze Trikots gekleidet, das Haar unter einer schwarzen Wollperücke verborgen. Seine übliche Garderobe entsprach entweder der des ,Orientalen' oder er erschien, ähnlich dem Indianer, als halbnackter ,Wilder' mit Lendenschurz, Ketten und Armspangen, doch ohne Federkrone. 220

Saltarino (Anm.42) S.U. Die Handlung der Erzählung ist auf das Jahr 1835 datiert. 221 Haiperson (Anm.18) S. 107. 222 Ders.: Christoph de Bach. In: A. Nr.682. Jg.16 (1898). 223 Zit.n. Mathys (Anm.149) S.15. 77

Verkörperte der Indianer mit seinem prächtigen Kopfschmuck das Element phantastischer Exotik, so war der Mohr (dessen Erscheinungsbild dem europäischen Schönheitsideal vergangener Jahrhunderte wenig entsprach) meist eine ausgesprochen clowneske Figur. Die komisch-groteske Wirkung schwarz geschminkter Weißer steht in einer langen Tradition, die bereits in den Morisken-Tänzen des 15. und 16. Jahrhunderts aufschien.224 Sie fand ihre Fortsetzung im Phänomen der „Nigger-Minstrels", die im späteren 19. Jahrhundert als komische Sänger und Tänzer vor allem in den USA und Großbritannien, hervortraten225. Eher untypisch für den Charakter des Mohren im Zirkus war Andrew Ducrows heroische Szene zu Pferd „La Mort d'Othello ou Le Maure vaincu en defendant son drapeau" (1821). Der berühmte Kunstreiter produzierte sich in dieser vielkopierten Nummer, die mit Shakespeares Drama nichts als den Namen gemein hatte, als sterbender Mohren-Krieger in militärisch-orientalischer Phantasiekleidung, mit Brustpanzer, Tunika, Turban und ,türkischer Hose', [... ] his face blackened by tropic suns, defying, his lance at rest, an imaginary rival. With what savage joy he dares to the combat! With what fury he attacks his enemy! With what art he seems to evade his blows! But fortune has betrayed the courage of the gallant warrior - he is wounded, and the steel escapes from his failing hand. [... ] The hero is dying; blood stains his armor; he falls - he rolls in the dust - and a cry of horror rings through the amphitheatre. Never has an actor pushed so far the magic of illusion.226

Als Verlierer einer Schlacht konnte oder wollte Ducrow offenbar nicht in einer europäischen Uniform auftreten (siehe S.47f.); dies mag zum Teil die Wahl des exotischen Kostüms erklären.

224

Vgl. dazu: Walter Sorell: ,,,Morisko' ist die spanische Bezeichnung für einen Mauren, der nach der Rückeroberung durch die Spanier im Land blieb und Christ wurde. Der nach ihm benannte Tanz entstand aus poetischen Erinnerungen an die maurische Herrschaft. Er kristallisierte sich als Solo- und Gruppentanz. In der Urform waren es zwei Reihen von sechs Tänzern, von denen einige ihre Gesichter geschwärzt hatten. [... ] Gewöhnlich waren alle in grotesker Weise, mit vielen Schellen um ihre Beine, gekleidet." (Der Tanz im Spiegel der Zeit. Wilhelmshaven 1985. S.57). 225 Vgl. Michael Pickering: White Skin, Black Masks: .Nigger' Minstrelsy in Victorian England. In: Music Hall. Performance and Style. Hrsg.v. J.S. Bratton. Milton Keynes, Philadelphia 1986. S.70-91. Siehe auch S.197 (Anm.573). 226 Zit.n. Saxon (Anm.138) S.lllff. 78

4.5.4

Chinesen

Wie der Mohr hatte auch der Chinese eine starke Tendenz zur Komik, die allerdings feiner und stilisierter war. Daß Frauen beide Genres mieden und stattdessen, wenn sie sich schon exotisch gaben, im Kostüm einer Orientalin oder Indianerin auftraten, kann als Hinweis auf den clownesken Charakter jener Zirkusexoten gewertet werden. Zum typischen Erscheinungsbild des Chinesen gehörte ein schwarzes Schädelkäppchen mit künstlichem Zopfund ein falscher Mongolenbart, der in zwei langen, dünnen Strähnen von der Oberlippe herabhing. Das Gewand selbst war extrem stilisiert. Mit seinen Glöckchen und bizarren Zackenverzierungen glich es der Narrentracht. Besonders auffällig zeigen sich diese Motive an den Kostümen dreier Kunstreiter auf einer französischen Lithographie, die nach 1825 entstand (Abb.8). Nicht nur Hüte und Schuhe haben eine spitze Form; auch sämtliche Säume, die Kragen, die Pagodenärmel, die Stiefelstulpen und Hutkrempen sind zackenförmig ausgeschnitten und teilweise mit Schellen besetzt. Man beachte außerdem die nach oben gerichteten Zeigefinger - eine Geste, die auf den Zirkus-Chinoiserien jener Zeit häufig zu sehen ist. Gebärden und Bewegungen waren wie die Kleidung extrem künstlich übersteigert. So wundert es nicht, daß insbesondere die ,Gliederverrenker', wie der „Wiener Klischnigg" Karl Koppal, „im chinesischen Costüm"227 aufzutreten pflegten, das wie kaum ein anderes zu ihren grotesken Kunststücken paßte. Als „Chinese buffon" erschien auch der englische Kontorsionist Charles T. Parsloe, der um 1825 an „Astley's Amphitheatre" in London engagiert war und von dem berichtet wurde, er produziere „such difficult attitudes or postures that he gave the impression of beeing ,deossified'"228. Chinesen und Mohren trugen - jeweils auf ihre Weise - wesentlich zur komischen Unterhaltung der frühen Zirkusse bei, an denen 227

Zit.n. einem Reklamezettel für den „russische(n) Feuerkönig Paul Schwarzenberg" und die Akrobaten Franz Schöpfer und Karl Koppal. 1.4.1838. In: Markschiess-van Trix/Nowak (Anm.211) Abb.24. Edward Klischnigg (1813-77) war einer der berühmtesten Kontorsionisten der Zirkusgeschichte. In zahlreichen Bühnenstücken, unter anderem auch in Nestroys „Affe und Bräutigam", trat Klischnigg im Affenkostüm auf. Er gab dem ganzen Genre seinen Namen: „Klischnigge scheinen Knochen aus Gummi oder gar, überhaupt keine zu haben. Ihre Tricks bieten sich als widernatürlich anmutende Verrenkungen des Körpers und Dislokationen (= Lageveränderungen, Verschiebungen) der Gelenke dar. Die Artisten .klappen' ihre Körper gewissermaßen zusammen, stecken die Köpfe zwischen die Beine, drehen sich um die eigenen Achsen, während die Füße unbewegt stehen bleiben." (Karin Schulz/Holger Ehlert: Das CircusLexikon. Begriffe rund um die Manege. Nördlingen 1988. S.110). 228 Saxon (Anm.138) S.429. 79

die Clownerie noch kaum ausgeprägt und dem Namen nach völlig unbekannt war.229 Das chinesische Kostüm mit seinen schellenbesetzten Zackenverzierungen wurde dabei offenbar als eine Art exotische Narrentracht angesehen. Die chinesischen Groteskkünstlern des Pariser „Cirque Olympique" entwickelten sich in den zwanziger und dreißiger Jahren schließlich zu den ersten eigenständigen französischen Zirkusclowns. Mehr und mehr ihrer Exotismen entkleidet, wurden die ,grotesques chinois' bald zu bloßen ,grotesques', an deren ursprünglichen Habit ein modernisiertes mittelalterliches Narrenkleid erinnerte (Abb.9). 4.5.5 Europäische Volkstrachten Im Unterschied zu den orientalischen, chinesischen, afrikanischen und amerikanischen Exotenkostümen spielten europäische Folkloregewänder am Zirkus anfänglich kaum eine Rolle. Erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts bahnte sich hier ein Wandel an. Diese Tatsache erklärt sich ganz einfach dadurch, daß ländliche Trachten, die sich von der modischen Kleidung der Städter abgrenzten, erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurden. Auch der Begriff der ,Volkstracht' kam erst zu dieser Zeit auf. Noch während der Französischen Revolution hatte man in der bäuerlichen Kleidung kaum mehr als einen Teil der Standestracht erblickt. Die Romantiker gelangten jedoch zu einer gefühlsbetonteren Betrachtungsweise der regionalen Gewänder. Deren eigentümliche Formen und bunte Farben wurden [... ] den Anhängern der vom nationalen Gedanken erfüllten romantischen Bewegung zum Ausdruck der noch ungebrochenen schöpferischen Kraft des Volkes. Seit dieser Zeit stehen sich ,Mode' und ,Volkstracht' - auch dieser Terminus entstand erst jetzt - als etwas in Ursprung und Wesen anscheinend völlig Verschiedenes gegenüber.230

Seit dem frühen 19. Jahrhundert tauchten in den europäischen Städten mehr und mehr folkloristische Sänger- und Musikantengesellschaften auf, die ihre ländliche Heimat zeitweiÜg verließen, weil sich ihre ,Volkskunst' in der Fremde als einträglicher Broterwerb erwies. Die sonderbaren bäuerlichen Trachten und Darbietungen gefielen dem Großstadtpublikum, das infolge der wachsenden Industrialisierung eine romantische Vorliebe für das angeblich so idyllische und natürliche 229

Der Ausdruck ,Clown' für die lustige Person im Zirkus hat sich allgemein erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingebürgert. 230 Thiel (Anm.205) S.308. 80

Leben auf dem Lande entwickelt hatte. Inbegriff dieses Ideals waren - zumal in Deutschland - die „singenden, jodelnden, juchezenden und tanzenden ,Bua'm und Diand'ln' " aus der „Alpenwelt, auf der es bekanntlich so gar ,koa Sund' geben soll"231. Daß diese Art von alpenländischer Folklore sehr früh schon in ganz Europa populär wurde, war vor allem das Verdienst der geschäftstüchtigen „Tyroier Sänger" Geschwister Rainer. Ende der zwanziger Jahre absolvierte die Truppe in London ein aufsehenerregendes Gastspiel, das auch Heinrich Heine miterlebte. In „den glänzenden Konzertsälen der Londoner fashionablen Welt" goutierte man die Tiroler, die sich in ihrer heimatlichen „Volkstracht" zur Schau stellten, als eine bizarr-exotische menschliche Spezies, und der deutsche Dichter wandte sich angewidert ab, als er jene Lieder, „die in den Tiroler Alpen so naiv und fromm gejodelt werden", durch die Rainersche Gesellschaft skrupellos „vor fremdem Pöbel profaniert" sah: Ich habe nicht mitklatschen können bei dieser schamlosen Verschacherung des Verschämtesten, und ein Schweizer, der gleich fühlend mit mir den Saal verließ, bemerkte ganz richtig: ,Wir Schwyzer geben auch viel fürs Geld, unsere besten Käse und unser bestes Blut, aber das Alphorn können wir in der Fremde kaum blasen hören, vielweniger es selbst blasen für Geld.232

Gefühlvolle Einwände dieser Art änderten nichts an der zunehmenden Profanierung4 alpenländischer ,Volkskunst', die gerade fern der Heimat stets am besten honoriert wurde. 1900 bemerkte Max Grundt im „Artist": Eine reiche Zahl von Tyroler, steirischen und bayrischen SängerGesellschaften zieht heute, den böhmischen Musikanten und Musikantinnen gleich, nach echter Zugvögelart zu bestimmten Zeiten im heimathlichen Dorf sich wieder einfindend, jahraus, jahrein mit Vorliebe durch Mittel- und Norddeutschlands Städte, sowie weiter nach Rußland hinein, wo ihrer - der Prophet und Sänger gilt ja nicht viel im engeren Vaterlande - immer noch reicher klingender und schallender Erfolg wartet r

1 233

Der ,TyToler' und die ,Tyrolienne' waren zu jener Zeit längst unentbehrliche Varieteattraktionen geworden. Wie im artistischen Gewerbe 231

Max Grundt: Tyroler Sang im Vari6t£ und auf dem ,BrettT. In: A. Nr.797. Jg.18 (1900). 232 Heinrich Heine: Reise von München nach Genua (1828-1830). In: Reisebilder. Frankfurt/M. 1980. S.26H. 233 Grundt (Anm.231). 81

üblich spielte die Authentizität dabei keine entscheidende Rolle. Unter die „süddeutschen und österreichischen Aelpler-Sängergesellschaften" mengten sich mehr und mehr [... ] Pseudotyroler und Pseudobayern, Elemente, die da glauben, mit dem Nationalgewand sei schon Alles gemacht, wenn man nur ein paar eingelernte Lieder dazu singen und (oft mit bedenklichen Gesichtsverzerrungen) einige ,Jodler1 herausbringen könne.234

Seit den dreißiger und vierziger Jahren drängten verstärkt ausländische Folkloregruppen nach Deutschland. Berlin wurde, nach den Erinnerungen des Schauspielers Emil Thomas, mit ungarischen Zigeunerkapellen [... ] förmlich überschwemmt, denn in jedem Restaurant, in jedem Hotel und in jedem Lokal, wo nur irgendwie epikuräische Genüsse geboten werden, überfallen den Gast beim Eintritt die Töne einer Zigeunerkapelle.235

Eine besondere Attraktion der preußischen Hauptstadt waren die ,Polkakneipen', Vorläufer des Varietes, in denen polnisch kostümierte Mädchen in kurzen Röcken die Gäste bedienten, Volkslieder sangen und Polka tanzten.236 Der besondere Reiz einheimischer und fremder Volkstrachten bereicherte nach 1810 in zunehmendem Maße auch die Zirkusgarderobe. Anders als bei den traditionellen exotischen Phantasiegewändern, die märchenhaft ferne Erdteile symbolisieren sollten, bemühte man sich dabei stets um Realität. Es ging um die Erzeugung eines ganz konkreten regionalen Lokalkolorits, nach dem sich auch die Musik und die Art der Darbietung ausrichtete. So ließ sich Andrew Ducrow 1832 durch ein Gastspiel in Madrid dazu anregen, an seinem Londoner Zirkus einen fingierten spanischen Stierkampf aufzuführen, bei dem er sein Personal höchst wirklichkeitsgetreu als „bandilleros, picadores and muleteers" ausstaffierte, während er selbst als „Champion matador Leon" in die Manege trat.237 In der Kunstreitergesellschaft „Brilloff und Brandt" produzierte sich 1835 der jugendliche Kunstreiter Carl Rau 234 235

Ebd.

Emil Thomas: Ältestes, Allerältestes. Berlin 1904. S. 175. 236 Vgl. Wolfgang Jansen: Das Varieto. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst. Berlin 1990. S.32ff. 237 Saxon (Anm.138) S.250. Aus einem Ankündigungszettel geht hervor, daß der Stier durch ein entsprechend vermummtes Pferd dargestellt wurde: „[...] Ladies & others are informed that the Bull is impersonated by one of Mr. Ducrow's broke Horses, tutored by him for the purpose - enveloped in an Elastic Skin and so managed as to deceive even the nicest eye [...]." (Ebd.)

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als „Der kleine kühne Kosak"238; an gleicher Stelle zeigte 1836 ein namentlich nicht genannter Reitakrobat „,Kunstfertigkeiten des jungen Tscherkessen', [... ] auf nacktem Pferd hängend, von diesem herab unter dessen mächtigem Galopp Mütze, Gerte und andere Gegenstände vom Boden" aufraffend.239 Wenn die Kostümierung hier auch nicht eigens erwähnt ist, so ist doch zu vermuten, daß der Artist, wie bei derartigen Nummern üblich, stilecht in der ,Tscherkeßka' der Kaukasusbewohner erschien, einem langen, enganliegenden Leibrock mit Gürtel und auffälligen Patronentaschen. Der Kunstreiter Wenzel Slezak war nach D. Kiss „der allererste, der das ungarische Element in den conservativen Kreis der circensischen Künste einführte". In seiner Nummer „Csikos-Post", die er in den vierziger Jahren kreiert hatte, erschien er als Pferdehirt des ungarischen Tieflandes „in bunter hortobägyer Tracht", wobei er „auf zwei Pferden stehend, ein kleines Gestüt zwischen beiden Rossen dahintrieb und dann sämmtliche Thiere bei den Zügeln fasste"240. Die Zirkusreiterin Ellen Kremzov (1835-99) durchsprang als zehnjähriges Mädchen im „kleidsamen schottischen Costüm"241 Papierreifen, während ein „Herr Rudolph" 1847 als Bergschotte auf ungesatteltem Pferde die schwierigsten Sprünge mit gebundenen Füßen"242 ausführte. Zu den beliebtesten Zirkusnummern zählten seit den dreißiger Jahren die aus dem Ballettsaal importierten „Tänze der Nationen", [... ] da die Ballerina zu Pferde sich sich dabei in einer Fülle von effektvollen Kostümen präsentieren konnte. So sah man vor allem polnische, französische, schottische, italienische, spanische und türkische Tänze.243

4.6 Das ,szenische' Genre: Pantomimen- und Transformationskostüme Der Zirkus war als eine Art Theater der Equestrik gegründet worden. Die Reiter und ihre Jahrmarktskollegen bemühten sich dementsprechend, ihre Kunststücke in künstlerische Posen, Tänze und pantomimische Aktionen einzubetten: Die Reiter begannen regelrecht zu spielen und in ihren Nummern Themen - oft aus dem Bereich der Mythologie, mitunter aus dem Militärwe238

Raeder (Anm.16) S.20. Ebd. S.16. 240 D. Kiss: Csikos-Post und Jockey-Act. In: A. Nr.712. Jg.16 (1898). 241 Saltarino (Anm.14) S. 126. 242 Raeder (Anm.16) S.60. 243 Kusnezow (Anm.84) S.32 239

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sen, bisweilen auch unmittelbar von der Straße - zu gestalten, wobei die artistischen Tricks nur noch als Ausdrucksmittel dienten und nicht mehr Selbstzweck waren. Dadurch verlor die Akrobatik zu Pferde ihre Abstraktheit, [...] die Zirkusdarbietung erhielt ein spezifisches künstlerisches Gepräge [.. .].244

Die Affinität zum Theater offenbarte sich am deutlichsten in der sogenannten ,Szenenreiterei' beziehungsweise den ,Szenen' am Seil Nummern, in denen die Artisten pantomimische Charakterstudien oder sogar kleine Dramen in entsprechenden Rollenkostümen zum besten gaben. In der Anfangsphase des Zirkus handelte es sich dabei gewöhnlich um komische Darbietungen mit dem üblichen Personal der Possen und Schwanke. Artisten, die grotesk als Bauern, Handwerker oder ,komische Alte' ausstaffiert waren, sorgten durch ihre vermeintliche Ungeschicklichkeit für Heiterkeit und Entspannung zwischen den übermenschlich wirkenden Leistungen der mythologischen Götter und Geisterwesen, der soldatischen, altertümlichen oder exotischen Helden. An Astleys Amphitheater stand schon im 18. Jahrhundert häufig die burleske Pantomime „The Tailor Riding to Brendford" auf dem Programm, in der ein tollpatschiger Militärschneider vergeblich ein störrisches Pferd zu besteigen versucht, um sich zu einem ungeduldigen Kunden zu begeben.245 Am Pariser „Cirque Olympique" wurde diese Szene noch bis weit ins 19. Jahrhundert unter dem Titel „Rognolet et Passe-Carreau" beibehalten, ebenso lang in Deutschland, wo sie als „Der reisende Schneider und sein böses Pferd" kursierte. Ähnlich beliebt war die Nummer „Madame Angot in der Reitstunde": Ein als Grande dame grotesk kostümierter Kunstreiter stellte die Ungeschicklichkeit einer Reiterin dar, verlor dabei Perücke und Krinoline, zitterte vor Angst, schrie aus Leibeskräften und wandte sich mit urkomischen Ausrufen an den mit einer Chambriere über der Schulter in der Manege hin- und hergehenden Oberstallmeister. Diese Szene war schon im Amphitheater der Vorstadt Temple populär und sie hielt sich bis Anfang der dreißiger Jahre.246

Um 1820 kamen neben diesen derb-komischen Burlesken seriöse ,Szenen' in Mode, bei denen die Kunstreiter auf dem Rücken eines oder mehrerer galoppierender Pferde wirklich dramatische, sogar tragische Rollen gestalteten. Als Urheber dieses Nummerntyps nennt die Zirkusforschung wiederum Andrew Ducrow,247 von dessen ergreifender Moh244 245

Ebd. S.30

Vgl. Le grand livre du cirque. Hrsg.v. Monica J. Renevey. 2 Bde. Genf 1977. Bd.2. S.22. 246 Kusnezow (Anm.84) S.43. 247 Vgl. Saxon (Anm.138) S.198ff. 84

renpantomime „La Mort d'Othello ou La Maure vaincu en defendant son drapeau" bereits die Rede war.248 „ [ . . . ] we almost forget that we are witnessing feats of horsemanship, so deeply are we interested in the dramatic illusion"249, rühmte 1827 ein Zirkusbesucher in Edinburgh Ducrows Darstellungskunst, die diesem schließlich den Ehrentitel eines „Kean of the Circle"250 einbrachte. Die Kostüme, die Ducrow für seine Pferdeszenen kreierte, waren Rollenkostüme, wie man sie auch an jedem regulären Theater hätte verwenden können. In ihrer individuellen Gestaltung, die der Charakterisierung der Figuren diente, wiesen sie weit über die konventionelle Artistengarderobe der Zeit hinaus wenngleich es sich dabei häufig um Sujets handelte, die für den Zirkus besonders typisch waren, etwa Soldaten, ritterliche Pagen, Indianer, Chinesen oder Mohren. Eine besondere Form der ,szenischen' Nummer war die sogenannte /Transformation', die überraschende Verwandlung des Artisten durch ein blitzschnelles Manipulieren oder Abwerfen seiner Kostüme. Solche Metamorphosen erforderten eine spezielle Trickgarderobe: Die Darsteller zogen mehrere Kostüme übereinander und warfen sie während der Vorstellung nacheinander wieder ab. Die Kostüme waren so geschneidert, daß man sie ohne weiteres ausziehen beziehungsweise mit der Innenseite nach außen wieder anziehen konnte.251

Transformationen waren wie die Pantomimen bereits im 18. Jahrhundert fixer Bestandteil der Zirkusprogramme und wie diese besaßen sie zunächst einen burlesken Charakter. Ein typisches Produkt jener Zeit war „Die Metamorphose des Landmanns", „eine sehr ergötzliche Verwandlungsscene auf hohem Rosse, verbunden mit der lustigen Ungeschicklichkeit, deren Durchführung doch Geschicklichkeit erforderte"252. Die Nummer, die schon in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts bei Astley bezeugt ist, konnte noch gut hundert Jahre später im Repertoire der Seiltänzertruppen besichtigt werden. Sie begann traditionell damit, daß sich ein Artist, der als auffallend dicker Bauer verkleidet war, unter die Zuschauer mengte und zum Gaudium der Anwesenden verlangte, auf das Reitpferd oder Seil gelassen zu werden, was ihm nach einigen Einwänden schließlich auch gewährt wurde. Nach der Absolvierung halsbrecherischer Ungeschicklichkeiten 248

Siehe S.78 Zit.n. Saxon (Anm.138) S.201. 250 Ebd. S.199f. Edmund Kean (1787-1833) galt in Großbritannien als der größte Schauspieler seiner Zeit. 251 Kusnezow (Anm.84) S.31. 252 Raeder (Anm.16) S. 16. 249

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[... ] begann er seine Kunststücke; bald klagte er, dass ihm die Kleidung lästig sei, und nun entledigte er sich, zum allgemeinen Vergnügen, wohl ein Dutzend Röcke, einer Anzahl Westen und einiger Beinkleider unter allerlei geschickt ausgeführten Saltos, bis er im Hemde dastand. Als er dann auch dies herunter geworfen, und im Künstlertricot erschien, machte er seine Verbeugung und sagte: ,So nun kann's los gehen!253

Neben derart einfache, aber offensichtlich publikumswirksame Transformationen traten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend kompliziertere Kostümtricks. Saltarino berichtete von einer Nummer aus den dreißiger Jahren, „,Der Mönch im Käsekorb' (in welchem selbiger auf dem galoppierenden Pferde binnen weniger Minuten mit der unglaublichsten Schnelligkeit zwölf Verwandlungen vornimmt)"254. Diese vielfachen, frappierenden Metamorphosen, die in den Augen naiver Zuschauer wie Zauberei wirken mochten, endeten gewöhnlich effektvoll mit einer leichtbekleideten Mythologie oder Allegorie, die das Prinzip des Wunderbaren sinnfällig hervorkehrte. In einer nächtlichen Vorstellung der Seiltänzergesellschaft Karl Knie schritt um 1860 ein Paar frommer Pilger in härenen Kutten das Schrägseil hinauf, um schließlich unter bengalischer Beleuchtung als „zwei unbeschreiblich liebliche Genien, von Blumengirlanden wunderbar umflutet" wieder herabzuwandeln, „als wenn sie vom Himmel zur Erde gestiegen kämen"255. Mit welcher künstlerischen Brillanz Andrew Ducrow dieses Schema aufzuwerten verstand, mag das Beispiel seiner Reitszene „The Carnival of Venise" (1821) belegen. Als Vorbild diente ein Ballett des französischen Choreographen Milon, „Le Carneval de Venise", das er im gleichen Jahr bei einem Gastspiel in Lyon gesehen hatte. Der Tänzer Mazurier, der damals in der Rolle einer Polichinelle-Puppe Weltruhm errang,256 regte Ducrow zu seiner wirkungsvollen Eröffnungssequenz an. Als Punch-Figur (der englischen Entsprechung des Polichinelle) ließ er sich in einer Spielzeugkiste in die Manege tragen. Da alle Versuche, die schwerfällige Puppe zum Gehen zu veranlassen, scheiterten, wurde sie schließlich auf ein Pferd gehievt. Auf diesem vertrauten Terrain begann Ducrow nun seine verblüffenden Metamorphosen: After leaping up and kicking of his Punch costume, Andrew successively metamorphosed himself into the dreamy Pierrot and the sprightly 253

E. Isolani: Die gefallene Größe. In: A. Nr.881. Jg.19 (1901). Saltarino (Anm.42) S.13. 255 Zit.n. Alfred A. Häsler: Knie, die Geschichte einer Circus-Dynastie. Bern 1968. S.57. 256 Vgl. Winter (Anm.213) S.139ff.

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Harlequin [...]. Then came the caracter of Columbine, whom Ducrow interpreted as a delicate lady of ,nervous sensibility1. A few moments later, as Bacchus or Silenus, he pretended a drink and became gradually intoxicated, his legs, body, eyes, and expression progressively indicating the state he was in, until he rolled and staggered about the horse. Another Proteus-like change and another starting contrast - this time the athletic and graceful attitudes of Adonis or (as some French critics claimed) Endymion with his bow, including the amazing feat of equilibrium when Ducrow, on one toe, leaned out over the sides of the horse and seemed genuinely on the verge of flight. Finally, at the moment he let fly the arrow he assumed the pose of the , Belvedere', while the applause from the eccstatic spectators came down like thunder. The changes of the costume and accessories were made without Andrew's once quitting his horse, and the drama was heightened by an appropriate orchestral accompaniment.257

Aus dem burlesk-mythologischen Transformationsszenen der frühen Zirkusära entwickelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannten ,Deshabillages Korsett anzulegen brauchten. Vorbildhaft waren die Kinderbuchillustrationen der englischen Künstlerin Kate Greenaway (1846-1903). Balayeuse/Staubrüsche Gekräuselter Stoffvolant (—*· Volant) oder Spitzenrüsche am Saum der Kleiderröcke, von ca. 1875-1906 in Mode. Um die Jahrhundertwende mußte die B. aus —»· Taft sein, um das gewünschte erotische Knistern (—> Frou-Frou) zu erzeugen. Abb.21. Barett Kappenartige Kopfbedeckung mit und ohne Krempe. Ursprünglich gestrickte, gewalkte Wollmütze. Im 16. Jh. wurden B.s meist aus Seide, Samt oder Tuch hergestellt, mit Straußenfedern verziert und von beiden Geschlechtern als modischer Kopfschmuck getragen. Als das B. um 1570/80 aus der Mode kam, verblieb es als Bestandteil

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verschiedener Amtstrachten wie der Artistengarderobe. Abb.l, 5. Bolero Taillenkurzes, knapp sitzendes und unverschlossenes Jäckchen mit und ohne Ärmel. Abb.5. Brandenbourgs/Brandenburger Doppelknöpfe, die mit —»· Schnüren oder —» Litzen geschlossen werden. Der Name stammt von den so ausgestatteten Überröcken der Brandenburgischen Soldaten, welche 1674/75 mit den Truppen des Großen Kurfürsten ins Elsaß drangen. Die Gewänder wie die Knöpfe wurden von den Franzosen B. genannt. Brokat Figürlich gemustertes, mit Metallfäden durchzogenes Seidengewebe. Broschierte Gewebe Stoffe mit eingewebten, die Wirkung von Stickerei nachahmenden Mustern, oft als Goldbroschur. Cache-sexe Stoffdreieck zur Kaschierung des Geschlechtsteils der Nacktdarstellerinnen; es wurde mit unsichtbaren Fäden oder Klebstoff am Körper fixiert.

Cul de Paris Frz. wörtlich .Pariser Gesäß4. Ein unter dem Frauenkleid getragenes Gesäßpolster (—» Turnüre), das in sehr voluminöser Form 1882-88 in Mode war. Cutaway Engl. wörtlich ,weggeschnitten'. Herrenrock, der sich nach 1850 in England aus dem —»· Gehrock entwickelt hatte, wobei dessen vordere —» Schoßkanten stark zurückgeschnitten wurden. Der C. war stets einreihig, hatte ein steigendes —» Revers und einen großen Halsausschnitt, so daß die Weste zur Geltung kam. In England galt er nur als offizieller Vormittagsanzug zu Ausstellungseröffnungen, Tagesempfängen, großen Konferenzen, während er in Deutschland bis in die 1930er Jahre auch als privater Repräsentationsanzug getragen wurde. Danach blieb er dem Bräutigam bei der Hochzeit am Vormittag vorbehalten.

Chemise Kleid von hemdartigem, durchgehenden Schnitt mit hochgezogener Taille. C.n aus hauchdünnen, transparenten Stoffen im gräzistischen Stil waren um 1800 in ganz Europa modern. Die Artistinnen trugen extrem verkürzte und dekolltierte Versionen dieses Gewandtyps.

Dekollete" Halsausschnitt der Frauenkleidung. Man unterscheidet zwischen kleinem D. bis oberhalb des Brustansatzes, großem D., das Brustansatz und/oder Schulter zeigt, und Rückend.. Bei den Soubretten und Gommeuses der Jahrhundertwende dominierte das große D. ,en coeur*, ein von den Schultern bis zur Brustmitte in Herzform geschwungener tiefer Halsausschnitt, der die Fülle des Busens optisch betonte.

Crepe de Chine Sammelbegriff für Gewebe aus Natur- oder Kunstseide, die durch überdrehte Garne ein körniges, feinnarbiges Oberflächenbild erhalten.

Dessous Damenunterwäsche. Die französierende Bezeichnung war ein sprachliches Stilmittel, das auf die erotische Qualität der Unterkleidung hinwies.

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Diadem Kopf- oder Stirnreif, der hinten offen ist. Aus unedlen Metallen gefertigt und mit —> Straß besetzt, war das D. im späteren 19. Jh. ein weit verbreiteter festlicher Haarschmuck der Damen zum Ballkleid wie auch der Artistinnen zum -> Trikot. Abb. 18. Dolman Ursprünglich Leibrock der alttürkischen Nationaltracht. Seit dem 18. Jh. Uniformjakke der ungarischen Nationaltracht und der Husaren. Der aus Ungarn stammende Raubtierbändiger Thomas Batty führte den D. 1863 als genretypisches Kleidungsstück der Dompteure ein. Der D. war reich mit —* Schnüren besetzt und hatte Knopfschlaufen und Knopflöcher aus —» Posamenten, sog. —»· Brandenbourgs. Draperie Kunstvoll in Falten gelegtes Stoffstück. Abb.4. Dreispitz Ein auf drei Seiten hochgekrempter, abgesteifter Herrenhut aus —* Filz oder Halbfilz, vom späten 17. bis Ende des 18. Jh.s in Mode. Abb.2. Epaulette Achsel- oder Schulterstück, seit dem 17. Jh. militärisches Rangabzeichen. Abb.2. Escarpin Leichter, absatzloser, weitausgeschnittener Herren- und Damenschuh. Fachbezeichnung für die traditonellen Gymnastikschläppchen der Akrobaten, die um 1800 aus der Mode übernommen wurden. Abb.5, 12, 14. Eton-Kragen Weißer, gestärkter Umlegekragen mit abgerundeten Ecken; seit 1820 von den

Schülern des renommierten englischen Eton-College getragen. Federn F. von Zucht- und Wildvögeln wurden schon im Altertum von vielen Völkern als Schmuck und Zubehör getragen. Sie waren ursprünglich wohl Attribute von Göttern und mythologischen Gestalten. Auffallend große und bunte Federn sind seit dem 16./17. Jh. ein charakteristisches Dekorationselement der Artistengarderobe. Als Schmuckgestecke auf —> Baretten, Hüten, Turbanen und in den Frisuren verwendeten die Unterhaltungskünstler meist Reiher- oder Straußenf., entweder einzeln (Abb.l, 3) oder zu Federbüschen arrangiert. Der Panache, bestehend aus zwei vorn am —* Dreispitz befestigten, wehenden Straußenf., war im 17. und 18. Jh. ein militärisches Rangabzeichen der Stabsoffiziere und Generäle; die ersten Zirkusprinzipale adaptierten den soldatischen Federbusch - spektakulär vergrößert - zusammen mit der Uniform für ihre Reiterauftritte (Abb.2). Die Aigrette war ein orientalisierender, strahlen- oder büschelförmiger Kopfputz aus Reiherfedern, der auf einem Metallring, einer Perlenschnur oder einer halbmondförmigen —> Agraffe am Turban oder im Haar fixiert wurde (Abb.6); im späteren 19. Jh. nannte man jeden ähnlich bouquetartig zusammengefaßten Kopfschmuck aus Federn oder Edelsteinen Aigrette (Abb. 16). Besonders charakteristisch für die Artisten des frühen 19. Jh.s waren der Türkenbund, ein mächtiger, mit großen Straußenf. versehener Turban, so-

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wie Federkronen, die ihres dekorativen Effekts wegen nicht nur dem Genre der Indianer vorbehalten blieben (Abb.7). Fes/Fez Kegelstumpfförmige —> Filzkappe, meist rot oder schwarz, mit schwarzer oder blauer —> Quaste, benannt nach der marokkanischen Stadt Fes. Filz Dichtes Material, das durch Pressen von Schafwolle und anderen Tierhaaren hergestellt wird. Flitter Aus Metallfolie, Rauschgold oder —> Straß gestanzte oder geschlagene kleine Plättchen, die als Schmuck auf Gewänder und Accessoires aufgenäht oder aufgeklebt werden. F. ist seit dem Mittelalter bekannt. In Form etwas größerer Plättchen wird er heute —» Paillette genannt. Frack Modischer Herrenrock des 19. Jh.s. Der F. mit seinen charakteristischen stark zurückgeschnittenen —» Schößen entwickelte sich um 1740 aus dem bürgerlichen englischen —* Tuchrock und dem Militärrock. Beide hatten ursprünglich volle Schöße, die zurückgeschnitten bzw. zurückgeschlagen wurden, um sie als Reitkleidung verwenden zu können. Im späten 18. Jh. setzte sich der bürgerliche ,frac ä l'anglais' aus dunklem Wollstoff allmählich in der Herrenmode gegenüber den höfischen Seidenanzügen durch. Um 1850, als —»· Cutaway und Jakkett aufkamen, wurde der F. zum reinen Abendanzug. Seither wird er traditionell aus schwarzem Tuch geschneidert, wobei das -> Revers

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mit einem schwarzen ,Spiegel' besetzt ist; die Knöpfe sind beidseitig trapezförmig angeordnet. Etwa zur gleichen Zeit etablierte er sich als Berufskleidung von Kellnern, Musikern, Zauberkünstlern und Zirkuspersonal (Abb. 14, 15). Der —+ Manegefrack der Stallmeister wurde in militärischer Manier mit Messingknöpfen besetzt und aus farbigen Tuchen gefertigt. Der rote —» Hubertusfrack, die Galakleidung der Parforcejäger, etablierte sich um 1900 - kombiniert mit schwarzen —>· Satinkniehosen, Seidenstrümpfen und Lackpumps (—» Pumps) - als besonderes Markenzeichen der Dandys und wurde in dieser Form häufig auch von Artisten getragen. Fraise Französierte Bezeichnung für (Hals- und Hand-)Krause. Die Schmuckkrägen und —> Manschetten der Akrobatentrikots des 19. Jh.s wurden gelegentlich F.n genannt. Abb.5, 12. Frou-Frou Lautmalende frz. Wortbildung für das erotische Rascheln und Knistern der Frauenkleidung um 1900. Fustanella Kurzer Männerrock der neugriechischen Nationaltracht. Gamasche (Knöpfbare) Beinbekleidung, meist aus weißem oder champagnerfarbenem Wollstoff oder Leder, über Strumpf und Schuh getragen. G.n waren in der eleganten Herrenkleidung um 1900 bis in die 1930er Jahre aktuell. Sie gehörten im frühen 20. Jh. zur Auftrittsgarderobe der Zirkusauguste und Varietelcomiker. Abb. 14.

Gaze Gestärktes Gittergewebe aus Baumwolle, Halbseide oder Leinen; schleierartig dünner Stoff. Gehrock Männerrock des 19. Jh.s, der sich um 1800 aus dem Reitmantel des englischen Herrn entwickelt hatte. Sein besonderes Kennzeichen waren die in der Taille angesetzten vollen —»· Schöße, die vorn übereinanderlagen. Ab etwa 1870 bis zum Ersten Weltkrieg war der G. in Dunkelgrau oder Schwarz offizieller Anzug von Ministern, Kommerzienräten, aber auch von Ärzten und Geschäftsleuten. Goldkäferschuh Schuh aus .Goldkäferleder', so benannt, weil der metallisch-irisierende Glanz des Leders an das Farbenspiel eines Goldkäfers erinnert. Das schillernde Goldbraun wurde durch einen mit Schellack versehenen Farbstoff erzeugt. G.e kamen um 1880 in Mode; ihres ,glänzenden' Effekts wegen wurden sie gern von Artisten getragen. Hängeärmel Ein meist nur am Rückenteil des Gewandes angenähter, hinter dem Arm frei herunterhängender Ärmel, vom 13. bis 17. Jh. Bestandteil der modischen Kleidung. H. waren oft reich verziert und regelrechte Blickfänger. Durch den Historismus des 19. Jh.s wurden sie für die Bühnengarderobe entdeckt; vor allem in Ausstattungsspektakeln waren sie ein beliebtes Kleidungsattribut, das nicht selten zur Kompensation gewagter Entblößungen verwendet wurde. Abb. 19. Harnisch .Kriegerische rüstung1, Ritterrüstung.

Aus-

Hubertusfrack Siehe —>· Frack. Jabot Am Kragen befestigte Spitzen- oder Seidenrüsche, die auf dekorative Art und Weise den Knopfverschluß von Gewändern verdeckt. Im 18. Jh. war das J. ein charakteristisches Merkmal des modischen Herrenhemds; es wurde zu dieser Zeit auch von den Artisten getragen. Abb.2. Jupon Französierende Bezeichnung für Unterrock, insbesondere wenn dieser unter dem Kleiderrock vorstand. Käppi Im 19. Jh. aus der Schweiz übernommenes Diminuitiv von Kappe; schifförmige militärische Kopfbedeckung, deshalb auch .Schiffchen' genannt. Kaftan Ein aus Asien stammendes langes Obergewand mit rechtwinklig eingesetzten geraden Ärmeln, meist kragenlos. Es wird fast immer mit einem Gürtel getragen und nur selten, je nach nationaler Gewohnheit, mit Knöpfen oder Bändern verschlossen. In der Artistengarderobe des 18. und 19. Jh.s kennzeichneten k.artige Gewänder den exotischen Typus des ,Türken'. Auch die Jahrmarktszauberer erschienen in einer Art K., zu dem eine hohe, zuckerhutförmige Kopfbedeckung gehörte. Kaipak Hohe Lammfellmütze, getragen im Orient und in Ungarn. Kapotthut Frauenhut des 19. Jh.s, der sich um 1780 aus der Haube entwickelt hatte. Der brav wirkende Haubenhut kam in 205

unterschiedlichen modischen Formen vor, bedeckte aber stets Ohren und Hinterkopf und wurde am Kinn mit einer Bandschleife geschlossen. Koller Breiter Schmuckkragen. K. (auch Halsfraise, —> Fraise, genannt) und kurze Hose gehörten zum traditionellen —> Trikotanzug der männlichen Akrobaten des 19. Jh.s. Abb. 12. Korsage Ein (hüftlanges) auf Figur gearbeitetes, meist versteiftes und dekolletieres Kleidoberteil oder Gewandstück. Als K. bezeichnen wir heute auch den körpermodellierenden —* Trikotanzug der Artistinnen, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s aus den traditionellen —>· Puffen- und —»· Pagenanzügen entwickelt hatte. Abb.16-19. Korsett Stark formendes Gewandteil (der Unterkleidung), das den Leib durch Schnürung und Versteifung dem modischen Schönheitsideal entsprechend verschlankte und auspolsterte. K.s waren im 19. Jh. in der Frauenkleidung obligatorisch. Abgesehen von ihrer jeweiligen modischen Form, dienten sie stets dazu, die Körpermitte zur jWespentaille' zusammenzuschnüren, so daß die weiblichen Geschlechtsmerkmale, Busen und Hüften, in einer ausgeprägten .Sanduhr1-Silhouette hervortraten. In der ersten Hälfte des 19. Jh.s trugen auch eitle Männer K.s. Kothurn Halbhoher, absatzloser, weicher Stiefel der Akrobaten des 19. Jh.s. Name und Form wurden 206

von einer antiken Fußbekleidung übernommen, die ihrerseits aus dem Orient stammte und vom 7. Jh. v. Chr. bis in die römische Kaiserzeit von beiden Geschlechtern getragen wurde. Der neuzeitliche Akrobatenk. war meist vorn geschnürt; die Athleten erschienen in sandalenartig durchbrochenen Varianten, die mit Schuhknöpfen zu schließen waren, sog. —» Römersandalen. Der K. war das alternative Schuhwerk zum —* Escarpin. Abb.9, 16-18. Krinoline Zunächst Bezeichnung für die mit Roßhaar (frz. ,crin') versteiften Unterröcke des mittleren 19. Jh.s. Der Name ging nach der Jh.mitte auf die kuppeiförmigen Stahlreifengestelle über, die die Kleidersilhouette der Jahre 1856-67 bestimmten. Lame" Gewebe aus Metallfäden, die mit (Kunst-) Seide übersponnen sind. Leotard Gymnastikanzug (ursprünglich mit tiefem u-förmigen Ausschnitt), benannt nach dem französischen Trapezkünstler Jules Leotard. Litze Schmale geflochtene oder gedrehte Borte aus mehreren sich über- und unterkreuzenden Fäden; an Uniformen ein militärisches Rangabzeichen. Livree Uniformähnliche Bedienstetenkleidung. Das Personal der Zirkusse (Musiker, Requisiteure, Platzanweiser) erscheint seit dem späten 18. Jh. in einer einheitlichen, von der Direktion verliehenen L.

Maillot Die in Prankreich übliche Bezeichnung für —> Trikot, nach dem französischen Kostümbildner Maillot (gest. 1838) benannt, der an der Pariser Oper angeblich Wolltrikots für die Tänzer eingeführt hat.

Mull Leichtes, feinfädiges Baumwollgewebe, aber weniger fein und kostspielig als —> Mousseline.

Manegefrack Siehe —* Frack.

Narrenkappe Enganliegende Kappe mit gepolsterten Stoffhörnern, deren Spitzen mit Schellen besetzt waren. Die N. hatte sich aus mittelalterlichen Kopfbedeckungen entwickelt. Abb.9.

Manschette (Versteifter) Ärmelabschluß an Hemden und Blusen, auch als separate .Röllchen'. In letzterer Form ergänzten die M.n —* Koller und —+ Truse der Akrobatentrikots des 19. Jh.s. Abb.5, 12. Medici-Kragen Ein seitlich mehr oder weniger das —>· Dekollete rahmender und im Nacken hochstehender Spitzenkragen, der Ende des 16./Anfang des 17. Jh.s in der Damenmode populär war. Zuerst in Italien getragen, wurde er durch Maria de Medici (15731642) in Frankreich und von dort in ganz Europa lanciert. In der historistischen Bühnenkleidung des späten 18. und frühen 19. Jh.s war der M. neben —»· Puffen und Schlitzen das wesentliche Erkennungsmerkmal eines Damenkostüms im altertümlichen Stil. Abb.5. Mieder Enganliegendes, oft verstärktes und geschnürtes Oberteil der Frauenkleidung mit kurzen Ärmeln oder ärmellos; auch Leibchen, Schnürleib oder —> Taille genannt. (Im 20. Jh. oft Bezeichnung für ein leichtes, elastisches —> Korsett.) Abb.l, 5, 7, 16, 20. Mousseline/Musselin/Musslin Hauchdünnes feinfädiges Gewebe, meist aus Seide oder Baumwolle.

Nanking Dicht gewebter Kattun aus einer rötlichgelben chinesischen Baumwollsorte, benannt nach der Stadt Nanking.

Pagenanzug Historisierendes Bühnenkostüm für die Rollen junger Pagen, die wie der Cherubim aus Beaumarchais' „Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit" (1784) seit dem späten 18. Jh. traditionell mit Frauen besetzt wurden. Charakteristisch waren gepuffte, später auch anliegende Oberschenkelhosen, die der spanischen Hoftracht des 16./17. Jh.s entnommen waren und es erlaubten, die Beine der Darstellerinnen freizügig den Blikken des Publikums zu präsentieren. Abb.l, 19. Pagodenärmel Ein am Oberarm anliegender und sich zum Handgelenk hin erweiternder Ärmel in Dreiviertellänge. In der Artistengarderobe des 19. Jh.s waren P. vor allem für den exotischen Kostümtyp des Chinesen charakteristisch. Abb. 8. Paillette Metall- oder Kunststoffplättchen mit einem Loch in der Mitte zum Aufnähen auf Gewänder und Accessoires. Die Kostüme von Gommeuse, Soubrette und Clown waren nach 1900 oft vollständig mit P.n überzogen.

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Pantalon Der P. (der plurale Gebrauch des Wortes wurde erst im Laufe des 19. Jh.s üblich) ist nach Pantalone, einer Figur der Commedia dell'arte, benannt. Lange Hosen waren im 17. und 18. Jh. wie die Halskrause ein Kostümmerkmal komischer Figuren (Abb.l). Im Alltag jener Zeit wurden sie im wesentlichen nur von Fischern und Matrosen getragen. Die langen Hosen der Seeleute und Arbeiter der Hafenstädte wurden ab 1789 von den Anhängern der Französischen Revolution übernommen, nach 1791 besonders von den radikalen Jakobinern, die aus diesem Grund „Sansculotten" (Männer ohne Kniehosen) gerufen wurden. P.s begannen sich seit 1795 allmählich in der Herrenmode durchzusetzen, allgemein akzeptiert wurden sie erst nach 1830. Die Artisten und Soldaten gehörten zu den ersten, die die traditionellen Kniehosen durch lange Beinkleider ersetzten. Die P.s der Directoire- und Empirezeit waren extrem enganliegend und reichten kaum bis auf die Knöchel. Abb.3. Pelzverbrämung Die Einfassung von Kleidersäumen mit Pelzwerk. Plastron Ein um 1900 aufgekommener Brusteinsatz aus gestärktem Stoff, der, unterhalb der Weste getragen, Hemd oder Bluse vortäuschte. Groteske Varianten dieses Garderobestücks waren bei den Zirkusaugusten und Varietekomikern beliebt. Polnischer Rock Männerrock mit —» Pelzverbrämung, Knebelverschlüssen und —* Schnurbesatz über der Brust.

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Posamenten Sammelbegriff für textile Besatzartikel wie Borten, —» Litzen, —> Tressen, —» Schnüre, Fransen, —» Quasten, —* Brandenbourgs, bespannte Knöpfe etc. Prinzeßkleid Ein in der Taille durchgehend, nur mit Längsnähten auf Figur gearbeitetes Kleid. Der Modeschöpfer CharlesFrederick Worth (1826-95) benannte eine 1864 kreierte Damentoilette dieses Zuschnitts nach der damaligen Princess of Wales. Auch die —» Korsagen der Artistinnen waren der Frauenmode entsprechend oft im Prinzeßstil geschnitten (Abb. 17, 18). Puffen Bauschige kurze Ärmel oder Hosenbeine. Im 18. Jh. die übliche Bezeichnung für die historisierenden gepufften Oberschenkelhosen der Schauspieler und Akrobaten, die damals stets über enganliegende Kniehosen gezogen wurden. Abb.l. Pumphose (Von Pomp, ,Prunk, glanzvoller Auftritt'.) Eine pludrige, häufig gepolsterte, knielange Herrenhose, im 16. und frühen 17. Jh. in Mode. Die Akrobaten des 16. Jh.s trugen sie neben den oberschenkelkurzen —+ spanischen Hosen oder —»· Puffen, welche sich dann später bei den Wanderkünstlern allgemein durchsetzten. In der Artistengarderobe des 19. Jh.s wurden P.n bzw. Pumpanzüge zum Charakteristikum der Zirkusclowns. Zunächst noch sackartig schlotternd, erhielten sie nach 1900 Versteifung und elegante Verzierung. Abb.11. Pumps Ausgeschnittener Schlupfschuh (also nicht durch

Riemen oder Schnürung gehalten). Ans Lackleder gefertigt, mit flachem Absatz und einer Seidenschleife versehen, war der P. im 19. Jh. zunächst ein Tanz- und Galaschuh des Herrn. Seit etwa 1900 wurde er, mit einem modischen Absatz ausgerüstet, von der Damenmode übernommen. Abb. 19, 20. Quaste/Troddel —>· Posament, gebildet aus einem Büschel gleichlanger Woll- oder Seidenfaden, die am oberen Ende zusammengefaßt werden und an einer Schnur herabhängen. Traditionelle Verzierung des —»· Fes. Retrousse Hochschürzen Kleiderrocks.

des

Revers Umschlag oder Aufschlag an Kleidungsstücken. Abb.2, 15. Römersandale Siehe thurn.

Ko-

Rhingrave/Rheingrafenhose Zur Kavalierskleidung der Zeit um 1655-80 gehörende weite, etwa knielange Rockhose, die überreich mit Bandschluppen besetzt war. In vereinfachter und schenkelkurzer Version gehörte die R. zum typischen Erscheinungsbild eines männlichen Akrobaten im 18. Jh. Saffian Feines, weiches, oft leuchtend eingefärbtes Ziegenleder. Samt Feines Gewebe, meist aus Baumwolle, mit seidig-weicher, pelzartiger Oberfläche von kurzem Flor. Satin Sammelbezeichnung für Gewebe in —» Atlasbindung mit glatter, hochglänzender Oberfläche.

Schärpe Breites, leuchtend farbiges Gürtelband, das, um Taille und Hüfte drapiert, einen sehr dekorativen Effekt erzielt. S.n werden häufig auch von einer Schulter diagonal über die Hüfte geschlungen. Abb.3, 4. Schamhose Kurze (fleisch- oder marmorfarbene) Hose zur Bedekkung der Geschlechtsteile bei den Nacktdarstellern und -darstellerinnen der ,Tableaux vivants' im 19. und frühen 20. Jh. Schleppe Hinten am Boden nachschleppendes Teil eines Gewandsaums; auch als selbständiges Kleidungsstück, an den Schultern oder an der Taille befestigt. Abb. 18, 20. Schnur Langes, dünnes, aus mehreren Fäden zusammengedrehtes oder geflochtenes Band, auch als Kleiderbesatz oder -Verschluß. Schoß In der Taille angesetzter, die Hüften, auch die Oberschenkel oder Knie bedeckender Teil von Männerröcken, Frauenmiedern (—> Mieder), Jacken und Mänteln. Abb.6, 15. Schwedenkragen Ungestärkter, breiter Schulterkragen, vorn in eckiger Fasson. Der S. wurde von den Soldaten zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges lanciert und ist nach dem Schwedenkönig Gustav II. Adolf benannt, der besonders kostbare Exemplare trug. Im frühen 19. Jh. war diese Kragenform in der historisierenden Auftrittsgarderobe der männlichen Kunstreiter und Akrobaten populär. 209

Similistein Imitierter Edelstein. Smok Näharbeit, bei der der Stoff durch einen Zierstich in kleine Falten gerafft und gebündelt wird, so daß ein wulstartiges Relief entsteht. Abb. 16. Smoking Schwarzer Gesellschaftsanzug des Herrn mit seidenen —» Revers. Der Name, abgeleitet von engl. ,smoke' (rauchen), entstand deshalb, weil die englischen Gentlemen diesen Anzug zuerst nur zum Aufenthalt im Rauchsalon ihres Clubs anlegten. Ohne die charakteristischen —» Schöße des —> FVacks, aber wie dieser aus schwarzem —> Tuch gefertigt, war der S. ein offizieller und dennoch bequem zu tragender Anzug. Er soll 1889 vom Herzog von Sutherland aufgebracht worden sein; 1894 tauchte die Bezeichnung S. erstmals auf dem Kontinent auf. Soubrettenröckchen Der genretypische, ,halblange' Kleiderrock der Soubretten und Gommeuses der Jahrhundertwende. Das S. war zwar länger als der —» Tutu der Tänzerinnen und Kunstreiterinnen, aber doch erheblich kürzer als die langen Röcke der modischen Frauenkleidung. Es reichte gewöhnlich bis zur Mitte der Wade. Abb.21. Soutache Fachbezeichnung für eine feine, geflochtene Seidenschnur zu Besatzzwecken, auch in der sog. S.stickerei verwendet. Abb.18. Spanische Hose Oberschenkelkurze Hose mit kugelförmigen, gepufften Beinen. Sie war vom

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16. bis zum frühen 17. Jh. Bestandteil der europäischen, insbesondere spanischen Hoftracht. Die Artisten männlichen wie weiblichen Geschlechts behielten die S. seitdem als charakteristisches Beinkleid in ihrer Garderobe bei. In Deutschland nannte man diese Hosenform auch —» Puffen, in Frankreich trousses; die eingedeutschte Bezeichnung —* Truse wurde im 19. Jh. zum Fachterminus für die kurze Gymnastikhose der Akrobaten, in der die S. weiterlebte. Abb. l, 5. Spenzer Enganliegende, nur bis zur Taille reichende Männerjacke mit kurzen Ärmeln, benannt nach dem englischen Lord G.J. Spencer. Die Zirkuskünstler des frühen 19. Jh.s übernahmen dieses Garderobestück aus der Herrenmode. Abb.5. Straß Ein stark lichtbrechendes, bleihaltiges Glas, das zur Imitation von Edelsteinen, insbesondere von Diamanten, verwendet wird. Benannt wurde es nach seinem Erfinder, dem Straßburger Juwelier Georges-Frederic Stras (1700-73). Taft Dichtes, feinfädiges Seidengewebe in Leinwandbindung. T.stoffe wurden um 1900 bevorzugt als Material für die Unterröcke und das Futter der Damenkleider verwendet, um das erotisch raschelnde —> Frou-Frou zu erzeugen. Taille 1. Die schmale Körpermitte, Gürtellinie. 2. Im 19. Jh. gebräuchliche Bezeichnung für das bis zur Taille reichende, enganliegende Kleidoberteil, im Unterschied zur längeren —> Korsage.

Talar Amtstracht der Richter, Universitätsprofessoren und Geistlichen. Tresse Meist mit Metallfäden durchzogene, schmale, flache Borte als schmückender Besatz an Gewändern; an Uniformen war die T. gleichzeitig Rangabzeichen. Trikot 1. Elastische Wirkware (Stoff) aus Wolle, Baumwolle oder Seide, benannt nach einem nordfranzösischen Textilort. 2. Kleidungsstück aus T.stoff, das große Teile des Körpers bedeckt (Leibt., Beint., Ganzt.). Marmor- und fleischfarbene T.s kamen um 1800 in Gebrauch und dienten im 19. Jh. der Illusion von Nacktheit, da eine reale Entblößung von Leib und Beinen nicht erlaubt war. Zu Ende des Jh.s kamen auch buntfarbene T.s auf. Speziell für die Akrobaten wurden T.s so charakteristisch, daß diese sich über ihre eigentliche Bedeutung hinaus als Über- und Sammelbegriff ihrer enganliegenden Auftrittsgarderobe etablierten. Abgesehen von den Leib- und Beint.s wurden auch —> Trusen, —>· Leotards und —» Korsagen, die gewöhnlich aus festem Stoff gefertigt waren, unter dem Begriff T. subsumiert. Truse Von frz. ,trousses'. Ursprünglich Bezeichnung für die Oberschenkelhosen der spanischen Hoftracht des 16./17. Jh.s. Im 19. Jh. Fachterminus für die kurzen Gymnastikhosen der Akrobaten, die traditionell über einem —> Trikotanzug getragen wurden. Abb. 12. Tschako Helm der Husaren.

Tuch Dichtes, gewalktes oder gefilztes Wollgewebe. Tüll Gittergewebe aus Baumwolle, Seide oder Chemiefasern, nach der frz. Stadt Tülle benannt. Türkische Hose Weites, sackförmig geschnittenes, knöchellanges Beinkleid mit nur kurzen eigentlichen Hosenbeinen, die um die Knöchel zusammengebunden sind. In der Türkei wurden Hosen traditionell von beiden Geschlechtern getragen. Die Artisten verwendeten häufig nicht die authentische Form der T., sondern beliebige, an den Knöcheln zusammengebundene Pluderhosen. Abb.6. Tunika Ursprünglich altrömisches Frauen- und Männergewand. In der Frauenkleidung wie in der Artistengarderobe des 19. Jh.s wurde der Begriff generell für einfache, gerade Kleider im Hemdschnitt (—» Chemisen) verwendet, vor allem, wenn eine Nachahmung antiker Tracht angestrebt war. Turnüre Gestell oder Roßhaarpolster, das über das Gesäß gelegt und mit Bändern um die Taille festgebunden wurde. Der Kleiderrock war über diesem „künstlichen Steiß" bauschig zusammengerafft. Im 19. Jh. kam die T. zweimal in Mode - zunächst in den Jahren 1869-75, dann 1882-88, nun als .Zweite T.' oder —> Cul de Paris bezeichnet. Tutu Kurzes Ballettrockchen, gewöhnlich aus —» Tüll oder —* Gaze gefertigt. Der nur knapp das Gesäß bedeckende, weit abstehende T. der Jahrhundertwende entwickelte sich aus dem mehr und 211

mehr verkürzten und versteiften „Sylphiden"- Rock, den die Tänzerin Marie Taglioni 1831 lanciert hatte.

um eine größere Körperfülle vorzutäuschen. Ein wirklich gut sitzendes W. mußte nach Maß angefertigt werden. Abb.22.

Twine Bezeichnung für den —>· Gehrock aus der Mitte des 19. Jh.s.

Zaddeln/Zetteln ,Herabhängende Zacken'. Modische Saumverzierung das 14./15. Jh.s. Die Säume wurden dabei zacken- oder zungenförmig ausgeschnitten bzw. mit Z. (in Kontrastfarbe) besetzt. Die Zaddelung erhielt sich in der Narrentracht; im 19. Jh. wurde sie durch den Historismus als effektvolle Kostümdekoration wiederentdeckt. Abb.8, 9, 19.

Vatermörder(kragen) Steifer, vorn offener Stehkragen des Herrenoberhemds im 19. Jh., der separat angeknöpft wurde und dessen scharfe Ecken (Vatermörder) bis über das Kinn hinausragten. Volant Breite Rüsche; von frz. 1 , , ,fliegen'. Ein lose herabfallender, gezogener, gefältelter oder plissierter Zierbesatz, vor allem an Kleidern und Unterröcken; im 19. Jh. sehr beliebt. Abb. 18. Waffenrock Ein auf Taille gearbeiteter Männerrock des 15. und 16. Jh.s mit knielangem —>· Schoß, zunächst unterhalb der Rüstung getragen. Der W. gelangte infolge des Historismus als ,altdeutsche1 Tracht in die Artistengarderobe des 19. Jh.s. Wams Enganliegendes, meist hochgeschlossenes, bis zur Taille reichendes Kleidungsstück der Männer, in verschiedenen Varianten vom Mittelalter bis ins 17. Jh. getragen. In der Artistengarderobe des 19. Jh.s gehörten Nachbildungen des altertümlichen W. zum .Spanischen Kostüm'. Abb.5. Watton 1. Unter das -> Trikot geschobenes Wattepolster, vor allem in Form falscher Waden und Schenkel. 2. —* Trikotanzug, gedoppelt ausgeführt und mit Watte oder Zellstoff gepolstert, 212

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Abbildungsnachweis

1 Seiltänzerin und „Hanns Wurst". Holzschnittillustration des Ankündigungszettels einer Seiltänzer- und Gauklergesellschaft. 1785. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. 2 Der Pariser Zirkusprinzipal Antonio Franconi, Kupferstich. Ende 18. Jh. Cabinet des Estampes. Bibliotheque Nationale, Paris. 3 „The Young Roscius". Handkolorierter Kupferstich. Verlegt bei F.W. Fores. London. 1804. H.R. Beard Collection. Theatre Museum, London (V & A). 4 Heinrich Freudweiler: „Auftritt der Kunstreitergesellschaft des Herrn Balp in Zürich". Gemälde. Ende 18. Jh. (1783?). Privatbesitz. Aufnahme: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich. 5 „Forioso, ou La Contredanse sur quattre Cordes." Handkolorierter Kupferstich aus der Folge „Le Bon Genre". Um 1805. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. 6 Türkischer Kunstreiter. Holzschnittillustration eines Ankündigungszettels. Wien. Um 1830. Sammlung Dr. Albert E. Fischer. 7 Indianische Kunstreiterin. Holzschnittillustration eines Ankündigungszettels. Wien. Um 1830. Ebd. 8 Chinesische Kunstreiter. Lithographie von „Pascal de la Guillotiere. Um 1825. Cabinet des Estampes. Bibliotheque Nationale, Paris. 9 Claude Gontard (um 1840). Illustration aus: Tristan Remy: Evolution du costume des clowns. In: Nouvel äge. Revue mensuelle de litterature et de culture. Nr.3. Paris 1931. 10 Tom Matthews (um 1830). Ebd. 11 Rot-weißes Wollkostüm des Shakespearean Jesters William F. Wallett. Um 1850. Theatre Museum, London (V & A). 12 Der Jongleur J.T. Doyle. Photographie von J.E. Pasonault. 1902. Library of Congress, Washington. 13 Kostüm des englischen Clowns ,Whimsical' Walker im Stil der 1880er Jahre. Um 1930. Theatre Museum, London(V & A). 14 „Das Dackelpferd im Cirkus Busch". Kolorierte Postkarte. 1906. Sammlung der Autorin. 15 Frack und Weste des Zauberkünstlers mit den wichtigsten geheimen Taschen. Illustration von Anton Stursa. In: Ottokar Fischer: Das Wunderbuch der Zauberkunst. (F.A. Perthes) Stuttgart 1929. 16 Trapezgymnastikerin. Illustration von Jules Garnier. In: Hugues LeRoux: Les jeux du cirque et la vie foraine. (E.Plon) Paris 1889. 221

17 Trapezgymnastikerin. Ebd. 18 Plakat der Dompteuse Nouma-Hawa. Farblithographie von Adolph Friedlander, Hamburg. Um 1885. Stadtmuseum, München. 19 Miss Delaporte. Music Hall-Künstlerin. Photographic. Um 1890. Gabrielle Enthoven Collection. Theatre Museum, London (V & A). 20 „Naya - La Reine de la Haute Gomme". Farblithographie von Delanchy, Paris. Um 1890. Collection de la Bibliotheque de l'Union Centrale des Arts De'coratifs, Paris. 21 Gaby Deslys. Postkarte. 1906. Theatre Museum, London (V & A). 22 „Our Flag". Photographic von J. Fowzer. 1901. Library of Congress, Washington.

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Abb. l Seiltänzerin und „Hanns Wurst". Holzschnittillustration des Ankündigungszettel einer Seiltänzer- und Gauklergesellschaft. 1758.

Abb.2 Der Pariser Zirkusprinzipal Antonio Franconi. Kupferstich. Ende 18. Jahrhundert.

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Abb.3 „The Young Roscius". Karikatur des englischen Schauspielers William Henry West Betty als Kunstreiter auf den Dächern der königlichen Theater Drury Lane und Covent Garden. (Im Vordergrund John Philip und Charles Kemble.) Handkolorierter Kupferstich. London. 1804.

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