Sozialliberalismus in Europa: Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert 9783412215774, 9783412209278


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Sozialliberalismus in Europa: Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert
 9783412215774, 9783412209278

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HISTORISCHE DEMOKRATIEFORSCHUNG Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 4 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Wolfram Pyta, Dian Schefold

Detlef Lehnert (Hg.)

SOZIALLIBERALISMUS IN EUROPA Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Friedrich Naumann im Stuhl sitzend, ca. 1918/1919 (Ausschnitt) © Bundesarchiv

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20927-8

Inhalt

Detlef Lehnert Zum historischen Ort des Sozialliberalismus in Europa . . . . . . . . . . . . .

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1. ZUR FRÜHGESCHICHTE DES DEUTSCHEN SOZIALLIBERALISMUS Dieter Langewiesche Sozialer Liberalismus in Deutschland. Herkunft und Entwicklung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Hans-Georg Fleck Sozialliberalismus und Gesellschaftsreform seit der Reichsgründungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ursula Reuter Die andere Fortschrittspartei – Johann Jacoby und Paul Singer . . . . . . . 67 Hans-Georg Fleck Wider die ‚Zügellosigkeit des sozialen Faustrechts‘. Gewerkschaftlicher Sozialliberalismus und Deutsche Fortschrittspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

2. FRIEDRICH NAUMANN UND DEUTSCHSPRACHIGE ZEITGENOSSEN Detlef Lehnert Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des modernen Sozialliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Jürgen Frölich „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht“. Friedrich Naumann und der Liberalismus im ausgehenden Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Inhalt

Karl Heinrich Pohl Gustav Stresemann und die Sozialpolitik im Kaiserreich. Sozialer Liberalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . 159 Detlef Lehnert Sozialliberale Tendenzen in Österreich und der Schweiz 1890–1920 . . 179

3. AUSGEWÄHLTE EUROPÄISCHE VERGLEICHSSTUDIEN Jiří Štaif Tomáš Garrigue Masaryk als Philosoph der sozialen Frage vor dem 1. Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Peter Brandt „Es gibt nicht einen Liberalismus, sondern viele“ – Sozialliberalismus in Skandinavien 1890–1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Christian Blasberg Sozialer Liberalismus als Instrument der Macht. Die ‚Ära Giolitti‘ und das Problem einer nationalen Identität für Italien . . . . . . . . . . . . . . 239 Stefan Grüner Arbeit, Bildung, Alterssicherung. Sozialer Liberalismus im Frankreich der Dritten Republik 1870–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

DETLEF LEHNERT

Zum historischen Ort des Sozialliberalismus in Europa

Eine raumzeitliche Eingrenzung des modernen Sozialliberalismus dürfte hinsichtlich eines Kerns des europäischen Kulturkreises weniger problematisch als Epochenbestimmungen sein. Mit Ausnahme der englischsprachigen Siedlerkolonien in Nordamerika und auf dem fünften Kontinent gilt: Es ist überhaupt geistig-kultureller und politischer Liberalismus jenseits seiner Ursprungsgebiete aus dem Aufklärungszeitalter erst im Entkolonialisierungsprozess des 20. Jahrhunderts auch in anderen Teilen der Welt – und nur sehr partiell – zu einer geschichtsmächtigen Kraft geworden. Die nicht allein sprachlichen, vielmehr politisch-kulturell verwurzelten Probleme lassen sich daran erkennen, dass z.B. in Japan die traditionelle konservative Regierungspartei sich 1955 als die „Liberaldemokraten“ etablierte. Schon das – nicht allein geografisch – lediglich halbeuropäische Russland zeigt jenseits skurriler postkommunistischer Gegenwartsphänomene wie der „Liberal-Demokraten“ des Rechtspopulisten Schirinowski die Einordnungsprobleme angesichts eines ungleichzeitigen Entwicklungsmusters: So hat es dort am Wendepunkt vom 19. zum 20. Jahrhundert auch marxistischen Liberalismus gegeben, der aus einer reformistisch gedeuteten Theorie von Marx und Engels das primäre historische Erfordernis der freien Entfaltung einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft herauslesen konnte.1 Von Potsdam an der Grenze zu Berlin aus, wo die zu diesem Band hinführenden Vorträge stattfanden2, zunächst weiter in nordöstlicher Richtung betrachtet reichte der Liberalismus des kerneuropäischen Verständnisses sicher noch bis zu alten Hansestädten des Ostseeraums wie Riga3 und darüber hin1 Vgl. Bo Gustafsson, Marxismus und Revisionismus, Frankfurt a.M. 1972, S. 291–312, mit dem Hinweis, dass „die russischen Marxisten von Anfang an zu einem großen Teil gezwungen waren, nicht die Unvermeidlichkeit des Sozialismus, sondern die des Kapitalismus zu propagieren“ (S. 296). 2 Vgl. den Tagungsbericht von Jens Thiel: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index. asp?id=3698&view=pdf&pn=tagungsberichte (13.7.2012, wie alle Webadressen dieses Beitrags). 3 Vgl. Ulrike von Hirschhausen, Baltischer Liberalismus im frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 29,1 (2003), S. 105–137; dies., Die Grenzen der

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Detlef Lehnert

aus bis St. Petersburg als einem spezifischen „Laboratorium der Moderne“.4 In südosteuropäischer Richtung betrachtet war Ungarn und insbesondere Budapest noch unbedingt wichtig, aber ebenfalls dann eher schon nahezu ohne stark liberal geprägtes Hinterland auf dem Balkan. Nach Süden hin gehört Italien mit zu den Kerngebieten der häufig den Liberalismus konstituierenden Spannungslinie Laizismus contra Konfessionalismus. Aber südlich einer dafür ein Weltsymbol – das Papsttum – beherbergenden Metropole Rom hat sich die moderne bürgerliche Gesellschaft kaum durchsetzen können. Hingegen bildete das schon in der Frühneuzeit kommerzialisierte Norditalien wirtschafts- und kulturgeschichtlich eher den Südrand von Mitteleuropa. Zum Südwesten hin sind manche geschichtlichen Problemlagen stets gefährdeter liberaler Tendenzen in Spanien mit Italien noch am ehesten vergleichbar.5

1. Übergangsphase in ein postbürgerliches Jahrhundert? Die historiografisch etablierte Annahme eines langen europäischen 19. Jahrhunderts von 1789 bis 1914 hat den Nachteil, den Übergangscharakter der höchst dynamischen Zeitspanne von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg aus dem Blickfeld verlieren zu können. Anstelle einer Quasi-Ontologisierung solchen Zeitmaßes, das auch erst um 1890 parallel mit den Fortschritten der Telegrafentechnik als Faktor moderner Raumüberbrückung alltagsweltlich vereinheitlicht werden konnte, macht er weitaus mehr Sinn, je nach historischem Ortsbezug und Fragehorizont unterschiedliche Jahrhundertspannen zu betrachten.6 Die europa- und universalgeschichtliche Symbolkraft der Zäsur 1789 hat zwei unzweifelhaft nur ganz zufällig in den Endziffern passende Vor- bzw. Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006. Dort erwähnter „Rigaer Munizipalsozialismus“ (S. 190) meint in solcher zeitgenössischen Terminologie sozialliberale Akzente in der Stadtverwaltung. 4 Vgl. Karl Schlögel, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, Frankfurt a.M. 2009. 5 Zu diesen Ländern finden sich, zumeist frühere Entwicklungen des Liberalismus betreffend, jeweils Beiträge in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. 6 Vgl. in diesem Sinne Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl. München 2010, S. 86 f. (Epochenmaß) u. S. 119–121 (Zeitmessung – mit der Besonderheit, dass Frankreich im Konkurrenzkampf um die Definitionsmacht über die Hochmoderne erst 1911 das auf London bezogene System übernahm). Als kleine themenbezogene Abhandlung: Ders., Liberalismus als kulturelle Revolution. Die widersprüchliche Weltwirkung einer europäischen Idee, Stuttgart 2004.

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Nachfahren: Mit der Glorious Revolution in England 1688/89 und den beginnenden Impulsen des liberalen Aufklärungsdenkens seit Locke ließe sich ein gewissermaßen protobürgerliches Jahrhundert datieren, in dem Konzepte für die Zukunft formuliert wurden. „Niemand in einer bürgerlichen Gesellschaft kann von ihren Gesetzen ausgenommen werden“7 ist dessen elementarster Programmsatz gegen Absolutismus und Standesprivilegien. Eine weitere Periodisierung bis zum Umbruchsjahr 1989, in dem sich nicht allein der Ostblock als Gegenmodell auflöste, sondern das auch ungefähr die Zeitenwende zum kommunikationstechnologisch getragenen westlichen Neoglobalismus markiert, entspricht ohnehin der gängigen Zugrundelegung eines kurzen 20. Jahrhunderts seit 1914. Aber schon das Zentenarium der Großen Französischen Revolution von 1789 konnte das Jahr 1889 als geeignet erscheinen lassen, aus der Rückbesinnung auf solches historisches Erbe auch die Zukunft – nicht allein vom Eiffelturm als Symbol modernster Zivilisation – neu in den Blick zu nehmen. Nunmehr eben nicht zufällig konstituierte sich 1889 die Zweite Internationale der Arbeiterbewegung, mit dem Achtstundentag als einer Kernforderung, in jenem Jubiläumsjahr unter Berufung auf das zu verallgemeinernde historische Erbe von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. In der Halbdekade zuvor hatten in den europäischen Führungsmächten England, Frankreich und Deutschland jeweils grundlegende Richtungsentscheidungen die politischkulturelle Landschaft bestimmt8: Seit der Gladstoneschen Wahlreform 1884 war Großbritanniens Parlamentarismus auf der letzten Wegstrecke zu seiner Entprivilegierung und Demokratisierung, einschließlich damit bald verbundener Teilvergewerkschaftlichung des entstehenden New Liberalism. Im Jahre 1889 konstituierte sich mit dem London County Council ein regionales Selbstverwaltungsorgan unter politischer Führung der „Progressives“, einer sozialliberalen Bündnisformation von Reformliberalen, FabierReformsozialisten und Gewerkschaftlern, also nicht mehr nur Stadtelitenund Middle Class-Repräsentanten umfassend.9 Erst um 1890 hatte die von der britischen Insel ausgehende frühe Industrialisierung auch schon im Deutschen Reich – aber sonst in keinem europäischen Land außer Belgien – die höchsten Beschäftigtenteile im sekundären Sektor konzentriert. Erst 7 John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a.M. 1967, S. 262 (engl. 1689/90). 8 Vgl. Elfi Bendikat, Wahlkämpfe in Europa 1884 bis 1889. Parteiensysteme und Politikstile in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Wiesbaden 1988. 9 Vgl. Paul Thompson, Socialists, Liberals and Labour. The Struggle for London 1855– 1914, London 1967; Susan D. Pennybacker, A Vision for London 1889–1914, London 1995.

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1889–1989 ist das Jahrhundert der sich gesellschaftlich verankernden europäischen Hochindustrialisierung, mit landesspezifisch unterschiedlichen Übergangsphasen aus dem primären Sektor zu Beginn und in die Vorrangstellung des tertiären Sektors am Ende dieser Entwicklungsspanne. In Frankreich erschien nach überwundener Boulanger-Krise die Dritte Republik nun politisch-institutionell endgültig gefestigt, bevor sie in der Dreyfus-Krise der Jahrhundertwende sich auch noch als geistig-kulturell hinreichend fundiert bewährte – dann allerdings bereits mit beginnender sozialistischer Unterstützung im Bündnis der Linksrepublikaner.10 Im Deutschen Reichstag hatte zwar Bismarck 1887 letztmalig, unter propagandistischer Nutzung der mit nachbarlicher Boulanger-Krise verbundenen RevanchekriegSzenarien, eine konservativ-nationalliberale „Kartell“-Mehrheit mobilisiert. Noch im Dreikaiserjahr 1888 schien aus der Sicht liberaler Hoffnungen das preußisch-konservative Regime nur am seidenen Faden einer historischen Kontingenz – der Todeskrankheit des etwaigen Reformkaisers Friedrich III. mit seiner „englischen“ Frau Victoria – inflexibel überlebt zu haben. Tatsächlich ist Bismarck, trotz Vollendung seiner Sozialgesetze 1889, dann aber 1890 am Aufstieg der Sozialdemokratie zur stimmenstärksten Partei noch unter geltendem Sozialistengesetz endgültig gescheitert. Es war in historischer Terminologie also der Vierte Stand der Arbeiterschaft, der inzwischen auch den Dritten Stand des Bürgertums drängte, weiterhin die Ziele von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu verallgemeinern, nicht allein den Adel und den Klerus zu entprivilegieren. Als das „Drohende unserer Situation“ bezeichnete mit anderem Blickwinkel Max Weber in seiner Freiburger Antrittsrede 1895 die Übergangslage, „daß die bürgerlichen Klassen als Träger der Machtinteressen der Nation zu verwelken scheinen und noch keine Anzeichen dafür vorhanden sind, daß die Arbeiterschaft reif zu werden beginnt, an ihre Stelle zu treten“.11 Darin ging Naumann 1901 einen Schritt weiter, als er die „Zerbröckelung“ der sozialen Basis möglicher bürgerlicher Dominanz registrierte: „Die Neuwerdung des Liberalismus – ich spreche von allen Strömungen mit Einschluß der Sozialdemokratie – die Herstellung einer antiagrarischen deutschen Linken ist auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts nur möglich, wenn ihre parteipolitische Hauptführung bei der heutigen Sozialdemokratie liegt.“12 Die historische Überblicksdarstellung von 10 Vgl. George Whyte, Die Dreyfus-Affäre, Frankfurt a.M. 2010. 11 Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 23. 12 Friedrich Naumann, Der Niedergang des Liberalismus, in: Ders., Werke, Bd. 4, Köln 1964, S. 218 u. 225.

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Sheehan spricht daher pointiert vom „jahrzehntelangen Niedergang“ im Sinne einer „Geschichte des Untergangs des Liberalismus“.13 Zuvor erscheint – nach Phasen der Ursprünge bis Mitte des 19. Jahrhunderts und der „Suche“ nach eigenständigem Verständnis von „Gesellschaft“, „Volk“ und „Staat“ – nur die kurze Zeitspanne „1866–77“ als die eigentliche „,Liberale Ära‘“, während danach eine „,Zweite Reichsgründung‘“ bereits die Periode von „Spaltung und Niedergang“ einleitete.14 Insofern gilt es hier zu begründen, warum mit der gewollten Ausnahme der Beiträge des ersten Teils die Mehrzahl der in diesem Band versammelten Texte ungefähr 1890 ihren Anfangs- und mit selten mehr als einigen Ausblicken nach 1920 ihren Endpunkt der Betrachtung hat. Das ist nur teilweise dem beabsichtigten Vergleich mit der politischen Wirkungsspanne von Friedrich Naumann geschuldet, dessen 150. Geburtstag ursprünglich hierzu einen Erinnerungsanstoß geliefert hat.15 Die Epochenzäsur nach dem Ersten Weltkrieg ist weniger erläuterungsbedürftig, weil mit einem damals beginnenden „Zeitalter der Extreme“16 vielfach schon ein post- oder gar antiliberaler Grundzug verbunden war. So hatten sich unter dem Massenwahlrecht noch erfolgsstrebende Parteien liberaler Herkunft tendenziell zu entbürgerlichen und jedenfalls für soziale Aufsteigerund ggf. auch krisenbetroffene Absteigergruppen zu öffnen.

13 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1770–1914, München 1983, S. 318 f., was mit der allerdings „ziemlich kurzen Zeitspanne“ in Verbindung gebracht wird, in der „die Klientel der liberalen Parteien sich nach 1930 als besonders leichte Beute für die Nazi-Propaganda erwiesen hat“ (S. 332). Dabei sollte aber – das Stichwort bei Naumann aufgreifend – ein „Zerbröckelungs“-Effekt dergestalt nicht unterschätzt werden, dass sich rechte Nationalliberale zur DNVP, manche gemäßigte Liberale zur Stimmabgabe für das BrüningZentrum und Linksliberale zur SPD hin orientierten, als nach Stresemanns Tod 1929 und der Selbstaufhebung der DDP in die „Deutsche Staatspartei“ 1930 die liberalen Kandidaturen zunehmend gesichts- und aussichtslos erschienen. 14 Ebd., S. 5 (Stichworte aus dem Inhaltsverzeichnis). Eine Ausnahme von solcher Verfallsgeschichte blieben auf der Basis eines fortbestehenden Privilegienwahlrechts die Städte als „die letzten Bastionen des Liberalismus im Deutschen Reich“ (S. 269) auch noch in der spätwilhelminischen Zeit. Dem wird hier nicht weiter gefolgt, da ein Band „Kommunaler Liberalismus in Europa“ im Ergebnis einer Tagung vom Juni 2012 für diese Schriftenreihe in Vorbereitung ist. 15 Zu seiner politischen Gesamtkonzeption vgl. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Nau­mann im Wilhelminischen Deutschland (1860– 1919), Baden-Baden 1983. 16 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

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Was aber macht den Übergang zu den 1890er Jahren zu einem geeigneten Periodisierungsvorschlag für die Herkunft des modernen, in manchem vielleicht bereits auf eine postbürgerliche Zukunft verweisenden Sozialliberalismus?17 Die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung sieht überwiegend „den Bürger primär als eine Figur des 19. Jahrhunderts“18, auch wenn stets das geschichtliche Phänomen der Ungleichzeitigkeit mit ins Kalkül zu nehmen ist, das – jeweils aber nicht epochenprägende – Vorgriffe in die Zukunft ebenso wie historische Struktur- und Mentalitätsüberhänge der Vergangenheit einschließt. Der Erste Weltkrieg mit seinen Folgewirkungen konnte letztlich an Prozessen der Entbürgerlichung wohl nur beschleunigen, was schon an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert begonnen hatte. Das leitet nunmehr über zu der weiteren, das Themenspektrum sondierenden Frage nach einer möglichen gesellschaftlichen Ortsbestimmung.

2. Gesellschaftliche Ortlosigkeit oder Brückenfunktion des Sozialliberalismus? Die jedenfalls für das Deutsche Kaiserreich gebräuchliche Redeweise von liberalem Bürgertum, sozialdemokratischer Arbeiterbewegung, Agrarkonservatismus und Zentrumskatholizismus formuliert zwar über manche Differenzierungen hinweg, verfehlt aber in Grundzügen nicht die „sozialmoralischen Milieus“, die jeweils auch „eine Ritualisierung subkultureller Loyalitätssymbole“ zur Grundlage hatten.19 Spätestens die Erwähnung der katholischen Zentrumspartei erinnert stets daran, dass in Deutschland der Konservatismus und Liberalismus vorwiegend in protestantischen Milieus verwurzelt waren. „Das Bürgertum“ des Kaiserreichs getrennt nach Wirtschafts-„Bourgeoisie“,

17 Die umfassende Studie von Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, bezieht sich wesentlich auf Quellenmaterial bis 1880 und liefert so indirekt eher Anhaltspunkte, die Neuorientierungen danach gesondert zu thematisieren; materialreich auch Wolther von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln 2002. 18 So das Fazit zu den hier nicht einzeln aufführbaren Bielefelder und Frankfurter Projektstudien bei Thomas Mergel, Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 537. 19 M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 68 f.

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„Bildungsbürgertum“ und „Kleinbürgertum“ zu betrachten20, ist nicht allein sozialgeschichtlich, vielmehr auch für politisch-kulturelle Milieuanalyse eine sinnvolle Unterscheidung. Allerdings entfernten sich diese Teilgruppen zunehmend voneinander und bildeten innere Differenzierungen aus. Von der Großbourgeoisie des konzentrierten Industrie-, Handels- und Finanzkapitals war der reale Status eines mittelständischen Unternehmers allmählich nicht weniger geschieden als vom Kleinbürgertum. Innerhalb des Bildungsbürgertums sind zumindest Staatsbeamte von Freien Berufen zu unterscheiden, wobei jeweils nur ein Teil spezifische Intelligenzberufe ausübte, während die universitär ausgebildeten Professionalisten in manchem ein anderes Profil zeigten. Das Kleinbürgertum gliederte sich in den überwiegend selbständig tätigen alten Mittelstand und die vornehmlich unselbständigen neuen Mittelschichten, wenn diese – trotz manchen Mentalitätsüberhangs auch bei den sich „Privatbeamte“ nennenden Angestellten – nicht vielleicht doch besser als eine postbürgerliche Formation verstanden werden sollten. Über die im deutschsprachigen „Bürger“-Begriff zugeschüttete Doppelung in Citoyen und Bourgeois hinaus enthielt auch der „Staats-Bürger“ noch eigentümliche Unschärfen: Tatsächlich war ein großer Teil der Bildungsbürger im Staatsdienst beschäftigt oder von staatsnahen Reglements abhängig, so wie das bürgerschaftliche Gemeinwesen staatsbezogen definiert wurde, übrigens einschließlich der evangelischen Landeskirchen. Wenn ein breites Verständnis des Sozialliberalismus auch einerseits sich ihrer sozialen Verantwortung in konkretem Handeln stellende Unternehmer sowie andererseits liberale Arbeitergewerkschafter umschließen soll, wird dann nur mehr gesellschaftliche Ortlosigkeit im Sinne des Primats einer Grundorientierung konstatiert werden können. Doch hatte die Realität der bürgerlichen Klassengesellschaft im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts solche Varianten allmählich in den Hintergrund gedrängt. Am Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert konzentrierten sich die modernen sozialliberalen Akzente recht auffällig im soziokulturellen Milieu des Bildungsbürgertums jenseits der höheren Verwaltungsbeamten. Wenn angesichts unüberbrückbarer Distanz zur Großbourgeoisie auf der einen und antiliberal umpolitisiertem altem Mittelstand auf der anderen Seite gerade die Intelligenzberufe sich zunehmend als „freischwebend“ dazwischen wahrnehmen konnten, disponierte solche Konstellation teils weniger zu gesamtbürgerlicher Klassensolidarität als vielmehr neuen Brückentheorien: einesteils aufsteigende neue Mittelschichten und die erstarkte Arbeiterbewegung als progressiven Bündnispartner der Linksliberalen gewinnen zu wollen, an20 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, 2. Aufl. München 2006, S. 712 ff.

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derenteils Politik auch schon mehr pragmatisch im Sinne von wechselnden Mehrheitsbildungen um die eigene Vermittlerrolle herum zu verstehen. Das Auslaufen eines wesentlich vom Aufstieg und mindester innerer Kohäsion des Bürgertums bestimmten 19. Jahrhunderts musste nicht zwingend das Ende des politischen Liberalismus oder auch nur seiner progressiven Rolle bedeuten. Die Stufenfolge zu „Lib-Lab“ im Übergang ins 20. Jahrhundert und erstem Labour-Kabinett MacDonald 1924 mit liberaler Unterstützung in Großbritannien, bevor das Mehrheitswahlrecht die Polarität wesentlich auf Labour vs. Konservative zuspitzte, stand für eine der möglichen sozialliberalen Varianten jener Umbruchszeit. Die revolutionsinspirierte politische Sprache in Frankreich (und der französischsprachigen Schweiz) hat Linksliberale als „Radicaux“ (bzw. Sozialliberale als Radicaux-Socialistes) bezeichnet. Es dürfte „Linksrepublikaner“ die brauchbarste Übertragung sein, und eine beiderseitige Annäherung im Verhältnis zu einem Reformsozialismus war dort seit der Jahrhundertwende ebenfalls zu verzeichnen.21 Das „Wilhelminische Zeitalter“ seit 1890 schlechthin zur „,postliberalen‘ Ära“ zu erklären, kontrastiert zunächst auffällig mit einem an gleicher Stelle präsentierten Schaubild: Es weist Stagnation in der Stimmenzahl von Zentrum und Konservativen, hingegen dynamisches Wachstum bei SPD und daneben auch den Liberalen als deutschen Basistrend im Zeitraum 1898 bis 1912 aus – nachdem sich allerdings dort im Jahrzehnt zuvor der Liberalismus tatsächlich auf dem Weg zum Niedergang befunden hatte.22 Naumanns Nationalsoziale23 sind in der kurzen Zeit ihrer Existenz zwischen 1896 und 1903 nicht deshalb organisationspolitisch so kläglich – bis hin zu nur einem Reichstagsmandat (Hellmut v. Gerlach 1903) – gescheitert, weil die Verbindung der sozialpolitischen Ideen mit dem auch in manchen Nachbarländern virulenten Nationalismus kaum Adressaten finden konnte. Wenn Naumanns politischer „Katechismus“ mit seiner durchgängigen FrageAntwort-Form in das Fazit ausmündete: „Was ist also euer Grundbekenntnis? Nationaler Sozialismus auf christlicher Grundlage“24, so klang das zunächst geradezu halsbrecherisch postliberal: den Versuch einer Synthese der weltanschaulichen Gegenströmungen wagend und damit vielleicht auch darin schon von einem postbürgerlichen Zeitalter kündend. Die „Lage zahlreicher Bildungsvertreter“ wurde dort als „politisch heimatlos“ beschrieben, „weil 21 Vgl. Thomas Raithel, Liberalismus in Frankreich um 1890, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 163–176. 22 Vgl. Sheehan, Liberalismus, S. 259 u. 261. 23 Vgl. auch Dieter Düding, Der nationalsoziale Verein 1896 bis 1903, München 1972. 24 Friedrich Naumann, National-sozialer Katechismus, Berlin 1897, S. 36.

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sie an die staatserhaltende Kraft der alten Parteien nicht mehr glauben und zu der sozialistischen Bewegung noch kein Zutrauen haben“.25 Zumal wegen der Massenunwirksamkeit der Nationalsozialen und angesichts der sozialliberalen Bündnisorientierung seiner letzten Lebensdekade war Naumann für die späteren Nationalsozialisten propagandistisch weithin uninteressant. So ließe sich auch in umgekehrter Richtung fragen, ob mehr Erfolg für sein ursprüngliches Projekt nicht sogar teilweise präventiv gegen antiliberale Varianten der Deutschnationalen – als wichtigsten Nazi-Verbündeten – hätte in Stellung gebracht werden können. Jedenfalls soll hier den auf publizistische Effekte abzielenden Behauptungen von Verbindungslinien Naumanns hin zu den an die Macht gelangenden Nationalsozialisten nicht unnötig viel Aufmerksamkeit gewidmet werden.26 Als schon damals gründlich aus der Zeit fallend erwies sich insoweit aber die bürgerliche Vereinsform der Nationalsozialen, die mächtigeren Interessen- und Agitationsverbänden außer persönlichen Netzwerken und traditionellen Vereinsblättern nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Die 25 Ebd., S. 27. 26 Im geschichtspolitischen Richtungsstreit hat der SPD-Intellektuelle Erhard Eppler im Februar 2011 dazu ausgeführt: „Aus dem National-Sozialen Verein (1896–1903) einen Vorläufer der Nazis zu machen, ist nicht einmal den Nazis selbst eingefallen. Mit diesem Verein hat sich Naumann vom antisemitischen Hofprediger Stöcker abgesetzt. Der europäische Sozialstaat ist in mehr oder minder demokratischen Nationalstaaten entstanden. In diesen Kontext gehört Friedrich Naumann. Mit jenem Bündel aus Ressentiments, das die Nazis schnürten: Antiliberalismus, Antisozialismus, Antisemitismus, Antihumanismus, mit Rassismus und Neuheidentum hatte Naumann nichts zu tun.“ http://www.fr-online.de/politik/meinung/der-linke-liberale/-/1472602/7200352/-/ index.html. – Wenn Götz Aly einen Monat zuvor diesen Kronzeugen anrief: „Der Nobelpreisträger und ordoliberale Wirtschaftswissenschaftler Friedrich A. Hayek zählte 1944 Friedrich Naumann zu den Wegbereitern des Nationalsozialismus“ (http://www. fr-online.de/meinung/kolumne-zur-friedrich-naumann-stiftung-die-leiche-im-kellerder-fdp,1472602,6715952.hmtl), dann war es doch wohl mehr die Weltwirtschaftskrise und nicht ein um 1930 in breiter Öffentlichkeit nahezu vergessener Naumann, was die NSDAP zwischen 1928 und 1932 von 2,6 % auf 37,3 % anwachsen ließ. Sich auf Hayek zu berufen, der u.a. behauptete „daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat“ sei (Friedrich A. v. Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, in: Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. 7, Tübingen 2004, S. 62), soll Naumanns Sozialliberalismus ersichtlich nicht in seiner nationalen Zeitgebundenheit problematisieren, sondern nunmehr zugunsten eines anti-sozialstaatlichen Neo-Hayekianismus entsorgen: „Es sind die sozialen Wohltaten, aus denen die Schulden hauptsächlich rühren“, so Götz Aly höchst einseitig im Juli 2012 zur Finanzkrise (http://www.fr-online.de/meinung/kolumne-das-gespenst-derkrise,1472602,16530024.html).

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seit 1890 zunehmend organisatorisch konsolidierte und milieuverwurzelte SPD mitsamt ihr verbundenen Freien Gewerkschaften war dabei für einen Reformliberalismus nicht unbedingt das Hauptproblem. Allerdings standen Naumann und etliche seiner Gefolgsleute ursprünglich in der umdisponierten Nachfolge der christlich-sozialen Arbeiteragitation des Hofpredigers Stoecker und wollten zunächst der SPD den Massenanhang streitig machen.27 Die Erfolglosigkeit solcher Versuche bald erkennend und auch um die zentrumskatholische und agrarkonservative Milieukonsistenz wissend, hätte immer noch eine zumindest teilweise postbürgerliche Neukonstituierung des Linksliberalismus – u.a. mit einer stärkeren Angestelltenkomponente – eine Zukunftschance jenseits der unzeitgemäßen bürgerlichen Honoratiorenpolitik bieten können. Bei den linksliberalen Reichstagsfraktionen zeigte sich erst bis 1912 gegenüber 1890 eine wesentliche Verschiebung der Sozialstruktur: Rückläufig war die Beteiligung von Beamten und Geschäftsleuten, steigend der Anteil von Anwälten und Lehrberufen.28 Ohnehin passte besonders die Schwerindustrie ebenso wie die staatsloyale höhere Beamtenschaft damals eher zu den elitären Freikonservativen, der Bismarckpartei „sans phrase“. Mit der Kategorie einer schon am Horizont sichtbaren postbürgerlichen Epoche wird auch der Rückfall in frühere Deutungsmuster des wilhelminischen Zeitalters im Sinne nur einseitig restaurativer Tendenzen vermieden, ohne aber damit zu verkennen, dass u.a. der höhere Staatsapparat weiterhin unbestreitbar zugleich aus vorbürgerlichen Machteliten geprägt war.29 Zumal sich die liberale Entwicklungsdynamik als im Verlauf der 1880er und bis weit in die 1890er Jahre hinein politisch gebrochen zeigte, gab es in der wilhelminischen Periode dann eigentümlich ungleichzeitige Kombinationen aus vor- und postbürgerlichen Elementen. Sogar die antisemitisch-völkische Agitation des 1893 gegründeten Bundes der Landwirte (BdL), geführt vom ostelbischen Großgrundbesitz und politisch von preußischen Deutschkonservativen, war bei aller reaktionären Einfärbung der Inhalte in den Formen durchaus zugleich Vorbote der post-

27 An den Ursprüngen ließ Naumann, Katechismus, überhaupt keinen Zweifel: „Viele unserer Freunde sind christlich-sozial gewesen“ (S. 32). 28 Vgl. die Tabelle bei Sheehan, Liberalismus, S. 283. 29 Den europäischen Imperialismus einem adeligen Kriegerstand aufs Konto setzen zu wollen, wie es manche antikolonialistische liberale Wahrnehmung suggerierte, lenkt allzu sehr von dessen hochkapitalistischen und massengesellschaftlichen Triebkräften ab, die freilich auch zusammengenommen nicht mehr in das klassische bürgerliche Schema passten.

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bürgerlichen Formen der Massenpropaganda.30 Dies galt dann zunehmend auch für die nationalistischen und imperialistischen Agitationsverbände, die zwar bürgerlich geführt und gestützt wurden, somit nicht Ausdruck einer Subordination unter die aristokratische Dominanz im höheren Staatsbeamtenund Offizierskorps waren.31 Aber sie passten auch nicht mehr zum Typus der aufgeklärten bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie in wesentlichen Bereichen noch die Reichsgründungsphase geprägt hatte. Noch direkter in absorbierender Konkurrenz zu etwaigen Chancen eines interessen- und damit realitätsnäher konzipierten möglichen Naumann-Projekts stand der 1893 aus der StoeckerBewegung gegründete, seit 1896 diesen Namen tragende Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband.32 Zu einem der Prototypen des Zeitalters der Großorganisationen wurde der zunächst noch honoratiorenpolitisch unbedeutende Mitgründer des Alldeutschen Verbands Hugenberg, der aber seine Berufsprägung als Krupp-Manager dann schon im späten Kaiserreich für den Aufbau eines deutschnationalen Presseimperiums nutzte.33 Allerdings wird man bei aller skeptischen Beurteilung der Erneuerungsversuche des kaiserzeitlichen Linksliberalismus, wozu auch die im politischen Splittergruppen-Niveau verharrende Gründung einer Demokratischen Vereinigung um Theodor Barth gehörte34, die weitaus erfolgreichere Spätphase im Wirken Naumanns von 1910 bis 1919 nicht vergessen dürfen. Erst der Tod des als Bismarck-Gegner prinzipienfesten, den neuen Herausforderungen nach dessen Abtritt jedoch nicht gewachsenen Freisinnsvorsitzenden Eugen Richter hatte den Weg zur Neuformierung des Linksliberalismus als Fortschrittliche

30 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, 2. Aufl. Bonn 1975. 31 Vgl. Peter Walkenhorst, Nation–Volk–Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007. 32 Vgl. Iris Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft: der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893–1933, Frankfurt a.M. 1967. 33 Vgl. Dankwart Guratzsch, Macht durch Organisation. Die Grundlegung des Hugenbergschen Presseimperiums, Düsseldorf 1974; Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981. 34 Vgl. Konstanze Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung, Tübingen 1968. Ihm schwebte eine „liberal-sozialistische Fortschrittspartei“ als Verbindung von Linksliberalen und SPD vor, noch den älteren Parteigriff jenseits der festen Organisationen verwendend: Theodor Barth, Liberalismus und Sozialdemokratie, Berlin 1908, S. 23.

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Volkspartei im März 1910 frei gemacht.35 Unter dem Gesichtswinkel von Naumanns Konzept, die neue Fortschrittspartei wesentlich als Scharnier eines Mehrheitsblocks von der SPD bis zu den Nationalliberalen zu profilieren, wurden die Reichstagswahlen 1912 zum symbolpolitischen Triumph, ohne einen realpolitischen Kurswechsel des Obrigkeitssystems bewirken zu können. Die Kriegsereignisse ergänzten die so definierte Reformallianz auch noch um die vom südwestdeutsch-demokratischen Flügel um den geläuterten Erzberger aus der Nähe zu den Konservativen gerückte Zentrumspartei. Mit historisch singulären 18,5 % Stimmenanteil der DDP zur Nationalversammlungswahl 1919 konnte sich Naumann als deren bald gewählter Vorsitzender mehr als bestätigt fühlen. Zwar ging in der Revolutionspolarisierung die DVP Stresemanns zunächst nach rechts verloren, konnte aber dann als eine noch relativ gemäßigte Reserve für enttäuschte DDP-Anhängergruppen bereitstehen. Der Status einer anfänglich durchaus wesentlich von einem sozialliberalen Kompromiss geprägten Weimarer Republik war bis 1922 besser fundiert als lange Zeit von einer nur auf das Ende fixierten Geschichtsschreibung wahrgenommen. Umso einschneidender waren dann aber die – Facharbeiter mehr proletarisierenden und Mittelschichten weiter entbürgerlichenden – Konsequenzen des Krisenjahrs 1923 mit Rheinlandbesetzung und Hyperinflation. Dies bildete das Vorspiel zur finalen ökonomisch-politischen Katastrophe von 1930 bis 1933. Im bekannten zeitgenössischen Schichtungsmodell des Sozialdemokraten Theodor Geiger, welches statistisch aus der Berufszählung von 1925 erarbeitet wurde, ist zwischen 1 % kapitalistischer Oberschicht und jeweils 18 % altem sowie neuem Mittelstand von einem Bürgertum nach dem Epochenschnitt von Krieg und Inflation gar nicht mehr die Rede.36 Davon unterscheidet sich das aus der Soziologie vertraute „Dahrendorf-Häuschen“ der Gesellschaftsanalyse eines Sozialliberalen der 1960er Jahre nur mehr graduell: Die mit 12 % enger gefasste neue aufstiegsorientierte Mittelschicht – gewissermaßen im Obergeschoss neben dem mehr statusfixierten Mittelstand von 20 % – hieß bei ihm nun „Dienstklasse“ in der Verwaltung von Staat und Wirtschaft. Die schmale Oberschicht von 1 % wurde dort als „Eliten“ bezeichnet,

35 Dass es sich um eine gelungene politische Wortschöpfung handelte, könnte auch ein späteres Selbstverständnis der SPD als „fortschrittliche Volkspartei der Bundesrepublik“ (Protokoll SPD-Parteitag 1968, S. 1029) andeuten, was letztlich aber nur eine mit dem Zeitgeist kompatiblere Variante des sonst häufiger verwendeten Terminus „linke Volkspartei“ war. 36 Vgl. Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932, S. 73.

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dies wohl auch im Hinblick auf den expandierenden Manager- anstelle des Eigentümerstatus in der Direktionsmacht über großen Kapitalbesitz.37 Eine heutige – mehr ins Feuilleton als in zeitgenössische Milieuanalysen38 gehörende – modische Rede von „neuer Bürgerlichkeit“ lebt wesentlich von der Begriffsunschärfe einer sonst variantenreichen deutschen Sprache, die keinen Unterschied zwischen einer in Distinktionen ruhenden Bourgeoisie und verallgemeinerungsfähigem Citoyen-Status macht. Zu diesem Themenkomplex hat Dahrendorf, unmittelbar der Geiger entlehnten Überschrift „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ nachfolgend, recht treffend bemerkt: „Der Staatsbürger ist der Feind der Klassen, weil er keine Menschen zweiter Klasse neben sich duldet“39, wohlbemerkt in dem Sinne, dass Benachteiligungen nicht hingenommen und schon gar nicht als Freiheitsgewinn – auf Kosten anderer – gerechtfertigt werden sollen. So gesehen waren vor allem diejenigen Klassenkämpfer, die Privilegien erhalten und sich zur breiten Volksmasse abgrenzen wollten, nicht die Fürsprecher von mehr Freiheit für alle im Zeichen der Gleichheit und Solidarität. Eine wesentliche Verengung des klassischen liberalen Verständnisses der Mit-Bürgerlichkeit betraf die Geschlechterrollen: „Man dachte die Staatsbürgergesellschaft von der Gemeinschaft der ‚Hausväter‘ her. Frauen gehörten nicht dazu.“40 Insofern zählte auch die in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts auflebende – wenn auch zunächst nur im Erfurter Programm der SPD von 1891 verankerte – Forderung nach dem Frauenstimmrecht und überhaupt einer Gleichstellung der Frauen zu den Reformtendenzen des Aufbruchs in ein dann zunehmend postbürgerlich geprägtes 20. Jahrhundert.

3. Wer und was kann in Deutschland als sozialliberal gelten? Als vor nunmehr ungefähr einer Generationsspanne eine vergleichende Bestandsaufnahme zum Stichwort „Sozialer Liberalismus“ unternommen wurde, sollte das Fazit vor zu hohen Erwartungen warnen: „Der Begriff ‚Sozialliberalismus‘ ist kein ganz eindeutiger, sondern eher ein schillernder 37 Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1971, S. 97. 38 Die Studie von Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland, Bonn 2007, verwendet zwar für eine von insgesamt neun Teilkulturen den Begriff „Engagiertes Bürgertum“ (S. 93), meint aber damit wesentlich auch die Bereitschaft zu einer zivilgesellschaftlichen Beteiligung. 39 Dahrendorf, Gesellschaft, S. 86. 40 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 33.

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Begriff.“41 Tatsächlich wird aber dort sogar recht apodiktisch das historische Vorbild des gebräuchlichsten Verständnisses benannt: „Erst Friedrich Naumann und seine Gefolgschaft im Nationalsozialen Verein also haben dem ‚Sozialliberalismus’ deutlicheres Profil verliehen, das auch später nie mehr so klar hervorgetreten ist wie in jener Zeit, als Naumann und sein Kreis die Probleme des modernen Industriestaates theoretisch durchdacht, politisch dessen Schwächen zu beheben versucht haben.“42 Allerdings verweist der Einwand eines anderen Beitrags, dass „Naumanns soziales Wollen zweifelsfreier ist als seine umstrittene Zuordnung zum Liberalismus“43, die er als Nationalsozialer zunächst auch nicht unmittelbar ersichtlich beanspruchte, auf eine verbreitete terminologische Unschärfe. Auch die „1901 ins Leben gerufene Gesellschaft für Soziale Reform“ betreffend dürfte eine vorgenommene Zurechnung von Schmoller und Sombart zum „sozial orientierten Liberalismus“44 hinsichtlich ihrer sozialpolitischen Akzente nachvollziehbarer sein als diejenige zum Liberalismus.45 Im hiermit vorgelegten Band wird „Sozialliberalismus“ im allgemeineren Sinne als Oberbegriff mehrerer unterscheidbarer Aspekte verwendet, für die in anderem Kontext auch eine jeweils unterschiedliche Benennung nützlich sein könnte: – Sozialer Liberalismus eignet sich als (normativ-)analytische Kategorie für einen Ausschnitt der Gesamtwirklichkeit wie geistig-kultureller, politischer oder ökonomischer Liberalismus (als weitere Nuance wäre möglich, deskriptiv vom Wirkungsfeld eines sozialen Liberalismus zu sprechen und nur bei programmatischer Aufladung die Hervorhebungsform Sozialer Liberalismus zu verwenden); – als sozial-liberal lassen sich tatsächliche oder angestrebte Verbindungen bezeichnen, in denen eine sich als liberal und eine als sozialdemokratisch/ 41 Karl Holl, Überlegungen zum deutschen Sozialliberalismus, in: Ders. u.a. (Hg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 237. 42 Ebd., S. 238. 43 Lothar Döhn, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei, in: Holl u.a. (Hg.), Liberalismus, S. 92. 44 Günter Trautmann, Die industriegesellschaftliche Herausforderung des Liberalismus, in: Holl u.a. (Hg.), Liberalismus, S. 46. 45 Tatsächlich gehören Sombarts „Händler und Helden“ (1915) und Schmollers (1916 für sein „Jahrbuch“ verfasste) antisemitische Zeilen gegen „Hugo Preuß und Walther Rathenau“ (München 1922) wohl eher zu den Erblasten des spätwilhelminischen Antiliberalismus – dazu in diesem Band S. 128. Zum übergreifenden Kontext vgl. Ursula Ratz, Sozialreform und Arbeiterschaft. Die „Gesellschaft für Soziale Reform“ und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Berlin 1980.

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sozialistisch verstehende Organisation kooperieren (sollen), z.B. in einer Regierungskoalition; – Sozialliberalismus im spezifischeren Sinne wäre dann eine deutlich sozialpolitisch akzentuierte und/oder die gesellschaftlichen Verflechtungen gegenüber den individuellen Gesichtspunkten positiv betonende Strömung innerhalb des organisierten bzw. weltanschaulichen Liberalismus. Unbrauchbar ist jedenfalls ein lineares Entwicklungsschema, das mit Altliberalismus eine noch quasi-ständische Privilegienordnung verbindet (z.B. die Stadt als eine Art Bürgerzunft), ferner den klassischen Liberalismus auf Laisser-faire reduziert und nur den modernen Liberalismus dann als Sozialliberalismus ausbuchstabiert. Hingegen macht es mehr Sinn, den klassischen Liberalismus als breit angelegte Strömung mit gleichermaßen einer geistigkulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Programmatik zu fassen. Immerhin wollte ein linksliberaler Intellektueller wie Dahrendorf „eher in alt- als in neuliberalem und sicher eher in sozial- als in nationalliberalem Sinne“ verstanden werden.46 Als neuliberal waren primär wirtschafts- statt ursprünglich mehr verfassungspolitische Prioritäten gemeint. In Gegenüberstellung zum National- sollte der Sozialliberalismus dann – außer mehr der linksliberal-fortschrittsparteilichen Tradition – zugleich einer stärker von der Bürgergesellschaft als der Staatsnation geprägten Sichtweise verpflichtet sein. Bei Habermas wird „der altliberalen Staatsrechtslehre von Mohl, Rotteck, Welcker und anderen“ darüber hinaus bescheinigt, gegenüber der späteren unfruchtbaren rechtspositivistischen Gegenüberstellung von Form und Inhalt „einen besseren Schlüssel zur demokratischen Idee des Rechtsstaates“ anzubieten: „Unter ‚Gesetz‘ verstanden diese Autoren eine allgemeine und abstrakte Regel, die unter Zustimmung der Volksrepräsentation in einem durch Diskussion und Öffentlichkeit gekennzeichneten Verfahren zustandekommt.“47 Das Öffentlichkeits- und Diskussionsprinzip markiert insoweit die geistig-kulturelle Unterfütterung des politischen Repräsentativsystems. Es verweist darin implizit zugleich auf die sozialen Voraussetzungen eines solchen Aktivbürgerstatus, der mit ungebildeten sowie in Unmündigkeit lebenden Untertanen schwerlich zu bewerkstelligen ist, also die aktive Förderung von Bildung, sozialer Mündigkeit und politischer Kritikfähigkeit mit einschließen muss. Der Beitrag von Dieter Langewiesche in diesem Band akzentuiert nachdrücklich, dass mit Schwerpunkt im südwestdeutschen Raum schon in der 46 Dahrendorf, Gesellschaft, S. 21. 47 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992, S. 169.

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ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sinnvoll nach der Herkunft sozialliberaler Ideen und Bestrebungen gefragt werden kann. Bereits sein einschlägiges Überblickswerk hat daran keinen Zweifel gelassen: „Es existierte immer, auch wenn das meist bestritten wird, ein Sozialliberalismus. Er steht am Anfang, nicht der Wirtschaftsliberalismus.“ Allerdings musste angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen seit der forcierten Industrialisierung „,sozialer Liberalismus‘ neu definiert werden“48, er war aber nicht erst als ein völliges Novum zu erfinden.49 Gegen das Naumannsche Ursprungsprivileg spricht auch die Tatsache, dass es lange vor ihm sozialliberale Tendenzen im Brückenschlag von liberalzu sozialdemokratischen Kräften gegeben hat. Der im Sinne einer „anderen Fortschrittspartei“ von Ursula Reuter vorgestellte radikale 1848er Demokrat Johann Jacoby hatte insoweit zwar noch weiter in der Geschichte zurückliegende Motive.50 Doch Paul Singers Herkunft aus einem linksbürgerlichen Berliner Milieu, das nach der Jahrhundertwende den Sozialfortschrittlichen Kommunalverein um Barth und Preuß hervorbrachte51, ist bislang weniger bekannt als sein Aufstieg zu einem zweiten SPD-Vorsitzenden neben August Bebel.52 Auch der zu Zeiten Bebels und Singers bedeutendste sozialdemokratische Parteihistoriker Franz Mehring hatte, wie Hans-Georg Fleck neben seiner Typologie liberaler Grundpositionen darlegt, eine noch mehr in Stufen erfolgende Linksentwicklung aus liberalen Ursprüngen hinter sich. In den politischen Sprachgebrauch eingeführt haben dürfte 1893 der Berliner Staatswissenschaftler Ignaz Jastrow den Begriff „sozialliberal“ in dem Sinne, dass Sozialreform zum „Lebenselement“ des Liberalismus werden müsse.53 Wenn der sozialdemokratische Revisionist Bernstein 1899 schrieb, man könne „den Sozialismus auch organisatorischen Liberalismus nennen“, so dementierte er zugleich, „der bürgerlichen Gesellschaft als einem zivilistisch geordneten Gemeinwesen an den Leib zu wollen“. Vielmehr musste es – im 48 Langewiesche, Liberalismus, S. 7. 49 Dazu auch bereits Donald G. Rohr, The Origins of Social Liberalism in Germany, Chicago 1963. 50 Bei Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. Neuwied 1998, wird aber dargelegt, welche offensive Interpretation des sozialen Gehalts einzelner Grundrechte in die Zukunft gerichtet möglich wurde. 51 Vgl. Langewiesche, Liberalismus, S. 203. 52 Vgl. Ursula Reuter, Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, Düsseldorf 2004. 53 Vgl. Ignaz Jastrow, Sozialliberal. Weckruf zu den Landtagswahlen, Berlin 1893, S. 6; zu seinem Wirken vgl. Dieter G. Maier, Ignaz Jastrow. Sozialliberale Positionen in Wissenschaft und Politik, Berlin 2010.

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Sinne des Citoyen, nicht des Bourgeois – darum gehen, auch „den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgertum oder Bürgersein zu verallgemeinern“.54 Das führt zu der Einsicht, dass gerade der genuin liberale Selbsthilfegedanke in seiner organisierten, von der individuellen auf die kollektive Ebene gehobenen Form eine sozialliberale Gewerkschaftsbewegung ebenfalls schon Jahrzehnte vor Naumann inspirierte, wie der zweite Beitrag von Hans-Georg Fleck verdeutlicht.55 Die Gewerkschaften waren in Europa nicht allein teils (marxistisch-)sozialistisch, teils (anarcho-)syndikalistisch ausgerichtet, sondern im Ursprungsland Großbritannien zunächst auch sozialliberal orientiert. Das nahm der später an der Münchener Universität schulenbildende Lujo Brentano als bedeutendster sozialliberaler Ökonom mit zum Vorbild, dem auch deshalb in diesem Band ein Beitrag gewidmet ist. In dieser Hinsicht schleppte offenbar die Naumann-Zentrierung einer Genealogie des Sozialliberalismus auch noch eine Doppelverengung wesentlich norddeutscher (im Sinne des gleichnamigen Bundes preußischer Hegemonie von 1867 gemeinter) Prägung mit sich: Deren Hauptmotive waren einerseits mehr oder minder etatistisch ausgehend von der Bismarckschen Sozialpolitik, andererseits wesentlich reformprotestantisch getragen. Etliche nicht-preußische Demokraten wie der einflussreiche „Frankfurter Zeitung“-Verleger Leopold Sonnemann argumentierten jedoch bereits eine Generation zuvor sozialliberal im Sinne der Offenheit für gemein- und gemischtwirtschaftliche Lösungen: „Wo die Kraft des Einzelnen nicht hinreicht muß die Genossenschaft an deren Stelle treten. Wo die Genossenschaft sich ungeeignet zeigt muß die Gemeinde oder der Staat eintreten“.56 Nicht ausgerechnet den preußenakzentuierten Machtstaat der Reichsgründung von 1871 mit zusätzlichen Kompetenzen stärken zu wollen, ist dann ein nicht zu unterschätzender Faktor der interventionsskeptischen Haltung vieler Linksliberaler geworden. Gegenüber Naumanns Quadriga „Gotteshilfe–Selbsthilfe–Staatshilfe–Bruderhilfe“ im Untertitel seines nationalsozialen Sprachrohrs „Die Hilfe“ klang fast eher noch die sozialistische Maxime, dass die Befreiung der Arbeiter ihr eigenes Werk sein müsse, klassisch (sozial-)liberal, zumal das bürgerliche Jahrhundert den Gottes- wie den Staatsglauben auch im arbeitenden Volk abgeschwächt hatte. Die Herkunft seines Kreises aus der konservativ-staatsvormundschaftlichen christlich-sozia54 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 132 u. 128. 55 Vgl. dazu Hans-Georg Fleck, Sozialliberalismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 1868–1914, Köln 1994. 56 Sonnemann an Bebel 7.6.1868, in: Ilse Fischer (Hg.), August Bebel und der Verband deutscher Arbeitervereine 1867/68, Bonn 1964, S. 192.

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len Bewegung des Hofpredigers Stoecker hing Naumann wohl in einer die Massenwirksamkeit behindernden Weise noch immer nach, als er sich längst davon verabschiedet hatte.57 Dass solche Emanzipation in moderner sozialliberaler Richtung teilweise schon gegen Ende der nationalsozialen Wirkungsperiode Naumanns angelegt war, zeigt der Beitrag von Jürgen Frölich. 58 Mit jeweils knapp 40 % der Mandate waren bekanntlich die Nationalliberalen die führende Gründungspartei des Kaiserreichs, so wie die Mehrheitssozialdemokraten die führende Gründungspartei der Weimarer Republik wurden – auch wenn beide an Grenzen weiterhin mächtiger außerparlamentarischer konservativer Rivalen stießen. Der historische Ort des Sozialliberalismus konnte dann, in systematisch auswertender Rückschau über die vorgelegten Einzelstudien hinausgreifend, gerade in einer Scharnierfunktion zwischen dem nationalliberalen und sozialdemokratischen Führungsanspruch zu finden sein, unter gemeinschaftlicher Abwehr der weiterhin nicht zu unterschätzenden Beharrungskräfte. Insofern war Naumanns diesbezügliche Vision des „Blocks von Bebel bis Bassermann“ mehr als das sozialliberal ausgependelte Projekt einer parlamentarischen Kombination nach der tendenziellen Abkehr von seiner nationalsozialen Synthese aus „Demokratie und Kaisertum“ (1900), dann ausgelöst vom Lerneffekt der Daily-Telegraph-Affäre 1908. Das außenpolitisch verantwortungslose Gerede eines Kaisers Wilhelm II. verwies auf dringenden Bedarf, durch Verfassungszusatz endlich die parlamentarische Verantwortlichkeit der entstandenen Reichsregierung zu erreichen.59 Ein wesentlich von seinem Talent als „Menschenfischer“ belebter „Naumann-Kreis“ ermöglichte ihm dabei nach dem Ausscheiden aus dem Pfarrersberuf materiell die neue postbürgerliche Existenzform des sozusagen wander-

57 „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“, heißt es in der „Internationale“ durchaus bezeichnend für die geringe Neigung, sich z.B. von Hofpredigern für Thron und Altar primär zu „Hilfe“-Empfängern paternalisieren zu lassen. 58 Der Titel einer Broschüre des zur SPD übergetretenen Paul Göhre, Vom Socialismus zum Liberalismus. Wandlungen der Nationalsocialen, Berlin 1902, bestätigt diese Entwicklung aus kritischer Perspektive: Er sieht die „Flottenvorlage des Winters 1897–98“ (S. 21) als Katalysator einer Überordnung der nationalimperialistischen Motive und in den Folgejahren „socialliberale und liberal verwässerte kathedersocialistische Gedankengänge wachsenden Einfluß“ dort gewinnen (S. 29) 59 Statt vieler Einzeltitel sei hier nur ein thematisch einschlägiges Überblickswerk genannt: Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890–1918, Frankfurt a.M. 1995.

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predigenden Berufspolitikers.60 In der Tat bestand damals „kein Überfluß an Leuten, die politische Dinge mit Ernst und Nachhaltigkeit treiben“, und die von Naumann vertretene „politische Pflicht, daß jeder eine Meinung haben soll“, erschien ihm „vielfach noch ganz unentwickelt“, denn auch „sehr gebildete Männer und Frauen sind oft politisch meinungslos“.61 Obwohl dem reformatorischen Anliegen nach – und durch seine Person verstärkt – die Haupttendenz schließlich zum organisierten Linksliberalismus hinführte, war neben einem Kern des eher parteifernen sozialprotestantischen Milieus62 das Spektrum in beide Richtungen weiter ausgreifend: Links wechselten einige wie der Pfarrer und dann langjährige Reichstagsabgeordnete Paul Göhre zur SPD oder stießen bald zu Barths Demokratischer Vereinigung wie Hellmut v. Gerlach.63 Dieser hat aus seinen Erfahrungen als Abgeordneter den Sinn der Parlamentsdebatten massendemokratisch neu bestimmt: „Wenn Parlamentsreden die Beschlüsse des Parlamentes nicht beeinflussen können, so können sie um so stärker das Ergebnis der nächsten Wahl beeinflussen.“64 Die parlamentarische Rhetorik war im Zeitalter der organisierten Fraktion auf vorgefasste Beschlusslagen ausgerichtet und wollte über die Berichterstattung in Tageszeitungen das Wahlpublikum erreichen. Rechts davon bedeutete die Herkunft aus dem ursprünglichen NaumannKreis auch für einen jungen Nationalliberalen wie Stresemann eine Mitprägung durch Akzente eines Sozialen Liberalismus, wie der Beitrag von Karl-Heinrich Pohl anhand seines Engagements für Tarifpartnerschaft und die Angestelltenversicherung im späten Kaiserreich begründet. Dabei war allerdings kein Bündnis mit der SPD vorgesehen, es wurde nur ihre gerade in Stresemanns Tätigkeitsfeld Sachsen offensichtliche Stärke nüchtern ins Kalkül genommen. Sein Profil als sozialer Aufsteiger hätte in der Weimarer Republik für die Massenverankerung eines nach links wie rechts offenen Liberalismus hilfreich gegen den Rechtstrend in den Mittelschichten werden

60 Vgl. Ursula Krey, Der Naumann-Kreis im Kaiserreich. Liberales Milieu und protestantisches Bürgertum, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 7 (1995), S. 57–82; dies., Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000, S. 115–147. 61 Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum, 4. Aufl. Berlin 1905, S. 231. 62 Vgl. Klaus Tanner (Hg.), Gotteshilfe–Selbsthilfe–Staatshilfe–Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000. 63 Vgl. Christoph Koch (Hg.), Vom Junker zum Bürger. Hellmut von Gerlach – Demokrat und Pazifist in Kaiserreich und Republik, München 2009. 64 Hellmut von Gerlach, Das Parlament, Frankfurt a.M. 1907, S. 75.

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können, wenn er nicht geradewegs ein Prototyp des versierten Angehörigen einer neuen berufspolitischen Klasse gewesen wäre.65

4. Erkenntnisgewinne aus europäischen Vergleichsperspektiven? Ähnlich problematisierbar wie beim frühen Liberalismus – mit teils noch traditionellen Vorstellungen einer Daseinsvorsorge sowie vor der vollen Ausprägung der Klassengesellschaft des Kaiserreichs mit den modernen „sozialen Fragen“ – und hinsichtlich von reformbereiten Nationalliberalen wie Stresemann ist die terminologische Gemengelage in vielen Nachbarländern. Das gilt weniger für die Schweiz, die einen klassischen Freisinn mit Berührungspunkten zum südwestdeutschen Raum als dominierende und entsprechend breit aufgestellte Kraft zeigte, aber schon im Vergleich zum angrenzenden Österreich, wie in diesem Band mit dem Eigentext des Herausgebers dargelegt wird. Sobald neben einer katholischen und marxistischen auch noch eine nationalideologische Liberalismuskritik den Zeitgeist prägte und Anhängerschaft mobilisierte, blieb für ein halbwegs gleichrangiges liberales Segment kein hinreichender politisch-sozialer Raum. Diese entliberalisierende Wirkung des Nationalismus in der Habsburgermonarchie ist gewiss auch für das Deutsche Reich als Erklärungshintergrund verwendbar: „Am Ende des 19. Jahrhunderts begründete das Bekenntnis zur Nation und zum Machtstaat eine stark empfundene überparteiliche Gemeinsamkeit des (protestantischen) Bürgertums.“66 Insoweit ging dann in Österreich noch am ehesten aus liberalen Strömungen innerhalb der Tendenzen zur Sozialpolitik eine wenigstens teilweise als sozialliberal einzustufende Minderheitsgruppierung hervor. Noch mehr als im österreichischen war im tschechischen Landesteil jener cisleithanischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie der Liberalismusbegriff mit dem Stigma von Eliten- oder gar Fremdherrschaft belastet. So kam es, dass der herkunftsbedingt auch vollgültig deutschsprachige Sozialphilosoph Tomáš Masaryk im Juli 1899 an Bernstein erfreut schrieb, „daß wir in so vielen Punkten, wenn nicht übereinstimmen, so doch eigentümlich parallel denken. In der Tat ist der Parallelismus Ihrer ‚Voraussetzungen‘ und meiner ‚Grundlagen‘ ein sehr großer“.67 Der Beitrag von Jiří Štaif macht einen Unterschied daran fest, dass Bernstein den sozialdemokratischen Marxismus 65 Zu seiner politischen Biografie vgl. Jonathan Wright, Gustav Stresemann 1878–1929, München 2006. 66 Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, Köln 2009, S. 166. 67 Zit. nach Gustafsson, Marxismus, S. 313 (u. 485/Anm. 1).

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durch Revision erneuern, hingegen Masaryk ihn mit seinem undoktrinär christlichen Humanismus aus dem kritischen Geistesleben zurückdrängen wollte. Doch erscheint so der gleichzeitig national- und kosmopolitische Prager Denker im Sinne der Berliner Terminologie des Kreises um Barth und Preuß gewissermaßen als ein „sozialfortschrittlicher“ Autor jenseits des traditionellen Liberalismus und Sozialismus. Dem Überblick von Peter Brandt zu den skandinavischen Ländern ist deren relativ größte Ähnlichkeit mit der Schweiz in gesellschaftlicher und mit Großbritannien68 sowie den Niederlanden69 in staatspolitischer Hinsicht zu entnehmen: Den bauerndemokratischen Ursprüngen nach war in Skandinavien wie in der Schweiz wenig „manchesterliberale“ Prägung zu erwarten. Vor solchem Hintergrund ist es aber bemerkenswert, dass im Unterschied von der Bürgerblockpolitik der Schweizer Freisinnigen in den 1920er Jahren der skandinavische Liberalismus mehr Gemeinsamkeiten und Bündnisbereitschaft zur Sozialdemokratie hin zeigte. Dies galt besonders ausgeprägt dann allerdings nur für dezidiert sozialliberale, als „Sozialradikale“ auftretende Minderheiten, die am ehesten dort sich erfolgreich artikulieren konnten, wo sie wie frühzeitig in Dänemark und bald auch in Schweden eine reformistische Sozialdemokratie antrafen. Der Entwicklungstrend von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie verband den nordwesteuropäischen Staatenraum mit dem politischen Modell des evolutionären Wandels und der allmählichen Demokratisierung. Hingegen ist ähnlich wie in Deutschland der italienische Liberalismus unbeschadet seiner Blütezeit im Prozess der Nationsbildung mit dem Odium belastet, dem 1922 an die Macht gelangten Faschismus nicht standgehalten, teils sogar nachgegeben zu haben. Bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg lag das katholische Italien außerdem in der Wahlrechtsentwicklung mit nur knapp einem Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung weit hinter den meis68 Als Überblick mit weiterer Literatur: Karl Rohe, Sozialer Liberalismus in Großbritannien, in: Holl u.a. (Hg.), Liberalismus, S. 110–125; Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1986; als Vergleichsstudie: Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und Leonard Trelawny Hobhouse, Baden-Baden 1990. 69 In der Zusammenschau von Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008, ist passend zur hier vertretenen Periodisierung zu finden, dass mit allmählicher Wahlrechtserweiterung von 1897 bis 1901 von einem „sozialliberalen Kabinett“ gesprochen werden kann und sich 1901 „der sozialliberale Vrijzinnig Democratische Bond“ von den etablierten Liberalen trennte, mit dann 1913 immerhin 7 % der Parlamentssitze (S. 40, 44 u. 49). Mehr kontinuierliches eigenes Potenzial war kaum zu erwarten, wo sozialpolitische Akzente neben der Sozialdemokratie auch von konfessionellen Parteien gesetzt wurden.

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ten vergleichbaren Ländern zurück.70 Dennoch konnte eine Andeutung in bereits vorliegenden Skizzen zur langfristigen Entwicklung dort einen thematisierenden Anknüpfungspunkt liefern: „In der Ära Giolitti (1901–1914) stellt der Sozialliberalismus eine wesentliche Komponente eines auf Integration zielenden demokratischen Liberalismus in der Regierungsverantwortung dar.“71 Diese These greift Christian Blasberg auf und analysiert das komplizierte Lavieren innerhalb einer Diagonale der Kräfte von besonderer italienischer Prägung. Der sozialpolitisch modernisierende und massenpolitisch dann auch mobilisierende Effekt der für dortige Verhältnisse insgesamt langen Regierungsperiode Giolittis wird dabei ebenso deutlich wie die Grenze der Vergleichbarkeit mit einem sonst häufig an Naumann oder dem englischen New Liberalism orientierten Verständnis des Sozialliberalismus.72 Angesichts der vorherrschenden Zentrierung auf individuelle Rechte ist zuweilen mit Blick auf Frankreich nur „der nichtexistierende Sozialliberalismus“73 in Vergleichsperspektiven einbezogen worden. Das mag zwar deshalb nicht verwundern, weil überhaupt die Bezeichnung liberal oder Liberalismus dort in der Dritten Republik (nach 1870) wenig üblich war und allenfalls mit egoistischen Interessen einer großbürgerlichen Privilegienkaste verbunden wurde. Auch die 1901 formierte Gruppierung „Parti républicain radical et radical-socialiste“ war trotz ihres entschiedenen Republikanismus entgegen dem Begriffsanschein weder gesellschaftspolitisch radikal noch gar sozialistisch ausgerichtet. Vielmehr habe sie mit Rücksicht auf ihre kleinbürgerliche und bäuerliche Wählerschaft „rhetorischen Egalitarismus mit sozialem Konservatismus“ verknüpft und nur die „Entmachtung der großbürgerlichen ‚zweihundert Familien‘“ propagiert, aber sich geweigert, von einer „strukturell bedingten Armut und Abhängigkeit der Arbeiter“ im Gesellschaftsbild auszugehen.74 Die Bereitschaft zum sozialliberalen Bündnis mit dem reformistischen Flügel der Sozialisten nach der Dreyfus-Krise erscheint so primär republikanisch und laizistisch motiviert. Allerdings ist auch die These vertreten worden, dass z.B. „Solidarité“ als eine 70 Vgl. ebd., S. 43. 71 Hartmut Ullrich, Sozialer Liberalismus in Italien, in: Holl u.a. (Hg.), Liberalismus, S. 127. 72 Ein Großbritannien behandelnder Text wurde leider nicht zur Publikation mit eingereicht. Als Überblick zum britischen Liberalismus: Roy Douglas, Liberals. The History of the Liberal and Liberal Democrat Parties, London 2005; Detlev Mares, Goodbye Gladstone. Die Liberale Partei im spätviktorianischen Großbritannien 1886–1906, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 137–162. 73 Roland Höhne/Ingo Kolboom, Sozialliberalismus in Frankreich, in: Holl u.a. (Hg.), Liberalismus, S. 153. 74 Ebd., S. 151.

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„bahnbrechende kleine Schrift des radikalen Staatsmannes Léon Bourgeois“ immerhin ein „sehr gemäßigter Sozialliberalismus durch und durch bürgerlicher Prägung“ gewesen sei.75 Im Beitrag von Stefan Grüner wird nun weiterführend aufgezeigt, welche Ansätze zu einem Sozialen Liberalismus in Theorie und Praxis es dennoch in jener Zeitspanne – von kurz vor der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg – in Frankreich gegeben hat.

5. Sozialliberalismus als Ende oder Wende im liberalen Selbstverständnis? Wer die Webseite der Friedrich Naumanns Namen tragenden Stiftung aufsucht, wird überrascht sein, was dort über die Zeit seines Auftretens „Ende des 19. Jahrhunderts“ ausgeführt ist: „Die liberale Wählerbasis schrumpfte, was einige Liberale veranlasste, die Methoden der Gegner zu übernehmen, um auch sozialpolitischem Etatismus zu frönen. In der Folge verwischten sich oft die Grenzen zwischen diesem ‚Sozialliberalismus‘ und der Sozialdemokratie.“76 Auch in diesem Falle können die offensichtlichen Gegenwartsmotive eines solchen Geschichtsbildes hier nicht näher erörtert werden.77 Allerdings bedarf es nicht eines kaum noch unterschwelligen „Verrats“-Verdikts („Methoden der Gegner“), um die gewollte Aufwertung des klassischen liberalen Erbes von Eugen Richter zu bewirken, dessen politische Wirkungszeit aber derjenigen Naumanns um fast eine Generation vorausging. 75 Peter Struve, Sozialliberalismus, in: Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Hg. Ludwig Heyde, Bd. 2, Berlin 1932, S. 1534. 76 http://www.politik-fuer-die-freiheit.de/webcom/show_page.php/_c-120/_nr-1/i.html (Detmar Doering). 77 Die positive Würdigung von „Margret Thatcher in Großbritannien“ als „liberalreformerisch“ und „Ronald Reagan“ mit seinem Kampfbegriff „evil empire“ lassen bei diesem Autor ebenso wie die Beschwörung einer „’Dominanz der unproduktiven Klassen’“ im Sozialstaat eher auf eine neue Internationale der Marktradikalen schließen: Detmar Doering, Eugen Richters Bedeutung für die Gegenwart, in: Jahrbuch zur LiberalismusForschung 19 (2007). S. 214 u. 222. Das Stichwort von den „Unproduktiven“ stammt aus der Börsen-Zeitung v. 14.10.2006, S. 6. Seriöse Vergleichszahlen zeigen aber Deutschland mit der Erwerbsquote im Mittelfeld, während die viel geringere in Italien primär mit der ländlich-katholischen Frauenrolle, die um einiges höhere in Skandinavien mit den modernen Sozialstaats- und Kinderbetreuungs-Einrichtungen zusammenhängt; vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/LaenderRegionen/Internationales/Thema/ Tabellen/Basistabelle_Erwerbstaetige.html;jsessionid=9FE5079DC92FCBCEE4AB55 326051B9AE.cae1.

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Dabei ist es nämlich durchaus zutreffend, dass Naumanns „Befürwortung von Kolonialismus und Flottenpolitik“ dem erstrebten Reformbündnis nicht half, weil „die sozialdemokratische Politik in hohem Maße antimilitaristisch ausgerichtet war“.78 Tatsächlich sind mit Ausnahme der allerdings wichtigen sozial- und wirtschaftspolitischen Differenzen die Grenzmauern zwischen der sozialdemokratischen und der linksliberalen Richterschen Opposition gegen Bismarck nicht gar so hoch wie damals propagandawirksam behauptet gewesen.79 Aus Gründen der Lebensmittelpreise im Kern freihändlerisch eingestellt war überwiegend auch die Sozialdemokratie. Dies hat es zuletzt auch wegen des Schutzzollkartells zu den Linksliberalen abgewanderten ehemaligen Nationalliberalen wie Barth oder gar Bamberger erleichtert, für das antikonservative Bündnis mit der SPD einzutreten. Andererseits hat der Sozialimperialismus Naumanns die Grenzen zur Sozialdemokratie gerade nicht verwischt, sondern im Gegenteil scharf markiert. Die Skepsis gegen imperialistische Politik war nicht einfach nur doktrinärer oppositioneller Negativismus, wie es die Nationalliberalen mit ihrem gleichermaßen elitären und gouvernementalen Habitus darstellten. Zu beachten sind auch die Wahrnehmungsgrenzen, die sich aus Naumanns Herkunft als evangelischer Pfarrer ergeben haben.80 Zwar wurde programmatisch verkündet, man wolle „das Christentum nicht zur politischen Parteisache machen“, ohne es als geistig-kulturelle Quelle zu verleugnen: „Dem Fortschritt war mehr das Kirchentum als das Christentum hinderlich“.81 Aber darin lag neben der Abgrenzung von den Christlich-Sozialen auch eine solche gegenüber der Zentrumspartei. Das war bereits ein Milieueffekt aus einem Adressatenkreis, der zunächst wesentlich vom Sozialprotestantismus und zunehmend auch vom – weniger an die Nähe zur Anstaltskirche gebundenen – Kulturprotestantismus geprägt wurde.82 Den Kräfteverhältnissen im Reichstag entsprach dies schon 78 Doering, Bedeutung, S. 218. Das hat jedoch auch der Sozialliberale Brentano bereits erkannt, vgl. in diesem Buch S. 120. 79 Eine Fundgrube für die Wahlkämpfe bis 1881 in der Richtungspresse ist: Peter Steinbach, Die Zähmung des politischen Massenmarktes, 3 Bde., Passau 1990. 80 Etliche andere prominente Sozialliberale waren Freidenker, sei es katholischer Herkunft wie Brentano oder jüdischer wie vor allem in Berlin. Hingegen zeugte noch der „Versuch volksverständlicher Grundrechte“ (Werke, Bd. 2, S. 573-579) mit vorgeschlagenen „Grundrechts“-Ideen wie „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!“ (im Art. 33) kurz vor seinem Tod 1919 von Naumanns ursprünglicher Prägung aus dem Pfarrberuf. 81 Naumann, Katechismus, S. 32 u. 35. 82 Vgl. Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen (Hg.), Sozialer Protestantismus im Kaiserreich, Münster 2005; Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Ver-

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unter Bismarck zuletzt nicht mehr: Die katholische Zentrumspartei stellte mit Ausnahme 1887 (als die Nationalliberalen im Sog des Bismarckschen „Kartells“ noch einmal gleichzogen) seit 1881 immer die teils mit sehr großem Abstand stärkste Fraktion, bevor die SPD 1912 diese Position übernahm. Das auch von Naumann geschätzte Mehrheitswahlrecht bewirkte aber, dass nur relativ wenige katholische Stimmkreise umkämpft waren und das Zentrum schon deshalb als feste Größe außerhalb neuer Überlegungen stand. Während die Spannungslinie zur Papstkirche in ganz überwiegend katholischen Ländern geradewegs eine liberale Selbstverständlichkeit war und in weit überwiegend evangelischen Ländern insoweit entfiel, bildeten Deutschland, die Niederlande und die Schweiz in Europa den Übergangsbereich mit hegemonialem Protestantismus und einer starken katholischen Minderheit. Die bis nach dem Ersten Weltkrieg hegemonialen Schweizer Freisinnigen hatten sich die Beteiligung des Minderheitskatholizismus als staatstragenden Juniorpartner seit den 1890er Jahren problemlos leisten können. In den Niederlanden kooperierten sogar alle Konfessionellen gegen die bis zur Jahrhundertwende dominierenden Liberalen. Die Pattsituation im 1913 gewählten Parlament mit insgesamt 39 Liberalen gegenüber 25 Katholiken und 22 konservativen Protestanten sowie 15 Sozialdemokraten brachte 1917 unter einer liberalen Minderheitsregierung einen großen historischen Kompromiss: Die reformwilligen Liberalen kamen den Sozialdemokraten mit dem allgemeinen Männerstimmrecht (1919 auf Frauen ausgedehnt) weit entgegen, gleichzeitig den Protestanten und Katholiken mit staatlicher Förderung nunmehr auch für Konfessionsschulen.83 Vor solchem geschichtlichen Vergleichshintergrund erschien das Naumannsche Großblockmodell am ehesten für süddeutsche Verhältnisse mit einem starken Katholizismus passend, so wie in nicht-katholischen Ländern bald sozial-liberale Koalitionen ohne DVP gebildet wurden. Naumanns DDP hat dann ab 1919 im republikanischen Preußen nicht allein mit der SPD, sondern auch mit der Zentrumspartei gut zusammenarbeiten können – und von derlei Vermittlerrolle personell wie inhaltlich profitiert.84 Die Reformbereitschaft der preußischen Nationalliberalen war bis zum Ersten Weltkrieg sehr begrenzt und hältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. 83 Vgl. Wielenga, Niederlande, S. 45-49. 84 Vgl. Joachim Stang, Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1918–1933, Düsseldorf 1994; Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977; Herbert Hömig, Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik, Mainz 1979; Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985.

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danach auch die DVP recht häufig dort an der Seite der DNVP zu finden. So erscheint gerade auch der im Reichstagswahlkampf 1907 gebildete konservativ-gesamtliberale Block gegen Sozialdemokratie und Zentrumskatholizismus als nationalprotestantische Erblast auch der Naumann-Tradition. So unzeitgemäß die Organisation von Barths 1908 abgesplitterter, wesentlich sozialliberal geprägter Demokratischer Vereinigung auch war: Die im November 1918 gegründete Deutsche Demokratische Partei konnte doch symbolträchtig an diese mutige, die Tradition der Paulskirchen-Linken von 1848/49 fortführende Namensgebung anknüpfen. Wie des Wortkünstlers Naumann politischer Meisterschüler Theodor Heuss dann 1948/49 an der Entstehung des Bonner Grundgesetzes maßgebend beteiligt war, konnte Hugo Preuß aus dem engeren Kreis um Barth – jedoch politisch klug nie in Parteisektiererei verstrickt – den Entwurf zur Weimarer Verfassung liefern und als Innenminister federführend die Beratungen gestalten. Nicht „Demokratie und Kaisertum“, wie Naumann auch noch bei der Neuauflage seines gleichnamigen Buches 1905 erwartete85, sondern Demokratie und Republik gehörte die Zukunft überall dort in Europa, wo Monarchien nicht frühzeitig genug schrittweise den Übergang in einen parlamentarisierten Konstitutionalismus freigegeben hatten.

85 Vgl. Naumann, Demokratie, S. 231.

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Sozialer Liberalismus in Deutschland Herkunft und Entwicklung im 19. Jahrhundert

Sozialliberalismus in Deutschland lässt man in aller Regel im späteren 19. Jahrhundert beginnen. Eine Reaktion der Liberalen auf die Hochindustrialisierung, so hatte vor gut zwei Jahrzehnten ein Expertengespräch den Forschungsstand bilanziert.1 Erst Friedrich Naumann und sein Umfeld hätten den deutschen Sozialliberalismus geformt. Zuvor habe es derartiges nicht gegeben. Und danach auch nicht mehr. Sozialliberale überwinden den Manchesterliberalismus und finden sich, wenngleich sie gegen Staatseingriffe weiterhin distanziert bleiben, doch mit dem Interventionsstaat ab, den sie gesellschaftspolitisch gemeinsam mit der Sozialdemokratie gestalten wollen. Für diese Deutung gibt es gute Gründe, aber sie verdunkelt die starken sozialpolitischen Impulse, die von Beginn an auch schon vom Frühliberalismus ausgegangen sind. Der soziale Liberalismus ist in Deutschland keine späte Frucht in der Geschichte der Liberalen. Selbstverständlich änderte er sich mit der gesellschaftlichen Umwelt, auf die er reagierte. Um diesen Wandel geht es in diesem Beitrag. Betrachtet werden die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts, bevor in der Ära der Hochindustrialisierung jener Sozialliberalismus einsetzte, dessen Gesellschaftsbild und sozialstaatliches Instrumentarium man zumeist vor Augen hat, wenn dieser Begriff verwendet wird. Hier wird hingegen argumentiert: Der Sozialliberalismus des späteren 19. Jahrhunderts bezeugt erneuten Wandel, nicht aber Bruch mit einer manchesterlichen Vergangenheit.

1. Die sozialen Anfänge des Frühliberalismus Am Anfang war der soziale Liberalismus. Er entwickelte gesellschaftspolitische Konzepte, die auf die damaligen sozialen Probleme zugeschnitten waren, Probleme einer noch überwiegend agrarisch-kleingewerblichen Gesellschaft mit ersten Industrialisierungszonen. Kaum jemand hatte die Industriegesellschaft der Zukunft vor Augen. Und wenn die Liberalen nach England blick1 Karl Holl, Überlegungen zum deutschen Sozialliberalismus, in: Ders. u.a. (Hg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 227–232.

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ten, wo diese Zukunft schon klarer zu erkennen war, so taten sie es zumeist, um zu lernen, welche sozialen Folgen man in den deutschen Staaten vermeiden sollte. Von dieser Sicht begann sich selbst das Wirtschaftsbürgertum im Rheinland erst in den 1840er Jahren zu lösen. Erst nach der Jahrhundertmitte entwickelte sich das rheinische Wirtschaftsbürgertum zu einer Industrialisierungselite.2 Früher nicht. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts richteten die deutschen Liberalen ihr gesellschaftspolitisches Reformprogramm vorrangig auf jene zwei Bereiche, in denen die meisten Menschen ihre Nahrung fanden: auf die Landwirtschaft und auf das kleine und mittlere Gewerbe. Die Bauern aus allen überkommenen feudalständischen Bindungen lösen, und für Handwerk und Gewerbe einen Weg finden, auf dem die Regeln und Beschränkungen, welche die Gewerbeordnungen durchzogen, verringert werden könnten, ohne diese Begrenzungen jedoch schnell gänzlich zu beseitigen. Nur weil die Liberalen diese gesellschaftspolitischen Reformschwerpunkte setzten, konnte der Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1848er Revolution hinein eine breite Volksbewegung werden. Gewiss, der Frühliberalismus war eine politische Bewegung, eine Verfassungsbewegung und zunehmend auch eine nationale, doch die breite Resonanz in der Bevölkerung fand er als eine soziale Reformbewegung. Sie verwob politischen und sozialen Liberalismus miteinander.3

2 Rudolf Boch, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814–1857, Göttingen 1991, 228 ff., 278 ff.; zur Kritik an der englischen Klassengesellschaft vgl. Rudolf Muhs, Freiheit und Elend. Die Diskussion der sozialen Frage Englands und ihr Stellenwert im Bereich grund- und freiheitsrechtlicher Werthaltungen im deutschen Vormärz, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 483–514; Rudolf Muhs, Deutscher und britischer Liberalismus im Vergleich. Trägerschichten, Zielvorstellungen und Rahmenbedingungen (ca. 1830–1870), in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 223–259. 3 Überblick bei Dieter Langewiesche, Frühliberalismus und Bürgertum 1815–1849, in: Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997 (= HZ, Sonderheft 17, Hg. Lothar Gall), S. 63–129.

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2. Agrarischer Sozialliberalismus für das bäuerliche Land „Der Liberalismus war die Partei der Bauernbefreiung.“4 So pointiert Rainer Koch. Zu Recht. Karl von Rotteck, einer der prominentesten deutschen Frühliberalen, war mit seinen Reden zur Grundentlastung im badischen Landtag über Baden hinaus bekannt geworden. In den Jahren 1831 bis 1833 wurden ihm für dieses Engagement zwölf Ehrenpokale gestiftet; gesammelt hatten für sie neben badischen auch rheinbayerische und nassauische Gemeinden, ganze Dörfer beteiligten sich.5 Julius Hölder, das Haupt der württembergischen Liberalen, ehrten 1856 Menschen aus 60 der 64 Oberämter, die es dort gab, ebenfalls mit einem Pokal für seine Verdienste bei der parlamentarischen Abwehr zusätzlicher Entschädigungsansprüche des Adels für abgelöste Feudallasten.6 Geehrt von Bauern und Bürgern wurden in Baden wie in Württemberg Repräsentanten eines agrarischen Sozialliberalismus – ein Sozialliberalismus für das bäuerliche Land. Konkret hieß das: Freisetzung des Individuums von Freiheits- und Eigentumsbeschränkungen mit staatlicher Hilfe. Persönliche Bindungen wurden entschädigungslos aufgehoben, dingliche Lasten abgelöst, und letzteres in einer gesetzlich geregelten Form, die den einzelnen Bauern finanziell möglichst nicht überfordern sollte. Warum sollten wir hier nicht von Sozialliberalismus sprechen? Selbstverständlich war es eine zeitgebundene, noch stark vor-industrielle Form von Sozialliberalismus. Doch seine Reformkonzeption zielte auf einen großen Wirtschaftssektor, der viele Menschen beschäftigte. Wie in den anderen Gesellschaftsbereichen ging es auch hier den Liberalen im Kern um das selbständige Individuum. Geistig selbständig durch Bildung und wirtschaftlich selbständig.7 Deshalb hatte der Sozialliberalismus für das Land den Bauern im 4 Rainer Koch, Liberalismus und soziale Frage im 19. Jahrhundert, in: Holl u.a.., Sozialer Liberalismus (wie Anm. 1), S. 17–33, hier 22. 5 Ebd., S. 22. 6 Dieter Langewiesche (Hg.), Das Tagebuch Julius Hölders 1877–1880, Stuttgart 1977, S. 10 (Einleitung). 7 Zur Bedeutung von Selbständigkeit im bürgerlichen Wertekatalog s. Manfred Hettling, Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung, in: Ders./Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 57–78; Lothar Gall, Selbständigkeit und Partizipation. Zwei Leitbegriffe der frühen bürgerlich-liberalen Bewegung in Deutschland, in: Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hg.), Bürgerliche Werte um 1800, Köln 2005, S. 291–302; Dieter Langewiesche, Bürger bilden an der Universität, in: Ottfried Höffe/ Oliver Primavesi (Hg.), Bürger bilden (erscheint demnächst).

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Blick, nicht den Landarbeiter. Eine Gesellschaft der ökonomisch Selbständigen – sie galt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr vielen Menschen als ein realisierbares Ziel. Daher fand dieser liberale Zukunftsentwurf bei Bauern und ebenso bei Bürgern so großen Zuspruch. Mit dem Abschluss der Agrarreformen, die man Bauernbefreiung zu nennen pflegt, endete diese Form des Sozialliberalismus. Liberale fanden zwar weiterhin Unterstützung auch auf dem Land, doch der Liberalismus wurde nicht zu einer Bauernpartei. Wo feudalständische Relikte die Bauernbefreiung überdauerten, bekämpften die Liberalen sie. Doch die Zielrichtung änderte sich. So taugte der preußische Junker, dieser Inbegriff eines politisch machtvollen feudalen Überbleibsels der Vergangenheit in der Gegenwart, zwar weiterhin als liberales Feindbild – Bürgertum wider Junkertum!“8 gab Hugo Preuß noch 1892 als Wahlparole aus –, doch jetzt ging es um die „Verwestlichung Preußens“, eine „Art von Revolution für Preußen“, schrieb er 1899, durch die „Niederwerfung des östlichen Feudalismus“.9 Ein liberales Gesamtprogramm für das preußische Deutschland also, kein sozialliberales im zuvor erläuterten Sinne mehr. Der Sozialliberalismus für das Land endet um die Mitte des 19. Jahrhunderts dauerhaft.

3. Mittelständischer Sozialliberalismus für Bürger und Industriearbeiter Für das Gewerbe tat sich der deutsche Frühliberalismus schwerer, eine sozialliberale Zukunftskonzeption zu entwerfen, als für den Agrarsektor. Auf dem Land ging es darum, adligen Herren oder deren bürgerlichen Nachfolgern per Gesetz jene Rechtstitel zu nehmen, in denen die feudale Vergangenheit fortdauerte. Das schuf eine klare Frontlinie, die es den Liberalen leicht machte, unter dem Beifall von Bauern und Bürgern eindeutig Stellung zu beziehen. Im gewerblichen Bereich hingegen taten sich die Liberalen viel schwerer, denn die Grenze zwischen ständischer Vergangenheit und bürgerlicher Zukunftsgesellschaft blieb mehrere Jahrzehnte offen und umstritten. Von der Fortdauer überkommener Zunftordnungen erhofften sich die Handwerksmeister, ihre

8 Vor den Landtagswahlen (1892), in: Hugo Preuß, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Hg. Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller (Gesammelte Schriften Bd. 1), Tübingen 2007, S. 277–287, hier 282. 9 Ebd., West-Östliches Preußen (1899), S. 314.

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soziale Position absichern und gegen Manufakturen und Fabriken bestehen zu können.10 Zumindest bis zur Revolution von 1848/49 teilten vor allem im südwestlichen Deutschland die Liberalen diese Haltung. Eine ungezügelte Laisser-faireGesellschaft erstrebten sie nicht.11 Sie zielten auf eine Mittelstandsgesellschaft der ökonomisch Selbständigen. Was dies konkret bedeuten sollte, blieb zwar unter den Liberalen umstritten, doch bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sie überwiegend darauf, das kleine und mittlere Gewerbe gegen eine industriekapitalistische Überwältigung zu schützen. Ich nenne dies mittelständischer Sozialliberalismus – ein Sozialliberalismus für den gewerblichen Mittelstand und auch schon für die frühe Industriearbeiterschaft. Zugunsten des frühliberalen Ideals einer klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen, wie es Lothar Gall12 vor fast vier Jahrzehnten formuliert hatte – er löste damals eine für die Liberalismusforschung sehr fruchtbare kontroverse Diskussion aus – waren die Liberalen bereit, staatliche Eingriffe in die Erwerbsfreiheit hinzunehmen. Sie warben für einen wirtschaftspolitischen Staatsinterventionismus zugunsten einer mittelständischen Bürgergesellschaft, die von der industriekapitalistischen Entwicklung bedroht zu sein schien. Hier fassen wir neben dem agrarischen eine zweite Form von Sozialliberalismus, entstanden in einer noch weitgehend vor-industriellen Umwelt und deshalb auch von einem vor-industriellen Gesellschaftsbild geprägt. Aber in dieser Begrenzung blieb der mittelständisch-gewerbliche Sozialliberalismus keineswegs stecken. Sein Ziel hieß vielmehr, Industrialisierung nicht verhindern, ihre sozialen Folgen jedoch auffangen zugunsten des kleingewerblichen Mittelstandes und auch der Fabrikarbeiter. Beide Gesellschaftsgruppen sollten fähig gemacht werden für eine Bürgergesellschaft selbständiger 10 Als Überblick: Friedrich Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt a.M. 1988. 11 Vgl. dazu Rainer Koch, „Industriesystem“ oder „bürgerliche Gesellschaft“? Der frühe deutsche Liberalismus und das Laisser-faire-Prinzip, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 29 (1978), S. 605–628; Helmut Sedatis, Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland. Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen des Liberalismus und die Krise des Handwerks im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1979; immer noch vorzüglich dazu: Erich Angermann, Karl Mathy als Sozial- und Wirtschaftspolitiker, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 103 (1955), S. 499–622. 12 Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ 261 (1975), S. 324–356; erneut in: Lothar Gall, Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, Hg. Dieter Hein u.a., München 1996, S. 99–125.

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Individuen. Sie zu ermöglichen, blieb der gemeinsame Kern aller Formen des Sozialliberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf den gewerblich-industriellen Wirtschaftssektor bezogen heißt das: der liberalen Bürgergesellschaft den alten Mittelstand erhalten und sie für die neue Schicht der Fabrikarbeiter öffnen. Die Spannweite dieser Gesellschaftskonzeption im deutschen Liberalismus und deren Wandel bis zur Jahrhundertmitte lässt ein Vergleich südwestdeutscher und rheinischer Liberaler erkennen.

3.1. Südwestdeutsche Konzeptionen eines mittelständischen Sozialliberalismus Für den südwestdeutschen Liberalismus mag der Artikel „Gewerbe- und Fabrikwesen“ Robert von Mohls stehen, erschienen 1838 im Staats-Lexikon, dem liberalen Grundbuch dieser Zeit.13 Der Artikel lässt erkennen, wie stark auch im Südwesten das sozialliberale Denken in Bewegung geraten war. Karl Mathy etwa hatte in den 1840er Jahren als Abgeordneter in der zweiten Kammer des badischen Landtags ein ähnliches sozialliberales Gesellschaftsprogramm vertreten.14 Wo eine „bedeutende Gewerbstätigkeit ist“, so Mohl, da steigt der „Volksreichtum“ (55) und auch das Selbstbewusstsein der Stadtbürger. Deshalb „muß es … Aufgabe des Staates sein, für das Gedeihen der Gewerbe zu sorgen“. Bedenke man die Folgen der neuen Fabrikproduktion, die sich „mit reißender Schnelligkeit“ ausbreite, so sei unbestreitbar das „Dasein der Gewerbe im Staate zu einer der wichtigsten Fragen … des ganzen sozialen Lebens“ geworden (58). Was kann, was soll der Staat zugunsten des Gewerbes tun? Mohl diskutiert zunächst Vor- und Nachteile der Gewerbefreiheit. Für den Liberalen war selbstverständlich, Geburtshindernisse müssen fallen, Monopole für bestimmte Produkte ebenfalls, und der Staat darf keinerlei Vorschriften über das Produktionsverfahren machen. Bei der Kernfrage, was soll mit den Zünften geschehen, wog Mohl sorgfältig ab. Gewiss, meinte er, die Zünfte 13 Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands herausgegeben von Karl von Rotteck und Carl Welcker. Sechster Band, Altona 1838, S. 775–830 (online frei zugänglich: InternetArchive http://www.archive.org/details/staatslexikonod10welcgoog); gedruckt auch in: Lothar Gall/Rainer Koch (Hg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert. Texte zu seiner Entwicklung. Vierter Band, Frankfurt a.M. 1981, S. 53–117 (hiernach wird zitiert; die Seiten werden im Text in Klammern nachgewiesen). 14 Zu Mathy detailliert Angermann (wie Anm. 11).

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tragen wesentlich bei zur „Erhaltung eines ehrenfesten und wo nicht reichen, doch wohlhabenden Bürgerstandes“, sie sind auch „ein Damm gegen Überbevölkerung“, wirken gegen „unüberlegte Ehen und nicht haltbare Gewerbeniederlassungen“ (64). Gleichwohl, alles in allem „sinkt doch die Waage zugunsten der Aufhebung der Zünfte“ (65). Bei dieser marktliberalen Diagnose blieb Mohl jedoch keineswegs stehen. Sein kleingewerblich-frühindustrieller Sozialliberalismus verlangte staatliche Vorkehrungen, um die Gesellschaft nicht durch einen zu abrupten Wandel eines wichtigen Wirtschaftsbereiches zu destabilisieren. Vollständige Marktfreiheit durch „Aufhebung des zünftigen Meisterrechts“ sollte erst nach etwa zehn bis zwanzig Jahren erfolgen, damit jeder sich auf die neue Konkurrenzsituation vorbereiten oder aber „beizeiten sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen“ kann (65). Verbindlichkeiten, die auf einer Zunft lasten, müsse der Staat übernehmen und für Betriebsrechte, die auf einem Grundstück liegen, eine Entschädigung zahlen. Mohl entwarf, erheblich detaillierter als es hier resümiert wird, eine Art sozialliberalen Masterplan für die Zukunft der kleinen und mittleren Gewerbetreibenden in der industriellen Gesellschaft, die sich abzuzeichnen begann. Staatliche Hilfen für eine Anpassungsphase, doch danach sollte diese Kerngruppe in der bürgerlichen Gesellschaft der Gegenwart selbständig ihren Existenzort in der marktliberalen Gesellschaft der Zukunft finden. Mohl hatte eine Zukunft dominiert von „fabrikmäßiger Industrie“ vor Augen, gegenwärtig „nur ein Herkules in der Wiege“, aber nicht mehr lange. Das lasse sich „mit mathematischer Gewißheit“ sagen. (66) Sich dagegen zu wehren, wäre vergeblich und würde den Fortschritt hemmen, der die Lebensverhältnisse der gesamten Gesellschaft heben kann. Doch freien Lauf dürfe man der Entwicklung auch nicht lassen, wenn man die bürgerliche Gesellschaft und ihre Wertordnung bewahren will. Um seine sozialliberale Strategie für einen gesteuerten Weg in die Industriegesellschaft der Zukunft zu begründen, entrollte Mohl als Gegenbild ein Untergangsszenario, mit dem er das „Gespenst des Kommunismus“, das zehn Jahre später das „Kommunistische Manifest“ beschwor, aus bürgerlicher Sicht antizipierte: „Fabrikheloten“, „abgesondert“ von „der übrigen Gesellschaft“ (85), daneben der „alte ehrenfeste Kern der Bürgerlichkeit und Ordnung, … ein selbständiger und wohlhabender Handwerkerstand, von der großen Fabrikation immer mehr verzehrt“, und schließlich als Folge „ein allgemeiner Aufstand der Proletarier gegen die bestehende Ordnung der Gesellschaft“. Diese „Schrecken eines Sklavenkrieges“ (87) vor Augen zu führen, sei „wahrlich kein bloßes Gespenst“. Gebannt werden könne es nur durch „bleibende, durchgreifende Hilfe“ (87).

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Wie soll diese Hilfe aussehen? Mohl sondert zunächst aus, was er in den gesellschaftspolitischen Diskussionen seiner Gegenwart für untauglich hielt: alles, was auf Verhinderung des Fabriksystems setzt, nur einzelne Symptome kurieren oder eine alternative Gesellschaftsordnung jenseits der bürgerlichen erzwingen will. Nachdem er dies alles verworfen hat, empfiehlt er Maßnahmen, die allesamt darauf zielen, das frühliberale Ideal einer Gesellschaft der mittleren Existenzen in veränderter Gestalt in das Industriezeitalter zu überführen. Für die Industriearbeiterschaft und für die Gewerbetreibenden sah er unterschiedliche Steuerungsmaßnahmen vor. In beiden Bereichen setzte dieses sozialliberale Konzept einer großen Gesellschaftsreform auf den Staat und auf gesellschaftliche Akzeptanz. Die Fabrikarbeiter müssen, erstens, der Willkür ihrer Fabrikherren entzogen werden. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers, der es nicht zulassen darf, dass der Fabrikant eine Verfügungsgewalt über Personen „gleich einem mächtigen Häuptlinge der Feudalzeit“ (75) ausübt. Zu lange Arbeitszeit, Kinderarbeit, Mindestlohn15, Bezahlung in Naturalien, ungesunde Arbeitsplätze – hier müssen gesetzliche Normen erlassen werden. Der zweite Reformbereich, den Mohl vorstellt, war schwieriger zu gestalten, da hier seine Pläne nur zu verwirklichen gewesen wären, wenn sie eine breite gesellschaftliche Zustimmung gefunden hätten. Auch der Fabrikarbeiter brauche, wie jedes ehrbare Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, die Aussicht auf eine gesicherte soziale Stellung. Um der Fabrikarbeiterschaft diesen „Hoffnungsstern“ (96) zu schaffen und ihr so als ganzes die „Hoffnungslosigkeit“ (100) zu nehmen, schlägt Mohl eine gesetzlich geregelte Gewinnbeteiligung vor. Für eine Minderheit unter den Arbeitern hält er sogar den Schritt in die ökonomische Selbständigkeit für möglich. Diese „Auserwählten“ (101) sollten zunächst mithilfe eines Bildungsstipendiums, das eine Familie ernähren kann, auf einer dafür einzurichtenden Lehranstalt vorbereitet werden und nach erfolgreicher Prüfung in einem Wettbewerb der besten Absolventen ein unverzinsliches Startkapital vom Staat erhalten. Eine Aufstiegsschleuse über Leistung und Bildung in die ökonomische Selbständigkeit für wenige Fabrikarbeiter, ein auskömmliches Leben für alle durch Gewinnbeteiligung am Erfolg der Industrie – auf diese zeitgemäße Anpassung des liberalen Bürgermodells an die Bedingungen des heraufziehenden Industriezeitalters ist Mohls sozialliberales gesellschaftspolitisches Reformprogramm mit Blick auf die neue Klasse der Fabrikarbeiter angelegt. Mohl bestand nicht auf seinen Vorschlägen, denn niemand kenne mit Sicherheit die Lösung für die Probleme; sicher sei nur, es müsse „etwas Bedeutendes ge15 Gegen „unbillige Herabdrückung des Arbeitslohnes“ (S. 97).

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schehen“ (102), um die bürgerliche Gesellschaft zu erhalten. Dafür machte er Vorschläge und schied alles aus, was er als bloße „Palliativmittel“ (92) und als illusionäre „Träume“ (95) einstufte. Für die Gewerbetreibenden fallen Mohls Reformpläne konventioneller, aber durchaus ambitioniert aus. Schutzzölle dort, wo sie zweckdienlich sind, vor allem aber ein gründlich verbessertes Bildungsangebot speziell für den Gewerbestand: Gewerbeschulen für alle, für eine kleinere Zahl Gewerbemittelschulen und polytechnische Institute mit wissenschaftlich fundiertem Unterricht. Mit diesem gestuften Ausbildungssystem bis hinauf zu einer hochschulähnlichen Institution wollte Mohl der Schulung in der Arbeitspraxis eine theoretische Grundlage geben, um den Nachwuchs unter den selbständigen Gewerbetreibenden zukunftsfähig zu machen. Für die Erwachsenen dachte er an Formen der Weiterbildung (112 f.), ohne jedoch über das hinauszugehen, was es schon gab. Warum sollte man Robert von Mohls Maßnahmenkatalog für eine bürgerliche Gesellschaft in einer frühindustriellen Welt nicht sozialliberal nennen? Auch der Sozialliberalismus hat eine Geschichte. Die vormärzlichen Konzepte im deutschen Südwesten gehören dazu. Sie verweigerten sich weder der industriegesellschaftlichen Zukunft, noch waren sie manchesterliberal. Mohl hatte die Probleme gründlicher durchdacht als etwa Karl von Rotteck, doch auch Rotteck wollte, wenn er gegen die „Anhäufung übergroßer Industrie- und Geld-Kapitalien in einzelnen Händen“, gegen die „häßliche Geldaristokratie“ schrieb, keineswegs die Industrialisierung verdammen. In seinem Artikel „Eigentum“, aus dem diese Formulierungen stammen, ebenfalls im Staats-Lexikon16, aber drei Jahre vor Mohls Artikel erschienen, setzte Rotteck noch ganz auf das frühliberale Programm der Rechtsgleichheit durch Entprivilegierung. Die „Anhäufung des Reichtums in einzelnen Händen“, die „zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung“ lastete er der noch unvollendeten „Rechtsgleichheit“ an. Man „entfessle die Industrie, befördere den Unterricht“ und „gewähre jeder rechtlichen Erwerbstätigkeit den ihr gebührenden freien Raum“ und die Gefahr, die der Gesellschaft durch die Proletarier drohe, werde gebannt.17 16 Band 4, Altona 1835, S. 628–636, leicht zugänglich in Gall/Koch (wie Anm. 13), S. 41–50, Zitate S. 49; im Supplement zur 1. Auflage von 1846 hat Carl Theodor Welcker Rottecks Artikel um einen Zusatz ergänzt (ebd. S. 51 f.), der – ohne dies näher auszuführen – die Ablehnung „wucherischer und ungerechter Erwerbungen“ betont. Welckers Artikel zielt darauf, das Privateigentum gegen kommunistische und sozialistische Gesellschaftstheorien zu verteidigen und zugleich die Sozialbindung des Eigentums zu begründen. Die Industriegesellschaft der Zukunft antizipiert er in diesem Artikel nicht. 17 Ebd., S. 50.

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Mohl war in der Problemdiagnose und in der Gesellschaftstherapie weiter und präziser als Rotteck, doch beide plädierten, wie auch Karl Mathy, für eine liberale Bürgergesellschaft, die sich der industriellen Zukunft öffnet und neu bestimmt, was den Bürger und die bürgerliche Gesellschaft ausmachen soll. Ihre Antwort hieß: freier Markt und sozialliberale Gestaltung der Gesellschaftsordnung. Sie hätten nicht, wie Friedrich List 1841 in seinem Werk Das nationale System der politischen Ökonomie, Manufakturen und Fabriken „die Mütter und Kinder der bürgerlichen Freiheit“ genannt und auch nicht vom „Prinzip der industriellen Erziehung der Nation“ gesprochen18, doch auch für sie versprach die Industrie gesellschaftlichen Fortschritt. Aber nur, sofern er sozial geformt wird.

3.2. Rheinische Minimalform eines sozialen Liberalismus: „Sorge für die Arbeit“ als „Sorge für die Arbeiter“ Nach sozialer Formung des industriellen Fortschritts suchten um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Liberalen des Rheinlandes, dessen Wirtschaftsbürgertum eine breite öffentliche Debatte über die Gesellschaft der Zukunft führte. Das Spektrum der Positionen war weiter als im Südwesten, doch auch unter den rheinischen Liberalen finden sich Gesellschaftsbilder, die – so hatte es Elisabeth Fehrenbach schon 1983 präzise formuliert – „an das altliberale Ideal einer klassenlosen Bürgergesellschaft erinnern“.19 Dazu gehörten Forderungen wie staatlich finanzierte Volksbildung, Steuerfreiheit für geringe Einkommen, Mindestlohn und Regelung der Arbeitszeit. Auch Rudolf Boch, dem wir eine detaillierte Analyse der Industrialisierungsdebatte im Rheinland bis in die 1850er Jahre verdanken, hebt die sozialpolitischen Reformimpulse der dortigen Liberalen hervor. Das Konzept der Bürgergesellschaft wurde zwar schon „sozial ungleicher gedacht als in den Artikeln des Staatslexikons“, doch man wollte über erweiterte

18 Zit. nach Friedrich List, Eine Auswahl aus seinen Schriften. Mit einer Einführung von Hermann Christern, Berlin o.J. , S. 206 u. 165. 19 Elisabeth Fehrenbach, Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983, S. 272–294, hier 285; auch in: Fehrenbach, Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, München 1997, S. 111–131, hier 123.

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Bildungsangebote, die generelle Liberalisierung der politischen Ordnung und dank einer aktiven Sozialpolitik „neue soziale Aufstiegschancen“ schaffen.20 So weit wie Robert von Mohl wollten im Rheinland nur sozialreformerische Gruppen um die „Rheinische“ und die „Kölnische Zeitung“ gehen. Sie warben für eine „Organisation der Arbeit“, die Gewinnbeteiligung für Arbeiter und neben einem Mindestlohn für das gesamte Gewerbe zudem branchenspezifische Mindest- oder Ecklöhne vorsah. Durchsetzen konnten sich diese liberalen Sozialreformer jedoch innerhalb des rheinischen Liberalismus nicht.21 Die Mehrheit setzte auf „Sorge für die Arbeit“ als die wirksamste Form der „Sorge für die Arbeiter“, wie es 1847 in der „Aachener Zeitung“ prägnant hieß.22 Der Staat möge die Steuergesetze sozial ausgestalten, nicht aber in die Vertragsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt eingreifen.23 So sah es auch Ludolf Camphausen, als er 1847 auf dem Vereinigten preußischen Landtag vergeblich für eine Regierungsvorlage warb, die indirekte Steuern durch eine Einkommenssteuer ersetzen wollte. Camphausen hatte schon zuvor, wie zur gleichen Zeit Karl Mathy in Baden24, als Präsident der Kölner Handelskammer die Einkommenssteuer als eine große sozialpolitische Tat gepriesen.25 Sie zeige den „Besitzlosen“, „daß die Besitzenden bereit seien, Opfer für sie zu bringen“. Und es ist nun einmal „der Beruf der Gesetzgebung unserer Zeit, die Härten des Lebens anzuerkennen und zu mildern“. Camphausen rief in seinem Plädoyer im Berliner Landtag als Drohkulisse die „Schlagworte unserer Zeit“ auf: „Pauperismus, Proletariat, Kommunismus, Sozialismus, Organisation der Arbeit“. Niemand werde leugnen, dass in ihnen eine Wahrheit liege, „die Wahrheit nämlich, daß der Mensch, der lebt, auch das Recht habe zu leben, und daß dieses Recht von der Gesellschaft in einem erweiterten Umfange an20 Boch (wie Anm. 2), S. 86 f. Nützlich ist weiterhin auch: Johanna Köster, Der rheinische Frühliberalismus und die soziale Frage, Hg. Walther Peter Fuchs, Berlin 1938 (ND Vaduz 1965). Köster betont, dass die rheinischen Liberalen die politische Reform als Voraussetzung für eine wirksame soziale sahen. Sie stellt zunächst kurz die Beurteilung der sozialen Frage durch einzelne Personen (David Hansemann, Ludolf Camphausen, Gustav Mevissen) und Zeitungen (Rheinische und Kölnische) vor, ergänzt um kurze Blicke auf andere Provinzen, Zeitungen und Personen, und betrachtet dann in einem weiteren Kapitel die sozialpolitische Praxis. 21 Boch, S. 227–237. 22 Ebd., S. 231; Aachener Zeitung v. 2.1.1847. 23 Ebd., S. 235 f. 24 Vgl. Angermann (Anm. 11), S. 528. 25 Joseph Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850. Band 2,1: 1846–1848, Bonn 1942, S. 274/Anm. 2. Das Folgende ebd.: Nr. 136 Rede L. Camphausens im Vereinigten Landtag, Berlin 10.6.1847, für eine Einkommenssteuer mit Selbsteinschätzung des Steuerpflichtigen, S. 273–279.

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zuerkennen sei“. Niemand werde auch leugnen, dass im 19. Jahrhundert die „Gegensätze zwischen den Armen und den Reichen“ gestiegen seien. Als Gründe nannte er das Bevölkerungswachstum, die Fabrikindustrie mit der maschinellen Produktion und der Arbeitsteilung, die größeren Verkehrsräume, welche die Eisenbahn ermöglicht, und „das wachsende Übergewicht des Kapitals und des Kredits“. Wer hier nicht sozial reagiere, wie es die Regierung mit der Gesetzesvorlage zur Einkommenssteuer tue, der laufe Gefahr, dass radikale Bewegungen erstarken. Diese rheinische Minimalform eines sozialen Liberalismus hatte das Leitbild einer Bürgergesellschaft der ökonomisch Selbständigen bereits aufgegeben zugunsten einer Industriegesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen als Lohnabhängige arbeiten werden, flankiert durch eine staatliche Politik, die möglichst nicht in den Arbeitsmarkt eingreift. Hilfe zur Selbsthilfe war vorgesehen, auch private soziale Fürsorge, nicht aber eine aktive staatliche Sozialpolitik. Und auch keine Produktionsgenossenschaften als eine zumindest partielle Alternative zum Industriekapitalismus.26

4. Genossenschaftlicher Sozialliberalismus Mit der Genossenschaftsidee nahm der Sozialliberalismus im 19. Jahrhundert eine dritte Gestalt an – nach dem Sozialliberalismus für das Land und dem für den kleingewerblichen Mittelstand und die frühe Fabrikarbeiterschaft. Der genossenschaftliche Sozialliberalismus bildet eine Übergangsphase zwischen den vor- und frühindustriellen Formen der ersten Jahrhunderthälfte und jenem Sozialliberalismus, der auf die Hochindustrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts antwortet. Der Kern des frühliberalen Bürgermodells, die ökonomische Selbständigkeit, blieb auch für den genossenschaftlichen Sozialliberalismus zentral. Das verbindet ihn mit seinen Vorläufern und grenzt ihn ab von seinem Nachfolger. Der genossenschaftliche Sozialliberalismus wurde unter den Liberalen nicht das Anliegen einer Mehrheit, doch von der 1848er-Revolution, einer ersten Hochphase der Genossenschaftsgründungen, bis in die 1860er Jahre bot die Genossenschaftsbewegung eine Chance, Handwerker und auch Arbeiter in das liberale Feld zu integrieren. Sie schuf eine Brücke zur sozialistischen Arbeiterbewegung. Hier nahm der genossenschaftliche Sozialliberalismus etwas vorweg, was auch sein hochindustrieller Nachfolger anstrebte.

26 Boch, S. 243 f.

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Die frühe Sozialdemokratie suchte nach Möglichkeiten, die als ungerecht empfundene Ökonomie des Marktes zu zähmen. Ihr Rezept, den kleinen Produzenten zu retten, ohne in eine Restauration von Zunftordnung abzugleiten, hieß wie bei einem Teil der damaligen Liberalen: genossenschaftliche Selbstorganisation, um den Einzelnen zu befähigen, sich in einer Ökonomie, in der das große Kapital die Kleinen völlig zu verdrängen droht, als Selbständiger zu behaupten. Es ging, wie Thomas Welskopp27 für die frühe deutsche Sozialdemokratie eindringlich gezeigt hat, um eine alternative Wirtschaftsordnung, deren konzeptionelle Spannweite vom Assoziationssozialismus als einem Netzwerk kleiner Werkstätten bis zum Staatssozialismus reichte. Wie auch immer die Schwerpunkte gesetzt wurden, diese Konzeptionen für eine neue Wirtschaftsordnung verlangten, Gesellschaft und Staat zu demokratisieren. Im Kern zielte die frühe Arbeiterbewegung auf eine radikaldemokratische Öffnung der liberalen Vision einer klassenlosen Bürgergesellschaft. Ihre Idee vom „Volk“ als der Gemeinschaft aller, die durch Arbeit zum Gemeinwohl beitragen, fand jedoch spätestens seit den Revolutionserfahrungen von 1848/49 immer weniger Widerhall im liberalen Bürgertum. Der genossenschaftliche Sozialliberalismus bildete am ehesten weiterhin eine Brücke. Es waren vor allem Hermann Schulze-Delitzsch und Karl Biedermann, zwei sächsische Liberale, die den genossenschaftlichen Sozialliberalismus theoretisch durchdachten und in der Praxis förderten.28 Nachdem das frühliberale Bürgermodell am Industrialisierungsprozess zerbrochen war, suchten sie seinen Kern, eine Bürgergesellschaft der ökonomisch Selbständigen, zeitgemäß fortzuentwickeln. Keine Rückkehr zu den alten Verhältnissen, die den Einzelnen schützten, ihm jedoch zugleich straffe Zügel anlegten, aber auch keine neuen Formen von Staatshilfe als „Staatsbevormundung“, und auch kein „Klassenhass wider das Bürgerthum“, so Biedermann 1881 im Rückblick, sondern Genossenschaften als „Princip der wirtschaftlichen Selbsthülfe“29. Die heutige Konkurrenzgesellschaft mit ihrem „Kampf Aller gegen Alle“, so hatte er schon 1847 geschrieben, brauche ein Widerlager, damit sich nicht die Überzeugung 27 Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000. 28 Vgl. vor allem Rita Aldenhoff, Schulze-Delitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984; Richard J. Bazillion, Modernizing Germany. Karl Biedermann’s Career in the Kingdom of Saxony, 1825–1901, New York 1990. 29 Karl Biedermann, Dreißig Jahre deutscher Geschichte. Vom Thronwechsel in Preußen 1840 bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums. Nebst einem Rückblick auf die Zeit von 1815–1840. 2. Band, Breslau [1881], S. 172, 179, 180.

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verbreite, eine „Radikalreform des ganzen gesellschaftlichen Organismus“ sei unvermeidlich.30 Auch Schulze-Delitzsch zielte mit seinem Genossenschaftsmodell gleichermaßen auf die Arbeiterschaft wie auf die Handwerker, von denen die meisten zu „bloßen Lohnarbeitern … herabsinken“ werden.31 Die „Tendenz der neueren Industrie zum Großbetrieb“, diagnostizierte er, ist nicht aufzuhalten. Von dieser Einsicht müsse ausgehen, wer den industriellen Fortschritt – und Industrie ist Fortschritt, darin stimmten Liberale und Sozialisten überein – in einen „Kulturfortschritt der Menschheit“ (172) überführen will. Er sah dazu für diejenigen, die bislang als Verlierer diesen industriellen Fortschrittsweg säumten, nur eine Chance: die „Vergesellschaftung im Erwerb“ (173) mittels der Assoziation. Sie ist, so Schulze-Delitzsch in schroffer Zuspitzung, „das einzige Rettungsmittel für die unbemittelten Arbeiter und Handwerker“ (174 f.). „Nicht die kleinen Gewerbetreibenden durch polizeiliche Verbote gegen die Konkurrenz des Großbetriebes schützen, sondern sie zur Konkurrenz … befähigen“, darum gehe es, und dazu sei nur die genossenschaftliche Selbsthilfe in der Lage, „die wahre und einzig mögliche Innung der Zukunft“ (175). Den außerordentlich erfolgreichen Aktiengesellschaften als den „Assoziationen von Kapitalisten“ sollen Arbeiterassoziationen zur Seite treten, mit der Produktionsgenossenschaft als dem „Gipfelpunkt des Systems“ (178). Denn sie ermögliche die „gewerbliche Selbständigkeit“ derer, die kein Kapital besitzen. Darum ging es Schulze-Delitzsch und allen Liberalen, die auf den genossenschaftlichen Sozialliberalismus ihre Hoffnung setzten: Selbständigkeit, „sein eigener Herr werden, eine zugleich würdigere und lohnendere Stellung in der Zukunft einnehmen“ (179). Dem Einzelnen den Weg in die Selbständigkeit eröffnen, darin, so schreibt er im Blick zurück, „lag ein Hauptsegen des alten Handwerks, dem wir die Kernhaftigkeit unseres Bürgerstandes zum Teil mit verdanken: daß die geschäftliche Unselbständigkeit, der Lohndienst bei einem anderen, nur als notwendiger Durchgangspunkt zur endlichen eigenen Selbständigkeit galt“ (179). Robert von Mohl hatte es zwei Jahrzehnte zuvor ganz ähnlich formuliert. Das gleiche Ziel, aber auf einem anderen Weg. Die Gewinnbeteiligung der Arbeiter, die Mohl gefordert hatte, war nicht realisiert worden. Schulze30 Karl Biedermann, Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen, Leipzig 1847, S. 99. 31 Hermann Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland als Programm zu einem deutschen Kongreß, Leipzig 1858. Zit. nach Gall/ Koch (wie Anm. 13), S. 163–184, hier 165. Für die folgenden die Zitate werden die Seitenangaben im Text in Klammern nachgewiesen.

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Delitzsch übersetzte sie in „Vergesellschaftung im Erwerb“ durch Eintritt in eine Produktivgenossenschaft. Sie entwarf Schulze-Delitzsch als sozialliberale Vision einer gerechten Gesellschaft für die vielen, denen die Industriegesellschaft den Weg in die ökonomische Selbständigkeit verwehrt. Der einzelne Genosse ist Unternehmer und Arbeiter zugleich, „Herr und Diener“ – „die wahre Versöhnung zwischen Arbeit und Kapital“ (181) zum Wohle der gesamten Gesellschaft, wenn alle Sozialkreise sich „dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes … nähern“ (182). Diese sozialliberale Vision blieb eine Illusion. Produktivgenossenschaften gab es 1880 in Deutschland lediglich 131, zahlreicher waren die Konsumvereine, am erfolgreichsten die Kreditvereine.32 Sie halfen durchaus dem mittelständischen Gewerbe, doch die Arbeiter wurden kaum erfasst. Der Weg der Arbeiter in die Bürgergesellschaft verläuft nicht über die Genossenschaften. Das erkannte auch Schulze-Delitzsch, der Kopf des genossenschaftlichen Sozialliberalismus. Er befürwortete schließlich die Koalitionsfreiheit, zuvor hatte er Gewerkschaften abgelehnt, doch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung verwarf er als einen „Angriff auf die Unabhängigkeit der Bürger“.33

5. Gesellschaftskonzeptionen im frühen Sozialliberalismus: ihr Wandel und dessen Grenzen In dieser sozialliberalen Ablehnung der neuen staatlichen Sozialgesetzgebung wird eine Grenze aller skizzierten Formen des frühen Sozialliberalismus sichtbar. Sie zielten auf eine vor- und frühindustrielle Gesellschaft, in der die selbständige Persönlichkeit, zu der sich möglichst jeder männliche Bürger entwickeln soll, auch die ökonomische Position des einzelnen umfasst. Sie wurde in Analogie zur Familie gedacht. Dort findet auch die Frau ihren Lebensort. Darüber hinaus gehen alle Formen des Sozialliberalismus in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts nicht. Es war ein Sozialliberalismus für den Mann in einer Bürgergesellschaft, die nach Möglichkeiten sucht, auch unter industriellen Bedingungen den Weg in eine selbständige Familienexistenz möglichst vielen Männern zu öffnen. Doch es zeichneten sich Änderungen in der Vorstellungswelt des Sozialliberalismus ab, die in die Zukunft verweisen. Die Einsicht, die künftige 32 Vgl. die Zahlen bei Rita Altenhoff, Das Selbsthilfemodell als liberale Antwort auf die soziale Frage im 19. Jahrhundert. Schulze-Delitzsch und die Genossenschaften, in: Holl u.a. (wie Anm. 1), S. 57–69, hier 65. 33 Aldenhoff, Schulze-Delitzsch (wie Anm. 28), S. 236.

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Gesellschaft werde überwiegend eine der Lohnabhängigen sein, nahm zu. Neben Konzepten, wie den Besten auch dann noch der Schritt in die Selbständigkeit mit staatlicher Hilfe ermöglicht werden kann, traten andere, die auf eine soziale Besserstellung aller zielten. Gewinnbeteiligung gehörte dazu. Sie forderte nur eine Minderheit der sozialliberalen Vordenker. Bessere Bildung für alle hingegen konnte sich auf einen breiten Konsens stützen. Hier deutet sich eine Erweiterung des liberalen Entwurfs einer sozial offenen Bürgergesellschaft an. Die selbständige Persönlichkeit, auf der diese Bürgergesellschaft aufruhen sollte, erfordert Bildung. Sie soll einen bürgerlichen Lebensentwurf auch denen erlauben, die lebenslang in wirtschaftlicher Abhängigkeit bleiben. Voraussetzung bleibt jedoch, um nochmals Schulze-Delitzsch zu zitieren, dass die gesamte Gesellschaft auf „dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes“ leben kann. Das blieb stets das zentrale Ziel des Liberalismus in all seinen Ausformungen: ein auskömmliches Leben für alle. Den gesellschaftlichen Fortschritt maß der Liberale an der Annäherung an dieses Ziel. Die drei Formen des frühen Sozialliberalismus, die dieser Beitrag plausibel zu machen sucht, teilten dieses Ziel ebenso wie der dann folgende Sozialliberalismus in der Ära der Hochindustrialisierung. Nun wurden andere Wege dorthin gesucht, und es veränderte sich auch das Gesellschaftsmodell, auf das hin die sozialliberalen Zukunftskonzepte entworfen wurden. Das industriegesellschaftliche Modell war dem Liberalismus nicht in die Wiege gelegt. Der deutsche Liberalismus entstand nicht als Wegbereiter der kapitalistischen Industriegesellschaft, und er wirkte nicht als ihr Prophet. Er arrangierte sich mit ihr, schrittweise, dem gesellschaftlichen Wandel folgend, aber immer nach Möglichkeiten suchend, möglichst vielen ein bürgerliches Leben zu ermöglichen, ein Leben in bürgerlicher Auskömmlichkeit und Ehrbarkeit. Davon zeugen alle vier Formen des Sozialliberalismus, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Über die vierte handeln die folgenden Beiträge in diesem Buch.

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Sozialliberalismus und Gesellschaftsreform seit der Reichsgründungszeit

„Die Enten gehen immer aufs Wasser, auch wenn das Huhn, das sie ausgebrütet hat, sie nur am Ufer spazieren führen will.“1 Diese ironische Sentenz eines journalistisch-politischen Zeitzeugen führt uns mitten hinein in eine der spannenden, nicht nur für die Geschichte des deutschen Liberalismus prägenden wie polarisierenden Fragen. Setzen wir noch eine weitere Sentenz hinzu – in leicht modifizierter Form zwar, aber ebenfalls aus der Feder eines besonders vielseitigen, im besten Sinne zutiefst freisinnigen Autors –, so könnten wir diese zentrale „Gretchen-Frage“ der Liberalismusgeschichte so variieren: „Heinrich, wie hältst Du’s mit dem Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit?“ So haben wir mit Hilfe von Franz Mehring und Goethe – er möge uns verzeihen – den Einstieg in das Thema gefunden: Es geht zum einen um das fortdauernd aktuelle Thema des Verhältnisses von Freiheit und Gerechtigkeit im geistigen und politischen Liberalismus, zum anderen um den Umgang des liberalen Bürgertums mit um Freiheit und Gerechtigkeit ringenden unterbürgerlichen Schichten. Wir wollen uns mit den Reaktionen der Liberalen auf die sozialen Herausforderungen befassen, mit denen sie sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts – und auch später – konfrontiert sahen. Wir wollen Reaktionsmuster identifizieren, die nicht nur zeittypisch, sondern dauerhaft prägend geworden sind für die niemals monolithische Realitätsperzeption der Liberalen. Dabei werden wir uns vor allem auf jene Spielart des Liberalismus beziehen, deren Benennung bis in die Gegenwart häufig Kopfschütteln evoziert. Man hält sie irreführend für ein Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts bzw. für eine Kapitulation des Liberalismus vor dem sozialinterventionistischen Staat oder aber – dem Ideologem aufsitzend, wonach es nur einen Liberalismus ohne Epitheta gebe – für die Mischung aus einer ‚Koalitionsvariante der Loser’ und einem Oxymoron, das allenfalls noch von der Wortschöpfung „Sozialbörsianer“ in seiner Unvereinbarkeit zu überbieten wäre. Vom „Sozialliberalismus“ ist hier die Rede, wie er sich spätestens im Laufe der 1860er Jahre herauszubil1 Franz Mehring, Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Bd. 2, Berlin (DDR) 1960, S. 19.

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den begann, lange bevor der Sozialliberale Ignaz Jastrow dem Begriff in den 1890er Jahren eine für den politischen Tageskampf verwendbare Konnotation verleihen sollte.2

1. Probleme der historischen Liberalismus-Perzeption Wenn wir uns mit den gesellschaftlichen Reformkonzepten eines sozial sensibilisierten bzw. eines dezidiert sozialen Liberalismus auseinandersetzen und sie in zeitgenössische Diskussionen einzuordnen versuchen, so können wir uns der Problematik nicht entziehen, dass ihre Perzeption immer zwischen „zuviel, zu früh“ und „zu wenig, zu spät“ oszillierte. In der Konfrontation zwischen nationalem und fortschrittlichem Liberalismus einerseits, der aufstrebenden, sich von ihren liberal-demokratischen Geburtshelfern zunächst im Eilschritt entfernenden Sozialdemokratie andererseits, konnte der Sozialliberalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Akzentsetzungen niemals mehr als eine Außenseiterrolle im öffentlichen Diskurs spielen. Die nationale Frage, die hoch emotionalisierende gesellschaftliche Polarisierung unter dem Stichwort „Kulturkampf“, die Neuformierung der Konfliktlinien, die man gemeinhin mit dem Begriff der „zweiten Reichsgründung“ bezeichnet, das Ringen um Bismarcks „Revolution von oben“, schließlich die anti-sozialdemokratisch akzentuierte Ausnahmegesetzgebung: All dies ließ die sozialreformerischen Petita eines sozialen Liberalismus zu Randständigem herabsinken. Und dies in einer Weise, dass für manche die schiere Existenz derartiger Reformbemühungen bis heute einem Ärgernis gleichkommt, das man kaum anders denn als bourgeoise Sozialkosmetik oder unverhohlenen Arbeiterverrat zu etikettieren wusste und weiß. Selbst in der seriösen Forschung zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. und 20. Jahrhundert hat der Sozialliberalismus bis heute nicht die ihm geistes- und sozialgeschichtlich gebührende Berücksichtigung gefunden.3 2 Ignaz Jastrow, Sozialliberal. Ein Weckruf zu den Landtagswahlen, Berlin 1893. Das Verdienst, den Historiker, Soziologen und Ökonomen Jastrow der Vergessenheit entrissen zu haben, gebührt neuerdings Dieter G. Maier und seiner biographischen Skizze: Ignaz Jastrow. Sozialliberale Positionen in Wissenschaft und Gesellschaft, Berlin 2010. 3 So jüngst erst wieder nachweisbar bei Hans Fenske, der „wichtige Ansätze zu einem Sozialliberalismus“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts lediglich im Verein für Sozialpolitik und in der Gesellschaft für soziale Reform ausmacht (Hans Fenske, Der deutsche Liberalismus in seinen Grundzügen, in: Helmut Reinalter/Harm Klueting Hg., Der deutsche und österreichische Liberalismus, Innsbruck 2010, S. 32–52, hier S. 45). An der Tatsache, dass eine systematische Darstellung sozialliberalen Denkens

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Zu guter Letzt kann die zumindest nach den dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte einsetzende Geschichts- und Identitätsvergessenheit der deutschen Liberalen – nicht nur der „Partei-Liberalen“ – nicht außer Acht bleiben. Diese waren, mit Ausnahme des knappen Jahrzehnts um 1970, mehr darum bemüht, ein Gutteil ihrer Selbstidentifikation über ein – im Liberalismus immer auch präsentes – anti-sozialpolitisches und speziell antigewerkschaftliches Sentiment zu sichern. Versäumt wurde dabei z.B. auch, der allzu durchsichtigen Strategie des Ignorierens und Verdrängens in der Hausgeschichtsschreibung der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach 1945 das offensive Eintreten für die freiheitlichen und emanzipatorischen Wurzeln gewerkschaftlicher Organisierung im Liberalismus oder die unzweifelhaften Erfolge bürgerlicher Sozialreform entgegenzusetzen. Die bürgerlich-liberale Sozialreform, wie sie sich im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts so beispielhaft und für die gesellschaftliche und politische Entwicklung eines sozialen Rechtsstaates in Deutschland prägend herausgebildet hatte, verlor durch die katastrophalen Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht nur einen wesentlichen Teil ihrer gesellschaftlichen Basis im Bürgertum, sondern auch ihre Vernetzung im politischen Liberalismus. Zurück zu Franz Mehring: Wenn der pommersche Beamtensohn – und spätere Spartakist der ersten Stunde – über das „Huhn“ und die „Enten“ sinnierte, dann erahnte er natürlich nicht die Quisquilien deutscher Politik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mehring dachte vielmehr an jene politische Strömung, in der er sich über zwei Jahrzehnte wie ein Fisch im Wasser bewegt hatte, bevor er sich in seinen letzten drei Lebensjahrzehnten dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ verschrieb und in die Rolle eines Kronzeugen für die stipulierte Unvereinbarkeit von bürgerlicher Reformprätention und den im Marxschen Sinne verstandenen Interessen des Proletariats schlüpfte.4 Mehring kannte das „Huhn“ aus langjährigem persönlichem Umgang eigentlich weit besser als die „Enten“. Auch wenn er sich als junger Journalist in Deutschland vorerst ein Forschungsdesiderat bleibt, ändern auch die verdienstvollen Forschungen Dieter Langewiesches zur Frühgeschichte eines deutschen Sozialliberalismus nichts, zumal dort die geistige, sozialgeschichtliche und politische Kontinuitätslinie, z.B. zur Genossenschafts- und vor allem zur Gewerkschaftsbewegung, nicht fortgeführt wird. 4 Für Mehrings bürgerlich-liberale Lebensphase nach wie vor zentral, wenn auch nicht abschließend: Thomas Höhle, Franz Mehring – Sein Weg zum Marxismus, 2. Aufl. Berlin (DDR) 1958. Mehrings Auseinandersetzung mit der liberalen Sozialreform reflektiert Glen R. McDougall, Franz Mehring and the Problems of Liberal Social Reform in Bismarckian Germany 1884–1890. The Origins of Radical Marxism, in: Central European History XVI (1983), Nr. 3, S. 225–255.

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zunächst in jenem „Teich“ aufgehalten hatte, den man lange Zeit gerne als „kleinbürgerliche Demokratie“ aus dem Liberalismus herauszudefinieren bemüht gewesen ist, so war er spätestens seit Mitte der 1870er Jahre im Umfeld des „Huhns“, nämlich des bürgerlichen Liberalismus der Deutschen Fortschrittspartei (DFP) publizistisch tätig. Er war nicht zuletzt ein umtriebiger Berliner Parlamentskorrespondent zahlreicher links- bzw. nationalliberaler Blätter, später dann ja sogar Chefredakteur eines der publizistischen Flaggschiffe des sozialen Liberalismus.5 Die „Enten“, mit denen Mehring sein gesamtes Leben über mehr intellektuell-empathischen, denn physischen Kontakt gehabt haben dürfte, das war die Arbeiterschaft oder – wie Mehring es später nannte – die Arbeiterklasse. Die eingangs zitierte Mehring-Sentenz beleuchtet in eindrücklicher Weise, wie das Verhältnis von organisiertem Liberalismus und Arbeiterschaft der Zeit von vielen, nicht nur sozialdemokratischen Beobachtern gesehen und bewertet worden ist. In solcher Perspektive wollen wir – wie es sich zum 150. Geburtstag der Jubilarin Deutsche Fortschrittspartei geziemt – den würdigenden Blick zurück mit einem Ausblick in die Zukunft verbinden.

2. Reformkonzepte im Kontext eines sozialen Liberalismus Bevor wir uns den von einem sozial sensibilisierten oder gar einem sozialen Liberalismus getragenen gesellschaftlichen Reformkonzepten zuwenden, richten wir den Blick nochmals zurück auf jene Wegstrecke, die der geistige, dann auch der politische Liberalismus von seinen Anfängen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgelegt hat. Der Liberalismus des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts stellt sich – vor allem im Vergleich zu späteren Entwicklungen – als eine in ihren grundlegenden Zielsetzungen wie in der Perzeption des Bedarfs an konkreten gesellschaftspolitischen Problemlösungen weitgehend einheitliche, gesellschaftliche und politische Reformbewegung dar. Auf der Basis fester Verankerung in einer sozialstrukturell breit gefächerten, über das aufgeklärte städtische Bürgertum weit hinaus greifenden Anhängerschaft schickte sich diese hochdynamische Reformbewegung an, den spätfeudal5 Für Mehrings vormarxistische Phase gilt weiterhin die Aussage von McDougall: „What information exists on Mehring’s early life is scattered throughout the corpus of his work” (wie Anm.4, S. 228, Anm. 9). Auf das besondere Renommee der Berliner Parlamentskorrespondenten, in der Hierarchie des politischen Journalismus jener Jahre „ganz oben“ gestanden zu haben, verweist zuletzt Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009, S. 81.

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absolutistischen Staat und die ihm korrespondierende ständische Wirtschaftsund Sozialordnung aus den Angeln zu heben. Das naturrechtlich begründete Postulat der Würde und der unveräußerlichen Rechte eines jeden Individuums bildete den Kern liberaler Gesellschaftsreform. Orientierungspunkt war eine Gesellschaft selbständiger Bürger, die dem Individuum wirtschaftliche, soziale und politische Emanzipation ermöglichte. Die Vorstellung einer auf politische, ökonomische, aber auch moralische Aspekte rekurrierenden „Bürgergesellschaft“ durchzieht den deutschen Frühliberalismus. Dieser findet darin sein verbindendes Motiv sowohl mit den schottischen Moralphilosophen seit dem späten 17. Jahrhundert als auch z.B. mit der Theorie und politischen Praxis eines Thomas Jefferson6 im späten 18. Jahrhundert. Organisationsprinzipien der vom Liberalismus angestrebten Bürgergesellschaft waren das Recht und der Markt. Für den Liberalismus als Verfassungsbewegung resultierte hieraus zum einen die Forderung nach einer den herrschenden, per se zentralistischen Absolutismus überwindenden gewaltenteiligen Rechtsordnung, in der der Zielkonflikt zwischen autonomer Entfaltung des Individuums und dem Interesse an einer den Naturzustand des Menschen transzendierenden staatlichen Ordnung durch Beteiligungsrechte der Bürger am Gesetzgebungsprozess aufgehoben werden sollte. Eine Ordnung formalisierten Rechts, die die Staatsgewalt an kodifizierte, deren Aufgabenbereich einhegende Regeln band, erschien als probates Instrument, um das Individuum vor staatlichem Übergriff zu schützen und seine zur Entfaltung und Vervollkommnung erforderlichen Freiräume gegenüber dem Staat zu gewährleisten. Der Markt wurde zugleich als ein Organisationsprinzip der Freiheit und der Effizienz verstanden. Der Grundforderung nach Selbstbestimmung des Individuums war auch hier Rechnung zu tragen: durch Sicherung des Privateigentums, durch ein Höchstmaß an freier Betätigung des einzelnen Wirtschaftsbürgers im Marktgeschehen, durch von feudalen Reglementierungen befreites Grundeigentum, kurz: durch eine sich am Markt ausrichtende Wirtschaftsordnung, die den Gewerbefleiß hemmenden Zunftzwängen ebenso ein Ende setzte wie merkantilistischen Handelsbeschränkungen. Dies war der Weg, Freiheit und Effizienz zusammenzuführen, denn nach Auffassung der Liberalen werde sich im freien Spiel der Marktkräfte für alle Individuen „ein Maximum an Produktivität und ein Optimum an Wohlstand und Glück gleichsam von selbst einstellen“.7 6 Vgl. Richard B. Bernstein, Thomas Jefferson, Oxford 2003. 7 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Liberalismus und liberale Ideen in Geschichte und Gegenwart, in: Kurt Sontheimer (Hg.), Möglichkeiten und Grenzen liberaler Politik, Düsseldorf 1975, S. 9–45, hier S. 15.

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Der unausweichlichen Konfrontation mit der gesellschaftlichen Realität ländlicher wie städtischer Armut widerstand der frühe Liberalismus mit einem noch weitgehend ungebrochenen Zukunftsoptimismus. Die Realisierung einer Bürgergesellschaft rechtlich, ökonomisch und politisch selbständiger Individuen werde mit ihrer die Schaffenskräfte freisetzenden Wirkung auch die Daseinslage der unterbürgerlichen Schichten entscheidend verbessern. Nur hier hat im Übrigen die Sentenz von der guten Wirtschaftspolitik, die zugleich stets die beste Sozialpolitik sei, ihren legitimen Ort – weit vor den Erfordernissen moderner Massendemokratie. In einem gesellschaftlichen Entwicklungsschritt – so sah es der frühe Liberalismus, der sowohl einen Prozess sozialer Nivellierung als auch eine befreiende Mündigwerdung bisher als sozial wie moralisch diskreditiert betrachteter unterbürgerlicher Schichten in sich trug –, würden die Interessendivergenzen, die auch für die Liberalen kaum mehr zu leugnen waren, ihre Überwindung finden. Man hielt fest am Ideal einer harmonisch geordneten Gesellschaft, in der die Interessenwahrnehmung des Einzelnen ein Maximum an Effizienz und zugleich ein Optimum an Wohlstand für die übergroße Mehrheit erzeugen werde, kurz: das größte Glück der größten Zahl, wie es Jeremy Bentham formuliert hat.8 Diese fortschrittsoptimistisch getönte Erwartungshaltung der Liberalen war ebenso falsch wie richtig zugleich. In der Tat schuf erst die Befreiung des Individuums aus den fesselnden Strukturen der alten Ordnung die Voraussetzungen für den – allen Widrigkeiten zum Trotz bis heute fortdauernden – Siegeszug der marktgebundenen Erwerbswirtschaft und den Durchbruch einer von Technisierung und Effektivierung bestimmten Industriegesellschaft. Indes gestalteten sich die gesellschaftlichen Folgen der revolutionären Veränderungen in den ökonomischen Grundlagen konträr zu den liberalen Erwartungen. Nicht die Minimierung gesellschaftlicher Konfliktpotentiale war Tagesrealität, sondern das Hervortreten neuer, verschärfter Klassengegensätze. Sprengung des Zunftzwangs, Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit brachten neue gesellschaftliche Problemfelder hervor, die das hehre Ideal einer harmonischen Gesellschaft von ihre natürliche Freiheit lebenden autonomen Individuen Lügen straften. 8 Vgl. Philosophy of Economic Science, in: Werner Stark (Hg.), Jeremy Bentham’s Economic Writings, Vol. I, London 1952, S. 79–120. Zu Benthams traditionell umstrittenem Beitrag zum Liberalismus vgl. José Guilherme Merquior, Liberalism – old and new, Boston 1991, S. 47 ff. Benthams Weg zum radikaldemokratischen Reformer analysiert zuletzt: Philip Schofield, Utility and Democracy. The Political Thought of Jeremy Bentham, Oxford 2006.

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Die manifest werdende Diskrepanz zwischen realer gesellschaftlicher Entwicklung und propagierten Hoffnungen und Erwartungen stürzte den Liberalismus in eine tief greifende Orientierungskrise. Der Liberalismus war mit der „sozialen Dekomposition“ (Wolfgang J. Mommsen) seiner Trägerschichten konfrontiert, einer Binnendifferenzierung, die zu divergierenden sozialökonomischen wie politischen Interessenlagen führte. Zugleich wurde der in der Entstehung des Liberalismus angelegte Widerspruch zwischen der sozialen Verwurzelung im vorindustriellen Milieu des städtischen Bürgertums und dem Modernisierungscharakter des Liberalismus als Bannerträger eines unbeschränkten Industrialismus offenkundig. Die Binnendifferenzierung im Liberalismus betraf jedoch nicht allein seine soziale Basis, sondern auch und vor allem seine Bewertung des sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandels. Mit diesen Positionsbestimmungen aus dem ideologisch bisher weitgehend homogenen Lager der Liberalen zu den Herausforderungen des industriellen Kapitalismus und der modernen Klassengesellschaft gewann die Binnendifferenzierung weltanschauliche Konturen. Aus dem Liberalismus wurden divergierende und konkurrierende Interpretationen des Liberalismus, in vielen europäischen Staaten á la longue sogar divergierende parteipolitische Lager. Man wird daher kaum fehlgehen mit der Feststellung, dass seit den sozialen Herausforderungen des frühen 19. Jahrhunderts von der liberalen Antwort auf Fragen der Zeit keine Rede mehr sein kann.

3. Bildung, Selbsthilfe und Solidarität durch Assoziation Die „Soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts gibt es bekanntlich nicht. Allenfalls könnte man von einem Konglomerat sozialer Problemfelder von unterschiedlichem historischem Entstehungskontext und je spezifischer Gewichtung sprechen. Unter den sich immer dringlicher stellenden „Sozialen Fragen“ der Zeit gewann jedoch eine zunehmend von Besorgnis bestimmte Aufmerksamkeit. Sie betraf die Reform der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse jener, die – wie es der katholische Sozialwissenschaftler und Sozialpolitiker Franz Hitze später ausdrücken sollte – „in der Production nichts einzusetzen haben als ‚ihrer Hände Arbeit‘“.9 Die „Arbeiterfrage“ wurde so den Zeitgenossen zur „Sozialen Frage“ schlechthin. Schon lange bevor die ökonomische Niedergangsperiode der „Großen Depression“ den Glauben an die Selbstregulierung der Marktkräfte er9 Franz Hitze, Die Arbeiterfrage, 4. Aufl. München-Gladbach 1904, S. 3.

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schüttern und die Furcht vor Gefährdungen der öffentlichen Ordnung durch Verzweiflungstaten der von der Krise besonders hart getroffenen Unterschichten potenzieren sollte, hatten sich zwei Grundkonzeptionen der Bewältigung sozialer Herausforderungen konkurrierend und im Grundsatz unvereinbar gegenübergestanden. Die eine setzte auf patriarchalische Fürsorge nach einem traditionellen Wohlfahrtsideal, auf staatliche Sozialpolitik zur Entschärfung sozialer Spannungen und konnte hier – wie die preußische Sozialpolitik des Vormärz beispielhaft zeigt – mit einem reichen Instrumentarium konstruktiver sozialpolitischer Normsetzungen aufwarten. Ein konstitutives Element dieser staatlichen Sozialpolitik bildete aber von Beginn an die Einschränkung individueller und/oder kollektiver Eigeninitiative. Mit sehr feinen Sensorien spürten die Exekutoren dieser Politik, dass jede auf Stärkung der individuellen oder gar der assoziativen sozialen Problemlösungskompetenz hinauslaufende Initiative unabsehbare Risiken im Sinne gesellschaftlicher Emanzipation in sich barg. Die fürsorglich-patriarchalische und die repressive Komponente staatlicher Antworten auf die „Sozialen Fragen“ der Zeit lagen eng beieinander. Schutz, Fürsorge, Kontrolle – das konnten jedoch keine liberalen Antworten sein. Das liberale Zauberwort zur Gesellschaftsreform hieß zunächst „Bildung“. Sie stand für die Liberalen in einem unabdingbaren Wechselverhältnis zur individuellen Freiheit: ohne Freiheit keine Bildung. Durch die Entfaltung und moralische Vervollkommnung der dem Individuum innewohnenden Fähigkeiten schuf die Bildung erst die Voraussetzungen für den rechten Gebrauch der Freiheit. Ganz im Gefolge eines aufklärerischen Pathos bedeutete Bildung die Befreiung von geistigen Zwängen und Verbiegungen des Individuums, ja die Voraussetzung selbstverantwortlicher Lebensführung schlechthin. Die Bildung als „Königsweg“ liberaler Sozialreform wurde alsbald durch den Begriff der „Selbsthilfe“ ergänzt, und zwar in einem zunächst ausschließlich individualistischen Sinne, ganz eng geführt am Menschenbild des Liberalismus. In individuellen oder sozialen Notlagen sollte das zu selbstverantwortlichem und vernunftgemäßem Handeln befähigte Individuum nicht auf die karitative Fürsorge Dritter vertrauen oder gar auf die paternalistisch reglementierende Hilfe und Lenkung durch die Obrigkeit. Nach der durch Bildung erfolgten Befreiung aus dem finsteren Kerker selbstverschuldeter Unmündigkeit ging es nun darum, eigene Befähigungen und Anlagen in freier Selbstbestimmung zu nutzen und sich nicht in neuen Abhängigkeiten zu verlieren. Bildung und Selbsthilfe – wie immer man auch die Problemlösungskompetenz dieser liberalen Reformparameter kritisch bewerten mag, so bleibt festzuhalten: Selbst wenn der Liberalismus der pure Sozialquietismus gewesen wäre, als den man ihn immer wieder zu stigmatisieren versucht hat, selbst wenn ihm jedweder gesellschaftsinnovative Impetus fern gelegen hätte – allein durch die

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Tatsache, dass hier das Heraustreten aus dem Zugriff hergebrachter staatlicher oder gesellschaftlicher Autoritäten propagiert wurde, mussten die Antworten des Frühliberalismus auf soziale Problemlagen emanzipatorische Wirkung entfalten. Doch der Liberalismus blieb nicht stehen bei den Reformkonzepten „Bildung“ und „Selbsthilfe“. Die bisher auf das Individuum verengte Sicht der Selbsthilfe wurde durch die Wendung zur „Solidarität durch Assoziation“ erweitert. Die gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts machte diesem Verständnis des Liberalismus zufolge eine Überwindung des „atomistischen Individualismus der Aufklärung“10 zur schieren Notwendigkeit. Hierzu war die Anerkennung von Gruppeninteressen in der gesellschaftlichen, nicht notwendig auch der politischen Sphäre erforderlich. Gruppensolidarität, die den Liberalen lange als ein Relikt vor-aufklärerischen Zünftlertums erschienen war, wurde nun als solidarische Interessenassoziation zum zentralen Instrument einer Gesellschaftsreform aus liberalem Geist. Mit Hilfe der solidarischen Interessenassoziation, z.B. in Gewerkschaften, sollte Chancengerechtigkeit ermöglicht werden. Sie sollte als „justice réparative“ (Alfred Fouillée) wirken, um das vom Frühliberalismus vor allem auf dem Wege der Wirtschaftsfreiheit anvisierte, in der gesellschaftlichen Realität des Zeitalters der industriellen Revolution aber immer wieder mit Füßen getretene individuelle Freiheitspostulat auch für jene Gruppen der Gesellschaft Realität werden zu lassen, denen die gesellschaftlichen Verwerfungen nicht mehr, sondern weniger individuelle Freiheit eingetragen hatten. Dies war Konsequenz eines neuen, veränderten Freiheitsverständnisses. Wo die gesellschaftlichen „Anrechtsstrukturen“11 so geartet waren, dass individuelle Freiheit nur von Minderheiten gelebt werden konnte, da musste der Liberalismus auf die Ermöglichung freiheitlicher Lebensgestaltung durch Schaffung von Chancengerechtigkeit hinarbeiten. Dies machte den Übergang vom traditionell individualistischen Verständnis der Selbsthilfe zur gruppensolidarischen Interessenvertretung notwendig. Nur letztere ermöglichte wiederum die politisch relevante Artikulation gesellschaftlicher Interessen. Die Solidarität durch Assoziation war demnach nicht die Preisgabe des traditionellen Freiheitspostulats der Liberalen, sondern sie war der neue „Königsweg“, um Freiheit aus dem Status eines Privilegs für gesellschaftliche Minderheiten zu einer realen Möglichkeit für alle Bürger zu erheben. Durch Solidarität zur individuellen Freiheit – so könnte man die Devise dieses neuen liberalen 10 Frederick Watkins, Theorie und Praxis des modernen Liberalismus, in: Lothar Gall (Hg.), Liberalismus, 2. Aufl. Königstein 1980, S. 54–76, hier S. 72. 11 Hier anknüpfend an Ralf Dahrendorf, Theorie und Praxis, in: Ders., Fragmente eines neuen Liberalismus, Stuttgart 1987, S. 18–35.

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Ansatzes zur Sozialreform, dieses neuen „kollektiven Liberalismus“12 zusammenfassen.

4. Typologie liberaler Reaktionen auf die sozialen Fragen In Reaktion auf die sozialen Herausforderungen haben sich innerhalb des liberalen Lagers sehr unterschiedliche Reaktionsmuster herausgebildet, die in ihrer Zeit jeweils für sich beanspruchten, eine authentisch liberale Antwort auf die Wandlungen der gesellschaftlichen Realität bereit zu halten. Der hier folgende, an frühere Ansätze anknüpfende Typologisierungsversuch13 abstrahiert von häufig genug Zufälligkeiten geschuldeten parteipolitischen Grenzziehungen innerhalb des „Gesamtliberalismus“. Zum Verständnis des zeitgenössischen Sozialliberalismus ist es wichtig, ihn von den konkurrierenden Liberalismen seiner Zeit inhaltlich zu unterscheiden. Ein in seiner Wirkung besonders prägendes Reaktionsmuster im Liberalismus des 19. Jahrhundert war erstens zweifelsohne der „dogmatische Wirtschaftsliberalismus“. Er bejahte nicht nur uneingeschränkt das freie Spiel der Marktkräfte, sondern identifizierte Marktgesetze und Preismechanismus „mit distributiver Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt“.14 Stets hatte er aufgrund seiner tiefen Aversion gegen jegliche sozialregulative Intervention ins Marktgeschehen die Tendenz, Fehlentwicklungen am Markt oder in der Gesellschaft als Konsequenz unzureichender, da reglementierter Marktfreiheit zu interpretieren. Erscheinungen des Industrialisierungsprozesses, deren eklatanter Widerspruch zum liberalen Ethos der Menschenwürde nicht abzuleugnen war, wurden als Residuen feudaler Besitzverhältnisse oder zünftlerischer Beschränkungen der Gewerbefreiheit interpretiert. Im Elend der un12 Dieser Begriff wurde allerdings in einem anderen, das Tarifvertragsrecht betreffenden Sinne geprägt von Hugo Sinzheimer, Die Reform des Schlichtungswesens. Vortrag auf der XI. Generalversammlung der Gesellschaft für Soziale Reform 1929 in Mannheim, abgedruckt in: Ders., Arbeitsrecht und Rechtssoziologie. Gesammelte Aufsätze und Reden, Hg. O. Kahn-Freund/T. Ramm, Frankfurt a.M. 1976, Bd. 1, S. 236–254. 13 Vgl. Hans-Georg Fleck, Von den Unannehmlichkeiten einer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität. Liberale Reaktionen auf sozialpolitische Herausforderungen in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Liberalismus und Soziale Frage(n). 5. Rastatter Tag zur Geschichte des Liberalismus am 07./08.November 1992, St. Augustin 1993, S. 27–56, hier S. 36 f. und S. 46–51. 14 Günter Trautmann, Die industriegesellschaftliche Herausforderung des Liberalismus. Staatsintervention und Sozialreform in der Politikökonomie des 18./19. Jahrhunderts, in: Karl Holl u.a. (Hg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 34–56, hier S. 50.

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terbürgerlichen Schichten erkannte man nicht Korrekturbedarf am System der Marktfreiheit, sondern individuelles Verschulden der Betroffenen oder gar ein quasi naturgesetzliches Phänomen. Mangelndes Arbeitsethos, Unmäßigkeit, unzureichende Selbstzucht, kurz: verwerfliche und verstockte Ignoranz gegenüber dem bürgerlichen Werte- und Normenkanon identifizierte man als Quelle allen Übels. Wer sich bei Befolgung bürgerlicher Tugendmaximen unfähig erwies, sich am eigenen Schopfe aus dem sozialen „Sumpf“ zu ziehen, der konnte es wohl nicht besser verdient haben. Man sympathisierte zwar zeitweilig mit dem sozialreformerischen Konzept der Selbsthilfe, beharrte aber auf dessen streng individualistischem Charakter. Eine pragmatischere Form des Wirtschaftsliberalismus ist zweitens dessen „taktierende“ Spielart. Trotz prinzipieller Übereinstimmung mit jenen weltanschaulichen Grundlagen, die der dogmatische Wirtschaftsliberalismus repräsentierte, war der taktierende Wirtschaftsliberalismus immer wieder bereit, eigene Prinzipien hinter tagespolitische Opportunitäten, das Machtkalkül, die proklamierte Staatsräson zurückzustellen. Mit dieser Charakterisierung trifft man sicher die große Mehrheit des politisch organisierten Liberalismus der Bismarckzeit am ehesten, wie er vor allem bei den Nationalliberalen beheimatet war. Als eine dritte Spielart erscheint der „reformerische Wirtschaftsliberalismus“. Auch er opponierte prinzipiell gegen den Bismarckschen Sozialinterventionismus, stand aber zugleich der aktiven Nutzung des Instrumentariums der Selbsthilfe, z.B. durch Ausbau sozialer Sicherung auf der Basis des SelbsthilfeGedankens oder durch eine verbesserte Rahmengesetzgebung des Staates für die Organisationen der Selbsthilfe, positiv gegenüber. Dort, wo er in kommunaler Verantwortung stand, ging der reformerische Wirtschaftsliberalismus sogar so weit, den Gebrauch sozialregulativer Eingriffe ins Marktgeschehen nicht nur zu tolerieren, sondern aktiv als Politikinstrument zu nutzen: die Geburtsstunde des „Municipalsozialismus“, in dem der viel gerühmte „Kommunalliberalismus“ zum Teil seine weltanschauliche Verortung hat.15 Ein viertes Reaktionsmuster stellt der „sozial sensibilisierte Liberalismus“ dar. Bei aller Bevorzugung staatsfreier gesellschaftlicher Initiativen zur Sozialreform, bei aller Befangenheit in einer Frontstellung gegen staat15 In Orientierung an, zugleich aber auch in systematischer Differenzierung von Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 200 ff. Dies ändert nichts an der unveränderten Dringlichkeit des – bis heute allenfalls in Ansätzen erfüllten – Postulats nach einem Mehr an lokal- und regionalgeschichtlicher Forschung zum Liberalismus. Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus und Region, in: Lothar Gall/Ders. (Hg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 1–18, hier S. 15.

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liche Intervention, die diese nur als Wiedergeburt eines spätabsolutistischen Paternalismus perzipieren konnte, waren dem sozial sensibilisierten Liberalismus Grundstrukturen der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung zum Problem geworden. Er hinterfragte den Freiheitsgehalt der wirtschaftlichen Freiheit für das Individuum. Insofern war er offen für neue soziale Konzepte, sei es auf kommunaler oder staatlicher Ebene, wie z.B. die Schaffung eines freiheitlichen Koalitionsrechts. Der sozial sensibilisierte Liberalismus ist ein historisches Übergangsphänomen. Im so genannten „mitfühlenden Liberalismus“ unserer Tage erfährt er übrigens weder inhaltlich-intellektuell noch intentional eine verspätete Wiederauferstehung. Schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts fand er vielmehr in einem Sozialliberalismus älteren und neueren Typs eine konsequente Ablösung. Der Sozialliberalismus älteren Typs ergänzte fünftens die liberalen Reformparameter „Bildung“ und „Selbsthilfe“ durch die konkrete Anwendung des Prinzips der „Solidarität durch Assoziation“ in der gesellschaftlichen Realität. Was ihn am deutlichsten von den anderen liberalen Strömungen der Zeit abhob, war die Anerkennung spezifischer Interessen der sozialen Unterschichten und der Legitimität, ja Notwendigkeit der Vertretung dieser Interessen durch eine kollektive Interessenvertretung. Diese basierte nicht auf als antagonistisch perzipierten gesellschaftlichen Klassengegensätzen, sondern zielte ab auf sozialen Interessenausgleich und Kooperation. Bestehende soziale Konflikte sollten jedoch keineswegs negiert, sondern durch neue Formen der Interessenartikulation und der Konfliktaustragung bearbeitet werden. Ziel war die Umwandlung des Arbeitsverhältnisses aus einem Gewalt- in ein Rechtsverhältnis16, ganz in der liberalen Tradition des Rechts als gesellschaftlichem Organisationsprinzip. Für den älteren Sozialliberalismus war die Befähigung der unterbürgerlichen Schichten zur eigenverantwortlichen Lösung ihrer sozialen Probleme über den neuen liberalen „Königsweg“ der Solidarität durch Assoziation ein genuines Freiheitselement und zugleich eine „Schule zur Demokratie“. Mit dieser Zielsetzung bewegte er sich außerhalb der herrschenden politischen und gesellschaftlichen Maximen des Kaiserreiches.

16 Ich greife hier die vom liberalen Frankfurter Kommunal- und Sozialpolitiker Karl Flesch als Vortragsthema auf dem XVII. Verbandstag des Verbandes der Deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker) 1910 in Berlin verwendete Formulierung auf. Vgl. hierzu auch Hans-Georg Fleck, Soziale Gerechtigkeit durch Organisationsmacht und Interessensausgleich. Ausgewählte Aspekte zur Geschichte der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland (1868/69–1933), in: Erich Matthias/Klaus Schönhoven (Hg.), Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 1984, S. 83–106, hier S. 100.

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Schließlich war sechstens die Ablösung des Sozialliberalismus älteren durch einen Sozialliberalismus neueren Typs zunächst einmal ein Generationswechsel, und zwar von jenen, die nur sehr bedingt in der Lage waren, ihren Frieden mit dem Hohenzollernreich zu machen, zu denen, die in ihm aufgewachsen waren oder sich in ihm akklimatisiert hatten. Es war aber auch der Siegeszug der Erkenntnis, dass individuelle Freiheitsräume vielfach erst durch das sozialregulative Eingreifen des Staates ermöglicht und gewährleistet werden konnten. In diesem Sinne befürwortete der Sozialliberalismus neueren Typs nun auch den Ausbau von Institutionen der sozialen Sicherung durch den Staat, wollte diesem aber sowohl in der Binnenstruktur der sozialen Sicherungssysteme (Stichwort: Selbstverwaltungsstrukturen der Versicherten) als auch auf dem Felde des sozialen Interessenausgleichs (Stichworte: Tarifvertragshoheit, Schlichtungswesen) lediglich Rahmensetzungskompetenz zubilligen. Sozialliberalismus bedeutete stets ‚sowenig Staat wie möglich‘, aber eben auch ‚soviel Staat wie notwendig‘.17

5. Was bleibt vom Sozialliberalismus? Sozialliberale Gesellschaftsreform setzt im 19. Jahrhundert dort an, wo die gesellschaftliche Realität zur Erkenntnis zwingt, dass der von den Liberalen initiierte und getragene wirtschaftlich-soziale Reformprozess nicht nur die angestrebten Ziele der Freiheit und Mündigwerdung aller Bürger bewirkt, sondern auch soziale Spannungen, Intoleranz und Sozialneid evoziert, die geeignet sind, die Errungenschaften des Liberalismus grundlegend zu gefährden. Sozialliberalismus ist demnach der Versuch, Freiheit und Eigenverantwortung unter den wachsenden Herausforderungen einer sich in extremer Weise polarisierenden Industrie- und Massengesellschaft zu bewahren und Wege zu eröffnen, um auch jene an den Errungenschaften der Freiheit teilhaben zu lassen, die der Prozess der ökonomischen und technischen Modernisierung ins gesellschaftliche Abseits geführt oder aber dort gehalten hat. Bildung, Selbsthilfe und Solidarität durch Assoziation, die freie Interessenassoziation der Bürger, bilden das Instrumentarium sozialliberaler Gesellschaftsreform. Aus dieser Perspektive ist die demokratisch-partizipative Entfaltung aller Bürger wenn nicht notwendige Voraussetzung, so doch selbstverständliche Begleiterscheinung des Reformprozesses. Auch für Sozial17 Für das nachfolgende Fazit – und auch manchen Teilaspekt dieses Beitrags – ist zugleich auf meinen zweiten Beitrag in diesem Band (S. 83 ff.) mit Schwerpunkt auf der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung zu verweisen.

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liberale stand das Individuum und die Erweiterung seiner Freiheits- und Handlungsspielräume stets im Vordergrund. Staatliches Handeln wurde lange Zeit kritisch beargwöhnt, ja sogar abgelehnt, der Staat als bloßer Agent gesellschaftlicher Interessenallokation perzipiert. Die historische Erfahrung lehrte jedoch bald, dass man den Staat und sein Handeln nicht verneinen konnte, sondern im Interesse der Gestaltung von gesellschaftlichen Freiheitsräumen für die „große Zahl“ nutzbar machen musste. Erfolg und Durchsetzungsfähigkeit des politischen Liberalismus und der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung weisen markante Parallelen auf. Die Durchdringung der modernen pluralistischen Demokratie mit den Grundwerten des Liberalismus ist derart groß, dass mancher geneigt ist zu fragen, ob es überhaupt noch einer dezidiert „liberalen“ politischen Kraft bedürfe, da ja mittlerweile alle „irgendwie liberal“ seien. Lassen wir diese Feststellung ungeprüft im Raume stehen, so gilt die Analogie hinsichtlich der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung in jedem Falle: Die moderne einheitsgewerkschaftliche Bewegung in Deutschland ist in ihrer gewerkschaftlichen Praxis, ja selbst den von ihr proklamierten Werten zweifellos weit eher „sozialliberal“ als „sozialdemokratisch“ im Sinne des späten 19. Jahrhunderts. Auf parteipolitischer Unabhängigkeit und weltanschaulicher Neutralität basierende Organisationsmacht sowie soziale Reformpolitik innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung, gleichberechtigtes Agieren am Arbeitsmarkt auf der Grundlage tarifvertraglich geregelter Beziehungen, Betonung der „wehrhaften“ und der „fürsorglichen“ Funktion der Gewerkschaft – das ist gewerkschaftlicher Sozialliberalismus „pur“. Die Grundforderungen des sozialliberalen Gewerkschaftskonzepts sind heute gesellschaftliche und gewerkschaftliche Realität. Nicht voraussehen allerdings konnten die Väter der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung, dass das latente Unbehagen an den gesellschaftlichen Großorganisationen, die soziale Differenzierung und die Individualisierung in der Gesellschaft eines Tages die Basis des sozialliberalen Gewerkschaftskonzepts unterminieren würden: die Solidarität durch Assoziation. Was schließlich bleibt vom sozialliberalen Impetus im politischen Liberalismus? Schon die Anfänge stellten alles andere als eine Erfolgsgeschichte dar. Aber in späteren Jahrzehnten, so nach Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei im Jahre 1910, vor allem aber zu Beginn der Weimarer Republik, in der noch hoffnungsvollen Phase der Deutschen Demokratischen Partei, gingen Links- und Sozialliberalismus auf einander zu, fanden einen für beide Seiten tragfähigen, allerdings nie konfliktfreien Modus der Partnerschaft und Kooperation. Davon konnte nur wenig über die dunklen NS-Jahre der deutschen Geschichte hinübergerettet werden. Wenn der soziale Liberalismus in

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unseren Tagen noch irgendwo in der Gesellschaft anzutreffen ist, dann gilt sicher, dass er dort, wo er herkommt, dass er dort, wo man sich – aus welchen tagespolitischen Erwägungen auch immer – wenigstens noch gelegentlich der reichen Traditionen des deutschen Liberalismus in seiner Vielfalt erinnert, kaum mehr auch nur in homöopathisch zu nennender Dosierung nachweisbar ist. Wenn sich jüngst jedoch eine neue, mit großen Anfangserfolgen (und Vorschusslorbeeren) versehene parteipolitische Kraft in der politischen Arena der Bundesrepublik Deutschland zuweilen des Epithetons „sozialliberal“ bedient18, so zeigt dies zumindest eines: Das Ringen um eine freiheitlich-liberale Antwort auf die für jede demokratische Gesellschaft grundlegende Frage nach dem Spannungsverhältnis von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit steht weiterhin auf der gesellschaftlichen Agenda – mit oder ohne parteipolitische Repräsentanz in der Tradition des Liberalismus.

18 Gemeint sind die „Piraten“, die seit dem Herbst 2011 in mehrere Landesparlamente eingezogen sind und evtl. auf absehbare Zeit zu einem konstanten Faktor der deutschen Parteienlandschaft werden könnten.

URSULA REUTER

Die andere Fortschrittspartei – Johann Jacoby und Paul Singer

Die deutsche Fortschrittspartei, die im Juni 1861 ihr Gründungsprogramm veröffentlichte, gilt – nach den kurzlebigen Organisationen der Revolution von 1848/49 – als die erste moderne politische Partei in Deutschland. Sie sollte einer möglichst breiten Opposition eine politische Basis geben und die Spaltungen, die noch die Revolutionszeit geprägt hatten, bis zum Erreichen des Ziels der Nationalstaatsgründung überwinden.1 Johann Jacoby und Paul Singer gehörten nach Alter und politischer Prägung ganz unterschiedlichen Generationen an: Jacoby wurde 1805, Singer 1844 geboren. Doch suchten sie beide in den 1860er Jahren im Rahmen der Fortschrittspartei nach politischen Wirkungsmöglichkeiten.2 Während der weithin bekannte Revolutionsveteran Jacoby, der nach dem Ende der Reaktionszeit als Publizist, unermüdlicher Netzwerker und Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus (1863– 1870) wirkte, schon 1861 der neuen Partei beitrat, machte Paul Singer ab 1867 in den Vereinen und Versammlungen der Berliner Fortschrittspartei erste Schritte auf dem politischen Parkett. Im Folgenden soll skizziert werden, auf welche Weise Jacoby und Singer innerhalb der Fortschrittspartei agierten und weshalb sie ab Ende der 1860er Jahre eine andere politische Basis suchten (und fanden). Über die persönlichen Beziehungen Singers zu Jacoby ist so gut wie nichts bekannt. Doch dass 1 Vgl. als Einführung Christian Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871, Paderborn 2011, S. 144–150; ders., 150 Jahre Fortschrittspartei, http://www.freiheit. org/files/62/Vortragjansen.pdf (22.2.2012); Andreas Biefang, National-preußisch oder deutsch-national? Die Deutsche Fortschrittspartei in Preußen 1861–1867, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (1997), S. 360–383; ders., Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisationen und Eliten 1857–1868, Düsseldorf 1994, S. 45–48; Gustav Seeber, Deutsche Fortschrittspartei 1861–1884, in: Dieter Fricke (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 1, Köln 1983, S. 623–648. Eine Monographie zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei ist ein Desiderat. 2 Für Johann Jacoby immer noch grundlegend: Edmund Silberner, Johann Jacoby. Politiker und Mensch, Bonn-Bad Godesberg 1976. Zu Paul Singer siehe meine Dissertation: Ursula Reuter, Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, Düsseldorf 2004, mit ausführlichen Quellen- und Literaturangaben.

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letzterer eine prägende Figur für Singers politische Sozialisation war, lässt sich anhand einer Analyse verstreuter Äußerungen zeigen. Aus diesem Grund beginnt dieser Text mit einer Episode aus dem Jahr 1883.

1. „Einer für alle, das ist Menschenpflicht. Alle für Einen, das ist Menschenrecht!“ 1883 wurde die Berliner Stadtverordneten-Versammlung durch eine Kabinettsordre aufgelöst und die Neuwahl anberaumt.3 Der Grund für die Auflösung war eine Neueinteilung der Wahlbezirke. Hinter der Maßnahme verbarg sich aber auch das Kalkül Bismarcks, die linksliberale Dominanz in der kommunalen Selbstverwaltung Berlins mithilfe der seit Ende der 1870er Jahre anwachsenden konservativ-antisemitischen Konkurrenz – der „Berliner Bewegung“ um den Hofprediger Adolf Stoecker – zu brechen. Der Versuch, den Berliner „Fortschrittsring“ zu treffen, gab unbeabsichtigt auch der Sozialdemokratie, die seit 1878 durch das „Sozialistengesetz“ in die Illegalität abgedrängt worden war, die Chance, wieder öffentliche Präsenz in Berlin zu zeigen. Einer der sozialdemokratischen Kandidaten war der Mitinhaber der „Damenmäntelfabrik Gebrüder Singer“, Paul Singer, von einem Berliner Genossen als „unser ... erster ... und vorzüglichster ... Kandidat ...“ apostrophiert.4 Der 1844 in Berlin geborene Singer war nach dem frühen Tod des Vaters in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Bis zu seinem 14. Lebensjahr besuchte er die Königliche Realschule, dann absolvierte er eine Lehre in einer Textilhandlung, später war er im Konfektionsgeschäft eines Schwagers als Handlungsgehilfe tätig. 1869 gründete er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Heinrich ein eigenes, bald recht profitables Unternehmen.5 Singers Aufstellung war eine bewusst kalkulierte Provokation, inszeniert als Ausdruck überlegener politischer Einsicht, Vorurteilslosigkeit und egalitärer Gesinnung. Denn zum einen war Singer kein „Arbeiter“, sondern ein erfolgreicher Unternehmer, zum anderen war er Jude. Am 11. September 1883 hatte Paul Singer, der zu dieser Zeit einer größeren Öffentlichkeit noch nicht bekannt war, seinen ersten Wahlkampfauftritt vor 2000 Zuhörern. Mit lebhaftem Beifall begrüßt, erläuterte er in seiner Kandidatenrede die kommunalpolitischen Forderungen der „Arbeiterpartei“ – vor allem die Reform des städtischen Steuersystems, die Kommunalisierung städtischer Infrastrukturbetriebe und die Einführung des Reichstagswahlrechts 3 Vgl. zum Folgenden Reuter, 2004, S. 90–99. 4 Ebd., S. 95. 5 Ebd., S. 25–56.

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in der Gemeinde – und lehnte (Wahl-)Kompromisse mit anderen Parteien ab. Seine Rede beschloss er mit einem Ausspruch von Johann Jacoby: „Einer für alle, das ist Menschenpflicht. Alle für Einen, das ist Menschenrecht!“6 Warum zitierte Singer an diesem für seine politische Karriere so wichtigen Abend gerade Jacoby? Es war wohl zum einen ein Zeichen seiner persönlichen Verbundenheit mit dem 1877 verstorbenen Politiker7, zum anderen ein Tribut an das Berliner Publikum, das den Revolutionsveteranen und Oppositionspolitiker noch immer verehrte. Das Zitat stammt aus Jacobys berühmter Rede über „Das Ziel der deutschen Volkspartei“, die dieser am 30. Januar 1868 in einer Berliner Versammlung gehalten hatte.8 Jacoby, der zu diesem Zeitpunkt als Abgeordneter des 2. Berliner Wahlbezirks noch Mitglied der Fortschritts-Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus war, analysierte die „Stellung der demokratischen Partei in Preußen“9 und kam zu dem Schluss, dass eine starke und aktionsfähige demokratische Partei nur unter Einschluss der Arbeiterbewegung erfolgreich sein könne, da sich politische und soziale Reform gegenseitig forderten und bedingten: „Ohne Teilnahme des Arbeiterstandes keine dauernde Besserung der politischen Zustände und ohne Änderung der politischen Zustände keine wirtschaftliche Besserung des Arbeiterstandes.“10 Die demokratische Partei müsse aufhören, nur politische Partei zu sein, sie müsse sich auch die Umgestaltung der sozialen Missverhältnisse zur Aufgabe machen und „Volkspartei“ werden. Jacoby verstand sich in der Revolutionszeit wie in den 1860er Jahren als „Demokrat“. Die Vokabeln „liberal“ oder „Liberalismus“ vermied er, sie hatten in seinem politischen Wortschatz keinen Platz. Sein Parteibegriff rekurrierte insofern noch altmodisch auf die Partei als Gesinnungsgemeinschaft, auch wenn er in seiner Rede den Bogen hin zu den neuen Mitgliederorganisationen 6 Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Zweiter Teil, Berlin 1909, S. 116 f.; vgl. Reuter, 2004, S. 96. 7 Der Königsberger Arzt Dr. Johann Jacoby (1805–1877), Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, galt seit der Veröffentlichung seiner Schrift „Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen“ im Jahre 1841 als einer der profiliertesten demokratischen Oppositionspolitiker Preußens und Deutschlands. In der Revolution von 1848/49 war er einer der parlamentarischen und außerparlamentarischen Wortführer der Linken in Berlin, Frankfurt und Stuttgart. Ende 1849 des Hochverrats angeklagt, wurde er freigesprochen, zog sich in der Reaktionsperiode bis 1858 aber von allen politischen Aktivitäten zurück. 8 Johann Jacoby, Das Ziel der deutschen Volkspartei, 2. Aufl. Königsberg 1869. Dort (S. 5) lautet das Zitat: „Jeder für Alle – das ist Menschenpflicht; – Alle für Jeden – das ist Menschenrecht. –“ Vgl. Silberner, 1976, S. 383–393. 9 Jacoby, 1869, S. 1. 10 Ebd., S. 4.

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der demokratischen „Volksparteien“ schlug, die inzwischen in Sachsen und Süddeutschland entstanden waren. Jacoby war zu der Überzeugung gelangt, dass es die „arbeitenden Klassen“ waren, die das Potential hatten, Träger der demokratischen Bewegung in Deutschland zu werden. Die Rede von 1868 markiert damit den Endpunkt einer Entwicklung in seinem politischen Denken, in dem schon vor und während der Revolution die Lösung der sozialen Frage und die Emanzipation der gesamten Bevölkerung eine maßgebliche Rolle gespielt hatten.11

2. Johann Jacoby und die Deutsche Fortschrittspartei in Berlin 1868 war die Blütezeit der Deutschen Fortschrittspartei lange vorbei. Mit Bismarcks aggressiver Innen- und Außenpolitik war das Projekt einer „Nationalstaatsgründung von unten“12 sichtbar gescheitert, das seit Ende der 1850er Jahre die Opposition in einer historisch als offen empfundenen Situation beflügelt hatte. Durch die Gründung des Nationalvereins 1859 und der Fortschrittspartei 1861 sollten nach der erzwungenen Ruhe der Reaktionszeit neue schlagkräftige nationale Organisationen geschaffen und „die Spaltung zwischen gemäßigten Liberalen, Linksliberalen und Demokraten“ überwunden werden.13 Wenn es auch in den Organisationen des nationalen Lagers verschiedene Strömungen gab, fehlte im Gegensatz zu den Revolutionsjahren eine eindeutig dominierende parteibildende Konfliktlinie zwischen Liberalen und Demokraten. Bis zum Erreichen des Hauptziels der Nationalstaatsgründung schienen alle vorhandenen Differenzen nachgeordnet und kompromissfähig. So blieb eine der wichtigsten kontroversen Forderungen der Demokraten, das allgemeine gleiche (Männer-)Wahlrecht, im Programm der Fortschrittspartei bewusst ausgespart, da die Frage sowieso aktuell nicht zur Entscheidung stand.14 Die deutsche Fortschrittspartei war noch keine Mitgliederpartei – die Funktion der außerparlamentarischen Mitgliederorganisation übernahm für sie zumeist der Nationalverein –, sondern ein Zusammenschluss von Fraktionskollegen im preußischen Abgeordnetenhaus; diese legten, und das war das Entscheidende, ihre politischen Ziele in Form eines Programms vor. Sie „kombinierte liberale und demokratische Forderungen und war ein Zwitter 11 12 13 14

Vgl. Silberner, 1976, S. 556–558. Jansen, 2011, S. 159 (und öfter). Ebd., S. 145; vgl. Silberner, 1976, S. 299 f. Vgl. Biefang, 1994, S. 127.

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aus liberalem Honoratiorenkomitee und moderner Programmpartei.“15 Der Verzicht auf die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht verwies auf latente Konflikte. Das hinderte demokratisch gesinnte Politiker wie Jacoby, der im Juli 1861 seinen Beitritt öffentlich erklärte, aber nur in Ausnahmefällen daran, sich der neuen Partei anzuschließen.16 Schon seit 1858 hatte es in Berlin Bemühungen um eine Kandidatur Jacobys für das Preußische Abgeordnetenhaus gegeben. Im Oktober 1863 wurde er schließlich zusammen mit Heinrich Runge vom 2. Berliner Wahlkreis in das preußische Abgeordnetenhaus entsandt, nachdem er 1862 die Wahl noch abgelehnt hatte, und blieb bis 1870 dessen Vertreter.17 Besonders wichtig war für ihn der direkte Kontakt mit seinen Wählern, den er immer wieder in Versammlungen wie der oben genannten am 30. Januar 1868 suchte. Dies lenkt den Blick auf die Berliner Vereinsöffentlichkeit, die sich nach der Reaktionszeit aufs Neue konstituierte und politisierte. Als Hauptstadt Preußens, Residenz des Königs und Sitz des preußischen Landtags war Berlin in den 1860er Jahren neben Wien der wichtigste politische Schauplatz Deutschlands. Gleichzeitig erfuhr auch das lokale politische Leben eine Renaissance. Die städtische und die nationale Ebene waren in Berlin vielfach miteinander verschränkt, da viele der führenden preußischen Liberalen in Berlin lebten. Sie waren sowohl im preußischen Abgeordnetenhaus und in der Führung der Fortschrittspartei als auch in der kommunalen Selbstverwaltung und in der Berliner Vereinslandschaft engagiert.18 Die in Berlin neu entstehende lebendige Vereins- und Versammlungskultur funktionierte nach demokratischen Prinzipien – und etablierte damit ein Gegenmodell zum herrschenden preußischen Dreiklassenwahlrecht.19 Seit 1861/62 wurden regelmäßige Wahlmänner- und Urwählerversammlungen 15 Jansen, 2011, S. 145. 16 Andreas Biefang zählt Jacoby zu den „gemäßigten Demokraten“ innerhalb der nationalen Bewegung: „Sie waren Anhänger der Volkssouveränität und der Republik, hielten beides allerdings für vorläufig nicht realisierbar und waren deshalb aus taktischen Erwägungen zur Zusammenarbeit mit Liberalen auf der Grundlage der konstitutionellen Monarchie bereit“; Biefang, 1994, S. 48. 17 Vgl. Silberner, 1976, S. 288 f., 299–308, 319–322 u. 467–473. Heinrich Runge war wie Jacoby ein 1848er Demokrat. Er kehrte erst 1861 aus dem Exil in der Schweiz nach Berlin zurück, wo er, wie schon vor 1848, vor allem kommunalpolitisch bzw. im Magistrat tätig war; 1871–1886 war er Kämmerer. 18 Vgl. Reuter, 2004, S. 29–31. 19 Vgl. Toni Offermann, Preußischer Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung im regionalen Vergleich, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 109–135, hier S. 118–122; Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918,

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„zum Zwecke der Besprechung mit Abgeordneten“ in den einzelnen Wahlkreisen üblich. Lokale Organe der liberalen Opposition waren außerdem die sogenannten Bezirksvereine, die sich erstmals 1848/49 gebildet hatten.20 Ab 1858 entstanden sie erneut, einer zeitgenössischen Definition aus dem Jahr 1869 nach als „freie Bürgervereine innerhalb einzelner oder mehrerer kommunaler Stadtbezirke“.21 Ähnlich wie die von Thomas Welskopp untersuchten Vereine der frühen Sozialdemokratie waren sie in ihrer Orientierung „allgemein“ und multifunktional.22 Ihren anfänglichen Widerstand gegen die Gründung von Bezirksvereinen gab die Führung der Fortschrittspartei 1862 auf und ließ Musterstatuten veröffentlichen. Während des Verfassungskonflikts stellten die Bezirksvereine dann „eine Art organisierter Infrastruktur der DFP in Berlin“ dar.23 Vertreter der Fortschrittspartei unterhielten in Berlin schließlich auch enge Kontakte zu geselligen und Bildungsvereinen, wie dem 1859 reorganisierten Handwerker-Verein und dem im Dezember 1862 gegründeten Berliner Arbeiterverein. Dieser befand sich zunächst im Fahrwasser von Hermann Schulze-Delitzsch, wobei über die reine Bildungsarbeit hinaus „die Befreiung der Arbeit und des Verkehrs von allen Beschränkungen“ angestrebt wurde. Schon bald nach der Gründung bahnten sich Konflikte mit Fortschrittspolitikern an, vor allem über das Koalitionsrecht und die Funktion von Streiks.24 Die Existenz der Fortschrittspartei als einer Koalition liberaler und demokratischer Kräfte mit vielfach divergierenden Interessen und Forderungen

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Düsseldorf 1961, S. 55–67. (Der Abschnitt bezieht sich zwar vor allem auf die 1870er Jahre, gibt aber ein anschauliches Bild der politischen Versammlungskultur in Berlin.) Vgl. Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, S. 634–641. F. Horn, Das Asyl für Obdachlose in Berlin, in: Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen 7 (1869), S. 241–264, hier S. 244 f. Vgl. Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Vormärz und Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 230–254. Offermann, 1988, S. 120. Paul Singer soll Anfang der 1860er Jahre seine ersten politischen Erfahrungen in dem Milieu der Bezirksvereine gesammelt haben: 1862 habe er, so Eduard Bernstein, als Achtzehnjähriger den Vorsitzenden des Bezirksvereins AltCölln und späteren Unternehmer Ludwig Loewe zu Ferdinand Lassalle begleitet, um ihn für einen Vortrag über das Verfassungswesen zu gewinnen. Vgl. Eduard Bernstein, „Zum Gedächtnis Paul Singers“, in: Der wahre Jacob Nr. 641, 14.2.1911, S. 6961– 6964, hier S. 6961. Vgl. Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Erster Teil, Berlin 1907, S. 108–121 u. 181–184; Lothar Petry, Die Erste Internationale in der Berliner Arbeiterbewegung, Erlangen 1975, S. 123–144, 231–246.

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hing letztlich davon ab, dass die Nationalstaatsgründung „von unten“ Erfolge zeitigte. Doch dieses Projekt scheiterte mit den militärischen und politischen Erfolgen Bismarcks bzw. Preußens Mitte der 1860er Jahre. Als doppelter Wendepunkt ist der 3. Juli 1866 in die preußisch-deutsche Geschichte eingegangen: Während die preußische Armee in der Schlacht bei Königgrätz das deutsche Bundesheer schlug und damit die kleindeutsche Nationalstaatsgründung „von oben“ einläutete, erlitt die Fortschrittspartei in den preußischen Abgeordnetenwahlen ihre erste große Niederlage und verlor 65 Sitze – allerdings bezeichnenderweise keinen in Berlin. Als Konsequenz brach sie auseinander, zuerst durch Abspaltung des rechten Flügels, der sich 1867 als Nationalliberale Partei konstituierte. In der RestFortschrittspartei wurden Jacobys Positionen zur preußischen Politik, zum Verfassungskonflikt und zur „deutschen Frage“ gleichzeitig immer deutlicher zu einer Minderheitenmeinung. An seiner Popularität in Berlin änderte dies zunächst allerdings nichts, eher im Gegenteil.25 Am 23. August 1866 lehnte Jacoby in einer fulminanten Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus die Dankadresse des Parlaments an den König ab, weil der Krieg ohne und gegen den Willen des Volkes unternommen worden sei und dem preußischen Heer weder zur Ehre noch dem deutschen Heimatland zum Heil gereiche.26 Während ihn immer mehr ehemalige Weggefährten angesichts solcher Äußerungen als doktrinär ansahen, als unfähig, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und ihre Vorteile zu erkennen, stieß seine Haltung bei den Protagonisten der demokratischen Bewegung in Nord- und Süddeutschland wie bei den Vertretern der entstehenden Arbeiterbewegung durchweg auf Zustimmung.27

25 Arnold Ruge war nach dem Deutschen Krieg von 1866 enttäuscht, dass der Berliner 2. Wahlbezirk, in dem er Chancen auf eine Kandidatur erhofft hatte, an seinem Antipoden Jacoby festhielt. Dies zeige die „völlige politische Unmündigkeit der Leute“. Jacoby und die demokratische Fundamentalopposition fand er verbohrt, da sie die veränderten Machtverhältnisse ignorierten. Am 30. Januar 1867 schrieb er an Ludwig Bamberger: „Der Krieg wird völlig ignorirt, der [Verfassungs-]Conflict soll da fortgehen, wo er vor dem Krieg geblieben war. Und das nennen die Herren Politik! Das Unglaubliche ist geschehen, die äußerste Rechte hat gehandelt, wie die äußerste Linke es verlangt ...; und nun gründet Joh. Jacobi, tribunus plebis ... ein Blatt [‚Die Zukunft‘] gegen alles was verlangt und erfüllt worden ist!! Gegen die Dummheit giebt es keinen Sieg; denn sie sieht ihn nicht.“ Zit. nach Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 2000, S. 584 f. 26 Vgl. Silberner, 1976, S. 361–364. 27 Vgl. ebd., S. 364–366 u. 383.

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Nachdem sich die Demokraten in Süddeutschland (Demokratische Volkspartei, 1864) und Sachsen (Sächsische Volkspartei, 1866–1869) organisatorisch verselbständigt hatten28, erschien nun auch Jacobys Anhängern in Preußen und Norddeutschland die Reorganisation bzw. Verselbständigung des linken, demokratischen Flügels der Fortschrittspartei an der Zeit. Zumal für Berlin bestand die Hoffnung, einen größeren Teil der Vereins- und Versammlungsbasis mitziehen zu können. Zu diesem Zweck beschlossen Jacoby und mehrere Berliner Demokraten die Herausgabe eines demokratischen Blattes, das von Januar 1867 bis März 1871 unter dem Titel Die Zukunft. Demokratische Zeitung unter der Redaktion von Guido Weiß erschien.29 Spätestens ab diesem Zeitpunkt beherrschte das Projekt Demokratische Partei die Diskussionen der Linken. Johann Jacoby trat schließlich im November 1868 aus der Fortschritts-Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus aus und vollzog damit den endgültigen offenen Bruch mit der Partei. Diese hatte es ihrerseits bisher vermieden, sich von ihm zu distanzieren, um eben die Bildung einer demokratischen Partei möglichst zu erschweren.30

3. „... seit bald 20 Jahren“ Sozialdemokrat – Paul Singers politische Sozialisation Ende der 1860er Jahre Es kann angesichts der skizzierten Verhältnisse nicht überraschen, dass ein junger, politisch interessierter und von demokratischen Ideen angezogener Berliner Kaufmann wie Paul Singer Ende der 1860er Jahre die Versammlungen der Berliner Fortschrittspartei besuchte, um eine Plattform für politische Betätigung zu finden.31 Als Alternative hätte sich theoretisch noch die Berliner Gemeinde des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins angeboten. Diese war 28 Vgl. Jansen, 2011, S. 179–181. 29 Vgl. Silberner, 1976, S. 369 f.; Gustav Seeber, Demokratischer Verein 1871–1873, in: Fricke (Hg.), 1983, S. 490–493; Ursula E. Koch, Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Eine Untersuchung über die Rezeption der großen Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den politischen Tageszeitungen der deutschen Reichshauptstadt, Berlin 1978, S. 120–126. 30 Vgl. Silberner, 1976, S. 383–405. 31 Ein Nachrufer in der Berliner Volks-Zeitung schilderte 1911 retrospektiv, sicherlich nicht in allen Details korrekt, Singers Auftreten in der Berliner Fortschritts-Szene: „Der verstorbene Reichstagsabgeordnete und Stadtverordnete Paul Singer hatte sich Mitte der 1860er Jahre, kaum neunzehn Jahre alt, der Fortschrittspartei angeschlossen. Er war ein begeisterter Anhänger von Johann Jacoby. Als er das wahlfähige Alter erreicht hatte, wurde er zum Wahlmann gewählt. Er gehörte im zweiten Berliner Landtagswahlbezirk zu der sogenannten ‚demokratischen Garde‘, die lebhaft für die Wahl Johann Jacobys

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schon im Juni 1863 entstanden, aber schnell in eine schwere Krise geraten. Erst durch die Agitation Johann Baptist von Schweitzers gewann der ADAV ab Mitte der 1860er Jahre erneut größeren Einfluss in Berlin und entwickelte sich für eine gewisse Zeit zur dominierenden politischen Kraft in der dortigen Arbeiterbewegung. Doch übte der ADAV, der sich durch eine massive Frontstellung gegen die Fortschrittspartei, aber auch innere Spannungen auszeichnete, auf Singer offensichtlich keine Faszination aus.32 Einen ersten dokumentierten Auftritt hatte Singer am 15. Oktober 1867 in einer Wahlversammlung des 2. Berliner Wahlbezirks, in der anlässlich der bevorstehenden Neuwahl des preußischen Abgeordnetenhauses die Abgeordneten Runge und Jacoby erneut als Kandidaten nominiert werden sollten. Zum ersten Mal seit 1863 war Jacobys Kandidatur nicht unumstritten, doch Singer, der als 23jähriger noch gar nicht wahlberechtigt war33, empfahl mit Nachdruck seine Kandidatur.34 1868 beteiligte er sich dann an den Bemühungen um eine Transformation der Fortschrittspartei – ganz im Sinne von Jacobys Rede über „Das Ziel der deutschen Volkspartei“. In einer Versammlung des Wahlvereins der Fortschrittspartei des 3. Berliner Reichstagswahlkreises führte er im Mai 1868 aus, „daß das Programm der Fortschrittspartei vom 9. Juni 1861 in den gegenwärtigen Verhältnissen nicht genüge, es fehle ihm die Grundanschauung der Demokratie; eine Änderung und Revision desselben sei nötig ...“. In ironischer Umkehrung der üblichen Sichtweise erklärte er, die einzig praktische Tat der Fortschrittspartei sei die Ablehnung des Budgets durch Jacoby gewesen.35 Zur gleichen Zeit engagierte er sich in einer vermutlich ad hoc gegründeten „Berliner Demokratischen Gesellschaft“, die für den 14. Mai 1868 eine „Volksversammlung zur Einigung der Volkspartei in Nord- und Süddeutschland“ einberief.36 Den Anlass dafür bot die Tagung des Zollparlaments in Berlin, dem verschiedene Vertreter der süddeutschen Demokratie sowie als

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und des Dr. Langerhans eintrat.“ H.F., „Erinnerungen an Paul Singer“, in: Volks-Zeitung Nr. 55, 2.2.1911. Vgl. Bernstein, 1907, S. 108–212. Wahlberechtigt waren in Preußen Männer ab dem 25. Lebensjahr (mit bestimmten Einschränkungen). Die Zukunft Nr. 243, 17.10.1867, vgl. Edmund Silberner (Hg.), Johann Jacobys Briefwechsel 1850–1877, Bonn 1978, S. 444; sowie, auch zum Folgenden: Reuter, 2004, S. 34–38. Die Zukunft Nr. 167, 10.5.1868. Singer empfahl die Umbenennung der Fortschrittspartei in Demokratische Partei und sprach die Hoffnung aus: „Durch die Klärung der Fortschrittspartei wird die Spaltung der Arbeiterpartei vermindert werden.“ Vgl. Die Zukunft Nr. 175 u. 176, 15. u. 16.5.1868.

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Vertreter der Sächsischen Volkspartei August Bebel und Wilhelm Liebknecht angehörten.37 Weder an diesem Abend noch in der Folgezeit kam es (trotz diverser weiterer Anläufe) zur Vorlage eines gesamtdeutschen demokratischen Programms oder zu einer weitergehenden organisatorischen Annäherung der nord- und süddeutschen Demokratie – zu unterschiedlich waren die politischen Bedingungen und Konzepte.38 Richtungsweisend erwies sich die Versammlung aber für Singers politisches wie persönliches Leben. 1911 erinnerte sich August Bebel: „Ich machte damals die Bekanntschaft Paul Singers, die bald intime Freundschaft für das Leben wurde. Singer war damals noch Demokrat, aber mit starkem sozialen Empfinden, wie sich bald nachher zeigte.“39 Mit dieser Äußerung bezog sich Bebel auf Paul Singers Mitwirkung bei der Gründung des Demokratischen Arbeitervereins, die im Oktober 1868 erfolgte. Es handelte sich hierbei um eine Abspaltung des oben erwähnten Berliner Arbeitervereins, die in direktem Zusammenhang mit den demokratischen und sozialdemokratischen Parteibildungsprozessen nach dem Nürnberger Vereinstag Deutscher Arbeitervereine stand.40 August Reimann, Berliner Mitglied der Internationalen Arbeiter-Association, berichtete am 21. Oktober 1868 an Johann Philipp Becker in Genf, in Berlin sei „ein demokratischer Arbeiterverein von Sozialisten und fortgeschrittenen Demokraten ins Leben gerufen (worden), der entschieden vorzugehen verspricht“.41 Von den ungefähr 50 Gründungsmitgliedern waren etwa die Hälfte „Arbeiter“ und je ein Viertel Kaufleute und akademisch Gebildete.42 Dies war nicht untypisch für die Zusammensetzung zeitgenössischer sozialdemokratischer Vereine, die eben nicht nur „Arbeiter“ ansprachen – worunter in erster Linie Handwerker zu verstehen waren –, sondern auch zumeist junge radikale Bürgersöhne. Was Thomas Welskopp, der dieses Milieu umfassend untersucht hat, schreibt, 37 Das Zollparlament setzte sich aus den 297 Abgeordneten des Norddeutschen Reichstags und 85 süddeutschen Vertretern zusammen, die ebenfalls nach dem gleichen und allgemeinen Wahlrecht gewählt worden waren. 38 Vgl. Silberner, 1976, S. 390–398. 39 August Bebel, „Erinnerungen an Paul Singer“, in: Vorwärts Nr. 32, 7.2.1911. 40 Vgl. Reuter, 2004, S. 38–44. Im Gründungsaufruf des Demokratischen Arbeitervereins wurde angekündigt, dass der Verein „in sozialer Beziehung auf dem Standpunkt der Nürnberger Majorität stehen und in politischer Beziehung sich der deutschen Volkspartei anschließen soll“. 41 Petry, 1975, S. 254. 42 Vgl. ebd., S. 241–243; Heinrich Gemkow, Paul Singer. Vom bürgerlichen Demokraten zum Führer der deutschen Arbeiterbewegung (1862–1890), unpubl. Diss. Berlin/DDR 1959, S. 60–72.

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passt sehr gut auf Singer: „Wie die Handwerker, so zog die demokratische Vereinsgeselligkeit in Großstädten wie Berlin, Hamburg und Leipzig auch vor allem junge Vertreter kaufmännischer Berufe an ...“ – „Soziale Ressourcen wie formale Bildung, Kommunikations- und Ausdrucksfähigkeit, Verhaltenssicherheit, organisatorische Begabung, Rednertalent oder auch ... technische Fähigkeiten, die im Vereinsleben nutzbar waren, begründeten dann nicht selten ein Ansehen in der Mitgliedschaft der Organisationen, das häufig schnelle Wege in Führungspositionen ebnete.“43 Für Paul Singer führte der Weg in einer kurzen Zeitspanne von der Fortschrittspartei zum Demokratischen Arbeiterverein und dann zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die im August 1869 in Eisenach als zweite eigenständige Arbeiterpartei in Deutschland gegründet wurde. (Auch das Eisenacher Programm war im Übrigen Ergebnis eines Kompromisses, der sowohl Demokraten aus dem bürgerlichen Lager als auch Arbeiter ansprechen sollte.44) Der Demokratische Arbeiterverein schloss sich im Oktober 1869 durch Reform seiner Satzung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an – nachweisbar unter Beteiligung und Zustimmung von Singer.45 1888 konnte er dementsprechend vor Gericht erklären, er sei „seit bald 20 Jahren“ Sozialdemokrat, „wenngleich ich auch erst später in die Öffentlichkeit mit meinen Anschauungen getreten bin“.46 Es ist somit zu konstatieren, dass Singer die erste attraktive politische Alternative wählte, die sich ihm zur Fortschrittspartei bot. Mit dem Eintritt in den Demokratischen Arbeiterverein erschloss sich ihm überdies ein neues Milieu, da der Verein personell kaum Überschneidungen mit der demokratischen „Ingroup“ am linken Rand der Fortschrittspartei aufwies, zu der Singer bisher gehört hatte und mit der er zumindest bis Mitte der 1870er Jahren ebenfalls in Kontakt blieb.47

4. Kontinuitätslinien Paul Singers kurze und unspektakuläre Karriere in der Berliner Fortschrittspartei ist nicht nur aus biographischen Gründen von Interesse, sondern auch dadurch, dass sie den Blick auf das demokratische Erbe in der Sozialdemokratie lenkt. 43 Welskopp, 2000, S. 158 f. u. 160. 44 Vgl. Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, München 1985, S. 63. 45 Vgl. Reuter, 2004, S. 42 f. 46 Berliner Volksblatt Nr. 213, 11.9.1888. 47 Vgl. Reuter, 2004, S. 49–53.

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Während Singer seit 1869 wieder für längere Zeit aus der politischen Öffentlichkeit verschwand und nur einem kleinen Kreis als Sozialdemokrat bekannt war48 – als Ursachen gelten die Gründung der Damenmäntelfabrik Gebrüder Singer und eine schwere Erkrankung –, ging Johann Jacoby 1872 in die Offensive: Aus Protest gegen das Urteil im Leipziger Hochverratsprozess gegen die Sozialdemokraten Bebel, Liebknecht und Hepner erklärte er öffentlich seinen Eintritt in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei.49 Dies wollte er aber nicht als Austritt aus der Demokratischen bzw. Volkspartei verstanden wissen. Gegenüber Guido Weiß insistierte er, er gehöre ebensogut der Volkspartei wie der Sozialdemokratie an, die die gleichen Ziele anstrebten, da das Eisenacher Programm eben nicht den Kampf der Klassen gegeneinander, sondern die Abschaffung aller Klassenherrschaft fordere.50 Das war eine Haltung, die Jacoby noch immer einnehmen konnte, da sie seiner Vorstellung von Parteien als Gesinnungsgemeinschaften entsprach. Sie entsprach aber nicht mehr dem modernen Modell der straff organisierten Mitgliederpartei, das dabei war, seinen Siegeszug anzutreten. Auch wenn die Grauzone zwischen sozialen und bürgerlichen Demokraten Anfang der 1870er Jahre noch breit war – und sie in vielen Fällen noch mehr miteinander zu tun haben mochten als Demokraten und Liberale –, war aus politischen, sozialen und ökonomischen Gründen der Ausdifferenzierungsprozess zwischen Demokraten und Sozialdemokraten nicht mehr aufzuhalten. Nichtsdestotrotz stellten die Berliner „Eisenacher“ in der Hoffnung, neben den eigenen auch die Stimmen seiner bürgerlichen Anhänger zu gewinnen, für die Reichstagswahl im Januar 1874 Johann Jacoby in allen sechs Berliner Wahlkreisen auf. Der junge Eduard Bernstein, der ein Jahr zuvor der Sozialdemokratie beigetreten war und nun bei bekannten Berliner Demokraten für den Wahlfonds der Partei sammeln ging, lernte damals den Kaufmann Paul Singer kennen – inzwischen nicht mehr jugendlich-radikales Vereinsmitglied, sondern respektabler und wohlsituierter Kaufmann. 51 Zu Bernsteins Verblüffung erklärte er: „,Und vergessen Sie nicht: ich wähle 48 Ebd. 49 Vgl. Silberner, 1976, S. 492–497. 50 Ebd., S. 598–600 (Brief vom 2.7.1873). Vgl. auch den Brief an Robert Flatow vom 17.4.1872, ebd., S. 577: „Bei der Stellung, die ich zur sozialen Frage einnehme ... hielt ich es für eine Pflicht, über die Verurteilung Liebknechts und Bebels, wie über die Verfolgung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei überhaupt, meine Mißbilligung auszusprechen. Ich glaubte dies in keiner wirksameren Weise tun zu können als durch die Erklärung, daß ich der verfolgten Partei, deren Ansichten ich im wesentlichen teile, nunmehr auch öffentlich beitrete.“ 51 Vgl. Welskopp, 2000, S. 167 f.

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Jacoby nicht, obgleich er Sozialdemokrat ist, sondern ich wähle ihn, weil er Sozialdemokrat ist.‘“52 Als Johann Jacoby drei Jahre später starb, ließ sich bei den Trauerfeierlichkeiten erkennen, wie stark inzwischen die Deutungskonkurrenz um Jacoby als „Symbol unbeugsamen Widerstandes gegen den preußischen Obrigkeitsstaat“ im Lager der linken Opposition, von der linken Fortschrittspartei bis zur Sozialdemokratie, ausgeprägt war – ein gemeinsames Gedenken fand nur noch in Ansätzen statt.53 Immerhin fanden sich im Andenken an Jacoby noch einmal prominente Sozialdemokraten und Demokraten – jedoch keine Liberalen – zu einer gemeinsamen Aktion zusammen. Sie gründeten den JohannJacoby-Pressefonds, der dazu dienen sollte, verfolgte Schriftsteller und ihre Angehörigen zu unterstützen, der „freisinnigen“ Presse beizustehen und die Entwicklung von Volksblättern zu fördern.54 Im folgenden Jahr begann mit dem Erlass des Sozialistengesetzes im Oktober 1878 Paul Singers steile Karriere in der Sozialdemokratie.55 Rückblickend lassen sich mehrere Kontinuitätslinien ausmachen, die seine politischen Anfänge Ende der 1860er Jahre im Berliner Fortschritts-Milieu mit seiner späteren sozialdemokratischen Karriere verbinden: Zum einen waren dies Freundschaften mit bürgerlichen Demokraten („Jacobyten“), die bis in die 1870er Jahre, teilweise auch darüber hinaus Bestand hatten.56 Zum anderen war es sein Engagement im Berliner Asylverein für Obdachlose, der 1869 52 Bernstein, 1911, S. 6961. 53 Vgl. Christian Jansen u.a., „Wer Ew’gem lebt, der wird auch ewig leben.“ Zeremonien des Gedenkens an die Achtundvierziger, in: Andreas Biefang u.a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2008, S. 367–391, zu Jacoby S. 378 f., Zitat S. 378; Silberner, 1976, S. 536–546. 54 Vgl. Reuter, 2004, S. 74; Silberner, 1978, S. 670–673 (Gründungsaufruf). 55 1883 wurde Singer in die Berliner Stadtverordneten-Versammlung, 1884 in den Reichstag gewählt. Im Sommer 1886 wurde er auf Druck der preußischen Regierung aus Berlin ausgewiesen. Seit 1886 war er Mitglied des sozialdemokratischen Fraktionsvorstands, seit 1887 Präsident fast aller Parteitage; nach dem Ende des Sozialistengesetzes wurde er Ko-Vorsitzender der wieder legalen Partei (mit Alwin Gerisch, seit 1892 mit August Bebel) sowie Vorsitzender ihrer Reichstagsfraktion (ab 1890). Im Reichstag entwickelte sich Paul Singer zu einem einflussreichen Parlamentarier. Nach seinem Tod am 31. Januar 1911 war der Trauerzug, der ihn zum städtischen Friedhof in BerlinFriedrichsfelde begleitete, die „größte sozialdemokratische Demonstration in Berlin, wenn nicht in Deutschland, vor dem Ersten Weltkrieg“ (Thomas Lindenberger). Durch die Teilnahme prominenter bürgerlicher Trauergäste hob sich Singers Beerdigung gleichzeitig auffällig von der anderer prominenter Parteigenossen seiner Generation ab. Vgl. Reuter, 2004, S. 581–586. 56 Vgl. Reuter, 2004, S. 215–220.

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im Umfeld des Friedrich-Werderschen Bezirksvereins gegründet wurde und als dessen Kurator des Männerasyls er seit 1875 amtierte. Bis zu seinem Tod blieb er hier in freundschaftlichem Kontakt mit dem bürgerlichen linksliberalen Milieu seiner Jugend.57 Schließlich sei auf Singers jahrzehntelanges Engagement in der Kommunalpolitik bzw. der kommunalen Selbstverwaltung verwiesen, in der seit 1862 Linksliberale (der „Kommunalfreisinn“) dominierten – ein Umstand, an dem sich aufgrund des kommunalen Dreiklassenwahlrechts bis zum Ende des Kaiserreichs nichts ändern sollte. Dieses Politikfeld verband ihn auf paradoxe Weise mit seiner politischen Frühzeit: Zum einen traf er in der Stadtverordneten-Versammlung viele Protagonisten des Berliner Fortschritts wieder, mit denen er sich häufig heftige Kontroversen lieferte. Zum anderen gab es aber auch ein einigendes Band, trotz aller Konflikte und sozialen Distanz: die Orientierung auf das Gemeinwohl, das Linksliberale – zumindest die mit sozialliberaler Prägung – und Sozialdemokraten verband, auch wenn man darunter im Einzelnen durchaus Unterschiedliches verstehen konnte.58

5. Die „andere“ Fortschrittspartei – ein Erbteil der Sozialdemokratie? Paul Singer selbst hat sich zu seinen demokratischen Anfängen nie explizit, höchstens hier und da verklausuliert geäußert, wie er überhaupt kaum persönliche Erinnerungen und Reflexionen preisgab. Dagegen stimmten die Vertreter unterschiedlicher Parteiflügel darin überein, dass sie ihn entscheidend geprägt hatten. 1909 etwa erinnerte Franz Mehring in einem historischen Rückblick anlässlich Singers 25jährigen Reichstagsjubiläums an die Berliner demokratische Bewegung, die sich „vor dem drohenden Hereinbrechen des proletarischen Klassenkampfes“ nicht habe retten können. Unter denen, die damals zur Sozialdemokratie gekommen seien, habe, so Mehring, „Paul Singer das glücklichste Los gezogen. Da er fortzuschreiten verstand mit der historischen Entwicklung, so hat er aus den Kämpfen der bürgerlichen Demokratie, die seine jungen Jahre erfüllten, nicht eine gelähmte, sondern eine gestählte Kraft in das Wirken seines Mannesalters herübergebracht, und noch verbinden ihn manche Fäden mit seiner Frühzeit ... Der demokratische Gedanke, der ihn damals für immer ergriffen hat, ist nicht der schwächste Hauch gewesen, der Singers Wirken für die Arbeiterklasse beseelt hat und beseelt, und er darf sich 57 Vgl. Reuter, 2004, S. 58–69 u. 316–333. 58 Vgl. ebd., S. 493–561.

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wohl des kräftigen und zähen Geschlechts rühmen, unter dem er aufgewachsen ist.“59 In seinem Nachruf auf Singer ergänzte Mehring dieses Bild um eine weitere Facette: „Wie alle, die von der bürgerlichen Linken zur Partei gekommen sind, stand Singer auf der Seite, die man die ‚radikale‘ zu nennen pflegt; wer der ewigen Nachgiebigkeiten und Zugeständnisse überdrüssig geworden ist, wird immer gerechte Scheu empfinden, dies verfängliche Gebiet von neuem zu betreten.“60 Damit reflektierte Mehring sicherlich auch seine eigene Biographie, die ihn von der Demokratie über einige Umwege hin zum linken marxistischen Flügel der Sozialdemokratie geführt hatte. Aber auch der Nachruf in der Münchener Post, dem wichtigsten Organ der süddeutschen Reformisten, beschäftigte sich mit Singers Weg zur Sozialdemokratie in den 1860er und 1870er Jahren, um daraus seinen „radikalen“ Standpunkt psychologisch zu begründen: „Der prinzipielle Schritt von der bürgerlichen Demokratie zur Sozialdemokratie war eben das bedeutendeste und eigenartigste Erlebnis der Singerschen Persönlichkeit. Es war sein Ureigenstes, und als solches war es ihm stets gegenwärtig. Aber mit dem Propagandisten des Endziels vereinigte Singer in sich harmonisch den praktischen Politiker.“61 Für die Sozialdemokraten des Kaiserreichs war die historische Teleologie klar: Die Demokratie als politische Bewegung war – für Singers Biographie im Speziellen wie für die Parteientwicklung im Allgemeinen – eine Durchgangsstufe auf dem Weg zur „klassenbewussten“ Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratische Partei hatte das Erbe der bürgerlichen Demokratie, der „anderen“ Fortschrittspartei, angetreten. Plastisch formulierte dies ein anonymer Autor (vielleicht Kurt Eisner) in einem Artikel, der zum 100. Todestag von Johann Jacoby 1905 im Vorwärts erschien: „Die Sozialdemokratie, das Proletariat, verwaltet heute die Güter, die das Bürgertum im Stich ließ oder verwüstete und besudelte.“62 Dass dies so gesehen wurde, lag nicht zuletzt an den festzementierten sozialen und politischen Grenzzäunen, die so typisch waren für das deutsche Kaiserreich. Es sollte noch eine Weile dauern, bis die Mehrheit der Sozialdemokraten das demokratische Erbe differenzierter beurteilen und nicht nur bei sich selbst verorten würde.

59 „Ein alter Demokrat“, in: Die Neue Zeit, 29.10.1909, S. 129–132, hier S. 131 u. 132. 60 „Paul Singer“, in: Die Neue Zeit, 10.2.1911, S. 649–652, hier S. 651. 61 Münchener Post Nr. 27, 2.2.1911. Als Verfasser des Artikels kommt der ehemalige Vorwärts-Redakteur Kurt Eisner in Frage, der in Berlin aufwuchs, Singer persönlich kannte und seit 1910 Artikel und Kommentare für die Münchener Post schrieb. 62 „Zum Gedächtnis Johann Jacobys“, in: Vorwärts Nr. 101, 30.4.1905.

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Wider die ‚Zügellosigkeit des sozialen Faustrechts‘ Gewerkschaftlicher Sozialliberalismus und Deutsche Fortschrittspartei

Im Sommer des Jahres 1868 berichtete der promovierte Nationalökonom und sozialpolitische Publizist Max Hirsch1 in der Berliner „Volks-Zeitung“ über Eindrücke und Erkenntnisse einer mehrwöchigen Reise nach England, in das Mutterland der modernen Gewerkschaftsbewegung. Das Interesse des auf eigene Initiative Reisenden hatte ursprünglich in erster Linie dem Stand des dortigen Genossenschaftswesens gegolten. Während des Aufenthalts in den industriellen Zentren des Inselreichs zogen jedoch vor allem die „Trade Unions“, die „Gewerkvereine“ – wie Hirsch sie titulierte –, seine Aufmerksamkeit auf sich. In der Institution der Gewerkschaften machte Hirsch „das unbedingt Interessanteste und Großartigste“ aus, das er auf seiner Reise habe kennen lernen dürfen. Die Gewerkschaften entsprängen dem „vereinten Widerstand der arbeitenden Klassen gegen die Übermacht des Kapitals“. In der Tradition des britischen Konstitutionalismus stehend, seien die Trade Unions der „Covenant der modernen englischen Arbeiter“2. Mit Hirschs Artikelserie war nach Einschätzung vieler Zeitgenossen – und zwar gerade auch solcher, die dem weiteren Wirken Hirschs zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstanden – die „Geburtsurkunde“ der deutschen Gewerkschaftsbewegung3 schlechthin ausgestellt worden. 1 Eine moderne, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie Hirschs bleibt ein Desiderat der Forschung. Die vorliegenden Skizzen in biographischen Enzyklopädien, u.a. von Helga Grebing, werden dem vielfältigen Wirken Hirschs als Gewerkschaftsführer, Sozialpolitiker, pazifistischer Aktivist auf internationaler Ebene und als einer der Väter der Volkshochschulbewegung in Deutschland nicht gerecht. Vgl. daher weiterhin: Hans-Georg Fleck, Sozialliberalismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 1868–1914, Köln 1994, spez. S. 306 ff. und S. 892 f. 2 „Sociale Briefe aus England“, Folge 4, 4.8.1868, hier zit. nach Max Hirsch, Die Arbeiterfrage und die Deutschen Gewerkvereine. Festschrift zum 25jährigen Jubiläum der Deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), Leipzig 1893, S. 9. 3 So der sozialliberaler Neigungen durchaus unverdächtige, neoklassisch-traditionalistische Nationalökonom Adolf Weber in seiner vielfach wieder aufgelegten Schrift: Kampf zwischen Kapital und Arbeit, Tübingen 1910, S. 209.

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1. Gründungskonzepte einer sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung Vielleicht wären die Berichte Hirschs bei der vor allem dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft Berlins entstammenden Leserschaft der „VolksZeitung“ trotz der Emphase des Autors folgenlos verklungen, wäre da nicht die lassalleanische Sozialdemokratie auf den Plan getreten, deren Aktivitäten im Frühherbst 1868 in Preußens Hauptstadt ein wahres gewerkschaftliches Gründungsfieber auslösten. Es gehört zu den ironischen Wendungen der Geschichte, dass die Aufbruchsstimmung just von jenem Teil der sich formierenden deutschen Arbeiterbewegung ausgelöst wurde, der dem gewerkschaftlichen Organisationsgedanken bislang äußerst reserviert gegenüber gestanden hatte. Der „Allgemeine Arbeiterkongress“ vom 26. September 1868, das bis dahin größte Zusammentreffen der jungen deutschen Arbeiterbewegung, führte dann rasch zum Eklat: Ein Streit über Verfahrensfragen veranlasste die Tagungsleitung, die eine Minderheitsposition repräsentierende Delegation der liberal orientierten Berliner Maschinenbauer des Saales zu verweisen – nicht ohne ihr den Schmähruf nach zu senden, sie stehe „im Solde des Kapitals“. Durch diese Ereignisse beschleunigt, wurde der 28. September 1868 nicht nur zum Gründungstag des lassalleanischen „Allgemeinen Deutschen Arbeiterschafts-Verbandes“. An diesem Tage schlug auch die Gründungsstunde einer sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung, als sich ca. 2500 Teilnehmer im Bierlokal „Universum“ in der Äußeren Spandauer Vorstadt unter der Leitung des angesehenen liberalen Verlegers und Politikers Franz Duncker zu einer „Allgemeinen Arbeiterversammlung“ zusammenfanden. Im Auftrage des Vereins der Berliner Maschinenbauer erläuterte Hirsch den Anwesenden die „Grundzüge für die Konstituierung der Deutschen Gewerkvereine“4. Die Versammlung billigte den Entwurf und beauftragte eine – später gemeinhin als „Musterstatuten-Kommission“ bezeichnete – Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung einer Mustersatzung für Gewerkvereine. Das Beratungsergebnis wurde Ende Oktober 1868 der Öffentlichkeit vorgestellt, verbunden mit einem Gründungsaufruf „an die Arbeiter aller Berufszweige“5. Der Gründungsaufruf, der die Motivation der Gewerkschaftsgründer verdeutlicht, soll ausführlich vorgestellt werden. Die „deutschen Arbeiter“ 4 Die „Grundzüge“ wurden erstmalig abgedruckt in: Volks-Zeitung, 228/29.–30.9.1868. Eine ausführliche Kommentierung findet sich bei: Ulrich Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“. Die Anfänge der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862/63–1869/70, Stuttgart 1977, S. 622 ff. 5 Abgedruckt bei H.-G. Fleck (wie Anm. 1), S. 900 ff.

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würden zur „Begründung eines großen nationalen Werkes“ aufgerufen, so hieß es einleitend. Durch „das ganze civilisirte Europa“ gehe „der Ruf nach Organisation der Arbeit“6. Je mehr „auf den Trümmern der abgelebten Zünfte und Monopole das große Prinzip der Freiheit der Arbeit“ realisiert werde, desto deutlicher zeige sich, „daß die Freiheit allein das wirthschaftliche Heil nicht zu bringen vermag. Die nackte Freiheit …, welche der konzentrirten Macht des Kapitals die Arbeitskraft nur in vereinzelten Individuen gegenüberstellt, sie führt vielmehr nothwendig zu einem ungleichen Kampfe und zur Abhängigkeit und Erniedrigung der Schwächeren, der Arbeiter. Diese Freiheit wäre nur die Zügellosigkeit des sozialen Faustrechts.“ Hieraus folgere weder die Rückkehr zu überholten Strukturen der Vergangenheit noch der Weg in eine Produktion „unter der Garantie und Aufsicht des Staates“. Vielmehr bleibe die Freiheit auch im Bereich der Wirtschaft „das höchste, unveräußerliche Gut“. Aus ihr müsse aber eine „schöpferische Ordnung erwachsen“, die „die Gegensätze vermittelt, die Schwachen durch Vereinigung stärkt, die Interessen des Kapitals und der Arbeit, der Produktion und der Konsumtion harmonisch“ verbinde. Bildungsvereine und wirtschaftliche Genossenschaften seien „dem ganzen Arbeiterstand … das unentbehrliche Fundament zu allen übrigen Fortschritten“. Nun aber bedürfe es der Komplettierung der Arbeiterorganisation durch eine Organisierung „nach Berufszweigen“. Die leitenden Grundsätze der neuen Organisation würden sicher die Zustimmung „aller selbstbewussten Arbeiter, aber auch aller humanen Arbeitgeber“ finden, denn schließlich stimmten die „Forderungen der modernen Arbeit“ mit den „wahren Interessen des Kapitals“ überein. „Deshalb ist jede prinzipielle Feindseligkeit gegen das Kapital gänzlich ausgeschlossen. Gleichberechtigung, Vereinbarung, Schiedsgericht sind unser Wahlspruch, und erst im Nothfall, aber dann mit Wucht und Entschiedenheit, schreiten wir zum letzten Mittel, zur Arbeitseinstellung.“ Diese Initiative sei kein Parteimanöver, sondern „ein Werk der allgemeinen Wohlfahrt“.

Der Gründungsaufruf liefert jene Stichworte, die zur Skizzierung von Grundzügen des gewerkschaftlichen Sozialliberalismus dienen. Die junge Gewerkschaftsbewegung stellte sich zunächst in die Tradition der Arbeiterbildungsvereine, deren volksbildnerische Aktivitäten in bildungsgeschichtlich interessierten Darstellungen der zurückliegenden Jahrzehnte häufig eine sehr kritische Würdigung gefunden haben. Die Intentionen bürgerlich-liberaler Bildungsarbeit wurden dabei vielfach mit dem ökonomischen Verwertungsinteresse schlechthin identifiziert. Ohne Zweifel wies das in den Handwerkerund Arbeiterbildungsvereinen praktizierte Bildungsverständnis individuali6 Diese und weitere Hervorhebungen im Text folgen dem Original.

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sierende, sozialintegrative, ja sozialquietistische Züge auf. Kompensatorische Bildungsinhalte überwogen die auf Entwicklung eines politischen Bewusstseins ausgerichteten Bildungselemente. Wenn jedoch Hermann SchulzeDelitzsch, Spiritus Rector der liberalen Bildungs- und Genossenschaftsbewegung, Bildung als „Arbeitsmittel“ und als „unentbehrliches Werkzeug des Arbeiters“ charakterisiert, durch das erst „der Druck von seiner sozialen Stellung“ genommen werde7, so ist ein darin implizit gegebenes emanzipatorisches Verständnis von Bildung nicht von der Hand zu weisen. Die in den Bildungsvereinen vermittelte Stärkung des individuellen, partiell auch des kollektiven Selbstbewusstseins der Mitglieder wirkte hin auf Solidarität und somit tendenziell auch auf Emanzipation. Die sozialliberalen Gewerkschaften respektierten die „älteren Brüder“8 in Gestalt der Bildungsvereine, jedoch registrierte man deren Niedergang recht kühl. Dieser sei Folge der Absonderung von der „großen Tagesbewegung“ und des Sich-Versteckens „unter dem Schilde der sogenannten allgemeinen Bildung“9. Der in den Bildungsvereinen praktizierte Versuch, Bildung und Reflexion über die eigene Lage an einem bestimmten Punkt abzubrechen, habe scheitern müssen. Die Bildungsvereine hätten über sich selbst hinaus geführt „zur Inangriffnahme praktischer Arbeiterreform“.10 Doch worin bestand die Bildungsalternative der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung? Mit dem Bildungsideal der intellektuellen und sittlichen Formung des Individuums, seiner ästhetischen und ethischen „Veredlung“ reihte man sich zunächst bruchlos ein in bürgerlich-liberale Bildungstraditionen seit der Aufklärung11. Die Gewerkvereine verstanden sich aber als „Volksbildungs- und Volkserziehungsinstitute“12, als „Kulturbewegung“13, die den Menschen durch ihre Aktivitäten gewerkschaftlicher Solidarität zu einer höheren Kulturstufe führe; denn in der Konfrontation zwischen Arbeiter und Arbeitgeber – so 7 Zit. nach Hermann Schulze-Delitzsch, Arbeit und Bildung, in: Ders., Schriften und Reden, Hg. F. Thorwart, Bd. 2, Berlin 1910, S. 9. Zur Praxis des Arbeiterbildungsvereinswesens zuletzt: Elke Brünle, Bibliotheken von Arbeiterbildungsvereinen im Königreich Württemberg 1848–1918, Wiesbaden 2010. 8 So der „Gewerkverein“ (Gv), das Zentralorgan des neu gegründeten „Verbandes der Deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker)“: Gv 2/30.5.1869, S. 5 „Günstige Erfolge“. 9 So Max Hirsch auf dem Verbandstag (VT): VT 1871, S. 27. 10 Max Hirsch, Die Arbeiterbewegung und Organisation in Deutschland, Berlin 1892, S. 9. 11 Anton Erkelenz (Hg.), Arbeiter-Jahrbuch, Berlin 1908, S. 5 ff. 12 Gv 27/2.7.1880, S. 105 „Die Gewerkvereine und die Neuzeit“. 13 Anton Erkelenz, Arbeiter-Katechismus, Berlin 1908, S. 69.

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hieß es – kämpfe ersterer „um ein Stück Kultur“, letzterer „um ein Stück Kapital“14. Als stehender Topos in gewerkvereinlichen Publikationen galt: Die Arbeiterfrage sei keine „Magenfrage“, sondern eine „Rechts-, Kulturund Ehrenfrage“. Den traditionellen liberalen Wahlspruch, von der Bildung, die „frei“ mache im Sinne eines „individualistischen Aufstiegscredo(s)“15, wollte man nicht weiter gelten lassen. Was helfe dem Arbeiter vermehrte Bildung – so Max Hirsch –, „wenn Lohn und Arbeitszeit und Behandlung … nicht verbessert, nicht der Willkür und dem Druck der Arbeitgeber entzogen, in das Reich wirklicher Gleichberechtigung ... erhoben“ würden.16 Zum bildungspolitischen Forderungskatalog der Gewerkvereine in späterer Zeit gehörten u.a. die überkonfessionelle und unentgeltliche Einheitsschule (Grundschule) für alle Kinder ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft, die Verlängerung der Schulpflicht und die obligatorische Berufsschule für Schüler beiderlei Geschlechts.17 Trotz der Selbststilisierung der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung als Kulturbewegung blieb auch ihr sozialreformerischer Impetus nicht frei von jener für den liberalen Bildungsbegriff charakteristischen Ambivalenz zwischen sozialer Emanzipation und Integration in die bestehende gesellschaftliche Ordnung.

2. Chancen und Grenzen des Selbsthilfegedankens Die von bürgerlichen Sozialreformern seit den 1830er Jahren propagierten Organisationsformen der Selbsthilfe hatten sich zunächst in einer für ihren Erfolg relativ günstigen ökonomischen und sozialkulturellen Entwicklungsphase etabliert, als die ständisch konzipierten Assoziationsformen ihre bindende und sozial stabilisierende Kraft schon weitgehend eingebüßt hatten. Die frühbürgerliche Emanzipationsidee der Selbsthilfe hatte aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihrerseits rasch an Mobilisierungskraft verloren. Die Verengung des Selbsthilfe-Prinzips auf die wirtschaftlich-soziale Sphäre korrespondierte einer Pervertierung der Selbsthilfe zur bloßen Kampfan-

14 Hier und im folgenden zit. nach: Fritz Varnholt, Arbeiter und Organisation, München 1911, S. 1. 15 Dieter Langewiesche, Arbeiterbildung in Deutschland und Österreich, in: Werner Conze/Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozess, Stuttgart 1979, S. 439–464, hier S. 454. 16 Gv 45/6.11.1903, S. 369 f. Max Hirsch: „Zur praktischen Durchführung des obersten Gewerkvereinsprinzips“. 17 Vgl. hierzu die bei H.-G. Fleck (wie Anm. 1), S. 584, genannten Belegstellen.

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sage gegen jede sozialpolitische Korrektur des Wirtschaftsindividualismus.18 So kam es, dass sozialreformerische Positionen „im [retrospektiven, HGF] Eifer antibürgerlicher Ideologiejägerei“ als mit dem „kapitalistischen Klassenstandpunkt“ identisch stigmatisiert wurden, obwohl sie „nach ihrer dogmengeschichtlichen Provenienz wie nach ihrer sozialethischen Intention“ eigentlich Alternativen zum dogmatischen Wirtschaftsliberalismus der Zeit beinhalteten. Wie der Gründungsaufruf der Gewerkvereine anzeigt, gehörte die enge weltanschauliche Affinität zwischen Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung auf der Basis des gemeinsamen Bekenntnisses zum Selbsthilfeprinzip zum festen Fundus an Grundüberzeugungen der sozialliberalen Gewerkschaften. Genossenschaften und Gewerkschaften seien „aus der Geisteswelt des Liberalismus“ hervorgegangene „soziale Befreiungsformen“19. Die Gründergeneration der Gewerkvereine war noch vom Grundvertrauen in die gesellschaftsgestalterische und sozialpolitische Wirkungsmacht des Selbsthilfeprinzips beseelt gewesen. In der zeitgenössischen Diskussion um „Staatshilfe“ versus „Selbsthilfe“ zeigte sich die Verbandsführung der Gewerkvereine dann zwar zunehmend kompromissbereiter, zog sich aber dennoch den Vorwurf auch aus den eigenen Reihen zu, auf dem „Prinzip der abstrakten Selbsthilfe“ zu beharren.20 In der in den 1880er Jahren einsetzenden innerorganisatorischen Grundsatzdebatte obsiegte schließlich die – zumeist von einer jüngeren Generation getragene – Auffassung von der Vereinbarkeit von Selbsthilfe und sozialpolitischer Verantwortung des Staates. In den „Prinzipiellen Leitsätzen“ des Verbandes der Deutschen Gewerkvereine (VDG) von 1908 standen demzufolge „Selbsthilfe und Staatshilfe“ als Instrumente „organischer“ Gesellschaftsreform auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung gleichberechtigt nebeneinander.21 Das Bekenntnis zum liberalen Selbsthilfeprinzip kam in der gewerkschaftlichen Praxis der Gewerkvereine in zweierlei Hinsicht zum Tragen: im Engagement für das Genossenschaftswesen und in der Schaffung eines auf solidarischer Selbsthilfe gründenden Unterstützungswesens. In den Musterstatuten 18 Vgl. hier und im folgenden Eckhart Pankoke, Sociale Bewegung – sociale Frage – sociale Politik. Grundfragen der deutschen ‚Socialwissenschaft’ im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970, S. 175. 19 A. Erkelenz, Was ist sozial?, München 1910, S. 8. 20 VT 1889, S. 54. 21 Neben dem „Programm der Deutschen Gewerkvereine“ von 1907 bilden die „Leitsätze“ von 1908 die wichtigsten Grundlagenbeschlüsse der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung zur Bestätigung des Kurswechsels im letzten Jahrzehnt vor dem Ende des Kaiserreichs. Beide sind abgedruckt bei H.-G. Fleck (wie Anm. 1), S. 920 ff.

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war „die Gründung und Unterstützung von wirtschaftlichen Genossenschaften, insbesondere Produktivgenossenschaften“ als einer der „hauptsächlichen Zwecke“ gewerkschaftlicher Organisation bezeichnet worden. Je offenkundiger sich jedoch gegen Ende der 1870er Jahre die Erwartungen in die Durchsetzungskraft des Produktivgenossenschafts-Konzepts als illusorisch erwiesen und zugleich die im „Allgemeinen Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ zusammengeschlossenen Genossenschaften den Charakter mittelständischer Interessenrepräsentation kultivierten, lockerten sich die Bande der beiden Assoziationsformen. Erst im Jahre 1906 jedoch zog man einen symbolischen Schlussstrich, indem das VDGVerbandsorgan die Bezeichnung „Organ für Produktivgenossenschaften“ aus der Kopfzeile strich.22 Der Selbsthilfegedanke hatte innerhalb des sozialliberalen Gewerkschaftskonzepts jedoch eine zweite, für die gewerkschaftliche Praxis sehr konkrete Bedeutung. Die Gewerkvereine wollten ihn durch Aufbau eines vielgestaltigen Unterstützungswesens mit Leben erfüllen und damit ihrer „fürsorglichen“ Funktion23 gerecht werden. Dieses soziale Sicherungssystem sollte in Konkurrenz treten zu den überkommenen Formen der Armenhilfe, zu zünftlerischer sozialer Absicherung nach dem Modell der Gesellenbruderschaften, vor allem aber zu obrigkeitlich kontrollierten Kassen mit Zwangsmitgliedschaft. Das selbstverwaltete gewerkschaftliche Unterstützungswesen zur Vorsorge für den Krankheits- oder Invaliditätsfall, zur Alterssicherung und zur Absicherung gegen Erwerbslosigkeit sollte den Gewerkschaftsmitgliedern sowohl ein solides wirtschaftliches Fundament für die Not- und Konfliktlagen des Lebens schaffen als auch deren Selbstbewusstsein als gleichberechtigte Glieder der Gesellschaft stärken. Die Unterstützungskassen waren „Orte der Emanzipation, der Solidarität und der Selbsthilfe zur Risikoabsicherung“24. Von der Mitte der 1870er bis in die 1890er Jahre konzentrierte sich die sozialliberale Gewerkschaftsbewegung weitgehend auf die verbandseigenen Institutionen der Selbsthilfe. Je mehr dabei die Balance zwischen „fürsorglicher“ und „wehrhafter“ Funktion in der gewerkschaftlichen Praxis verloren ging, desto schwieriger wurde es, die Gewerkvereins(GV)-Bewegung vor dem 22 Gv 40/3.10.1906, S. 305: „Im neuen Gewande“. 23 Hirsch differenzierte zwischen der „fürsorglichen“ und der „wehrhaften“ Funktion der Gewerkschaften. S. M. Hirsch, Die Entwicklung der Arbeiterberufsvereine in Großbritannien und Deutschland, Berlin 1896, S. 53 f. 24 Florian Tennstedt/Heidi Winter (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abt., Bd. V: Gewerbliche Unterstützungskassen. Die Krankenversicherung für gewerbliche Arbeitnehmer zwischen Selbsthilfe und Staatshilfe, Darmstadt 1999, S. XXI-LIV, hier S. XXVII.

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– häufig genug ohnehin nicht der puren Empathie entspringenden – Vorwurf zu bewahren, sie sei nichts anderes als ein um gewerkschaftliche Akzidenzien angereicherter Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. In seinem Rückblick auf ein knappes Jahrzehnt sozialliberaler Gewerkschaftsbewegung fällte gerade ein sozialliberaler Kritiker ein hartes Urteil: Lujo Brentano kreidete den Gewerkvereinen in seiner Philippika von 1877 an, dass die doch eigentlich als „Nebenvorteil“ gedachten Unterstützungseinrichtungen derweil zur „Hauptsache“ geworden seien, während man sich an die eigentlich wichtigste Unterstützungsform, nämlich die Arbeitslosenunterstützung, noch gar nicht herangewagt habe.25

3. Bismarcks Sozialpolitik und neue gewerkschaftliche Aktivitäten Die Krankenkassen der Gewerkvereine unterschieden sich von konkurrierenden Institutionen, insbesondere von den Zwangskassen der Gewerke, durch die Mitglieder-Selbstverwaltung und den nationalen Bezugsrahmen, der den abhängig Beschäftigten erst Mobilität gestattete, ohne Risiko zu laufen, des Versicherungsschutzes und evtl. über Jahre gezahlter Versicherungsprämien verlustig zu gehen. Das Hilfskassengesetz von 1876 unterstellte die bisher „freien“ Unterstützungseinrichtungen dann als „eingeschriebene Hilfskassen“ der versicherungstechnischen Aufsicht des Staates. Das Gesetz war für die „eingeschriebenen Hilfskassen“ zwar insofern günstig, als es deren Mitglieder von der obligatorischen Zugehörigkeit zu Kommunal-, Betriebs- oder Gewerkekassen entband. Doch dies erwies sich in der Realität als allenfalls formaler Vorteil. De facto waren die „freien Hilfskassen“ – nicht nur die der Gewerkvereine – nämlich behördlichen Schikanen und dem Druck der Arbeitgeber ausgesetzt, die ihre Arbeitnehmer zwangen, aus den freien Kassen auszuscheiden bzw. sich anderen Kasseneinrichtungen ohne Selbstverwaltung der Mitglieder anzuschließen. Der so bewusst herbeigeführte Misserfolg der freien Hilfskassen diente dann nicht zuletzt als eines der wesentlichen Argumente für die Einführung eines staatlichen Krankenversicherungssystems. Das Bismarcksche Krankenversicherungsgesetz von 1883 brachte mit dem Versicherungszwang zunächst eine neue Beitrittswelle zu den GV-Hilfskassen, von der u.a. auch die Hilfskassen der sozialdemokratischen Fachvereine profitierten. Jedoch spätestens mit der Novellierung des Krankenversicherungsgesetzes 25 Lujo Brentano, Das Arbeitsverhältniß gemäß dem heutigen Recht, Leipzig 1877, S. 187 f.

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1889 verloren die freien Hilfskassen ihre Fähigkeit, dem Leistungsvolumen der staatlichen Krankenversicherung Paroli zu bieten. Noch härter traf die staatliche Sozialpolitik der 1880er Jahre die von der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung gerne als „Perle der Deutschen Gewerkvereine“26 gerühmten gewerkvereinlichen Invalidenkassen. In der Tat hatte gerade die Verbandskasse seit Gründung jedoch an unzureichenden versicherungsmathematischen Erfahrungen und unter der Tatsache zu leiden, dass ein zu hoher Prozentsatz älterer Mitglieder immer wieder zu Revisionen des Leistungs- und Beitragsniveaus Veranlassung gegeben hatte. Aufgrund rückläufiger Mitgliedszahlen und Überalterung der Kassenmitglieder waren die Grundlagen der Invalidenkassen in der GV-Bewegung schon erheblich in Mitleidenschaft gezogen, als ihnen das Alters- und Invalidenversicherungsgesetz von 1889 den letzten Stoß versetzte. Quasi als Reaktion auf die von Brentano angetönte Kritik hatten verschiedene Gliedorganisationen des VDG seit den 1880er Jahren begonnen, ein Unterstützungssystem für den Fall des konjunkturell bedingten Arbeitsplatzverlustes aufzubauen. In Anbetracht der hohen finanziellen Belastungen für die Gewerkschaftskassen befürworteten die Gewerkvereine nach der Jahrhundertwende jedoch das auf kommunalen Zuschüssen an die Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft basierende „Genter System“. Erst auf dem Verbandstag 1922 machten sie auch formell ihren Frieden mit einer staatlichen Arbeitslosenversicherung. Die gewerkschaftlichen Selbsthilfeeinrichtungen blieben Teil des sozialliberalen Gewerkschaftskonzepts, verloren aber mit der allmählichen Einführung sozialstaatlicher Institutionen mehr und mehr an Bedeutung. Ihre „wehrhafte“ Funktion implizierte für die sozialliberalen Gewerkschaften den Aufbau einer „Organisation des bewaffneten Friedens“27, von Organisationsmacht im Interesse der Konfliktfähigkeit und -bereitschaft, allerdings mit dem erklärten Ziel friedlicher Konfliktregelung durch neu zu schaffende, dem Interessenausgleich dienende Institutionen. Letzteres setzte vor allem eine Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen und eine verlässliche Absicherung der Rechtsstellung der „Berufsvereine“ durch gesetzliche Normierung voraus, ohne dass man sich auf korporatistische Einbindungen der Gewerkschaften in den Staat einlassen wollte. Das in Anbetracht sich verschärfender sozialer Konfliktlagen zunehmend anachronistisch anmutende Vertrauen der GVBewegung auf vernunftgemäße, auf Interessenausgleich orientierte Gestaltung der Arbeitsmarktbeziehungen basierte ganz wesentlich auf der sozialliberalen 26 So der Titel einer Schrift Hirschs, die sich auf die „Verbandskasse für Invaliden der Arbeit“ bezog. S. M. Hirsch, Die Perle der Deutschen Gewerkvereine, Berlin 1880. 27 A. Erkelenz, Die neutralen Gewerkvereine, Weißenfels 1907, S. 66.

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Deutung des Interessengegensatzes von Kapital und Arbeit. Man verwarf die Vorstellung antagonistischer Klassengegensätze, setzte dieser – implizit der frühliberalen Vorstellung von der „bereits im Schöpfungsplan angelegte(n) ‚prästabilierte(n) Harmonie“28 folgend – die „letztliche“ Interessenharmonie entgegen, die sich im historischen Prozess einstellen werde, sobald Kapital und Arbeit ihre jeweils eigenen Interessen nur erst richtig verstünden und wahrnähmen.29 Wie der Arbeiter auf das Kapital zu Aufbau und Entwicklung wirtschaftlicher Produktion, so sei der Kapitaleigner auf die Arbeitskraft des Arbeiters, letztlich auch auf dessen Konsumfähigkeit angewiesen. Arbeiter und Kapitaleigner müssten daher an einer Wirtschaftsordnung mit hoher Produktivität, solidem Lohnniveau und dadurch bedingter Arbeitszufriedenheit interessiert sein. Der Existenz faktischer Interessengegensätze konnten sich die sozialliberalen Gewerkschaften – Harmoniepostulat hin oder her – jedoch nicht verschließen. Eine „vorbehaltlose Identifizierung der Interessen von ‚Kapital’ und ‚Arbeit’“ gab es demnach auch nur in der gegnerischen Propaganda gegen die GV-Bewegung.30 Aus sozialliberaler Sicht war es kein Widerspruch, „Harmonieapostel und Streikvater zugleich“31 zu sein. Hirsch bezeichnete von Streiks begleitete Konfrontationen zwischen Kapital und Arbeit als nicht erstrebenswert, aber unvermeidbar. Dennoch trugen die weitgehend wirtschaftsfriedliche gewerkschaftliche Praxis der Gewerkvereine – nach den traumatischen Streikerfahrungen im Waldenburger Bergarbeiterstreik und im Forster Textilarbeiterstreik von 1869/7032 –, die mit der ökonomischen Krise der 1870er Jahre einhergehende Verschärfung des sozialpolitischen Klimas und die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie dazu bei, dass sich das bipolare Modell – „Harmonie der wahren Interessen“ versus tagesaktuelle Interessengegensätze – verunklarte. Übrig blieb für viele Zeitgenossen die das sozialliberale Gewerkschaftskonzept diskreditierende Selbststilisierung als „Friedenspartei auf sozialem Gebiete“33 oder gar die nur 28 Rainer Koch, Der europäische Liberalismus und die soziale Frage im 19. und 20. Jahrhundert, in: liberal 24 (1982), S. 832–843, hier S. 834. 29 M. Hirsch, Was bezwecken die Gewerkvereine? Ein Merk- und Mahnwort für alle deutschen Handwerker und Arbeiter, 1. Aufl. Berlin 1878, S. 7. 30 So U. Engelhardt (wie Anm. 4), S. 904. 31 M. Hirsch, Die hauptsächlichen Streitfragen der Arbeiterbewegung, Berlin 1886, S. 16. 32 Zum Waldenburger Streik immer noch maßgebend: U. Engelhardt (wie Anm. 4), S. 1071–1206. Zur Bewertung beider Streikaktionen s. auch H.-G. Fleck (wie Anm. 1), S. 61 ff. 33 Die Ameise 25/18.6.1880, S. 2 f., Georg Lentz: „Krieg oder Frieden zwischen Kapital und Arbeit“.

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als ideologisch geprägt zu verstehende, vorgebliche „Interessenidentität“ zwischen Arbeit und Kapital. Für die Gewerkvereinsreformer um den Naumannianer Anton Erkelenz war das Harmoniepostulat dann allerdings nur noch ein für den gewerkschaftlichen Praktiker kaum nachvollziehbares Theoriekonstrukt.34 Überall da, wo es um konkrete Arbeitsbedingungen, Lohn und Arbeitszeit gehe, führe kein Weg am offenen Austrag der Interessengegensätze vorbei, wolle man den berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft Geltung verschaffen. Auf dem Verbandstag 1907 hieß es dann zur Klärung der Position der Gewerkvereine, eine Interessenidentität zwischen Kapital und Arbeit sei zu keinem Zeitpunkt unterstellt worden, sondern es solle „durch den Einfluß und die Macht der Organisation versucht werden, die Interessen beider Faktoren in Einklang zu bringen und harmonisch zu verbinden, soweit es eben möglich ist“35. Man mied nun den diskreditierten Terminus der „Interessenharmonie“; statt dessen war von Orientierung auf das Gemeinwohl, ja von „nationaler Solidarität“ die Rede, die den Einzel- und Sonderinteressen in der Gesellschaft letztlich vorrangig sein müsse36. Von hier lassen sich geistige Verbindungslinien sowohl zum liberalen „Volksgemeinschaft“-Konzept der Weimarer Demokratie als auch generell zu den Gemeinwohl- und Pluralismus-Konzepten für eine freiheitliche Demokratie ziehen. Für die sozialliberalen Gewerkschaften war die offene Konfrontation mit der anderen Arbeitsmarktpartei zwar im konkreten Falle unabweisbar, im Grundsatz jedoch von Übel. Bei vernunftgemäßem und einsichtsvollem Handeln der Arbeitsmarktparteien gemäß ihren „wahren“ Interessen, bei Nutzung von Formen der friedlich-schiedlichen Konfliktregelung werde sich der Arbeitskampf vermeiden lassen. Aus dieser prinzipiellen Überzeugung leitete sich eine Reserve gegen übereilte Kampfaktionen, ja gegen den Streik als Kampfmittel überhaupt ab, jedoch weder praktische noch gar prinzipielle Wirtschaftsfriedlichkeit. Man war sich stets der Möglichkeit bewusst, dass die uneinsichtige, im Sinne des Interessenharmonie-Theorems unvernünftige Haltung von Arbeitgebern, die sich dem Kompromiss verweigerten, zur wohlerwogenen Anwendung der Streikwaffe zwingen könne. Wenngleich es im Laufe der Verbandsgeschichte zu deutlichen Akzentverschiebungen in der Einschätzung von Notwendigkeit bzw. Zwangsläufigkeit konfrontativer Arbeitsmarktbeziehungen kam: Das vorrangige Bemühen um friedlich-schied34 A. Erkelenz, Arbeiter-Katechismus, Berlin 1908, S. 97 ff. 35 VT 1907, S. 78 ff.: Referat des Generalsekretärs des Gewerkvereins der deutschen Maschinenbau- und Metallarbeiter, Gustav Hartmann. 36 Karl Goldschmidt, Weltanschauung und Arbeiterbewegung, Berlin 1908, S. 26.

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liche Konfliktlösung vor offenem Arbeitskampf, das Ringen um rechtlich gesicherte Instanzenwege der Konfliktregelung und um kollektivvertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen verband die Gewerkschaftsgründer der späten 1860er Jahre mit den Gewerkvereinsreformern der Jahrhundertwende oder den Gewerkvereinern in der Zentralarbeitsgemeinschaft der Weimarer Republik. „Gleichberechtigung“, das „Definiens der modernen Gewerkschaftsbewegung“37, bedeutete für die GV-Bewegung die „Emanzipation der arbeitenden Klassen“, keine Sonderstellung der Arbeiter neben und gegen das Bürgertum, sondern Gleichberechtigung als „citoyens“.38 Hierbei wurde eine Analogie zwischen dem wachsenden politischen Mitspracherecht der Staatsbürger innerhalb der Verfassungsordnung und dem allmählichen Übergang vom „absoluten Regiment“ der Arbeitgeber zu einer „auf wahrhafter Gleichberechtigung beruhenden Konstitution im Arbeitsbetriebe“ hergestellt.39 Das Vertrauen in die soziale Reformierbarkeit der bestehenden Ordnung mit dem Ziel der Gleichberechtigung der Arbeiter bedeutete auch die Absage an Klassenkampfvorstellungen und den Herrschaftsanspruch der Arbeiterklasse. „Wir dürfen nicht, wie es die Sozialdemokratie will, die anderen Klassen niederdrücken …, sondern müssen uns darauf beschränken, für die Arbeiter Sicherheit ihrer Existenz und ihrer Menschenrechte zu erkämpfen.“ Nur in diesem Sinne führe die sozialliberale Gewerkschaftsbewegung „Klassenkampf, einen Kampf um die Gleichberechtigung des Arbeiterstandes. Wir wollen niemand unterdrücken, aber die Untenstehenden emporheben.“40 Vereinbarung und Schiedsgericht: Diese Begriffe korrespondierten dem Verständnis der GV-Bewegung von Absicherung der Gleichberechtigung der Arbeiter durch Verrechtlichung des Arbeitsverhältnisses. Dies erforderte den Aufbau eines institutionellen Gefüges zur Konfliktprävention und Konfliktregelung, in dem sich die Arbeitsmarktparteien gleichberechtigt und mit der Intention, ein rational-friedliches Einvernehmen zu erreichen, begegnen konnten. Man sah es als selbstverständlich an, dass die auf Konfliktregelung und Arbeitskampfvermeidung abzielende Vereinbarung zwischen den Arbeitsmarktparteien nur dann zur Sicherung des sozialen Friedens beitragen könne, wenn sie bindende und verpflichtende Kraft für die Beteiligten ausstrahle. Entscheidungen mit Bindungswirkung könnten aber nur durch die 37 Gerhard Beier, Schwarze Kunst und Klassenkampf. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1966, S. 324. 38 Gv 15/29.8.1869, S. 59 f., Albert Wittum: „Unsere Aufgabe“, und Hugo Polke, Die Deutschen Gewerkvereine und die Socialdemokratie, Berlin 1875, S. 16. 39 Gv 9/2.3.1894, S. 67 f., M. Hirsch: „Die besitzenden Klassen und die Arbeiterfrage“, und K. Goldschmidt (wie Anm. 36), S. 30. 40 A. Erkelenz (wie Anm. 34), S. 34.

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kollektive Interessenvertretung der Arbeiter getroffen werden. Daraus folgerte Hirsch, dass derjenige, der Schlichtungsinstitutionen („Einigungsämter“) wolle, an der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter gar nicht vorbeigehen könne,41 der durch rechtliche Normierung Rechtssicherheit verbrieft werden müsse. Die diesbezüglichen Bemühungen der Gewerkvereine waren jedoch von solch geringem Erfolg gekrönt, dass Hirsch bereits auf dem Kongress des Vereins für Socialpolitik 1873 – gemeinsam mit Lujo Brentano – für gesetzliche Initiativen zur Schaffung von Schiedsgerichten und Einigungsämtern eintrat. Jedoch erst mit dem Gewerbegerichtsgesetz vom Juli 1890 und der damit einhergehenden Errichtung paritätischer Schiedsgerichte auf kommunaler Ebene begannen die Forderungen der GV-Bewegung gesellschaftliche Realität zu werden. Die Gesetzesnovelle von 1901 brachte dann auch – ganz im Sinne der Gewerkvereine – die obligatorische Einführung von Gewerbegerichten für Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern. Konsequenterweise fand bei den Gewerkvereinen – anders als bei den sozialdemokratischen Gewerkschaften – auch die von Heinrich Herkner und Ernst Francke 1910 ins Spiel gebrachte Einrichtung eines „Reichseinigungsamtes“ volle Unterstützung, wobei man allerdings skeptisch blieb gegenüber staatlicher Zwangsschlichtung. Den paritätischen Schlichtungsinstitutionen der Arbeitsmarktparteien gebührte nach Auffassung der sozialliberalen Gewerkschaften eindeutiger Vorrang.42 Obwohl die Konzeption einer tarifvertraglichen Regelung der Arbeitsmarktbeziehungen sich eigentlich organisch aus dem sozialliberalen Gewerkschaftskonzept ergab, musste die GV-Bewegung sich von einer konstruktiven Kritikerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorhalten lassen, die Tarifvertragsidee allzu lange „mit dem Odium der Utopisterei“ belastet zu haben.43 Zur Durchsetzung der Tarifvertragsidee hatte vielmehr eine über eine lange Zeit als neutrale Kraft zwischen den Gewerkschaftsrichtungen verortete Berufsgruppe den wesentlichsten Beitrag geleistet: die Buchdrucker. Ihnen gelang es, durch Aufbau stabiler Organisationsmacht das zu erzwingen, was den Gewerkvereinen allenfalls auf lokaler oder betrieblicher Ebene vergönnt war: die Respektierung als gleichwertiger Verhandlungspartner der Arbeitgeber. Die historische Gerechtigkeit gebietet es aber klarzulegen, dass dem Buchdruckerverband gerade aus diesem Grunde bei seiner Annäherung an die Sozialdemokratie noch 41 M. Hirsch, Normal-Statuten für Einigungsämter, 2. Aufl. Berlin 1872, S. 15. 42 Gv 55/9.7.1910, S. 213 Leitartikel, „Ein Reichseinigungsamt“; Gv 46/7.6.1913, S. 173 Leitartikel, Ludwig Heyde: „Grundsätzliches zur Errichtung eines Reichseinigungsamtes“, sowie das Referat W. Gleichaufs auf dem Verbandstag 1916 zu „Einigungseinrichtungen“: VT 1916, S. 37 ff. 43 Fanny Imle, Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland, Jena 1907, S. 7.

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1897 von dort der Bannfluch entgegenscholl, Anhänger der Tarifgemeinschaft zu sein, „infolgedessen auf Hirsch-Dunckerschem Standpunkt“ zu stehen – kurz bevor sich der Frankfurter Kongress der freien Gewerkschaften dann selbst den Tarifgedanken zu eigen machen sollte.44 Zentrale Aspekte des Credos einer sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung seien wie folgt zusammengefasst: Man verfolgte die kollektive Wahrnehmung gruppenspezifischer Interessen bei gleichzeitiger Orientierung auf Wahrung bzw. Wiederherstellung eines Zustandes rationalistisch überhöhter „Interessenharmonie“ zwischen den Arbeitsmarktparteien. Die Gewerkschaften hatten sich das Eintreten für die Erringung und Gewährleistung individueller und gesellschaftlicher Freiheitsrechte und Gleichberechtigung zum Ziel gesetzt. Diesen Zielen sollte die funktionale Bildung der Mitglieder und die Reaktivierung der Grundsätze der Selbsthilfe in für die Mitglieder zentralen Themenfeldern der sozialen Sicherung dienen. Zur Durchsetzung der Organisationsziele wurde die Schaffung eines Gleichberechtigung, Interessenausgleich, Rechtsförmigkeit und gegenseitige Bindungskraft ausübenden Institutionengefüges angestrebt. Im präferentiell kompromissorientierten, im Bedarfsfalle jedoch auch konfliktorischen Verhältnis der Arbeitsmarktparteien sollte dem Staat allenfalls eine der rechtsverbindlichen Institutionalisierung dienende Funktion zukommen. Jenseits dessen jedoch hatte sich der Staat jeglichen der Freiheit der Arbeitsmarktparteien abträglichen Eingriffs zu enthalten.

4. Gewerkschaftlicher Sozialliberalismus und liberale Parteien Für den sozialliberalen Gewerkschaftsführer und Politiker Anton Erkelenz45 war das Verhältnis von GV-Bewegung und Liberalismus klar und eindeutig definiert: Gewerkschaftsbewegung, das war für ihn schlicht „ins Leben überführter Liberalismus, Sozialliberalismus“.46 Die enge Beziehung zur Ideen- und Geisteswelt des Liberalismus blieb für ihn – auch in einer für seine Biographie ebenso markanten wie tragischen Lebensphase – evident und unstrittig. Ganz anders sah dies mit dem wechselseitigen Verhältnis von 44 Karl Goldschmidt, Die Deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), Berlin 1907, S. 40. 45 Für das politische Wirken von Erkelenz informativ, nur sehr begrenzt jedoch für seine gewerkschaftliche Tätigkeit: Axel Kellmann, Anton Erkelenz. Ein Sozialliberaler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 2007. 46 A. Erkelenz, Die deutschen Gewerkvereine und die Parteien, in: Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Hg. Ludwig Heyde. Bd. 2, Berlin 1932, S. 1234–1241, hier S. 1234.

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Gewerkvereinen und politischen Parteien aus, speziell denen, die sich dem Liberalismus verbunden fühlten. Für die Gewerkvereine ist hierbei das Spannungsverhältnis zu beachten, das sich aus ihrer ideologischen Verankerung im Liberalismus einerseits, aus ihrem Anspruch andererseits ergab, als ausschließlich wirtschaftlich-soziale Reformbewegung mit strikter parteipolitischer Unabhängigkeit und religiöser Neutralität zu wirken und „alle Arbeiter ohne Unterschied des parteipolitischen und religiösen Bekenntnisses“ zu organisieren.47 Für die liberalen Parteien – und hier interessieren insbesondere die des „entschiedenen Liberalismus“ – gilt eine eigenartig und bizarr zu nennende Beziehung zu „ihren“ Gewerkschaften, die sich über die Jahrzehnte zwischen „Benevolenz, Missachtung und Misstrauen“ oszillierend48 bewegte, bevor sie sich dann nach der NS-Diktatur mit dem Aufgehen der sozialliberalen Gewerkschaften in der Einheitsgewerkschaft gänzlich auflöste – bis hin zu völliger Ignoranz, wenn nicht Aversion der re-formierten Liberalen gegenüber den freiheitlichen und emanzipatorischen Wurzeln der Gewerkschaftsbewegung im Liberalismus.49 Dass diese Berührungsängste in der Ignoranz und selektiven Traditionspflege der sozialdemokratisch dominierten deutschen Gewerkschaftsbewegung gegenüber sozialliberalen Traditionen ihre spiegelbildliche Entsprechung fanden, kann nicht genug betont werden 50. Uns soll abschließend sowohl das Beziehungsgeflecht zwischen Deutscher Fortschrittspartei (DFP) und sozialliberalen Gewerkschaften als auch die Bedeutung des Sozialliberalismus für die DFP interessieren. Seit ihrer Gründung hatten sich die Gewerkvereine wieder und wieder mit der Behauptung auseinanderzusetzen, sie seien eine „Kreatur der

47 So die Formulierung des Programms der Deutschen Gewerkvereine von 1907 (wie Anm. 21). 48 Vgl. hierzu meinen Beitrag: H.-G. Fleck: Benevolenz, Missachtung und Misstrauen trotz ‚Schicksalsgemeinschaft’. Organisierter Linksliberalismus und sozialliberale Gesellschaftsreform zu Zeiten Eugen Richters, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 47–82. 49 Diese Aversion war den Liberalen nach 1945 dabei durchaus nicht „in die Wiege gelegt“, wie Theodor Heuss’ erste „Dreikönig“-Rede nach der NS-Zeit belegt, in der er betonte: „Ohne Liberalismus … keine Gewerkschaftsbewegung“ und seinen Doktorvater Lujo Brentano zum „geistige(n) Vater des gewerkschaftlichen Gedankens“ schlechthin stilisierte (T. Heuss: Aufzeichnungen 1945–1947, Tübingen 1966, S. 164–183, hier S. 180). 50 In einer Würdigung der historiographischen Pioniertat von Ulrich Engelhardt spricht Klaus Tenfelde von der „gezielten Vergessenheit“, der Engelhardt die GV-Bewegung entrissen habe. K. Tenfelde, Die Entstehung der deutschen Gewerkschaftsbewegung, in: Ulrich Borsdorf (Hg.), Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Von den Anfängen bis 1945, Köln 1987, S. 15–165, hier S. 118, Anm. 146.

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Fortschrittspartei“51. Je nach politischem Standort des Betrachters wurde dem „Wurmfortsatz“ des Linksliberalismus entweder unterstellt, in der Absicht gegründet worden zu sein, die deutsche Arbeiterbewegung in ihrem Formierungsprozess zu spalten, oder man diffamierte die Gewerkvereine als „Kryptosozialisten“, die nur befristet durch materielle Anreize vom Abdriften ins Lager der Sozialdemokratie abgehalten werden könnten. Besonders wirkungsmächtig für die Rezeption der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung in liberalen Kreisen war jedoch die antigewerkschaftliche Philippika eines der bedeutendsten und streitbarsten Liberalen seiner Zeit, der sich in seinem politisch und biographisch ereignis- und windungsreichen Leben gerade in einer besonders doktrinär-wirtschaftsliberalen Phase befand. Die Rede ist von Ludwig Bamberger und seiner polemischen Schrift zur „Arbeiterfrage“, in der er es – nicht zuletzt auch als einer der Führer des Nationalliberalismus – zu seinem besonderen Anliegen machte, das „Grundübel“ der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung zu offenbaren: ihren Ursprung aus dem „Parteiinteresse“ der Fortschrittspartei. Hinter den Gründungsereignissen des September 1868 machte er eine – von ihm als politisch-taktisch durchaus legitim erachtete – Generalstabsaktion der DFP aus, um Arbeiterwähler auch weiterhin an sich zu binden.52 Diese Formulierungen gaben weit über die zeitgenössische Debatte hinaus einen Interpretationsrahmen vor, der die Gewerkvereine in einen steten Rechtfertigungszwang versetzte und ihnen ein politisches Image zuordnete, mit dem sie sich von ihrem Selbstverständnis her weder identifizieren wollten noch konnten. Die historischen Ereignisse lassen sich im Detail kaum rekonstruieren. Doch dürfte die Einschätzung, wonach die „entscheidenden Impulse“ zur Gründung von Gewerkschaften nicht von den Führungsgruppen parteipolitischer Formationen ausgingen, als ereignisgeschichtlich und quellenmäßig am solidesten fundiert erscheinen.53 Das Eingreifen parteipolitisch gebundener Akteure in den Konstituierungsprozess der deutschen Gewerkschaftsbewegung hatte jedenfalls eher einen reaktiven als einen offen-

51 Zur Zurückweisung der von L. Bamberger gewählten Formulierung: L. Brentano, Die wissenschaftliche Leistung des Herrn Ludwig Bamberger, Leipzig 1873, S. 67. 52 L. Bamberger, Die Arbeiterfrage unter dem Gesichtspunkt des Vereinsrechts, Stuttgart 1873, S. 75 f. und S. 110. Brentano replizierte mit der in Anm. 51 genannten Schrift. 53 Klaus Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt 1987, S. 31. Vgl. auch U. Engelhardts Formulierung (wie Anm. 4, S. 1215), das Engagement von Parteipolitikern sei „weder Voraussetzung noch gar conditio sine qua non des gewerkschaftlichen Terraingewinns“ um 1868/69 gewesen.

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siven Grundzug. Von entscheidenden „Geburtshelferdiensten“54 aus der linksliberalen Partei für die Entstehung der sozialliberalen Gewerkschaften kann somit gewiss keine Rede sein. Hatten sich die Liberalen in den 1860er Jahren durch ihren Einsatz für die Koalitionsfreiheit in der zu reformierenden preußischen Gewerbeordnung noch Meriten für die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen zur Gründung von gewerkschaftlichen Interessenorganisationen erworben, so veränderten konkrete Existenz und Agieren der Gewerkschaften, wie in den Streikbewegungen 1869/70, die Einstellung vieler Liberaler, insbesondere der in beiden liberalen Parteien präsenten Repräsentanten der so genannten „Freihandelspartei“.55 Aus dem legitimen Instrument der Selbsthilfe wurde nun gleichsam über Nacht eine höchst suspekte „importierte Treibhauspflanze“ (H.B. Oppenheim) oder schlicht ein „schweres Unglück“56. Man hatte sich zwar bisher für die Koalitionsfreiheit eingesetzt, diffamierte jedoch nun diejenigen, die die Koalitionsfreiheit in praxi nutzten als ‚sozialdemokratische Wölfe im liberalen Schafspelz’. Gerade Bamberger profilierte sich 1872 in der Diskussion zur Novellierung des Vereinsrechts als Gegner jeder rechtlichen Absicherung der Organisationen der Selbsthilfe, weil er in den sozialliberalen wie anderen Gewerkschaften nichts anderes als verkappte „Streikkassen“ ausmachte, die es zu bekämpfen gelte.57 Verbandsanwalt Hirsch verwahrte sich gegen die Angriffe „sogenannte(r) liberale(r) Reichstagsabgeordete(r)“58. Namentlich Bamberger hielt er vor, die GV-Bewegung durch „schmachvollste Verdrehungen und Verfälschungen der geschichtlichen Wahrheit“ diskreditieren zu wollen. In der scharfen Ablehnung der Gewerkvereine durch die Repräsentanten der informellen Freihandelspartei setzte sich so ein dogmatisch-ideologisches Element durch, dass die Glaubwürdigkeit der Anliegen der ‚Selbsthilfepartei‘ bis ins Mark erschütterte, noch ehe die ‚Partei der Staatshilfe‘ ihre Chance so recht ergriffen hatte. 54 So Christiane Eisenberg, die diese – quellenmäßig nicht belegte – Aussage auf alle Gewerkschaftsgründungen des Jahres 1868 bezieht. Vgl. C. Eisenberg, Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Göttingen 1986, S. 259. 55 Zum Positionswandel der „Freihandelspartei“: Volker Hentschel, Die deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kampf 1858–1885, Stuttgart 1975, S. 190 ff. 56 So der Bamberger eng verbundene Breslauer Handelskammersyndikus Alexander Meyer, zit. nach: Gv 22/17.10.1869, S. 92. 57 L. Bamberger, Arbeiterfrage (wie Anm. 52 ), S. 131–148. Vgl. auch Wolther von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln 2002, S. 483 f. 58 Gv 34/23.8.1873, S. 167: M. Hirsch: „Die Gewerkvereine und die Reichstagswahlen“ .

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In der Nationalliberalen Partei, in der die „Freihändler“ zunächst ihre stimmstärkste Repräsentanz hatten, galt die „Aufrichtung des Reiches mit seinem stärkeren Schutz und seiner weitreichenden ordnenden Kraft“ ohnehin als die „größte befreiende That für den deutschen Arbeiterstand“.59 Erst durch den Austritt der in der so genannten Sezession versammelten Vertreter der „manchesterlichen Doktrin“ sah man sich dann in den 1880er Jahren im Stande, den von ihren Initiatoren als unabdingbares Pendant zur antisozialdemokratischen Ausnahmegesetzgebung betrachteten Weg staatlicher Sozialintervention mitzugehen.60 Genossenschaften und (sozialliberale) Gewerkschaften spielten in den parteioffiziellen Erwägungen des Nationalliberalismus keine Rolle. Seitens der GV-Bewegung bestanden allenfalls individuelle Kontakte zu nationalliberalen Parlamentariern oder Kommunalpolitikern sowie zu nationalliberal gesinnten Wissenschaftlern.

5. Spannungslinien im Verhältnis zur Fortschrittspartei Vielgestaltiger, jedoch keineswegs friktionsfrei war das Verhältnis zwischen dem „entschiedenen Liberalismus“ und der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung. Es blieb von drei Problemkomplexen geprägt, die mal einzeln, mal in Gemengelage identifizierbar, das Verhältnis bestimmten und belasteten. Das Selbstverständnis des Liberalismus als Repräsentanz eines über den individuellen Interessen angesiedelten Gemeinwohls ließ kaum Raum für die Kooperation mit einer dezidierten sozialen Interessenvertretung. Ohnehin war auch vielen entschiedenen Liberalen die sich in der GV-Bewegung widerspiegelnde Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Interessen mehr als suspekt. Schließlich trug der meist auf wenige aktive Protagonisten beschränkte Einsatz der DFP für die politisch-parlamentarische Umsetzung von den Gewerkschaften lancierter sozioökonomischer oder rechtlicher Forderungen nicht unbedingt dazu bei, die unverdrossen proklamierte Zugehörigkeit der GV-Bewegung zu einem – nicht im parteilich engen Sinne verstandenen – entschiedenen Liberalismus in der politischen Tagesdiskussion zu legitimieren. Die Frustration der Gewerkvereine, u.a. über das mangelnde soziale Problembewusstsein der DFP-Führung, zeigte sich beispielhaft im Vorfeld der preußischen Abgeordnetenhauswahlen von 1873 und der Reichstagswahlen von 1874. Man kritisierte zunächst die in der DFP „grassierende 59 Die nationalliberale Partei 1867–1892. Zum Gedächtnis ihres 25jährigen Bestehens, Leipzig 1892, S. 47. 60 Ebd., S. 143.

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Kompromisssucht“, die nach Wahlbündnissen mit Nationalliberalen und Freikonservativen schiele. Aktueller Anlass war der von Rudolf Virchow verfasste, am 23. März 1873 publizierte Wahlaufruf der DFP-Fraktionen in Reichstag und Abgeordnetenhaus61, in dem zwar der Regierung Bismarck demonstrativ Unterstützung im Kulturkampf signalisiert, die Sozialpolitik jedoch mit den die Gewerkvereine besonders beschäftigenden Fragen des Vereinsrechts und der Hilfskassengesetzgebung völlig ausgespart wurde. Hart ins Gericht mit der DFP ging im Folgemonat der Metallgewerkschafter Karl Andreack auf dem VDG-Verbandstag62: Die Zeiten, „wo man es sich zur Ehre anrechnen konnte, Mitglied dieser Partei aus Überzeugung zu sein“, seien vorüber. Konkret benannte Andreack die einseitige Konzentration auf den Kulturkampf und die Verwässerung der Haftpflichtgesetzvorlage. Unumwunden forderte er die Verbandstagsdelegierten auf, mit der DFP zu brechen und die sozialliberale Gewerkschaftsbewegung zum Nukleus einer neuen politischen Kraft zu machen, die ernsthaft für „Wahrheit, Recht, Vernunft, Freiheit und Wohlfahrt der Gesamtheit“ eintrete. Auch der um Mäßigung bemühte Verbandsanwalt Hirsch musste einräumen, dass in der Fortschrittspartei ein regierungskonformer Kurs um sich greife, der zu einer Parteispaltung führen könne63. Wenn denn nur ein Kristallisationspunkt für eine neue Organisation existierte – Sozialdemokratie und Volkspartei64 kamen hier nicht in den Blick –, so hätten sich die „Entschiedeneren“ schon längst von der DFP abgewandt. Hirsch plädierte dann jedoch für weitere Kooperation mit der DFP als dem ‚kleineren Übel‘. Es gelang ihm, einen Resolutionsentwurf Andreacks abzuwenden, in dem de facto die Zusammenarbeit „mit der nationalliberalen oder einer anderen uns feindlich gesinnten Partei“ ausgeschlossen werden sollte; der Verbandstagsbeschluss verwarf lediglich jeglichen „Kompromiss mit arbeiterfeindlichen Parteien“.65

61 Der Wahlaufruf ist abgedruckt in: Ludolf Parisius, Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1878, Berlin 1879, S. 36 ff. 62 VT 1873, S. 20 ff. 63 Ebd., S. 34 ff. 64 Den Anschluß an die Volkspartei verwarf Hirsch – trotz der persönlichen Verehrung für Johann Jacoby – kategorisch. Deren Parteiführer seien zu doktrinär auf Opposition eingestellt und zögen sich in den „Schmollwinkel“ zurück anstatt praktische Politik zu betreiben (ebd., S. 38). Hirsch konnte sich eine Wahlunterstützung der „Internationalen“ in konkreten Fällen sehr wohl, keinesfalls aber eine solche für die Lassalleaner vorstellen. 65 Gv 19/10.5.1873, S. 98: Nathan Schlesinger: “Die Verbandstagsfeier in der Tonhalle am 19. April“.

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Aus Andreacks Philippika folgerte ein weiterer, gravierender Konflikt mit der DFP, hatte er doch postuliert, es sei an der Zeit, nicht nur die „Gönner, Freunde und Förderer“ der Gewerkvereine in die Parlamente zu entsenden, sondern auch die eigenen Mitglieder. Auch Arbeiter seien schließlich geeignet, als Parlamentsabgeordnete zu fungieren. Diese Aussage implizierte das riskante und aufgrund des absoluten Majorzwahlsystems mit äußerst geringen Chancen versehene Experiment gewerkvereinlicher Wahlkandidaturen. Das Risiko bestand darin, dass eine Wahlbeteiligung nicht nur dem Gewerkvereinscredo als wirtschaftlich-soziale Interessenvertretung zuwiderlief, sondern auch gefährliche Konfrontationen mit dem preußischen Vereinsgesetz heraufbeschwören konnte, das die politische Betätigung der Gewerkvereine strikt sanktionierte. Im September 1873 bildeten die Gewerkvereine Berlins ein aus gewerkschaftlichen Vertrauensmännern und kooptierten Vertretern „verschiedenster Gesellschaftsklassen“ bestehendes „Sozialpolitisches Wahlkomitee“66, das sich unverzüglich mit einer programmatischen Erklärung67 an die Öffentlichkeit wandte. Darin bekannte man sich unzweideutig zur DFP und wies Mutmaßungen in der Presse zurück, hier werde eine konkurrierende Parteigründung vorbereitet. Allerdings – so hieß es – verlange die gegenwärtige reaktionäre Tendenz in der politischen Landschaft nach verstärkter Profilierung der DFP gerade in sozialpolitischen Fragen. Der präsentierte breite, keineswegs nur „sozialpolitische“ Forderungskatalog des Komitees umfasste die Einführung des Reichstagswahlrechts auch in den Bundesstaaten, eine humane, „den Staatszwecken entsprechende“ Ausbildung der Jugend ohne jeglichen kirchlichen Einfluss durch unentgeltlichen Volksschulunterricht und berufliche Bildung („Fortbildungsschule“). Sehr pauschal forderte man „die Beseitigung der Ausbeutung der Gesellschaft vermittelst der Privilegien einzelner Gesellschaftsklassen“ und die Ersetzung der sozial ungerechten Konsumbesteuerung durch eine progressive Einkommenssteuer. Zur Sozialpolitik im engeren Sinne gehörte die Forderung nach Erlass eines Gesetzes über die Rechtsfähigkeit der wirtschaftlichen und gewerblichen Vereine, nach gesetzlicher Anerkennung der freien Hilfskassen sowie der freien Schiedsgerichte und Einigungsämter der Arbeitsmarktparteien. Jegliche Einschränkung der Koalitionsfreiheit wurde strikt abgelehnt.

66 Rheinische Zeitung 276/5.10.1873, 1. A., S. 3: „Zu den Wahlen“; National-Zeitung 455/30.9.1873, S. 1. 67 Sie wurde erstmalig am 1. Oktober 1873 in der „Volks-Zeitung“ publiziert, im folgenden zit. nach: Gv 40/3.10.1873, S. 196.

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Während die nationalliberale Presse Berlins die Erklärung als Ausdruck des Zerfallsprozesses in der Fortschrittspartei wertete, waren die Reaktionen der DFP und der ihr nahe stehenden Presse recht ambivalent. Offenkundige Erleichterung über das Bekenntnis des Sozialpolitischen Wahlkomitees zur ‚gemeinsamen Sache‘ paarte sich mit der Arroganz etablierter Parteieliten gegenüber den Partizipationsforderungen von Teilen der Parteibasis, die wichtige sachliche wie personelle Weichenstellungen nicht länger ausschließlich den DFP-Parlamentsfraktionen bzw. dem von diesen besetzten „Zentralwahlkomitee“ und den zumeist aus örtlichen Honoratioren gebildeten Wahlkreiskomitees überlassen wollten. Auf Initiative des Sozialpolitischen Wahlkomitees kam es rasch zu einer Begegnung mit dem Zentralwahlkomitee, in deren Verlauf dessen Vertreter erklärten, der Aufruf vom 1. Oktober beinhalte nichts, was der Zusammenarbeit beider im Wege stehen könnte. Das Sozialpolitische Wahlkomitee signalisierte daraufhin Unterstützungsbereitschaft für die bevorstehenden Abgeordnetenhauswahlen.68 Mit diesem Vorgehen setzte sich die Verbandsführung in Widerspruch zum Grundsatz parteipolitischer Unabhängigkeit – nicht ohne Widerspruch aus zahlreichen Untergliederungen der Gewerkvereine, die den Vorstoß in das Feld der Politik missbilligten.69 Der Burgfrieden zwischen dem DFP-Establishment und den Neuerern von der Parteibasis hielt jedoch nur solange, wie die Entscheidungen über zukünftige Reichstagskandidaturen hinausgezögert werden konnten. Ende November 1873 präsentierte das Sozialpolitische Wahlkomitee eine Vorschlagsliste mit dem Ziel, den dort genannten Kandidaten Wahlkreiskandidaturen zu vermitteln. Anstatt nun im Kontakt mit den örtlichen Wahlkomitees die Nominierung „seiner Kandidaten“ zu lancieren, betrat das Sozialpolitische Wahlkomitee einen für die gegebenen Organisationsstrukturen der DFP und ihren vorherrschenden Honoratiorencharakter geradezu revolutionären Weg: Man stellte eine Liste aus Sicht der Gewerkvereinsbewegung besonders geeigneter Kandidaten vor, die – so die Intention – in Abstimmung mit dem Zentralwahlkomitee an die Parteiuntergliederungen zur Berücksichtigung bei der Kandidatenaufstellung versandt werden sollte. Mit dieser Strategie setzten sich die organisatorisch schon viel moderner und effizienter als die DFP strukturierten Gewerkschaften über die Tatsache hinweg, dass das ausgeprägte Eigenleben der DFPUntergliederungen bzw. der sich zu Wahlzwecken ad hoc formierenden örtlichen Wahlkomitees den in Berlin beheimateten Parteiinstitutionen nur we-

68 Gv 42/17.10.1873, S. 205, und Rheinische Zeitung 286/15.10.1873, 1. A., S. 2. 69 Gv 49/5.12.1873, S. 235, M. Hirsch: „Ein ernstes Mahnwort an viele Verbandsgenossen“; Gv 51/19.12.1873, S. 245 „Zur Bekehrung der Philister“.

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nig Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Kandidatenaufstellung beließ.70 Das Zentralwahlkomitee versetzte dem wahlkämpferischen Enthusiasmus der Gewerkvereiner jedoch einen herben Dämpfer: Führende Vertreter aus seinen Reihen erklärten, es bestehe keine Absicht, eine zentrale Kandidatenliste vorzulegen, um der selbstständigen Beschlussfassung der örtlichen Wahlkomitees nicht vorzugreifen. Man wollte damit zweifellos dem Eindruck entgegenwirken, als ob Berliner Parteigremien die dezentrale Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen ungebührlich beeinflussen wollten. Aber es wurde noch ein gravierender Vorwurf gegen das Sozialpolitische Wahlkomitee und die es stützenden Gewerkvereine hinzugefügt, indem man erklärte, dessen Bestrebungen zielten darauf ab, „Standesinteressen auf Kosten der allgemeinen politischen Interessen zu fördern“. Die Mitgliedschaft oder politische Nähe zur sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung sei jedoch weder Hinderungsgrund noch hinreichende Legitimation für eine Kandidatur.71 Der Vorwurf einseitiger Vertretung von Partikularinteressen war im Raum. Damit zeigten die Führungsgremien der DFP, dass sie nicht bereit waren, die Legitimität neuer, sich im Rahmen der Partei formierender Interessengruppen anzuerkennen. Man blieb in einem Politikverständnis befangen, das einem frühliberalen Verständnis von ‚Gemeinwohl‘ folgte, ohne sich die gesellschaftliche Interessengebundenheit auch liberaler Politikkonzepte eingestehen zu können. Ein von der GV-Bewegung zweifellos eher dilettantisch ins Werk gesetzter Versuch, in die Honoratiorenstrukturen der DFP ein neuartiges Element der Rückbindung der Kandidatenauswahl an ein klares programmatisches Profil zu implantieren, war gescheitert. Nur vereinzelt kam es zu Kandidatenaufstellungen aus dem Kandidatenpool des Sozialpolitischen Wahlkomitees. Es wurden vielmehr sogar Konkurrenzkandidaturen zu den offiziellen DFP-Bewerbern eingereicht, was den „Sozialpolitikern“ als Bestätigung ihrer Orientierung an Partikularinteressen angelastet wurde. Insgesamt musste das Anliegen der Mitglieder und Sympathisanten der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung, die linksliberale Partei bei der Vertretung konkreter Sachanliegen zu instrumentalisieren, als auf ganzer Linie gescheitert betrachtet werden. Trotz dieser negativen Erfahrungen ließ sich zumindest die gewerkschaftliche Verbandsführung im Vorfeld der Reichstagswahlen 1877 dann nicht von einem erneuten Verstoß gegen den Grundsatz der parteipolitischen 70 Zum Organisationsstand der DFP in den 1870er und 1880er Jahren noch immer maßgebend: Ursula Steinbrecher, Liberale Parteiorganisationen unter besonderer Berücksichtigung des Linksliberalismus 1871–1893, Diss. Köln 1960, S. 65–155, spez. S. 81 ff. 71 National-Zeitung 594/20.12.1873, 1. A., S. 1.

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Unabhängigkeit abbringen. Das DFP-Zentralwahlkomitee verstand sich diesmal sogar zu einer Unterstützungserklärung für „Kandidaten aus den Kreisen der Gewerkvereine … in den geeigneten Wahlkreisen“ – vom Verbandsorgan als Durchbruch und großer Erfolg gefeiert. Was vor drei Jahren noch „unerreichbar“ erschienen sei, und was man seit Gründung der sozialliberalen Gewerkschaften „mit Mut und Ausdauer erstrebt“ habe, sei nun erreicht: „die offene, unzweideutige Anerkennung der Gewerkvereine und der Notwendigkeit ihrer Vertretung im Reichstage seitens der entschieden liberalen Partei“. Mit dieser Anerkennung sei „ein ganzes Heer von Vorurteilen und Verdächtigungen, die bisher den friedlichen Fortschritt hemmten, vernichtet“.72 Konkret profitieren konnte von diesem „Kurswechsel“ allerdings nur Verbandsanwalt Hirsch, dem die Vertrauensmänner des 1. Berliner Reichstagswahlkreises wohl gute Chancen zubilligten, den Wahlkreis gegen die Sozialdemokratie zu verteidigen. Im Januar 1877 wurde Hirsch dann in einer Stichwahl zum zweiten Mal in den Reichstag gewählt. Die an die Deklarationen im Vorfeld der Wahl geknüpften Erwartungen der Gewerkvereine sollten sich jedoch sehr rasch als purer Zweckoptimismus erweisen. Bei der Kandidatenaufstellung zur Reichstagswahl 1878 nur wenige Monate später verdrängte die Parteiführung trotz eines eindeutigen Vertrauensvotums der lokalen Wahlmänner Verbandsanwalt Hirsch aus seinem gerade erst gewonnenen Wahlkreis – zugunsten eines den nationalliberalen Bündnispartnern genehmeren Kandidaten.73 Die sozialliberale Gewerkschaftsbewegung wurde allenfalls als Stimmvieh oder Manövriermasse des entschiedenen Liberalismus traktiert, nicht jedoch als dessen Partner und Verbündeter. Die wenig geglückte, tangentiale Begegnung von Honoratiorenund Massendemokratie, von vormodernem Gesellschaftsverständnis und moderner Interessenorganisierung, wie sie im Verhältnis der Fortschrittspartei zur sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung in den frühen 1870er Jahren zu verzeichnen war, beließ beide dem Liberalismus verpflichteten gesellschaftlichen Organisationsformen weitgehend bindungslos in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Sektor.

72 Gv 49/5.12.1876, S. 232: „Kundgebung des Zentralwahlkomitees der Fortschrittspartei“. 73 Vgl. hierzu Thomas Nipperdey, Die Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland vor 1918, in: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 279–318, hier S. 284, Anm. 9.

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Hans-Georg Fleck

6. Verspätete Bemühungen um Kurskorrektur Erst nach dem deutlichen Mandatsverlust bei den Reichstagswahlen 1877 formierte sich in der DFP eine Bewegung, die auf die Novellierung des fortgeltenden Gründungsprogramms von 1861 mit einer deutlichen sozialpolitischen Note abzielte. Der „Geschäftsführende Ausschuss“ der Partei hatte daraufhin eine Programmkommission eingesetzt, die im März 1877 ihren als „Hauptzielpunkte“74 firmierenden Programmentwurf vorlegte. Diesem Entwurf gesellten sich im Vorfeld des Parteitages zwei weitere Vorschläge hinzu: ein kompletter Programmentwurf des Leipziger Vereins der DFP mit dem markanten Titel „Entwurf eines Programms der demokratischen Partei“ sowie umfangreiche Änderungsvorschläge zur Vorstandsvorlage, die der leitende Redakteur der „Volks-Zeitung“, Adolf Phillips, eingereicht hatte.75 Alle drei Vorlagen konnten jedoch nicht auf die Zufriedenheit der sozialliberalen Gewerkschaften zählen, sparten sie doch präzise programmatische Forderungen zur Sozialpolitik aus. Lediglich Phillips hatte einzelne bildungs- und wirtschaftspolitische Anliegen der Gewerkschaften aufgegriffen. Der Parteitag stand dann allerdings ganz im Zeichen eines dogmatischen oder allenfalls taktierenden Wirtschaftsliberalismus.76 In seiner Eröffnungsrede gab Virchow den Ton an, indem er erklärte: „Wir müssen uns als unabhängige Männer, nach oben gegen die Regierung, nach unten gegen die Massen, welche die Gesellschaft bedrohen, hinstellen … Ich meine daher, daß wir unsere Unterstützung nach rechts suchen müssen in den unabhängigen Männern, in dem arbeitsamen Volke, in den Besitzenden, in der Mitte des guten alten Bürgertums.“77 Deutlicher konnte man dem bei der Mehrheit der „entschiedenen Liberalen“ virulenten Verständnis von „Gemeinwohl“, verbunden mit der Fiktion einer ‚partikularinteressenfreien Politik‘, wohl kaum Ausdruck verleihen. Eugen Richter schließlich bemühte sich, Virchow noch zu übertrumpfen, indem er – anknüpfend an die ideologischen Versatzstücke aus den Kreisen der „Freihändler“ – die Existenz einer „sozialen Frage“ überhaupt in Zweifel

74 Abgedruckt in: Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878, S. 226 f. Vgl. hierzu auch Gustav Seeber, Zwischen Bebel und Bismarck. Zur Geschichte des Linksliberalismus in Deutschland 1871–1893, Berlin (DDR) 1965, S. 20 ff. und S. 50 ff. 75 Vgl. hierzu: Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei. Verhandlungen desselben, Programm und Organisation der Partei, Berlin 1879, S. 25 ff. 76 Zur Typologie unterschiedlicher Ausprägungen des zeitgenössischen Liberalismus ist auf meinen zweiten Beitrag in diesem Band (S. 51 ff.) zu verweisen. 77 Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei (wie Anm. 75), S. 23.

Gewerkschaftlicher Sozialliberalismus und Deutsche Fortschrittspartei

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zog.78 Die Parteitagsergebnisse, insbesondere die faktische Weigerung der Parteiführung um Richter und der eindeutigen Mehrheit der Delegierten, sich auf sozialpolitische Aussagen im Parteiprogramm einzulassen, musste als eindeutige Absage an die GV-Bewegung gewertet werden. Es bedurfte weiterer 16 Jahre, bis der nach wie vor von Richter dominierte und mit „echtbismarckscher Taktik“79 geführte Teil des Linksliberalismus sich auf dem Eisenacher Parteitag der Freisinnigen Volkspartei im September 1894 unter dem Druck der gesellschaftlichen Veränderungen zu programmatischen Aussagen zur Sozialpolitik und zur Koalitionsfreiheit bereit fand.80 Nun kam im Lager des entschiedenen Liberalismus die Erkenntnis auf, dass man gesellschaftliche Entwicklungen schlicht verschlafen hatte – erst, aber höchst lendenlahm und sporadisch, im Richterschen, dann jedoch auch, und mit viel nachhaltigerer Wirkung, im anti-richterschen Linksliberalismus. Was hätten die sozialliberalen Gesellschaftsreformer der 1870er Jahre darum gegeben, wenn wenigstens die Formulierungen des Programms von 1894 schon 1878 Eingang in die Programmatik gefunden hätten – vor der Etablierung des Institutionengefüges im Geiste eines staatsgläubigen und paternalistischen Sozialinterventionismus der späten Bismarckzeit, vor dem Siegeszug der Sozialdemokratie?

78 Vgl. Ina Susanne Lorenz, Eugen Richter. Der entschiedene Liberalismus in wilheminischer Zeit 1871–1906, Husum 1981, S. 125 ff. 79 So ein Richter-Kritiker in seiner Berichterstattung zum Parteitag mit Blick auf Richters Führungsstil, zit. nach: Peer Kösling, Der Fortschrittliche Landesverein von Reuß j. L. (Gera) im Entstehungsprozess der Freisinnigen Volkspartei (1892–1894), in: Jahrbuch für Geschichte 33 (1986), S. 83–109, hier S. 93. 80 Vgl. hierzu meinen in Anm. 48 genannten Beitrag, spez. S. 77–80.

DETLEF LEHNERT

Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des modernen Sozialliberalismus

„I send you Dr. Brentano; he was our friend, before it was fashionable to be our friend“1

In John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“, die bei ihm auch im Kontext „Politischer Liberalismus steht“, findet sich der Denkbehelf eines „Schleiers des Nichtwissens“.2 Dieser soll eine vorurteilsfreie Ausgangsposition der Verständigung unter Freien und Gleichen ermöglichen. Über dem Gesamtwerk von Lujo Brentano liegt aber jenseits weniger Spezialisten teilweise noch im vordergründigeren Sinne ein so dichter Schleier des Nichtwissens, dass es ohne diesen zu heben kaum eine umfassende Neuentdeckung geben kann. Das begann schon mit seinem ungewöhnlichen Vornamen: Häufig wurde angenommen, dies sei eine Kurzform für Ludwig Joseph.3 Tatsächlich ist es aber der Taufname, den er bekam, weil seine Taufpaten mit Vornamen Louis und Joseph sich nicht einig wurden; also brachten sie beide zwei Buchstaben ein.4 1 So lautete die Empfehlungsnotiz des sozialliberalen Gewerkschaftsführers John Burns an seine Kollegen während des Streiks der Londoner Dockarbeiter 1889. „Ich bin nie auf etwas so stolz gewesen wie auf diese Einführung“, notierte der solcherart geehrte deutsche Gast in seinen Memoiren; vgl. Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 155. 2 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, S. 160; ders., Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 2003. 3 Vgl. Thilo Ramm, Lujo Brentano und die Entstehung des deutschen Arbeitsrechts, in: Lujo Brentano, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht, Hg. Thilo Ramm, Goldbach 1994, S. IL. So auch bei James Thompson, The reception of Lujo Brentano’s thought in Britain,1870–1910 – darin geradewegs als eine zusätzliche Bestätigung der Eingangsthese, Brentano „is now occasionally cited, but hardly ever read“ (S. 1); http://rose.bris.ac.uk/bitstream/handle/1983/915/Brentano%20in%20Britain.pdf? sequence=3 (15.7.2012, wie auch die folgenden Webadressen dieses Beitrags). Diese englischsprachige Rezeption konzentriert sich auf den frühen Brentano und seine Bezugnahme auf die englische Gewerkschaftsgeschichte im Kontext der ökonomischen Theorie. 4 Vgl. Brentano, Leben, S. 18 (mit weiteren, hier nicht in jedem Detail seitengenau belegten Informationen).

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Kontroverse Standpunkte miteinander auf höherer Ebene zu verbinden, wurde dann später auch ein intellektuelles Richtmaß für den 1844 in Aschaffenburg geborenen Lujo Brentano. Der Familienname lud allerdings zur Verwechslung geradezu ein: Immerhin waren die Schriftsteller Clemens Brentano und Bettina v. Arnim, geb. Brentano, die Geschwister von Lujos Vater Christian. Dieser war Gymnasiallehrer und publizierte katholisch inspirierte Texte. Lujos älterer Bruder Franz wurde so Priester und Philosophieprofessor. Wegen des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas kam es Anfang der 1870er Jahre aber zum gemeinsamen Bruch mit der Amtskirche. Der 1879 auch formell ausgetretene Bruder verlor daraufhin seine Professur in Wien. Sogar „Tante Bettina“5 hatte zuletzt kaum dem unpolitischen Klischee der Romantik entsprochen: Sie wollte schon im Vormärz recht eigenwillig die Monarchie demokratisch umdeuten, und ihr von der Zensur verbotenes „Armenbuch“ von 1844 formulierte, gestützt auf Datenmaterial im Umfeld des Weberaufstands, das Fazit: „die Reichen sind nicht ein gemeinsam Volk, da ist jeder für sich und nur dann sind sie gemeinsam, wenn sie eine Beute teilen auf Kosten des Volkes“.6 Wenn ihr Gegenentwurf als sozialromantisch erschien, dann ist zu bedenken, dass Bettina sechs Jahrzehnte vor Lujo geboren war, der überdies durch frühe Großbritannien-Aufenthalte eine Zeitreise in die industriekapitalistische Zukunft unternommen hat.

1. Englische Hintergründe des sozialliberalen Denkens Als Gast in Großbritannien war Brentano7, bei seiner älteren Schwester und deren Ehemann in Dublin vieles über dortige komplexe Verhältnisse erfahrend, anders als in seiner engeren Heimat einem Minderheitskatholizismus begegnet. Dieser fand im nonkonformistischen Liberalismus einen politischen Schutzheiligen gegen anglikanische Vormundschaft. Das war ein Teil des Ursprungsmotivs, um aus katholischem Herkunftsmilieu geistig-kulturell überhaupt einmal zum Liberalen werden zu können.8 Den anderen Teil lieferte die Begegnung mit empiristischer Aufklärungsphilosophie, die zuvor auch schon Kant zugleich „schottisch“ denken ließ. Eine doppelte Promotion 5 So pflegte Lujo ganz „natürlich“ von ihr zu sprechen: Frankfurter Zeitung Nr. 674 v. 10.9.1931 (Artikel anlässlich seines Todes). 6 http://www2.fh-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/19Jh/ArminBettina/bet_ arm6.html. 7 Die Kurzform meint im Folgenden immer Lujo Brentano. 8 Vgl. Brentano, Leben, S. 26.

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absolvierte Brentano 1866/67 zunächst als Jurist, dann als Nationalökonom.9 Er gehörte in dem Sinne zur „Historischen Schule“ der Nationalökonomie, dass er wie Otto v. Gierke bei den Juristen voluminöse Geschichtsdarstellungen hinterließ, die hier aber nicht mit der neueren Forschung abgeglichen werden können. Doch war das nur als Opposition zu den unhistorischen Konstruktionen der klassischen Nationalökonomie und keineswegs im Sinne des Historismus zu lesen, denn Brentano war erklärtermaßen, „was die Methode in den Sozialwissenschaften angeht, ein Anhänger von Auguste Comte“.10 Die 1871 angenommene Habilitationsschrift „Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine“ war insofern als doppelte Antithese zu lesen: Einerseits plädierte Brentano gegen konservativ-paternalistische Vorstellungen11 für die Arbeiter-Emanzipation aus kollektiver Selbsthilfe. Andererseits brachte er das Erfahrungswissen aus dem industriell fortgeschritteneren Großbritannien mit, dass in der frühen Sozialdemokratie kursierende Vorstellungen des „ehernen Lohngesetzes“ noch allzu naturalistisch argumentierten: Es würden etwaige Lohnsteigerungen durch Gewerkschaftskämpfe nur dazu führen, die Geburtenrate zu erhöhen und so jene Überschussbevölkerung zu erzeugen, die wiederum Lohndrückerei begünstige.12 Im Ergebnis könnten also Gewerkschaften im Kapitalismus nur „Sisyphosarbeit“ leisten. Hingegen sah Brentano in den Koalitionsbildungen die Chance für die Ware Arbeitskraft, sich dann gemeinschaftlich als Mensch zu behaupten: „Der Gewerkverein ist nichts als die dauernde, organisierte, systematische Koalition. Sein Zweck besteht in der Beseitigung aller der Nachteile, welche aus den besonderen Eigenschaften der Arbeit als Ware und des Arbeiters als Warenverkäufer dem Arbeiter erwachsen. Sein Ziel ist die Gleichstellung 9 Auch im volkswirtschaftlichen Kontext, der hier nicht intensiver behandelt werden kann, gibt es inzwischen Anzeichen einer Brentano-Renaissance: Michael Seewald, Lujo Brentano und die Ökonomien der Moderne, Marburg 2010; zu Brentano, Leben, vgl. auch die Einleitung zur Neuauflage Hg. Richard Bräu/Hans G. Nutzinger, Marburg 2004; aus der älteren Dissertationsliteratur: Otto Tiefelstorf, Die sozialpolitischen Vorstellungen Lujo Brentanos, Diss. Köln 1973. 10 Lujo Brentano, Zur Kritik der englischen Gewerkvereine, Leipzig 1872, S. 311. 11 Diese sah Brentano, Leben, auch beim Reichsgründer am Werke: „Bismarck stand ganz auf dem patriarchalischen Standpunkt des wohlwollenden Gutsbesitzers ... Er hatte kein Verständnis für das Streben des modernen Arbeiters nach Selbständigkeit“, womit auch die „Entwicklung von deutschen Gewerkvereinen“ gemeint war (S. 156 f.). 12 Lujo Brentano, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht, Leipzig 1877, erwähnt Lassalle mit der abschätzigen Sicht auf Gewerkschaften „als der vergebliche Versuch der Ware Arbeit, sich als Mensch zu gebärden“ (S. 231).

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der Arbeiter mit Verkäufern anderer Waren.“ 13 Nur Anbieter unverderblicher Waren konnten diese bei starkem Preisverfall zurückhalten und so den Markt beeinflussen. Nicht anderweitig versorgte Individuen mussten aber die Nutzung ihrer Arbeitskraft zwecks Lebensunterhalts kontinuierlich anbieten und waren bei sinkender Nachfrage von einer Abwärtsspirale bedroht. Insofern konnte erst die organisierte Verhandlungsposition der Arbeitskräfte ein annäherndes Gleichgewicht der Arbeitsmarktbeteiligten herstellen: „Der gewerbliche Arbeiter hat überhaupt keine abgerundete individuelle wirtschaftliche Existenz ähnlich dem Eigentümer. Er hat in wirtschaftlicher Beziehung gar nicht als individuelle Persönlichkeit, sondern nur als Exemplar einer ganzen Gattung Bedeutung“ (180). Die gewerkschaftliche Organisation bildete für Brentano die Grundlage eines genossenschaftlichen und nicht länger obrigkeitlichen Staatsverständnisses: „Gleichwie der Staat nichts vom Volk Verschiedenes, sondern nur das organisierte Volk, so ist der Gewerkverein nichts Verschiedenes von den Arbeitern einer Industrie“ (44). Das Eintreten für den Abbau der Behinderungen gewerkschaftlichen Engagements folgte also für Brentano gerade aus seinem Verständnis einer fortschrittsliberalen Nationalökonomie, die eben nicht mit betriebswirtschaftlichen Sonderinteressen verwechselt werden durfte. Die umfassende Entwicklung zur Konkurrenzgesellschaft brachte aber nach den Analysen Brentanos ein Übermaß an sozialer Ungleichheit: „Als allgemeines Ergebnis für die Wissenschaft zeigen die vorstehenden Untersuchungen also einmal den Satz, dass die Konkurrenz nur das Prinzip des Starken, der ökonomisch Ausgezeichneten, insbesondere also der Unternehmerklasse, die Vereinigung dagegen das der großen Masse der Arbeiter, des Mittelschlags, ist“ (318). Das bedeutete jedoch nicht, dass er Vorbehalte gegen die Bildung von Großbetrieben hatte: „Schon nach den bisherigen Erfahrungen zeigen sich die großen Arbeitgeber stets als die besten, die mittleren und kleinen stets als die drückendsten“ (336). Es sollten eben nur dem großbetrieblich organisierten Kapital die industriellen Gewerkvereine als gleichberechtigter Verhandlungspartner gegenübertreten, um die Teilhabe an den Produktivitätsgewinnen zu erlangen: „Mit fortschreitender und um sich greifender Zivilisation muss der natürliche Lohn notwendig wachsen; mit diesem Fortschreiten wird ein höherer Lohn stets mehr gerechtfertigt sein. Diese Erwägung zeigt aufs Neue, dass die Arbeiterfrage keineswegs eine bloße Lohnfrage, sondern dass sie eine Kulturfrage ist“ (219). Dabei konnte es für die Masse der Arbeiter weder um den Aufstieg in die Selbständigkeit noch um die nur ausnahmsweise über13 Brentano, Kritik, S. 26 (nachfolgende Seitenzahlen aus diesem Buch; die Schreibweise wurde stets gemäßigt modernisiert).

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lebensfähige Bildung von Produktionsgenossenschaften gehen. Ihm galt es bereits als Kulturfortschritt, wenn der „größere Konsum in der Form von edleren Genüssen auftritt, oder wenn der größere Lohn auf Beschaffung gesunderer Nahrung oder Wohnung verwendet wird“ (240). Auch Brentano ging von Vorstellungen des Bedarfs an kulturellem Aufstieg der Arbeiterschaft aus. Aber er hat mehr als sonst in bürgerlicher Perspektive üblich an empirischem Material und der vorgefundenen Lebenswirklichkeit anknüpfen wollen. Nach dem von Brentano aufgeführten Zeugnis des wichtigsten englischen Sachverständigen habe dieser „niemals ein einziges Beispiel von einem Arbeiter gehört, der eine Vereinbarung gebrochen habe. Dagegen habe er von einzelnen Arbeitgebern gehört, welche die Vereinbarung gebrochen hätten“ (300). Die individuell schwächere Verhandlungsposition konnte also gegenüber manchen bürgerlichen Vorbehalten die Vertragstreue der Arbeiterschaft verbürgen. Darüber hinaus werde die Etablierung von organisierter Kooperation der Tarifvertragsparteien die Konfliktformen weiter zivilisieren: „Sind die Arbeitskammern einmal die allgemein und gesetzlich bestehende Einrichtung geworden, so werden die Gewerkschaften notwendig aus einer kriegerischen Armee zu einer Friedenspolizei werden“ (299). Diese Kontrollfunktion meinte auch ganz wesentlich die Überwachung der Vertragstreue in den einzelnen Betrieben, die wie erwähnt mehr Skepsis bei den Arbeitgebern zu überwinden hatte. Die vorgeschlagene gesetzliche Regelung griff schon in manche wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen der 1920er Jahre perspektivisch voraus: „Es wird dann, – was Manche heute noch als Sozialismus verabscheuen, – nicht mehr in dem Belieben eines einzelnen Arbeiters oder einer einzelnen Firma stehen dürfen, ob sie die Arbeitskammer als ihre Behörde anerkennen“ (307 f.). Großbetriebliche Machtkonzentration und Abhängigkeit des gesamtgesellschaftlichen Lebens von Schlüsselindustrien ließen es unrealistisch erscheinen, die Regelung dortiger Verhältnisse der Privatwillkür von Einzelnen oder Gruppen zu überlassen. Seine Ablehnung bereits des methodologischen Individualismus der klassischen Ökonomie ließ Brentano deren Absonderung vom Gemeinleben kritisieren: „Die Dissonanz zwischen Volkswirtschaftslehre und Politik trat vielmehr erst dadurch ein, dass man in der Politik nach der Beseitigung der alten Ordnung sehr bald von den Rousseau’schen Staatsideen zurückkam, in der Volkswirtschaftslehre dagegen die Negierung jeglicher Organisation, einen bloßen Protest gegen die vom Mittelalter überkommenen gesetzlichen Ungleichheiten, zum absoluten Dogma erhob“ (367/Anm. 350). Natürlich wollte Brentano nicht ansatzweise in vorbürgerliche Formen zurück, jedoch an die Stelle des individualistischen den kollektiven Liberalismus setzen. Ein daraus folgender sozialliberaler Grundansatz zielte auf die Gemeinpflichtigkeit

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des Eigentums: „Der Besitzer von angesammeltem Vermögen ist nämlich in keiner Weise berechtigt, sich als absoluten Eigentümer zu betrachten ... Er soll erwägen, dass die Gesellschaft, indem sie die Konzentration von Reichtum in seinen Händen gestattet, von ihm erwartet, dass er denselben besser verwende als die Masse, wenn dieser Reichtum auf diese gleichmäßig verteilt wäre“ (337). Solche Optimierung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens meinte ersichtlich auch Universalität der Verteilungsgerechtigkeit: „Denn das Ziel unsres gesamten Strebens muss stets ein Zustand sein, dem wir, wie der gesamte Verlauf der Geschichte zeigt, immer näher kommen, wenn seine völlige Erreichung vielleicht auch stets eine Utopie bleibt, ein Zustand nämlich, in dem die gesamten Segnungen der Kultur der gesamten Menschheit zu Teil werden“ (339). Gerade weil Brentano die Vorzüge des freien Austausches von Gütern und Ideen schätzte und offensiv propagierte, konnte er nicht in sozialdarwinistischen Vorurteilen befangen sein, die internationale Beziehungen stets als den Nachteil für andere im Streben nach eigenem Vorteil konzipierten.14

2. Brentanos frühe Bezugspunkte in Deutschland Als deutschen sozialliberalen Bezugsautor konnte Brentano zuweilen Friedrich Albert Langes Werk „Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft“ (1865) zitieren.15 Nach dessen Tod führte Brentano diese Tradition auf veränderter Grundlage fort und sah in den praktischen Erfahrungen des Arbeitskampfs für die Kontrahenten neue Einsichten heranreifen: „Die Wunden, welche alle Arbeitsstillstände beiden Parteien, auch der siegreichen, schlagen, sind zu schmerzlich, als dass diejenigen, die sie empfinden, denselben unnötig sich wieder aussetzen“ (144). Durch seine Englandstudien fand er bereits mahnende „Spuren, dass nachdem die höchsten Schichten der Arbeiterklasse an den Segnungen der Kultur Anteil erlangt haben, dem befriedigten vierten ein unbefriedigter fünfter Stand gegenübertrete“ (168). Die Wirtschaft habe aber stets „den Bedürfnissen der Menschen zu dienen“ (262). Dabei folgte Brentano auch „dem Satze Kant’s , dass kein Mensch nur Mittel zum 14 Hingegen argumentierte Friedrich Naumann, National-sozialer Katechismus, Berlin 1897, ganz im Sinne des Sozialimperialismus von Max Weber, wenn er unterstellte: „Der Kampf um den Weltmarkt ist ein Kampf um’s Dasein“ und zur Einhegung der Kriege durch „Schiedsgerichte“ oder sonstiges Völkerrecht apodiktisch urteilte: „Das würde ganz vergeblich sein“ (S. 6 f.). 15 Vgl. u.a. Brentano, Das Arbeitsverhältnis, S. 199 ff. und 305 ff. (nachfolgende Seitenzahlen aus diesem Text Brentanos).

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Zweck für Anderes sein soll“ (305). Entgegen der Annahme stets vorrangig egoistischer Motive des Wirtschaftens beharrte er insofern auf der Möglichkeit eines untergründig wirksamen sozialökonomischen Humanismus. In einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Die liberale Partei und die Arbeiter“ hat Brentano 1877 die kritische Sicht bestehender Verhältnisse von der ökonomischen auf die politische Analyse übertragen. Er sah nach der Reichsgründung, die er ohne eigene süddeutsche Vorbehalte begrüßt hatte, ein „Gefühl satter Selbstzufriedenheit“ bei „deutschen Liberalen“ um sich greifen – „ähnlich dem der englischen Mittelklassen, nachdem sie in diesem Jahrhundert zu politischer Macht gelangt waren“. Und er komplettierte diese historische Analogie folgendermaßen: „wie es in England der Chartistenbewegung bedurfte, um die ideale Hingabe an die Heranziehung der Massen zu größerer Teilnahme an der Kultur in den Mittelklassen wieder zu wecken, so bedarf es vielleicht in Deutschland noch größerer Fortschritte der Sozialdemokratie, um neue Energie für die allgemeine Entwicklung in den Liberalen zu entzünden“.16 Das war frühzeitig die fundamental andere Version des emanzipatorischen Sozialliberalismus gegenüber jenen Varianten, die mit sozialpolitischen Zugeständnissen vergeblich die Arbeiter von der Sozialdemokratie abzuwerben trachteten. Das ein Jahr darauf erlassene Sozialistengesetz war in solcher Perspektive vor allem eine historische Niederlage des Liberalismus. In seiner Autobiografie erwähnt Brentano aus einer Gesprächsrunde des Vereins für Socialpolitik jener Zeit, dass sogar „Miquel, der damals Oberbürgermeister von Frankfurt war, sich zu einer Rede erhob, die in den Worten ausklang: das infamste Gesetz, das Gesetz, das uns um dreißig Jahre zurückgeworfen hat, ist das Sozialistengesetz. Verwundert sahen wir auf, denn der alte Kommunist war in sozialen Dingen reichlich reaktionär geworden, unsicher hinsichtlich der Koalitionsfreiheit, lediglich für Arbeiterausschüsse in den einzelnen Betrieben, gegen das gesamte Gewerbe umfassende Einigungsämter. Unser Staunen bemerkend, fuhr er mit seinen unsicheren Augen uns überschauend fort: ‚Wenn aber einer sich darauf beruft, dass ich dies gesagt habe, so leugne ich es‘, was wir mit schallendem Gelächter quittierten.“17 Wenn Miquel hier „von 30 Jahren zurück“ sprach, meinte solches nunmehr die endgültige Niederlage der Frankfurter Paulskirche. Diese Episode kennzeichnet epigrammatisch 16 Lujo Brentano, Die liberale Partei und die Arbeiter, in: Preußische Jahrbücher 40 (1877), S. 122. Dort merkte Brentano auch in einer Fußnote an, er habe „nur mit stillem Humor den Namen des ‚Kathedersozialisten’ über mich ergehen lassen“ (S. 113), denn sein Ausgangspunkt war genuin sozialliberal, nicht sozialpolitisch ergänzt staatskonservativ wie auch bei vielen bismarcktreu gouvernementalen Nationalliberalen. 17 Brentano, Leben, S. 122.

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das Dilemma von staatstragenden Nationalliberalen: Miquel hatte nicht einfach nur Jugendideale preisgegeben, sondern der Übermacht geschichtlicher Tatsachen sich angepasst – und doch zugleich noch versucht, auch manches vom gemäßigteren 1848er Erbe in die Reichsgründungsära hinüberzuretten. Solche liberale Generationshoffnung zerbrach an Bismarcks konservativen Wendejahren 1878/79. Dieser Einschnitt wurde umso tiefer empfunden, als unter dem Sozialistengesetz auch noch der vorausgehende Kurs einer liberalen Ökonomie in der Schutzzollpolitik verlassen wurde. Die von Brentano als radikale Vorläufer der späteren liberalen Reformen zitierten britischen Chartisten hatten neben Wahlrechtserweiterung, Arbeitszeitverkürzung und Gewerkschaftsrechten auch den Freihandel zur Lebensmittelverbilligung auf ihre Fahnen geschrieben. Mit dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte trat nun, in Kampfstellung gegen den liberale Hoffnungen weckenden Kanzler Caprivi, ein radikalisierter Agrarkonservatismus hervor. Um zu verstehen, warum nun auch gemäßigtere Liberale die Großagrarier zum Hauptgegner erklärten und sich eher die Kooperation mit der SPD vorstellen konnten, muss die antisemitisch-völkische Agitation jener nachbismarckschen Rechten mit bedacht werden. Zusätzlich erleichterten bald auch Reformismus und Revisionismus in der SPD die sozialliberale Annäherung.18 Nach wichtigen Stationen in Breslau und Straßburg lehrte Brentano dann seit 1891 bis zu seiner Emeritierung in München. Dort pflegte er intensiven Kontakt mit dem bayerischen SPD-Vorsitzenden Georg v. Vollmar, der sich auch eine „Neue Ära“ unter Caprivi erhofft hatte. Brentano bestätigt in den Lebenserinnerungen die Gesinnungsnähe: „Das, wofür Vollmar in seiner ‚Eldorado’rede eintrat, entsprach dem, was ich seit zwanzig Jahren vertreten habe.“19 Tatsächlich hatte Brentano schon in der Habilitationsschrift den Gegensatz von Staats- und Selbsthilfe in der Sozialpolitik unter Anerkennung erweiterter Staatstätigkeit überbrücken wollen: „Sobald der Staat wirklich die Organisation des Volkes ist und die Regierung das natürliche Zentrum des Volkslebens, kann, wenn der Staat den Willen des Volkes erfüllt, von Staatseinmischung gar nicht die Rede sein ... Das ganze Wort Staatseinmischung setzt daher schon einen Zustand des Staates voraus, wie 18 Zu Bernstein positiv: Lujo Brentano, Der soziale Friede und die Wandlungen der Sozialdemokratie, in: Allgemeine Zeitung (München) Nr. 112 v. 23.4.1899, S. 1 f.; weitere Hinweise bei James J. Sheehan, The Career of Lujo Brentano. A Study of Liberalism and Social Reform in Imperial Germany, Chicago 1966, S. 140. 19 Brentano, Leben, S. 170. „Man konnte damals hören, Bayern habe die beste Sozialdemokratie und die schlechteste Liberale Partei“, führte er weiter aus (S. 171).

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er nicht sein soll.“20 Brentano engagierte sich in den 1890er Jahren auch gegen die sog. Umsturz- und Zuchthausvorlagen, die jeweils am Reichstag scheiternde antigewerkschaftliche Rückfälle in die Repressionszeit des Sozialistengesetzes waren. Allerdings rügte er die allzu enge Anbindung von Gewerkschaften an Parteien.21 Darin kann er wohl sogar als ein früher Befürworter von Einheitsgewerkschaften gelten. Zeitgleich mit der Gründung von Friedrich Naumanns Nationalsozialen begann 1896 Brentano für Theodor Barths betont oppositionell gestimmtes Wochenblatt „Die Nation“ zu schreiben.22 Dort stellte er sogleich die ketzerische Frage, „warum der Liberalismus in England allein noch lebt“ – in dem Sinne, dass er weiterhin seine „Entwicklungsfähigkeit“ zeigt, während sonst ein politischer „Niedergang“ stattfinde. Parallel mit jener Kluft, die den kontinentalen Liberalismus von der „Arbeiterwelt trennt“, beraube er sich Brentano zufolge auch „der Sympathien der heranwachsenden Jugend der höheren Gesellschaftsklassen“. Diese wende sich „nicht bloß nach rechts, wo sich die Aussicht auf die Karriere eröffnet, sondern nicht minder nach links, wo nichts anderes als alle Art von Hintansetzung und Verfolgung als Lohn winkt“.23 Gerade in Deutschland kamen die liberalen Parteien kaum um die Entscheidung zu der Frage herum, ob sie gouvernemental im Rahmen des bestehenden Herrschaftssystems bzw. oppositionell im Sinne dessen grundlegender Veränderung ausgerichtet sein wollten.

3. Zunehmende Kritik an Friedrich Naumann In seiner ausführlichen Besprechung von Naumanns Programmschrift „Demokratie und Kaisertum“ wurden – neben Zustimmung gerade zur Situationsanalyse – auch die Spannungsfelder in manchen politischen Grundüberzeugungen ersichtlich: „Was aber ist Naumanns Ideal? Es ist die alle übrigen Völker überschattende Größe der deutschen Nation. Er ist vor allem deutsch-national bis in die Knochen.“24 Einerseits anerkannte Brentano durch20 Lujo Brentano, Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, Leipzig 1871, S. 126 f. 21 Vgl. Sheehan, Career, S. 101. 22 Die Mehrzahl dort erschienener Texte Brentanos behandelt volkswirtschaftliche Fragen mit einer gegen das konservative Agrariertum gerichteten Tendenz, was hier als linksliberale Selbstverständlichkeit nicht mit Zitaten und Quellenverweisen belegt werden muss; vgl. dazu Sheehan, Career, S. 134 ff. 23 Die Nation, 25.7.1896, S. 641 f. (Zuschrift von Lujo Brentano). 24 Lujo Brentano, Demokratie und Kaisertum, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München) v. 25.5.1900, S. 1.

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aus Naumanns Talent, als „Persönlichkeit“ die „divergierenden Parteien der Linken“ einander näher bringen zu können. Andererseits trat Brentano dem nationalsozialen Kurs folgendermaßen entgegen: „In der Art und Weise, wie er z.B. die Flotte empfiehlt, hat Naumann sich völlig vergriffen. Er redet als Gewaltsverherrlicher, als seien es Mitglieder des Alldeutschen Verbandes, an die er sich wendet, und nicht Sozialdemokraten.“ Überdies bemängelte er, dass Naumann Tendenzen zum „Kolonialfanatiker“ zeige und „den Agrariern hinsichtlich der Fleischeinfuhr Konzessionen macht“, entgegen der Freihandelspolitik. Brentano formulierte seine eigene kontrastierende Position nicht minder pointiert: „Die Grundidee der von Naumann erhofften vereinten Linken kann nur die Rechtsidee, nie der nackte Machtgedanke sein.“25 Das war tatsächlich der springende Punkt, wo aber neben einer nationalsozialen Popularisierung – Naumann: „Was nützt uns die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?“26 – die geistige Urheberschaft bei Max Weber in seiner frühen alldeutschen Phase hervorzuheben ist.27 Beim vormaligen Pfarrer Naumann sah Brentano außer dem nationalimperialistischen offenbar auch ein protestantisches Vorurteil am Werke. Denn jener stempelte das katholische Zentrum zur „notwendig antidemokratischen Partei“ ab. Hingegen verstärkten sich auch dort aus der Sicht Brentanos „die demokratischen Tendenzen“.28 Die als Sprachrohr der süddeutsch-demokratischen Linksliberalen wirkende „Frankfurter Zeitung“ nannte ausdrücklich „den Willen zu einer ernsthaften Sozialpolitik“ und die „Abneigung gegen die Ausschreitungen des Militarismus“ als Bedingungen für die erstrebte „innere Annäherung der Parteien der Linken“.29 Insofern scheiterte diese – für mindeste parlamentarische Wirksamkeit dringend erforderliche – Verbindung wenigstens der linksliberalen Strömungen noch an mangelnder

25 Ebd., S. 4. 26 Die Hilfe, 14.7.1895, S. 2. 27 Neben klugen Bemerkungen findet sich bei Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, u.a. dieses: Es waren „Rassendifferenzen zwischen Nationalitäten im ökonomischen Kampf ums Dasein“ aufzuzeigen (S. 2); im „ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art“ habe Wissenschaft den „dauernden machtpolitischen Interessen der Nation“ zu dienen (S. 14); das sei „uns ökonomischen Nationalisten“ (S. 18) das Leitmotiv, und zwar auch im Sinne einer „deutschen Weltmachtpolitik“ (S. 23). 28 Brentano, Demokratie, S. 4. 29 Frankfurter Zeitung Nr. 315 v. 13.11.1903, S. 2 (Nachbemerkung der Redaktion zu einer Zuschrift von Lujo Brentano).

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V.l.n.r: Lujo Brentano mit Ehefrau Valeska, Friedrich Naumann und Elly Knapp, die 1908 Theodor Heuss heiratete (Foto ca. 1903, Archiv des Liberalismus der FNF/Gummersbach)

Aufgeschlossenheit für neue sozialpolitische Akzente bei der Richterschen und zu viel Nationalimperialismus bei der Naumannschen Grundrichtung. Dennoch motivierte der Beitritt von Naumanns wahlpolitisch gescheiterten Nationalsozialen zur Freisinnigen Vereinigung 1903 auch Brentano zur Mitwirkung. In seiner Beitrittserklärung in Barths Zeitschrift betonte er, daß der „Gedanke der Freiheit für alle“, damit besonders diejenige der zuvor „Unterdrückten“, sein Leitmotiv bleibe. Dabei bezog er sich wieder auf Stichworte der humanistischen Aufklärung: „Somit ist der Kantsche Satz, daß kein Mensch nur Mittel zum Zweck für anderes sein solle, der Gedanke, der den Liberalismus in seinen Anfängen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens geleitet hat“. Leider habe der „zur Herrschaft gelangte Liberalismus den vorgenannten Kantschen Satz auf wirtschaftlichem Gebiet vergessen“. Stattdessen war nunmehr ein Privilegienkartell mit Konservativen formiert, das Brentano sarkastisch kommentierte: „Besteht doch für viele der Unterschied zwischen konservativ und liberal lediglich in dem Unterschied von agrarischen und industriellen Schutzzöllen.“30 Wer angesichts seiner weitgehenden sozialpolitischen Vorstellungen bezweifelt, ob Brentano überhaupt ein in 30 Die Nation, 10.10.1903, S. 18 (Zuschrift von Lujo Brentano).

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der Wolle gefärbter Liberaler geblieben ist, kann die kleine Broschüre „Das Freihandelsargument“ lesen, die im Buchverlag von Naumanns Zeitschrift „Die Hilfe“ erschien.31 Auch die Erfahrung, dass wie radikale Chartisten ebenso Sozialdemokraten den entschiedenen Liberalismus in der Freihandels- und Grundrechtspolitik unterstützten, ließ Brentano zum Leitbild der allgemeinen und gleichen Freiheit so urteilen: „Auch der Sozialismus verfolgt kein anderes Ziel“, und daher sei es verfehlt, wenn der Liberalismus sich „vorurteilsvoll gegen ihn abschloß“.32 Was er auf Wahlkundgebungen der SPD höre, folge wesentlich dem „Liberalismus derjenigen, welche gegenüber der engherzigen Exklusivität Privilegierter das Recht aller auf größtmögliche Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten und auf eine dieser entsprechenden Beteiligung an den Segnungen der Kultur zur Geltung zu bringen suchten“. Letztlich bestanden für Brentano die Krisenerscheinungen nicht allein in Fragen von Interessenund Machtpolitik, sondern bereits in der Grundhaltung, die er scharf kritisierte: „Der Fehler des Liberalismus war sein Dogmatismus. Er hat ihn illiberal gemacht – engherzig und intolerant.“ Die Abschließung der liberalen Partei habe schon begonnen, „als sie z.Zt. des Verfassungskonfliktes Lassalle ihre Reihen verschloß“. Bei den Nationalsozialen kritisierte Brentano die im Ursprung „falsche Adresse“ ihrer engagierten politischen Überzeugungsarbeit: „Statt das Bürgertum für ihren sozialen Ideenkreis, suchten sie die Arbeiter für ihre nationale Denkweise zu gewinnen.“33 Einen sozialpolitisch neu orientierten Liberalismus in den Mittelschichten zu verankern und diesen mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu verbinden, war das alternative und seiner Überzeugung nach allein erfolgversprechende Konzept. Die Abneigung gegen den Agrarkonservatismus und ein Privilegienkartell bis hin zur Schutzzöllnerei brachte zuletzt auch seinen wirtschaftsliberalen Antipoden Ludwig Bamberger zu einer Neuorientierung. Mit sichtlicher Genugtuung registrierte Brentano, dass Barth auch nur ähnlich über das not31 Vgl. Lujo Brentano, Das Freihandelsargument, 2. Aufl. Berlin 1910, mit dem Fazit, dass es „nichts Antinationaleres geben kann, als das heutige ‚nationale Schutzzollsystem’“ (S. 44). Auch wenn bei Marx stets eine dialektische Pointe zu bedenken war, den Kapitalismus über innere Gegensätze rasch über sich hinaus entwickeln zu lassen, formulierte Engels 1888 auch unabhängig davon in aller Klarheit: „Der Schutzzoll ist im besten Falle eine Schraube ohne Ende und man weiß nie, wann man mit ihm fertig ist ... Das schlimmste beim Zollschutz aber ist, daß man ihn so leicht nicht wieder los wird“ (MEW 21, S. 365 u. 367). 32 Die Nation, 10.10.1903, S. 19 (Zuschrift von Lujo Brentano). 33 Lujo Brentano, Die nationalsozial-freisinnige Vereinigung, in: Die Nation, 8.8.1903, S. 707 f.

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wendige Bündnis mit der SPD dachte „wie Bamberger und Mommsen an ihrem Lebensabend: dass man sie erfinden müsste, wenn sie nicht existierte. Dabei sollte sie allerdings ihren intransigenten Charakter abstreifen; aber das werde allmählich von selbst erfolgen, wenn man erst aufhöre, sie intransigent zu behandeln“. Anlässlich des Todes von Barth, dessen publizistische Friedensdiplomatie sogar mit der Ehrendoktorwürde der Harvard-Universität ausgezeichnet wurde, machte sich Brentano 1909 zusätzlich außenpolitische Sorgen: „Wie sehr hat sich doch das Verhältnis des deutschen Volkes zu andern Völkern verändert! Heute sind wir allenthalben Gegenstand von Abneigung und Mißtrauen ... Da stehen wir nun, illiberal im Innern und nach Außen bisher nur mit reaktionären Mächten intim.“34 Als er dies formulierte, war die DailyTelegraph-Affäre noch in naher Erinnerung. Das Erstaunen darüber hielt sich bei Kundigen eher in Grenzen. Die berüchtigte „Hunnenrede“ Wilhelms II. vom Sommer 1900 war auch bereits überhaupt nicht vom Weltgeist inspiriert gewesen.35 Dass Naumann sie verteidigte, wusste übrigens Brentano einige Monate zuvor bei seiner Buchbesprechung noch nicht, als er bereits vor Gewaltverherrlichung warnte. Ein politischer Bruch zwischen Brentano und Naumann erfolgte 1908 im Konflikt um den antipolnischen Sprachenparagrafen im Reichsvereinsgesetz, der insoweit auch die gerade im Bergbau zu erheblichen Teilen polnischen Arbeiter betraf. Dass auch die linksliberale Mehrheit zugunsten anderer Fortschritte der Gesamtvorlage zustimmte, trieb Brentano zu dieser scharfen brieflichen Kritik an Naumanns Begründung: „Das ist, verzeihen Sie, als hätte es Schmoller geschrieben ... Ich habe mein Leben zugebracht in dem Kampf für das Koalitionsrecht der Arbeiter ... Als Sozialpolitiker sind sie [die Unterstützer der Regierungsvorlage, D. L.] für mich tot. Ein Liberalismus aber, der sich zur Annahme solcher Gesetze versteht, hat als solcher bereits aufgehört zu existieren. Was sich liberaler Abgeordneter nennt, ist dann nichts mehr als ein Bürgerlicher, der sich danach sehnt, gleichviel unter welchen Bedingungen, zu den Regierenden zu gehören.“36 Auch öffentlich bekräftigte Brentano seinen abweichenden Standpunkt und warnte vor dem Schleifen einer letzten Bastion möglicher liberaler Arbeitnehmerpolitik: „War doch das Koalitionsrecht und seine Wahrung, wenn nicht das einzige, so doch das vor34 Ders., Am Grabe Theodor Barths, in: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur 3 (1909), S. 427–432. 35 Kurz bevor dort Brentano, Leben, auch Naumanns „törichte Hunnenrede“, die „ganz unkritisch von Alldeutschtum überfloß“, gegeißelt hat, bemerkte er pointiert regimekritisch: „Wilhelm II. war bald nach seiner Thronbesteigung sein eigener Reichskanzler geworden“ (S. 228 f.). 36 Brentano an Naumann 2.4.1908, in: Brentano, Leben, S. 280.

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nehmste Inventarstück der liberalen Sozialpolitik.“37 Wer als marktfähig verwertbares Eigentum wesentlich nur die Nutzung seiner Arbeitskraft anzubieten hatte, konnte nach Brentanos Überzeugung schon um des entschiedenen Liberalismus willen auf möglichst ungehinderter Wahrnehmung auch der gewerkschaftlichen Koalitionsfreiheit insistieren. Aus pointiert kritischer Sicht – trotz bis zuletzt großer persönlicher Wertschätzung – lag für Brentano das Problem mit Naumann darin, dass sich dessen Sozialliberalismus weiterhin einem Nationalimperialismus eingeordnet hatte: „Seine nie ganz erstorbenen alldeutschen Ideengänge sind während des Krieges in seinem glänzenden, aber unsinnigen Buche über ‚Mitteleuropa’ wieder zur Herrschaft gelangt ... Das Buch hat uns unendlich geschadet. Es wurde alsbald ins Englische übersetzt und, wie man mir gesagt hat, in vielen tausend Exemplaren in den Vereinigten Staaten verbreitet. Es wirkte dort als ein glänzender Beleg für unsere Ansprüche auf Unterwerfung der Welt unter die deutsche Hegemonie.“38 Die antienglische Stoßrichtung des von Naumann unterstützten Flottenimperalismus hat nun einmal deutsche Politik mit in eine welthistorische Sackgasse geführt, auch wenn dieser persönlich nach der Daily-Telegraph-Affäre gemäßigter auftrat: Sie machte sich mit Großbritannien dann schließlich auch die USA zum Kriegsgegner – und das wohlbemerkt unter einem demokratischen Präsidenten Wilson, der gegen die Stimmung im eigenen Lande den Völkerbund gründete und dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

4. Auseinandersetzungen mit Max Weber, Sombart und Schmoller Nicht das Verdikt Max Webers auf der nationalsozialen Gründungsversammlung: „wir haben die Polen zu Menschen gemacht“, entsprach der Auffassung Brentanos, sondern eher Hellmut v. Gerlachs Antwort darauf: „Die Nietzschesche Herrenmoral werde ich in der Politik nie mitmachen“.39 Als späterer akademischer Säulenheiliger für den deutschen Liberalismus wurde Max Weber von Brentano auch so freimütig ambivalent beurteilt wie Naumann. Auf der 37 Lujo Brentano, Die linksliberalen Anträge zum Koalitionsrecht, in: Berliner Tageblatt Nr. 192 v. 14.4.1908, S. 1. 38 Brentano, Leben, S. 325. Man könnte auch die alternative Überlegung anstellen, ob frühzeitige deutsche Friedensinitiativen im Sinne der strikten Beschränkung auf ein Mitteleuropakonzept – unter Respektierung der Einflusszonen anderer Großmächte – vielleicht die instabile Versailler Zwischenkriegsordnung hätten vermeiden können. 39 Zit. nach Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 58.

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einen Seite bekundete er hohe persönliche Wertschätzung: Weber sei ein „Mann von ungewöhnlichem Geiste, außerordentlicher Gelehrsamkeit und unerbittlichem wissenschaftlichen Ernst“.40 Das waren keineswegs nur kollegiale Höflichkeitsfloskeln, denn Brentano versuchte Weber nach München zu holen, und sein Lehrstuhlnachfolger ist er 1919 tatsächlich geworden. Nachdem Weber jedoch seine Protestantismus/Kapitalismus-These veröffentlicht hatte, die ihn später weltberühmt machte, kritisierte Brentano dies als „petitio principii“.41 Denn Weber definiere als „’Geist des Kapitalismus’“ gerade jene Merkmale, die als der „ethisch gefärbte Erwerbstrieb“ (283) dann auch nur auf bestimmte religiöse Gruppen zutrafen. Brentano hielt ihm entgegen, „daß er die heidnische Emanzipation vom Traditionalismus, die von Italien ausging, ganz vernachlässigt“ habe, ferner „die puritanische Ethik die traditionalistische Wirtschaftsethik des Kleinbürgertums gewesen ist, in welcher sich der Handwerkergeist der zweiten Hälfte des Mittelalters in seiner Weiterentwicklung gespiegelt hat, und daß Franklin die Berufspflicht des Bürgers keineswegs im Gelderwerb um des Geldes wegen erblickt hat. Damit ist Webers Frage erledigt“ (307). Das entspricht – weniger apodiktisch formuliert – auch einer inzwischen recht häufig anzutreffenden Skepsis gegenüber der empirischen Stichhaltigkeit der zudem überinterpretierten Weberschen These.42 Zwar brachte für Brentano erst die „empirische Philosophie“ (310) das Vollbild der modernen Wirtschaftsgesinnung hervor. Doch fand er den Impuls der Bewährung im Berufserfolg nicht nur bei „Hugenotten“ wie in Webers Familie, sondern auch bei „Katholiken in der Diaspora“ (286). Als Beispiel konnte Brentano sogar die eigene am Comer See in Nordwestitalien beheimatete Familie anführen: „In demselben 17. und 18. Jahrhundert, in dem nach Max Weber der Calvinismus das Aufblühen der Länder im protestantischen Norden verursacht haben soll, hat sie ihre Söhne eben dahin entsendet; diese 40 Lujo Brentano, Judentum und Kapitalismus, in: Ders., Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte, Hg. Richard Bräu/Hans G. Nutzinger, Marburg 2008, S. 314 (dort gesammelte Texte wurden im späten Kaiserreich verfasst). 41 Lujo Brentano, Puritanismus und Kapitalismus, in: Ders., Mensch, S. 284 (nachfolgende Seitenzahlen aus diesem Text). 42 Vgl. kritisch Heinz Steinert, Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2010. Eine statistische Analyse basierend auf dem Gebiet des Alten Reichs und davon „272 cities in the years 1300–1900“ ergibt „no effects of Protestantism on economic groth“; http://www. people.fas.harvard.edu/~cantoni/cantoni_jmp_2_7_1.pdf. Eine andere Studie findet zwar begrenzt auf Preußen durchaus konfessionelle Unterschiede, sieht deren Ursache aber in einem über das Selbstlesen der Bibel angeregten protestantischen Bildungsvorsprung; http://epub.ub.uni-muenchen.de/1366/1/weberLMU.pdf.

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haben in Amsterdam, Breslau, Mannheim, Augsburg, Frankfurt und a.a.O. Geschäftshäuser gegründet, in denen sie im Kolonialwarenhandel und gleichzeitig als Bankiers großen, einzelne sehr großen Reichtum erworben haben“ (286). Brentano spottete geradewegs über die Engführung von Webers These, indem er sich auf die eigene Familientradition bezog: „Noch der ältere Bruder meines Vaters, Franz Brentano, der bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts das von meinem Großvater übernommene Geschäftshaus in Frankfurt geleitet hat, war einer der ersten Frankfurter Kaufleute seiner Zeit. Aber er war ... Katholik, selbst zur Zeit, da alle seine Geschwister ungläubig waren.“ Und „er war trotz seines außerordentlich erfolgreichen Geschäftssinns kein Banause, der puritanisch in jedem, selbst dem edelsten Genusse etwas Sündhaftes erblickte“ (287). Das hatte mehr als nur in Untertönen etwas von einer akademischen Familienfehde hinsichtlich des kulturellen Erbes, machte aber zugleich hintergründige Wertvorstellungen deutlich. So richtig in allen Belangen heimisch konnte sich der offenbar auch in Alltagsfragen liberal gesinnte Brentano nicht im damaligen „Deutschland, dem Land der Verbote“43 fühlen. Auch der nach eigenem Bekunden religiös „unmusikalische“ Weber erschien noch als verstrickt in einen nationalprotestantisch säkularisierten „Kulturkampf“. Der ihn auf dem Historikertag 1906 vertretende Heidelberger Theologen-Kollege Ernst Troeltsch betonte ähnlich „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“.44 Außer Norditalien und nicht-reformierten Teilen Süddeutschlands vernachlässigte Weber auf seiner transatlantischen Gedankenreise wirtschaftsgeschichtlich auch die Hanse vom Ostseeraum bis zu den Niederlanden.45 Zwar lag deren Blütezeit 43 Brentano, Leben, S. 147 (dort bezieht er sich auf die Episode, dass aus Gewohnheit eines Auslandsaufenthalts seine kleine Tochter im benachbarten Park Blumen gepflückt hatte und die Familie dafür Polizeibesuch bekam). 44 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Historische Zeitschrift 97 (1906), S. 1–66. 45 Wenn die Schweiz und die Niederlande sowie Großbritannien und die USA als Hauptkandidaten für „calvinistische“ bzw. „puritanische“ Wirtschaftsgesinnung gelten dürfen, verbindet sie nur in der Gegenwartsepoche die starke Position des Handels- bzw. Finanzsektors. Hingegen waren im Zeitalter der englischen Industrialisierung und entsprechender Handelsströme die Schweiz und die USA noch Agrarländer. Überdies darf nicht vergessen werden, dass die Schweiz, die Niederlande und die USA starke katholische Minderheiten aufweisen und für Großbritannien die Irlandfrage wesentlich auch im Konfessionsgegensatz wurzelt. Mit Blick auf das ebenfalls konfessionsgespaltene Deutschland könnte man insofern die Weber-These freundlich als Beleg für die Produktivität eines inneren Pluralismus einstufen, wenn sie nicht ideologiekritisch als Selbsterhöhungslehre eines kulturprotestantischen Milieus in Konkurrenzlage gelten soll.

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lange zurück, aber es blieb symbolkräftig, dass sich eine modernere liberale Wirtschaftsgesinnung im späten Kaiserreich als „Hansa-Bund“ formierte.46 Die Besonderheit von Brentanos Denkansatz lag wiederum in einer Verbindung zweier Ausgangspunkte. Einerseits teilte er die bei Karl Marx und auch Werner Sombart formulierte Definition des Kapitals als einen immer wieder neuen „’Mehrwert heckenden Wert’“.47 So formulierte Brentano zu Troeltsch und Weber die Gegenthese, „daß die ethische Beurteilung durch die Wirtschaftsentwicklung bestimmt wird“48. Andererseits führte er dies jedoch auf handelskapitalistische Ursprünge zurück: Die Intensivierung der Landwirtschaft und die industrielle Massenproduktion konnte nur Sinn machen, wo über regionale Bedarfsdeckung hinaus auch expandierender Handel betrieben wurde. Im großen Stil war dies ohne Flankierung durch Kredite kaum möglich. Also bedeutete dann moderner Kapitalismus immer auch das Wagnis des Finanzkapitals und nicht „solchen ethisch verklärten Geiz“49, wie Brentano sich Webers Bild des Puritanismus darbot. Schon bei Marx und erst recht bei Sombart versperrte aus der Sicht Brentanos ein Ressentiment gegen die als parasitär angesehene Zirkulationssphäre den Blick auf die Geschichtsmächtigkeit der handels- und finanzkapitalistischen Eigendynamik von ursprünglicher Akkumulation. Wie sehr gerade Sombart, noch weit über Weber hinaus, die Vorurteile seiner Lebenswelt zum Inhalt seiner thesenfreudigen Schriften gemacht hat, ist Gegenstand einer der schärfsten akademischen Polemiken Brentanos geworden. Über Sombarts 1902 erschienenes Werk „Der moderne Kapitalismus“ lohnte noch die Fachdebatte. In dieser hat Brentano seine Antithese vom Primat handelskapitalistischer, römisch-rechtlich flankierter Auflösung der Feudal- und Ständeordnung profiliert. Sombarts Publikation „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ nannte Brentano dann aber „eine der betrüblichsten Erscheinungen auf dem Gebiete der deutschen Wissenschaft“.50 Ein Satz aus Sombarts Buch von 1911 mag ausreichen: „Der homo Judaeus und der homo capitalisticus gehören insofern derselben Spezies an, als sie beide homines rationalistici artificiales sind.“ Welche Banalität in Sombarts gekünstelter Lateinphraseologie verborgen war, rekapitulierte Brentano wie folgt: „Die germanischen Völker, lehrt er, sind aufgewachsen im Wald und am Wasser. Da 46 Vgl. Siegfried Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909–1914, Göttingen 1976. 47 Lujo Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus (1913), in: Ders., Mensch, S. 172. 48 Brentano, Puritanismus, S. 273/Anm. 1. 49 Ebd., S. 284 f. 50 Brentano, Judentum, S. 314.

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herrscht Nebel ... Die Juden dagegen stammen aus der Wüste ... In der Wüste ist der Himmel klar ... Der Blick schweift ins Unendliche. Da ist der Sitz des abstrakten Denkens statt des konkreten Empfindens.“51 Kein Wunder also, wenn Brentanos Fazit zu solchen Gedanken Sombarts lautete: „Das Buch ist voll der Frivolitäten eines sich als Übermensch fühlenden Übermütigen, der die Seifenblasen seiner Laune dem durch Geistreicheleien verblüfften Leser mit souveräner Verachtung ins Gesicht bläst und dazu von ihm verlangt, dass er seine Einfälle als ‚unwiderleglich richtige’ wissenschaftliche Sätze annehme.“52 Von solcher Ideologieproduktion musste sich Wissenschaft auch dann fernhalten, wenn politisch-weltanschauliche Richtungsunterschiede unvermeidlich mit hineinragten. Brentano konnte sich dann nur bestätigt finden, als Sombart in dessen Kriegsschrift „Händler und Helden“ das „deutsche Volk“ als das „auserwählte Volk dieser Jahrhunderte“, als „Vertreter des Gottesgedankens auf Erden“ stilisierte und eine Herrenvolkideologie verbreitete: „So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutsche sich erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt, und er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt“.53 Neben einer „möglichst großen wirtschaftlichen Autonomie“, in Kontinuität seiner Vorurteile gegen Händler, bedeutete dies bei Sombart auch Kulturüberheblichkeit: „Wir verstehen alle fremden Völker, keines versteht uns, und keines kann uns verstehen.“54 Die Leitideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ denunzierte Sombart als „Händlerideale, die nichts anderes bezwecken, als den Individuen bestimmte Vorteile zu verschaffen“.55 Dass er sich in den 1920er Jahren der „Konservativen Revolution“ zuwandte, kann insofern nicht überraschen. Sogar Brentanos einstigem sozialpolitischen Weggefährten Gustav Schmoller entgleiste 1916 in der Polemik gegen das als „orthodox demokratisch“ abgelehnte Volksstaats-Plädoyer von Hugo Preuß die Wortwahl: „Er ist einer der Häuptlinge des Berliner kommunalen Freisinns ge­worden, der, sozial auf semitischer Millionärsbasis beruhend, unsere Hauptstadt mehr oder weniger beherrscht.“56 Sogar abgesehen vom Ressentiment war dies frei von Sachkenntnis formuliert, wobei nicht einmal der 1912 bis 1920 amtierende 51 52 53 54 55 56

Ebd., S. 324 u. 350. Ebd., S. 315. Werner Sombart, Händler und Helden, München 1915, S. 142 f. Ebd., S. 133 u. 135. Ebd., S. 113. Darüber hinaus erwähnte Schmoller die Frage, ob „irgendein großes politisches Talent jüdischer Rasse heute noch nicht so rasch, wie seine Freunde es wünschen, den für ihn passenden Ministersessel findet“, und formulierte die Gegenthese zu Preuß: „Jeder gut

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Oberbürgermeister Adolf Wermuth erwähnt werden muss, der wohl eher zu den reformwilligen Sozialpolitikern als zum Kommunalfreisinn gehörte.57 Preuß war 1910 außer von der eigenen kleinen Fraktion, die sich als Sozialfortschrittler bezeichnete, vor allem mit sozialdemokratischen, daneben mit Stimmen aus einer anderen linksliberalen Gruppierung jenseits des alten Kommunalfreisinns zum unbesoldeten Stadtrat gewählt worden. Weit davon entfernt, einer ihrer „Häuptlinge“ zu sein, hat dieser Berliner Kommunalfreisinn vielmehr dafür gesorgt, dass auch der Verfassungsvater Preuß nie Reichstagsabgeordneter werden konnte.58 Aber Schmoller hatte 1913 in seiner Zeitschrift bekundet, dass er „in den Traditionen des deutschen monarchischen Beamtenstaates bleiben wollte“, hingegen in seiner Sicht der linksliberale Kollege „Brentano mehr in die Bahnen westeuropäisch-demokratischer Ideale einmündete“.59 Gegenüber der noch harmonisch erscheinenden Gründungszeit des Vereins für Sozialpolitik hatten sich die Wege getrennt, indem Schmoller konservativer geworden war, hingegen Brentano schon über die Gewerkschaftsfragen sich eher dem reformistischen SPD-Flügel annäherte. Im Ersten Weltkrieg bot der politische Meinungsstreit dann ungleiche Chancen, wie Brentano allen schönfärberischen Darstellungen entgegenhielt: Er verfüge über „eine ganze Liste“ auch von „Unterdrücktem“, was die Zensur nicht ans Leserpublikum gelangen ließ.60 Öffentlich bekannt geworden und wegen der Fortführung von früheren Gedanken noch zu berücksichtigen sind Brentanos Stellungnahmen zur weiteren Parlamentarisierung. Die Ausgangslage hielt er für wenig geeignet, wie zuvor noch in der Zeit der Paulskirche und der Reichsgründung die besten Köpfe des Landes in die Politik zu bringen: „Aber das deutsche Staatsleben ist kein parlamentarisches, sondern ein bureaukratisches, verbrämt mit einem Parlament.“61

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regierte Staat aber muß eine starke, feste Obrigkeit haben“; Gustav Schmoller, Walther Rathenau und Hugo Preuß (1916), München 1922, S. 21, 24 u. 37 f. Vgl. Adolf Wermuth, Ein Beamtenleben, Berlin 1922. Zu verschiedenen Aspekten seines Wirkens vgl. Detlef Lehnert (Hg.), Hugo Preuß 1860–1925, Köln 2011. Brentano, Leben, S. 98, nach Schmollers Jahrbuch 37 (1913), S. 14 f. zitierend. Vgl. ebd., S. 324 f.; auch wegen dieser besonderen Umstände, aber vor allem weil die Einbeziehung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, können hier bis auf wenige begründete Ausnahmen nicht mehr Wortmeldungen von Brentano seit 1914 berücksichtigt werden (wozu die Memoiren nicht gehören, insoweit sie Vorkriegsangelegenheiten mit damaligen Materialien betreffen). Lujo Brentano, Über die Wirkungen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, in: Neue Freie Presse, 15.5.1910, S. 5.

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Auch kurz nachdem die Friedensresolution des Reichstags keinen Richtungswechsel in der Regierungspolitik bewirkt hatte, beklagte er bitter den „Scheinparlamentarismus“ als langfristige Erblast des Ursprungsmangels, „daß Bismarck die Reichsverfassung ausschließlich auf seinen Leib zugeschnitten hat“.62 Ohne eine Persönlichkeit vom Format des Reichsgründers konnte deutsche Politik so nicht mehr den Anforderungen einer neuen Epoche gerecht werden. Dem Vorwurf der „Engländerei“ konnte Brentano mit dem Hinweis begegnen, dass Beharrungskräfte gegenüber einer Verwaltungsreform sich vormals „gerade absterbende englische Institutionen nur zu sehr zum Vorbild genommen“ hatten. Nach der Ablösung eines Parlamentarismus der Aristokratie durch jenen des englischen Bürgertums „mit der Wahlreform 1832“ sei „mit der weiteren Demokratisierung der Verfassung“ eine neue Entwicklungsphase zu verzeichnen: „Das Parlament aber ist zum bloßen Mundstück des Volkes geworden. Es bestimmt nicht mehr den Premier, der das Kabinett bildet. Viel eher wird es auf die Person des Premierministers gewählt. Solange dieser des Volkes Vertrauen hat, bleibt das Parlament ihm treu.“63 Ansatzweise findet sich diese Analyse auch schon in Brentanos kritischer Besprechung von Naumanns Kaiserbuch: „Die parlamentarische Regierung im alten Sinne hat in England aufgehört, und an die Stelle derselben ist die Herrschaft des leitenden Ministers getreten, der persönlich das Vertrauen der Wählermassen genießt“.64 Auch viele Linksliberale waren so für die präsidialdemokratische Komponente der Weimarer Verfassung disponiert, weil sie den englischen Premier nunmehr in der Praxis ähnlich plebiszitär legitimiert sahen wie den volksgewählten Präsidenten der USA.65

62 Ders., Weitere Vorteile einer Parlamentarisierung, in: Berliner Tageblatt Nr. 404 v. 10.8.1917, S. 1 u. 3; in den Memoiren (Brentano, Leben, S. 351) sprach er von einem bis Oktober 1918 bestehenden „Scheinkonstitutionalismus“. 63 Ders., Die Gegner der Parlamentarisierung, in: Berliner Tageblatt Nr. 426 v. 22.8.1917, S. 1 u. 4. 64 Ders., Demokratie, S. 2. 65 Noch sehr viel drastischer hat Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Ders., Schriften, über „die englischen Parlamentarier“ als „gut diszipliniertes Stimmvieh“ formuliert: „Über dem Parlament steht also damit der faktisch plebiszitäre Diktator, der die Massen vermittels der ‚Maschine’ hinter sich bringt, und für den die Parlamentarier nur politische Pfründner sind, die in seiner Gefolgschaft stehen“ (S. 536).

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5. Schlussbemerkungen Gegenüber Preuß als in manchem denkverwandten Sozialfortschrittler hatte Brentano den Vorteil, seine akademische Position frühzeitig undiskriminiert erreicht zu haben. So wurde die Erinnerung an ihn von jenen wachgehalten, die seine Vorlesungen gehört oder sogar bei ihm promoviert hatten. Das gilt auch für Theodor Heuss, den späterem Zeugnis nach an seinem akademischen Lehrer Brentano „dessen Verbindung von entschiedener Sozialpolitik und liberaler Weltanschauung“ beeindruckte.66 Heuss erinnert sich, dass sein Promotionsthema Weinbau in der Region Heilbronn „zumeist nachsichtige Heiterkeit gefunden“ habe: „Die sich unterrichtet fühlten, pflegten zu sagen: ‚wie Stresemann über den Flaschenbierhandel’.“67 Der Familienname Brentano geht übrigens auf das Wort „Brenta“ für eine Weinbutte zurück, das Traggefäß bei der Weinlese. Dazu passte dann sogar dieser zeitgenössische Erklärungsversuch zur Existenz zweier linksliberaler Reichstagsfraktionen: „Barth antwortete auf die Frage, wodurch sich Richters Freisinnige Volkspartei eigentlich von seiner Freisinnigen Vereinigung unterscheide, mit einem bezeichnenden Scherz: wenn jemand Mosel- und Rheinwein unterscheiden könne, gehöre er zur Freisinnigen Vereinigung, wenn nicht, zur Freisinnigen Volkspartei.“68 Dies ließ sich auch dahin verstehen, dass politische Unterschiede nicht unüberwindbar erschienen. So kam es dann auch nach dem Tode Richters und Barths 1910 zur Vereinigung in der Fortschrittlichen Volkspartei mit neuen politischen Chancen für Naumann. Insofern wohl doch etwas bildungsbürgerliche Überheblichkeit bei Barth anklang, der von Brentano allmählich in Richtung des sozialfortschrittlichen Denkens überzeugt wurde69, zielte sie auf primär kulturell verstandene Kleinbürgerlichkeit. Dazu gehörte auch die ablehnende Haltung Richters zum Frauenstimmrecht, das Barth und Naumann befürworteten. Auch Brentanos Hoffnungen bezogen sich auf die bürgerliche Jugend und die noch bildungshungrig erscheinende Arbeiterbewegung. Sein Nachruf auf Barth als ein „Weiser mit jugendlichem Herzen“70 mag ebenso auf Brentano selbst zutreffen, wenn seine Wirkung als Lehrender aus der Memoirenliteratur zusam66 Zit. nach Reiner Burger, Theodor Heuss als Journalist, Münster 1999, S. 40. 67 http://www.carlesso.de/xhtml/heuss.html (Dissertation und Zitat). 68 Zit. nach Konstanze Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung, Tübingen 1968, S. 100. 69 Vgl. ebd., S. 19 mit Anm. 31 zu deren aus dem intensiven Briefwechsel entstehender Freundschaft. 70 Brentano, Leben, S. 281 (Bezug nehmend auf seinen Nachruf in der Zeitschrift „März”, vgl. Anm. 34).

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mengefasst werden soll. Brentano kritisierte stets eine Mentalität der gesellschaftlichen Saturiertheit: Für ihn war es „immer ein Zeichen einer gewissen Beschränktheit des Geistes wie des Herzens, wenn ein Politiker sich als zufrieden erklärt; es ist aber auch politisch die größte Dummheit, denn er verliert damit die Sympathie der Tausende und aber Tausende, die nach wie vor zu klagen berechtigt sind“.71 Ein nur mehr saturierter Liberalismus wechselte im Verständnis Brentanos auf die konservative Seite und gab so die Position der Fortschrittspartei an die Sozialdemokratie ab. Der auch von Brentano promovierte Moritz Julius Bonn, dessen breit gestreute Kontaktkreise einen Überblick gestatteten, würdigte die erstrangige lehrakademische Bedeutung: „Brentano war der letzte und vielleicht der formbegabteste der großen akademischen Lehrer, die das zu Ende gehende 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Er war Gelehrter und Künstler.“ Damit war seine Darstellungskunst gemeint, „den Stoff der Weltgeschichte, ohne ihm Gewalt anzutun, so zu gliedern ..., daß das Dauernde, was dem Nachfolgenden Richtung und Bestimmung gab, sich scharf von dem bloß Vorübergehenden abhob“.72 Solche Verknüpfung von Gelehrsamkeit und Darstellungskunst muss nicht verwundern. Immerhin hatte Theodor Mommsen, 1861 einer der prominentesten Mitbegründer der preußischen Fortschrittspartei, 1902 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Der Einschätzung Schmollers gemäß war Brentano von den 1870er Jahren bis zur Jahrhundertwende „der begehrteste deutsche Nationalökonom“73 im Sinne der Versuche, ihn für andere Universitäten gewinnen zu wollen. So eindringliche Texte wie Brentano formulieren konnte sicher auch sein viel jüngerer Debattenkontrahent Max Weber, der aber gesundheitsbedingt nur wenige Jahre kontinuierlich lehrte.74 Für die heutzutage sehr unterschiedliche Beachtung ist es aber bezeichnend, wo deren richtungsweisende politische Biografie entstanden sind: Über Max Weber promovierte ein Mommsen-Großenkel75, über Brentano mit James

71 Ders., Über politische Initiative, in: Die Hilfe, 15.11.1903, S. 3. 72 Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte, München 1953, S. 60 f. 73 Schmoller an Brentano 13.12.1914, zit. nach Ursula Ratz, Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano, Berlin 1997, S. 244. 74 Es spiegelt wohl den Welterfolg von Webers Protestantismusthese vor allem in den USA, wenn Sheehan auch in einer deutschsprachigen Version im Vergleich dazu „Brentanos Aufsätze jenen intellektuellen Schwung und Ehrgeiz vermissen“ lassen sieht und keinen Grund einer Neubefassung erkennen kann: „Es sollte nicht verwundern, daß Brentano heute wenig gelesen wird“; James J. Sheehan, Lujo Brentano, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 8, Göttingen 1982, S. 34 u. 37. 75 Vgl. Mommsen, Weber.

Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des Sozialliberalismus

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Sheehan ein zwar ebenso namhafter, jedoch amerikanischer LiberalismusHistoriker.76 Bei Sheehan klingt es zuletzt so, als ob es seine zu Gelehrten-Altersstarrsinn sich auswachsende „inflexibility“ gewesen sei, die Brentano sich dem Verein für Socialpolitik im Herbst 1912 verweigern ließ, weil dessen Mehrheit noch keine SPD-Vertreter einladen wollte.77 Nun hatte allerdings die SPD wenige Monate zuvor bei den Reichstagswahlen 35 % der Stimmen erhalten und nicht 3 % wie 1871, im Jahr vor Konstituierung des Vereins für Socialpolitik. Auch in den 16 ½ Prozent der Zentrumspartei steckte wohl insgesamt kaum weniger demokratisches Potenzial als in 12 ½ Prozent linksliberalen Stimmen.78 Da hatten wohl eher jene Reformpolitiker ein Problem mit der Realitätswahrnehmung, die sich 1907 aus dem Primat der national-imperialen Motive noch einmal in den liberal-konservativen Bülow-Block gegen angebliche rote und schwarze „Reichsfeinde“ hatten einbinden lassen. Wer seiner Zeit 50 Jahre vorauseilt, wird sich die politische Entmündigungsvokabel „Visionär“ gefallen lassen müssen. Dies galt wohl für Brentanos frühes EinheitsgewerkschaftsDenken, das zuletzt erleben musste, wie sich in England dann umgekehrt Gewerkschaften eine Partei nach eigenem Bilde formten.79 Doch 1912 war der Interfraktionelle Ausschuss von 1917, in dem sich die spätere Weimarer Koalition anbahnte, nur mehr 5 Jahre entfernt. Zwar kann im politischen Leben auch durch Nichtbeachtung gestraft bleiben, wer mit Vorschlägen nur wenige Jahre zu früh kommt. Aber Brentano hatte Angebote, linksliberaler Reichstagsabgeordneter zu werden, stets abgelehnt.

76 Sheehan, Career, hat Zitate ins Englische übersetzt, so dass weiter der Rückgriff auf die Originaltexte erforderlich bleibt, weil bloße Rückübersetzung nur selten auch in wichtigen Nuancen wirklich authentisch wäre. 77 Vgl. ebd., S. 175 f. 78 Von Brentano, Gegner, S. 3, wurde unter Verweis auf eine „aus der liberalen, der irischen und der Arbeiterpartei bestehenden Mehrheit“ in Großbritannien den katholischen Reformverweigerern in Deutschland entgegengehalten: „Das Zentrum aber würde bei der Parlamentarisierung am wenigsten Einfluß verlieren; denn es steht, wie die Iren, zwischen rechts und links, und gegen seinen Willen dürfte kaum regiert werden können.“ 79 Allerdings unterschätzt Sheehan, Career, bei der richtigen Beobachtung, dass Brentano „underestimated the militancy of British unionism“ (S.44), seinerseits das politische Motiv, nicht durch Überbetonung radikaler Tendenzen die Bündniswilligkeit des Liberalismus zu gefährden. Brentano, Leben, berichtet von eigenen Bemühungen, die deutschen Richtungsgewerkschaften wenigstens in konkreter Arbeit zu verbinden, was nach seiner Darstellung am Verbandsegoismus scheiterte, den Stegerwald für die christliche Richtung vertrat (S. 344 f.).

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Er verstand Wissenschaft als Beruf und diesen ohnehin nicht unpolitisch.80 In solcher Rolle konnte Brentano den Einwand durchaus ertragen, als sozialliberaler Demokrat seiner Zeit vorausgedacht zu haben.81 Als „Begründer des sozialen Liberalismus in Deutschland“ und „Weltbürger, der für die Freiheit und den Aufstieg der Arbeiterschaft kämpfte“, würdigte ihn der sozialdemokratische „Vorwärts“ in einem Nachruf, und die ihrerseits teilweise sozialliberal geprägte „Frankfurter Zeitung“ ging noch einen Schritt weiter: „Sechs Jahrzehnte hindurch ist Lujo Brentano einer der fortschrittlichsten und fortreißendsten Sozialrevolutionäre der deutschen Wissenschaft gewesen.“82 Wenn das Lebenswerk dieses bedeutenden Gelehrten lange Zeit fast nur in Randnotizen beachtet wurde, liegt dies eben auch darin begründet, dass es nach seinem Tod 1931 in deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaft lange Zeit zu wenig „fortschrittliche“ und schon gar nicht „sozialrevolutionäre“ neue Impulse demokratischer Prägung gegeben hat.

80 So löst sich auch der bei Sheehan, Career, anklingende Widerspruch auf, einerseits Schumpeters Erinnerung an Brentanos Lehre „as he would have political meetings” (S. 66) zu erwähnen und andererseits wenig plausibel „Brentano’s apolitical attitude” zu behaupten (S. 154), nur weil er nicht kontinuierlicher parteipolitisch aktiv war. 81 Eine der letzten öffentlichen Wortmeldungen gegen die Erhöhung der Agrarzölle hat Brentano Ende 1929 im „Echo der Jungen Demokratie“ (der Zeitschrift der DDP-Jugendorganisation) sozusagen als 85jähriger Jungdemokrat veröffentlicht. Deren Untertitel „Monatsblatt für sozialrepublikanische Politik“ verwies auf eine hier nicht mehr zu behandelnde neue Phase in der Entwicklung des modernen Sozialliberalismus; vgl. Brentano, Leben, S. 403 mit Anm. 1. 82 Vorwärts Nr. 423 v. 10.9.1931; Frankfurter Zeitung Nr. 674 v. 10.9.1931 (so ebenfalls in einem Nachruf).

JÜRGEN FRÖLICH

„Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht“ Friedrich Naumann und der Liberalismus im ausgehenden Kaiserreich

Auch fast ein Jahrhundert nach seinem Tod ist das Urteil über Friedrich Naumanns politisches Wirken noch immer oder wieder sehr konträr: Da ist auf der einen Seite das Bild, das jener Mann überliefert und festgeschrieben hat, dem Naumann für sein Leben nach eigenem Bekunden „Richtung und Form gegeben“ hatte, Theodor Heuss.1 Dieser hat nicht erst, aber besonders ab 1949, als er selbst in eine zentrale Stelle des politischen Betriebs gewählt wurde, seinem Mentor nicht nur ein positives Andenken zu wahren gesucht, sondern ihn auch zu einer Leitfigur für die politische Kultur der neu entstandenen Bundesrepublik2, ja zu einem „großen Deutschen“ zu machen versucht.3 Heuss hatte auch einen erheblichen Anteil daran, dass die liberal ausgerichtete politische Stiftung nach Naumann benannt wurde und satzungsmäßig in Naumanns Sinne politische Bildung betreiben sollte.4 Der wirkungsmächtigen Heuss’schen Traditionspflege, in der sein Vorbild Friedrich Naumann fast schon die Züge eines geschichtlichen und politi-

1 Theodor Heuss – Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917, Hg. Frieder Günther, München 2009, S. 223 (20.7.1907). 2 Vgl. z.B. die Reden beim Amtsantritt als Bundespräsident, die mit Heuss’ Vater und Naumann begann und mit Goethe schloss, abgedruckt u. a. in Ralf Dahrendorf/Martin Vogt (Hg.), Theodor Heuss – Politiker und Publizist, Tübingen 1984, S. 376–381, und bei Eröffnung der Naumann-Ausstellung 1960: Theodor Heuss, Friedrich Naumann und sein Vermächtnis an unsere Zeit, in: Axel Hans Nuber, D. Friedrich Naumann. Katalog der Gedächtnisausstellung in Heilbronn anlässlich seines 100. Geburtstages am 25. März 1960, Heilbronn 1962, S. 19–26. 3 Theodor Heuss, Friedrich Naumann, in: Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin 1957, S. 143–155. Interessanterweise geht auch noch der Naumann-Eintrag in der NDB auf Heuss zurück, vgl. Neue Deutsche Biographie Bd. 17 (1997), S. 167 ff. 4 Monika Fassbender, Die Friedrich-Naumann-Stiftung als Vermächtnis von Theodor Heuss?, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 20 (2008), S. 113–128, bes. S. 126; dies., „… auf der Grundlage des Liberalismus tätig“. Die Geschichte der FriedrichNaumann-Stiftung, Baden-Baden 2009, S. 32 ff.

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schen „Mythos“ bekam5, stand und steht bis in die jüngste Zeit eine sehr kritische Naumann-Sicht gegenüber. Dies bezieht sich nicht ausschließlich, aber vor allem auf die nationalsoziale Zeit Naumanns zwischen 1896 und 1903.6 Auffällig ist dabei, dass ein solch kritisches Naumann-Bild, mit dem häufig in Frage gestellt wird, ob Naumann überhaupt ein Liberaler gewesen sei, oft von Autoren stammt, die sich selbst als „klassisch liberal“ verstehen und die den „wahren“ Liberalismus um 1900 an Eugen Richter, bekanntlich kein Freund Naumanns, festmachen.7 Weiter noch, Naumann wurde und wird in dieser Interpretationslinie gar zu einem Vorläufer des „Nationalsozialismus“.8 Zumal diese Sichtweise jüngst noch einmal nachdrücklich in einem eher populär als wissenschaftlich einzuschätzenden Werk aufgegriffen worden ist9, sollen im Folgenden erneut Naumanns Vorstellung von Liberalismus und die politischstrategischen Schlussfolgerungen, die er daraus zog, vorgestellt und in den zeitlichen Rahmen des späten Wilhelminismus eingebettet werden.

1. Naumanns Weg zum Liberalismus Bekanntermaßen war Friedrich Naumann weder ein „geborener Linksliberaler“10 noch überhaupt ein geborener Liberaler. Kindheit, Jugend und die ersten Berufsjahre vollzogen sich zwar innerhalb eines bildungsbürgerlichen, jedoch stark von der protestantischen Orthodoxie geprägten Rahmens und damit fernab des liberalen Milieus im Kaiserreich.11 Auch als Naumann Mitte der 5 Thomas Hertfelder, Friedrich Naumann, Theodor Heuss und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 113–145, hier S. 133. 6 „Klassisch“ in dieser Beziehung Werner Conze, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in national-sozialer Zeit, in: Walter Hubatsch (Hg.), Schicksalswege deutscher Vergangenheit, Düsseldorf 1950, S. 355–386, bes. S. 386; kritisch dazu jüngst Wolfgang Hardtwig, Friedrich Naumann in der deutschen Geschichte, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 9–28, hier S. 12 f. 7 Ralph Raico, Die Partei der Freiheit. Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1999, S. 146 f., 255 u. 261. 8 Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (1944), München 1991, S. 218 mit Anm. 9. 9 Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, Frankfurt a.M. 2011, S. 10, 141 u. 285; vgl. auch Rainer Hank, Der Untergang, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 50 v. 18.12.2011, S. 35. 10 So Hardtwig (wie Anm. 6), S. 13. 11 Zur Biographie nach wie vor unübertroffen das monumentale Werk von Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann – das Werk – die Zeit, 2. Aufl. Stuttgart 1949 (zuerst

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1890er Jahre seine Tätigkeit von der Theologie immer mehr in die politische Sphäre verlagerte, geschah dies zunächst nicht unter liberalen Vorzeichen. Schon die darüber stehende Überschrift „National-sozial“ zeigte die Distanz zu den liberalen Leitbegriffen wie „Freisinn“, „Liberalismus“ etc. deutlich auf, auch wenn mit dem ursprünglich eng mit dem Liberalismus verbundenen Begriff „national“ zumindest eine lose Brücke hätte geschlagen werden können – denn immerhin führte die größte liberale Organisation, die Nationalliberale Partei, dieses Adjektiv in ihrem Parteinamen. Möglicherweise war Naumann persönlich aber schon zu diesem Zeitpunkt nicht allzu weit entfernt von liberalem Gedankengut: Allererste Überlegungen zu einem „national-sozialen“ Programm enthielten mit dem Bekenntnis zur „historisch-gewordene(n), auf dem Privateigentum beruhende(n) Wirtschaftsordnung“ sowie mit der Forderung nach einer „tatkräftige(n) Socialrefom in volkstümlichem und freiheitlichem Geiste“12 durchaus Ansatzpunkte liberalen Denkens. Diese zu Jahresbeginn 1896 offenbar unter Einfluss des liberalen Nationalökonomen Gerhart von Schulze-Gaevernitz entstandenen Programmpunkte flossen dann aber nicht explizit in das Gründungsprogramm des National-Sozialen Vereins im folgenden November ein, wo jeder Anklang an Liberales möglichst vermieden wurde.13 Das änderte sich allerdings bis 1901. Was diesen „LiberalisierungsProzess“ bewirkt hat, wird unterschiedlich gesehen: Teils wird dies auf den Einfluss pro-kapitalistischer Ökonomen wie z.B. auch v. Schulze-Gaevernitz zurückgeführt14, teils werden dafür auch die Erfahrungen aus der Diskussion

1937), mit dem der Bogen von den populären Lebensbeschreibungen der Zeitgenossen – Heinrich Meyer-Benfey, Friedrich Naumann, Göttingen 1904, Martin Wenck, Friedrich Naumann. Ein Lebensbild, Berlin 1920 und Margarethe Naumannn, Friedrich Naumanns Kindheit und Jugend, Gotha 1928 – zu wissenschaftlich fundierten Darstellungen geschlagen wurde: Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983. 12 Archiv des Liberalismus, Gummersbach (zukünftig AdL) N 109–53. 13 Vgl. Jürgen Frölich, „… den nationalsozialen Gedanken auf den altliberalen Untergrund aufsetzen“. Neue Dokumente zur Verbindung zwischen Friedrich Naumann und der Familie von Schulze-Gaevernitz, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 22 (2010), S. 251–260, hier S. 256 f. Die „Grundlinien“ des National-Sozialen Vereins sind u. a. abgedruckt in Friedrich Naumann, Werke Bd. 5, Köln 1967, S. 199 f. 14 Traugott Jähnichen, Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000, S. 151–166, hier S. 152; Dieter Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München 1972, S. 151.

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um die Handelsvertragspolitik angeführt.15 Oder es haben Naumann und der National-Soziale Verein sich damit den bürgerlich geprägten Strukturen ihrer Anhängerschaft anpassen wollen.16 Vermutlich wurde die Entwicklung zum Liberalismus von allen diesen Faktoren beeinflusst, wovon auch die hier zitierten Autoren zumeist ausgehen. Jedenfalls brachte Naumann bereits vor der Jahrhundertwende gegenüber Schulze-Gaevernitz den Begriff „Gesamtliberalismus“ ins Spiel, zu dem im weitesten Sinne offenbar auch der National-Soziale Verein gehörte und in dem man den Ursprung jenes später berühmten Konzeptes eines Blocks von „Bebel bis Bassermann“ sehen kann.17 1901 hielt Naumann dann auf dem national-sozialen Vertretertag die zentrale programmatische Rede zum Thema „Der Niedergang des Liberalismus“. Da sparte er nicht mit vehementer Kritik an den zeitgenössischen Liberalen: Sie seien zu sehr am zurückfallenden Mittelstand orientiert, ihnen fehle innenwie außenpolitisch das Gespür für Machtfragen, sie würden überdies Rücksicht auf agrarische Interessen nehmen und wären technischem Fortschritt gegenüber feindlich eingestellt.18 Begonnen hatte Naumann aber seine Ausführungen mit der Feststellung, „der englische Elementarliberalismus, dieses liberale Grundwasser, das unterhalb aller politischen Strömungen ruhen sollte, (sei) in Deutschland nicht vorhanden; und darum kommen wir nicht vorwärts“.19 Dieser Blick nach Großbritannien kam nicht von ungefähr, denn Naumann machte auch auf die dortige Zusammenarbeit von Liberals und Trade Unions aufmerksam.20 Ihm ging es schon an dieser Stelle nicht allein um Kritik an der liberalen Programmatik, sondern auch um strategische Ausblicke. Für den dabei ins Visier genommenen „Gesamtliberalismus“ sollten die NationalSozialen die Funktion des Scharniers und des Antreibers übernehmen, womit der National-Soziale Verein implizit Teil der „liberalen Gesamtbewegung“21 geworden war.

15 Düding (wie Anm. 14), S. 160, Heuss, Der Mann (wie Anm. 11), S. 161 f., Wenck (wie Anm. 11), S. 95. 16 Theiner (wie Anm. 11), S. 107 ff. 17 AdL N 109–7, Friedrich Naumann an Gerhart von Schulze-Gaevernitz, 14.7.1899; Düding (wie Anm. 14), S. 155. 18 Friedrich Naumann, Der Niedergang des Liberalismus, in: Ders., Werke Bd. 4, Köln 1966, S. 215–236, hier S. 220–224. 19 Ebd., S. 216. 20 Ebd., S. 230. 21 Ebd., S. 233.

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Organisatorisch ging Naumann aber weiterhin zunächst noch eigene Wege und trug damit nolens volens zur weiter bestehenden Aufspaltung des eigentlich gewünschten „Gesamtliberalismus“ bei. Das hing einerseits nach eigenem Bekunden mit der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten zusammen22, aber auch mit seiner von vielen National-Sozialen geteilten Abneigung gegen die bekannteste Führungsfigur des Liberalismus, gegen Eugen Richter, und die von ihm geführte Freisinnige Volkspartei, die größte der drei – unter Einschluss des National-Sozialen Vereins vier – linksliberalen Organisationen. Fast zeitgleich mit Naumanns beginnendem Werben um den Gesamtliberalismus konnte man in der ihm nahestehenden Wochenschrift „Die Zeit“ lesen: Eugen Richter, der Naumanns Ausführungen zum „Niedergang des Liberalismus“ wenig begeistert aufgenommen hatte, sei „der versteinerte Liberalismus. … Ihn zu bekämpfen, heißt der Freiheit eine Gasse bereiten.“23 Solche Äußerungen waren ebenso wenig einer Zusammenfassung der liberalen Kräfte förderlich wie die Tatsache, dass Naumann im Reichstagswahlkampf von 1903 Richters Freisinnige Volkspartei als den eigentlichen Gegner ansah.24 Ob und inwiefern solche innerliberalen Rivalitäten Auswirkungen auf die Ergebnisse hatten, ist schwer abzuschätzen. Feststeht jedoch zweifellos, dass bei dieser Wahl nicht nur Naumanns Hoffnungen, den National-Sozialen Verein als eigenständige politische Kraft doch noch zu etablieren, mit dem Gewinn eines einzigen Mandats (Hellmut v. Gerlach) endgültig zerstoben; auch die übrigen liberalen Parteien fielen weiter zurück: Die Linksliberalen verfügten jetzt zusammen noch über 36 Sitze im Reichstag bei einem Stimmenanteil von rund 9 %; die Nationalliberalen standen zwar mit 51 Sitzen und knapp 13 % um einiges besser da25, waren aber weit entfernt von ihrer Anfang der 1870er und am Ende der 1880er Jahre erreichten führenden Position im Parteiensystem. Naumann sah allerdings in diesem Ergebnis keinen Grund zur Resignation, sondern zu einem organisatorischen Schwenk. Ihm war klar, dass dem NationalSozialen Verein als politischer Partei keine Zukunft vergönnt war. Naumann strebte deshalb den Anschluss an die kleine „Freisinnige Vereinigung“ an, die sich 1893 vom Richterschen Freisinn wegen Streits über militärpoliti22 Vgl. ebd., S. 235. 23 Die Zeit Nr. 2 v. 10.10.1901, S. 33; vgl. auch Naumann, Niedergang (wie Anm. 18), S. 215 u. 232. 24 Vgl. z. B. Die Zeit Nr. 21 v. 19.2.1903, S. 641 und Nr. 29 v. 16.4.1903, S. 69 ff. (Max Maurenbrecher, Die Freisinnige Volkspartei); Die Hilfe Nr. 22 v. 31.5.1903, S. 3 f.; Düding (wie Anm. 14), S. 176. 25 Zahlen nach Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches, München 1980, S. 41.

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sche Fragen abgespalten hatte.26 Dieser Ausgangspunkt sowie der Umstand, dass die Freisinnige Vereinigung sich ebenfalls als Kerntruppe einer gesamtliberalen Kooperation verstand, konnten für Naumann die Brücke für eine Verständigung mit ihr bilden. Schon vor der Reichstagswahl 1903 hatte er insgeheim angekündigt, dass etwaig gewählte national-soziale Abgeordnete Hospitanten in der Fraktion der Freisinnigen Vereinigung sein würden.27 Insofern war die angestrebte Fusion an diese linksliberale Gruppierung durchaus folgerichtig, zumal auch der einzige in den Reichstag gewählte NationalSoziale Gerlach bei der Freisinnigen Vereinigung hospitierte28 – aber sie war innerhalb der National-Sozialen alles andere als unumstritten. Naumann begründete dann auch seinen beabsichtigten Schritt zweigleisig, einerseits um zögernde national-soziale Gesinnungsfreunde zu überzeugen: „Ein Gesinnungswechsel ist mit diesem Eintritt in eine befreundete Organisation nicht verknüpft, da wesentliche Unterschiede in politischen Hauptfragen heute nicht mehr bestehen.“29 Andererseits musste er gegenüber dem Fusionspartner abstreiten, dass dieser einfach von den NationalSozialen übernommen würde: „Selbstverständlich ist, daß der Anschluß an den Wahlverein der Liberalen von uns als endgültig aufgefaßt werde und daß wir uns an die Grundsätze und die praktische Politik dieses Vereins fest anschließen müssten.“30 Mit dieser Zweigleisigkeit machte Naumann allerdings auch deutlich, dass er neue Aspekte und Ideen in den Liberalismus hineintragen würde. Noch kurz vor seinem Tod 1919 behauptete er, dass es seit der Jahrhundertwende immer sein Ziel gewesen wäre, „den nationalsozialen Gedanken auf den altliberalen Untergrund auf(zu)setzen“.31 Ob dies zutreffend gewesen ist, soll hier nicht diskutiert werden; man kann auch andersherum eine – bis 1914 – zunehmende Liberalisierung der National-Sozialen ausmachen. Jedenfalls schaffte es Naumann aber, im National-Sozialen Verein eine Mehrheit für die Fusion zu bekommen, die bis zum Oktober 1903 vollzogen wurde.32 Damit war Naumann nun selbst Teil

26 Vgl. zusammenfassend dazu immer noch Ludwig Elm, Freisinnige Vereinigung (FVg) 1893–1910, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Hg. Dieter Fricke u.a., Bd. 2, Leipzig 1984, S. 682–693. 27 AdL N 109–13, Naumann an v. Schulze-Gaevernitz 29.10.1902. 28 Amtliches Reichstags-Handbuch, 11. Legislaturperiode, Berlin 1903, S. 221. 29 Friedrich Naumann, Unsere Zukunft, in: Die Hilfe Nr. 31 v. 2.8.1903, S. 2. 30 Ebd. 31 AdL N 109–49, Naumann an v. Schulze-Gaevernitz 24.7.1919. 32 Düding (wie Anm. 14), S. 188–193.

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des organisierten Liberalismus, sogar ein recht prominenter, wie seine baldige Wahl in den Vorstand der Freisinnigen Vereinigung unterstrich.33

2. Naumanns Vorstellungen von einem „modernen Liberalismus“ Der Eintritt in ein neues, nun eindeutig liberales politisches Umfeld stellte für Naumann aber keineswegs einen Abschluss, sondern vielmehr den Startschuss für verstärkte Anstrengungen um seit längerem verfolgte Ziele dar. Das darüber stehende Motto wechselte vom „Niedergang“ zur „Erneuerung des Liberalismus“ – so der Titel einer gemeinsam mit dem führenden Freisinnigen Theodor Barth herausgegebenen Programmschrift.34 Diese wurde in den nächsten Jahren mit zunehmender Intensität zu einem zentralen Thema Naumanns. Man kann soweit gehen, darin sein Hauptthema im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen, was bei dem breit gefächerten Interessenspektrum Naumanns35 einiges besagt. Deshalb war es auch kaum übertrieben, wenn Naumann über sich selbst sagte: „Wir brauchen in Deutschland eine Rückkehr der Gesinnungen zu den starken Geistern, ohne die wir überhaupt nicht sein würden, einen Liberalismus des Lebens und Denkens, der weit hinausgeht über bloße Partei- und Fraktionskämpfe. An diesem Liberalismus mitzuarbeiten, ist des Verfassers inniges und eifriges Bemühen.“36 Aus diesem Zitat lässt sich vieles ableiten, was für Naumanns Vorstellung vom Liberalismus in dieser Zeit konstitutiv war. Keineswegs leugnete er nunmehr die großartige Tradition des Liberalismus in Deutschland. Dieser habe mit seinen Ideen, gerade auch in Bezug auf die Wirtschaft, „Segen gebracht ... für die Nation im Ganzen!“37 Und weiter: „Alles was wir heute haben von Rechtsbewußtsein, von Staatsbürgergefühl, das kommt aus liberalen Kämpfen heraus.“38 Insofern könne eine Rückbesinnung auf diese Tradition durchaus hilfreich sein, um neues Selbstbewusstsein zu bekommen. Die Liberalen seien, so Naumann 1909, durchaus „als Bestandteile einer großen 33 Die Hilfe Nr. 42 v. 18.10.1903, S. 8. 34 Theodor Barth/Friedrich Naumann, Die Erneuerung des Liberalismus. Ein politischer Weckruf, Berlin-Schöneberg 1906; Naumanns Part ist wiederabgedruckt in: Friedrich Naumann, Werke Bd. 4. Köln 1966, S. 270–283. 35 Vgl. Rüdiger vom Bruch, Einführung, in: Ders. (Hg.) (wie Anm. 14), S. 1–8, bes. S. 2. 36 Friedrich Naumann, Freiheitskämpfe, Berlin-Schöneberg 1911, S. 7. 37 Friedrich Naumann, Die Stellung des Liberalismus in der Gegenwart, in: Ernst MüllerMeiningen/Ders., Gegenwart und Zukunft des deutschen Liberalismus, München 1909, S. 23–37, hier S. 29. 38 Ebd., S. 26.

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Geschichtsbewegung aufzufassen, die ihren Befähigungsnachweis im deutschen Volk bereits geleistet hat“.39 Das war zweifellos Balsam für die Seelen der Liberalen, deren politische Bedeutung zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wie erwähnt unübersehbar nachgelassen hatte. Gerade weil Naumann kein „geborener“ Liberaler war, sondern von außen kam, und weil er an den Liberalismus vor allem aus historischem Blickwinkel heranging, konnte und wollte er nicht bei einer Rückbesinnung stehen bleiben. Denn vieles der ursprünglich liberalen Programmatik sei jetzt politisches Allgemeingut geworden: „Alle heutigen Parteien und Richtungen zehren vom Erbe des einstigen Liberalismus.“40 Diese Entwicklung habe den politischen Spielraum für den Liberalismus eingeengt. In den letzten Jahrzehnten sei der Liberalismus nichts mehr als „eine dauernde Protestpartei zweiten Grades, geringerer Schärfe“ gewesen, scheute sich Naumann nicht, ausgerechnet vor den Delegierten der Freisinnigen Vereinigung auszuführen.41 Einer solchen Haltung, die in etwa die Rolle Eugen Richters umschrieb und die damals – und zum Teil heute noch – als prinzipienfest angesehen worden ist, war für Naumann aber ebenso wenig eine politische Zukunft beschieden wie zuvor dem National-Sozialen Verein. Deshalb zitierte Naumann an anderer Stelle auch mit großer Zustimmung aus einem Artikel Theodor Barths, des Frontmanns der Freisinnigen Vereinigung: „Sobald eine Partei in die Minorität gedrängt ist und in ihrem Bestande zurückgeht, muß sie, um sich zu regenerieren, eine Revision ihrer politischen Ideen vornehmen und auf die geistigen Quellen ihres früheren Einflusses zurückgehen. Sie muß ihre Anhänger wieder an selbständiges politisches Nachdenken gewöhnen, sogar auf die Gefahr hin, daß bei diesem Gedankenprozeß mancher bisherige Anhänger zu der Überzeugung kommt, er sei innerlich der Partei, zu der er sich äußerlich rechnet, schon längst entfremdet.“42 Dieser angestrebte, aber – wie hier Naumann andeutete – weder unumstrittene noch risikolose Weg zu einer Erneuerung konnte eben nur zum Teil aus der Rückbesinnung kommen. Naumann war viel zu sehr ein scharfer Beobachter der Zeitläufte, als dass er allein das Heil in einer solchen eher rückwärtsgewandten Perspektive erblickte. Entscheidend für sein Liberalismus-Verständnis war, dass er den Liberalismus eben nicht allein auf ein Ensemble zeitloser, im39 Ebd., S. 30. 40 Friedrich Naumann, Die Linke kommt!, in: Die Hilfe Nr. 5 v. 30.1.1913, S. 66. 41 Dritter Delegiertentag des Wahlvereins der Liberalen zu Frankfurt am Main 21. und 22. April 1908, Berlin-Schöneberg o. J., S. 50. 42 Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik (1911), in: Ders., Werke Bd. 3, Köln 1966, S. 525. Das Zitat stammt aus Theodor Barth, Was ist Liberalismus? Eine Gegenwartsfrage, Berlin-Schöneberg 1905, S. 3 f.

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mer gültiger Werte zurückführte. Seine historischen Betrachtungen hatten für ihn die Wandlungsfähigkeit liberaler Gedanken nachgewiesen. Nicht nur in Bezug auf den religiösen Liberalismus stand für Naumann fest: „Je nachdem sieht der Liberalismus nach Ort und Zeit außerordentlich verschieden aus.“43 Von daher war es nur ein kleiner Schritt zu dem Naumannschen Grundsatz, der als Motto über den hier angestellten Überlegungen steht: „Wir wissen also, daß Freiheit nichts ist, was zu allen Zeiten und zu allen Orten genau die gleiche Form und Farbe hat. Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht.“44 Ihm ging es natürlich weiterhin vor allem auch um das Element der individuellen Freiheit; insofern lag er durchaus auf der Linie des klassischen Liberalismus, wenn er schon bei seinem ersten Auftreten auf einem liberalen Parteitag ausführte, „noch ist der Tag der freiheitlichen Entwicklung in Deutschland nicht zu Ende“.45 Auch Naumanns erneuerter Liberalismus sollte „seinem Wesen nach Freiheitsbewegung sein“.46 Hinzufügen ist jedoch: eine für die Gegebenheiten der Gegenwart adäquate Freiheitsbewegung. Und dies bedeutete für Naumann zunächst einmal die Akzeptanz der durch Bismarck geschaffenen politischen Grundlagen, die er mit charakteristischer Akzentsetzung forderte: „Das Erbe Bismarcks muß ebenso mit Verstand für die Macht wie mit Verstand für die Freiheit und Sozialpolitik verwaltet werden“.47 Seine Vorstellung von Freiheit war demnach tatsächlich eine im national-sozialen Sinne erweiterte, was hieß: Der Liberalismus müsse in machtpolitischen Kategorien denken und für soziale Fragen offen sein. Dabei ging es ihm zunächst vor allem darum, die Erkenntnis zu vermitteln, dass das Streben nach Macht der Kern jeglicher Politik sei, was für Naumann auch einen wichtigen Grund für die Liquidation des National-Sozialen Vereins darstellte, der eben keine Machtperspektive mehr hatte.48 Bei den Liberalen konstatierte Naumann weniger eine fehlende Machtperspektive als vielmehr einen zu geringen Machtwillen. So führte er noch auf dem ersten Parteitag der Fortschrittlichen Volkspartei, der für ihn eigentlich einen wichtigen strategischen Etappensieg darstellte, aus: „Das liberale Bürgertum in Stadt und Land

43 Friedrich Naumann, Liberalismus und Protestantismus (1909), in: Ders., Werke Bd. 1, Köln 1964, S. 782. 44 Ders., Das Ideal der Freiheit (1905), in: Friedrich Naumann, Werke Bd. 5, Köln 1967, S. 366. 45 Zitiert nach Die Hilfe Nr. 42 v. 18.10.1903, S. 6. 46 Friedrich Naumann, Die Erneuerung des Liberalismus (1906), in: Ders., Werke Bd. 4, Köln 1966, S. 273. 47 Friedrich Naumann, Die Politik der Gegenwart (1905), in: Ebd., S. 42. 48 Friedrich Naumann, Die Zukunft unseres Vereins, in: Die Hilfe Nr. 36 v. 6.9.1903, S. 3.

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müsse politisch werden in großem Stil, so daß es ihm Herzenssache sei, den Staat leiten zu wollen.“49 Neben diesem innenpolitischen hatte die Machtfrage aber noch einen anderen, außenpolitischen Aspekt für Naumann: Kern des Wesens eines Staates war es, Macht zu entwickeln. Er unterschied dabei – nicht ganz unproblematisch – zwar zwischen Staaten, die eine Machtpolitik nach außen treiben konnten, und solchen, die sich in dieser Beziehung eher zurückhalten sollten: „Die Geschichte hat entschieden, daß es führende Nationen gibt und solche, die geführt werden, und es ist schwer, liberaler sein zu wollen, als die Geschichte selbst es ist.“50 Deutschland gehörte aber für ihn zweifellos zu den Nationen, die einen Führungsanspruch hatten und diesen auch annehmen müssten: „Jeder große politische Körper muß gewisse Ideale der Ausdehnung haben, wenn er nicht rückwärts in Stagnation, Zank und Pessimismus zerfallen soll.“51 Liberale müssten den Zusammenhang von Weltmarkt und Weltmacht einsehen, gerade auch im Hinblick auf ihre eigenen innenpolitischen Ziele: „Daß aber ein freies und unabhängiges Volk nur dadurch besteht, daß es seinen eigenen Betrieb, seinen Handel, sein Geschäft mit eigener Kraft zu schützen in der Lage ist.“52 Deshalb müssten die Liberalen – und hier war vornehmlich der Freisinn gemeint – eine andere Stellung zur Außenpolitik und deren Instrumenten einnehmen, zu denen natürlich für Naumann gerade auch Heer und Flotte zählten. Diese Position lag nicht nur auf der Linie des früheren National-Sozialen Vereins, sondern konnte durchaus auch auf den Überzeugungen aufbauen, die die liberale Nationalbewegung in ihrer kleindeutsch-propreußischen Ausrichtung um die Mitte des 19. Jahrhunderts vertreten hatte.53 Eine solche von Naumann erstrebte machtstaatlich-militärpolitische Erweiterung der liberalen Programmatik konnte sich also auch auf liberale Vorbilder stützen. Etwas anders sah es mit dem zweiten, auf die Entwicklungen seit der BismarckZeit zurückgeführten Erweiterungselement, der Sozialpolitik, aus. Dass „Staatssozialismus“, worunter u.a. auch die „Regelung der Altersversorgung durch Mittel des Staats“ verstanden wurde, als große Gefahr für die „wirt49 Erster Parteitag der Fortschrittlichen Volkspartei zu Berlin am 6. März 1910, Berlin 1910, S. 27. 50 Naumann, Ideal (wie Anm. 44), S. 355. 51 Naumann, Politik der Gegenwart (wie Anm. 47), S. 46. 52 Ebd., S. 56. 53 Vgl. dazu etwa Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 103 f.; Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868, Düsseldorf 1994, S. 163 f. u. 186 f.; Christian Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871, Paderborn 2011, S. 141 ff.

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schaftliche, bürgerliche und politische Freiheit“ angesehen wurde, konnte man nicht nur in Eugen Richters „Politischem ABC-Buch“ lesen.54 Auch in der von Richter abgespaltenen „Freisinnigen Vereinigung“ teilten viele diese Einstellung, so dass sich Naumann noch 1903 bei seinem Freund Gerhart v. Schulze-Gaevernitz darüber beklagte, „daß die Mehrzahl der Abgeordneten und Wähler der freisinnigen Vereinigung jetzt gar nicht daran denken würde, eine sozialere Richtung aufzunehmen“, aus Furcht, „die geldkräftigen Kreise in Bremen, Stettin, Danzig, Breslau und auch Berlin zu verlieren“.55 Allerdings hatte um 1900 im Umfeld von Theodor Barth ein Umdenken eingesetzt56, so dass Naumann nach seinem Übertritt zur Freisinnigen Vereinigung nicht den grundsätzlichen Eindruck eines Predigers in der Wüste haben musste. Unzweifelhaft entsprang es eigenen biographischen Erfahrungen, wenn er 1910 lapidar feststellt, „daß nur der frei sein kann, der weiß, wovon er die nächsten vier Wochen lebt“.57 Insofern dürften auch Liberale nichts mehr dagegen haben, den „Staat zum ‚Schutz der Schwachen’“ aufzurufen.58 Diese machte Naumann vor allem in den Industriearbeitern und -angestellten aus, deren Situation sich nicht automatisch durch die unaufhaltsame Tendenz zum Großbetrieb verbessern würde. Die zentrale sozialpolitische Frage aus gesamtliberaler Sicht lautete demnach: „Wie kann inmitten des Großbetriebs der Neuzeit die Persönlichkeit erhalten werden?“59 Anders gewendet, sollte für ihn das liberale Motto lauten: „Menschen wollen wir bleiben inmitten der Zwangsorganisationen, Personenrechte wollen wir haben inmitten des Großbetriebes!“60 Zum Großbetrieb als einem zentralen Feld liberalen Engagements war Naumann über seine historische Betrachtungsweise gekommen: Für ihn gab es keinen Urzustand natürlicher Freiheit, die wieder zurückgewonnen werden musste, sondern anhaltende gesellschaftliche Tendenzen, die individuelle Freiheit einzuschränken bzw. gar nicht zuzulassen. Waren sie früher vom 54 Eugen Richter, Politisches ABC-Buch, 7. Aufl. Berlin 1892, S. 311. 55 ADL N 109–16, Naumann an Schulze-Gaevernitz 3.7.1903. 56 Vgl. Konstanze Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung, Tübingen 1968, S. 12–22, u. Holger J. Tober, Deutscher Liberalismus und Sozialpolitik in der Ära des Wilhelminismus, Husum 1999, S. 214–219. 57 Friedrich Naumann, Die politischen Parteien (1910), in: Ders., Werke Bd. 4, Köln 1966, S. 181; vgl. auch ders., Die Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus (1908), in: Ebd., S. 312. 58 Friedrich Naumann, Die politischen Parteien (wie Anm. 57), S. 191. 59 Friedrich Naumann, Das Prinzip des Liberalismus (1905), in: Ders., Werke Bd. 4, Köln 1966, S. 89. 60 Naumann, Die politischen Parteien (wie Anm. 57), S. 190.

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– absolutistischen – Staat, von den Kirchen, der Grundherrschaft und den Zünften ausgegangen61, so traten nun Tendenzen der modernen Arbeitswelt als Hauptgegner freiheitlicher Bestrebungen auf. Der möglichen Ausbildung eines „neuen Feudalalter(s)“ gelte es entgegen zu arbeiten und „eine Organisation der Arbeit freier Männer und Frauen zu schaffen“.62 Die Mittel dafür seien klar: „Der Liberalismus muß um seiner eigenen Selbsterhaltung willen für die Industrieverfassung sein, für freie Koalition, für Tarifverträge, für Arbeiterschutz, für alles, was den Wert der einzelnen Persönlichkeit in der Menge der Angestellten und Arbeiter erhöht.“63 Damit wurden aber dennoch von Naumann traditionelle liberale Positionen nicht in Frage gestellt, denn der innerbetriebliche Ausgleich solle über freiwillige Vereinbarungen und nicht staatliche Intervention erzielt werden: „Die freie Organisation hat im Zweifelsfall stets den Vorrang vor dem Beamtenapparat!“64 Diese hier notwendigerweise nur rudimentär dargelegten Überlegungen und Äußerungen Naumanns aus dem ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zeigen aber klar und deutlich, dass sicherlich von einem Überdenken und Erweitern liberaler Programmatik die Rede sein kann, von einer Aufgabe zentraler Kernforderungen oder gar einem „Verrat“ an liberalen Prinzipien aber kaum. Natürlich wiesen sie auch problematische Züge auf, etwa bei der Unterscheidung zwischen dem unterschiedlichen Grad an politischer Autonomie, der einzelnen Nationen zukam. Aber das für den Liberalismus seit jeher zentrale Element der individuellen Freiheit wollte Naumann keinesfalls aufgeben, sondern stellte es vielmehr – in dieser Zeit zumindest – in das Zentrum seiner programmatischen Erwägungen. Schon auf der letzten Versammlung des National-Sozialen Vereines hatte er den Delegierten – stellvertretend für „das ganze schaffende Volk der deutschen Mittelschicht“ – zugerufen: „Glaubet, dass Freiheit etwas Größeres ist als Zwang!“65 Man kann natürlich bemängeln, dass Naumann keine konzise liberale Lehre geliefert hat66, aber das wäre möglicherweise zuviel verlangt. Naumann war seit 1896 jemand, der nicht nur für seine Politik und Publizistik lebte, 61 62 63 64

Naumann, Stellung (wie Anm. 37), S. 24. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 42), S. 529. Ebd. Ebd., S. 502; vgl. ebd., S. 533 sowie Naumanns Ausführungen zum Religionsunterricht in: Protokoll der Verhandlungen des Wahlvereins der Liberalen zu Berlin am 11. und 12. Februar 1905, Berlin o. J., S. 16. 65 Naumann, Die Zukunft unseres Vereins (wie Anm. 48), S. 4. 66 So etwa Hans Cymorek, „Das Werden schon erleben, ehe es geworden ist“: Friedrich Naumann, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 15 (2003), S. 133–145, hier S. 136 f., und ähnlich Gangolf Hübinger, „Maschine und Persönlichkeit“. Friedrich

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sondern auch von ihr. Ihm ging es in erster Linie auch nicht um ein stimmiges, in sich geschlossenes und philosophisch fundiertes Gedankengebäude, sondern einerseits um die Anpassung einer inzwischen als richtig erkannten Weltanschauung an die Gegebenheiten der Zeit. Andererseits sollte diese „überarbeitete“ Weltanschauung zugleich Ausgangspunkt für praktische Politik und deren strategische Einbettung sein. Mindestens genauso wichtig wie die liberale Programmatik war für Naumann deren mittelfristige Umsetzung.

3. Naumanns Strategie für den Liberalismus seiner Zeit Die skizzierte „Erneuerung“ des Liberalismus war eben in Naumanns Augen kein Selbstzweck, sondern sollte eingebettet sein in eine größere politische Strategie. Diese hatte ihren Ausgangspunkt in dem bereits erwähnten Begriff des „Gesamtliberalismus“. Im Gegensatz zur „Erneuerung“, die sich vornehmlich auf die traditionellen liberalen Organisationen, also speziell auf den Freisinn, aber auch auf den Nationalliberalismus bezog, ging der „Gesamtliberalismus“ weit darüber hinaus. Entwickelt hatte diesen Begriff Naumann offenbar bei Betrachtung der politischen Szenerie in Belgien, wo er einen in „drei Gruppen zerfallenen Gesamtliberalismus (Doktrinäre, Progressisten und Sozialisten)“ als neue Koalition ausmachte.67 Die Parallelen zu Deutschland lagen – auch ohne die erläuternde Klammer – auf der Hand, wenn er fortfuhr, wie sehr es ihn bei einem Besuch im Nachbarland beeindruckt hätte, dass „der bejahrte und geschickte Wortführer des ‚gemäßigten Liberalismus‘ Neujean mit den früher blutig bekämpften Sozialisten auf derselben Bühne in derselben Sache redete (Bennigsen und Bebel!). Der Liberalismus hat anerkennen müssen, dass die Sozialisten Fleisch von seinem Fleische sind.“68 Damit hatte er eigentlich schon vor der Jahrhundertwende den Kurs für die Liberalen im nächsten Jahrzehnt vorgegeben: Der „Gesamtliberalismus“ müsse wieder zu einer Einheit werden, indem sein „bürgerlicher“ – „Unternehmer, Kaufleute, Bauern, Handwerker, Beamte, Angestellte, Kleinbauer“ – und sein „proletarischer“ Flügel – „Kleinhandwerker, Kleinkrämer, Unterbeamte, Werkmeister, Gelernte Industriearbeiter, Industrielle Hilfsarbeiter, Hausindustrielle, Landarbeiter“ –, wenn schon nicht organisatorisch, so doch poli-

Naumann als Kritiker des Wilhelminismus, in: Vom Bruch (wie Anm. 14), S. 166–187, hier S. 186 f. 67 Naumann, Aus Belgien, in: Die Hilfe Nr. 29 v. 16.7.1899, S. 3–5, hier S. 3. 68 Ebd.

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tisch miteinander wieder verbunden würden.69 Die Bezeichnung für dieses Bündnis wechselte, zunächst war es der „Gesamtliberalismus“70, dann die „Zukunftsmehrheit von Bebel bis Bassermann“71 und schließlich die „deutsche Linke“.72 Mit diesem letzten Begriff war aber schon der Standort des „Gesamtliberalismus“ und damit natürlich auch der des „erneuerten“ Liberalismus eindeutig definiert. Zwar sah Naumann seinen Anschluss an die Freisinnige Vereinigung zunächst als Nukleus für eine „freiheitliche bürgerliche Mittelgruppe“.73 Doch diese Mittelgruppe sollte dann eben nicht ein ausgleichendes Element zwischen der Rechten und Linken bilden und koalitionsfähig nach beiden Seiten sein. Vielmehr konnte ein erneuerter Liberalismus für Naumann nur in Frontstellung nach rechts stehen: „(W)enn ich mich frage, wie kommt der Liberalismus in Deutschland überhaupt dazu, die deutsche Geschichte wieder zu bestimmen, deutsche schöpferische Politik zu machen, so kann er es nur im Kampfe gegen rechts, denn rechts besteht die Macht“.74 Das Protokoll des Delegiertentages verzeichnet an dieser Stelle übrigens „stürmischen Beifall“ und dies, obwohl sich die Freisinnige Vereinigung und mit ihr der kurz zuvor gewählte Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1908 auf Reichsebene in einer informellen Koalition mit den Konservativen befanden. Doch diese augenblickliche Einbindung änderte nichts an der von ihm grundsätzlich gewünschten Konstellation, die seines Erachtens der traditionellen Linie des Liberalismus entsprach. Denn, wenn „die ganze alte Kampfesund Siegesgeschichte des Liberalismus der Kampf gegen das konservative Prinzip gewesen ist“75, dann gelte dies natürlich auch für die Gegenwart, wo „die tiefste Parteienscheidung im Unterschied zwischen konservativer und liberaler Welt- und Wirtschaftsanschauung liegt“.76 69 Naumann, Neudeutsche Wirtschaftpolitik (wie Anm. 42), S. 532 f. 70 Neben den Belegen in den Anm. 17 u. 67 vgl. auch z. B. Die Hilfe Nr. 14 v. 9.4.1905, S. 7. 71 Naumann, Die Entscheidung, in: Die Hilfe Nr. 14 v. 4.4.1909, S. 211; vgl. ebd. Nr. 8 v. 23.2.1911, S. 114, und Heuss, Aufbruch (wie Anm. 1), S. 313 (27.10.1910). 72 Naumann, Die deutsche Linke, in: Die Hilfe Nr. 5 v. 1.2.1912, S. 66 f.; ders., Die Linke kommt! (wie Anm. 40); Ludwig Haas, Politik vom fortschrittlichen Standpunkt, in: D. Sarason (Hg.), Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig 1914, S. 18–24, hier S. 18. 73 Naumann, Die Zukunft unseres Vereins (wie Anm. 48), S. 4. 74 Dritter Delegiertentag (wie Anm. 41), S. 48. 75 Naumann, Stellung (wie Anm. 37), S. 24. 76 Naumann, Freiheitskämpfe (wie Anm. 36), S. 214; vgl. ders., Die politischen Parteien (wie Anm. 57), S. 148.

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Zu den „konservativen“ Kräften zählten für Naumann aber nicht nur die entsprechenden Parteien und die diesen nahestehenden Organisationen wie der „Bund der Landwirte“, sondern von vornherein auch der politische Katholizismus.77 Diese Einschätzung Naumanns ist jüngst in der Historiographie scharf kritisiert worden, vermutlich unter der Perspektive der parteipolitischen Entwicklungen, die sich am Ende und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg vollziehen sollten.78 Eine solche Sicht spart aber Naumanns genuin protestantischen Hintergrund, der ja nicht seine nationalsoziale Phase, sondern auch sein liberales Engagement bestimmen sollte79, sowie seine persönlichen Erfahrungen bei den Wahlkämpfen in Heilbronn aus.80 Jedenfalls zweifelte Naumann nicht daran, dass für eine liberale Entwicklung in Deutschland das Zentrum aus seiner politischen Schlüsselrolle gedrängt werden musste. Dies sei allerdings jetzt nur noch durch eine Mehrheitsbildung auf der Linken möglich: „Die Ablösung des Zentrums von rechts ist für alle Zeiten vorbei, denn die Bevölkerungsvermehrung schafft nach links.“81 Diese Feststellung aus dem Jahre 1904 schien aber knapp drei Jahre später, nach den Reichstagswahlen von 1907 widerlegt: Konservative und Liberale verfügten nach den sog. „Hottentotten-Wahlen“, bei denen sie den Wahlkampf mehr oder minder gemeinsam gegen Sozialdemokratie und Zentrumspartei geführt hatten, über eine knappe Mehrheit im Reichstag.82 Den daraus hervorgegangenen liberal-konservativen „Bülow-Block“ hat Naumann nicht nur deshalb auch gegen eine innerparteiliche Fronde, zu der jetzt auch Theodor Barth gehörte, verteidigt, weil damit das Zentrum eben nicht mehr informelle 77 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Nationalsozialen Vereins (VI. Vertretertag) zu Frankfurt am Main vom 29. September bis 2. Oktober 1901, Berlin-Schöneberg o. J., S. 116, u. Thomas Nipperdey, Einleitung, in: Friedrich Naumann, Werke Bd. 4, Köln 1966, S. XV. 78 Margret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Kaiserreich, Wiesbaden 2009, S. 115 mit Anm. 47, S. 183 u. 188. 79 Vgl. dazu Naumann, Liberalismus und Protestantismus (wie Anm. 43), bes. S. 772, und allgemein Gangolf Hübinger, Liberalismus und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich, in: Richard Faber (Hg.), Liberalismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2000, S. 115–129, bes. S. 121 f. 80 Vgl. Heuss, Aufbruch (wie Anm. 1), S. 190 (27.1.1907), u. Die Hilfe Nr. 3 v. 18.1.1912, S. 33. 81 Friedrich Naumann, Liberalismus, Zentrum und Sozialdemokratie (1904), in: Ders., Werke Bd. 4, Köln 1966, S. 16. 82 Vgl. Ritter/Niehuss (wie Anm. 17), S. 41, sowie zum Hintergrund aus Naumanns Sicht Jürgen Frölich, Von Heilbronn in den Reichstag. Theodor Heuss, Friedrich Naumann und die „Hottentotten-Wahlen“ in Heilbronn 1907, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 67 (2008), S. 353–366.

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Regierungspartei war. Von vornherein glaubte er nicht an eine dauerhafte gemeinsame Anti-Zentrums-Front von Konservativen und Liberalen.83 Beim „Bülow-Block“ kamen für Naumann noch weitere strategische Fortschritte aus liberaler Sicht hinzu. Mit ihm waren die Freisinnigen zum ersten Mal in die Nähe einer Regierungsbeteiligung gerückt: „Der Liberalismus ist jetzt einmal in der Lage, bei der Majorität mitzuwirken – daß wir das in seiner ganzen Bedeutung verstehen …“.84 Und durch die Bildung der gemeinsamen freisinnigen Reichstagsfraktion aus Volkspartei, Vereinigung und süddeutschen Demokraten – ein „großer Umschwung“85 – war ein wichtiger Schritt in Richtung liberale Einheit gemacht worden. Schließlich konnte man den Bülow-Block auch als politische Gewichtsverlagerung im konstitutionellen System des Kaiserreichs zu Gunsten des Parlaments verstehen, zumindest interpretierte Naumann im Nachhinein es so als positive Folge der Blockbildung.86 Doch war er alles andere als unglücklich, als der „Bülow-Block“ nach zwei Jahren zerbrach. Denn damit war die von Naumann eigentlich bevorzugte Ausgangslage wieder hergestellt.87 Aus Anlass der Zentenarfeiern zum Beginn der antinapoleonischen Erhebungen hat er die innenpolitische Konstellation nochmals mit großen historischgeistesgeschichtlichen Kategorien umrissen: „Rechts steht Rom und Ostelbien, links steht Königsberg und Weimar. Der Geist, der vor 100 Jahren die kämpfende Jugend belebt hat, steht wieder vor der Tür, der Geist der freien Kraft, die vorwärts will.“88 Umso wichtiger war es deshalb nun, einen Linksblock herzustellen und mehrheitsfähig zu machen. Eine wichtige Etappe bildete dafür die Vereinigung der Linksliberalen, die sich während des Bülow-Blocks angebahnt hatte und dann 1910 mit der Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei auch organisatorisch umgesetzt wurde. Auch das wurde von Naumann ge83 Friedrich Naumann, Reichstagseindrücke (1907), in: Ders., Werke Bd. 5, Köln 1967, S. 385–391, bes. S. 388 ff., vgl. auch Dritter Delegiertentag (wie Anm. 41), S. 47. 84 So Naumann auf dem Zweiten Delegiertentag des Wahlvereins der Liberalen 1907, zitiert nach Chr. Grotewold, Die Parteien des Deutschen Reichstags, Leipzig 1908, S. 200. 85 Naumann, Der Liberalismus im Reichstag, in: Die Hilfe Nr. 9 v. 3.3.1907, S. 131. 86 Naumann, Die politischen Parteien (wie Anm. 57), S. 140; diese Einschätzung wird geteilt u. a. bei Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt a.M. 1995, S. 168. 87 Vgl. Naumann, Die Entscheidung (wie Anm. 71), S. 211, u. Außerordentlicher Delegiertentag des Wahlvereins der Liberalen zu Berlin am 3. u. 4. Juli 1909, BerlinSchöneberg o. J., S. 31ff. 88 Naumann, Die Linke kommt! (wie Anm. 40), S. 67.

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bührend gefeiert: Hier entstehe „eine gemeinsame nationale Geschichte der Vorkämpfer der bürgerlichen Freiheit und des verfassungsmäßigen Rechtes.“89 Diese organisatorischen Fortschritte reichten allein natürlich nicht aus, um dem Liberalismus entscheidenden politischen Einfluss zu verschaffen. Das konnte eben nur in einer Koalition aller Linkskräfte erreicht werden. Nach der Reichstagswahl von 1912 sah Naumann zumindest die politisch-numerischen Voraussetzungen dafür geschaffen, so dass er das Wahlergebnis insgesamt begrüßte, obwohl nicht nur der vereinigte Linksliberalismus, sondern auch die Nationalliberalen trotz eines Zuwachses an Wählerstimmen nach den Stichwahlen mit weniger Abgeordneten im Reichstag vertreten waren als 1907. Auch dass er dabei sein eigenes Heilbronner Mandat verloren hatte, zählte für ihn weniger als die Tatsache, dass Zentrum und Konservative durch das starke Anwachsen der Sozialdemokraten ihre Mehrheit verloren hatten: „Deshalb hat der große Sturm gegen rechts, als er nun doch kam, mich so erfreut, daß ich mein eigenes Wahlschicksal gern darüber vergessen habe.“90 Jetzt mussten noch Liberale unterschiedlicher Couleur und Sozialdemokraten für ein Zusammengehen gewonnen werden, wo Naumann allerdings die Widerstände bei allen Beteiligten und gerade auch bei den eigenen Parteigenossen nicht unterschätzte. So warb er für sein Konzept eines LinksBlocks auf dem Zweiten Parteitag der Fortschrittlichen Volkspartei damit, dass es angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen „einen bloß bürgerlichen Liberalismus nicht mehr geben kann, denn ihm würde der ziffernmäßige 89 Friedrich Naumann, Fortschrittliche Volkspartei! (1910), in: Ders., Werke Bd. 5, Köln 1967, S. 448–451, hier S. 449. 90 Naumann, Die deutsche Linke (wie Anm. 72), S. 66.

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Untergrund fehlen“. Deshalb gelte: „Wollten wir überhaupt jemals den großen Sturm gegen rechts beginnen, soll jemals der Westwind kommen, durch den das Klima der deutschen Kultur ein anderes wird, dann werden die Arbeiter alle dabei sein“.91 Auch bei dieser Gelegenheit führte er nicht explizit aus, worauf seine Konzeption letztlich hinauslaufen würde. Wohl nicht nur konservative Opponenten ahnten jedoch, dass Naumann ein Zwei-Parteien-System à la Großbritannien anstrebte, zumindest in Kauf nahm.92 In der Tat kann man, vielleicht auch muß man Naumanns Konzeption der beiden Blöcke so verstehen, ohne dass er es direkt aussprach. Auch die wiederkehrenden Verweise auf die britische Entwicklung deuten in diese Richtung.93 Wenn dem so war, dann handelte es sich aber um eine längerfristige Angelegenheit: „Einigung der Liberalen und Zusammenhang zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie sind gedacht als ein inhaltvolles langes Programm für weite Fristen hinaus und zwar so gedacht, daß der Liberalismus einig sein muß, damit er im Stande ist, der deutschen Arbeiterbewegung, die heute sozialdemokratisch ist, einen Rückhalt zu geben.“94 Ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg meinte Naumann selbst anlässlich der Verabschiedung der Wehrvorlage, diesem großen Ziel doch erheblich näher gekommen zu sein, obwohl dieser Reichstagsbeschluss in erster Linie auf einem Zusammengehen von Liberalen und Zentrum beruhte.95 Jedenfalls sprach er zu Beginn des Jahres 1914 unmissverständlich aus, dass „die Parteien der Linken die Verantwortung und Führung der Nation zu übernehmen bereit sind“.96 Natürlich verschob der Beginn des Ersten Weltkriegs diese Perspektive ziemlich rasch, aber das Verhalten der Sozialdemokraten

91 Der zweite Parteitag der Fortschrittlichen Volkspartei zu Mannheim, 5.-7. Oktober 1912, Berlin 1912, S. 58. 92 Adolf Bartels, Friedrich Naumann und der Liberalismus. Anhang zu: Ders., Der deutsche Verfall, Leipzig 1914, S. 48–80, hier S. 67. 93 Vgl. Verhandlungen 1905 (wie Anm. 64), S. 54; Friedrich Naumann, Die politischen Aufgaben im Industrie-Zeitalter (1904), in: Ders., Werke Bd. 3, Köln 1966, S. 19; ders., Neudeutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 42), S. 533; ders., Die politischen Parteien (wie Anm. 57), S. 170 f., sowie Gustav Schmidt, Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22 (1972), H. 20, S. 3–32, hier S. 8. 94 Dritter Delegiertentag (wie Anm. 41), S. 48. 95 Friedrich Naumann, Die Reichstagsmehrheit, in: Die Hilfe Nr. 27 v. 27 v. 3.7.1913, S. 418 ff.; vgl. auch ebd., S. 417. 96 Friedrich Naumann, „Die Hilfe“, in: Die Hilfe Nr. 1 v. 1.1.1914, S. 2.

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dabei wurde in Naumanns Zeitschrift als Bestätigung der eigenen Strategie interpretiert.97

4. Ergebnisse der Politik Naumanns Fragt man nun nach den konkreten Resultaten von Naumanns Engagement für den Liberalismus, so kann man zunächst einmal anhand des Vorherigen feststellen: Der Urheber war also trotz aller Schwierigkeiten im Einzelnen98 mit seinem Konzept für den Liberalismus und dessen Fortgang nach einem Jahrzehnt zufrieden, zumindest äußerlich. Die Auflösung des National-Sozialen Vereins und der Anschluss an den Freisinn hatten für ihn „segensreiche Folgen gehabt“.99 Dass diese Selbsteinschätzung in der Historiographie, gerade auch in der liberalen, Widerspruch erfahren hat, ist bereits eingangs dargelegt worden.100 Doch blicken wir zunächst einmal auf die Zeitgenossen, vor allem auf die von Naumann in Aussicht genommenen Bündnispartner für die Umsetzung seiner Konzeption. Dass er die Freisinnigen und Linksliberalen weitgehend davon überzeugt hat, ist nicht zu bezweifeln. Sie folgten seiner Strategie und fanden zur Geschlossenheit. Statt drei Parteiorganisationen und zwei Reichstagsfraktionen wie 1903 existierte ab 1910 nur noch jeweils eine gemeinsame. Diese Entwicklung war nicht ohne Reibungsverluste vor sich gegangen, hatte sich aber letztlich auch „materiell“ ausgezahlt: 1907 war die Zahl der freisinnigen Mandate merkbar gestiegen, und 1912 erreichte der vereinte Linksliberalismus die mit Abstand höchste Stimmenzahl seit 1871, nämlich 1,5 Millionen, was sich aber wegen der strukturellen Bedingungen wie Wahlrecht und Wahlbeteiligung nicht in Mandaten niederschlug. Dennoch war die Situation weit besser als 1903, und deshalb war es nicht nur typische

97 Die Hilfe Nr. 32 v. 6.8.1914, S. 510, u. Friedrich Naumann, Kriegschronik, in: Ebd. Nr. 33 v. 13.8.1914, S. 526. 98 Vgl. etwa ADL 109–41, Naumann an Schulze-Gaevernitz, 7.12.1911; Naumann, Bassermann und Bebel, in: Die Hilfe Nr. 40 v. 9.10.1910, S. 654. 99 Friedrich Naumann, An die alten Nationalsozialen, in: Die Hilfe Nr. 35 v. 28.8.1913, S. 547. 100 Vgl. neben den Angaben in den Anm. 7 bis 9 auch die Darstellungen in den beiden „klassischen“ Überblickswerken von Friedrich C. Sell, Die Tragödie des Deutschen Liberalismus. 2. Aufl. Baden-Baden 1981, S. 290–298, und James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983, S. 313–318.

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Parteipropaganda, wenn 1913 hier eine „Machtverstärkung des Liberalismus“ festgestellt wurde.101 Die gewachsene Attraktivität des Linksliberalismus lässt sich auch noch an zwei anderen Faktoren festmachen, wobei zweifellos Naumann und sein Wirken der Auslöser waren: Zum einen gewann der Liberalismus unter den politisch bislang abseits stehenden Frauen an Sympathie. Hier waren es allerdings vor allem Naumanns „national-sozialen Gedankengänge“, die bürgerliche Frauen für den Liberalismus einnahmen.102 Ähnliches galt beispielsweise auch für die weibliche Entourage von Max Weber103, während letzterer selbst für eine andere Gruppe steht, die von Naumanns Liberalismus angezogen worden ist, die bürgerlichen Intellektuellen. Es waren nicht nur Professoren wie Max Weber104, Lujo Brentano105, Gerhart von Schulze-Gaevernitz106 oder Friedrich Meinecke107, die von Naumann fasziniert waren, ihn politisch berieten und sich sogar dann häufig dem Liberalismus offiziell anschlossen. Die Tabula mit den Namen derjenigen, die sich an der Gratulation zu Naumanns 50. Geburtstag 1910 finanziell beteiligten, wies eine glanzvolle Auswahl aus der wirtschaftlichen, künstlerischen und politischen Elite der damaligen Zeit auf.108 Über soviel Zugkraft hatten die Liberalen unabhängig von ihrer Schattierung seit langem nicht mehr verfügt. Die neue Attraktivität der Linksliberalen war nicht ohne Auswirkung auf die nationalliberale Schwesterpartei geblieben, die ja von Naumann mit ins Boot einer Linkskoalition geholt werden sollte. Dort gab es ohne Zweifel erhebliche Abneigungen gegen dieses Konzept, insbesondere gegen eine liberal-sozialdemokratischen Zusammenarbeit: „Proletariat und Bürgertum wer101 Haas (wie Anm. 72), S. 19. 102 Vgl. Marie Baum, Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950, S. 218 (Zitat), Helene Lange, Lebenserinnerungen, Berlin 1927, S. 238, Gertrud Bäumer, Lebensweg, Tübingen 1933, S. 221–226, sowie allgemein Jürgen Frölich, Friedrich Naumann, der Liberalismus und die Frauenemanzipation im ausgehenden Kaiserreich, in: H. Reinalter/H. Klueting (Hg.), Der deutsche und österreichische Liberalismus, Innsbruck 2010, S. 69–81, bes. S. 76 f. 103 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 519. 104 Vgl. ebd., S. 780 und Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 132 f. 105 Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 229 f. 106 Frölich, Gedanken (wie Anm. 13), bes. S. 252 f. 107 Friedrich Meinecke, Straßburg–Freiburg–Berlin 1901–1919. Erinnerungen, Stuttgart 1949, S. 123 ff. 108 ADL N 109–27; vgl. Heuss; Der Mann (wie Anm. 2), S. 294, u. Frölich, Gedanken (wie Anm. 13), S. 259 f.

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den, so lange sie kämpfen, Gegner bleiben, weil beiderseitige Bestrebungen in ihren extremen Zielen sich ausschließen.“109 Doch auch für die meisten Nationalliberalen war die langjährige Zusammenarbeit mit den Konservativen seit dem Ende des Bülow-Blocks sehr problematisch geworden. In Baden beteiligte sich die Partei zeitweise sogar an Koalitionen, die eigentlich Naumanns Vorstellungen sehr nahe kamen, weshalb man sie durchaus auf dem Weg zu einer Linkskoalition sehen kann.110 1913 sahen jedenfalls Vertreter beider liberaler Richtungen die gegenseitigen Beziehungen so gut wie selten.111 Hier wirkte sicherlich neben der Enttäuschung über die Konservativen Naumanns national-imperiale Erweiterung des Linksliberalismus als Brücke. Diese sollte, das sei nur am Rande bemerkt, nicht immer nur im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen, die den Beteiligten naturgemäß verborgen waren, als schwere Hypothek von Naumanns Wirken gesehen werden, sondern zunächst einmal als das, als was sie in erster Linie gedacht war, nämlich ein argumentatives Mittel, um den selbsternannten Gralshütern des Nationalen auf der Rechten Paroli zu bieten.112 Die Annäherung von National- und Linksliberalen erleichterte sie zweifelsohne. Ob diese Brücke auch in Richtung auf den anderen vorgesehenen Koalitionspartner trug, war von Anfang an zweifelhaft. Diese Funktion kam im Hinblick auf die Sozialdemokraten wohl vor allem dem sozialen Element in Naumanns Konzeption, seinem Bemühen um sozialen Ausgleich zu.113 Hier wird häufig die entscheidende Schwachstelle des gesamten Konzeptes 109 K. Eichhorn, Der ‚Zusammenschluss der Liberalen’ oder ‚die Einigung der Liberalismus und der Demokratie’, Berlin 1905, S. 12. Vgl. auch die Ausführungen des „Altnationalliberalen“ Anton Schifferer in: Von Bassermann zu Stresemann. Die Sitzungen des nationalliberalen Parteivorstandes 1912–1917, Bearb. Klaus-Peter Reiß, Düsseldorf 1967, S. 175. 110 So jüngst Carl-Wilhelm Reibel, Bündnis und Kompromiß. Parteienkooperation im Deutschen Kaiserreich 1890–1918, in: HZ 293 (2011), S. 69–114, hier S. 90 f. 111 Haas (wie Anm. 72), S. 16, u. E. Rebmann, Politik vom nationalliberalen Standpunkte, in: Sarason (Hg.) (wie Anm. 72), S. 27–36, hier S. 28. 112 Vgl. Naumann, Die politischen Parteien (wie Anm. 57), S. 175: „Wir auf der linken Seite dürfen uns niemals das nehmen lassen, daß die Idee der Nationalität auf unserer Seite geboren ist und zu ihrer Höhe immer nur dann steigen wird, wenn sie von neuem gesättigt wird mit dem Gedanken des freien, sich selbst verwaltenden Staatsbürgers.“ Ähnliche Argumentation auch bei Schmidt (wie Anm. 93), S. 11, und Hardtwig (wie Anm. 6), S. 20. 113 „Es muß zwischen ländlichen und städtischen Interessen, zwischen Klein- und Großbetrieben, zwischen Unternehmern und Arbeitern, zwischen Angestellten und Arbeitern, zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern ein ständiges Ausgleichverfahren in Gang kommen, wenn nicht die Menge der inneren Spannungen den Liberalismus

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gesehen, dass nämlich die Annäherungen zwischen „bürgerlichem“ und „proletarischem“ Liberalismus nicht vorangekommen sei.114 Jüngst ist dagegen angeführt worden, dass die Sozialdemokraten bei ihrem großen Wahlerfolg 1912 erheblich von der liberalen Unterstützung profitiert hätten und dass der Reformismus in der Partei unmittelbar vor 1914 auf dem Vormarsch gewesen sei.115 Eduard Bernstein mag zwar nicht als der unbefangenste sozialdemokratische Gewährsmann in dieser Sache gelten, doch immerhin konnte er an illustrer Stelle 1913 dazu aufrufen, dass nicht nur für Baden, sondern „auch in Preußen ein Bündnis der Parteien der Linken mit elementarer Notwendigkeit Tatsache“ werden müsse.116 Ganz so utopisch war demnach Naumanns Strategie nicht, wenn auch natürlich weder der Linksblock noch der Linksliberalismus im Kaiserreich vor dem Ausgang des Ersten Weltkrieges an die Macht gekommen ist.

5. Resümee und Ausblick Kommen wir noch einmal auf unseren Ausgangspunkt und die erwähnten Zweifel an Naumanns Liberalismus zurück. Diese mögen für überzeugte Neoliberale nach wie vor bestehen. Wer jedoch den Liberalismus nicht als ein unwandelbares Ideengebäude auffasst, das vornehmlich auf einem idealiter gesehenen Individuum und dessen freien Spiel der Kräfte mit anderen Individuen beruht, sondern den Liberalismus mehr als eine politische Überzeugung begreift, die zwar von der wohltuenden Kraft der Freiheit ausgeht, diese Überzeugung aber im Wettstreit mit anderen politischen Ideen und eingebettet in ein sehr realistisches politisches Kräftespiel sieht, der wird Naumann keineswegs den Liberalismus abstreiten. Im Gegenteil, er hat versucht, diese politische Idee, die auf dem Krankenlager, wenn nicht Totenbett lag, inhaltlich und strategisch gemäß den Gegebenheiten der Zeit wiederzubeleben. Man mag über die Methoden und die Heilmittel des Arztes streiten, aber nicht zu bezweifeln ist, dass er den Patienten Organisierter Liberalismus nicht nur einigermaßen wiederhergestellt hat, sondern ihn sogar ziemlich gekräftigt hat: „In 1903 left liberals appeared condemned to the margins of German politics … auseinandertreiben soll.“ Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 42), S. 533. 114 Vgl. z. B. Schmidt (wie Anm. 93), S. 30; Ullmann (wie Anm. 86), S. 206 und Tober (wie Anm. 56), S. 406. 115 Reibel (wie Anm. 110), S. 101 u. 108. 116 Ed. Bernstein, Politik vom sozialdemokratischen Standpunkte, in: Sarason (Hg.) (wie Anm. 72), S. 8–18, hier S. 18.

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Against this background the left liberal revival by 1914 was substantial.”117 Entscheidend dazu beigetragen hat, dass Naumann den Patienten nicht nur physisch aufbaute, sondern ihm darüber hinaus eine neue Lebensperspektive eröffnete, die ihn bei voller Umsetzung politisch auf ungeahnte Höhen emporgeführt hätte. Ob diese Perspektive realistisch war, kann wegen des durch den Ersten Weltkrieg bewirkten Umbruchs nicht ermessen werden. Aber es gibt durchaus Stimmen, die englische Verhältnisse für Deutschland auch im Rahmen des Kaiserreiches für möglich halten.118 Wenn heute die These von der politischen Stagnation des ausgehenden Kaiserreiches wieder zunehmend in Zweifel gezogen wird119, dann hatte das nicht nur, aber auch mit dem politischen Wirken Friedrich Naumanns zu tun. Dieser hat die politische Szenerie des Wilhelminismus – wie es jetzt neudeutsch heißt – „aufgemischt“, und dies keineswegs zum Schaden des Liberalismus und der liberalen Ideen. Allerdings, das Naumannsche Konzept für den Liberalismus war an der politischen Konstellation und dem politischen Kräfteverhältnis des ausgehenden Wilhelminismus orientiert. Wenn es damals vielleicht teilweise aufgegangen ist, so heißt dies keineswegs, dass damit der Liberalismus auch unter anderen Umständen reüssiert hätte. Schon der Weimarer Linksliberalismus, an dessen Wiege Naumann noch stand, wenn er dann auch wegen seines unerwarteten Todes im August 1919 keinen Einfluss auf ihn weiter nehmen konnte, hat trotz einer prinzipiellen Offenheit für Koalitionen mit der Sozialdemokratie und einer anfänglichen Einbindung in einen dominierenden Linksblock keine aufsteigende Erfolgskurve aufgewiesen, im Gegenteil. In der Bundesrepublik ist liberalerseits nur phasenweise die Naumannsche Konzeption von vor 1914 verfolgt worden, mit alles in allem gemischten Resultaten. Auf die gesamte Dauer ihrer Existenz seit 1948 bezogen, hat die liberale Partei der Bundesrepublik eher andere politische Akzente gesetzt. Egal wie man dies auch beurteilt, vielleicht ist sie auch der alten Erkenntnis Friedrich Naumanns gefolgt: „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht.“

117 Alastair P. Thompson, Left Liberals, the State and Popular Politics in Wilhelmine Germany, Oxford 2000, S. 360. 118 Schmidt (wie Anm. 93), S. 5 ff. Warum diese Aussicht gerade angelsächsisch geprägte Kritiker Naumanns wie Hayek (wie Anm. 8) oder Raico (wie Anm. 7) nicht beeindruckt hat, scheint überraschend. 119 Reibel (wie Anm. 110), S. 109.

KARL HEINRICH POHL

Gustav Stresemann und die Sozialpolitik im Kaiserreich Sozialer Liberalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Um mit einer klaren These zu beginnen: Gustav Stresemann war ein engagierter Vertreter eines „Sozialen Liberalismus“ und er war auf seine Weise auch ein überzeugter Sozialliberaler. Das gilt für seine politische Tätigkeit im 20. Jahrhundert, für die Politik in Sachsen und für sein Engagement im Kaiserreich. Die Betonung des Sozialpolitikers Stresemann mag überraschen, da er in den zahlreichen Biografien vor allem als Außen- oder als ausgewiesener Partei- und Machtpolitiker firmiert, kaum aber als bedeutender Sozialpolitiker1. Genau auf diesen bisher unterbelichteten Aspekt soll im Folgenden eingegangen werden. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Nachhaltigkeit seines Engagements. Der Beitrag gliedert sich in vier Teile. In einem ersten Abschnitt werden ganz knapp einige allgemeine Überlegungen zur Sozialpolitik sowie ihre historische Entwicklung im Kaiserreich vorgestellt. In einem zweiten Teil geht es um die Persönlichkeit Stresemanns und seine Affinität zur Sozialpolitik. In einem dritten Abschnitt wird Stresemanns Rolle als Syndikus im Verband Sächsischer Industrieller (VSI) behandelt. Dabei steht die Kooperation mit Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften im Mittelpunkt. Streik, Aussperrung und Tarifvertrag sind die entsprechenden Schlagworte. In einem vierten und letzten Teil wird schließlich die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes im Jahre 1911 diskutiert, ein Gesetz,

1 Vgl. hierzu die neueren Biografien von Eberhard Kolb, Gustav Stresemann, München 2003; John P. Birkelund, Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann, Hamburg 2003, und Jonathan Wright, Gustav Stresemann 1878–1929. Weimars größter Staatsmann, München 2006 (engl. 2002). Wright betont allerdings, dass Stresemann im Reichstag lange Zeit den Ruf besessen habe, vor allem ein Sozialpolitiker zu sein. Er vertieft diesen Aspekt jedoch nur sehr partiell, S. 66. Bei Kurt Koszyk, Gustav Stresemann. Der kaisertreue Demokrat, Köln 1989, S. 103 ff., wird der Sozialpolitiker Stresemann etwas ausführlicher gewürdigt.

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das man geradezu als persönliches Werk Stresemanns bezeichnen kann.2 Diese Versicherung setzte in geradezu idealer Weise seine Vorstellungen von Sozialpolitik und Klientelpolitik in die Praxis um – und ist auch heute noch ein wichtiger Bestandteil des deutschen Sozialversicherungswesens.

1. Entwicklungslinien und Problemlagen in der Sozialpolitik Der Komplex „Sozialliberalismus“, Sozialpolitik, Sozialstaat oder „Wohlfahrtsstaat“ kann hier nur gestreift werden. Es geht nicht um Definitionen, nicht darum, was man unter den Begriffen jeweils im Einzelnen verstehen könnte, welcher von ihnen in diesem Kontext am Tragfähigsten ist.3 Hier wird nur ein sehr grober Rahmen skizziert, innerhalb dessen die konkreten Aktivitäten Stresemanns eingeordnet und bewertet werden können. Der Komplex „soziale Sicherheit“ umfasst – zumindest in Europa – eines der wichtigsten Güter einer modernen Gesellschaft.4 Er steht im Schnittpunkt von Politik und Ökonomie und hat zugleich eine weitreichende soziale und kulturelle Bedeutung. Neben der Garantie der inneren Ordnung und der staatlichen Unabhängigkeit gilt soziale Sicherheit als eines der wesentlichsten Merkmale, wenngleich darunter – je nach Gesellschaftssystem oder nach politischen und ökonomischen Vorstellungen – sehr viel Unterschiedliches verstanden wird. Die Legitimation politischer Herrschaft und die Stabilität jeweils bestehender Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen scheinen jedenfalls in erheblichem Maße davon abhängig zu sein, ob die Erwartungen der Bürger, durch den Sozialstaat gegen existenzielle Lebensrisiken geschützt 2 Vgl. erstmalig mit dem Blick auf Stresemann, Michael Prinz, Gustav Stresemann als Sozialpolitiker – Magier oder Zauberlehrling?, in: Karl Heinrich Pohl (Hg.), Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit, Göttingen 2002, S. 114–142, hier S. 114 ff. 3 Zur Begrifflichkeit Hans Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Heidelberg 1987, S. 1045–1111, hier S. 1060 f., und Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 3. Aufl. München 2010, S. 17 ff., auf dessen Ausführungen ich mich im Besonderen stütze. 4 Hierzu ganz allgemein Frank Pilz, Der Sozialstaat. Ausbau – Kontroversen – Umbau, Bonn 2009; Ulrich Becker u.a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010; Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart 2003; Friedhelm Boll/Anja Kruke (Hg.), Der Sozialstaat in der Krise. Deutschland im internationalen Vergleich, Bonn 2009; Christoph Butterwege, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2005; Franz Xaver Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, Frankfurt a.M. 2003.

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zu sein, auch tatsächlich erfüllt werden.5 Neben Demokratie als „Herrschaft durch das Volk“ tritt aus dieser Perspektive gleichwertig der Sozialstaat als „Herrschaft für das Volk“ und seine sozialen Bedürfnisse.6 Dabei zeigen sich zwei generelle Aspekte, die für das Verständnis der Politik Stresemanns von erheblicher Bedeutung sind. Zum einen ist es das Ideal einer Gesellschaft, die – im Sprachgebrauch Stresemanns „Volksgemeinschaft“ genannt – für das Wohlergehen ihrer verschiedenen Mitglieder (mit) zu sorgen habe. Der Sozialstaat und die staatlichen Organe sollen darauf hin wirken, dass die (sozialen) Grundrechte nicht nur formal gewährt, sondern auch praktisch umgesetzt werden.7 Dazu gehören etwa die Sicherung im Falle von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter, aber auch die Regelung von Mietrecht oder die Intervention im Bereich von Schule oder Universität. Eingeschlossen in den Begriff des Sozialstaates sind zum anderen aber auch indirekte Leistungen, wie die Förderung von Selbsthilfeorganisationen der am Wirtschaftsprozess beteiligten Gruppen, wie z.B. der Gewerkschaften und der Unternehmer. Gerade dies ist ein Feld, auf dem sich Stresemann zu Beginn seiner Tätigkeit intensiv engagierte. Zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen gibt es erhebliche Differenzen über den jeweils notwendigen Umfang der staatlichen Daseinsfürsorge und den jeweils zu erbringenden Grad der Selbsthilfe. Denn Sozialpolitik ist zugleich immer auch Verteilungspolitik, wie etwa die Steuergesetzgebung deutlich zeigt. Gewährung von sozialer Sicherheit ist somit nicht nur ein wichtiges staatliches Aufgabenfeld, sondern zugleich auch ein umstrittenes und ein teures. Allein in der Bundesrepublik Deutschland nahm der Sozialhaushalt im Haushaltsentwurf für das Jahr 2012 etwa 37 Prozent der Gesamtausgaben ein. Zugleich ist mit einer (umfangreichen) Sozialpolitik meist die Hoffnung der Herrschenden verbunden, die Stabilisierung des gesellschaftlichen und politischen Systems erreichen zu können. Zweifellos besteht „eine Affinität oder ‚Wahlverwandtschaft‘ zwischen politischen und gesellschaftlichen Problemlösungsversuchen“8. Je weiter die Partizipation der Bevölkerung an den materiellen und sozialen Lebensmöglichkeiten einer Gesellschaft verwirklicht ist, je gerechter diese Ordnung erscheint, desto größer dürfte – so 5 Gerhard A. Ritter, Soziale Sicherheit in Deutschland und Großbritannien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Ein Vergleich, in: GG 13 (1987), S. 137–156 und ders., Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin 1980. 6 Ritter, Der Sozialstaat, S. 11. 7 Alexander Petring u.a., Sozialstaat und Demokratie, Bonn 2009, S. 6. 8 Franz Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a. M. 1997, S. 25.

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die Erfahrung – auch deren innere Stabilität sein. Aus der Sicht der jeweils Herrschenden geht es in der Sozialpolitik daher nicht allein um das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch um Macht und Machterhalt. Dass eine Politik, die die besondere Rolle des Staates und seine allgemeine soziale Verantwortung in (zu) hohem Maße betont, für einen Liberalismus, der die persönliche Verantwortung der Menschen in den Vordergrund stellt, nur in Maßen tragbar erscheint, liegt auf der Hand. Auch dieser Aspekt hat die sozialpolitischen Bemühungen des Liberalen Stresemann erheblich beeinflusst. Die staatliche Daseinsvorsorge, vor allem das staatlich geförderte System der Sozialversicherungen, – weniger dagegen das Prinzip des individuellen Arbeitsschutzes – ist in Deutschland bereits sehr früh entstanden. Es stellte eine Reaktion auf die vielfältigen Probleme der Industrialisierung, der Verstädterung und des Bevölkerungswachstums dar. Insofern war ihre Einführung nicht nur durch politische, sondern immer auch durch soziale und ökonomische Faktoren bedingt, wie gerade die neuere Forschung betont.9 Zweifellos aber haben politische Erwägungen und der Versuch der Stabilisierung des politischen Systems eine ganz entscheidende, wenn nicht gar die wichtigste Rolle gespielt. Diese Zielsetzung, die besonders die Bismarck-Ära geprägt hat, setzte Sozialpolitik (vor allem) als Kampfmittel gegen die organisierte sozialistische Arbeiterbewegung ein, um auf diese Weise die Trennung der Arbeiter von der als revolutionär angesehenen Sozialdemokratie zu bewirken. Dieser politischen Zielsetzung entsprach, dass gerade die gewerblichen Arbeiter, die am ehesten der Sozialdemokratischen Partei zuneigten, die wichtigsten Adressaten der staatlichen (bismarckschen) Sozialpolitik wurden, nicht aber Landarbeiter, Dienstboten oder Heimarbeiter, deren Not zweifellos noch größer war. Diese gingen leer aus, weil es eben nicht in erster Linie um soziale Hilfe ging und weil sie das System politisch nicht zu gefährden schienen.10 Trotzdem kann man aber bei den politischen Auseinandersetzungen um die Sozialpolitik im Kaiserreich, sowohl bei generellen Fragen als auch beim Grad staatlicher Eingriffe und verordneter sozialer „Wohltaten“, nicht nur von völlig unüberwindbaren Gräben zwischen den verschiedenen politischen und ökonomischen Lagern sprechen. Überraschend ist jedoch, dass besondere Fortschritte im Sinne einer aktiven Sozialpolitik gerade in dem hochindustrialisierten Sachsen mit seiner konservativen Führungselite erzielt wurden – und dass es ein ausgewiesener Liberaler wie Gustav Stresemann war, ein Interessenvertreter des sächsischen Unternehmertums, der das System der

9 Ritter, Soziale Sicherheit, S. 141 und ders., Der Sozialstaat, S. 64 ff. 10 Ritter, Soziale Sicherheit, S. 141.

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Sozialpolitik nicht nur nicht gebremst, sondern seinen Ausbau gefördert und vorangetrieben hat. Stresemanns sozialpolitisches Wirken hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Königreich Sachsen, aber später auch im Deutschen Kaiserreich tiefe (sozialpolitische) Spuren hinterlassen. Dabei haben sowohl die besondere Verantwortung des Staates (aber auch der Unternehmer) für die Wohlfahrt der Bürger als – stärker noch – der Wunsch, Arbeiterschaft und Mittelstand in eine „Volksgemeinschaft“ zu integrieren, die Arbeiterschaft zu „pazifizieren“ und zugleich den Mittelstand parteipolitisch für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, eine wichtige Rolle gespielt.

2. Herkunft und Werdegang von Gustav Stresemann Wie ist nun die Rolle Stresemanns in diesem Kontext einzuordnen? Wie weit haben frühe Sozialisation und parteipolitische Bindungen sein Handeln beeinflusst? Auf welche Weise versuchte er, Interessen von Unternehmern, Arbeitern und Angestellten zu befriedigen? Wie ist sein sozialpolitischer Kurs im Spektrum des sächsischen und deutschen Liberalismus einzuordnen? Zur Annäherung an diese Fragen zunächst einige biografische Daten: Der im Jahre 1878 geborene Stresemann entstammte dem Berliner Bierverlegerund Schankwirtschaftsmilieu.11 Seine Kindheit verlebte er im ersten Stockwerk einer Kneipe in der Köpenicker Straße 66. Die frühe Jugend wurde nicht durch Armut, sondern eher durch bescheidenen Wohlstand, vor allem aber durch erheblichen Alkoholismus in der Familie geprägt.12 Die schwere körperliche und zugleich aufreibende Arbeit im unteren Mittelstand konnte er jeden Tag aus der Nähe miterleben. Wie hart der Mittelstand um die Jahrhundertwende um seine Existenz kämpfen musste, hat er nicht nur zu Hause erfahren, sondern später auch in seiner – damals durchaus wegweisenden – Dissertation wissenschaftlich verarbeitet.13 Trotz dieser Umgebung konnte Stresemann jedoch frühzeitig „kulturelles Kapital“ erwerben. Die Eltern ermöglichten dem jüngsten Sohn den Besuch des nahe gelegenen Realgymnasiums, das er erfolgreich absolvierte. Das Studium nahm er im heimatlichen Berlin auf, um 11 Knapp, übersichtlich und überzeugend die Zusammenfassung bei Kolb, Stresemann, S. 9 ff. 12 Viele Einzelheiten über die Jugend schon bei Koszyk, Gustav Stresemann, S. 19 ff. 13 Gustav Stresemann, Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts. Eine wirtschaftliche Studie, Berlin 1901 (Diss. Leipzig). Die von seinen Gegnern wegen des Untersuchungsgegenstands häufig bespöttelte Dissertation war durchaus auf der Höhe der Zeit und stellte eine beachtliche, stark sozialgeschichtlich orientierte Studie dar.

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es anschließend in Leipzig fortzusetzen, wo er in Nationalökonomie bei Karl Bücher promovierte. Danach machte er – wie bekannt – eine rasante ökonomische und politische Karriere, erst in Dresden und später dann in Berlin.14 Stresemann hat schwer um diesen Aufstieg kämpfen müssen – und zwar ohne fremde Hilfe. Insofern war er von Anfang an ein „Wunsch- und Überzeugungsliberaler“, der auf persönliche Leistung, Selbständigkeit und Bildung setzte. Er wollte, wie es dem bürgerlichen Wertekanon entsprach, durch eigene Arbeit „nach oben“ kommen, mit unbändigem Willen, unbeirrt durch Misserfolge, mit aller Kraft, mit allen Mitteln und mit nicht zu brechendem Ehrgeiz – und das alles ohne Unterstützung durch eine kollektive Interessengruppe oder ein sicheres soziales Netz. Immerhin, das Beziehungsgeflecht, das er sich durch seine Mitgliedschaft in der Reformburschenschaft „Neo Germania“ aufgebaut hatte, war ihm immer – besonders am Beginn seiner Karriere – eine große Hilfe.15 Stresemann hat den Aufstieg in wenigen Jahren geschafft. Er wurde ein herausragender Politiker und ein – nicht gerade armer – Syndikus. Beides sind wichtige Faktoren am bürgerlichen Wertehimmel. Nicht zuletzt wegen dieser Karriere gehörte Stresemann politisch dem eher pragmatischen (National-) Liberalismus an. Er sah zwar die Schwächen des bestehenden Systems, auch dessen „soziale Schieflagen“, wollte Vieles in liberalem – allerdings weniger im demokratischen – Sinne durch Reformen verändern; er wusste aber zugleich auch die Chancen zu schätzen, die dieses wilhelminische System ihm persönlich und einer großen Gruppe von ähnlich sozialisierten Liberalen geboten hatte. Sein Ziel war es, nicht nur persönlich Karriere zu machen, sondern zugleich auch eine bescheidene liberale Umformung des politischen und gesellschaftlichen, aber auch des sozialen Systems zu erreichen. Bei der Durchsetzung dieser reformorientierten Politik half ihm vor allem seine akkumulierte ökonomische und politische Macht: Stresemann, der mächtige Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller (VSI) leitete vor dem Ersten Weltkrieg einen der schlagkräftigsten Industrieverbände des Kaiserreiches. Er war zudem reichsweit industriell vernetzt und kann ohne Übertreibung als die Führungsfigur im Bund der Industriellen (BdI), der Interessenvertretung der verarbeitenden Industrie bezeichnet werden, zu dessen „heimlichen Vorsitzenden“ er 1911 avancierte.16 Auch im Hansa-Bund 14 Zum frühen Stresemann zuletzt Holger Starke, Dresden in der Vorkriegszeit. Tätigkeitsfelder für den jungen Gustav Stresemann, in: Pohl (Hg.), Politiker und Bürger, S. 86–113. 15 Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 87 ff. 16 Hans-Peter Ullmann, Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluss und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895–1914, Göttingen 1976, vor allem S. 138 ff. Vgl. auch Wright, Stresemann, S. 66.

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spielte er eine beachtliche Rolle.17 Dass er, ohne Mitglied der Zweiten Kammer der Abgeordneten im Dresdner Parlament zu sein, auch in der Politik Sachsens der „starke Mann“ der Liberalen war, sei nur am Rande erwähnt. Zudem wurde er 1907 jüngster Reichstagsabgeordneter, avancierte in Fraktion und Partei erst zum „jungen Mann“ und später zum Kronprinzen Bassermanns, schließlich zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralvorstandes der Nationalliberalen und zum Vorsitzenden der nationalliberalen Reichstagsfraktion.18 Dank seiner Aktivitäten – das kann man sagen, ohne die Rolle der Persönlichkeit in Politik und Ökonomie überbewerten zu wollen – entwickelten sich „seine“ Nationalliberalen auf regionaler Ebene in Sachsen (und später auch im Reich) zum Motor einer „schleichenden Systemveränderung“. Diese „Systemveränderung“ betrifft auch den sozialen Bereich und hier besonders das Miteinander von Arbeitern und Unternehmern sowie die soziale Absicherung der Angestellten. Inwieweit die „soziale Ader“ in Stresemanns Politik durch seine Herkunft (mit)bedingt war, ist schwer zu beurteilen. Sein frühes Engagement für Arbeiterinteressen ist jedoch auffällig. So nahm er im Jahr 1903 – gerade Syndikus des VSI geworden – öffentlich für die streikenden Arbeiter im großen Textilarbeiterstreik von Crimmitschau Partei19, ein Verhalten, das ihm keineswegs den Beifall der mächtigen Textilindustriellen-Lobby einbrachte und ihn in die Nähe der Dresdner Sozialliberalen um Victor Böhmert rückte.20 In diesem Kontext ist auch Stresemanns zeitweiliges Hinneigen zum NationalSozialen Verein zu verorten. Er gehörte zwar nie zu dessen treibenden Kräften, teilte aber seine wesentlichen Grundsätze. Die rasche Abwendung hing nicht mit grundsätzlichen ideologischen Gräben zusammen.21 Es war schlicht und einfach die absehbare Erfolglosigkeit, die ihn nach stärkeren Bataillonen 17 Siegfried Mielke, Der Hansabund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909–1914, Göttingen 1976. 18 Dazu Kolb, Stresemann, S. 122 f. 19 Vgl. dazu: Crimmitschau 1903–1928. Blätter der Erinnerung an Sachsens bedeutsamsten Arbeitskampf, Hg. Hauptvorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, o.O., o.J., S. 144. Ferner: Aufzeichnungen von Philipp Lowenfeld, o.D. LBI Archives, New York, Collection Lowenfeld, p. 81 f. 20 Der bürgerliche Sozialpolitiker nahm in der öffentlichen Meinung in Sachsen und Deutschland eine hervorragende Stellung ein. Vgl. zu Böhmert zuletzt Sebastian Kranich, Victor Böhmert (1829–1918): Nationalökonom, Jurist, Politiker, Publizist, Hochschullehrer, Staatsbeamter, Sozialreformer und Laientheologe, in: Klaus Tanner (Hg.), Gotteshilfe – Selbsthilfe – Staatshilfe – Bruderhilfe: Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000, S. 71–88. Zeitgenössische Würdigung in: Dresdner Neueste Nachrichten, 28.9.1911, Nr. 265, S. 3. 21 Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 91 ff.

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Ausschau halten ließ. Das aber waren in Sachsen die Nationalliberalen. Mit ihrer Hilfe glaubte Stresemann, einen großen Teil auch der sozialen Ideen Naumanns praktisch verwirklichen zu können.

3. Soziale Konflikte und das Tarifvertragswesen Das geordnete, vertraglich abgesicherte und von gegenseitiger Akzeptanz getragene Verhältnis von Gewerkschaften und Unternehmern sowie das Instrument des Tarifvertrages sind zweifellos zentrale Elemente des modernen Sozialstaates.22 Gerade im Falle Deutschlands und des Kaiserreiches blieb der Sozialstaat aus Sicht der sozialistischen Arbeiterbewegung und damit der Mehrheit der organisierten Arbeiter aber unvollendet, so lange damit nicht auch eine prinzipielle Anerkennung der Arbeiterorganisationen und ihrer Rechtsfähigkeit als Tarifpartner verbunden war.23 Allerdings wird in der Forschung ein solches, aus heutiger Sicht nahezu selbstverständliches Verhältnis keineswegs als typisch für die Gesellschaft des Kaiserreiches angesehen.24 Die Anerkennung der Gewerkschaften als gleichberechtigte Partner durch Staat und Unternehmer war im Kaiserreich vielmehr eher die Ausnahme. Das Instrumentarium des Tarifvertrages ist bis zur Revolution 1918/19 in den meisten Bereichen der Wirtschaft – insbesondere in der Schwerindustrie – weitgehend unterentwickelt geblieben, auch wenn es branchenspezifische oder regionale Unterschiede gab.25 Hervorzuheben ist zudem, dass sowohl auf Seiten der Freien Gewerkschaften wie auch bei den Unternehmern die „friedliche“ tarifvertragliche Regelung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein intern noch höchst umstritten war und keinesfalls überall als „Königsweg der Konfliktlösung“ galt.26 22 Ritter, Der Sozialstaat, S. 18. 23 Klaus Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt a.M. 1987, S. 86. 24 So etwa der Tenor des Standardwerkes von Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914, Bonn 1992; ähnlich auch Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung, S. 43 ff. 25 Schönhoven, Gewerkschaften, S. 89 ff.; Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann, Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981, S. 287 ff.; Peter Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, Frankfurt a.M. 1977, S. 97 ff. und Tabelle 7 (S. 229). Zu München vgl. Karl Heinrich Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992, S. 63 ff. 26 Peter Ullmann, Tarifverträge, S. 121 ff.

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Die allgemein konstatierte „soziale Verkrustung“ im Kaiserreich, die allseitige Abneigung gegen Tarifvertrag und Kooperation zwischen Gewerkschaften und Unternehmern, gilt jedoch – und das ist das Besondere – in dieser Schärfe nicht für das hochindustrialisierte Sachsen; sie gilt nicht für die sächsischen Nationalliberalen, das sächsische organisierte Unternehmertum (und seine Interessenvertretungen), und sie gilt auch nicht für die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften. Aus liberaler Perspektive spielten für dieses ungewöhnliche Verhalten eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Anfang des 20. Jahrhunderts – mit dem Beginn der Tätigkeit Stresemanns – mussten sich die Nationalliberalen eingestehen, dass sie nicht nur gegenüber den Konservativen erheblich an politischer Bedeutung, sondern auch fast jeglichen Einfluss auf die Arbeiterschaft verloren hatten. Sie waren zu wenig auf die Arbeiter und ihre Interessen eingegangen und hatten den Sozialdemokraten das Feld nahezu allein überlassen. Dementsprechend resümierte Stresemann im Jahre 1907: „Seit langen Jahren“ – so sein Urteil – „haben die liberalen Parteien einen Fehler gemacht, sie haben sich nicht genügend um die Arbeiter gekümmert, mit diesen hat man die Fühlung verloren“.27 Mit dem Begriff „kümmern“ war bei ihm anfangs allerdings nicht an eine Kooperation mit den Freien Gewerkschaften gedacht, sondern vor allem an eine patriarchalische „Fürsorge“, unter Ausschaltung von Gewerkschaften und SPD.28 Es zeigte sich jedoch, dass die Strategie einer Konfrontation mit der Sozialdemokratie, um auf diese Weise in ihr Potential einzudringen, wenig erfolgreich war. Das Bemühen etwa, die Arbeiter „aufzuklären“, ihr Nationalbewusstsein zu stärken und sie an ihre Firmen – und auf diese Weise auch an die Nationalliberale Partei – zu binden, war wenig erfolgreich. Die Attraktivität der konfessionellen (evangelischen) oder nationalen Arbeitervereine zu erhöhen, scheiterte ebenfalls, und auch der Versuch, die Sozialisten konkret auszugrenzen, hatte wenig Resonanz.29 Zwar wurden etwa 27 Gustav Stresemann am 20.09.07 bei einer Wahlrede in Wurzen, in: Nationalliberales Vereinsblatt, Jg. 2, 1.10.1907, Nr. 13, S. 131, auch abgedruckt in: Gustav Stresemann, Wirtschaftspolitische Zeitfragen, 2. Aufl. Dresden 1911, S. 47–60. 28 Vgl. dazu Karl Heinrich Pohl, Die Nationalliberalen in Sachsen vor 1914. Eine Partei der konservativen Honoratioren auf dem Wege zur Partei der Industrie, in: Lothar Gall/ Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 195–216, hier S. 212. 29 Immerhin aber wurde im Jahre 1911 der Versuch gemacht, die neu gegründeten Evangelischen Arbeitervereine zu stärken. Sie wurden gegründet – so Stresemann – „zur Belebung der nationalen Idee und des evangelischen Bewusstseins, sie fühlen sich zusammengeführt durch die grundlegenden Ideen des Nationalen und des Evangeliums

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bei dem Aufbau des zentralen Dresdner Arbeitsnachweises allen organisierten Arbeitern außer den Sozialisten eine gleichberechtigte Mitwirkung zugestanden; erreicht wurde dadurch aber gar nichts.30 Sehr schnell – und darin war Stresemann einer Vielzahl seiner liberalen Zeitgenossen voraus – erkannte er, dass mit einer solchen Politik die bestehenden Machtverhältnisse im „Roten Königreich“ nicht zu ändern waren. Die Sozialisten blieben die bei weitem stärkste politische Gruppierung31, auch wenn sich dies bei den Landtagswahlen wegen des Zensuswahlrechtes nicht niederschlug, und die Freien Gewerkschaften besaßen nahezu unumschränkt die Meinungsführerschaft unter den Arbeitern. Eine totale Konfrontation schien Stresemann – das war die entscheidende Erkenntnis – unter solchen Umständen höchst kontraproduktiv zu sein. Die realistische Konsequenz war daher, die Sozialisten als legitimierte „Ansprechpartner“ anzuerkennen, ob sich Liberale und Unternehmertum dies wünschten oder nicht. Die wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen sollten zwar weiterhin mit aller Kraft und mit allen Mitteln weitergeführt, unabhängig davon aber sollte die Position der Freien Gewerkschaften als gleichberechtigter Verhandlungspartner respektiert werden. Aus diesen Gründen lehnten Liberale und Unternehmer zwar keinerlei Konfrontationen, wohl aber eine rechtliche und politische Diskriminierung der Freien Gewerkschaften ab, wie es die Unternehmer in Preußen forderten. Die Respektierung der (frei)gewerkschaftlichen Organisationen und die Einsicht in den Nutzen solcher Organisationen auch für die Arbeitgeber stellten die Konsequenz der realen Machtverhältnisse dar.32 Diese Tatsache und gegen die Sozialdemokratie“. Vortrag Stresemanns auf der Jahreshauptversammlung des Landesverbandes der evangelisch-nationalen Arbeitervereine im Königreich Sachsen, 10. März 1912, S. 3, PA AA Berlin, NL Stresemann 128, S. 68 ff. 30 Vgl. dazu Karl Heinrich Pohl, Nationalliberalismus und Kommunalpolitik in Dresden und München vor 1914, in: James Retallack (Hg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Bielefeld 2000, S. 171–188, sowie ders., Zwischen protestantischer Ethik, Unternehmerinteresse und organisierter Arbeiterbewegung. Zur Geschichte der Arbeitsvermittlung in Bielefeld von 1887 bis 1914, Bielefeld 1991, S. 217–225. 31 Zur Situation in Sachsen vor 1914 vgl. Gerhard A. Ritter, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 163– 182. 32 Vgl. dazu die Ausführungen des nationalliberalen Abgeordneten Kaiser im Sächsischen Landtag, 29.1.1914, zitiert nach: Sächsische Industrie 10 (1913/14), Nr. 10, S. 148. „Die Koalitionsfreiheit ... sei notwendig für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ... Eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit sei bei unseren heutigen politischen Verhältnissen nicht möglich, eine einseitige Beschränkung – wie sie in gewissen Kreisen gewünscht

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nicht etwa ein sozialer Idealismus waren die Wurzeln für Stresemanns sächsischen Sozialliberalismus. Diese neue „Sozialpolitik“ wurde zudem durch ein Bündel von regionalen Faktoren begünstigt. Zu nennen wäre etwa die besondere wirtschaftliche Struktur der Betriebe des Landes Sachsen, die Dominanz der Kleinbetriebe, in denen der „Herr-im-Hause-Standpunkt“, wie ihn viele Ruhrgebietsindustrielle pflegten, nur bedingt Fuß zu fassen vermochte. Diese Struktur förderte die – für das deutsche Kaiserreich sehr frühe – offene Haltung gegenüber der organisierten sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Hinzu kam die Tatsache, dass die Arbeitskosten in der exportorientierten Fertigindustrie eine deutlich geringere Rolle spielten als bei den Betrieben der Großindustrien im Ruhrgebiet. Das mochte eine (kollektive) Einigung über soziale und Lohnforderungen ebenfalls erleichtern.33 Ferner dürfte der „mäßigende Einfluss“, den der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad auf Seiten der Arbeiter ausübte und der den verbalen „Extremismus“ der sächsischen Reichstagsabgeordneten in Berlin deutlich konterkarierte, in seiner Wirkung ebenfalls nicht unterschätzt werden. Nach dem großen (und letztendlich verlorenen) Kampf von Crimmitschau in den Jahren 1903/04 war der revolutionäre Geist der sächsischen Gewerkschaften deutlich gedämpft worden. Mächtige Gewerkschaften jedoch – so Klaus Tenfelde – wirken langfristig vor allem als „Streikvermeidungsvereine“ und hatten (und haben) in der Regel nur wenig Interesse an exzessiven Arbeitskämpfen.34 Schließlich bestand auch ein gemeinsames Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern darin, die industriefeindliche Vorherrschaft der Konservativen in Sachsen zu brechen, um auf diese Weise industriellen Wünschen eine wird – direkt gefahrvoll. Bei einer Einschränkung der Koalitionsfreiheit überhaupt würden beide Teile getroffen werden und die Arbeitgeber dann wohl am meisten daran zu leiden haben ... Es sei eine jede Ausnahmegesetzgebung zu vermeiden, keineswegs wolle man das Streikrecht beseitigen ...“. 33 Nicht zuletzt aus dieser Tatsache resultierten die Spannungen zwischen der lohnintensiven sächsischen Textilindustrie mit ihren Großbetrieben und der mehrheitlich verarbeitenden Industrie mit ihren im Schnitt weitaus kleineren, weniger lohnintensiven Betrieben. Vgl. dazu Karl Heinrich Pohl, Politischer Liberalismus und Wirtschaftsbürgertum: Zum Aufschwung der sächsischen Liberalen vor 1914, in: Simone Lässig/ders. (Hg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar 1997, S. 121. 34 Vgl. Klaus Tenfelde, Zur Bedeutung der Arbeitskämpfe für die Entstehung der deutschen Gewerkschaften, in: Erich Matthias/Klaus Schönhoven (Hg.), Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Godesberg 1984, S. 25–38, hier S. 26 f.

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größere Geltung zu verschaffen. Die „gemeinsamen Interessen“ mussten „gebündelt“ werden, sollten sie die gewünschte Stoßkraft erhalten. Vor allem aber wollten die Liberalen der Gefahr vorbeugen, im „roten Sachsen“ eine Revolution zu provozieren. Allein schon deshalb war es klug, rechtzeitig ein Ventil ein wenig zu öffnen und der Arbeiterschaft partiell entgegenzukommen. Stresemann und seine Nationalliberalen waren insofern „klug“ und pragmatisch, das zeigt etwa ihr Verhalten bei der sächsischen Wahlrechtsreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine Reform, die der Sozialdemokratie einen gewissen Einfluss auf die Landespolitik einräumte, die Machtverhältnisse aber nicht grundsätzlich zu ihren Gunsten veränderte. In diesem Sinne ist auch die flexible Politik der sächsischen Nationalliberalen zu interpretieren, mit den „Umstürzlern“ bereits im beginnenden 20. Jahrhundert vor allem auf sozialem Gebiet partiell und punktuell zusammenzuarbeiten.35 Dass dies eine beruhigende und integrative Funktion gehabt haben dürfte, ist nicht von der Hand zu weisen. Trotz dieser auf Kooperation abgestimmten allgemeinen Strategie sei jedoch betont, dass es nach wie vor prinzipielle und sehr tiefe Gräben zwischen den beiden Lagern gab. Wie sah nun das Modell des „sozialen Liberalismus“ in Sachsen aus? Als Beispiel dafür kann die Wirtschafts- und Sozialpolitik des dem VSI angegliederten wichtigen Unterverbandes, des „Deutschen Industrieschutzverbandes“ dienen.36 An ihm, der sich im Auftrage des VSI primär mit der zentralen und sensiblen Frage von Streiks und Aussperrungen, indirekt aber auch mit der Ausbreitung des Tarifvertrages in Sachsen befasste, lässt sich zeigen, wie weit 35 Pohl, Politischer Liberalismus und Wirtschaftsbürgertum, S. 116 ff. Dem eher kritisch gegenüberstehend: Gerhard A. Ritter, Das Wahlrecht und die Wählerschaft im Königreich Sachsen 1867–1914, in: Ders. (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreiches, München 1990, S. 49–101. Vgl. dazu auch Stresemann bei einer Rede vor dem VSI, 16.2.1910, in: Gustav Stresemann, Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 214–237, hier S. 234: Es sei den Unternehmern am besten gedient, wenn man „berechtigte Forderungen auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung unterstütze und die entsprechenden Vorlagen mitgestalte, anstatt sie grundsätzlich abzulehnen“. 36 Vgl. dazu: Karl Heinrich Pohl, Der Verein Sächsischer Industrieller und „sein“ Industrieschutzverband. „Fortschrittliche“ Unternehmerpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts?, in: Unternehmer in Sachsen. Aufstieg – Krise – Untergang – Neubeginn, Hg. Ulrich Heß/Michael Schäfer, Leipzig 1998, S. 145–156, und ders., Sachsen, Stresemann und der Verein Sächsischer Industrieller: „Moderne“ Industriepolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998), S. 407–440, hier 442 ff. Hierbei ist zu betonen, dass dieser Verband zwar der größte in Sachsen war, die Branche der Textilindustrie – die diesen Kurs nicht mittragen mochte – aber nicht vertrat.

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die Zugeständnisse von Liberalen und VSI an den „sozialen Frieden“, an SPD und Freie Gewerkschaften in der Praxis des täglichen Umgangs miteinander tatsächlich gingen, welche Konfliktregelungen gewünscht wurden – und welche nicht.37 Erstens: In Sachsen setzte sich nach und nach – und zwar mit immer größerer Beschleunigung – das Tarifvertragswesen nahezu flächendeckend durch. Nirgendwo in Deutschland, außer in Bayern und hier besonders im Großraum München38, reüssierte diese moderne Form der Problemlösungsstrategie so stark wie im Königreich Sachsen im beginnenden 20. Jahrhundert. Da Tarifverträge erst seit 1910 systematisch erfasst wurden, sind präzise Werte allerdings erst seit dieser Zeit verfügbar. Einige Daten: Wurden in Sachsen z.B. 1910 die Arbeitsverhältnisse erst in 7330 Betrieben mit etwa 87.000 Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geregelt, waren es zwei Jahre später schon 15.444 Betriebe mit 170.760 Beschäftigten.39 Im Reich wurden vor dem Ersten Weltkrieg durchschnittlich etwa 15 % aller Arbeiter tarifvertraglich eingebunden, in Sachsen waren es dagegen aber etwa 25 % – mit eindeutig steigender Tendenz. Und das trotz der Großbetriebe der Textilindustrie, die sich dem sozialpolitischen Kurs der Stresemannschen Sozialliberalen massiv entgegenstemmten. Zweitens: Die Zahl der Streiks verminderte sich in Sachsen in gravierendem Maße. Die eingeleitete „Sozialpartnerschaft“ mit dem Ziel der Streikvermeidung funktionierte nahezu perfekt. Die Zahl der „vermiedenen Streiks“, also der Regelung der Konflikte vor dem Ausbruch eines Arbeitskampfes, schnellte massiv empor. Konnten 1906 beispielsweise erst etwa sechs Prozent aller Konflikte im Vorfeld friedlich bereinigt werden, waren es im Jahre 1911 schon mehr als die Hälfte. Die friedliche Lösung von Konflikten überwog also bereits die der unfriedlichen, eine Tendenz, von der 37 Bereits früh wurde im DIV der Gedanke ausführlich diskutiert, eine Pensionskasse für die Angestellten zu schaffen, um diese durch eine angemessene soziale Absicherung an die Betriebe zu binden und zugleich gegen die Sozialdemokratie zu immunisieren. Hier wurden viele Gedanken der späteren Angestelltenversicherung vorweggenommen. Vgl. dazu Gustav Stresemann, Die Stellung der Industrie zur Frage der Pensions-Versicherung der Privatangestellten. Vortrag gehalten in der Generalversammlung des Bundes der Industriellen am 15. Oktober 1905, in: Ders., Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 47–60, hier S. 56. 38 In München waren etwa zwei Drittel aller Beschäftigten (Männer und Frauen) tarifvertraglich abgesichert. Vgl. Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung, S. 270. 39 Diese und die folgenden Zahlen nach Thomas Adam, Arbeitermilieu und sozialdemokratisch orientierte Arbeiterbewegung in einer Großstadt. Das Beispiel Leipzig, Phil. Diss. (ms.) Leipzig 1997, S. 246 ff.

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im Reich insgesamt noch keine Rede sein konnte. Allerdings: Die Schärfe der jeweiligen Auseinandersetzungen wuchs deutlich, das gilt für das Reich und Sachsen. Drittens: Die These, die im VSI vertretenen Industriellen hätten einen geschmeidigen und bis zu einem gewissen Grad auch moderaten sozialen Kurs gegenüber den Arbeitern und ihren Bewegungen gefahren, lässt sich auch bei der – äußerst sparsamen – Anwendung des schärfsten Instrumentes der Arbeitgeber, der Aussperrung, nachweisen, ein Instrument, das der DIV grundsätzlich negativ beurteilte.40 Der DIV kritisierte dementsprechend nicht nur den Dachverband „Verein Deutscher Arbeitgeberverbände“ wegen dessen radikaler Aussperrungspolitik, sondern verließ ihn genau aus diesem Grunde. Er war es leid, hohe Beiträge für Kampfmaßnahmen der Unternehmer gegen die Arbeiter zu entrichten, die er selber missbilligte und die er in Sachsen kaum anwendete. Fazit: Die Politik der sächsischen Unternehmer bestand in einer partiellen Anerkennung der und einer begrenzten Zusammenarbeit mit den Freien Gewerkschaften sowie im allgemeinen Ausbau eines Tarifvertragssystems. Das geschah – um es noch einmal zu betonen – vor allem aus der Einsicht in die politische und ökonomische Notwendigkeit. Um den sozialen Frieden weitgehend zu wahren, (unnötige) Streiks möglichst zu verhindern und die Schädigung der Unternehmen gering zu halten – das war wohl der wichtigste Faktor –, sah man in der Kooperation und nicht im erbitterten Kampf den erfolgversprechenden Weg. Mit solchen Auffassungen nahm der DIV nicht nur eine Sonderstellung unter den Arbeitgeberverbänden ein, sondern er wies zugleich auch den Weg in die Zukunft. Eine Politik der rationalen sozialen Auseinandersetzung – ungeachtet aller bestehenden Differenzen – kann man zu Recht als dem Modell eines gegenwärtigen „Sozialstaats“ angemessen bezeichnen. Die Weimarer Republik und dann die Bundesrepublik Deutschland haben dieses Modell jedenfalls weitgehend übernommen.

4. Die Bedeutung Stresemanns für das Angestelltenversicherungsgesetz Analysiert man die Vorgeschichte und die spätere Realisierung des Angestelltenversicherungsgesetzes aus dem Jahre 1911, so ist der Beitrag Stresemanns

40 Pohl, Sachsen, Stresemann und der Verein, S. 428.

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kaum zu überschätzen, wie Michael Prinz zu Recht betont hat.41 Der spätere Ehrenvorsitz Stresemanns im Angestelltenverband ist nur ein äußeres Zeichen für die Anerkennung seiner Leistungen. Mit dieser Gesetzgebung hat Stresemann wahrscheinlich eine der größten sozialpolitischen Innovation zu Beginn des 20. Jahrhunderts (mit) angestoßen, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.42 Die Versicherung ist allerdings in der Bundesrepublik auf eine Art und Weise verändert worden, die den ursprünglichen Intentionen Stresemanns deutlich widersprechen. Ein mögliches Motiv für Stresemanns starkes Engagement auch für den neuen Mittelstand ist sicherlich seine eigene Sozialisation gewesen. Obwohl es schwer ist, ihre Bedeutung für das spätere politische Handeln zu bewerten, spricht einiges dafür, dass Stresemann die Jugenderfahrungen die Augen für dessen Problematik geöffnet hat. Neben sozialen, politischen und parteitaktischen Aspekten wird immer auch persönliche Betroffenheit bei seinem Kampf um die Realisierung der Versicherung eine Rolle gespielt haben. Das erlebte Ringen des alten Mittelstandes um seine Existenz, die Hochschätzung der unabhängigen Arbeit und die klare Abgrenzung gegenüber den Sozialdemokraten, kann die Solidarität mit dem alten und neuen Mittelstand sicherlich (mit) er41 Vgl. hierzu Prinz, Gustav Stresemann als Sozialpolitiker, S. 114–142. Dem Aufsatz von Prinz verdanke ich entscheidende Anregungen und wichtige Literaturhinweise. Vgl. ferner ders., Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986; ders., Wandel durch Beharrung. Sozialdemokratie und „neue Mittelschichten“ in historischer Perspektive, in: AfS 29 (1989), S. 35–73; ders., Die Arbeiterbewegung und das Modell der Angestelltenversicherung. Zu einigen Bedingungen für die besondere Bürgerlichkeit des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 435–460. Ferner: Barbara Bichler, Die Formierung der Angestelltenbewegung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911, Berlin 1997, und Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850–1980, Göttingen 1981. 42 Gustav Stresemann, Die Stellung der Industrie zur Frage der Pensions-Versicherung der Privatangestellten. Vortrag gehalten in der Generalversammlung des Bundes der Industriellen am 15. Oktober 1906, in: Ders., Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 47–60; ders., Zur Pensionsversicherung der Privatbeamten. Referat gehalten am 21. April 1907 in Dresden vor der Privatbeamten-Versammlung, Dresden o. J. (1907); ders., Staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten, in: Nationalliberale Blätter 19 (1907), S. 102 f.; ders., Die Pensionsversicherung der Privatbeamten, Rede gehalten auf dem Allgemeinen Vertretertag der nationalliberalen Partei zu Wiesbaden am 6. Oktober 1907, in: Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 71–101. Literatur zur besonderen Rolle Stresemanns: Hans-Peter Ullmann, Der Bund der Industriellen, S. 215 ff. und Peter Ullmann, Tarifverträge, S. 184 ff., sowie Prinz, Gustav Stresemann als Sozialpolitiker und Bichler, Die Formierung der Angestelltenbewegung.

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klären. Stresemann teilte ihr Leistungsethos, stützte ihr Selbstverständnis, schätzte ihr kulturelles Streben und war schon aus diesen Gründen bereit, ihren Status zu schützen. Neben dieser persönlichen Komponente spielten aber auch – wie schon bei seinem Verhalten gegenüber den Gewerkschaften in Sachsen – politische Interessen, politischer Pragmatismus und politische Flexibilität eine erhebliche Rolle. Mit Hilfe des neuen Gesetzes sollte der Privatbeamtenschaft – ein großes Wählerpotential für die Liberalen, wie Stresemann zu Recht vermutete – ein Tribut dafür gezollt werden, „dass sie stets zur nationalen Sache gehalten und unsere Schlachten für die nationalen Ideen mit geschlagen hat“43. Aus Stresemanns Sicht stellte diese – ständig wachsende – Gruppe ein wichtiges Bollwerk gegen seinen Hauptfeind, die Sozialdemokratie und vielleicht das wichtigste Klientel der Liberalen dar.44 Es sei – so Stresemann auf dem Vertretertag der Nationalliberalen – „ein Ruhmestitel der deutschen Privatbeamtenschaft, dass sie bisher diesen Einflüsterungen [der Sozialdemokratie] nicht in nennenswertem Umfang Gehör geschenkt hat, und dass die große gewaltige Sozialdemokratie in ihrer Organisation für die Privatbeamten ganze 6.700 Mitglieder zählt gegenüber den 800.000 der übrigen Verbände“. Der seit der Jahrhundertwende immer mehr abbröckelnde kulturelle, soziale und ökonomische Status der Angestellten sollte mithin durch die neue Versicherung stabilisiert, die Gruppe gegenüber der Sozialdemokratie immunisiert werden. In diesem Kontext, kritisierte Stresemann – wie schon in der Frage der Tarifverträge – vor allem diejenigen Industriellen, die die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hätten und die sich die mit der neuen Versicherung bietenden Chance versäumen wollten: „Ich halte es geradezu für einen Kardinalfehler, die Industrie gewissermaßen aufhetzen zu wollen zu einem Arbeitgeberstandpunkt kat exochen, ihr zu sagen, du musst dich in Gegensatz stellen zu allen Arbeitnehmerbestrebungen, anstatt ... darauf hinzuweisen, dass wir gemeinsame Interessen haben mit Millionen von Volksschichten, die

43 Stresemann, Die Pensionsversicherung der Privatbeamten, Rede gehalten auf dem Allgemeinen Vertretertag der nationalliberalen Partei zu Wiesbaden am 6. Oktober 1907, in: Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 84. 44 Als Ideengeber für Stresemanns Modell diente wahrscheinlich der Pensionsverein der Bankiers Max und Georg Arnhold in Dresden, zu denen er rege Kontakte unterhielt. Vgl. Claus Simmich, 100 Jahre Dresdener Pensionsverein a.G.. Chronik einer überbetrieblichen Pensionskasse, Kulmbach 2001, S. 43 ff.

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sich nur im falschen Lager befinden, wenn sie sich missbrauchen lassen, gegen die Industrie zu wirken.“45 Voraussetzung für den Stresemannschen Erfolg bei der Durchsetzung der Sonderversicherung war – ebenfalls wie bei der Politik des Ausgleichs mit den Freien Gewerkschaften –, dass seine Karriere genau zu diesem Zeitpunkt ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Der VSI stellte auch hier wieder die Speerspitze seiner industriellen Bundesgenossen dar, genau so wie der von ihm mitgesteuerte BdI. Politisch konnte er wiederum die Nationalliberalen von seinem Kurs mehrheitlich überzeugen. Dass er auch die Angestelltenbewegung für die Sonderkasse gewann, versteht sich schon fast von selbst.46 Das allein aber reichte – wie schon bei seiner Politik in Sachsen – nicht aus. Hinzu kam, dass er mit seinem Ziel auch den „Zeitgeist“ traf. Hier ist vor allem auf die besondere Rolle der Beamten im deutschen Kaiserreich – mit auf das Rollenverständnis der Angestellten ausstrahlender Wirkung – hinzuweisen, die als Vorbild im kollektiven Bewusstsein von (bürgerlicher) Gesellschaft und auch Wirtschaft eine im internationalen Vergleich überragende Rolle spielten.47 Stresemann gelang es, dem von ihm propagierten Konstrukt „neuer Mittelstand” – und damit folge ich der Argumentation von Michael Prinz – einen positiven Sinn zu unterlegen. Zwar betonte auch er die Gefahr eines Abwanderns dieser wichtigen Gesellschaftsschicht zur Sozialdemokratie. Er wies ferner auch darauf hin, dass diese Gruppe den sozialen Abstieg nicht verdient habe und von der Gesellschaft gestützt werden müsse. Zugleich aber, und das war entscheidend, bot er eine positive Sinnstiftung an, die er öffentlich wirksam propagierte – und die die Gegner der Versicherung letztlich überzeugte. Es gelang ihm, auf die positiven Leistungen dieser höchst heterogenen Gruppe für die Gesellschaft abzuheben und deren allgemeine gesellschaftliche Bedeutung eindringlich darzulegen. Man müsse – so Stresemann – für diese Gruppe eintreten, nicht (nur) wegen der sozialen Gerechtigkeit, sondern vor allem, weil sie das Rückgrat der deutschen Wirtschaft und ihres Aufschwungs darstelle. Sie sei der Motor deutscher 45 Stresemann, Industrie und Hansabund, in: Jahresberichte des Bundes der Industriellen für das Geschäftsjahr 1908/1909 (Zweiter Teil), Berlin 1910, S. 34–53, hier S. 39. 46 Michael Prinz, Gustav Stresemann als Sozialpolitiker, S. 123 ff., hat die Aktivitäten Stresemanns, sein politisches Gespür und sein schnelles und kluges Agieren ausführlich dargestellt und vor allem die Schwierigkeiten hervorgehoben, die politisch zu überwinden waren. Vgl. dazu auch Wright, Stresemann, S. 47 f., der besonders die Sammlung der Kräfte gegen Konservative und Schwerindustrie betont. 47 Jürgen Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, S 148 ff.

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Leistungen im internationalen Wettbewerb: „Deshalb, glaube ich, hat auch die deutsche Industrie, hat der deutsche Handel ein vitales Interesse daran, für diese seine Privatbeamten und Helfer zu sorgen, dass ihre Berufsfreudigkeit gehoben werde, und nicht in ihrer Arbeitskraft eine Lücke eintrete“. Durch keinerlei Unsicherheit – so der Tenor der Argumentation – dürften die Kräfte der Privatbeamten für das Gemeinwohl verschleudert werden. Im Gegenteil: Ihre soziale Absicherung sichere nicht nur sie selber, sondern vor allem die deutsche Wirtschaft. Allein schon deswegen müsse man sie fördern.48 Dieser Appell hatte schließlich nicht nur Erfolg im Gesetzgebungsprozess, sondern zugleich wurde mit dieser Gesetzgebung auch erst die Gruppe konstruiert, die gefördert werden sollte. Mit der Versicherung gelang es, die äußerst heterogene Schicht der Angestellten gewissermaßen als eine besondere „Klasse“ ins Leben zu rufen – und zwar konturiert in scharfer Abgrenzung gegen die Sozialdemokratie. Die Schicht der Angestellten, wie wir sie heute kennen, gibt es insofern erst seit 1911. Die sozialen Wohltaten bildeten den Kitt zur Konstruktion und zugleich zur inneren Stabilisierung dieser gesellschaftlichen Gruppe. Damit erhielt das, was im Gegensatz dazu einen „Arbeiter” ausmachte, nun scharfe und neue – und zwar negative – Konturen. Auch wenn das Gesetz, das die Altersversorgung der damals etwa anderthalb Millionen Angestellten – im zeitgenössischen Jargon „Privatbeamten“ – neu regelte, vielleicht nicht ganz die Bedeutung der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung und der Rentenreform von 1957 erreicht, kann es durchaus in gleichem Atemzug mit ihnen genannt werden. Es „brach mit grundlegenden Prinzipien der bisherigen Sozialversicherung“ 49 und stellt in jedem Fall ein zentrales Element deutscher – und Stresemannscher – Sozialpolitik bis heute dar. Drei Elemente dieser neuen Versicherung sind besonders auffällig und sprengten den Rahmen der damaligen sozialen Systeme50: Erstens: Das Ziel dieser an dem Vorbild der Beamten orientierten Versicherung, die nahezu alle Angestellten umfasste, bestand darin, den Empfänger finanziell so gut auszustatten, dass er auch im Alter über die Mittel verfügte, seinen bisherigen Status weitgehend beizubehalten. Es handelte sich hier also nicht mehr in erster Linie um eine Hilfe für wirtschaftlich und sozial Schwache, sondern um die Wahrung der Kontinuität der materiellen Ressourcen auch nach dem 48 Vgl. auch seine Ausführungen in: Die Stellung der Industrie zur Frage der PensionsVersicherung der Privatangestellten, in: Ders., Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 57: Durch die Versicherung würde eine „Erhöhung der Berufsfreudigkeit, Herbeischaffung eines besseren Menschenmaterials usw.“ erreicht. 49 Bichler, Die Formierung der Angestelltenbewegung, S. 230. 50 Das Folgende nach Prinz, Gustav Stresemann als Sozialpolitiker , S. 140 ff.

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Eintritt ins Rentenalter. Das war neu für den deutschen Sozialstaat und grenzte den so Versicherten deutlich gegenüber der Sozialversicherung der Arbeiter ab. Die Eigenbeiträge der Versicherten waren allerdings auch deutlich höher. Zweitens: Das Gesetz garantierte nicht nur dem Pensionär – und das war ebenfalls eine Neuheit –, sondern auch seinen Familienangehörigen eine ansprechende Versorgung, und zwar schon ab dem 65. Lebensjahr. Die gezahlten Leistungen waren zudem unabhängig davon, ob und inwieweit die Familienangehörigen arbeitsfähig waren oder nicht. Das stellte eine erhebliche Erweiterung des bis dahin geltenden Versicherungsschutzes dar. Drittens: Der Invaliditätsbegriff wurde neu definiert und erheblich erweitert. Eine mögliche Invalidität zwang den Invaliden fortab nicht mehr in den Wettbewerb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Der invalide Angestellte konnte sich vielmehr allein auf sein bisheriges Tätigkeitsfeld beschränken. Einem sozialen Abstieg war damit – anders als bei den Arbeitern – weitgehend vorgebeugt, der Status auch bei Invalidität gesichert. Fazit: Insgesamt kann man daher von einem Erfolg der politischen Strategie Stresemanns sprechen, wie Gerhard A. Ritter konstatiert: „Die Angestelltenversicherung hat ihr politisches Ziel, das Sonderbewusstsein der ja keineswegs einheitlichen Schicht der Angestellten gegenüber der Arbeiterschaft zu fördern und damit ihre politische Organisation durch sozialistische Verbände zu erschweren, zumindest bis zum Ende der Weimarer Republik teilweise erfüllt.“51 Dass damit auch – und gerade – liberale Parteiinteressen auf Kosten eines einheitlichen Versicherungssystems bedient wurden, muss nicht weiter hervorgehoben werden, stellte aber einen wichtigen Pfeiler in Stresemanns politischer Konzeption dar. Wie ist nun diese Versicherung im System des Sozialstaates zu beurteilen? Gerhard A. Ritter hat diese Versicherung als eine positive spezifische Prägung des deutschen Sozialstaates interpretiert, die eine ausgesprochen progressive Wirkung ausgeübt habe. Die Angestellten wurden „damit im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts, besonders aber im Versicherungswesen ... zu Schrittmachern einer Entwicklung, in der ihnen zunächst die Arbeiter des öffentlichen Dienstes und später alle Arbeitnehmer folgten“52. Sie wurden „zu einem Modell, an dem sich in Zukunft alle Forderungen zur Verbesserung der Arbeiterversicherung und zur Gleichbehandlung der Arbeiter in der Sozialversicherung, die bis 1957 schrittweise erreicht wurde, orientieren konnten“.

51 Ritter, Soziale Sicherheit in Deutschland und Großbritannien, S. 144 f. 52 Ebd., S. 146; danach auch das folgende Zitat.

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Diesem Urteil ist zuzustimmen. Bemerkenswert ist jedoch, dass damit die ursprünglichen Intentionen Stresemanns bei der Durchsetzung dieser Gesetzgebung auf den Kopf gestellt worden sind. Genau das – eine Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten – hatte Stresemann gerade verhindern wollen. Seine mit der neuen Versicherung verfolgten Ziele sind insofern von der Entwicklung überholt worden. Stresemann wollte Differenzierung und nicht die Gleichsetzung, wollte Bevorzugung einer ihm nahestehenden Gruppe und nicht gleiche Rechte auch für die Arbeiterschaft. Kurzum: Er wollte in diesem Fall eher „spalten“ und nicht „einigen“. Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass mit dem Gesetz von 1911 eine Entwicklung – gewollt oder ungewollt – angestoßen wurde, die bis heute wirkt und weitgehende, aus der Sicht der Versicherten durchaus positive Folgen hatte. Stresemanns Engagement ist mithin immer noch wirksam. Vielleicht hätte er – um ein wenig zu spekulieren – auch gegenwärtig Wege gefunden und nach weiteren sozialen Neuerungen Ausschau gehalten, um das Klientel der Liberalen in besonderer Weise zu bedienen.

DETLEF LEHNERT

Sozialliberale Tendenzen in Österreich und der Schweiz 1890–1920* Wer eine aktuelle Mitgliederliste der Liberalen Internationale zur Hand nimmt, wird von unseren deutschsprachigen südlichen Nachbarn überrascht sein: Die Schweiz ist dort gegenwärtig mit keiner Partei vertreten. Lediglich unter „Cooperating Organisations“ findet sich erstaunlicherweise dann sogar die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), so wie die Friedrich-Naumann-Stiftung1 – diese aber nur ergänzend zur deutschen FDP, die Vollmitglied ist.2 Die Länderkennung ist hier erforderlich, denn auch die traditionsreiche FreisinnigDemokratische Partei3 der Schweiz nennt sich nach einer zusammenführenden Neuformierung kurz gefasst nun „FDP. Die Liberalen“. Diese gehört allerdings wie die FDP des „großen Kantons“, wie Deutschland zuweilen von Schweizern in respektvoller Ironie genannt wird, dem kontinental mitgliederstärkeren Verbund der European Liberal Democrat and Reform Party an.4 Dort ist aus Österreich noch das Liberale Forum vertreten, nach Anfangserfolgen Mitte der 1990er Jahre und einem sehr respektablen Ergebnis der Parteichefin Heide Schmidt als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt allerdings längst nur mehr eine Splittergruppe. Ausgerechnet der Rechtspopulist Jörg Haider gab 1995 deutschen Liberalen kurz nach dem Ausscheiden seiner FPÖ aus der Internationale in einem Interview den folgenden Rat: „Die FDP hat eine Chance, wenn sie zur Tradition von Friedrich Naumann zurückkehrt, mit einer sozialen Komponente, damit sie wieder den Mittelstand anspricht und auch leistungsorientierte Facharbeiter.

* Dieser Text geht (wie in diesem Band auch der Beitrag von Peter Brandt) auf einen Vortrag vom 19.11.2010 in Potsdam zurück, um weitere Quellenrecherchen, Analysen und die Anmerkungen ergänzt. 1 http://www.liberal-international.org/editorialIndex.asp?ia_id=525 (6.7.2012, so wie alle Webadressen dieses Beitrags). 2 http://www.liberal-international.org/editorialIndex.asp?ia_id=523. 3 Die französische Version Parti radical-démocratique suisse, die italienische Partito liberale radicale svizzero und die rätoromanische Partida liberaldemocrata svizra lassen bereits erkennen, dass in anderen Sprachkulturen „radikale“ Tendenzen für die freisinnige bzw. demokratische Grundrichtung stehen. 4 http://www.eldr.eu/en/members/political-parties.

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Da ist der Weg der FPÖ schon ein Vorbild.“5 Bereits der Hauptvertreter einer historiografischen Dreilagertheorie gruppierte diese aus der gemeinsamen „antiliberalen Bewegung“ als die „christlich-soziale, die national-soziale und die sozial-demokratische“ – und wollte so offenbar deutschnationale Tendenzen in Österreich terminologisch mit Naumann gegen den Liberalismus ausspielen.6 Um die neue Unübersichtlichkeit der Traditionsbezüge komplett zu machen, sei noch erwähnt, dass in der Schweiz das Stichwort eines sozialen Liberalismus von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) beansprucht wird. Diese will mit ihrer „Charta für eine liberal-soziale Schweiz“ eine „liberal-soziale Marktwirtschaft“ zum Leitbild nehmen7, die in Presseberichten auch „sozial-liberale Marktwirtschaft“ genannt wird.8 Die CVP der Schweiz präsentiert sich damit zwischen der Sozialdemokratie und der eher wirtschaftsliberal profilierten FDP sowie der rechtsgerichteten SVP, die im Unterschied zur FPÖ deutlich antisozialstaatlich positioniert ist. Man könnte diese knappe Gegenwartsskizze für historisch irrelevant halten, wenn sie nicht doch wesentlich mit erklärt, warum dort bestimmte Traditionslinien heute weitgehend vergessen sind oder recht beliebig umdefiniert werden.

1. Die Sozialpolitische Partei und benachbarte Strömungen in Österreich Beginnen wir also die historische Spurensuche im Gründungsjahr 1896 von Naumanns Nationalsozialem Verein. Damals entstand in Wien die Sozialpolitische Partei, die sich in den Kontext eines Sozialliberalismus einordnen lässt.9 Solche Neugründung stand ersichtlich in Opposition zum Erfolg der 5 http://www.focus.de/politik/ausland/ausland-der-letzte-ostblockstaat_aid_151000. html. 6 Vgl. Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in: Geschichte der Republik Österreich, Hg. Heinrich Benedikt, 2. Aufl. Wien 1977, S. 293. Allerdings diente offenbar dieser Beitrag teilweise mehr einer Rechtfertigung der eigenständigen Bedeutung des nationalen Lagers als nur der historischen Information, wenn sich Datierungsfehler wie „Hindenburg bei den Reichstagswahlen von 1931“ (S. 398 statt richtig 1932) und „Machtübernahme Hitlers in Deutschland im Jänner 1932“ (S. 414 statt richtig 1933) doch auffällig häufen. 7 http://www.cvp.ch/fileadmin/Bund_DE/downloads/partei/Parteiprogramm-dt11.pdf. 8 NZZ, 28.1.2005; http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/article9tz7j-1.301625. 9 Vgl. Eva Holleis, Die Sozialpolitische Partei. Sozialliberale Bestrebungen in Wien um 1900, Wien 1978.

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Christlichsozialen Karl Luegers, der 1896 erstmals zum Wiener Bürgermeister gewählt wurde. Dieser profitierte von der Erweiterung des Privilegienwahlrechts von „Besitz und Bildung“ auf den selbständigen Mittelstand, der für antisemitische Propaganda empfänglich war. Als vormaliger Demokrat hatte Lueger seine antisemitischen Parolen und die Betonung katholischer Tradition intensiviert, als er merkte, damit Stimmungen der Zuhörerschaft anzusprechen und eine Massenbewegung unter seiner Führung, konkurrierend zur entstehenden Sozialdemokratie, schaffen zu können.10 Das zuvor sehr restriktive Privilegienwahlrecht hatte die elitären Liberalen nicht vor die Aufgabe gestellt, sich organisatorisch und programmatisch zu modernisieren.11 In der Herausforderung durch eine schlagkräftige „rote“ und „schwarze“ Massenpartei wurden nun in Kreisen, die sich als freisinnig, freiheitlich oder fortschrittlich bezeichneten, zwei Defizite erkennbar: Zum einen war mit dem Hineinwachsen einer altliberalen Bildungs- und Verwaltungselite in die teilkonstitutionalisierte Habsburger-Monarchie der Anschluss zur 1848er Tradition weithin verloren gegangen. Dies führte Demokraten wie den volkstümlichen Abgeordneten Ferdinand Kronawetter, der nicht Luegers Weg mitgehen wollte, über den 1893 gegründeten bezirklichen „Sozialpolitischen Verein“ zur Sozialpolitischen Partei. Auch ein nationaldemokratisches Erbe von 1848 kollidierte mit einem kaisertreuen „Hofratsliberalismus“. Deshalb stieß auch ein gemäßigter Politiker des großdeutschen Lagers wie Engelbert Pernersdorfer, bevor er nationalreformistischer Sozialdemokrat wurde, zur Sozialpolitischen Partei; er verschaffte ihr so mit seinem Organ „Deutsche Worte“ eine publizistische Stimme.12 Zum anderen spiegelte der Parteiname eine sozialpolitische Zeitströmung, die Österreich mit dem Deutschen Reich verknüpfte. Nicht wenige aus der Wiener Bildungsschicht, die sich den Sozialpolitikern verbunden sahen, hatten an reichsdeutschen Universitäten studiert. Der zumeist als führender Kopf der Sozialpolitischen Partei eingestufte Eugen v. Philippovich hatte sogar als Lehrstuhlvorgänger Max Webers in Freiburg Nationalökonomie gelehrt, bevor er seit dem Herbst 1893 nach Wien zurückkehrte. Insofern weiterhin eng mit Deutschland verbunden, war Philippovich im Verein für Socialpolitik tätig. Zumal er gleichermaßen liberal wie modern 10 Vgl. John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: The Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981; ders., Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897–1918, Chicago 1995; ders., Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien 2010. 11 Vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932, Wien 1984. 12 Vgl. Holleis, Partei, S. 13–15.

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sozialpolitisch orientiert blieb, könnte man Philippovich einerseits noch am ehesten mit dem nationalökonomischen Fachkollegen Lujo Brentano vergleichen. Jedenfalls hat Philippovich eine umfassende Definition des gemeinsamen Anliegens zu liefern versucht: „Sozialreform ist nicht nur eine Summe von Mitteln, deren Anwendung im Wege der Gesetzgebung und Verwaltung das Werden eines befriedigenden Zustandes verbürgt. Sozialreform ist vielmehr die uns zu Bewußtsein gekommene und bewußt unterstützte Entwicklungsbewegung der ganzen Gesellschaft in allen ihren Teilen nach dem Ziele einer Ausgleichung des Kulturzustandes der gesamten Bevölkerung mit den gewonnenen technischen Machtmitteln der Produktion.“13 Sozialer Ausgleich als Kulturfortschritt durch Nutzung aller Zivilisationskräfte war also das Konzept. Dabei war es durchaus eine Besonderheit der österreichischen Debatte bis hin zur Wohnungspolitik im „Roten Wien“ der 1920er Jahre, dass neben den Fabrikverhältnissen auch den unzureichenden Wohnbedingungen der breiten Massen eine gleichrangig hohe Aufmerksamkeit gewidmet wurde.14 Wenn Eigentum zu den klassischen Elementen liberaler Gesellschaftslehre gehörte, so war zumindest in Metropolen selbst für mittleres Bürgertum der Neuerwerb von eigenem Hausbesitz (wenn nicht Erbmasse vorlag) kaum mehr erschwinglich und so auch ein soziales Interesse an Bodenreform und Mieterschutz zunehmend vorhanden. Andererseits fanden sich bei Philippovich stärker als jemals bei dem anglophilen Brentano gewissermaßen ursprünglichere national-soziale Neigungen im Sinne Naumanns – wie schon in den späten Bismarckjahren eine Unterstützung der Kolonialpolitik als Flankierung der inneren Friedensstiftung.15 In einer Erstausgabe der „Socialpolitischen Correspondenz“, die aber nicht zu einem kontinuierlich erscheinenden Publikationsorgan der Gruppierung entwickelt wurde, präsentierte die Sozialpolitische Partei im Februar 1897 ihr

13 Eugen von Philippovich, Wirtschaftlicher Fortschritt und Kulturentwicklung, Freiburg 1892, S. 49. 14 Vgl. ders., Wiener Wohnungsverhältnisse, Berlin 1894. 15 Die entsprechenden Nachweise http://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/PhilippovichEugen.htm dementieren aber so wenig das sozialpolitische Engagement von Philippovich in seinen Wiener Jahren, wie die Herkunft von Naumann aus dem StoeckerUmfeld gegen die Hinwendung zum organisierten Liberalismus ausgespielt werden sollte. Nach dem Zeugnis von Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, war Philippovich 1911 mit ihm zusammen auf einer Friedenskonferenz der Carnegie-Stiftung aktiv (S. 304). Die Entwicklung des einzigen nationalsozialen Reichstagsabgeordneten war ohnehin noch viel bewegter: Hellmut von Gerlach, Von rechts nach links, Hg. Emil Ludwig, Zürich 1937.

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Wahlprogramm zum Reichsrat. Es soll hier zur Charakterisierung von sozialfortschrittlichen Tendenzen in gereihten Auszügen vorgestellt werden: „Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht ... Reform des Vereinsund Versammlungsrechtes ... Weitere Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ... Abwehr des Einflusses der Kirche auf staatliche Angelegenheiten ... Sozialpolitische Reformen: a) öffentlicher Betrieb jener Unternehmungen, welche für die Zwecke der Allgemeinheit bestimmt sind oder welche in Privathänden zu einer das Gemeinwohl schädigenden Monopolwirtschaft führen, und Verwaltung aller öffentlichen Betriebe als Musterbetriebe mit weitgehender Arbeitsfürsorge; Einflußnahme auf die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffentlicher Arbeiten; b) unbeschränkte Koalitionsfreiheit, Erweiterung des Arbeiterschutzes insbesondere durch Abwehr gesundheitsschädlicher Einflüsse im Betrieb, durch Verkürzung des gesetzlichen Maximalarbeitstags für alle Fabrikbetriebe, insbesondere Achtstundentag für alle gefährlichen, gesundheitsschädlichen und schweren Arbeiten sowie für die vom Staat, dem Land und den Kommunen betriebenen Fabriken ... Vermeidung jeder Erhöhung der indirekten Abgaben; Beseitigung der drückendsten derselben; progressive Erbschaftssteuer; Ersatz der Ertragssteuern durch eine Vermögenssteuer ... Einschränkung des Heeresaufwands“.16

Manche Programmelemente waren recht allgemein formuliert, weil es in den eigenen Reihen unterschiedliche Vorstellungen über die genaue Ausfüllung gab. Dennoch war ein liberal-demokratischer ebenso wie ein sozialpolitischer Akzent deutlich zu erkennen. Ungewöhnlich erschien nur die Idee, die Ertragssteuern tendenziell ganz durch eine Vermögensteuer zu ersetzen. Dahinter konnte neben der Lastenverschiebung auf große Vermögen und Entlastung des Mittelstandes auch der Gedanke stehen, dass Vermögen stets etwas zu erwirtschaften hatten. Das mittel- und langfristige Gegenteil bedeutete also entweder Ertragsverschleierung oder Misswirtschaft, was jeweils nicht schützenswert sein konnte und dann eben zur Steuerzahlung aus der Substanz führte. Noch weniger bekannt als die meist nur mit einer Fußnote erwähnte Sozialpolitische Partei ist die Tatsache, dass sich diese aus der Wiener Fabier Gesellschaft entwickelt hat, die 1893 gegründet wurde.17 Die Namensanleihe bei der seit einem Jahrzehnt bestehenden Fabian Society ist bemerkenswert; sie lenkt den Blick darauf, dass Teile die Wiener Intelligenz damals international aufgeschlossen und keineswegs nur deutschlandorientiert waren. Zu 16 Zit. nach Holleis, Partei, S. 43–45. 17 Vgl. ebd., S. 10–13 u. 20 f.

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den Wiener Fabiern gehörte auch Josef Redlich, dessen Englandstudien für Hugo Preuß den Nachweis lieferten, dass kommunale Selbstverwaltung nicht, wie noch Rudolf Gneist angenommen hatte, allein im Honoratiorensystem des Ehrenamts gedeihen konnte.18 Sie war vielmehr für beide ebenso wie das parlamentarische Regierungssystem auf die Fortentwicklung zur modernen Demokratie angelegt. Außerdem engagierte sich Redlich für die Sozialpolitiker, bis hin zur Teilnahme an der Konstituierung eines „Socialpolitischen Vereins“ auch in der von Wien nicht allzu weit entfernten mährischen Metropole Brünn.19 Zwar sind manche Aspekte der kulturellen Orientierung Wiens an Paris geläufig, aber die geistig-politischen Brücken über den Kanal wurden bislang weniger beachtet. Von England her wurde eben nicht bloß moderne Industrietechnik importiert. Der Gedanke einer Überwindung der obrigkeitlichen durch eine genossenschaftliche Staatsauffassung verband moderne Liberaldemokraten mit gemäßigten Sozialdemokraten wie Karl Renner. Obwohl er bereits 1893 der Sozialdemokratie zuzurechnen war, stand Renner mit den Wiener Sozialpolitikern in Verbindung.20 Sogar zum engeren Gründungskreis der Wiener Fabier gehörte Michael Hainisch, Sohn der Frauenrechtlerin Marianne Hainisch. Beide waren der Sozialpolitischen Partei verbunden, die sich auch für die Gleichberechtigung der Frauen sowie das allgemeine und gleiche Wahlrecht einsetzte. Dass Michael Hainisch dann Bundespräsident der Ersten Republik wurde, hätte eigentlich genügen können, die Wiener Fabier und die Sozialpolitische Partei nicht weniger als Naumanns Weg zu beachten.21 Es besteht sogar die Gemeinsamkeit, dass auch Hainisch sich wesentlich für die Volksbildung engagierte. Aber innerhalb des 18 Vgl. Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Leipzig 1901, auch mit dem sozialliberalen Bekenntnis, „daß in England zuerst die moderne Emancipationsbewegung der Arbeiterschaft in einer durch ihren Umfang und ihre ethische Kraft gleich bewunderungswürdigen Bewegung sich auf der sicheren Grundlage der ererbten bürgerlichen Freiheit entfaltet hat“ (S. 798). Zur Redlich-Rezeption vgl. Hugo Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität (1908), in: Ders., Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, Hg. Dian Schefold, Tübingen 2009, S. 242–252. 19 Neue Freie Presse, 23.4.1897 (S. 4, Bericht über eine Veranstaltung vom 21.4.). 20 Philippovich vermittelte Renner in die – seit 1898 feste – Anstellung eines Parlamentsbibliothekars. Dies erklärt auch, warum Renner vor 1907 nicht als Sozialdemokrat öffentlich in Erscheinung treten konnte, was die insoweit nur Zeitungsquellen anführende Notiz bei Holleis, Partei, S. 89 noch im Sinne längerer Übergangszeit verkennt; http:// agso.uni-graz.at/sozio/biografien/p/philippovich_eugen_von_biografie.htm; http://agso. uni-graz.at/marienthal/biografien/renner_karl.htm. 21 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1770–1914, München 1983, merkt zur geradewegs uferlosen

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parteihistoriografischen Drei-Lager-Schemas wusste man mit Hainisch, der ersichtlich weder Christlichsozialer noch Sozialdemokrat war, nichts anderes anzufangen, als ihn für einen gemäßigten Großdeutschen zu halten. Jenes deutschnationale Lager wusste aber mit einer sozialpolitischen Tradition, die ansonsten in Wien auch stark im jüdischen Bürgertum wurzelte und noch supranationale Blickhorizonte aufwies, dann auch nicht viel anzufangen. Mit Tomáš Masaryk bewegte sich ein weiteres und künftig einflussreicheres Staatsoberhaupt zuvor in Kreisen der Wiener Fabier.22 Auch für die seit 1894 in Wien erscheinende linksbürgerliche Wochenschrift „Die Zeit“ – nicht zu verwechseln mit anderen gleichnamigen Presseorganen der Zeitenwende vom späten 19. zum frühen 20. Jahrhundert23 – schrieb Masaryk, so wie auch seine österreichischen sozialpolitischen Gesinnungsfreunde, etliche Texte.24 Die Prager Wochenschrift „Čas“ (Zeit) war zuvor schon ein Sprachrohr der Anhänger Masaryks gewesen.25 Wiederum dürfte eine – in diesem Falle aber national- und nicht parteipolitische – Engführung der Erinnerungskultur dafür verantwortlich sein, dass er in seiner Nähe zu den altösterreichischen Sozialpolitikern kaum beachtet wurde. Masaryk war nicht bloß der Sohn einer deutschsprachigen Mutter, was zuweilen nur wie schmückendes Beiwerk einer volksgruppenintegrativen Gründungserzählung der tschechoslowakischen Republik daherkommen mochte.26 Er hatte deutschsprachige Schulen besucht, in Wien u.a. bei Franz Brentano (dem Bruder Lujo Brentanos) Philosophie studiert und dort als Dozent gearbeitet, bis er 1882 die Berufung nach Prag annahm. Das antihabsburgische Emanzipationsstreben machte aus Masaryk einen gemäßigten Nationaltschechen, der sich aber mit seinem aktiven Eintreten gegen Geschichtsfälschungen die Feindschaft der Radikalnationalisten erwarb. Seit 1878 war er mit der Amerikanerin (hugenottischer Abstammung) Charlotte

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Literaturschwemme ironisch an, es könnte zu Naumann „bald so weit sein, daß es mehr Arbeiten über ihn gibt, als er je Anhänger hatte“ (S. 409/Anm. 45). Vgl. Holleis, Partei, S. 13. Friedrich Naumann hatte zunächst 1896 „Die Zeit. Tageszeitung für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage“ herausgebracht, nach deren Misserfolg 1901 „Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift“. Zur Bedeutung dieser Zeitschrift vgl. Lucie Kostrbová u.a., Die Wiener Wochenschrift Die Zeit (1894–1904) als Mittler zwischen der Tschechischen und Wiener Moderne, Prag 2011. Ergänzend zum Beitrag von Jiří Štaif in diesem Band als Webquelle: http://www.masaryk. ch/biographie.html. Vgl. den Überblick bei Martin Zückert, Die Repräsentation von Staat und Demokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 254.

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Garrigue verheiratet, weshalb sein vollständiger Name Tomáš Garrigue Masaryk lautet. Im Glaubenszweifel war er vom Katholizismus zum reformiert-protestantischen Bekenntnis seiner Ehefrau übergetreten, die später auch – sozialdemokratisch und frauenbewegt – in Prag selbst engagiert war. Der Parteiname „Die Realisten“ für seine kleine tschechische Gruppierung passte durchaus zu dem fabischen Element in Masaryks geistig-politischer Herkunft.27 Seit 1906 gehörten viele „Realisten“ der linksliberalen „Fortschrittspartei“ an. Die „Kritik des Liberalismus“, welche kurz vor dem Ersten Weltkrieg der spätere Masaryk-Nachfolger Edvard Beneš in einer Studentenzeitung publizierte, berief sich gleichzeitig positiv auf den englischen Reformliberalismus und die deutschen Vorbilder Theodor Barth und Friedrich Naumann.28 Der in seiner Identitätsvielfalt geradezu idealtypische Mitteleuropäer Masaryk war bereits viel stärker westlich orientiert als Naumann mit seinem noch spätimperial anmutenden Mitteleuropa-Konzept. Das Eintreten für den Achtstundentag in der Gründungsphase seiner Republik lässt auch Masaryk als Politiker des sozialen Ausgleichs erscheinen.29 Wie Renner und Hainisch in Österreich und Ebert in Deutschland wollte er als Staatsoberhaupt den Klassenkampf von unten wie von oben eindämmen, ohne die Existenz der Klassengegensätze zu leugnen. Gleich dem Naumannschen Nationalsozialen Verein oder ein Jahrzehnt später Theodor Barths Demokratischer Vereinigung blieben die Wahlergebnisse der Sozialpolitischen Partei sehr bescheiden. Ihre führenden Vertreter konnten auf Gemeinde-, niederösterreichischer Landes- und Reichsrats-Ebene lediglich als Stichwortgeber auftreten, ohne mit ihren wenigen Mandaten politisch durchsetzungsfähig zu sein. Dieses Schicksal ereilte aber in Österreich im Zuge der Wahlrechtsdemokratisierung überhaupt schrittweise die Liberalen. Es hatte zumindest eine bündnispolitische Symbolkraft, wenn ein Sozialliberaler wie der Jurist Julius Ofner in einem Wiener Wahlbezirk mit erheblichem jüdischen Bevölkerungsanteil als Kompromiss-Kandidat aller Antichristlichsozialen 1907 in den Reichsrat des allgemeinen Männerstimmrechts einzog. Bei einer Wahlbeteiligung von fast 90 %, die eine hochgradige Politisierung und 27 Auch sein Dialogpartner und SPD-Revisionist wurde so charakterisiert: Helmut Hirsch, Der „Fabier“ Eduard Bernstein, Berlin 1977. 28 Vgl. Hans Lemberg, Das Erbe des Liberalismus in der ČSR und die Nationaldemokratische Partei, in: Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat, Hg. Karl Bosl, München 1979, S. 64 f. u. 74. 29 Vgl. Brentano, Leben, S. 394, zur „Tschechoslowakei. Hier hatte die Nationalversammlung zu Ehren und zur Begrüßung des Präsidenten der Republik Masaryk, der fast ein Vierteljahrhundert vom Katheder aus für den Achtstundentag eingetreten war, am Tage vor dessen Ankunft die achtstündige Arbeitszeit beschlossen“.

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Polarisierung auswies, vermehrte sich der Stimmenanteil für Ofner von 25 % auf 61 % in der Stichwahl gegen den christlichsozialen Bewerber in jenem Umfange, dass auch die vormals sozialdemokratischen, gemäßigt liberalen und jüdisch-nationalen Stimmen fast geschlossen auf diesen Sozialliberalen entfallen sein müssen.30 Für die „Ofner-Partei“ waren von vornherein u.a. Kronawetter und Hainisch als Redner in Wahlversammlungen angekündigt.31 Bei der Reichsratswahl 1911 wurde das sozialpolitische Mandat sogar mit 67 % in der Stichwahl verteidigt, eingebettet in eine vernichtende Niederlage für die in der Stadt regierenden Christlichsozialen: Durch Stichwahlabsprachen konnten neben 19 hauptstädtischen Sozialdemokraten auch 10 Liberale verschiedener Schattierungen, aber nur mehr 4 Christlichsoziale in die Volksvertretung einziehen.32 Immerhin bewirkte die Entsendung Ofners in den Reichsrat die politische Revitalisierung zu einem „Freiheitlichsozialen Verein“ seines Wahlbezirks.33 Das war die analoge Wortverbindung zur Berliner „sozialfortschrittlichen“ Fraktion um Barth und Preuß seit 1904.34 Ein bestehender Kontakt ist nachweisbar, denn Barth hielt ein Jahr darauf vor dem Sozialpolitischen Verein in Wien einen Vortrag über deutsche Erfahrungen mit dem allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht35, das in Österreich erstmals 1907 zum Reichstag praktiziert wurde. Indem freisinnig und freiheitlich zeitgenössische Synonyme für das fremdsprachig anmutende „liberal“ waren, ist dies mit jeweiligem Zusatz „sozial“ durchaus quellengerecht als sozialliberal zu lesen und somit keineswegs nur eine retrospektive Begriffskonstruktion. Auch eine weitere Verbindungslinie zwischen Berlin und Wien ist für den politischen Wortschatz bemerkenswert: Die kleine Gruppe um Ofner im Reichsrat nannte sich ab Mai 1913 „Klub der Deutschen Demokraten“36, insoweit als ein kleines grenzüberschreitendes Zwischenglied von der Demokratischen Vereinigung Barths 1908 zur Massenpartei DDP 1918/19 zu verorten. Die Bezeichnung „deutsch“ meinte deutschösterreichisch und diente im Reichsrat zur Unterscheidung von Parlamentsklubs anderer Sprach- und Volksgruppen.

30 Vgl. Holleis, Partei, S. 88 f. 31 Neue Freie Presse, 11.5.1907, S. 4. 32 Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 219–225. Das kam einem politischen Erdrutsch nach dem Tode Luegers gleich, denn 1907 hatte das Mehrheitswahlrecht die Christlichsozialen noch mit 20 Wiener Mandaten begünstigt (S. 216 f.). 33 Vgl. Holleis, Partei, S. 103. 34 Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 203. 35 Neue Freie Presse, 22.11.1905 (S. 6, Ankündigung für den 24.11.). 36 Vgl. Holleis, Partei, S. 104.

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Zum weitläufigeren Bereich des sozialliberalen Erinnerungsverlusts kann teilweise sogar der österreichische Verfassungsbeauftragte und – sozusagen als juristischer Vater dieser Institution – langjährige Verfassungsrichter Hans Kelsen gerechnet werden. In Prag geboren, in Wien die Berufslaufbahn absolvierend, vom Judentum für die Berufschancen zum Katholizismus und dann anlässlich der Heirat zu einem protestantischen Minderheitsbekenntnis übergetreten, dabei stets Agnostiker bleibend, verkörpert auch Kelsen in sich eine besondere mitteleuropäische Pluralität. Indem sich, wie Kelsen in einer autobiografischen Skizze darlegte, jenes Altösterreich aus „verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehörenden Menschen zu gründen versuchten, ganz offenbar als Fiktionen“.37 In Kelsens Lehre kann aus solcher Vielfalt die Einheit deshalb nur als Rechtsordnung hergestellt werden, an der Rechtsunterworfene demokratisch teilhaben müssen, um die solcher Ordnung stets innewohnende Einschränkung der individuellen Freiheit in der Regel zwanglos akzeptieren zu können.38 Dem Vorwort der Druckfassung seiner angeblich nur rechtspositivistisch zu verstehenden Habilitationsschrift vertraute Kelsen 1911 an, dass sich darin enthaltene Rechtslehre zugleich als Ausdruck einer Zeitströmung des „Neoliberalismus“ deuten lasse.39 Der Ausdruck „neoliberal“ war damals, vermutlich als Entlehnung aus dem Stichwort New Liberalism, als demokratisch und sozialpolitisch erneuerter Liberalismus zu verstehen. Die „Neue Freie Presse“ (NFP) – dort schon im Range eines „Weltblatts“, bevor in der Ära Theodor Wolffs das „Berliner Tageblatt“ auch ein solches wurde – unterstützte zeitweise derartige Strömungen, wie gerade auch in der Wahlrechtsdebatte deutlich geworden war: „Das allgemeine Wahlrecht ist wie die Menschenrechte. Wer nicht verstaubt, vertrocknet oder selbst privilegiert ist, muß sie billigen, nicht weil sie nützlich, schwer entbehrlich oder erzwingbar, sondern einfach aus dem Grunde, weil sie gerecht sind, und weil die politische Gleichheit aller Staatsbürger wohl das einzige Mittel ist, um die Gesellschaft aus dem Klassenstaate herauszuführen.“40 Diese Tendenzen standen angesichts ihrer primär gegen konservative Kräfte gerichteten Stoßrichtung 37 Zit. nach Rudolf Aladar Métall, Hans Kelsen, Wien 1969, S. 42. 38 Zur Bedeutung von Kelsens Demokratielehre u.a. Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl. Baden-Baden 1990; Robert Chr. v. Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003. 39 Vgl. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, S. XI. 40 Neue Freie Presse, 7.10.1905, S. 1.

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für jenen „Ruck nach links“, in dessen Zukunftsprojektion Naumann seine bekannteste Schrift „Demokratie und Kaisertum“ ausklingen ließ.41 Allerdings revidierte die NFP (ganz ähnlich wie die NZZ der Schweiz) ihren Kurs nach dem Ersten Weltkrieg, nunmehr mit einer gerade in Wien einflussreichen Sozialdemokratie konfrontiert, in mehr wirtschaftsliberaler Richtung. Die erwähnte Gründungsversammlung der Freiheitlichsozialen des Reichsratsabgeordneten Ofner wurde von jenem Rudolf Schwarz-Hiller einberufen, der zu Beginn der Ersten Republik der letzte bürgerlich-demokratische Gemeinderat in Wien gewesen ist.42 Im bevölkerungsreichsten Teil Österreichs, nämlich in Wien und Niederösterreich, hat es dann in den 1920er Jahren nur eine Zweilager-Polarisierung gegeben in einerseits die Sozialdemokratie und andererseits die Christlichsozialen mit deren politischen Verbündeten; diese tönten als Deutschnationale oder Heimwehrbewegung ebenfalls antisemitisch. Auch deshalb stimmten Kelsen und andere Sozialliberale in Österreich schon recht früh sozialdemokratisch. Im Deutschen Reich hat erst 1930 die Fusion der DDP mit dem teils antisemitisch eingefärbten Jungdeutschen Orden zur Deutschen Staatspartei diese Strömung auf das bekannte „Tageblatt“-Motto Theodor Wolffs „Parole: links!“ verwiesen.43 Eine in verschiedenen Schattierungen liberale Presse hat jedoch den seit 1890 forcierten Einflussverlust des parteipolitisch organisierten Liberalismus überdauert. Für den Großraum Wien liegen Berechnungen vor, die in den 1920er Jahren eine weitgehend flächendeckende Versorgung der Haushalte mit Tageszeitungen vermuten lassen. Anders sind kontinuierliche Mobilisierungsraten mit 90 % Wahlbeteiligung auch kaum zu erklären. Die offizielle sozialdemokratische Parteipresse und erst recht die christlichsoziale war daran nur partiell beteiligt, weil deren Auflagenziffern nicht die gesamte Anhängerschaft erreichen konnten.44 Von zwar bedeutenden, aber nicht allzu zahlreichen Köpfen der Politiker und Intellektuellen gelangen wir heute allenfalls noch über Medienträger – wie damals wesentlich meinungsbildende Tageszeitungen – zu den Köpfen des Stimmvolks. Zuweilen hilft dies sogar bei der Erstellung von Richtungsprofilen: So wird z.B. eine recht verbreitete Zuordnung Kelsens als dezidierter Sozialdemokrat schon dadurch relativiert, dass er weiterhin auch für liberale Organe wie die NFP oder nach 41 Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum, 4. Aufl. Berlin 1905, S. 231. 42 Zur Republikzeit vgl. Detlef Lehnert, Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919 bis 1932, Berlin 1991. 43 Berliner Tageblatt, 14.9.1930. 44 Zu den Auflagenziffern vgl. Detlef Lehnert, Die „Erfolgsspirale“ der Ungleichzeitigkeit. Bewertungsmuster der NSDAP-Wahlergebnisse in der Berliner und Wiener Tagespresse, Opladen 1998, S. 200.

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seiner Berufung an die Kölner Universität sogar die „Blätter der Staatspartei“ geschrieben hat.45 Es würde aber im Vergleich zu sehr weiterhin über die Lebensspanne Naumanns hinausgreifen, auch im Detail hier noch einen quellennahen Nachweis zu führen, dass es in Wien während der Ersten Republik eine durchaus erwähnenswerte sozialliberale Tagespresse gegeben hat. Nicht sehr wahrscheinlich ist es, dass deren Existenz die im Vergleich zu Berlin stärkere Position der Sozialdemokratie in der Wiener Angestelltenschaft erklären könnte. Eher umgekehrt: Die aus den Interessenprofilen der Gegenkräfte resultierende Hinwendung von Angestellten zur Sozialdemokratie ließ es für bürgerlich-demokratische Verleger sinnvoll erscheinen, ihre Zeitungen auf ein Publikum einzurichten, dass keine „Arbeiter-Zeitung“ und auch nicht häufig etwas vom Klassenkampf, aber durchaus über sozial- und bildungspolitische Errungenschaften in Wien lesen wollte. Ein ähnlicher Mechanismus auf dem politischen Meinungsmarkt kann auch erklären, warum die republiktragende linksliberale Ullstein- und Mosse-Presse Deutschlands so freundlich über Erfolge der Wiener Sozialdemokratie berichtete: Weil die verlegerisch und überwiegend auch in den Redaktionen favorisierte DDP sehr bald große Teile ihrer anfänglichen Massenbasis einbüßte, wurden solche entschieden republikanischen Blätter dann wohl mehrheitlich von Teilen der SPD-Wählerschaft gelesen.46

2. Ansätze zu einem Sozialen Liberalismus in der Schweiz Das in der historischen Bedeutung oft unterschätzte Thema der liberalen Presse lenkt den Blick zurück auf die einleitend hervorgehobene Neue Zürcher Zeitung. Wenn dieses Traditionsblatt heute die Schweizer Farben in der Liberalen Internationale vertritt, wird umgehend erkennbar, dass es tatsächlich stets als politisches Richtungsorgan der Freisinnigen anzusehen war. Die Schweizer Parteihistoriografie leidet unter einer ausgeprägten Kantonalisierung der Aktivitäten und somit auch der archivalischen sowie publizistischen Quellen. Umso bedeutsamer war die Leitorganfunktion der NZZ für die Schweizer Freisinnigen. Das für die USA bis in jene Zeit geprägte Stichwort

45 Vgl. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Ders., Demokratie und Sozialismus, Darmstadt 1967, S. 60–68. 46 Die Materialbasis findet sich bei Lehnert, „Erfolgsspirale“.

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eines politisch-kulturell wirksamen „Hegemonialen Liberalismus“47 erscheint für die Schweiz sogar machtpolitisch noch greifbarer zutreffend: Die freisinnigen Gruppierungen wurden in der sog. Regenerationsperiode bis Mitte des 19. Jahrhunderts48 geradewegs zu Staatsneugründern und behaupteten die Führungsrolle bis weit ins 20. Jahrhundert. Nur in Teilschritten gab diese sich als Garant der Staatseinheit in Freiheit definierende, aus unterschiedlichen Strömungen bestehende Staatsbürgerpartei einzelne Regierungssitze ab: Zunächst wurde 1891 der erste historische Kompromiss mit katholischkonservativen Segmenten des Landes vereinbart. Die Zusammenführung von regional unterschiedlichen freisinnigen und demokratischen Gruppierungen erfolgte 1894 unter dem gemeinsamen Dach der Freisinnig-Demokratischen Partei.49 Deren Neukonstituierung fiel somit fast exakt in die Gründungszeit des Nationalsozialen Vereins in Deutschland und der Sozialpolitischen Partei in Österreich. Als damalige Schweizer Mehrheitspartei war sie breiter angelegt, doch plädierten ihre ein Jahr später veröffentlichten Grundsätze für „Sozialreformen“ als Alternative zu revolutionärer Orientierung einerseits und reaktionären Tendenzen andererseits.50 Erstmals 1896 formierte sich im Nationalparlament eine kleine Fraktion links von den Freisinnigen, die sich ausdrücklich „sozialpolitisch“ wie die Wiener Gründung jenes Jahres nannte. Diese Nationalratsgruppe umfasste anfänglich linksbürgerliche Demokraten und Sozialdemokraten, bevor letztere seit 1911 sich dann als eigene Fraktion etablieren konnten.51 Das Mehrheitswahlrecht, welches sich 1910 noch ganz knapp in einer Volksabstimmung behaupten sollte, zementierte aber die weiterhin unangreifbare Stellung der Freisinnigen. Als Mittelpartei profitierte sie zusätzlich von dem Vorteil, dass sich die Gegenkräfte nur schwer verständigen konnten. Ein 1917/18 auch die Schweiz erreichender gemeineuropäischer Trend mit den

47 Vgl. Hans Vorländer, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776–1920, Frankfurt a.M. 1997. 48 Vgl. Dian Schefold, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie in der schweizerischen Regeneration 1830–1848, Basel 1966. 49 Vgl. Erich Gruner, Die Parteien in der Schweiz, Bern 1969, S. 55. Dortige Übersicht zu den Fraktionsstärken zeigt, dass freisinnige „Radikale“ (Linksliberale nach deutscher Terminologie) in den 1860er und 70er Jahren am meisten der Konkurrenz einer „liberalen“ Mittelgruppe ausgesetzt waren und gleichzeitig wie in Deutschland der Kulturkampf vor allem der 70er und partiell noch der 80er Jahre die katholische Partei anwachsen ließ (S. 184 f.). 50 Vgl. ebd., S. 78 f. 51 Vgl. ebd., S. 86 u. S. 184 f.

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Stichworten „Demokratisierung“ und „soziale Reform“52 führte nach dem Ersten Weltkrieg dann zur Ersetzung des Mehrheits- durch ein ProportionalStimmrecht.53 Dadurch verloren die Freisinnigen die parlamentarische Majorität und nahmen die als Vorläuferin der späteren SVP anzusehende Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei als weiteres konservatives Element in die Regierung auf. Zuvor hatten sich aber durchaus Alternativen der Tendenzen zur Bürgerblock-Mentalität gezeigt. Möglicherweise ging sogar vom Zusammenschluss deutscher linksliberaler Gruppierungen zur Fortschrittlichen Volkspartei Anfang März 1910 ein Impuls auf die Schweizer Freisinnigen aus. Jedenfalls hielt wenige Tage später deren seit drei Jahren amtierender Vorsitzender Walter Bissegger eine programmatische Rede.54 Schon 25 Jahre als Chefredaktor die NZZ prägend55, war seinen Worten die öffentliche Aufmerksamkeit durch Publikation in diesem Traditionsblatt sicher, das erst in dieser Zeitspanne mit fast verzehnfachter Abonnentenzahl vollwertig in die Rolle eines freisinnigen Leitorgans hineingewachsen ist. Trotz fortbestehender politischer Gegnerschaft, insbesondere gegenüber „anarchistischen und antimilitaristischen Bestrebungen“, die er nicht zuletzt auf „deutsche Emigranten“ 52 Ruedi Brassel-Moser, Dissonanzen der Moderne. Aspekte der Entwicklung der politischen Kulturen in der Schweiz der 1920er Jahre, Zürich 1994, S. 118 ff. 53 Vgl. Georg Kreis, Konfliktreiche Wege zur Konkordanzkultur. Ursprünge des schweizerischen Parteienpluralismus, in: Lehnert (Hg.), Demokratiekultur, S. 85–104. 54 Walter Bissegger, Die freisinnig-demokratische Partei und die Sozialdemokratie. Rede, gehalten am 10. März 1910 im freisinnig-demokratischen Verein der Stadt Basel auf der „Rebleutenzunft“ in Basel, in: Edmund Richner, Walter Bissegger. Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung von 1885 bis 1915, Zürich 1983, S. 99–108 (nachfolgende Seitenzahlen im Text nach diesem Buch). Kurz darauf bereits abgedruckt in: NZZ, 15.3.1910. 55 Der aus einer ostschweizerischen Bauernfamilie stammende Bissegger war nach einem 1877 mit der Promotion abgeschlossenen Studium der Germanistik und Geschichte in Basel dort als Realschullehrer tätig, bevor er über sein – in gemäßigt liberaler Umgebung früh „im Geruch des Radikalismus“ (16) stehendes – politisches Interesse zum Journalismus überwechselte. Bemerkenswert ist, dass er 1883 seinem Vorgänger bei der NZZ nicht nur das Bekenntnis als „ein aufrichtiger Demokrat“, sondern auch seinen Dissens in „volkswirtschaftlichen Dingen“ nicht verschwiegen hat: „Bessere Belehrung vorbehalten bin ich kein Anhänger des ‚laissez aller’ und verspreche mir etwas vom Staatssozialismus“ (24), womit damals aktive staatliche Sozialpolitik gemeint war. Später bekannte er gegen vorübergehend umständebedingt andere Erwägungen, „seit seinem ersten öffentlichen Auftreten Anhänger des Verhältniswahlsystems gewesen zu sein“ und sogar gegen die überwältigende Mehrheit der eigenen Partei dies an seiner jahrzehntelangen Zürcher Wirkungsstätte zu vertreten: „Wir sollen gleiches Recht üben auch denen gegenüber, deren Grundsätze wir bekämpfen müssen, das ist freisinnig, das ist fortschrittlich, ist zürcherisch“ (60 f.); zit. nach Richner, Bissegger.

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zurückführte (103), hob Bissegger auch die positiven Anstöße aus der Sozialdemokratie folgendermaßen hervor: „Sie hat beigetragen zur Neubelebung des altruistischen Gedankens; sie hat uns die Solidarität der Menschen und Interessen wieder näher gebracht und in ihrer eigenen Organisation ein Vorbild dafür geschaffen. Gegenüber früheren Zeiten ist ein größeres Maß sozialen Empfindens und Fühlens heute deutlich erkennbar. Es wäre zu wünschen, dass es sich noch weiter entwickeln würde. Es ist eine Aufgabe unserer Organisationen – ich denke dabei in erster Linie an die Jungfreisinnigen – diesen Geist zu fördern“ (107).

Von einer akzentuierten Klassenkampf-Rhetorik, die auch die Schweizer Arbeiterpartei gerade in das 1904 nach deutschem Vorbild formulierte Programm aufgenommen hatte, ließ sich der politische und publizistische Sprecher der Freisinnigen nicht komplett irritieren, wenn er weiter ausführte: „Jeder, der in Vereinen, Verwaltungen, Behörden mit Sozialdemokraten zusammengearbeitet hat, weiß, dass man sich mit den meisten über positive Fragen leicht verständigen kann“ (105). Offenbar leiteten ihn auch Besorgnisse einer zunehmenden ‚Verwirtschaftlichung‘ der Politik; denn Bissegger wandte sich gegen die Tendenzen zur Interessenpolarisierung in beiden Lagern, indem er warnte: „Bei den Sozialisten sind es die extremen Gewerkschafter; bei uns sind Ansätze zu derselben Auffassung unverkennbar unter den Gewerbe- und Bürgerverbänden, zum Teil auch dem Bauernverbande. Sie behaupten, sich leichter untereinander verständigen, will heißen bekriegen zu können und verbitten sich die Einmischung der sogenannten Berufspolitiker“ (102). Der Parteichef befürchtete also ersichtlich, dass freisinnig-demokratische Politik zwischen rücksichtslos gegeneinander aufmarschierenden Interessenblöcken von links und rechts zerrieben werden könne. Dies war dann auch in vielen europäischen Ländern das Schicksal liberaler Parteien im Zeitalter der Massenorganisationen. Dagegen plädierte Bissegger für stärkere Ansätze zu einer organisierten Sozialpartnerschaft; ihm sei es „immer unverständlich gewesen, wenn Meister und Industrielle sich weigerten, bei Lohn- und Arbeitsstreitigkeiten mit den Bevollmächtigten der Arbeiterschaft, Arbeitersekretären u.dgl. zu unterhandeln. Man darf doch immer voraussetzen, dass diese Leute die Grenzen des Möglichen besser erkennen und die Erfolgsaussichten gewisser Forderungen richtiger abzuschätzen wissen als ihre Mandanten, von denen der größte Teil nur an das Nächstliegende zu denken gewöhnt ist“ (102). Geradezu empört wies der Redner den Vorwurf zurück, dass der Freisinn zur „,Herrenpartei‘“ geworden sein könnte, da eines nicht zu bestreiten war: „Unser Hauptkontingent stellen Bauern und Gewerbetreibende, daneben Kaufleute und Industrielle und jene Gebildeten aller Schichten, die von der sozialistischen Lehre und

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Plakatwerbung des Schweiz. AktionsKomitees für den Nationalrats-Proporz 1910

politischen Praxis nichts wissen wollen.“ Gegenüber zunehmender Prägung durch Beharrungskräfte wollte er aber umso hartnäckiger das Profil einer Volkspartei verteidigen, indem mit Blick auf die breite Anhängerschaft betont wurde, dass es sich um „Arbeitende“ handelte (100 f.).56 Dass hier nicht bloß – wenn auch zu beträchtlichen Teilen – versöhnende Rhetorik vorlag, um die Sozialdemokratie mit einzubinden und die ökonomischen „Hardliner“ in den eigenen Reihen zu disziplinieren, machten nachholende sozialpolitische Initiativen deutlich. So erhielt Anfang 1912 das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz in einer Volksabstimmung nunmehr eine sichere Mehrheit von 287.956 gegen 241.426 Stimmen.57 Die NZZ hatte ohne Rücksicht auf reservierte Haltungen bei freisinnigen Traditionalisten eine regelrechte politische Kampagne zugunsten der Gesetzesvorlage betrieben. Dabei wurden auch in den eigenen Reihen ganz ausdrücklich „die grundsätzlichen Gegner des modernen Wohlfahrtsstaates“ bekämpft58 und für – diesem zugrunde liegende – „Solidaritätsgedanken“ plädiert.59 Ein dort mit formulierter Appell, dass sich eidgenössische Demokraten nicht gegenüber bestehenden sozialpolitischen Regelungen in Monarchien blamieren dürften, 56 Mit „gegen 100.000 Mitgliedern“ waren die Freisinnigen für Schweizer Dimensionen tatsächlich eine „Volkspartei“, vgl. Gruner, Parteien, S. 82. 57 Vgl. Franz Horvath/Matthias Kunz, Sozialpolitik und Krisenbewältigung am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Kurt Imhof u.a. (Hg.), Zwischen Konflikt und Konkordanz. Analyse von Medienereignissen in der Schweiz der Vor- und Zwischenkriegszeit, Zürich 1993, S. 80. 58 Neue Zürcher Zeitung, 1.2.1912. 59 Ebd., 12.7.1912.

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zielte recht geschickt auf die Erweiterung des bürgerschaftlich-nationalen um ein gewissermaßen sozialpatriotisches Prestige. Denn zuvor war 1911 in Deutschland die Reichsversicherungsordnung in Kraft getreten, die zwar wesentlich nur die sozialpolitische Gesetzgebung seit der Bismarckära zusammenfasste und ordnete, allerdings in solcher Bündelung auch dem liberalen Kabinett in Großbritannien den Anstoß zu weiteren Reformen in dieser Richtung gab. In freisinniger Argumentation zugunsten der Gesetzesvorlage fand sich nicht selten eine gewissermaßen nationalsoziale Komponente der politischen Begründung: Es sollte dargelegt werden, dass für den Zusammenhalt einer modernen Nation ein bestimmtes Maß an sozialer Absicherung erforderlich wurde. Diese Motivlage erklärt jedoch auch, warum die partielle Annäherung von Liberalismus und Sozialdemokratie in der Schweiz nach einer Burgfriedensepisode 1914 ein jähes Ende fand: Dort artikulierte sich die Kriegsgegnerschaft der Sozialdemokratie viel entschiedener als in Deutschland und wesentlich früher als in Österreich.60 Die mentale Ankoppelung der Schweizer Demokratie des allgemeinen Männerstimmrechts an das – ebenso nur ungeschriebenes Verfassungselement darstellende – Milizsystem der kleinräumig organisierten Landesverteidigung zog nicht allein Grenzen zur antimilitaristischen Linken. Auf diese Weise bestand über traditionelle Rollenbilder hinaus eine zusätzliche Reserviertheit gegenüber der Einführung des Frauenstimmrechts. Bekanntlich wurde dieses in einer Volksabstimmung – der Männer – erst 1971 angenommen. Dieser noch zwei Generationen überdauernde Verzögerungseffekt aus direkter Demokratie lässt eher die Untersuchung des Abstimmungsverhaltens der Parlamentarier als geeigneten Vergleichsindikator erscheinen. Der historische Entwicklungsschub zum Frauenstimmrecht unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ging an den politischen Repräsentanten der Schweiz nicht spurlos vorbei. In vielen großen Städten des Landes fanden sich regionale Initiativen zum Frauenstimmrecht, die letztlich stets am Volksveto scheiterten, aber recht häufig zuvor Mehrheiten in Vertretungskörperschaften erreichten. Als prominentestes Beispiel sei der Zürcher Kantonsrat hervorgehoben, der Anfang Juni 1919 mit 103 zu 90 für diese Stimmrechtserweiterung votierte.61 Bei näherer Betrachtung lag dies aber zu einem ¾-Anteil der Ja60 Vgl. Gruner, Parteien, S. 136 f. 61 Vgl. Sibylle Hardmeier, Frühe Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890– 1930), Zürich 1997, S. 210 (Tabelle). Allerdings zeigte sich hier der retardierende Effekt kampagnenanfälliger direkter gegenüber stärker diskursiver repräsentativer Demokratie: In der anschließenden Volksabstimmung fiel die Ablehnung in Zürich bei einer Beteiligungsrate von 83 % mit über 80 % Nein-Stimmen geradezu drastisch aus (ebd., S. 233).

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Stimmen an der einmütigen sozialdemokratischen Unterstützung. Nahezu einhellig für Nein entschieden sich die bäuerlichen und die bürgerlich-gewerblichen Ratsmitglieder. Doch auch die Freisinnigen zählten dort mit nur 7 Ja-, aber 25 Nein-Stimmen in deutlicher Mehrheit zu den Traditionalisten. Doppelt so große relative Anteile von Befürwortern aus der eigenständigen demokratischen Fraktion zeigten bereits deutlichere Ansätze zu größerer Offenheit. Diese Tendenz bestätigte sich 1918/19 noch klarer bei den – allerdings kleinen – Gruppierungen der Demokraten bzw. Jungfreisinnigen im Rat von Basel und Genf, die sich ohne bzw. mit nur einer Ausnahme für das Frauenstimmrecht entschieden.62 Faktisch bestand zwischen Unterstützung sozialpolitischer Initiativen und dieser gewollten Stimmrechtserweiterung auf die Frauen durchaus ein Zusammenhang. Diesen bestätigen auch die kleinen christlich-sozialen, nicht mit katholisch-konservativen zu verwechselnden Gruppen der erwähnten Körperschaften, die immerhin gespalten wie die linksfreisinnigen Strömungen votierten. Systematisch gehörte das Frauenstimmrecht durchaus mit zu jenen Themenkreisen, an denen sich die Erweiterung des nationalpolitischen zu einem auch sozialpolitisch akzentuierten Volksbegriff herauskristallisierte. Die Befürwortung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für alle erwachsenen Männer und Frauen taugte daher als ein zusätzlicher Indikator für ein gemeineuropäisches Verständnis des modernen Sozialliberalismus. Die Gegenprobe bestätigt sich bei den Hauptströmungen der französischen Radicaux, die bei aller Entschiedenheit des Eintretens für die Republik, die Bürgerrechte und den Laizismus damals weder mit moderner Sozialpolitik für die Arbeiterschaft noch dem Frauenstimmrecht bereits viel anzufangen wussten. Ähnliches gilt für deutsche Linksliberale um Eugen Richter, der sich ebenfalls beidem wenig aufgeschlossen zeigte.63 Aber das war teilweise gewiss auch eine Generationenfrage. Mit Jg. 1838 hatte Richter noch die Gründerjahre des organisierten Liberalismus um 1860 miterlebt, als z.B. Naumann und Preuß oder in Österreich der Gründungsfabier und spätere Bundespräsident Hainisch und der Sozialpolitiker Philippovich überhaupt erst geboren wurden. „Selbsthilfe oder Staatshilfe“ war für die in den 1880er Jahren politisch 62 Vgl. ebd., S. 212 f. (Tabellen). Frauenerwerbstätigkeit bestand in der Schweiz damals nur zu ca. 30 % (ebd., S. 295) – was allerdings ein zuweilen überstrapaziertes Argument ist, weil sie z.B. im Wien der 1920er Jahre auch nicht viel höher war, aber die Wahlbeteiligung der Frauen mit bis zu 90 % nur sehr wenig unter der männlichen lag. 63 Zu einer im Kontext des Sozialliberalismus kritischen Bilanz: Hans-Georg Fleck, Benevolenz, Mißachtung, Mißtrauen trotz „Schicksalsgemeinschaft“ – Organisierter Linksliberalismus und sozialliberale Gesellschaftsreform zu Zeiten Eugen Richters, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 47–82.

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aufgewachsene Folgegeneration nicht mehr nur eine allgemeine Frage der Weltanschauung, sondern auch der jeweiligen Umstände des Einzelfalls. Seit 1902 verknappte Naumann die ursprüngliche Langfassung des Untertitels „Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe“ auf die heute allein noch bekannte Kurzversion seines Publikationsorgans „Die Hilfe“.64 Wenn für konkrete Probleme tatsächliche Abhilfe geschaffen werden konnte, war die Lösung – prinzipienfest im Ziel, aber pragmatisch in der Form – innerhalb der kleinen wie der großen Lebenskreise willkommen.

3. Vergleichende Schlussbemerkungen Aus politiktheoretisch historisierender Sicht ist vielleicht am ehesten die Unterscheidung hilfreich, dass „Freisinnige“ primär auf einen antiklerikalen, „Freiheitliche“ auf einen antistaatsabsolutistischen und „Fortschrittliche“ auf einen antistandeskonservativen Ursprung des Liberalismus hindeuten.65 Die Schweizer hatten keinen Junkerkonservatismus und keinen Metternich-Obrigkeitsstaat, nur den Konfessions- und damit Kulturgraben66, auch wenn dieser seit den 1890er Jahren sich weniger deutlich als zuvor in der politischen Landschaft abzeichnete. Der Freisinn konnte dennoch länger als in Preußen und Österreich – nicht nur geografisch näher an Frankreich und Süddeutschland – zu beanspruchen versuchen, eine Gesinnungsgemeinschaft und Volkspartei 64 Zu diesen Stichworten vgl. auch Klaus Tanner (Hg.), Gotteshilfe–Selbsthilfe–Staatshilfe–Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000. 65 Insofern verfehlt es diese weitere Differenzierung, wenn trotz zutreffenden Beitragstitels von Lothar Höbelt, Die Deutschfreiheitlichen Österreichs, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, diese mit zu den „freisinnigen“ Parteien eingruppiert werden (S. 161 f.). Ein deutschnationales Verständnis des Freiheitlichen kollidierte primär mit der obrigkeitsstaatlichen Universalmonarchie, deren Vielvölkercharakter dort mehr provozierte als nur die glaubenskatholische Prägung. Die zunächst recht beamtenlastige Großdeutsche Volkspartei hat dann in der österreichischen Republik – bis hin zu einer Verschmelzung in der „Einheitsliste“ zur Nationalratswahl 1927 – mit den katholischen Christlichsozialen durchaus eng kooperiert. Denn auch deren Gründer Lueger war nicht allzu habsburgtreu aufgetreten, und seine „christlich-deutsche“ antiliberale Wahlgemeinschaft hatte bereits gemäßigte Deutschnationale eingeschlossen. Die antisemitischen Strömungen bei den „freiheitlichen“ Deutschnationalen waren so wenig „freisinnig“-liberal wie die antisemitischen Christlichsozialen. 66 Vgl. Peter Stadler, Der Kulturkampf in der Schweiz. Eidgenossenschaft und katholische Kirche im europäischen Umfeld 1848–1888, 2. Aufl. Zürich 1996.

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über Standesunterschiede hinweg sein zu wollen. Die spätere Polarisierung der bürgerlichen Klassengesellschaft ließ den Schweizer Freisinn einige Zeit länger noch recht erfolgreich Leitbilder der „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (L. Gall) propagieren. Damit wurde der Versuch unternommen, die Sozialdemokratie nicht als sozusagen die zweite Front neben der Konfessionsspaltung schlicht im lagerbildenden Konkurrenzverhältnis zu akzeptieren. Insofern waren die sozialliberalen Tendenzen in der Nähe zum Ersten Weltkrieg auch das weniger etatistisch geformte Gegenstück zu Bismarcks Sozialpolitik. Hingegen war der Nationalliberalismus als Deutschnationalismus in Österreich nicht staatstragend, vielmehr aus der Sicht von Verteidigern der Habsburgermonarchie kaum weniger staatsfeindlich als die Sozialdemokratie. Eher noch Reformisten wie Renner und denkverwandte bürgerliche Sozialpolitiker wie Redlich konnten als letzte Reserve des Vielvölkerstaates gelten, wenn dieser sich dezentralisiert und so die zentrifugalen Kräfte aufgefangen hätte. Der Liberalismusbegriff wurde in Österreich als überlebt und möglichst zu vermeiden behandelt, mit Ausnahme der Wiener – zu beträchtlichen Teilen jüdischen – Intelligenz, für die Grundrechtsschutz existenzielle Bedeutung hatte. Umgekehrt formierte sich dann auch der christlichsoziale und deutschnationale Antisemitismus zugleich als Antiliberalismus – insoweit das Paradoxon erklärend, dass manche sich „deutschfreiheitlich“ nennenden Strömungen eher schon antiliberal in einem mehr als nur sozialpolitischen Kurswechsel meinenden Sinne waren.67 Im Kontrast zum lange Zeit hegemonialen Liberalismus der Schweiz lässt sich für Österreich von einem nur marginalen Liberalismus sprechen. Der zwischen diesen Polen angesiedelte reichsdeutsche Liberalismus – stets vor allem in Österreich, zumindest wegen fehlender Sprachbarriere auch in der Schweiz als Vergleichsfolie mit präsent – hatte im betrachteten Zeitraum ein davon wiederum abweichendes Gepräge. Zwar ist ebenfalls das 67 Um hier die gegenwartsbezogene Einleitung des Beitrags noch einmal im Hinblick auf europäisch vergleichende Standortanalyse aufzugreifen: Die Schweiz ist heute ein geradewegs singulärer Fall geringster Staatsquote und knapp in der Minderheit bleibender Unterstützung für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Hingegen findet sich Österreich auf dem genau entgegengesetzten Pol einer in jener Länderübersicht nur von Frankreich, Schweden und Dänemark übertroffenen hohen Staatsquote und dennoch mit über 80 % höchster Unterstützung für den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Diesen Unterschied macht wesentlich auch der jeweils starke fremdenfeindliche Rechtspopulismus aus, der in Blocherscher Gestalt stets marktradikal und in Haiderscher sozusagen eher deutschnationalsozial daherkam; vgl. Datenauswertung bei Andreas Ladner u.a., Die politische Positionierung der europäischen Parteien im Vergleich, Chavannesprès-Renens 2010, S. 90.

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Freisinnsverständnis in den linksliberalen Parteinamen bemüht worden, darin auch die Trennlinie des antirömischen Kulturkampfes in das historische Gedächtnis einspeichernd – und so auch noch im zugleich gegen die „internationale“ Sozialdemokratie und den katholischen „Ultramontanismus“ geführten Reichstagswahlkampf 1907 abrufbar. Aber mit dem schon von 1861 aus Preußen überlieferten Selbstverständnis als Fortschrittspartei profilierten sich 1910 die Linksliberalen unter Mitwirkung von Naumann doch insgesamt deutlicher antikonservativ. Den Zeitgeist der Jahrhundertwende prägte neukantianische Skepsis gegenüber weit ausgreifenden philosophischen Systemen. Erst in den 1890er Jahren wurden Begriffe von „moderner“ Welt geläufiger, die nicht mit der Jahrhunderte zuvor beginnenden Neuzeit verwechselt werden sollte. Von dem mit Jg. 1881 jüngsten und akademisch wohl bedeutendsten der hier erwähnten Sozialliberalen, Hans Kelsen, ist eine Alternative zur österreichischen Dreilagerthese überliefert. Auch für ihn standen sich der christlich-konservative und der marxistisch-sozialistische Ideen- und Lebenskreis recht unversöhnlich gegenüber, und mit beiden hat er sich in seiner Abhandlung „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1920/1929) in einer nach der zeittypischen Bedeutung der Gegenkräfte unterschiedlichen Gewichtung kritisch auseinandergesetzt. Doch konnte für ihn ein dritter Pfad nicht in einem nationalistischen, sondern nur in einem rationalistischen Ideenkreis bestehen, in dem eine (klassische) liberale und eine ihn selbst kennzeichnende (moderne) demokratische Unterströmung noch weiter differenziert wurden.68 Solche Zeittendenzen kamen auch in den Nachbarländern zum Ausdruck, wenn Masaryk seine Gruppierung „Die Realisten“ nannte und indem der Freisinnige Bissegger empfahl, die weltanschaulichen Trennungslinien zur Sozialdemokratie in der praktischen Reformarbeit vor Ort zu überwinden. Epochemachend formulierte Max Weber die These der universalen Rationalisierung der modernen Lebenswelt, erkannte aber zugleich deren Ambivalenz in neuartigem „Gehäuse der Hörigkeit“.69 Auch Naumann war von den Umbruchsimpulsen eines „Maschinenzeitalters“ durchaus fasziniert; bis in die Kultur sah er überall den „Einfluß der werktätigen surrenden Räder“

68 Vgl. den Bericht von Günther Holstein, Von den Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, in: Archiv des öffentlichen Rechts 50 (1926), S. 35; geringfügig knapper in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 3 (1927), S. 56. 69 Eine geeignete Einführung gerade zu soziologischen Aspekten liefert Hans-Peter Müller, Max Weber, Köln 2007.

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hineinwirken.70 „Politischer Liberalismus in einer organisierten Welt“ hieß dementsprechend ein Abschnitt in dem Tagungsband „Friedrich Naumann in seiner Zeit“, der vor gut zehn Jahren eine Bilanz zog.71 Die wesentlich auch durch moderne Zivilisationstechniken herbeigeführte Beschleunigung des Großstadtlebens und die modernen Kulturtechniken der politischen Massenorganisation trugen wesentlich dazu bei, das bürgerliche Zeitalter an sein Ende zu bringen. Allzu stark individualistische Weltsicht erschien in der hochkapitalistischen Massengesellschaft nunmehr veraltet, und in der Politik war nun zunehmend koalitionstaugliche Verantwortungsethik und nicht bloß die Gesinnungsethik der eigenen Standpunktpflege gefragt. Wenn Naumann, nach badischem Vorbild, einen Großblock von „Bebel bis Bassermann“, also von der Sozialdemokratie bis zu den Nationalliberalen propagierte, bestimmte er die Rolle des Linksliberalismus auch wesentlich als milieuübergreifender Brückenbauer zur weiteren Parlamentarisierung des Kaiserreichs. Wo er anscheinend unvermittelt von der Orientierung auf das Linksbündnis zum Bülow-Block nach rechts hin, dann zurück in die Großblockidee und schließlich zur Weimarer Koalition wechseln konnte, versuchte er aus der massenpolitischen Not des organisierten Linksliberalismus die strategische Tugend einer neuen taktischen Beweglichkeit als Kennzeichen moderner Politik zu machen. Neben verbleibenden kritischen Akzenten und seiner positiven Rolle als „publizistischer Anwalt der kulturellen Moderne“ ist daher jüngst auch der „lernfähige intellektuelle Politiker und Parlamentarier Naumann“ gewürdigt worden.72 In Österreich wollten führende Exponenten aus sozialliberaler und sozialpolitischer Herkunft wie der Verfassungsbeauftragte Kelsen und der Bundespräsident Hainisch im Gründungsjahrzehnt der Republik dazu beitragen, die Gegensätze zwischen sozusagen der roten und schwarzen „Reichshälfte“ zu mildern. Für die tschechoslowakische Staatsneugründung, in der Nachfolge des Habsburger Vielvölkerstaates, blieb Präsident Masaryk bis zu seinem Tod die wichtigste Integrationsfigur. Der vormals dominierende Schweizer Freisinn hatte schrittweise den Weg von einer Majorz- zur Proporzdemokratie freizugeben. Ein „starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“, zählt – in diesen wohl 70 Friedrich Naumann, Die Kunst im Zeitalter der Maschine, in: Ders., Ausstellungsbriefe Berlin, Paris, Dresden, Düsseldorf 1896–1906, Basel 2007, S. 123 u. 129. 71 Vgl. Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000 (erwähnter Abschnitt: S. 63–147). 72 Wolfgang Hardtwig, Friedrich Naumann in der deutschen Geschichte, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 11 u. 28.

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meistzitierten Worten Max Webers – heute zum modernen Politikverständnis. Allerdings fügte er unmittelbar nachfolgend hinzu, „daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre“.73 Der Sozialliberalismus als Teil einer modernen „Bewegungspartei“ benötigte häufig die Angst der Konservativen und Rechtsliberalen als „Beharrungspartei“ vor dem Radikalumsturz, um wenigstens die mindesten Reformschritte durchsetzen zu können. Dann liegt vielleicht in dem – bei etlichen Sozialliberalen anklingenden – Selbstbild von „Fabiern“ eine doppelte Botschaft: Die noch leicht geistesaristokratische Tendenz mutete zwar noch etwas altmodisch im Sinne von spätbürgerlicher Honoratiorenpolitik an. Aber der Altrömer Fabius „Cunctator“ wurde letztlich zum Helden des Rückzugs, der geduldig auf seine Stunde warten konnte. Die historische Stunde des Sozialliberalismus kam mit dem Sturz der zentraleuropäischen Kaiserreiche, als Naumann immerhin DDPVorsitzender, Preuß und Kelsen die „Verfassungsväter“, Hainisch und Masaryk zu Präsidenten der Republik wurden. Daran gelegentlich zu erinnern, bleibt zeitgemäß, wenn wir bedenken, welche Zivilisationskatastrophe es bedeutete, als das Aufbauwerk jener demokratischen Gründergeneration dann in den 1930er Jahren blindwütig zertrümmert und von schmutzigbrauner Flut überspült wurde.

73 Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 560.

JIŘÍ ŠTAIF

Tomáš Garrigue Masaryk als Philosoph der sozialen Frage vor dem 1. Weltkrieg

Nach Prag folgte Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) im Jahr 1882 der Berufung zum Professor für Philosophie an der tschechischen Philosophischen Fakultät der Karl-Ferdinand-Universität, die in eine deutsch- und tschechischsprachige geteilt wurde. Er kam nach Böhmen als Dozent der Wiener Universität, der sich mit der Krise des modernen Menschen befasste, die seiner Meinung nach von einer Abschwächung der Rolle des christlichen Glaubens im modernen menschlichen Gewissen verursacht wurde. Er und auch seine amerikanische Frau hatten Sympathien für die demokratisch orientierten Strömungen im damaligen Protestantismus. Masaryk versuchte auch, die Soziologie für seine Bemühungen zu nutzen und aus der Philosophie eine in der Weltanschauung einheitliche, aus der Sicht der Erkenntnislehre der Noetik richtige und moralisch überzeugende Wissenschaft zu machen, die seinen Studenten und weiteren Interessenten bei schmerzhaften Fragen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart erfolgreich zur Hilfe stehen konnte.1 Die erheblichen Spuren seiner lebendigen Aufmerksamkeit für die moderne soziale Frage lassen sich im Zusammenhang mit den ersten Feierlichkeiten des Tages der Arbeit im Mai 1890 beobachten. Die soziale Frage war nicht nur für ihn, sondern auch für andere europäische Intellektuelle mit der unbefriedigenden Lage der damaligen Arbeiterschaft eng verbunden. Masaryk verstand wie zum Beispiel in Deutschland Werner Sombart sehr gut, dass die immer stärker werdende Arbeiterbewegung eine zunehmend bedeutende Rolle 1 Zur Problematik der Denkweise von T. G. Masaryk siehe besonders: O. A. Funda, Thomas Garrigue Masaryk. Sein philosophisches, religiöses und politisches Denken, Bern 1978; Hanus J. Hajek, T. G. Masaryk Revisited: A Critical Assessment, New York 1983; Milan Machovec, Tomáš G. Masaryk, Praha 1968; Lubomír Nový, Filosof T. G. Masaryk. Problémové skici [Der Philosoph T. G. Masaryk. Problemumrisse], Brno 1994; Eva Schmidt-Hartmann, Thomas G. Masaryk‘s Realism. Origins of a Czech Political Concept, München 1984; H. G. Skilling, T. G. Masaryk: Against the Current, 1882–1914, Pennsylvania University Press 1994; Valentina von Tulechov, Thomas Garrigue Masaryk. Sein kritischer Realismus in Auswirkung auf sein Demokratie- und Europaverständnis, Göttingen 2011.

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in den gesellschaftlichen Beziehungen am Ende des 19. Jahrhunderts spielen würde. Als umsichtiger Gelehrter und nichtkonformer Politiker sah er es für sich als sehr dringende Aufgabe an, gerade diese Frage aus der Sicht seiner Philosophie zu analysieren. Diese Mission, die ihn zur Kritik des revolutionären Marxismus führte, griff er nicht nur in seinen mehreren Abhandlungen auf, die er in Zeitschriften und Zeitungen, vor allem Naše doba [Unsere Zeit] und im Wiener meinungsoffenen linksliberalen Wochenblatt Die Zeit veröffentlichte, sondern vertrat sie auch in seinen akademischen Vorlesungen. Er wusste dabei nur allzu gut, dass die moderne soziale Frage nicht nur für die tschechische nationale Gesellschaft bedeutend ist, sondern dass es sich um ein wirklich maßgebendes Problem der Gegenwart handelte, das die Grenzen der einzelnen Nationen sehr deutlich übersteigt.2 In dieser Hinsicht gewannen für ihn die Beziehungen zum damaligen europäischen Diskurs mindestens so große Verbindlichkeit wie die intellektuellen Bindungen zu seiner Philosophie der tschechischen Geschichte, die er in der Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts in seinem Buch über die tschechische Frage auszuarbeiten begann. Er musste dabei nicht nur die Hauptwerke von Karl Marx und Friedrich Engels erneut gründlich lesen, sondern sich mit der Fachliteratur, die dem Marxismus, Sozialismus und Kommunismus gewidmet wurde, gründlich bekannt machen, bevor er im Dezember 1898 seine umfassende tschechische Monographie über die soziale Frage veröffentlichte – mit einem Untertitel, der die Leser darüber informierte, dass es um die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus geht: Otázka sociální. Základy marxismu filosofické a sociologické. Im Mai 1899 gab er in Wien auch die deutsche Fassung dieses Buches unter dem Titel Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus. Studien zur socialen Frage heraus, wo er den Haupt- und Untertitel der tschechischen Herausgabe geschickt umkehrte. Die russische Übersetzung dieser deutschen Fassung folgte im Jahr 1900.3 2 Lucie Kostrbová u.a., Die Wiener Wochenzeitschrift Die Zeit (1894–1904) als Mittler der tschechischen und Wiener Moderne, Prag und Wien 2011, S. 365 und 383–394. 3 Es gibt auch eine gekürzte englische Übersetzung, die in den USA publiziert wurde: Masaryk on Marx. An Abridged Edition of T. G. Masaryk, The Social Question: Philosophical and Sociological Foundations of Marxism, hg. und übersetzt von E. V. Kohák, Bucknell University Press 1972. – Masaryks Buch Otázka sociální [Die soziale Frage] wird u. a. in den folgenden Aufsätzen behandelt: Martin Kučera, Politický aspekt Masarykovy sociální otázky [Der politische Aspekt von Masaryks sozialer Frage], in: T. G. Masaryk a sociální otázka [T. G. Masaryk und die soziale Frage], Hodonín 2002, S. 135–143; Jakub Rákosník, T. G. Masaryk a sociální otázka v první československé republice [T. G. Masaryk und die soziale Frage in der ersten tschechoslowakischen

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1. Masaryks Interesse an der sozialen Frage im europäischen Kontext Die Veränderung im deutschen Titel dieses Buches, das 600 Druckseiten umfasst, charakterisierte seinen Inhalt besser als die tschechische Benennung, weil Masaryk sein Werk mit der Ausarbeitung seiner Soziologie der Lage der Arbeiter und den daraus folgenden Vorschlägen zur Lösung der modernen sozialen Frage fortsetzen wollte. Hier konzentrierte er sich vor allem auf die heftige Marxismuskritik. Die versprochene Fortsetzung kam aber aus verschiedenen Gründen nicht mehr zustande. Nichtsdestoweniger ist sein Buch über die soziale Frage von europäischer Bedeutung. So vor allem deshalb, weil er dieses Thema im sehr breiten geistigen Kontakt mit den deutschen, französischen, englischen, russischen und teilweise auch amerikanischen Intellektuellen behandelt. Gerade dieser Umstand und die Akzentuierung des breiteren philosophischen und moralischen Ansatzes der gewählten Problematik helfen ihm dabei, um mit den Anhängern der verschiedenen Weltanschauungen einen stellenweise noch heute lehrreichen Dialog zu führen. Betrachten wir nun die Ansichten wenigstens einiger Gesprächspartner, welche in der Entwicklung von Masaryks Marxismuskritik eine deutlichere Rolle spielten. Es ist offensichtlich, dass Masaryk über die ältere und neuere Fachliteratur, die sich mit der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterfrage befasst hat, gut informiert war. Es handelt sich vor allem um die Abhandlung von Lorenz von Stein Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich, die erstmals 1842 in Leipzig veröffentlicht wurde und welche Mitte des 19. Jahrhunderts die Gelehrten im deutschsprachigen Mitteleuropa gerade über diese Problematik sehr oft informierte. Ab 1855 wirkte Stein, der als bedeutender Wegbereiter des Begriffes „soziale Frage“ gilt, als Professor für politische Ökonomie an der Universität Wien, wo er noch in der Zeit von Masaryks Universitätsstudien Dienst tat.4 Man kann aber nicht sagen, dass Masaryk die Ansichten von Lorenz von Stein breit übernimmt. Er meint zusätzlich, es sei wissenschaftlich nicht zu beweisen, dass Karl Marx bei der Formulierung seiner Thesen über den wissenschaftlichen Sozialismus und Republik], Ebd., S. 78–84. Jindřich Srovnal, Masarykova otázka sociální. Dílo a dějiny [Masaryks soziale Frage. Werk und Geschichte], Ebd., S. 3–22, Jiří Štaif, Die soziale Frage, der Kapitalismus und die intellektuellen Eliten vor 1914: T. G. Masaryk und die anderen, in: Sozial-reformatorisches Denken in den böhmischen Ländern 1848–1914, Hg. Lukáš Fasora u.a., München 2010, S. 109–150. 4 Hartmut Kaelble, Massenarmut, soziale Ausgrenzung, Ungleichheit: Die soziale Frage, in: Welt- und Kulturgeschichte, Bd. 11: Zeitalter der Expansion, Hamburg 2006, S. 487–494.

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den proletarischen Klassenkampf durch Stein besonders stark beeinflusst wurde, wie es z.B. der russische Legalmarxist P. B. Struve oder der bedeutende Anhänger des deutschen Kathedersozialismus Werner Sombart behaupten. Masaryk kommt nämlich zu dem Schluss, dass diese Beeinflussung in der Entwicklung der Ansichten von Karl Marx um die Mitte der 40-er Jahre des 19. Jahrhunderts möglicherweise nur eine sekundäre Bedeutung hatte.5 Masaryk kannte auch das Buch von Friedrich Albert Lange Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, das erstmals im Jahr 1865 und dann noch mehrmals publiziert wurde. In der deutschen Fassung seines Buches Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus betont er eine Akzentuierung des Neokantismus in den Ansichten von F. A. Lange, welche die revisionistische Linie des Marxismus in der Abhandlung von Eduard Bernstein Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899) offenbar mitbestimmte.6 F. A. Lange ist aber für Masaryk kein maßgebender Gesprächspartner wie zum Beispiel auch Friedrich Naumann, der für ihn vor 1914 nur einer der Anhänger des evangelisch orientierten christlichen Sozialismus gewesen ist. Nur wenige Informationen hatte Masaryk über die Marxismusdiskussion, die im italienischen Kulturraum am Ende des 19. Jahrhunderts sehr intensiv lief. Er erinnert zwar an den Namen von Antonio Labriola, von der vom Neokantismus beeinflussten Neigung zum Marxismus, die Benedetto Croce vertrat, wusste er damals aber gar nichts. Sehr gut informiert ist er aber über den nichtmarxistischen Sozialismus der Fabian Society in England, die in der breiteren Öffentlichkeit vor allem 1889 durch den Sammelband Fabian Essays in Socialism bekannt wurde. Sie wurden später auch in die deutsche und tschechische Sprache übersetzt. Auf Masaryk wirkten englische Fabier durch ihre Betonung der moralisch begründeten und gleichzeitig auch nichtrevolutionären Lösung der modernen sozialen Frage sympathisch. Dafür zitiert er an einigen Stellen seines Buches zustimmend die Ansichten von Beatrice and Sidney Webb. Aus dem Kreis der Wiener Fabier erinnert er in den Fußnoten an den österreichischen Volkswirt Eugen von Philippovich. Der Journalist Engelbert Pernerstorfer ist für ihn besonders in seiner späteren Rolle wichtig, wo er als österreichischer sozialdemokratischer Abgeordneter die Annäherung zwischen dem sog. proletarischen Internationalismus und einem gegenüber anderen Völkern toleranten Nationalismus propagierte. Eine besonders bedeutende Alternative für seine Orientierung in methodologisch komplizierten Fragen 5 T. G. Masaryk, Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus. Studien zur socialen Frage, Wien 1899, S. 34 und 39. 6 Ebd., S. 590.

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der marxistischen Auffassung der Wertetheorie in der politischen Ökonomie und des Klassenkampfes im Rahmen des historischen Materialismus war die Abhandlung von Werner Sombart, die er als Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert im Jahr 1896 veröffentlichte.7 Masaryk kannte auch sehr gut den Beitrag Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx, welchen Sombart 1894 im Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik als seine Reaktion auf die Herausgabe des letzten Bandes des bekannten Werkes von Karl Marx Das Kapital (Bd. I: 1867, Bd. II: 1885, Bd. III: 1894) veröffentlichte. Ich muss dabei betonen, dass Sombart ein gründlicherer Kenner des Kapitalismus, der modernen sozialen Bewegungen und der methodologischen Möglichkeiten des Marxismus auf dem Gebiet der Analyse des modernen sozialen Konflikts als Masaryk war. Sombart verstand nämlich diese Problematik im Kontext seiner methodologischen Bemühungen als legitimes Ringen der modernen Arbeiterschaft für ihre sozialen Rechte. Dieses gesetzestreue Ringen war für ihn in erster Linie keine Frage der allgemeinen Menschenrechte und der christlichen Moral wie vorzugsweise für Masaryk, sondern eine Angelegenheit des legitimen Klassenkampfes, der aber keine revolutionären bzw. gewaltsamen Mittel für die Durchsetzung der für die ganze Arbeiterklasse gemeinschaftlichen Forderungen anwenden darf. Für Sombart war eine solche Version des Klassenkampfes damals ebenso annehmbar, wie das Bündnis zwischen der heimischen Bourgeoisie und „ihrem eigenen“ Proletariat gegen den Feind von außen. In der Erkenntnistheorie war Sombart nominalistischer orientiert als Masaryk, der ihm nicht zustimmen konnte, dass solche Begriffe wie z.B. die Marx’sche Wert- und Mehrwerttheorie in der politischen Ökonomie und Klassenkampf in der soziologischen Theorie nur die Instrumente sind, die für eine gesellschaftswissenschaftliche Analyse passender sind als die anderen. Für Sombart stellen sie aber keine empiri7 In den Jahren 1914–1918, als Masaryk im politischen Exil tätig war, kam es zu einer Entfremdung zwischen ihm und seinen deutschen Gesprächspartnern und Bekannten aus Wien, z.B. Engelbert Pernerstorfer, dem Mitbegründer der Wiener Wochenzeitschrift „Die Zeit“ Isidor Singer und dem bekannten Rechtswissenschaftler, Historiker und Politiker Josef Redlich. Dazu vgl. Weg von Österreich! Das Weltkriegsexil von Masaryk und Beneš im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1914 bis 1918. Eine Quellensammlung, Hg. Frank Hadler, Berlin 1995, S. 177: Im Februar 1916 schrieb Masaryk in seinem Tagebuch in Paris wörtlich: „They think I am a traitor of course. They may think what they like …” In dieser Zeit sah er in Eugen von Philippovich einen österreichischen Volkswirtschaftler, der die pangermanische Konzeption eines Wirtschafts- und Zollverbandes zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn publizistisch unterstützte. Dazu vgl. T. G. Masaryk, Válka a revoluce Bd. I [Krieg und Revolution I], Hg. Karel Pichlík u.a., Praha 2005, S. 258.

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schen Fakten dar, die in der Realität wirklich existieren. Im Unterschied zu Sombart sah in diesem Fall der streng realistisch denkende Masaryk keine Möglichkeit, für seine nichtmarxistische Analyse der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft solche Begriffe zu verwenden, die ursprünglich aus dem marxistischen methodologischen Instrumentarium stammten.8 Es steht außer Zweifel, dass Masaryk gerade in seinem Dialog mit Sombart viele Anregungen für seine Beurteilung des Marxismus gewonnen hat, obwohl er mit ihm nicht selten auch polemisiert.9 Zugleich kennt er auch die Namen der jüngeren Vertreter der deutschen Soziologie wie z. B. Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber, die jedoch in der Formierung seiner kritischen Gedanken über die moderne soziale Frage eine geringere Rolle spielten als gerade Werner Sombart. Große intellektuelle Unterstützung für seinen Versuch, den Marxismus als wissenschaftlich haltlose Weltanschauung zu erklären, sah er vor allem in der sog. Revisionismusdebatte, die im Zusammenhang mit der Engels’schen Einleitung zur Neuausgabe (1895) der Marx’schen Klassenkämpfe in Frankreich in den Jahren 1846–1850 entstand und sich besonders zwischen den deutschen Ideologen der Sozialdemokratie lebendig entwickelte. Gerade in dieser Debatte sah Masaryk die Bestätigung seiner Ansichten, dass sich der Marxismus in einer großen inneren Krise befand. In diesem Zusammenhang interessierte er sich für die Argumente von mehreren Protagonisten dieser Debatte. Unter ihnen sehen wir an erster Stelle Karl Kautsky und Eduard Bernstein, die Masaryk auch durch seine Briefe zu einem Gedankenaustausch herausforderte. Bei dieser Gelegenheit schreibt er im letzten Paragraph seines deutschsprachigen Buches über die soziale Frage in seiner langen Zusammenfassung wörtlich: „Kautsky gibt (schriftlich) eine ‚wirkliche Krise’ innerhalb des Marxismus zu, aber nur in einem Punkte – in der philosophischen Grundlage. Kautsky gibt zu, dass unter den jüngeren Marxisten der Neokantismus große Fortschritte mache, und zwar unter den besten Köpfen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien“.10 8 Masaryk, Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, S. 251 u. 253–256. 9 Masaryk betont aber nicht die wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden als die Ursache der erfolgreichen Entwicklung des allgemeinen Kapitalismusgeistes, wie es Werner Sombart in seiner vieldiskutierten Abhandlung Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) später tat. Die judenfeindlichen Strömungen in der gegenwärtigen Gesellschaft sind ihm auch fremd. Vgl. ders., Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, §§ 120 und 126. 10 Ebd., Zitat S. 590. Dazu vgl. Zdeněk Šolle, Masarykův zájem o socialismus a o dělnické hnutí [Masaryks Interesse für den Sozialismus und die Arbeiterbewegung], in: T. G. Masaryk a sociální otázka, S. 158–161.

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Das reicht für Masaryk aber nicht aus, weil diese philosophische Krise für ihn bedeutet, dass der Marxismus als die Weltanschauung und führende Ideologie der Arbeiterbewegung bereits unannehmbar ist. Diese erhofften Abschlüsse in Debatten führen ihn dann zu den folgenden Ansatzpunkten ganz am Ende seines Buches: „Nach meiner Ansicht ist die Krise in der philosophischen Grundlage eine Krise des ganzen Systems. Marx und Engels strebten eben eine einheitliche Gesamtanschauung an, die sie auf dem positivistischen Materialismus zu begründen suchten. Ich habe mich bemüht, den Zusammenhang der einzelnen wissenschaftlichen Gebiete mit dieser verfehlten philosophischen Grundlage recht anschaulich zu machen. Aber die Krise macht sich nicht bloß in der Philosophie, sondern auch auf den speciellen wissenschaftlichen Gebieten geltend. Das bestätigt mir der letzte Congress der deutschen socialdemokratischen Partei zu Stuttgart“, wo sich eine große theoretische Zwiespältigkeit zwischen den deutschen Marxisten ausgewirkt hat, die keine Einheit im praktischen Vorgehen verhüllen kann, meint T. G. Masaryk.11 Er ist nämlich ganz davon überzeugt: die „Krise innerhalb des Marxismus ist nicht bloß eine Frage der socialdemokratischen Partei, sondern der Philosophie und Wissenschaft, und sie verdient genau beachtet zu werden von Allen, denen gedeihliche Lösung der socialen Fragen am Herzen liegt“.12 Dieser tschechische Philosoph war sich auch darin gewiss, dass seine Schlussfolgerungen über die gesamte Krise des Marxismus auch das Bernstein’sche Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie bestätigt, welches ihm erst bei der Korrektur des Schlusskapitels seiner deutschen Abhandlung Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus. Studien zur socialen Frage Ende März 1899 bekannt war.13

2. Masaryks humanistischer und demokratischer Sozialreform(ation)ismus In seiner sehr umfangreichen Kritik des Marxismus behandelt Masaryk wirklich viele Fragen, die ich hier nicht insgesamt kommentieren kann. Ein Schlüsselbegriff für ihn ist die Humanität, welche das größte Besitztum der 11 Masaryk, Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, Zitat S. 590. 12 Ebd., Zitat S. 592. 13 F. L. Carsten, Eduard Bernstein. Eine politische Biographie, München 1993, S. 61 ff. u. 197 ff.

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menschlichen Zivilisation, die mit der Entstehung der christlichen Religion untrennbar verbunden ist, darstellt. Auf diesem Gedanken fußt seine grundlegende Abhandlung über die tschechische Frage [Česká otázka, (1895)] , wo er meint, dass die historische Mission der Humanität als des souveränen menschlichen Handlungsfeldes besonders die besten Traditionen der böhmischen bzw. tschechischen Reformation verkörpern, der auch alle jetzt lebenden Menschen nachfolgen sollten. Er meint darum, dass man gerade die soziale Frage nur auf der Basis der demokratisch orientierten christlichen Humanität, die mit der realistischen Wissenschaft vereinbar ist, am besten begreifen kann.14 Er will dabei auf die besten Traditionen der tschechischen Reformation aufbauen, die seiner Meinung nach eine viel bessere Grundlage für die Lösung der modernen Armut und anderer sozialen Bedrängungen sind als der marxistische Klassenkampf, weil sie nicht zum Streit zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen auffordern, sondern zur friedlichen Zusammenarbeit. Dafür spricht er nicht von einer sozialen Frage, sondern von mehreren und dabei auch sehr konkreten sozialen Fragen, die nicht nur die bisherigen Führer der Arbeiterbewegung, sondern auch die humanistisch orientierten Gebildeten und anderen Menschen guten Willens in Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern und dem Staat miteinander schrittweise und trotzdem angestrengt lösen müssen. Für solche Initiativen bietet der einer universalen Sittenlehre entbehrende Marxismus keine passende Grundlage, weil er materialistisch, wissenschaftlich und philosophisch altmodisch geworden ist, schließt T. G. Masaryk seine Kritik.15 Die Beobachtung der inneren Logik in Masaryks Interpretation und Kritik des Marxismus ist keine einfache Angelegenheit, nicht nur, weil er sehr viele Fragen behandelt, sich dabei nicht selten wiederholt und zuweilen auch widerspricht, sondern auch weil die Rolle des Temperaments innerhalb seiner Mentalität an mehreren Stellen seiner Darlegung eine größere Rolle spielt als die konzentrierte philosophische und besonders soziologische Analyse. Sein Buch untergliederte er in sechs Teile mit einzelnen Kapiteln, welche auf einzelne Paragraphen verteilt sind, die Masaryk fortlaufend nummerierte. Die tschechische sowie die deutsche Fassung dieser Abhandlung enthalten so insgesamt 162 Paragraphen in seiner Erläuterung. Er beginnt mit einer Übersicht über die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels und gibt uns

14 Milan Machovec, Tomáš G. Masaryk, Praha 1968, passim, v. a. S. 107 ff. 15 Masaryk, Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, S. 545– 552.

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eine vielseitige kommentierte Bibliographie der damaligen, dem Marxismus, Sozialismus und Kommunismus gewidmeten Fachliteratur.16 Der umfangreichste Teil seines Buches handelt dann in den Paragraphen 5–64 vom historischen Materialismus. Dann folgen die Darlegungsteile über Wesen und Entwicklung der Ansichten der Marxismusbegründer zur wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft (§§ 65–105) und Masaryks Vorstellungen vom ideologischen System des Marxismus (§§ 106–141). Relativ kurz ist die vorletzte Textabteilung geblieben, die Masaryks Erklärung der aktuellen marxistischen Tätigkeit in der Politik mit der besonderen Rücksicht auf die Rolle der gewaltsamen Revolution und des friedlichen Parlamentarismus in den Zielsetzungen der deutschen Sozialdemokratie enthalten (§§ 142–160). Das Buch endet mit Masaryks Ergebnis über die wissenschaftliche und philosophische Krise innerhalb des Marxismus, das nur die zwei Schlussparagraphen 161 und 162 einbezieht.17 Für mein Thema ist Masaryks Darlegung von Wert und Mehrwert in Marx’ Kapital besonders wichtig. Er stimmt vor allem nicht der Aussage zu, dass sich der Kapitalist den sog. Mehrwert der Arbeit, die seine Arbeiter für ihn produzieren, einseitig aneignen kann, solange der Arbeiter mit ihm einen ordentlichen und dabei auch ehrenhaften Vertrag abgeschlossen hat. Er betont auch, dass der Kapitalist angemessene Belohnung dafür bekommen muss, dass er mit einem Risiko auf dem Markt seine und seines Arbeiters Arbeit verkauft. Masaryk ist auch davon überzeugt, dass der Marxismus unter anderem deshalb wissenschaftlich nicht haltbar ist, weil Karl Marx im letzten Band des Kapitals seine Arbeitstheorie des Wertes und des Mehrwertes zugunsten der sog. Profittheorie gründlich revidiert hat. Er meint dabei, dass der Kapitalismus nicht die einzige Ursache für das Elend der Arbeiterschaft ist, weil ihre Schwierigkeiten mehreren Ursachen zuzurechnen sind (§§ 67, 72, 83, 86).18 Aus diesen und anderen Gründen ist es nicht möglich, in der modernen Geschichte einen immerwährenden Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat über die Umverteilung des Mehrwertes zu sehen. Psychologisch kann man auch nicht voraussetzen, dass für jeden Arbeitgeber humanistische Ethik fremd ist. Für Masaryk ist nämlich die Art und das Ausmaß der Arbeiterausbeutung nicht nur die Angelegenheit der modernen kapitalistischen Wirtschaft, sondern eine allgemein wichtige Tatsache, wel16 Ebd., S. 1–16. 17 Štaif, Die soziale Frage, S. 123 ff. 18 Masaryk, Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, S. 289 ff.

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che sich nach den Grundsätzen der universalistisch aufgefassten Humanität richten muss. Er behauptet dabei, „alles Übel, wie es Marx wollte, aus dem Kapitalismus ableiten zu wollen, ist eine Einseitigkeit und Übertreibung“. Gänzlich außerhalb von Masaryks Interesse blieb dabei aber nicht nur die wachsende Rolle des Geldes, sondern auch die des Geschäftes mit dem Geld in einer immer dynamischer werdenden kapitalistischen Gesellschaft. Man kann sagen, dass Masaryk in dieser Hinsicht ein wenig naiv war.19 Es ist auch klar, dass er kein gründlicher Kenner der damaligen kapitalistischen Ökonomie war, deren Tendenz zur Konzentration, Expansion und Konsum offensichtlich am Rande seiner Analyse der modernen sozialen Frage blieb. Auf der anderen Seite kann man ihm dahingehend zustimmen, dass der Kampf der Arbeiterschaft für ihre ökonomischen Ziele nicht zu unmittelbaren politischen Folgen führen muss. In diesem Zusammenhang betont er auch, dass die Arbeiter keine innerlich einheitliche soziale Klasse des Proletariats bilden, sondern sie nur eine Gruppierung verschiedener Interessenklassen sind, die körperlich für Lohn arbeiten müssen. Er legt dabei aber kein Gewicht auf die soziologische Präzisierung der verschiedenen sozialen Interessen im Rahmen der ganzen Arbeiterschaft, sondern er spricht nur vom Ethos gemeinsamer Arbeit, in dem er ein positives Merkmal der modernen Gesellschaft sieht. Dafür soll das Ziel jedes modernen Menschen darin bestehen, Arbeiter oder in anderen Worten der Arbeitende zu sein, wenn er für das Wohl der ganzen Gesellschaft und nicht nur für seine eigensüchtigen Bedürfnisse wirken will. In diesem Sinn ist für Masaryk auch ein ethisch verantwortungsvoller Kapitalist ein solcher Arbeiter bzw. Arbeitender. Er fügt hinzu, dass auch die Arbeiter, die klassenbewusst sind, mit ihren Kapitalisten nicht nur unterschiedliches, sondern auch gemeinsames Interesse haben. Soziologisch arbeitet Masaryk diese These leider nicht aus. Er verdammt dabei aber das liberale Ideal des stetigen Wettbewerbes zwischen den verschiedenen Menschen um den größtmöglichen Gewinn sowie die marxistische Konzeption des Klassenkampfes zu Gunsten seiner demokratischen, ethischen und zugleich auch nichtmaterialistischen Theorie der Revolution, die für ihn „die nichtaristokratische Reformation“ ist.20 Masaryks Demokratiebegriff hat aber seine Grenzen, weil er die absolute Gleichheit zwischen den Menschen nicht anerkennt. Zur Verteidigung des Prinzips der zwischenmenschlichen Solidarität verwendet er aber Worte, welche ihn von der realistischen Philosophie und der Soziologie zur eifern19 Ebd., Zitat S. 291. 20 Ebd., Zitat S. 289 u. 547–551.

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den Predigt führen. Ein bisschen ironisch ist er in seiner Zustimmung zu Engels’ Behauptung, Revolutionen seien das Werk von Minderheiten. Dann stellt er aber diese Behauptung auf den Kopf. Er behauptet nämlich, wenn die Revolution das Werk einer Minderheit sei, dann werde sie aristokratisch wie der Krieg. Aus diesen Gründen versteht er die Revolution wie „eine Art Sport“. Dazu wird von ihm gleich ergänzt: „Der Aristokratismus zeigt sich in der revolutionären Improvisation“ und „ist nur selten wahrhaft erfolgreich“. In diesen etwas kurzschlüssigen Überlegungen betont Masaryk, dass die gewaltsame und nicht erfolgreiche Revolution auch deshalb schlecht sei, weil ihr naturgemäß eine Reaktion folgen werde.21 Er möchte in diesem Zusammenhang die gewalttätigen Revolutionen mit dem Ethos der kleinen, unscheinbaren und alltäglichen Arbeit im Bereich der friedlichen Lösung der verschiedenen Auswirkungen der modernen sozialen Fragen ersetzen. Gleichzeitig beabsichtigt er eine unmaterialistische Theorie der Revolution unter dem Leitspruch „Reformation nicht Revolution!“ Anders gesagt, er strebt nach der durch die Reformation geprägten Reformierung der Revolution und verkündet dabei wie ein echter Prediger entzückt: „Ohne wirkliche Reform des Herzens und des Kopfes, ohne Reform des Denkens und der Sitten können wir durch eine Revolution den Teufel beseitigen, aber wir setzen Belzebub an seine Stelle“. Dazu bemerkt er noch, wenn „Feuerbach sagt: ‚Das Herz revolutioniert, der Kopf reformiert‘ so sage ich: nur eine schlechte Psychologie trennt Kopf und Herz“.22 Masaryk stellt sich gleichzeitig gegen die Beseitigung der verschiedenen Formen der Konkurrenz in der Produktion und des Eigentums in der Gesellschaft, weil er sie aus mehreren Gründen für nutzbringend hält. An anderen Stellen seines Buches über die soziale Frage kritisiert er auch seinen deutschen Kollegen Werner Sombart dafür, dass er in der Abhandlung Ideale der Socialpolitik (1897) nicht richtig versteht, dass man solche Ideale nicht auf die größte Fruchtbarkeit der gesellschaftlichen Arbeit begrenzen kann, weil die Verteilung der gesellschaftlichen Produktion auf die einzelnen Menschen ohne eine ethische Norm nicht möglich ist. Masaryk ist nämlich ganz davon überzeugt, dass das soziale Ideal sich in letzter Instanz nur ethisch begründen lässt. Die Frage zum Inhalt dieser sozialen Ethik bzw. zu den Idealen der Sozialpolitik will er bei dieser Gelegenheit aber nicht beantworten (§ 62).23 In dieser Hinsicht vermittelt er nur relativ knappe Vorstellungen von wünschenswerten Richtungen in der aktuellen Sozialpolitik, die auf den nöti21 Ebd., S. 324, Zitat S. 547. 22 Ebd., Zitat S. 551 u. 552. 23 Ebd., S. 228 f. u. 301 ff.

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gen sozialen Reformen beruhen muss. Dazu bemerken wir nur, dass diese Masaryk’schen Vorschläge keine im europäischen Vergleich wirklich originellen Gedanken umfassen. Außer den allgemeinen Reformen wie z.B. der Einführung einer progressiven Steuer für alle Bürger geht es ihm nämlich um: 1. Das Recht der Arbeiter auf eine würdevolle Existenz einschließlich der Anerkennung eines gesetzlich vorgeschriebenen Existenzminimums. 2. In Einzelfällen die Abschaffung allen Wuchers und die Beseitigung aller Art von Parasitentum. 3. Die Begrenzung des Erbrechts. 4. Ergänzung und Vervollkommnung der Arbeiterversicherung ist besonders wichtig. 5. Für die Sozialgesetzgebung als die Hauptaufgabe die Beseitigung der Arbeitslosigkeit festlegen. 6. Strenge staatliche und wirtschaftliche Überwachung der sozialen Lage der Arbeiterschaft, die sich auf die möglichst vollkommene Sozialstatistik stützen wird. 7. Aufgeklärtere Bevölkerungspolitik als bisher.24

3. Schlussfolgerungen Mit dem Echo von Masaryks Buch über die soziale Frage kann ich mich hier nicht befassen. Ich bemerke nur, dass es im Ausland besonders bei den damaligen Kennern und Vertretern des Marxismus G. W. Plechanow, Antonio Labriola und Heinrich Cunow mehr oder weniger kritisch beurteilt wurde. Nur der marxistische Revisionist Eduard Bernstein stand Masaryks Ansichten in seiner kurzen Buchbesprechung, die er schon am 8. Juni 1899 herausgab, besonders aufgeschlossen gegenüber.25 Es gab unter beiden aber auch die merkwürdigsten Unterschiede, weil Bernstein durch seine Revision den Marxismus als Ideologie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung retten wollte, während sich Masaryk bemühte, diese Weltanschauung durch seine philosophisch und ethisch begründende Kritik aus dem öffentlichen Diskurs herauszudrängen. Etwas näher zu Masaryks Überlegung war der Ansatz, „durch die Bekämpfung der Reste utopischer Denkweise in der sozialistischen Theorie das realistische wie das idealistische Element in der sozialistischen 24 Ebd., S. 325. 25 Dazu vgl. die Bibliographie in: T. G. Masaryk, Otázka sociální. Základy marxismu filosofické a historické Bd. II [Die soziale Frage. Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus II], 6. tschechische Aufl., Praha 2000, S. 241–245.

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Bewegung gleichmäßig zu stärken“, den Bernstein im Geleitwort zur ersten Ausgabe seiner Voraussetzungen des Sozialismus (1899) als Hauptziel seines Revisionismus erklärt hat.26 In Masaryks humanistischem und demokratischem Sozialreform(ation) ismus kann man zweifellos einen originellen Versuch sehen, einen dritten Weg zwischen dem kollektivistischen Marxismus und dem individualistischen Liberalismus zu finden. Die ausdrücklichen Spuren eines Einflusses des deutschen sozialen Liberalismus, z.B. die Ansichten von Lujo Brentano oder Friedrich Naumann, kann man in seinem Schriftstück über die soziale Frage nicht beobachten. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges kritisierte er aber mehrmals das nationalpolitische Konzept des Pangermanismus und dabei besonders deutlich die geopolitischen Visionen eines Mitteleuropas. Naumann war für ihn aber der einzige Vertreter dieser Richtung, den Masaryk als umsichtigeren und gesitteten deutschen Politiker und Ideologen im Vergleich mit den anderen Anhängern des Pangermanentums betrachtete.27 Besonders gefährlich für sein Kriegskonzept (1915–1918) des Neuen Europa der freien, zwischen Deutschland und Russland sich befindenden Nationen erschien Masaryk die Meinungsaffinität zwischen Naumanns Ansichten und der austromarxistischen Konzeption des sozialen, demokratischen und kulturellen Umbaus der Habsburgermonarchie, die vor allem Karl Renner und Otto Bauer vertraten. Als ehemaliger Philosoph der sozialen Frage und neugeborener Staatsmann meinte er, dass die Freiheit der einzelnen mitteleuropäischen Völker ethisch höher stehe als die ökonomische Rationalität der imperialistischen Auffassung des mitteleuropäischen Raumes. An die politischen, nationalwirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und nationalen Argumente, die Friedrich Naumann in seinem Schriftstück Mitteleuropa aus dem Kriegsjahr 1915 entfaltete, glaubte er nicht. Masaryk war nämlich fest davon überzeugt, dass man die besten Garantien für die Lösung der modernen sozialen Frage nach dem Ersten Weltkrieg nur im Zerfall der „theokratischen“ Habsburgermonarchie und der Errichtung der neuen demokratischen Nachfolgestaaten sehen könne.28 26 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 8. Aufl., Berlin 1984, Zitat S. 12. 27 Vgl. Frank Henschel, Mitteleuropa gegen das neue Europa. Ein Vergleich der Schriften Friedrich Naumanns und Thomas Garrigue Masaryks, Grin Verlag, September 2008; auf S. 14 schreibt er nicht richtig, dass Masaryk in seinem Buch Das neue Europa „Naumanns Name nicht erwähnt“. Dazu siehe: T. G. Masaryk, Nová Evropa. Stanovisko slovanské [Das neue Europa. Der slawische Standpunkt], 4. Aufl., Brno 1994, S. 122 u. 176. 28 T. G. Masaryk, The Literature of Pangermanism, New Europe 1, 1916, Nr. 2–5 und 8; siehe tschechische Übersetzung in ders, Válka a revoluce Bd. I, Hg. Karel Pichlík u.a.,

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Briefmarke 1960 aus einer Serie in den USA, die u.a. 1959 auch Ernst Reuter so ehrte.

Ausschnitt des Briefs mit Ersttagsstempel 7.3.1960 aus einer Serie in den USA, die u.a. 1959 auch Ernst Reuter so ehrte.

In der Zwischenkriegszeit legte er als erster Präsident der Tschechoslowakischen Republik besonderen Nachdruck auf den engen Zusammenhang zwischen der bürgerlichen Freiheit und der Sicherstellung des sozialen Minimums. Ein Staat, der entweder die bürgerliche Freiheit oder das soziale Minimum nicht sichert, hat keine dauerhafte Perspektive vor sich, meinte er. Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, hier die Erfolge und Misserfolge der Sozialpolitik in der ersten Tschechoslowakischen Republik zu bilanzieren, weil diese Frage die Grenzen dieses Beitrages ganz überschreitet. Es ist aber offensichtlich, dass dieser Staat eben die länger anstehenden sozialen Folgerungen der Großen Weltwirtschaftskrise, die ihn seit dem Jahr 1929 sehr stark betroffen hat, nur mit äußersten Bemühungen zu lösen fähig war.29

Praha 2005, S. 246–259, Vgl. T. G. Masaryk, Nová Evropa. Stanovisko slovanské, v. a. S. 181 ff. und Karel Pichlík, Bez legend. Zahraniční odboj 1914–1918. [Ohne Legenden. Der Widerstand im Ausland 1914–1918], Praha 1991, S. 149 ff. 29 Jakub Rákosník, T. G. Masaryk a sociální otázka v první československé republice, in: T. G. Masaryk a sociální otázka, S. 78–84.

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Auf die weitere soziologische Ausarbeitung der Problematik der modernen sozialen Frage verzichtete Masaryk definitiv im Jahr 1933 anlässlich des 50. Todestages von Karl Marx.30 Wenn er nur den Willen zur Fortsetzung gehabt hätte, wäre es in jedem Fall lehrreich gewesen, ob er den richtigen Weg zur Synthese seiner stellenweise originellen philosophischen, moralischen und psychologischen Wahrnehmungen mit der umfangreichen und dabei auch theoretisch gut begründeten soziologischen Analyse der Interessengruppen innerhalb der Arbeiterschaft, des Konfliktpotenzials der Gesellschaft in der Zeit des konzentrierten Kapitalismus und der Rolle des Geldes und Kredits in der Formierung der Konsumgesellschaft gefunden hätte. Die Haltungen der bolschewistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Ideologien zur sozialen Frage konnte er dabei natürlich auch nicht übersehen.31 Besonders wichtig für einen solchen Versuch wäre eine mehrschichtige Analyse der verschiedenen Interessengruppen der Unternehmer innerhalb des sich globalisierenden Kapitalismus und ihrer unterschiedlichen Hinneigung zu sozialen Reformen. Was aber meines Erachtens von Masaryks Kritik des Marxismus vor dem Ersten Weltkrieg besonders lebendig wird, ist seine Betonung der ethischen Aspekte der gesellschaftlichen Modernisierung im Rahmen des dynamischen Kapitalismus. Masaryks vielseitige Bereitschaft, die Möglichkeiten des philosophischen Denkens auch an den brennenden sozialen Fragen zu zeigen, hat jedoch noch immer nichts an Aktualität verloren. Sein Verdienst liegt besonders darin, dass er zu den wenigen europäischen Gelehrten gehörte, die am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Problematik der gesellschaftlichen Stellung zu modernen sozialen Fragen als wichtige Probleme des öffentlichen Diskurses kritisch thematisierten, die unbedingt ernst zu nehmen sind.

30 T. G. Masaryk, Otázka sociální Bd. I., 4. tschechische Aufl., Praha 1948, S. XV. 31 Zur Kritik der theoretischen Nachteile von Masaryks Philosophie, Soziologie und seiner volkswirtschaftlichen Ansichten siehe u. a.: Hajek, T. G. Masaryk Revisited, S. 114 ff.; Jindřich Srovnal, Masarykova otázka sociální. Dílo a dějiny, in: T. G. Masaryk a sociální otázka, S. 17 ff.; Štaif, Die soziale Frage, S. 131 ff. und von Tulechov, Thomas Garrigue Masaryk, S. 116 f.

PETER BRANDT

„Es gibt nicht einen Liberalismus, sondern viele“1 – Sozialliberalismus in Skandinavien 1890–1940

Der industrielle Durchbruch vollzog sich in Nordeuropa mehrere Jahrzehnte später als in den avancierten Ländern Kontinentaleuropas: in Dänemark relativ stetig hauptsächlich als Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, in Norwegen und – etwas früher – in Schweden als dramatischer Vorgang der Entstehung einer Schwerindustrie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Trotzdem überdauerte der agrarische Charakter vieler Regionen, und der Agrarsektor behielt große Bedeutung für die Volkswirtschaft. Mit gewissen Variationen, wobei Dänemark zeitweise dem in Norddeutschland Üblichen näher kam, entsprach einer traditionell starken Rechtsstellung der Bauernschaft ein zahlenmäßig und sozial schwacher Adel, Letzteres namentlich in Norwegen. Der Absolutismus zerstörte nicht, sondern befestigte in seiner aufgeklärten Version die lange verankerte Rechtsstaatstradition, die Meinungsfreiheit früh einschließend. Eine homogene Machtstruktur mit relativ guter Infrastruktur und eine frühe Alphabetisierung unterstützten die Herausbildung einer – im europäischen Vergleich – egalitären Gesellschaft. Diese befestigte Gleichberechtigung und Gleichheit schon früh als charakteristische Werte in der politischen Kultur, ebenso die Abneigung gegen gewaltsame Konfliktaustragung, den Pragmatismus und das Streben nach Konsens.

1. Die Verbindungen der Bürger- und Volksbewegungen Zur politischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts in Skandinavien2 gehörten auch die sozialen und vorpolitischen sog. „Volksbewegungen“.3 Ein bedeu1 Bo Stråth, Liberalismen och moderniseringen av Sverige, in: Liberala perspektiv. Vision och verklighet i historia och politik, Höganas 1990, S. 231–250, hier S. 235. – Fremdsprachige Zitate wurden durchweg übersetzt. 2 „Skandinavien“ ist hier nicht geographisch zu verstehen, was Finnland einschließen würde, sondern meint die ethnisch-kulturell recht ähnlichen „nordgermanischen“ Länder Dänemark, Schweden und Norwegen. Letztgenanntes gehörte bis 1814 zum dänischen Gesamtstaat und war dann, versehen mit einer weitgehenden Selbstregierung, bis 1905 in einer monarchischen Union mit Schweden verbunden.

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tender Faktor waren das laienkirchliche Element innerhalb der und neben den evangelisch-lutherischen Staatskirchen, außerdem kulturnationale und nationalpädagogische Bestrebungen sowie nicht zuletzt3– für Norwegen und Schweden – die Vereinigungen zur Bekämpfung des Alkoholismus. Diese Volksbewegungen entstanden seit den 1880er Jahren und hatten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Vorläufer wie die dänischen Volkshochschulen und die norwegischen Bauernfreunde. Sie waren untereinander und zugleich mit den sich etablierenden liberalen Parteien der Linken (Venstre), dann auch mit den sozialistischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften eng verbunden und blieben es in hohem Maß.4 Diese „Bewegungen“ drückten sich in einem Ensemble fester Organisationen aus, das für Skandinavien in noch höherem Maß charakteristisch geworden ist als für Deutschland und Österreich. Dazu passten die Aufgeschlossenheit der bäuerlichen Bevölkerung für die Genossenschaftsform und ein breites berufliches Verbandswesen. In den 1930er Jahren wurde ein zweiter Schub verstärkt durch das Anwachsen vor allem der mit den Arbeiter- wie den Bauernparteien – als den Trägern der neuen gesellschaftspolitischen Allianz – verbundenen Basis- und Nebenorganisationen. 3 Zu den Volksbewegungen in den skandinavischen Ländern vgl. zusammenfassend Sven Lundquist, Popular Movements and Reforms, 1900–1920, in: Steven Koblik (Hg.), Sweden’s Development from Poverty to Affluence 1750–1970, Minneapolis 1975, S. 177–193; Bernd Henningsen, Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheorie: Ludwig Holberg, Søren Kierkegaard, N. F. S. Grundtvig, Göttingen 1977; Poul Georg Lindhardt, Skandinavische Kirchengeschichte seit dem 16.  Jahrhundert, Göttingen 1982; Inger Furseth, A Comparative Study of Social and Religious Movements in Norway, 1780s–1905, Lewiston 2002; Harry Haue/Michael Tolstrup (Hg.), Folkelige bevægelser i Danmark. Selvmyndiggørelse og samfundsengagement, Odense 2011; Halvdan Koht, Norsk Bondereising. Fryreboing til Bondepolitiken, Oslo 1926; Elof Eriksson, Bonderörelsen. En historisk återblick, 2 Bde., Stockholm 1946/50; N. F. S. Grundtvig, Schriften zur Volkserziehung und Volkheit. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Friedje, 2 Bde., Jena 1927; Fridlev Skrubbeltrang, Die Volkshochschule, Kopenhagen 1950; Aslak Torjusson, Den norske folkhøskulen, Oslo 1977; Per Fuglum, Kampen om alkoholen i Norge 1816–1904, Oslo 1972; ders., Brennevinsforbudet i Norge, Trondheim 1995; Dag Thorhildsen u.a., Grundtvigianisme og nasjonalisme i Norge i de nittende århundre, Oslo 1996. 4 Von den zwischen 1911 und 1917 für die Liberale Sammlungspartei gewählten Abgeordneten der Zweiten Kammer des schwedischen Reichstags gehörten z.B. (ebenso wie nicht weniger als ein Zehntel der erwachsenen Gesamtbevölkerung) 64 % Nüchternheitsverbänden an. Bei den Sozialisten lag der Anteil noch deutlich höher. Vgl. Göran Therborn, Nation och klass, tur och skicklighet. Vägar till ständig (?) makt, in: Klaus Misgeld u.a. (Hg.), Socialdemokratins samhälle. SAP och Sverige under 100 år, Kristianstad 1989, S. 342–368 u. 416–419, hier S. 352.

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Die Aktivisten der Volksbewegungen strebten danach, die Menschen zu bilden und moralisch zu erheben, indem sie ihre Einstellungen und ihr Verhalten änderten, den Blick aber auch auf die sozialen Lebensumstände richteten. Sie trugen maßgeblich dazu bei, der Politik in den skandinavischen Ländern den typischen kollektiven und reformistischen Zug zu verleihen. Von dieser Kultur wurde auch der Liberalismus stark beeinflusst, der früh die soziale Verantwortung des Staates befürwortete und den Gleichheitsaspekt mindestens so stark betonte wie den Aspekt der persönlichen Freiheit. Er fand seine soziale Basis in länderspezifischen Variationen hauptsächlich in der Bauernschaft und im städtischen Kleinbürgertum sowie unter Intellektuellen, wurde aber auch von Teilen der eigentlichen Bourgeoisie getragen. Tendenziell verstand er sich als Vertretung der kleinen Leute gegen die administrativen und ökonomischen Eliten. Gegen Venstre stand Højre/Høyre/Högern, die Rechte, die ursprünglich von der konservativen Spitzenbürokratie angeführt wurde. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hin stemmte man sich in allen drei Ländern den verstärkt erhobenen Forderungen nach Parlamentarisierung der Regierung, Umgestaltung der Ersten Kammer und Demokratisierung des Wahlrechts entgegen, konnte sie aber letztlich nur verzögern. Beginnend ungefähr mit der Jahrhundertwende und sich hinziehend bis in die 1920er Jahre, erweiterten die konservativen Parteien sowohl ihre Wählerbasis in bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten hinein, als auch ihre Mitgliedschaft und Führung. Dort wurde das großbürgerliche Element mehr und mehr bestimmend, was sich auch in einer wirtschaftsliberalen Programmatik ausdrückte. Die Konservativen passten sich peu á peu der parlamentarischen Demokratie an. In Dänemark, wo schon das Juni-Grundgesetz von 1849 ein weitgehend allgemeines und gleiches Männerwahlrecht beinhaltet hatte, wird der Beginn des parlamentarischen Systems auf das Jahr 1901 datiert. In Norwegen erfolgte der Übergang zum Parlamentarismus bereits 1884, und das allgemeine Männerwahlrecht trat 1897 hinzu. In Schweden blieb der Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise von 1905 bis 1917 umkämpft, während das allgemeine Wahlrecht für die Zweite Kammer 1909 zugestanden wurde. In allen drei Ländern setzte sich jeweils kurze Zeit danach auch das Frauenwahlrecht durch, und die – nur in Dänemark und Schweden vorhandenen – Ersten Kammern büßten Macht und ihren oligarchischen Charakter ein.5 5 Vgl. dazu und für das Folgende (mit weiterer Literatur) Peter Brandt, Vom endgültigen Durchbruch der parlamentarischen Demokratie bis zu den Anfängen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats – Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden

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In Skandinavien war um 1900 die Frontstellung der Liberalen gegenüber den beharrenden Kräften der hohen Beamtenschaft, des Hofes, des Offizierskorps, des – soweit existent – Adels und Großgrundbesitzes sowie Teilen der Großbourgeoisie dominierend. Deshalb konnten sie mit der noch jungen und hinsichtlich der Wählerunterstützung noch minder bedeutenden sozialistischen Arbeiterbewegung bis zur Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie, wenn auch nicht ganz problemlos, kooperieren. Diese erfolgte in allen drei Ländern unblutig und in verfassungsrechtlicher Kontinuität, aber nicht kampflos, namentlich in Schweden. Dort gab es um 1900 zwei sog. Volksreichstage als oberste Ebene einer Versammlungsbewegung und einen Generalstreik für demokratisches Wahlrecht. Ähnlich wie in anderen Ländern ist der Niedergang des alten Freihandelsliberalismus für Schweden und Norwegen schon auf die 1880er Jahre mit der Hinwendung zum Zollschutz zu datieren, aber anders als in Deutschland nicht verbunden mit einer Rechtswendung der liberalen Hauptströmung in Fragen der Verfassungs-, Innen- und Wehrpolitik. Während die – in Dänemark seit 1905 parteipolitisch gespaltenen – Liberalen des Nordens vor dem Ersten Weltkrieg die dominierenden Parteien mit bis zu der Hälfte des Stimmanteils und mehr waren, mussten sie in der Zwischenkriegszeit eine deutliche, teilweise dramatische Reduzierung ihrer Wählerunterstützung hinnehmen. Sie war neben dem Aufstieg der Arbeiterparteien durch die vollständige Verbürgerlichung der konservativen Rechten und durch die Konstituierung eigener Bauernparteien verursacht. In Dänemark machte die alte Venstre aufgrund ihrer spezifischen Ausrichtung eine solche Gründung bis in die frühen 1930er Jahre überflüssig.

2. Dänemark: Sozialliberalismus der Radikale Venstre Dänemark zeichnete sich dadurch aus, dass sich dort eine eigene, spezifisch linksliberale Partei konstituierte.6 Das Gründungsjahr 1905 weist nicht zufäl2008, S. 155–228, sowie Bo Stråth (Hg.), Democratisation in Scandinavia in Comparison, Göteborg 1987. 6 Zum dänischen Linksliberalismus, insbesondere Sozialliberalismus, vgl. Claus Friisberg, Ingen over og ingen ved siden af Folketinget. Partiernes kamp om forfatningen 1848–1920, Odense 2007; Frode Aagard, Venstres historie, Kopenhagen 1949; Hans Jensen, Venstres historie i Danmark gennem 100 år, 2 Bde., Kopenhagen 1937/38; Jørgen Herman Monrad, Et land bygges opp. Venstre i 100 år, 1901–1939, Kopenhagen 1970; Martin Sørensen u.a., Det Radikale Venstre 1905–1930, Kopenhagen o. J.; Roar Skovmand/Erik Rasmussen, Det Radikale Venstre 1905–1955. 50 års folkeligt og politisk virke, Kopenhagen 1955; Kristian Hvidt, Det Radikale Venstre og brudfladerne i

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lig auf die etwa zeitgleiche Regierungsübernahme der Radikalen Partei in Frankreich und des New Liberalism in Großbritannien wie auch auf entschieden liberale Regierungen in Schweden und Norwegen hin. Man war in Skandinavien sehr genau über die politischen und geistigen Prozesse im westlichen Europa informiert. Die dänischen Linksliberalen, die sich bis heute „Radikale Venstre“ (Radikale Linke) nennen, bildeten eine eigene Partei in Reaktion auf die in ihrer Sicht zu kompromisslerische Politik der liberalen Mutterpartei, insbesondere in der Verteidigungspolitik. Die Radikalliberalen waren und blieben bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ausgeprägt pazifistische Partei. Doch standen auch soziale Fragen bei der Gründung und Etablierung der neuen Formation innerhalb des Parteiensystems im Fokus. Von Anbeginn, und die ganze Zwischenkriegszeit andauernd, vertrat die Partei den Standpunkt, „dass dieses Gesellschaftssystem an gewissen grundlegenden Mängeln leidet und dass es die Aufgabe der Demokratie sein muss, diese zu beheben.“7 Während die große Venstre in der Folge tendenziell einen gemäßigten wirtschaftsliberalen Kurs einschlug und dabei ihr agrarischer Charakter noch deutlichere, fast ausschließliche Gestalt annahm, genauer gesagt: die Vertretung der Interessen der groß- und mittelbäuerlichen Eigentümer dominierte, verstand sich die Radikale Venstre u.a. als politische Treuhänderin der Kleinpächter, Häusler und Landarbeiter. Diese bildeten zusammen in den Dörfern die deutliche Mehrheit der Berufs- wie der Wohnbevölkerung und waren bei den früheren Agrarreformen nicht zum Zuge gekommen. Das wurde nach dem Ersten Weltkrieg von den Radikalliberalen nachgeholt. Eine starke Gruppierung in der Studentenschaft gehörte ebenfalls von Anfang an dazu. Man traf sich schon seit Jahren im Kopenhagener „Radikalen Klub“. Der Philosoph Harald Høffding hatte schon 1890 in seinem Buch „Demokratischer Radikalismus“ das Bekenntnis dieser Kreise formuliert: Das Ziel müsse sein, allen Staatsbürgern – über die politische Gleichberechtigung hinaus – zu Wohlstand zu verhelfen, zu gesundem Leben und zu Lebensfreude. Solange auch nur eine Minderheit mit leeren Händen beiseite stünde, sei die Aufgabe nicht gelöst.8 dansk politik, in: Sune Pedersen/Bo Lindegaard (Hg.), B-radikalt 1905–2005, Kopenhagen 2005, S. 9–182. 7 Bertel Dahlgaard, Det Radikale Venstre i Tidens Strøm, in: Sørensen u. a., Det Radikale Venstre 1905–1930, S. 201–211, hier S. 210. – Zu Dahlgaards politischem Wirken vgl. ders., Kamp og samarbeide, Kopenhagen 1964. 8 Nach Hvidt, Det Radikale Venstre, S. 19 (dort wörtlich zitiert). Der programmatische Titel war die Reaktion auf Georg Brandes’ im Jahr davor erschienenes, in linksbürgerlichen Kreisen irritiert aufgenommenes Stichwort „Aristokratischer Radikalismus“.

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Man kann also festhalten, dass die radikalliberale Partei Dänemarks gesellschaftspolitisch der Zusammenschluss eines linksbürgerlichen Hauptstadtmilieus mit der Selbstorganisation der Häusler war, die am Anfang des 20. Jahrhunderts unter Forderungen nach einer Steuer- und Bodenreform verstärkt in Erscheinung trat. Zudem stellten sich die Radikalliberalen nachdrücklich positiv zum Ausbau der Sozialgesetzgebung, forderten die weitere Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und hatten kaum Vorbehalte gegen das Zusammengehen mit der in Dänemark pragmatisch-gemäßigten Sozialdemokratie. Während sie die Mehrheit ihrer Wähler (insgesamt zwischen 9 und 14% der Stimmen) auf dem Lande rekrutierte und eine Minderheit unter Angehörigen der selbstständigen und abhängig beschäftigten Mittelschichten in den Städten, wurden die Programmatik, die praktische Politik und das Gesicht der Radikalliberalen von urbanen Akademikern bestimmt. Dabei wirkte die Tradition des skandinavischen Kulturradikalismus seit den 1860er Jahren weiter. Edvard Brandes, langjähriger Chefredakteur der Kopenhagener „Politiken“ und späterer Finanzminister, der Bruder des noch berühmteren Georg Brandes, war ein intellektuelles Aushängeschild der Partei. Als erster Politiker links der Mitte wurde er 1906 in die Erste Kammer des Parlaments gewählt und machte dort selbst auf die konservativen Aristokraten mit seinem elitären Format großen Eindruck.9 Nach einer vorübergehenden achtmonatigen Regierungsübernahme 1909 begann 1913 eine bis 1920 andauernde Regierungsperiode der Radikalliberalen, die zusammen mit – dann tolerierenden – Sozialdemokraten die Mehrheit in der Volkskammer des Parlaments errungen hatten. In dieser Periode, in der Regierungszeit Theodor Zahles, erhielt Dänemark eine neue, insbesondere im Hinblick auf das kommunale Wahlrecht stärker demokratische Verfassung. Reformen im Rechtswesen und im Schulwesen betrafen weitere Punkte des Odenseer Grundsatzprogramms der Radikale Venstre von 1905,10 in der Durchführung gemildert durch die notwendige Rücksicht auf die abweichenden Mehrheitsverhältnisse in der Ersten Kammer, doch eindeutig in solcher Richtung. Auch die sog. „kleine“ Sozialreform,11 um Alter und Invalidität abzusichern, ging maßgeblich auf die Vorarbeit der Regierung Zahle zurück. Daneben profilierten sich die radikalliberalen Minister im 9 Vgl. Kristian Hvidt, Edvard Brandes. Portræt af en radikal blæksprutte, Kopenhagen 1987. 10 Abgedruckt in: Sørensen u.a., Det Radikale Venstre 1905–1930, S. 212–218. 11 „Klein“ wird diese Reform genannt im Unterschied zu der „großen“, die 1933 unter sozialdemokratischer Federführung durchgeführt wurde.

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Ersten Weltkrieg, in dem alle drei Länder neutral blieben, mit wirtschaftsdirigistischen Maßnahmen. Auch förderten sie eine die namentlich städtischen Verbraucher gegenüber den Landwirten begünstigende, sozial ausgleichende Versorgungspolitik, gegen den zunehmenden Widerstand vor allem der Agrarliberalen. Radikale Venstre war in ihrem Selbstverständnis, jedenfalls im ersten halben Jahrhundert ihrer Existenz, keine bürgerlich-antisozialistische Partei. Vielmehr neigte sie zur Blockbildung mit der Sozialdemokratie, auch seitdem diese eindeutig dominierte, und ging 1929 unter der Ministerpräsidentschaft von Thorvald Stauning eine langjährige, quasi strategische und nicht nur kurzfristig taktische Regierungszusammenarbeit ein. Mit ihrem staatsinterventionistischen Kurs meisterte diese Koalition die Herausforderung der Weltwirtschaftskrise auch politisch bemerkenswert gut und begründete den avancierten Wohlfahrtsstaat in Dänemark. Wenn es auch gute Gründe gibt, Radikale Venstre nicht nur als eine linksbzw. radikalliberale, sondern auch insgesamt als eine sozialliberale Partei zu identifizieren, so lässt sich doch nicht übersehen, dass es in ihr eine besondere, eher minoritäre, aber keineswegs einflusslose Strömung gab, die sich selbst als „sozialradikal“ bezeichnete. Diese betonte dabei das nicht nur grundsätzliche, sondern alltäglich-praktische Interesse an sozialen Verbesserungen, die Gleichrangigkeit des Gleichheits- mit dem Freiheitsprinzip. Sie relativierte somit den typischen Individualismus der schöngeistigen Kulturradikalen vom Typ der Brandes-Brüder. Profiliertester und einflussreichster Repräsentant dieser sozialradikalen Strömung war der spätere langjährige Innen-, Verteidigungsund Außenminister Peter Munch, der 1903 die intellektuell herausragende Zeitschrift „Det nye Aarhundrede“ (Das neue Jahrhundert) begründet hatte. In einer Art Editorial postulierte Munch die fortlaufende Verminderung der wirtschaftlich-sozialen Ungleichheit als Voraussetzung wahrer Demokratie. Es war Munch, der seine ganze Autorität in die Waagschale warf, damit seine Partei 1929 auf Staunings Koalitionsangebot einging. Nicht zuletzt aus Profilierungsgründen und aus Furcht, absorbiert zu werden, gab es da noch einmal starke Vorbehalte. Männer wie Peter Munch oder Ove Rode,12 der Ernährungsminister des Ersten Weltkriegs, teilten mit der reformistischen Mehrheitsströmung der Sozialdemokratie manche Prämissen. Sie stützten sich aber auf eine andere soziale Basis, waren natürlich keine Marxisten, auch nicht in dem Sinne, 12 Vgl. zu diesen beiden Personen Viggo Sjøquist, Peter Munch, Kopenhagen 1976; Tage Kaarsted, Ove Rode – en politiker bliver til, Århus 1963; ders., Ove Rode som indenrigsminister, Odense 1985; ders., Ove Rode – en politiker ved veijs ende, Århus 1989.

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wie selbst die gemäßigten Sozialdemokraten es sein wollten, und lehnten die Sozialisierung der bedeutenden Produktionsmittel ab, wie sie die Sozialdemokratie in ihren Grundsatzprogramm hatte.

3. Norwegen: Sozialradikale zwischen Liberalen und Sozialdemokraten In Norwegen scheiterte die Gründung einer spezifisch radikalliberalen Partei just daran, dass es nicht gelang, die Sozialliberalen mit zumindest einem relevanten Teil der übrigen entschiedenen Linksliberalen zu vereinigen. Vordergründig wirkte sich das taktische Unvermögen der wichtigen Akteure ebenso aus wie die Tatsache, dass aufgrund der Sozial- und Verfassungsstruktur des Landes das gesamte politische Spektrum gewissermaßen nach links verschoben war. Noch ausgeprägter als in Dänemark entfaltete die mit der Demokratisierungs- und Parlamentarisierungsforderung engstens verbundene nationale Frage gerade für die liberale Venstre eine integrierende und zusammenschweißende Identitätssubstanz, auch nach der Erlangung der vollen Unabhängigkeit seit 1905. Die Radikaldemokraten und Sozialliberalen auf dem linken Flügel der Partei waren zugleich die kompromisslosesten, militantesten Verfechter der Loslösung von der schwedischen Krone, allerdings in der Form der Republik, was die Bevölkerungsmehrheit in einem Plebiszit ablehnte.13 Wenn sich das breite Venstre-Konglomerat spaltete, was auf der Parlamentsebene wiederholt vorkam, dann handelte es sich in der Regel um Abspaltungen nach rechts, in einem Fall sogar dauerhaft. Dass diese wenig erfolgreich waren, ist ein Beleg dafür, wie fest Venstre in der Sozialstruktur und in der politischen Kultur das Landes verankert war. Für Norwegen (wie für Dänemark) gilt, dass schon die Venstre-Partei als Ganze – neben der demokratischen Stimmrechtsforderung – die Notwendigkeit von sozialstaatlichen Regelungen erkannt hatte und in ihren Regierungsperioden seit den 1890er Jahren konkrete Schritte unternahm. Dabei machten die Begrenzung der Kinderarbeit und die Unfallversicherung für Fabrikbeschäftigte den Anfang.14 Gerade nach 1905/06 trug die Programmatik 13 Rund 70.000 Wähler stimmten für ein republikanisches Staatsoberhaupt, 260.000 mit der bürgerlichen Sammlungsregierung für die Installation eines Monarchen, wie es auch der Verfassung von 1814 entsprach. Neben den Sozialisten waren die entschiedenen Venstre-Liberalen für die republikanische Lösung eingetreten. 14 Vgl. zum norwegischen Liberalismus, insbesondere Sozialliberalismus, Leiv Mjeldheim, Folkerørsla som vart parti. Venstre frå 1880 åra til 1905, Bergen 1984; ders., Parti og rørsle. Ein studie av Venstre i landkrisane 1906–1918, Bergen 1978; Ottar

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der Venstre, die von einer stark agrarisch geprägten „antibürokratischen Spar-Partei“ zu einer „sozialen Reformpartei“ geworden war,15 einen radikalen Anstrich: Neben einer Sozialversicherung für das ganze Volk wurden eine direkte Steuer mit Progression (gegenüber den in Norwegen dominierenden indirekten Steuern) gefordert, die Erweiterung des Schulwesens und die Demokratisierung der Amtskirche. Es war indessen unverkennbar, dass größere Segmente der Partei, nicht nur die besitzbürgerlichen und großbäuerlichen, die sozialpolitischen Forderungen – wie auch in den 1890er Jahren schon die Wahlrechtsforderung – entweder offen ablehnten, hinhaltend zu verwässern suchten oder nur pro forma mittrugen. Doch vorrangig beherrschte nach 1905 die wirtschaftliche Konzessionsgesetzgebung die öffentliche Diskussion. Venstre setzte angesichts drohender Übermacht ausländischen Kapitals in der großen Industrie durch Aneignung der natürlichen Ressourcen, vor allem der Wasserkraft,16 eine recht strenge, wenn auch in der Folge sanft gehandhabte Gesetzgebung zur Einschränkung fremdstaatlicher und auch einheimischer Kapitalgesellschaften durch. Die Einbeziehung der Letzteren war einer der innerpolitischen Konfliktpunkte. Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb Venstre die sozialreformerische Programmatik fort, stellte jetzt aber die Abgrenzung gegen die inzwischen scharf linkssozialistische, erst sehr viel später zur Sozialdemokratie evolutionierte Arbeiterpartei heraus. Doch weiterhin wollte sich die Venstre-Partei nicht als Teil eines bürgerlichen Lagers verstehen, sondern als versöhnende Alternative zu den Klassenparteien links und rechts. Teilweise im Zusammenwirken mit der Arbeiterpartei stellte Venstre manche Weichen für den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, so bei der Einführung der Kartell-Gesetzgebung, des Kornmonopols und bei der Bodengesetzgebung. Bis die anfangs noch relativ gemäßigte, dem Ziel des Sozialismus verpflichtete Arbeiterpartei im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sukzessive hinsichtlich der Wählerstärke zur gleichrangigen Kraft wurde, pflegten die Grepstad/Jostein Nerbøvik (Hg.), Ventres hundre år, Oslo 1984; Jacob S. Worm-Müller u.a., Venstre i Norge, Oslo 1933; Ronald Bahlburg, Die norwegischen Parteien von ihren Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, Frankfurt a.M. 1989; Rolf Danielsen/Tim Greve, Det Norske Storting gjennom 150 år, Bde. 2 u. 3, Oslo 1964; Henry Valen/Daniel Katz, Political Parties in Norway. A Community Study, Oslo 1964. 15 So Bahlburg, Die norwegischen Parteien, S. 155. 16 1909 entfielen fast 40% aller Investitionen im Bergbau und in der Industrie auf ausländische Firmen, in der Chemieindustrie waren es 85%. Dabei bleibt außer Bedacht, dass manche Unternehmen mit Sitz außerhalb der norwegischen Grenzen sich einheimischer Strohmänner bedienten. – Prozentangaben nach Trond Nordby, Kampen om Venstre (1906–1908), in: Grepstad/Nerbøvik (Hg.), Venstres hundre år, S. 125–142, hier S. 136.

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meisten Handarbeiter und Handwerksgesellen für die Liberalen zu stimmen. So lag es nahe, auch diesem Teil der Wählerschaft etwas Konkretes anzubieten. Darüber hinaus organisierten sich Arbeiter, wie andernorts in Europa, seit den frühen 1880er Jahren vielfach im Umfeld der liberalen Partei; und das bedeutete, dass sie auch ihre eigenen Vorstellungen artikulierten. Nicht zuletzt unter ihrem Druck trat Venstre eindeutig für das allgemeine Wahlrecht ein. Bei der Stortingswahl 1906 stellten die liberalen Arbeitervereine in diversen Wahlkreisen eigene Kandidaten auf – zu diesem Zeitpunkt galt Mehrheitswahlrecht – und errangen vier Mandate. Ihre führenden Personen strebten nicht weniger an als die Sprengung der Venstre-Partei und die Vereinigung „der gesamten Demokratie“, sprich: des linken, in der Terminologie der Zeit: „sozialradikalen“ Flügels der Liberalen, der liberalen Arbeitervereine und der sozialistischen Arbeiterpartei; das war nicht zuletzt eine Reaktion auf die bürgerliche Sammlung seit 1903. Letztlich hatte die sozialradikale Gruppierung dieselbe Umpolung des Parteiensystems im Auge wie die großbürgerlichen Sammlungspolitiker um den damaligen, der Venstre entstammenden Ministerpräsidenten Christian Michelsen, einen Bergener Reeder: die Kräfte der abhängig Beschäftigten und der Kleineigentümer in Stadt und Land unter dem Banner der popularen und sozialen Demokratie versus die etablierten, an der Erhaltung der bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse interessierten Kräfte von Besitz und Amt. Als Michelsens bürgerlicher Sammlungsversuch scheiterte, vor allem am Kern der sich rasch rekonsolidierenden Venstre um den durch sozialpolitische Arbeit in einem überparteilichen Komitee geprägten, ursprünglich eher besitzbürgerlich orientierten Gunnar Knudsen, hatte sich zugleich der Umgruppierungsversuch von links erledigt. Da auch die Sozialisten abweisend reagierten, konstituierte sich der Zusammenschluss der liberalen, doch von sozialistisch orientierten Arbeitern teilweise mitbeeinflussten Arbeitervereine („Vereinigte Norwegische Arbeitergesellschaft“) 1906 unter dem Namen „Arbeiterdemokraten“ als eigene semiparteiliche Organisation. Diese hatte ein durchaus breit angelegtes Programm und befand sich 1915–1922 in parlamentarischer Fraktionsgemeinschaft mit Venstre, der sie ein schwieriger Partner blieb. Seit 1921 nannten sie sich Radikale Volkspartei. Die Gruppierung kam nie über 6 Mandate und 5% der Stimmen im Landesdurchschnitt hinaus und verlor nach kontinuierlichem Abstieg 1936 ihr letztes Mandat. Ihr regionaler Schwerpunkt lag in Ostnorwegen, wo sie vor allem die untere Schicht der Agrarbevölkerung repräsentierte.17 17 Zu den inneren Spannungen der Venstre-Partei und zu ihrer Rekonsolidierung – unter Abstoßung der gemäßigten, nach rechts offenen Strömung – vgl. die grundlegende Un-

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Die zentrale Führungsfigur der Arbeiterdemokraten war Johan Castberg, 1908–1910 und 1913/14 Justizminister bzw. Handels- und Wirtschaftsminister sowie Sozialminister Norwegens. Als Parlamentsabgeordneter galt er als der profilierteste Sozialpolitiker des Landes überhaupt außerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung und mit maßgeblichem Einfluss auf etliche Gesetze in diesem Bereich. Schon in jungen Jahren war Castberg auf die Schriften Ferdinand Lassalles gestoßen, die ihn nachhaltig beeindruckten, namentlich die von diesem propagierte Idee der staatlich geförderten Produktionsgenossenschaften im demokratischen Gemeinwesen als Kombination von Selbsthilfe und Staatshilfe. 1908/09 trieb Castberg als Minister die Konzessionsgesetzgebung voran. Charakteristisch für Castberg war seine Verbindung von nationaler und sozialer Frage: sozialer, auch materieller Ausgleich, durchzusetzen nötigenfalls im popularen Kampf gegen die Eliten, als Voraussetzung einer harmonischen Volksgemeinschaft bzw. nationaler und demokratischer Integration. 1915 äußerte er in der Begründung einer Gesetzesvorlage im Storting: „Diejenige betriebliche Unternehmung, die ihren Arbeitern keine menschenwürdigen Verhältnisse bieten kann, hat kein Recht zu existieren…“, und nur der Staat, so sagte er immer wieder, könne die sozial Schwachen schützen und voranbringen. Castbergs Kapitalismuskritik, die sich nicht gegen das private Eigentum an den Produktionsmitteln als solches richtete, hatte indessen auch eine industrialisierungsskeptische Seite, womit er die bäuerliche Basis der Venstre ansprach. Er maß der Bodenfrage eine zentrale Bedeutung bei und schlug die Verteilung von Staatsland an Landarbeiter und Häusler vor, um die Schicht kleiner Eigentümer zu erweitern und so den neuen Staat zu stabilisieren. Neben seiner auf nationale und soziale Gemeinschaftlichkeit zielenden Orientierung war der 1926 verstorbene Jurist Castberg übrigens ein unermüdlicher Wächter der Rechte des Individuums.18

tersuchung von Trond Nordby, Venstre og samlingspolitikken 1906–1908. En studie i partioppløsning og gjenreisning, Oslo 1983; zu den Arbeiterdemokraten bzw. zur Republikanischen Volkspartei vgl. zusätzlich Tertil Aasland, Fra arbeiderorganisasjon til mellomparti. Det Radikale Folkepartis (Arbeiderdemokratenes) forhold til Venstre og sosialistene, Oslo 1961. 18 Vgl., neben den in Fn. 17 genannten Titeln, den biographischen Artikel zu Castberg in: Norsk biografisk leksikon, Oslo 2000, S. 156–158, sowie Nils Rune Slagstad, De nasjonale strateger, Oslo 2001.

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4. Schweden: Liberaler Sozialreformismus vs. Reformsozialismus Während in Dänemark eine kleine sozialliberale Partei entstand, die überdies eine Schlüsselrolle im politischen bzw. Parteiensystem gewann, in Norwegen die im Kampf für nationale Selbstständigkeit und Parlamentarisierung geformte breite Venstre-Koalition letztlich erhalten blieb und sie dabei das sozialliberale Element teils dauerhaft integrierte, aber teils auch marginalisierte, beschränkte sich der soziale Liberalismus in Schweden lange eher auf einzelne, allerdings teilweise herausragende Personen. Anstelle einer organisierten oder auch nur deutlich identifizierbaren Strömung existierte ein bürgerlich-radikales, intellektuelles Milieu, das zwischen Linksliberalismus und Reformsozialismus oszillierte. Hjalmar Branting, langjähriger Vorsitzender der Sozialdemokratie und 1920 erster Ministerpräsident seiner Partei, kam mit seinem akademischen Hintergrund ursprünglich aus der liberalen Bewegung. Auch ferner traten Liberale des äußersten linken Flügels, häufiger als in den nordischen Nachbarländern, zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei über, so 1909/10 Carl Lindhagen und Erik Palmstierna.19 Eine der Wurzeln des Sozialliberalismus in Schweden – wie des schwedischen Wohlfahrtsstaats überhaupt – war der 1903 als Netzwerk liberaler Freiwilligenorganisationen und Aktivisten gegründete Zentralverband für Soziale Arbeit mit der „Social Tidsskrift“ (Soziale Zeitschrift). Offiziell unpolitisch und in der Tradition der Philantropie stehend, bildete der Zentralverband mit seiner Ausbildungs- und Vermittlungs-, Untersuchungs- und Aufklärungstätigkeit eine Brücke zur staatlichen Sozialpolitik. In hohem Maß als moralisches Projekt zur charakterlichen Hebung der Individuen, der Adressaten wie der Träger von Sozialarbeit, verstanden, setzte sich bei den Protagonisten zunehmend eine gemeinschaftliche, das „Volk“ als Ganzes einschließende, auf Expansion des staatlichen Engagements gerichtete Auffassung der Sozialpolitik durch.20 Schon seit den 1890er Jahren bekannten sich die schwedischen Liberalen, die seit der Jahrhundertwende im Parlament als Liberale Sammlungspartei, 19 Vgl. Clas-Erik Odhner, Arbetare och bönder formar den svenska modellen. Socialdemokratin och jordbrukspolitiken, in: Klaus Misgeld u.a. (Hg.), Socialdemokratins samhälle. SAP och Sverige under 100 år, Kristianstad 1989, S. 83–115, hier insbes. S. 90–93. Die beiden Genannten wollten eine Brücke der Arbeiterbewegung zum liberalen Patriotismus sowie zu den nationalromantischen Strömungen bzw. deren radikalem Flügel bauen, was namentlich für die Agrarpolitik und die Verteidigungspolitik relevant war. 20 Vgl. Marika Hedin, Ett liberalt dilemma. Ernst Beckmann, Emilia Brommé, G.H. Koch och den sociala frågon 1880–1930, Stockholm 2002.

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in den Wahlkreisen als Freisinnige Landesvereinigung auftraten, auch zu einer Arbeiterschutzgesetzgebung. Doch blieben bis 1917 bzw. 1920 die Parlamentarisierung der Regierung und die Demokratisierung des Wahlrechts die vorrangigen Themen. Die Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten von 1917 bis 1920 zerbrach an der Weigerung der Liberalen, den Weg entschiedener sozialer Reformen einzuschlagen, die die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als solche tangiert hätten. Speziell ging es um betriebliche Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie samt Teilsozialisierungen, und in den 20er Jahren dominierte auch in Schweden mit seiner konsequent reformstrategisch ausgerichteten Sozialdemokratie die Klassenkonfrontation. Dabei haben sich die Liberalen, ebenfalls Norwegen entsprechend, zugleich geweigert, eine antisozialistische bürgerliche Blockbildung zu ermöglichen. Trotzdem verloren sozialliberale Impulse in der Periode der organisatorischen Spaltung 1923–1934, bezeichnenderweise über die Frage des Alkoholverbots und in zweiter Linie über die Verteidigungspolitik, eher an Bedeutung, als dass sich eines der beiden Spaltprodukte in Richtung eines spezifisch sozialen Liberalismus entwickelt hätte. Das galt so für die Freisinnigen, die sich vornehmlich aus bäuerlichen und mittelständischen Gruppen mit laienkirchlichem Hintergrund rekrutierten, und die von städtischen Akademikerkreisen gegründete, deutlich schwächere Liberale Partei, die besonders nachdrücklich auf Freihandel, Eigentumsrechte und freies Unternehmertum abhob.21 Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als sich auch in Dänemark und Norwegen und ebenso andernorts in Europa verstärkt links- und sozialliberale Bestrebungen geltend machten, waren entsprechende Ansätze auch in Schweden auszumachen. Karl Staaff, der erste Vorsitzende der Liberalen und zeitweilige Ministerpräsident, in jungen Jahren Mitgründer einer radikalliberalen Studentenvereinigung, gehörte selbst zu denen, die neben der Einführung von Invaliditäts- und Altersversicherungen sowie progressiven Steuern auch staatliche Subventionen für die Landwirte, die Verhinderung übermäßiger wirtschaftlicher Konzentration sowie weitere staatliche Eingriffe befürworteten. Diese staatsinterventionistische Linie fand 1907 eine stärkere Markierung in der Revision des Parteiprogramms, als eine Reihe konkreter Punkte, so eine weitgehende Erbschafts- und Vermögenssteuer, hinzugefügt 21 Zur Geschichte des schwedischen Liberalismus und Sozialliberalismus vgl. Johan Norberg, Den svenska liberalismens historia, Stockholm 1999; Liberala perspektiv. Vision och verkelighet i historia och politik, Höganäs 1990; Jörgen Weibull (Hg.), Liberal ideologi och politik, Falköping 1984; Håkan Holmberg (Hg.), Liberalismen i Sverige. 1902–1982, Falköping 1983; Gösta Johanson, Liberal splittring, skilsmässa och återförening 1917–1934, Stockholm 1980; vgl. auch Koblik (Hg.), Development.

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wurden. Es sei die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass Privatinteressen nicht das Wohl des Volksganzen schädigten. Staaff, der einige der angestrebten Sozialreformen in seiner Regierungszeit (1905–09, 1911–14) verwirklichen konnte, erläuterte das sozialliberal getönte Parteiprogramm von 1907 in einer Broschüre. Staaff wollte namentlich die Arbeiter in die nationale Gemeinschaft integrieren. Sein Grundgedanke kam in dem von ihm verwendeten Begriff des „sozialen Reformismus“ zum Ausdruck. Dieser sollte zu mehr „sozialer Gemeinsamkeit“ und „Zusammenwirken“ führen, damit die Nation als Ganze am Fortschritt teilnehmen könne. Die dafür erforderlichen öffentlichen Mittel müssten durch gemeinsame Anstrengung aufgebracht werden.22 Die Tatsache, dass der sozialreformerische Impetus nach 1917 unter der Ministerpräsidentschaft von Nils Edén, der ersten eindeutig parlamentarischen Regierung als liberal-sozialdemokratische Koalition, bald erlahmte und das liberale Parteiprogramm von 191923 die Hauptkritik jetzt gegen die Sozialdemokratie mit ihren Sozialisierungsforderungen richtete, deutet auf die Fragilität des „Sozialreformismus“ der schwedischen Liberalen hin. Als der Schriftsteller Ernst Herman Thörnberg 1917 mit Hinweis auf John Stuart Mill – den vermeintlich ersten Vertreter eines solchen Denkens – den Terminus „Sozialliberalismus“ in Schweden einführte,24 war der Wind innerhalb der Liberalen Sammlungspartei bereits dabei, sich zu drehen. Es gab in den früheren Äußerungen der Partei – fast könnte man sagen: selbstverständlich – Passagen, die vor zu weit gehendem Staatsengagement, zu weit gehender sozialer Hilfeleistung warnten und auf die man sich jetzt beziehen konnte, um die stets beanspruchte Mittelposition zwischen sozialistischen und marktradikalen Ideen anders zu akzentuieren als bis dahin. Auch nach dem Ersten Weltkrieg waren in der liberalen Partei gewichtige Stimmen zu vernehmen, die das Konzept des – in Karl Staaffs Formulierung – „sozialen Reformismus“ weiterentwickeln wollten. So schlug der Stockholmer Ortsverein 1919 vor, die Demokratisierung der Wirtschaft ins Programm aufzunehmen, und der Innenminister Axel Schotte gewann 22 Karl Staaff, Några huvudpunkter i Frisinnade landsföreningens program, in: Frisinnade landsföreningens meddelanden Nr. 57 (1908), S. 24 ff. – Zu Staaff vgl. Leif Kihlberg, Karl Staaff, Bd. 1: Verdanist, advokat, politiker 1860–1905, Stockholm 1962; Olof Wennås, Ohlin, Folkpartiet och socialliberalism. Ett bidrag till den idéhistoriske litteraturen, Lund 1970, insbes. S. 16 ff; Gösta Johanson, Maktkampen 1902–1915: Karl Staaff som politisk ledare, Stockholm 1997. 23 De frisinnades idéprogram. Antaget af Frisinnade landsmötet den 26. jan. 1919 (= Frisinnade landsforeningens småskrifter 1919, Nr. 3). 24 Ernst Herman Thörnberg, Samhällsklasser och politiske partier i Sverige: studier och iakttagelser, Stockholm 1917.

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die Programmkommission der Liberalen für den Gedanken der ArbeiterGewinnbeteiligung.25 Doch sorgte die Parteiführung für eine Zurückweisung oder Verwässerung solcher Anregungen, und spätestens 1920 hatte ein entschiedener, der Arbeiterbewegung entgegenkommender Sozialliberalismus in dem angedeuteten Sinn keine Chance mehr. Im folgenden Dezennium fanden die altliberalen Glaubenssätze der Nicht-Intervention des Staates – konkretisiert an der Arbeitslosenunterstützung und der Höhe der Steuern, der öffentlichen Sparsamkeit, und des Widerstands gegen Bürokratisierung, zunächst vor allem im Bestreben, die Rationierung und Kontrollen der Kriegszeit zu überwinden –, wieder die Beachtung, die ihnen nach Meinung führender Nationalökonomen wie Eli F. Heckscher und Gustav Cassel zukam, welche regelmäßig in führenden Zeitungen publizierten.26 Diese Feststellung kann die wesentliche Tatsache nicht verdecken, dass die schwedischen Liberalen, die (wie auch die norwegischen) in der ersten Phase der Weltwirtschaftskrise an der Regierung waren, durchaus Krisen bekämpfende Maßnahmen wie öffentliche Arbeitsbeschaffung und verbesserte Unterstützungszahlungen in Gang setzten. Außerdem kam der gesetzliche Prozess, mit dem seit den 1890er Jahren schrittweise soziale Absicherungen installiert wurden, niemals zum Erliegen, wenngleich er sich in den 1920er Jahren verlangsamt hatte. Die sozialdemokratische Regierung, zunächst noch als Minderheitskabinett, die nach dem großen Wahlsieg Ende 1932 in Schweden gebildet wurde (und ähnlich die norwegische 1935) konnte in vieler Hinsicht an Maßnahmen oder Planungen der liberalen Vorgänger anknüpfen. Neu war die Systematik des Anti-Krisen-Programms, namentlich die Verbindung von planwirtschaftlichen bzw. protektionistischen Stützungsmaßnahmen für die in großer Zahl überschuldeten Bauern, mit deren in den 20er Jahren aufgekommenen Parteien man überdies ein ganz neuartiges parlamentarischpolitisches Bündnis einging. Ebenso wurde die Wahrnehmung der materiellen Interessen der Arbeiter und Arbeitslosen mit der Installation von staatlich-sozialpartnerschaftlichen Mischstrukturen und volkswirtschaftlicher Rahmenplanung verknüpft.27 In Schweden nahmen die liberalen Parteien wie in Norwegen zu diesem – auch die politische Verfassung stabilisierenden – Projekt eine ambivalente 25 Vgl. Wennås, Ohlin, S. 24. 26 Vgl. Benny Carlson, Staten som monster: Gustav Cassels och Eli F. Heckschers syn på statens roll och tillväxt, Lund 1988. 27 Vgl. ausführlicher Brandt, Vom Durchbruch, S. 197 ff., auch für das Folgende. – Die grundlegende schwedischsprachige Untersuchung stammt von Leif Lewin, Planhushållningsdebatten, Stockholm 1967.

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Haltung ein. Einerseits gingen ihnen Planungselemente, Protektionismus und Korporatismus zu weit. Andererseits liebäugelten sie mit der Möglichkeit, die ursprünglich eher rechtsgerichteten Bauernparteien als Partner der Sozialdemokraten abzulösen. Die Norwegische Arbeiterpartei bediente sich sogar noch in den ersten Jahren ihrer Regierung einer teilweise recht radikalen Sprache und bemühte sich, den neuen Produktionsdiskurs mit dem früheren Sozialisierungsdiskurs, die neue popular-demokratische Anrufung des Volkes mit der alten Klassenterminologie in Einklang zu bringen, und zwar in Absetzung vom liberalen Bürgertum. Hingegen hatten führende schwedische Sozialdemokraten weniger Hemmungen, die gemeinsame Wurzel von Liberalismus und demokratischem Sozialismus und auch aktuelle Berührungspunkte zu benennen. Ernst Wigforss, ab 1932 als Finanzminister einer der wichtigsten Weichensteller und ein konzeptioneller Kopf ersten Ranges, bezog sich außer auf die Theorie von Marx und den Gilden-Sozialismus auch auf Diskussionen im Umfeld der britischen Liberalen. Sicherlich auch taktisch motiviert, hielt Wigforss den schwedischen Liberalen wiederholt vor, wären sie wie ihre britische Bruderpartei, hätte man den Mitte-Links-Block über das Jahr 1920 hinaus längerfristig aufrecht erhalten können. Dessen handgreifliches Ergebnis war immerhin die Parlamentarisierung und Demokratisierung des politischen Systems gewesen. Tatsächlich kam es 1929/30 zu ernsthaften, doch letztlich ergebnislosen Gesprächen zwischen Per Albin Hansson, dem Nach-Nachfolger Brantings als Parteivorsitzender der Sozialdemokraten und späteren Ministerpräsidenten (1932–1946), sowie dem damaligen freisinnigen Regierungschef Carl Gustav Ekman über die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit.28 Einzelne Protagonisten liberalen Bekenntnisses mit und ohne liberale Parteizugehörigkeit verteidigten denn auch den politischen Ansatz des sozialdemokratisch geführten Arbeiter-Bauern-Bündnisses von 1932/33. Einer der Bekanntesten von ihnen war der junge Wirtschaftswissenschaftler Bertil Ohlin, der parallel zu Keynes quasi keynesianische Konzepte in der Wirtschafts- und Finanzpolitik propagierte. Er widmete sich auch gezielt dem Verhältnis der parteipolitischen Formation des Liberalismus zum demokratischen Sozialismus.29 Den tieferen Grund für eine Neuorientierung – Ohlin 28 Vgl. Wennås, Ohlin, S. 32. (Ekman musste 1932 als Regierungschef zurücktreten, nachdem im Gefolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Kreuger-Imperiums samt Selbstmord Ivar Kreugers eine verschwiegene Geldzahlung des Zündholzkönigs bekannt geworden war.) 29 Vgl. zu Ohlin – neben Wennås, Ohlin, sowie dem einschlägigen Artikel im Svensk biografisk lexikon, Bd. 28, Stockholm 1993, S. 95–108 – History of Political Economy 10/3 (1978): A Bertil Ohlin Symposion; Ronald Findlay u. a. (Hg.), Bertil Ohlin. A

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sprach vom „Neoliberalismus“ in der Bedeutung von „Sozialliberalismus“ – sah er Ende 1927 in der objektiv auf Organisation und Regulierung gerichteten Tendenz der staatlichen wie auch der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklung selbst, die die politischen Akteure vor die Wahl stelle: „Will man diese Entwicklung befördern und lenken oder will man versuchen, dagegen Widerstand zu leisten?“30 Absolute Freiheit hielt er nicht nur für unintelligent, sondern für „asozial“. 1928 vertrat Ohlin in einem anderen Zeitungsartikel die Auffassung, „radikaler Liberalismus“, wie er ihn verstand, und „moderner Sozialismus“ hätten viel gemeinsam: eine allgemein-demokratische Grundanschauung, sozialen Verbesserungseifer und ein lebendiges Interesse für das Gemeinwohl. Den Unterschied sah Ohlin in einem anderen Herangehen an die Probleme der Gesellschaft: vorurteilsfrei und empirisch seitens des radikalen Liberalismus, immer noch dogmatisch – Sozialisierung und Planwirtschaft als Patentlösung – auf Seiten des Sozialismus, auch des reformerischen.31 Ohlins Maßstab war die Effektivität, ein Kriterium, das in der ersten Hälfte der 30er Jahre dann auch die Vordenker der Sozialdemokratie für sich akzeptierten, ohne die längerfristig auf Überwindung des Kapitalismus gerichtete Perspektive aufzugeben. Obwohl etwa ein Drittel der liberalen Parlamentsfraktion Schwedens im Frühjahr 1933 die Initiativen der neuen sozialdemokratischen Regierung begrüßte – ihr Sprecher war Ola Jeppsson, der seine Position als „regulierenden Liberalismus“ bezeichnete32 –, setzten sich bei der Wiedervereinigung der beiden Parteien des Liberalismus unter dem Namen „Volkspartei“ im folgenden Jahr Standpunkte durch, die vor allem dessen Eigenständigkeit betonten. Bertil Ohlin, der erst jetzt als Parteipolitiker aktiv wurde – seit 1934 als Vorsitzender des Jugendverbandes der vereinigten Liberalen, seit 1938 als Parlamentsabgeordneter –, hielt an seinen radikal- bzw. sozialliberalen Ideen fest, grenzte sie aber zunehmend schärfer vom vermeintlichen Staatssozialismus und Kollektivismus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ab. Ab 1944 führte Ohlin 23 Jahre lang die liberale Volkspartei, der er seinen soziallibeCentennial Celebration (1899–1999), Cambridge/Mass. 2002, darin insb. S. 71–113: Svante Nycander, Bertil Ohlin as a Liberal Politician; Sven-Erik Larsson, Bertil Ohlin. Ekonom och politiker, Stockholm 1998. – Die theoretischen Differenzen Ohlins mit Keynes müssen hier außer Betracht bleiben. 30 Bertil Ohlin, Liberalismen vid skiljevägen, in: Stockholms-Tidningen v. 28. u. v. 29.12.1927. – Vgl. auch ders., Fri eller dirigerad ekonomi, Stockholm 1936. 31 Bertil Ohlin, Socialismens dilemma, in: Stockholms-Tidningen v. 19.06.1928. 32 Zit. nach Wennås, Ohlin, S. 49 f.

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ralen Kurs fest aufprägte. Das war indessen ein Sozialliberalismus nicht im Bündnis mit der Sozialdemokratie, sondern in Konkurrenz und als Alternative zu ihr.

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Sozialer Liberalismus als Instrument der Macht Die ‚Ära Giolitti‘ und das Problem einer nationalen Identität für Italien

Am 18. März 2011 feierte Italien das 150-jährige Jubiläum seiner staatlichen Einigung. Anstatt jedoch nationales Zusammengehörigkeitsgefühl zu demonstrieren offenbarte das Ereignis vielmehr die tiefe Spaltung innerhalb der italienischen Gesellschaft und ihrer politischen Vertreter.1 Die schon im Einigungsakt von 1861 verwurzelten Widersprüche hat das Land im Laufe seiner Geschichte nie überwinden können. Die Suche nach einer nationalen Identität führte bis in die Gegenwart zu immer neuen Artikulationsformen von im Grunde unverändert gebliebenen Konfliktstrukturen. „Italien ist geschaffen, nun müssen die Italiener geschaffen werden“2, hatte der Piemontesische Politiker Massimo D’Azeglio kurz nach der staatlichen Einigung 1861 verkündet3 und damit das Hauptproblem des neuen Staates benannt, nämlich die vielschichtigen und eng miteinander verwobenen sozialen, konfessionellen, territorialen und politischen Antagonismen, die die Bevölkerung in unzählige einander fremd und oft unversöhnlich gegenüberstehende Partialgesellschaften spalteten. So bestand etwa der Konflikt liberaler Staat gegen katholische Kirche, dann Monarchie gegen Republik, Stadt gegen Land, arm gegen reich, Bürgertum gegen Arbeiterschaft und vor allem der Kontrast Nord gegen Süd, an dem die Schaffung des Einheitsstaats schon 1860/61 beinahe gescheitert wäre.4 Zwar identifiziert sich heute eine große Mehrheit der Bevölkerung sehr wohl mit Italien, doch die Definitionen dieser Identität divergieren erheblich und tendieren zur gegenseitigen Ausgrenzung jeweils anderer 1 Siehe u.a.: Marc Lazar, E all’inno di Mameli il figlio di Bossi va al bar, in: La Repubblica, 16 marzo 2011; Nicola Tranfaglia, Il compleanno difficile, in: Il Fatto Quotidiano, 16 marzo 2011. 2 Zur allgemeinen Verständlichkeit sind Zitate vom Verfasser ins Deutsche übersetzt worden. Nur in den Anmerkungen ist der italienische Originaltext beibehalten. 3 Zitiert in: Indro Montanelli, Storia d’Italia, 1861–1919. L’Italia dei Notabili, Milano 20062, S. 30. 4 Zum Risorgimento u.a.: Lucy Riall, The Italian Risorgimento. State, Society and National Unification, London 1994.

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Partialgesellschaften. Die Geschichte Italiens ist von dem immerwährenden Versuch bestimmt, diese Gegensätze zu überwinden und die verschiedenen Elemente der Bevölkerung, den paese reale, mit ihrem Staat, dem paese legale, in Einklang zu bringen. Drei Gesellschaftssysteme scheiterten jedoch bislang daran: die Liberale Monarchie, die Faschistische Diktatur und die sogenannte ‚Erste‘ Republik. Und auch ein Erfolg der gegenwärtigen politischen Klasse des Landes scheint wenig wahrscheinlich, wie das Jubiläum selbst gezeigt hat. Die nach unserer Auffassung entscheidende Phase für das Schicksal der nationalen Identitätsbildung Italiens aber ist die ‚Ära Giolitti‘, in der das Land am Scheideweg zwischen evolutiver Demokratisierung und Modernisierung einerseits und einem unkontrollierten Aufeinanderprallen aller inneren Gegensätze andererseits stand. Zwei Parameter charakterisieren die ‚Ära Giolitti’ in besonderer Weise: die bedingungslose Verteidigung und Anwendung der liberalen Verfassungsordnung des Statuto Albertino und eine Politik der Integration von Anti-System-Kräften und den ‚Massen‘ der Bevölkerung durch soziale und demokratische Reformen. Ein ‚sozialer Liberalismus’ also, durch den Italien seine nationale Identität finden sollte? Beim Studium der umfangreichen Literatur zur ‚Ära Giolitti‘ und ihres Protagonisten Giovanni Giolitti5 fällt auf, dass die Frage nach der Charakterisierung seiner Politik als ‚sozialer Liberalismus‘ zumeist gegenüber machtpolitischen, strategischen und kulturellen Erwägungen in den Hintergrund tritt. Diese scheinen gar letztlich dafür ausschlaggebend zu sein, ob und wenn ja, in welcher Art und welchem Umfang Giolitti soziale und demokratische Reformen einsetzte. So ist letztlich zu klären, ob eine soziale Reformpolitik für den Fortschritt und die Modernisierung des Landes einer ursprünglichen humanitären Gewissenshaltung Giolittis entsprang und seine vorrangige Mission war oder eher ein Instrument zum Erhalt seiner parlamentarischen Machtposition als Garant der liberalen Institutionen um jeden Preis und mit allen Mitteln. Hatte sich Giolitti dem sozialen Liberalismus verschrieben oder war er in erster Linie Machiavellist? War eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung und Demokratisierung mit dem liberalen Regierungssystem der Monarchie überhaupt vereinbar? Der während der ‚Ära Giolitti‘ einsetzende Niedergang des liberalen Staates und dessen Auflösung im Faschismus scheint diese Frage zu negieren. Die Suche nach nationaler Identität jedenfalls entglitt Giolitti zusehends und ging in andere 5 Zu Giolitti u.a.: Aldo A. Mola, Giolitti. Lo statista della Nuova Italia, Milano 2006; Alexander De Grand, The Hunchback’s Taylor. Giovanni Giolitti and Liberal Italy from the Challenge of Mass Politics to the Rise of Fascism, 1882–1922, Westport 2001.

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Hände über. War letztlich gar ein ‚sozialer Liberalismus‘ für das Scheitern der liberalen Institutionen und den Faschismus verantwortlich? Die Widersprüche im Persönlichkeitsprofil Giolittis und divergierende Interpretationen seines politischen Handelns machen es nicht leicht, zwischen Funktionalität und Kohärenz seines sozialen Anliegens zu unterscheiden. Lange beeinflusste Gaetano Salveminis Charakterisierung Giolittis als ministro della malavita („Minister des Verbrechens“) das historische Bild des Staatsmannes.6 Korruption, Klientelismus und Manipulation zum puren Machterhalt überschatteten in der öffentlichen Wahrnehmung des ‚Systems Giolitti‘ oft die soziale Dimension seiner Maßnahmen. Giolittis Pazifismus im Ersten Weltkrieg und seine zwiespältige Haltung zum aufstrebenden Faschismus trugen zusätzlich zu seiner Diskreditierung bei7 – und mit ihm zur Diskreditierung der Idee eines ‚sozialen Liberalismus‘, der in Italien seither keine politische Identität und eigenständige Relevanz mehr gefunden hat. Im Folgenden werden einige Schlüsselmomente der ‚Ära Giolitti‘ analysiert, die nach unserer Ansicht Aufschluss in Bezug auf die zuvor gestellten Fragen geben können. Dabei erhebt der vorliegende Artikel jedoch weder Anspruch auf Vollständigkeit der erörterten Aspekte noch auf durch Quellenforschung fundierte Antworten, sondern versucht, einige interpretatorische Ansatzpunkte für eine eingehendere Forschung aufzuzeigen.

1. Ein Defizit an patriotischer Gesinnung? Die erste Regierung Giolitti 1892/93 Am 10. Mai 1892 beauftragte Italiens König Umberto I. den Piemontesischen Abgeordneten Giovanni Giolitti erstmals mit der Regierungsbildung. Der Schritt war nicht ohne eine gewisse historische Tragweite: Giolitti war der erste Ministerpräsident Italiens, der keine aktive Rolle im Risorgimento und den Einigungskriegen von 1859 bis 1870 gespielt hatte. Allein dieser Umstand rief unter den zumeist älteren Parlamentariern einiges Misstrauen hervor. Konnte ein so junger Regierungschef mit einer Karriere als Ministerialbeamter und nicht einmal zehn Jahren Parlamentserfahrung die Werte des

6 Gaetano Salvemini, Il ministro della mala vita: notizie e documenti sulle elezioni giolittiane nell’Italia meridionale, Firenze 1910. 7 Einer der herausragenden Kritiker Giolittis: Giorgio Candeloro, La crisi di fine secolo e l’étà giolittiana. Storia dell’Italia Moderna. Vol. 7, Milano 1995.

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Risorgimento in Zeiten akuter Wirtschaftskrise und sozialer Unruhen mit der nötigen patriotischen Hingabe verteidigen?8 Selbst Altersgenossen und politisch Nahestehende, wie Felice Cavallotti, distanzierten sich von Giolitti und sympathisierten eher mit seinen Vorgängern.9 Schließlich erschien Giolitti vielen als ‚Agent‘ der Monarchie, die sich verglichen mit ihrer üblichen Zurückhaltung bei Regierungskrisen diesmal außergewöhnlich nachdrücklich für den Piemonteser eingesetzt und politische Position bezogen hatte. Folgerichtig hatte die neue Regierung Probleme, das Vertrauen des Parlaments zu gewinnen – was Giolitti zu dessen Auflösung und der Ansetzung von Neuwahlen veranlasste, um seine Regierungsmehrheit zu erweitern und homogener zu gestalten.10 Auch dies jedoch war keinesfalls ohne historische Bedeutung: es stellte erstmals nach fast 15 Jahren des trasformismo – nicht ganz unbeabsichtigt – wieder eine bipolare Dialektik zwischen parlamentarischen ‚Parteien‘ her. Diese resultierten allerdings weit mehr aus der Ablehnung bestimmter politischer Führungsfiguren als auf ideologischen Unterscheidungen. Giolittis sinistra costituzionale entstand vor allem aus der Ablehnung seines Vorgängers Francesco Crispi11, und ebenso war die oppositionelle destra costituzionale eine äußerst heterogene Sammlung von politischen und persönlichen Gegnern Giolittis quer durch alle ideologisch definierten Parlamentsgruppen.12 Der trasformismo, die bewusste Entideologisierung des Parlaments, war seit den 1870er Jahren unter Agostino Depretis im Glauben an den natürlichen Fortschritt des Liberalismus eingeführt worden. Die sozial homogene bürger8 Mola, Giolitti, S. 78–82; Giolitti hatte in den Jahren, in denen Altersgenossen wie etwa Cavallotti an den Einigungskriegen teilnahmen, sein Jura-Studium beendet und eine Laufbahn als Staatsbeamter eingeschlagen. 9 Cavallotti wünschte sich „in questo Ministero ... un pò più di quel passato“; als dessen Ikone sah er Crispi, „un uomo, che ho combattuto, e combatterei nuovamente, se domani tornasse al potere. Eppure egli fu esempio del modo come nei paesi liberi si conquidono le posizioni parlamentari.“ (zitiert in: Fulvio Cammarano, Storia politica dell’Italia liberale: l’età del liberalismo classico, 1861–1901, Roma 2005, S. 278 f.); zu Cavallotti u.a.: Luigi Polo Friz (a cura di), Felice Cavallotti: atti del Convegno, 7 marzo 1998, Arona, Novara 2000; Alessandro Galante Garrone, Felice Cavallotti, o.O. 1979. 10 Mola, Giolitti, S. 164–170; die Angaben zum Wahlergebnis vom November 1892 geben nur wenig Aufschluss über den Umfang der Gewinne der Regierungsmehrheit um Giolitti (vgl. Dieter Nohlen/Philipp Stöver, Elections in Europe, Baden-Baden 2010, S. 1047 ff.). 11 Zu Crispi u.a.: Gaetano Allotta, Francesco Crispi. Un protagonista dell’Unità d’Italia, Agrigento 2011; Christopher Duggan, Francesco Crispi, 1818–1901: from nation to nationalism, Oxford 2002. 12 Cammarano, Storia, S. 276–282.

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lich-liberale Gesellschaft, die sich im Parlament widerspiegelte, sollte nach Überwindung der Differenzen der staatlichen Einigungsphase nun geeint hinter Verfassung und Monarchie stehen.13 Tatsächlich aber institutionalisierte der trasformismo den Kompromiss und lähmte das Parlament, was zunehmend zu Immobilismus und einer konservativ-defensiven Involution führte. Zweifellos trug dies zu einer Verlagerung der politischen Dialektik aus dem Parlament hinaus direkt in die Bevölkerung bei: das Parlament an sich, Repräsentant des Staates und des Bürgertums wurde dabei zur einen Konfliktpartei, die nichtbürgerlichen und antistaatlichen Teile der Gesellschaft zur anderen.14 Es war daher umso bemerkenswerter, dass der Ministerpräsident im Juli 1892 erstmals diese Konfliktlinie übertrat, indem er – auch dies ein Novum – vor dem Arbeiterverein in Turin eine programmatische Rede hielt. „Die Wirtschaftspolitik wird vor allem der Arbeiterklasse dienen“, erklärte Giolitti dort, „denn nur wenn wir das Kapital haben um Arbeit zu geben, wird der Arbeiter die gerechte Entlohnung bekommen ... Nur durch einen sicheren Vertrag zwischen Beschäftigten und Kapitalisten, zwischen Regierung und Arbeitern, wird man die Hoffnung auf eine blühende Zukunft haben. Der Arbeiter, der Souverän, die Regierung, das Land haben nur ein Ziel: die Bedingungen der arbeitenden Klasse zu verbessern.“15 Das klang nahezu revolutionär für die herrschende politische Elite, aber kaum überzeugend für eine skeptische Arbeiterschaft.16 In seinem offiziellen Regierungsprogramm hatte Giolitti diese Ideen weit nüchterner hinter der Formel eines ‚wirtschaftlichen Risorgimento‘ vorgetragen und vor allem mit fiskalpolitischen Erwägungen begründet: das Steuerniveau sei bereits derart hoch, dass ein ausgeglichener Haushalt nur durch Kürzungen der öffentlichen Ausgaben erlangt werden könne, nicht durch neue Steuern oder höhere Abgaben zulasten der Arbeiterschaft.17 Dies aber zielte auf die Außen- und Militärpolitik seiner Vorgänger Depretis und Crispi, die für die kolonialen Unternehmungen in Afrika und die Verpflichtungen des Dreibundes mit dem Deutschen Reich und Österreich13 Ebd., S. 167–172; Giolitti sah den trasformismo anfangs keineswegs negativ: „Non rifiutò l’appello all’unione tra quanti intendessero concorrere a ,trasformare‘ l’Italia: invito nobile degradato nel termine che ne derivò“ (Mola, Giolitti, S. 134). 14 Carlo Ghisalberti, Storia costituzionale d’Italia 1848–1994, Roma 2002, S. 155–200; des weiteren zum trasformismo: Giampiero Carrocci, Il trasformismo dall’unità ad oggi, Milano 1992. 15 Zitiert in: Mola, Giolitti, S. 165. 16 Zur liberalen Sozialgesetzgebung in Italien bis 1898 siehe u.a.: Volker Sellin, Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stuttgart 1971. 17 Cammarano, Storia, S. 277.

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Ungarn, sowie den daraus folgenden Spannungen mit Frankreich, ein fast unkontrollierbares Haushaltsdefizit in Kauf genommen hatten.18 Giolitti hingegen zeigte in beiden Fragen verdächtige Passivität; weder die Aufkündigung des dubiosen Kolonialvertrags von Uccialli19 durch den Äthiopischen Negus Menelik, noch das Massaker an Italienischen Gastarbeitern im französischen Aigues-Mortes20 sah er als Grund für militärische Reaktionen. Hatte der neue Ministerpräsident tatsächlich ein Defizit an patriotischer Gesinnung, wenn er die imperialen Großmachtambitionen Italiens, die Vollendung des risorgimentalen Kampfes also, in Frage stellte? Das Ziel der öffentlichen Einsparungen betraf zudem den Bereich der inneren Sicherheit. Unter Crispi waren gewaltsame Repressionen von Arbeiterunruhen zu einer Art nationaler Pflicht zur Verteidigung der liberalen Monarchie gegen ‚anarchistische‘ und klerikale Staatsfeinde geworden; die Zunahme der Proteste aber hatte auch hier steigende Ausgaben für die Sicherheitsorgane zur Folge gehabt. Giolitti war sehr wohl um Gesetz und Ordnung bemüht, jedoch unterteilte er Arbeiterproteste in zwei Kategorien: Protestbewegungen mit klar politischem Charakter, die den liberalen Staat in Frage stellten, ließ er weiterhin – wenn nötig gewaltsam – niederschlagen; gewerkschaftliche Proteste zur Unterstützung ökonomischer Forderungen hingegen tolerierte er, solange diese nicht die öffentliche Ordnung gefährdeten. Entsprechend verstört reagierten viele Parlamentarier, als Giolitti sich Ende 1893 weigerte, das Militär gegen die massiven Landarbeiterproteste der Fasci siciliani einzusetzen, die von vielen als von der sozialistischen Bewegung gesteuerter, revolutionärer Umsturzversuch in Sizilien interpretiert wurden.21 In der öffentlichen Wahrnehmung fiel die ‚soziale Wende‘ von 1892/93 jedoch letztlich kaum ins Gewicht. Die Regierung Giolitti versank schon sehr bald im Strudel des Banca Romana Skandals – just in dem Moment, in dem der Regierungschef mit einem weiteren Tabu des post-risorgimentalen Systems zu brechen beabsichtigte: die Zusammenlegung der sechs Italienischen Notenbanken, deren unübersichtliche Emissions- und Kreditpolitik eine erhebliche Mitschuld an der Wirtschaftskrise jener Jahre trug. Zwar konnte Giolitti die Gründung der zentralen Banca d’Italia durchsetzen, doch galt er nach seinem Rücktritt in der Öffentlichkeit als Mitverantwortlicher des

18 Ebd., S. 140–225. 19 Angelo Del Boca, Gli italiani in Africa orientale. Vol. 1, Milano 1992, S. 343–357. 20 Hierzu: Enzo Barnabà, Morte agli Italiani! Il massacro di Aigues-Mortes 1893, o.O. 20082. 21 Zu den Fasci siciliani u.a.: Ivo Laghi, I Fasci siciliani, Roma 1995.

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Bankenskandals (er musste sich gar zeitweise nach Deutschland absetzen, um einer Verhaftung zu entgehen).22 Hinzu kam die Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen von 1892; ungewöhnlich viele Abgeordnete mussten ihr Mandat wegen Wahlbetrugs wieder abgeben, was die Instrumentalisierung der Wahlen seitens der Regierung zu belegen schien.23 Giolitti lebte so für mehrere Jahre mit dem Ruf eines korrupten und antipatriotischen Polit-Emporkömmlings. Erst acht Jahre später, nach der kolonialen Katastrophe von Adua 1896, der blutigen Niederschlagung des Mailänder Brotaufstandes 1898 und dem gescheiterten Versuch, das parlamentarische System Italiens durch eine autoritäre Monarchie nach deutschem Vorbild zu ersetzen, sollte er Gelegenheit bekommen, noch einmal die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen.

2. Ambitionen und soziale Inhalte der ‚liberaldemokratischen Wende’ Aldo Mola bezeichnet eine Audienz Giolittis beim neuen König Viktor Emanuel III. am 26. Dezember 1900 als eigentliche Geburtsstunde der ‚Ära Giolitti‘. Vermutlich wurde hier das gute Einvernehmen zwischen beiden begründet, das wesentlich zum Machterhalt Giolittis bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg beitragen sollte.24 Tatsächlich war er schon seit dem Sommer 1899 zusammen mit Giuseppe Zanardelli als eine Art Oppositionsführer gegen die zweite Regierung von Luigi Pelloux hervorgetreten – nachdem beide zuvor im Parlament sehr wohl noch die repressiven Gesetzesvorlagen des Generals zur Einschränkung der Freiheitsrechte mitgetragen hatten.25 Mit einer öffentlichen Rede im piemontesischen Ort Busca Ende 1899 aber wollte Giolitti nun seinen Bruch mit den konservativ-reaktionären Kräften deutlich machen und seine Ambitionen als potentieller Anwärter auf 22 Mola, Giolitti, S. 200–206; zur Gründung der Banca d’Italia u.a.: Guglielmo Negri, Giolitti e la nascita della Banca d’Italia, Roma 2003. 23 Cammarano, Storia, S. 280–284. 24 Mola, Giolitti, S. 252. 25 Cammarano, Soria, S. 486–499; diese Gesetze betrafen die öffentliche Sicherheit, die Einschränkung der Pressefreiheit, die Einberufung von Reservisten aus dem öffentlichen Dienst und die Behandlung von kriminellen Wiederholungstätern. Schon im Sommer 1899 hatte die sozialistische Zeitschrift Critica Sociale eine mögliche Regierung Giolittis mit Unterstützung des Radikalen Ettore Sacchi als „una specie di Ministero Bourgeois adattato all’Italia“ bezeichnet (Noi, La Sinistra alla prova, in: Critica Sociale, 1. Aug. 1899, 182, zitiert in: Ebd., S. 499).

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eine Regierungsübernahme nach einem Scheitern Pelloux’ untermauern. Der Versuch der Unterdrückung der Parteien der estrema26, konstatierte Giolitti in seiner Rede, sei gescheitert und diese in der Gesellschaft stärker denn je verankert; die soziale Veränderung des Landes sei eine Tatsache, von der jedoch die Monarchie und die liberalen Institutionen nichts zu befürchten hätten. Bei einer Fortführung der reaktionären Politik der Regierung Pelloux allerdings sah er ein Szenario revolutionärer und bürgerkriegsähnlicher Zustände auf Italien zukommen.27 Eine authentisch liberale Partei, so Giolitti, unterscheide sich von einer reaktionären, repressiven Partei darin, dass sie „den gerechten Wünschen der großen Mehrheit im Land Genugtuung“ verschaffe, soweit dies durch Gesetzgebung und Regierungshandeln möglich sei.28 Das Hauptproblem der sozialen Unruhen erkannte er in der großen Masse der Unzufriedenen, nicht im Sozialismus. „Der Teil der sozialistischen Theorien, der revolutionären Charakter besitzt, steht im Widerspruch zur Tradition, zum Gemüt, ja zur Natur selbst des italienischen Volkes“29, erklärte Giolitti, womit er indirekt andere, eher reformistische Aspekte des Sozialismus sehr wohl als nützliches Ideenwerk anerkannte. Seinem ‚liberalen Programm‘ zufolge musste die Stärke einer Regierung in der Fähigkeit liegen, dem Gesetz ohne Gewaltmaßnahmen und Suspendierung von Freiheitsrechten Geltung zu verschaffen. Reformen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der classi numerose – wie Giolitti die ‚Massen‘ der Industrieund Landarbeiter bezeichnete – durften jedoch keineswegs zulasten eines ausgeglichenen Staatshaushalts gehen. Ohne Mehrabgaben für die Bevölkerung würden etwa eine Reform des Justizwesens, eine Dezentralisierung und Entpolitisierung der staatlichen Verwaltung, oder Gesetze zur Bekämpfung der gemeinen Kriminalität verwirklicht werden können.30 Kernelement der Ideen Giolittis war eine grundlegende Reform des Steuersystems, in dem er zwei wesentliche Schwächen ausmachte: die zu hohe allgemeine Steuerbelastung und die ungerechte Verteilung der Abgaben. Seit seiner Karriere als Ministerialbeamter im Finanzministerium unter Quintino Sella und Marco Minghetti in den 1860er und 70er Jahren – als ‚Minister der

26 Unter dem Begriff der estrema wurden die außerliberalen, parlamentarischen Gruppen der Radikalen, Sozialisten und Republikaner zusammengefasst. 27 Discorso pronunziato da Giovanni Giolitti in Busca il 29 ottobre 1899 agli elettori del collegio di Dronero, Torino 1899, S. 7 f., 13. 28 Ebd., S. 15. 29 Ebd., S. 17. 30 Ebd., S. 20–23.

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Minister‘, wie Mola schreibt31 – war eine ausgewogene Finanzpolitik für ihn zur Grundvoraussetzung für die Integration von Staat und Bevölkerung geworden. So wurde etwa die erstmals gelungene Sanierung des Staatshaushalts 1876 von ihm als Meilenstein auf dem Weg zur ‚Harmonie des nationalen Körpers‘ wahrgenommen. Seit seinem Eintritt in die Politik 1882 hatte ihn dies von der risorgimentalen Linken unterschieden, die im nationalen Interesse die Ausgaben erhöht hatte, etwa für koloniale Unternehmungen und die öffentliche Sicherheit, ohne die dafür notwendigen Steuern gerecht zu verteilen.32 Giolitti hingegen sah das nationale Interesse von einer leistungsfähigen – weil wohlgenährten – Arbeiterklasse abhängen. Daher musste die Besteuerung von lebensnotwendigen Gütern drastisch herabgesetzt werden, so dass zum einen die Produktion gesteigert, zum anderen die Unzufriedenheit der Massen überwunden und folglich die Kosten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung reduziert werden konnten. Eine Eigentums- und Erbschaftssteuer proportional zur Größe des Grundbesitzes, die Einführung eines unbesteuerten Existenzminimums sowie die schrittweise Reduzierung oder gar Abschaffung von Verbrauchssteuern ergänzten diesen Katalog. Dies alles, schloss Giolitti, diente dem Handel und der Wirtschaftskraft Italiens, damit seinem internationalen Ansehen und rückwirkend dem Selbstwertgefühl seiner Bürger.33 Im Unterschied zu 1892 trafen die Ausführungen Giolittis nun auf größere Zustimmung seitens der Fraktionen der estrema und führten zu einer klareren Polarisierung der parlamentarischen Fronten um die Konzepte von ‚Fortschritt’ und ‚Reaktion‘. Die Neuwahlen im Sommer 1900 allerdings erbrachten ein eher zwiespältiges Bild der öffentlichen Meinung (soweit knapp zweieinhalb Millionen Wahlberechtigte diese repräsentieren konnten): Radikale 34, 31 Mola, Giolitti, S. 167. 32 Vor allem durch Sellas fiskalpolitische Rigorosität sah Giolitti die von ihm begründete sinistra costituzionale eher in der Tradition der destra storica Cavours als in der der sinistra storica, die von Crispi verkörpert worden war (Mola, Giolitti, S. 83–91); „Gute Finanzverwaltung hängt von guter Politik ab“, war das Leitmotiv von Giolittis erstem Wahlkampf 1882, und gute Politik bedeutete die Herstellung sozialer Verteilungsgerechtigkeit als Voraussetzung demokratischer Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen (ebd., S. 125). 33 Discorso Giolitti in Busca, S. 24–27. 34 Die Radikalen waren eine politische Gruppierung, die sich auf die demokratischen und sozialen Ideen Garibaldis und Mazzinis berief; 1877 aus einer Abspaltung derjenigen Republikaner entstanden, die sich für einen Weg ‚durch die Institutionen’ zur Abschaffung der Monarchie entschieden hatten, akzeptierten sie hingegen die Monarchie, unterschieden sich aber von der sinistra storica durch die Ablehnung des trasformismo und die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht. Als programmatische Grundlage der Radikalen galt der ‚Pakt von Rom’ 1890 (siehe u.a.: Claudia Cardelli, Radicali ieri.

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Sozialisten (seit 1895: PSI) und Republikaner (seit 1895: PRI) gewannen erheblich hinzu, während die sinistra costituzionale um Giolitti eher stagnierte. Die Regierungsmehrheit verlor nur wenige Parlamentarier.35 „Das Land“, interpretiert dennoch Cammarano, „hatte im Dilemma zwischen Ordnung und Freiheit entschieden, den fortschrittlichen und legalitären Weg der Opposition zu unterstützen“, was sich vor allem im wohlhabenderen Norden gezeigt habe.36 Mola hingegen stellt einen Sieg der Kandidaten um Regierungschef Pelloux fest und bemerkt gerade in Bezug auf eine extrem geringe Wahlbeteiligung im Norden, dass „in gewissen Teilen des Landes nicht einmal die Ausnahmegesetze die Gemüter erregen konnten“.37 Zumindest war die ‚liberaldemokratische Wende‘ Giolittis kein populär-plebiszitärer Umschwung, sondern musste durch ideelle und materielle Überzeugungsarbeit im Parlament und in der Bevölkerung errungen werden. Dennoch wird die Regierung Giuseppe Zanardellis, seit Februar 1901 im Amt, gemeinhin als erste Regierung der ‚Ära Giolitti‘ betrachtet. Sie vereinte die alte, risorgimental-patriotische sinistra in der Person des Regierungschefs mit der neuen, pragmatisch-dirigistischen sinistra seines Innenministers Giolitti, der treibenden Kraft der Regierung.38 Dieser hatte die Leitlinien eines Reformprogramms seit seiner Rede in Busca weiter konkretisiert und am 4. Februar 1901 im Parlament mit der Forderung „einer von der Regierung und den Führungsschichten ausgehenden Periode sozialer Gerechtigkeit“39 ein Klima zugunsten einer deutlicheren Abgrenzung vom Kurs einer weiteren Restriktion von Freiheitsrechten geschaffen. Die Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens aber sollte sich als weit schwieriger erweisen als Giolitti möglicherweise selbst geglaubt hatte.

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Dall’unità al fascismo, Milano 1992; Alessandro Galante Garrone, I radicali in Italia, 1849–1925, Milano 1973). Cammarano, Storia, S. 501–505; das Wahlergebnis von 1900 (in Parlamentsitzen): ministeriali (Pelloux/Sonnino) 296/-31; opposizione costituzionale (Giolitti/Zanardelli) 116/+17; Radikale 34/-8; PSI 33/+18; PRI 29/+4 (Nohlen/Stöver, Elections, S. 1047 ff.). Cammarano, Storia, S. 504. Mola, Giolitti, S. 243. Roberto Chiarini, Ambizioni e difficoltà di un progetto riformatore, in: Roberto Chiarini (a cura di), Alle origini dell’età giolittiana. La „svolta liberale“ del governo Zanardelli-Giolitti 1901–1903, Venezia 2003, S. 42. Zitiert in: Mola, Giolitti, S. 253.

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3. Sozialer Liberalismus und seine Grenzen zwischen Parlament und Parteien – das ‚System Giolitti‘ Als Zanardelli im Oktober 1903 zurücktrat, war nur wenig vom ursprünglichen Reformprojekt seiner Regierung übrig geblieben.40 Hauptgrund dafür war, wie Roberto Chiarini gezeigt hat, der Widerspruch zwischen einem Programm, das klar ideologisch Stellung bezog und einer heterogenen parlamentarischen Mehrheit, die einer solchen politischen Polarisierung nicht entsprach, sondern in der Logik des trasformismo verharrte. Große Teile ihrer ‚neuen‘ Mehrheit hatten Zanardelli und Giolitti der alten konservativen Mehrheit Pelloux’ durch individuelle Tauschhändel und Garantien abgeworben.41 Das anfängliche Vertrauensvotum dieser ‚neuen’ Mehrheit, die sich aus Komponenten zusammensetzte, welche sich nur ein Jahr zuvor noch gegenseitig teils gewaltsam bekämpft hatten – Sozialisten und Radikale zum einen, Konservative und ‚geläuterte‘ Reaktionäre zum anderen –, konnte kaum Illusionen darüber aufkommen lassen, dass diese womöglich auch die einzelnen Reformvorhaben der Regierung geschlossen unterstützen würden.42 Warum aber riskierte Giolitti dennoch, die Inhalte der ‚liberaldemokratischen Wende‘ durch unausweichliche Kompromisslösungen zu entnaturalisieren? Es scheint sicher, dass die Regierung Zanardelli für Giolitti nur eine Transition auf dem Weg zu einer eigenen Regierung bedeuten sollte, ein Experimentierfeld für seine Idee eines sozialen Liberalismus, bei dem das Scheitern inbegriffen war. Wollte er aber danach die Heterogenität der Parlamentsmehrheit dafür verantwortlich machen und so die Bildung einer homogeneren Mehrheit für sich selbst rechtfertigen?43 Sein Rücktritt im Juni 1903 jedenfalls erfolgte aus Gründen politischer Dialektik: der Wechsel des PSI in die Opposition machte das Überleben der Regierung von den Stimmen 40 Von den Sozialgesetzgebungsprojekten blieben nur Gesetzesrevisionen zum Schutz der Frauen- und Kinderarbeit sowie zur Pflichtversicherung für Arbeitsunfälle im Landwirtschafts- und Bauwesen übrig; einige Sondergesetze für Regionen Süditaliens wurden verabschiedet; eine progressive Steuerreform – Herzstück des Reformprojekts – scheiterte am Widerstand innerhalb der Regierung (Chiarini, Ambizioni, S. 48 f. u. 53–59). 41 Ebd., S. 43–47; die Unterstützung von Teilen der destra für Zanardelli war nur um den Preis einiger Ministerposten für deren Vertreter ‚erkauft’ worden (ebd., S. 45 f.). 42 Mola, Interpret Giolittis, deutet hingegen dessen Überraschung über den Rücktritt des Finanzministers Leone Wollemborg am 29. Juli 1901 an und die Sorge, dass „Non era un segnale incoraggiante per il governo annunziato quale svolta epocale nella storia d’Italia“ (Mola, Giolitti, S. 256). 43 Jedenfalls könnten der abgelehnte Rücktritt Zanardellis und die Rücktrittsdrohung Giolittis im Februar 1902 (Chiarini, Ambizioni, S. 48 f.) als Versuch gesehen werden, die Regierung schon zu diesem Zeitpunkt ‚kontrolliert’ zu Fall zu bringen.

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der destra abhängig. Außerdem störte Giolitti die Wahrnehmung einer gewissen irredentistischen Inklination Zanardellis, wie Mola hervorhebt.44 In machtpolitischer Hinsicht ging diese Rechnung auf, da sich Giolitti im engen Einvernehmen mit König Viktor Emmanuel III., der seine soziale Integrationspolitik unter rigoroser Verteidigung der liberalen Verfassungsordnung unterstützte, des Auftrags der neuen Regierungsbildung sicher sein konnte. Ein königliches Dekret hatte im November 1901 die Vollmachten des Ministerpräsidenten erheblich erweitert45 – ein Zeichen, dass der Monarch und Giolitti gemeinsam weitreichende Pläne für Italien verfolgten. Jedoch fand der designierte Regierungschef Ende 1903 keinesfalls die von ihm erhoffte Situation in der Gesellschaft vor. Nicht nur bedeutete der Rückzug der PSI-Parlamentarier nach dem Wiederaufleben gewaltsamer Zusammenstöße bei Arbeitskämpfen trotz der Liberalisierung der Tarifkonflikte den Verlust der Unterstützung jener Klasse, für die das politische Projekt Giolittis entworfen worden war. Auch sah sich das Besitz- und Industriebürgertum – aufstrebende Schicht des wirtschaftlichen Aufschwungs seit der Jahrhundertwende – von einer Regierung nicht mehr geschützt, die sie indirekt zu Lohnzugeständnissen an die Arbeiterschaft zwang46; und schließlich hatte der Regierungsvorschlag für die Einführung des Scheidungsrechts auch den Widerstand der katholischen Kirche und ihrer sozialen Organisationen gegen die Regierung mobilisiert.47 Allein die Radikalen blieben Zanardelli bis zu seinem Rücktritt treu – und sahen sich danach als Garant des ursprünglichen Reformprogramms gegenüber Giolitti in einer Position der Stärke. „Die Positionen der Radikalen“, stellt Giovanni Orsina fest, „stimmten auf dem Gebiet ... der Verurteilung der Repressionen des Jahrhundertendes und der Öffnung der liberalen Institutionen gegenüber den Schichten und politischen Kräften, die bis da44 Nach Unruhen italienischer Irredentisten in Innsbruck hatte sich Bildungsminister Nasi, ein Vertrauter Zanardellis, als Sympathisant des Irredentismus erwiesen (Mola, Giolitti, S. 267). 45 Ebd., S. 257 f.; Viktor Emanuel III. lud die möglichen Kandidaten der destra, Antonio Starrabba di Rudinì und Sidney Sonnino, nicht einmal zu Sondierungsgesprächen ein (ebd., S. 269). 46 Siehe: Franklin Hugh Adler, Italian Industrialists from Liberalism to Fascism, 1906– 1934, Cambridge, S. 18–29; „Il Governo deve stare al di sopra d[elle] contese fra capitale e lavoro“, erklärte Giolitti, und sollte nur eingreifen wenn „si violi la legge e la libertà del lavoro“ (Discorso tenuto da G. Giolitti alla Camera il 4 febbraio 1901, in: Discorsi parlamentari, pubblicati per deliberazione della Camera dei deputati, vol. II, Roma 1953, S. 633, zitiert in: Chiarini, Ambizioni, S. 51). 47 Chiarini, Ambizioni, S. 58.

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hin davon ausgeschlossen geblieben waren, voll und ganz mit denen des piemontesischen Staatsmannes überein.“48 Blieb Giolitti diesen Ideen treu, die er seit seiner Abkehr von der Regierung Pelloux vehement propagiert hatte, dann musste er sich nun zuallererst auf die Radikalen stützen. Eine Fusion der sinistra costituzionale und der Radikalen in einer großen demokratisch-sozialliberalen Partei wurde zu einem greifbaren Szenario49 – aber würde Giolitti für die Herstellung einer bipolaren Dialektik im Parlament notfalls auch auf die Macht verzichten? Die Radikalen hätten gewarnt sein müssen: Giolitti war kein Ideologe, sondern Pragmatiker. Schon in Busca hatte er erklärt, dass „nach einer Periode tiefgreifender Reformen ... eine Pause, die diese konsolidiert, sie perfektioniert, sie ins Gewissen des Landes eindringen lässt, willkommen sein [kann].“50 Damit hatte er sich selbst von vornherein eine Rechtfertigung für die Führung einer gemäßigten Regierung und jene ‚Pendelpolitik rotierender Gleichgewichte‘ geschaffen, die zum eigentlichen Merkmal des ‚Systems Giolitti‘ werden sollte. Zudem war er keinesfalls gewillt, die einmal erlangte Machtposition für die Herstellung einer idealen politischen Konstellation zu riskieren.51 Die Radikalen andererseits überschätzten ihren Einfluss auf den designierten Ministerpräsidenten; dessen Einladung an Giuseppe Marcora zum Eintritt in die neue Regierung machte dieser von einer homogenen Zusammensetzung des Kabinetts als Voraussetzung für eine Politik demokratischer und sozialer Reformen abhängig. Mehrere Minister Giolittis aber entsprachen diesem Anspruch der Radikalen nicht, sei es, da sie aus den Reihen der destra kamen und, wie Außenminister Tommaso Tittoni, zudem klerikalen Kreisen nahestanden, als Juden öffentliche Ressentiments hätten verursachen können, wie etwa Schatzminister Luigi Luzzatti – oder im Falle des Finanzministers Pietro Rosano noch immer durch den Banca Romana Skandal moralisch vorbelastet waren.52 Der Selbstmord Rosanos infolge einer von der radikalen und sozialistischen Presse entfesselten Kampagne gegen ihn mochte Giolitti entscheidend darin bekräftigt haben, auf eine Unterstützung durch die Radikalen zu verzichten. Diese wiederum wandten sich endgültig von Giolitti ab, da dieser an 48 Giovanni Orsina, Senza Chiesa ne classe. Il partito radicale nell’étà giolittiana, Roma 1998, S. 244. 49 Ebd., S. 245. 50 Discorso Giolitti in Busca, S. 30. 51 Manlio Di Lalla, Storia del liberalismo italiano, Bologna 1976, S. 281–283. 52 Mola, Giolitti, S. 270–273.

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seinen umstrittenen Ministern festhielt – und sollten damit auf Jahre hinaus ihr Verhältnis zur sinistra costituzionale kompromittieren.53 Viel schwerer als die Weigerung der Radikalen aber wog das ‚Nein‘ Filippo Turatis54. Während die radikale Wählerschaft sich aus derselben bürgerlichen Schicht rekrutierte wie die der Liberalen, also keine Erweiterung der gesellschaftlichen Basis des liberalen Staates anbieten konnte55, stand hinter dem PSI die Arbeiterklasse. Der soziale Druck dieser stetig anwachsenden Parallelgesellschaft, nicht ihre parlamentarische Stärke – gleich der der Radikalen – machte den PSI zum entscheidenden Partner für Giolittis sozialliberale Integrationsstrategie. Die Einladung an den Reformsozialisten Turati, einst selbst Radikaler und stark beeinflusst von der deutschen Sozialdemokratie, schien jedoch zu spät zu kommen; hatte der Reformflügel auf dem PSI-Kongress in Imola 1902 noch die Oberhand behalten, so hatte die Zunahme von Repressionsmaßnahmen in der letzten Phase der Regierung Zanardelli den revolutionären Flügel erheblich gestärkt. Turati musste dem Tribut zollen, wollte er nicht eine Spaltung der Partei und seine eigene Marginalisierung riskieren. Es ging also, wie Giovanni Sabbatucci unterstreicht, für Turati „mehr um ein Problem der Machbarkeit als um einen ideologischen Vorbehalt“.56 Ob das Problem der Einheit der Arbeiterklasse Giolitti gänzlich bewusst war, lässt sich bezweifeln. Jedenfalls schien er Turatis Entscheidung als ‚unreif‘ zu qualifizieren; die Vertreter der Parteien der estrema seien „besorgt ob der Vorstellung, von ihren Freunden im Stich gelassen zu werden und als Leute zu gelten, die auf einen Teil ihrer Ideen verzichten“57. Andererseits schien die Ablehnung Turatis von vornherein einkalkuliert; die Einladung an diesen, erklärte Giolitti gegenüber König Viktor Emmanuel III., sei lediglich 53 Orsina, Senza Chiesa ne classe, S. 246; die Option, auf die Macht zu verzichten um eine Allianz mit den Radikalen zu konsolidieren, diskutiert Orsina nicht; dabei wäre aus Giolittis positivistischer Sicht eine Regierung Sonnino zu einem baldigen Scheitern verurteilt gewesen. „È quindi molto probabile che io mi decida a dare le dimissioni“, schrieb Giolitti am 10. November angesichts der Verschiebung der Regierungsmehrheit nach rechts; Mola erklärt seinen Verbleib im Amt vor allem mit Erwartungshaltungen des Königs (Mola, Giolitti, S. 271–273). 54 Zu Turati u.a.: Maurizio Punzo, L’esercizio e le riforme. Filippo Turati e il socialismo, Milano 2011; in Abwesenheit einer früheren Biographie auch: Nino Daniele, Filippo Turati, autonomia del socialismo e crisi del riformismo, Napoli 1997. 55 Orsina, Senza Chiesa ne classe, S. 218–235. 56 Giovanni Sabbatucci, I socialisti e l’estrema sinistra nella svolta del secolo, in: Roberto Chiarini (a cura di), Alle origini dell’età giolittiana. La „svolta liberale“ del governo Zanardelli-Giolitti 1901–1903, Venezia 2003, S. 64 f. 57 Zitiert in: Mola, Giolitti, S. 270.

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„nützlich um zu zeigen, dass [die] Monarchie keinen vernünftigen Fortschritt ausschließe“58. Die neue Regierung präsentierte sich also offiziell in einer Kontinuität des sozialen Reformismus ihrer Vorgängerin; verweigerten sich ihr die Sozialisten, dann konnte ihnen die Verantwortung für jede konservative Wendung der Regierungspolitik angelastet werden. Die Skepsis des revolutionären Flügels des PSI, der eine „Degenerierung des sozialistischen Geistes ... in eine vornehmlich parlamentarische, opportunistische und monarchisch-possibilistische“59 Richtung befürchtete, war also möglicherweise nicht ganz unbegründet. Das Übergewicht der massimalisti gegenüber dem reformistischen Flügel in den folgenden Jahren spiegelte das fehlende Vertrauen in einen Regierungschef wider, der eine Reformpolitik nur als Vorwand zur Aufrechterhaltung eines in sich antisozialen und autoritären Systems nutzte. Sabbatucci schreibt die Stärke der Regimegegner im PSI auch dem Umstand zu, dass die Partei die Phase der organisatorischen Konsolidierung in Opposition zur bürgerlich-liberalen Führungsschicht und die des Übergangs zu einer potentiellen Regierungspartei nahezu gleichzeitig durchlebte.60 Kam also die Einladung Giolittis an Turati in jenem Moment sogar eher zu früh als zu spät? Eine mögliche ‚Eile‘ Giolittis, den reformistischen Teil der sozialistischen Bewegung an das liberale Regierungssystem zu binden, könnte aber durchaus gute Gründe gehabt haben. Spätestens seit den gewaltsamen Unruhen von 1898 war, inspiriert durch die soziale Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891, in der katholischen Zentralorganisation Opera dei Congressi61 eine modernistische Tendenz unter der Bezeichnung Democrazia cristiana hervorgetreten. Die Gruppe um den Priester Romolo Murri62 strebte gar die Gründung einer katholisch-sozialreformistischen Partei an. Das stand nicht nur in Gegensatz zum politischen Enthaltungsgebot non expedit für Katholiken, sondern Murri wollte, so Alfredo Canavero, mit einem

58 Zitiert in: Ebd., S. 279. 59 Zitiert in: Massimo L. Salvadori, La Sinistra nella storia italiana, Roma 1999, S. 18; das Zitat stammt aus dem Antrag des revolutionären Flügels des PSI auf dem Parteikongress vom 8. bis 11. April 1904. 60 Sabbatucci, I socialisti, S. 66. 61 Zur Opera dei Congressi siehe u.a.: Marco Invernizzi, I cattolici contro l’unità d’Italia? L’Opera dei congressi (1874–1904), Casale Monferrato 2002. 62 Zu Romolo Murri u.a.: Romolo Murri e i murrismi in Italia e in Europa cent’anni dopo, atti del convegno internazionale di Urbino, 24–26 settembre 2001, a cura di Ilaria Biagioli, Alfonso Botti e Rocco Cerrato, Urbino 2004; Il pensiero politico di Romolo Murri, a cura del Centro studi Romolo Murri, Ancona 1993.

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„antibürgerlichen und antikapitalistischen Programm ... den Staat hinwegfegen“, um ihn durch eine „politisch christliche Demokratie“ zu ersetzen.63 Gesellschaftliche Substanz bekam diese modernistische Tendenz des Katholizismus durch eine erhebliche Zunahme ihrer Berufsgenossenschaften und sozialen Hilfswerke besonders in der norditalienischen Landbevölkerung, bevor der neue Papst Pius X. Mitte 1903 einer weiteren Ausweitung der Modernisierungsbewegung vorerst Einhalt gebot, die Opera dei Congressi 1904 auflöste und Murri gar 1909 exkommunizierte.64 Die Democrazia cristiana wurde von Giolitti als direkte klerikale Konkurrenz zu seinem Projekt wahrgenommen, die breite Bevölkerung an den liberalen Staat zu binden. Hatten beide Ideen in der sozialen und demokratischen Stoßrichtung Gemeinsamkeiten, so divergierten sie in der Grundfrage der Staatsordnung. Vor allem aber musste bei ihm das Szenario einer außerparlamentarischen und antistaatlichen Allianz zwischen der Bewegung Murris und dem Sozialismus Besorgnis erregen. Im PSI begann man in der Tat von der herkömmlichen Ansicht abzurücken, dass Katholizismus gleichbedeutend mit konservativer Reaktion und Besitzinteressen sei, und diskutierte hingegen die Gemeinsamkeiten beider Doktrinen zugunsten der sozial benachteiligten Klassen.65 In seiner konservativen Antipolitisierungshaltung war hingegen Pius X. in ‚stiller Übereinkunft‘ eher ein Partner für Giolitti; beide wollten keine katholische Partei, sondern strebten bei gegenseitiger Respektierung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Sphären eine Art ‚Wertehegemonie‘ über die jeweils andere Sphäre an. „Einem juristischen Vertrag“, bemerkt jedoch Spadolini, „blieb Giolitti immer fern.“66 Die Römische Frage, seit 1870 Hauptgrund der kirchlichen Opposition gegen den liberalen Staat, rückte erstmals in den Hintergrund gegenüber dem Kampf beider gegen den revolutionären Sozialismus; die katholische Soziallehre, nunmehr in Händen der offiziellen

63 Alfredo Canavero, I cattolici e il nuovo secolo, in: Roberto Chiarini (a cura di), Alle origini dell’età giolittiana. La „svolta liberale“ del governo Zanardelli-Giolitti 1901–1903, Venezia 2003, S. 76; das Zitat Murris wurde auf dem Kongress der Opera dei Congressi in Rom Anfang 1900 gegeben. 64 Ebd., S. 78–80. 65 Giovanni Spadolini, Giolitti e i cattolici, Firenze 1974, S. 79 f.; Murri suchte Ende 1905 den Dialog mit Filippo Turati und schlug den Sozialisten einen „cammino che si potrebbe fare insieme nelle agitazioni popolari, nelle amministrazioni locali ed eventualmente a Montecitorio“ vor (Il Giornale d’Italia, 27 ottobre 1905). 66 Spadolini, Giolitti, S. 193.

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kirchlichen Hierarchie, hatte mit dem sozialen Reformprogramm Giolittis durchaus Gemeinsamkeiten.67 Allerdings bedeutete die neue Interessengemeinschaft von Kirche und Staat für Giolitti auch, dass katholische Wähler, nachdem Pius X. den Wahlakt zu einer individuellen Gewissensfrage erklärt und damit non expedit faktisch aufgehoben hatte68, zur Unterstützung der liberalen Regierungsmehrheit bewegt werden mussten.69 Dies musste durch Vereinbarungen vor Ort überwiegend Kandidaten der destra zugute kommen, seine eigene, ursprüngliche sinistra costituzionale aber schwächen. Verzichtete Giolitti also zugunsten eines Ausgleichs zwischen Kirche und Staat auf sein soziales Reformprogramm oder wechselte er nur den Partner, mit dem er dieses weiterführen wollte? Die neue Regierungsformel „Reformen mit Ordnung und Freiheit zu vereinen“70, wurde zumindest durch diese schweigende Übereinkunft nicht in Frage gestellt. Für diese konservative Wende brauchte Giolitti ein Parlament, dass beiden Veränderungen Rechnung trug, sowohl der Öffnung zu den Katholiken als auch der Diskreditierung des revolutionären Sozialismus. Die Wahlen vom November 1904 setzte er kurzfristig und überraschend an, um die bürgerliche Empörung über den ersten landesweiten Generalstreik auszunutzen. In diesem Klima konnte seine massive und akribische Manipulation des Wahlverhaltens durch die Präfekturen und Sicherheitsorgane, Geheimfonds des Innenministeriums und nicht zuletzt Korruption und Tauschgeschäfte – Wählerstimmen für Privilegien aller Art – maximalen Ertrag bringen.71 Es war „ein Plan, der von ihm seit langem ersonnen und in allen Details vorbereitet worden war“, so Mola, denn „er musste die Wahlen gewinnen um zu verhin67 Gaetano Quagliariello, I Cattolici, il Risorgimento e l’Italia Liberale, in: Ventunesimo Secolo, 26, novembre 2011, S. 69; Canavero, S. 82; siehe auch: Alice A. Kelikian, The Church and Catholicism, in: Adrian Lyttleton (ed.), Liberal and Fascist Italy, 1900– 1945, Oxford 2002, S. 54–57. 68 Papst Pius X., schreibt Scoppola, habe vor den Wahlen intern erklärt: „fate come vi detta la vostra coscienza ... il papa tacerà.“ (zitiert in: Pietro Scoppola, Il decennio di Pio X e Giolitti, in: Gentile Emilio, L’Italia giolittiana. La storia e la critica, Bari 1977, S. 185). 69 „Ostile a un partito cattolico, sempre“, so Spadolini zu Giolittis Position, „Ma non ostile alle alleanze caso per caso, ... negoziate discretamente ... fra prefetti e vescovi, fra candidati liberali e unioni elettrali cattoliche“ (Spadolini, Giolitti, S. 195). 70 Mola, Giolitti, S. 285. 71 Zahlreiche Telegramme Giolittis an Präfekte in ganz Italien dokumentieren die massive Einflussnahme zugunsten regierungstreuer Kandidaten (siehe: Dalle carte di Giovanni Giolitti. Quarant’anni di politica italiana II: Gli anni del potere, 1901–1910, Milano 1962, S. 361–365).

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dern, dass Extremisten einerseits und Reaktionäre andererseits einen Vorwand finden konnten, das Land wieder zurückzuwerfen.“72 Das neue Parlament, mit dem Giolitti (und sein ‚Statthalter‘ Alessandro Fortis 1905/06) bis 1909 das Land regierte, spiegelte den Erfolg dieser Maßnahmen wider. Die ‚giolittianische‘ Regierungsmehrheit hatte sich auf Kosten der antiklerikalen destra um Sonnino deutlich erweitert. Ein Novum waren drei Direktmandate katholischer Kandidaten, die Symbolcharakter für das sich anbahnende Arrangement zwischen Kirche und Staat besaßen. Unter den Parteien der estrema verschoben sich die Gewichte zwar etwas zugunsten der Radikalen, doch insgesamt gingen sie geschwächt aus den Wahlen hervor.73 Vor allem das Ergebnis des PSI war insofern bemerkenswert, als dass die Sozialisten zwar ihre absolute Stimmenzahl verdoppelten, aber dennoch – zur Genugtuung Giolittis – vier Parlamentssitze einbüßten. Die Forderung nach einer Reform des Wahlrechts von 1882 musste angesichts derart eklatanter Diskrepanzen umso lauter werden.74 Bemerkenswert war auch die Bilanz sozialer Reformen trotz einer konservativ und teils bereits klerikal geprägten Regierungsmehrheit: Arbeitsschutzgesetze für Frauen und Kinder (diesen stimmte sogar die PSI-Fraktion zu), Einführung von Invaliditäts- und Altersversicherung, Verstaatlichung der Eisenbahnen, Steuererleichterungen für Kleineigentümer und Erweiterung der kommunalen Steuer- und Sozialautonomie, was Paul Corner zufolge der administrativen Einbindung der Sozialisten auf lokaler Ebene dienen sollte, aber wohl gleichermaßen einer erhöhten Einflussnahme der Katholiken zugute kam. Schließlich erließ Giolitti Sondergesetze zur Förderung der ärmsten Regionen Süditaliens – wenngleich dies zu umstrittenen Kompromissen mit der örtlichen Mafia führte.75 War also die Umsetzung eines sozialen Liberalismus, der Interpretation

72 Mola, Giolitti, S. 283. 73 Das Ergebnis (in Parlamentssitzen) wird wie folgt wiedergegeben: ministeriali (Giolitti) 339/+43; opposizione costituzionale (Sonnino) 76/-40; PR 37/+3, PRI 24/-5; PSI 29/-4; cattolici 3/+3 (Nohlen/Stöver, Elections, S. 1047 ff.). 74 Die Reform von 1882 hatte die Zahl der Wahlberechtigten von 2,2% auf 6,9% der Gesamtbevölkerung erhöht, indem die Altersgrenze von 25 auf 21 Jahre herabgesetzt und das Zensus-Kriterium durch das der Alphabetisierung ersetzt wurde (Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia Moderna, VI, 1871–1896, Milano 1970, S. 151 f.); des weiteren dazu: Maria Serena Piretti, Le elezioni politiche in Italia dal 1848 ad oggi, Roma 1996. 75 Paul Corner, State and Society, 1901–1922, in: Adrian Lyttleton (ed.), Liberal and Fascist Italy, 1900–1945, Oxford 2002, S. 24 f.

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Caroccis folgend76, letztlich gar nicht von den politischen Kräften abhängig, die die größte soziale Kompetenz für sich beanspruchten, den Parteien der estrema?

4. Demokratie und Nationalismus: der Zusammenbruch des ‚Systems Giolitti‘ Am 28. September 1911 erklärte Italien dem Osmanischen Reich den Krieg, um die Provinzen des heutigen Libyen unter seine Kontrolle zu bringen.77 15 Jahre nach der Katastrophe von Adua, die Giolittis Widersacher Crispi das Amt gekostet, Giolitti selbst jedoch einen politischen Neubeginn im Zeichen einer Konzentration auf die inneren Probleme des Landes ermöglicht hatte, schien nun auch dieser den Versuchungen kolonialer Großmachtpolitik nicht widerstehen zu können, obwohl die Außenpolitik nicht zu seinen bevorzugten Domänen zählte. Warum aber wagte sich Giolitti zu diesem Zeitpunkt in eine Unternehmung, die mit seinem erklärten Anti-Imperialismus unvereinbar war? Ein Kolonialkrieg widersprach gänzlich seinem Grundsatz, Italiens nationale Identität durch inneren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt anstatt Macht- und Expansionspolitik nach außen zu stärken. War der Krieg von Giolitti gewollt oder eine ihm aufgebürdete Zwangsentscheidung? War eine militärische Unternehmung kompatibel mit dem sozialen Liberalismus, den Giolitti aus eigener Sicht auch nach der konservativen Wende von 1903 fortgesetzt hatte? Handelte es sich nur um eines jener taktischen Manöver, mit denen er die politische Entwicklung in Italien zu steuern versuchte? Und wenn ja, in welchem Sinne? Das ‚System Giolitti’ jedenfalls befand sich Mitte 1911 auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung, während es nach dem Konflikt Ende 1912 sehr bald zerfallen sollte. Giolittis überraschende Initiative zur Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts im März 1911 hatte erstmals die Radikalen in eine von ihm geführte Regierung gebracht. Die Beteiligung des PSI blieb zwar einmal mehr auf die externe parlamentarische Unterstützung beschränkt, nachdem Leonida Bissolati78 – wie Turati acht Jahre zuvor – einen ihm angebotenen Ministerposten abgelehnt hatte; doch weitere große Reformprojekte wie 76 Giampiero Carocci, Destra e sinistra nella storia d’Italia, Bari 2002, S. 50. 77 Zum Italienisch-Osmanischen Krieg u.a.: Alberto Caminiti, La guerra italo-turca 1911– 1912. Guerra di Libia, Genova 2011. 78 Zu Bissolati u.a.: Maurizio Degl’Innocenti, Leonida Bissolati: un riformista nell’Italia liberale, Manduria 2008.

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die Verstaatlichung der Lebensversicherungen gaben dem vierten Kabinett Giolittis dennoch einen deutlich fortschrittlicheren Anstrich.79 Warum aber gab Giolitti entgegen seiner Überzeugung einer langsamen Entwicklung der Bevölkerung hin zur notwendigen Reife für demokratische Partizipation das Stimmrecht nun mit einem Schlag frei? Hatte er nicht noch 1909 erklärt, die Erweiterung des Wahlrechts müsse mit der fortschreitenden Alphabetisierung einhergehen? Alexander De Grand sieht die Reform in der Tat als den entscheidenden Fehler Giolittis, der Italien um 1910 in einer ruhigen Phase seiner Entwicklung wähnte, die er zu einem neuen Versuch der Eingliederung der Parteien der estrema in den liberalen Staat würde nützen können.80 Die These Massimo Salvadoris, Giolitti habe hingegen mit dieser Reform vor allem den notwendigen Konsens in der Bevölkerung für den kommenden Kolonialkrieg suchen wollen, ist dagegen schon deshalb unwahrscheinlich, weil die internationalen Umstände, die zur italienischen KriegsEntscheidung führen sollten, zum Zeitpunkt der Reforminitiative noch nicht vorhersehbar waren.81 Mola schließlich behauptet, Giolitti habe die Reforminitiative einzig zum Zwecke der Beschleunigung des Sturzes der Vorgängerregierung unter Luigi Luzzatti ergriffen, ohne jedoch eine klare Vorstellung über die politischen, parlamentarischen und institutionellen Auswirkungen einer Erweiterung der Zahl der Wahlberechtigten von knapp zweieinhalb auf fast neun Millionen zu haben.82 An anderer Stelle aber wird ersichtlich, dass die tatsächlichen Motive Giolittis sowohl für die Wahlrechtsreform als auch für den Sturz Luzzattis – seiner eigenen ‚Marionette‘ – viel ursprünglicherer Natur gewesen sein mögen. Mola berichtet von einem weiteren Treffen Giolittis mit Viktor Emanuel III. Ende 1910, bei dem beide übereinstimmten, dem wiederaufgeflammten Antiklerikalismus entgegentreten zu wollen. Aus Sicht beider riskierten 79 Salvadori, La Sinistra, S. 22. 80 Alexander De Grand, Giovanni Giolitti: a pessimist as modernizer, in: Journal of Modern Italian Studies, 6 (1), S. 65. 81 Salvadori, La Sinistra, S. 21 f.; Giolitti hatte die Vorgängerregierung Luigi Luzzattis mit dem Vorschlag einer weitreichenden Wahlreform zu Fall gebracht und am 31. März 1911 seine Nachfolge angetreten; der erste Bericht des Außenministers San Giuliano zur internationalen Situation im Zuge der Zweiten Marokko-Krise datiert vom 28. Juli 1911; hierin schreibt San Giuliano u.a.: „io sono oggi indotto a ritenere probabile, che, tra pochi mesi, l’Italia possa essere costretta a compiere la spedizione militare in Tripolitania. È necessario ... di tener conto di questa probabilità, pur dovendosi, a mio avviso cercare d’evitarla.“ (Dalle Carte di Giovanni Giolitti: Quarant’anni di politica italiana, vol. III: Dai prodromi della grande guerra al fascismo, 1910–1928, Milano 1962, S. 52). 82 Mola, Giolitti, S. 326; zu Luzzatti u.a.: Paolo Pecorari, Luzzattiana: nuove ricerche storiche su Luigi Luzzatti e il suo tempo, Udine 2010.

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Luzzatti als Regierungschef und vor allem der republikanische Bürgermeister Roms Ernesto Nathan, ein Freimaurer, „einen Religionskrieg wiederzubeleben, den in Italien keine vernünftige Person mehr wollte“, so Mola. Dem Zeitgeist folgend müsse dagegen die Monarchie zeigen, dass sie den Impulsen der Demokratie offen gegenüberstehe.83 Anders als der polarisierende Antiklerikalismus insbesondere der Radikalen schien sich „die Masse der katholischen Stimmen, 1909 eingefordert und erhalten“84, als ein für den liberalen Staat loyales Element dieser Demokratie erwiesen zu haben. Mit dieser entscheidenden Erkenntnis aus den Parlamentswahlen von 1909 konnte Giolitti die Einführung des allgemeinen Wahlrechts wagen, ohne befürchten zu müssen, dass die liberale Regierungsmehrheit von der Masse der Stimmen der Arbeiterklasse überrollt werden könnte. So gesehen änderte es für ihn auch wenig, ob Bissolati in seine Regierung eintrat oder nicht, da dieser in keinem Falle die Arbeitermassen repräsentierte.85 Die Radikalen hingegen hoffte er mit der Wahlrechtsreform in die sozialliberalen Teile der Regierungsmehrheit absorbieren zu können um so die Einheit der in den Wahlen von 1909 bedrohlich angewachsenen estrema zu beenden.86 Allerdings sah Giolitti vermutlich nur eine limitierte Reform der Erweiterung des Wahlkörpers vor, welche die grundlegenden Wahlmechanismen und politischen Gleichgewichte nicht wesentlich verändert hätte. Damit aber kam ihm Luzzatti zuvor, scheinbar ohne vorherige Absprache.87 Die Sorge vor dessen Antiklerikalismus drängte also Giolitti zu einem Reformprojekt, das nun wesentlich weiter gehen musste. Die Radikalen mochte er damit umso sicherer unter seine Kontrolle bekommen und ihre langjährigen Vorbehalte gegen ihn hinwegfegen88, die Katholiken aber erkannten das enorme Potential der Reform für eine grundlegende Umwälzung der politischen Verhältnisse im 83 Mola, Giolitti, S. 323. 84 Ebd., S. 322. 85 Giolitti, schreibt De Grand, „seemed mildly relieved that the insurance monopoly and the suffrage reform bills passed with a liberal majority and without reliance on the Socialists.“ (De Grand, Giolitti, S. 64). 86 Das Ergebnis der Wahlen von 1909: ministeriali (Giolitti) 329/-10; PR 48/+11; PSI 41/+12; opposizione costituzionale (Sonnino) 44/-32; PRI 23/-1; Katholiken 18/+15 (Nohlen/Stöver, Elections, S. 1047 ff.); die Zahl der ‚klerikal-liberalen’ Mandate innerhalb der Regierungsmehrheit ist nirgends genau wiedergegeben. 87 De Grand, Giolitti, S. 65. 88 Giovanni Orsina, Anticlericalismo e democrazia. Storia del Partito radicale in Italia e a Roma, 1901–1914, Soveria Mannelli 2002, S. 186–198; neben den radikalen Ministern Ettore Sacchi und Luigi Credaro gelang es Giolitti, auch einen seiner schärfsten Kritiker unter den Radikalen, Francesco Saverio Nitti, in seine Regierung zu holen.

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Karikatur in der Zeitschrift “Il Pasqino”, Ostern 1911, kurz nach der Bildung der vierten Regierung Giolittis. Die Schrift unter der Darstellung lautet übersetzt: „Und siehe da es gab ein grosses Beben und Giolitti erstand wieder auf und kam aus seinem Grabmal. Und in diesem Moment kam ein Engel des Herrn, der vom Himmel herabgestiegen war, rollte den Stein vom Monument fort und setzte sich auf ihn. Und aus Angst vor Giolitti erzitterten die Wachen und wurden wie tot.“ Giolitti, mit dem Banner des allgemeinen Wahlrechts an die Regierung zurückgekehrt, erschreckt den konservativ-nationalistischen Zeitgeist (Soldat), kann sich aber auf eine breite Parlamentsmehrheit (Engel) stützen.

Land zu ihren Gunsten. „Wo die Katholiken sich schon als ‚Mehrheit‘ fühlen“, schreibt Spadolini über deren Reaktion in den verschiedenen Regionen Italiens, „wird Giolitti toleriert, ... wo [sie] sich als Minderheit fühlen, ... wird Giolitti gepriesen“89. Es liegt nahe, dass in diesem Klima des Aufbruchs nach der Ankündigung des allgemeinen Wahlrechts die bisherige Praxis, die Unterstützung der katholischen Wähler für liberale Kandidaten von Fall zu Fall in den Wahlkreisen zu verhandeln, nicht mehr ausreichte, um eine demokratisch-konservative Partei der Katholiken zu verhindern.90 Hatte Giolitti die Auswirkungen des allgemeinen Wahlrechts auf das Verhältnis zwischen Liberalen und Katholiken wirklich nicht realistisch be89 Spadolini, Giolitti, S. 203. 90 Quagliariello, I Cattolici, S. 70.

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dacht, bevor er damit vor das Parlament trat? Die sieben Punkte des GentiloniPakts, den liberale Kandidaten für die Wahlen von 1913 unterschreiben mussten, wenn sie die für ihre Wiederwahl unumgänglich gewordenen Stimmen der Katholiken erhalten wollten, können durchaus als Erpressung seitens der papstnahen Unione elettorale dei cattolici italiani (UECI) ausgelegt werden.91 Giolittis scheinbar passive und gleichgültige Hinnahme eines Vorgangs, der die laizistische Identität des liberalen Staates in Frage stellte, mag verwundern. Nach Ansicht Gabriele De Rosas nämlich „konnte nicht als Liberaler gelten, wer den Pakt unterschrieben hatte.“92 War also die Transformation des liberalen Staates in einen klerikal-liberalen Staat von Giolitti schon einkalkuliert, als er sich zur Wahlrechtsreform entschloss? Wenn dies so war, dann fand auch seine Erkenntnis Bestätigung, dass sozialer Fortschritt spätestens seit Rerum novarum ebenso ein Teil des Katholizismus wie des Liberalismus war und folglich eine ‚gegenseitige Durchdringung‘ beider Sphären eine Politik sozialer Reformen nicht ausschloss.93 Hatte die Kirche nicht den Modernismus eines Romolo Murri auch deshalb verstoßen, weil er sich gegen die liberalen Institutionen und die bürgerliche Gesellschaftsordnung richtete? Giolitti jedenfalls repräsentierte genau diese Ordnung. Und waren nicht andere Verfechter der katholischen Sozialdoktrin in der Kirche verblieben? Wenn der Katholizismus die liberalen Institutionen akzeptiert hatte, konnte dann ein agnostischer liberaler Staat nicht auch eine auf katholischen Werten beruhende Gesellschaft akzeptieren? War nicht der Katholizismus in der Arbeiterklasse weitaus verbreiteter und folglich für die Nation einheitsstiftender als der Sozialismus es umgekehrt je unter den bürgerlichen Katholiken sein würde, selbst wenn Marx längst auf den Dachboden verbannt war, wie Giolitti 1911 behauptet hatte?94 91 Der Gentiloni-Pakt enthielt Grundforderungen der Kirche, wie den staatlichen Schutz 1) der Religionsausübung, 2) der Privatschulen, 3) des Religionsunterrichts in staatlichen Schulen, 4) der Ehe (gegen Scheidung) und 5) katholischer Wirtschafts- und Sozialorganisationen, 6) eine sozial orientierte Steuerreform und 7) Bewahrung der wirtschaftlichen und moralischen Kräfte des Landes (Andrea Tornielli, La fragile concordia. Stato e cattolici in centocinquant’anni di storia italiana, Milano, 2011, S. 88 f.); zur UECI u.a.: Marco Invernizzi, L‘Unione elettorale Cattolica Italiana. 1906–1919. Un modello di impegno politico unitario dei cattolici, Piacenza 1993. 92 Gabriele De Rosa, Il Patto Gentiloni, in: Emilio Gentile, L’Italia giolittiana. La storia e la critica, Bari 1977, S. 201; De Rosa weist weiterhin auf Giolittis Kritik an Abgeordneten hin, die den Pakt unterschrieben hatten, nach De Rosa der Beweis, nicht selbst daran beteiligt gewesen zu sein. 93 Quagliariello, I Cattolici, S. 70. 94 De Grand, Giolitti, S. 65.

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Die Wahlrechtsreform war also nicht unbedingt der Fehler, der das ‚System Giolitti‘ zu Fall brachte; sie war eingeplant und selbst in ihrer zunächst unbeabsichtigten Form des allgemeinen Männerwahlrechts gemessen an den Kriterien und antiideologischen Zielsetzungen Giolittis durch ihn beherrschbar. Er interpretierte denn auch das Ergebnis der Wahlen vom Oktober/ November 1913 als Erfolg trotz der enormen Verluste der ‚giolittianischen‘ Kandidaten – von denen vermutlich 228 der 270 nur mit Hilfe des GentiloniPakts gewählt wurden95 – und trotz der großen Zugewinne von Radikalen und Sozialisten.96 Nicht beherrschbar für ein auf Ausbalancierung gegensätzlicher ideologischer Kräfte basierendes System war die Konfrontation mit einem Krieg. Giolitti stand in dieser Situation vor einer Grundsatzentscheidung, die keine graduelle Lösung zuließ und schon allein dadurch das ‚System Giolitti‘ ad absurdum führte. Einmal mit der realen Möglichkeit konfrontiert, Tripolitanien für Italien zu erwerben, war ein Verzicht in Zeiten des Imperialismus praktisch auszuschließen für eine Nation, die sich mit den europäischen Mächten auf Augenhöhe messen wollte und folglich die Schmach von Adua loswerden musste.97 Die Kriegsoption aber war eine Frage, die die ‚Massen‘ der Bevölkerung, von Giolitti gerade erst zur Teilnahme an den großen Entscheidungen der Nation eingeladen, erregen und spalten musste. Demokratie und Imperialismus schlossen sich nicht mehr gegenseitig aus, wie er noch ein Vierteljahrhundert zuvor geglaubt hatte.98 Und diese ‚Massen‘ standen zunehmend unter dem Einfluss des Nationalismus, der in der gewaltigen wirtschaftlichen Expansion seit der Jahrhundertwende die Voraussetzungen für eine Revanche für Adua und darüber hinaus für eine territoriale Vollendung des Risorgimento erkannte. Der Geist Crispis war zurückgekehrt, jedoch in modernisierter Gestalt.99 Der moderne Nationalismus 95 Giordano Sivini, Socialisti e Cattolici in Italia dalla Società allo Stato, in: Gentile, L’Italia giolittiana, S. 164; die Zahl ist nicht genau bestimmbar, weil viele Kandidaten die Unterzeichnung des Pakts öffentlich leugneten; Mola, Giolitti, S. 343 f. 96 Das Wahlergebnis von 1913: Liberale 270/-59; Konstitutionelle Demokraten (ex-Liberale) 29/+29; Sozialisten (PSI+Reformisten+Unabhängige) 79/+38; Radikale (PR+Dissidenten) 73/+25; des weiteren: Katholiken 29/+11; PRI 8/-15; andere 20 (Nohlen/Stöver, Elections, S. 1047 ff.). 97 Nicola Labanca, Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana, Bologna 2007, S. 108–110. 98 De Grand, Giolitti, S. 59. 99 Mola, Giolitti, S. 330; Christopher Duggan, Francesco Crispi, the problem of the monarchy, and the origins of Italian nationalism, in: Journal of Modern Italian Studies 15(3), 2010, S. 336 f.

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zielte auf die Erhebung der ‚Underdogs‘, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene. Die Ende 1910 von Enrico Corradini gegründete Associazione nazionalista italiana (ANI) sah in der „Allianz der beiden produktiven Klassen der Gesellschaft, der Industriellen und der Arbeiterschaft“100, die Basis für eine neue auf Kolonialismus und Emigration gestützte Expansion, die bewusst die ‚Massen’ involvierte. Dieser Nationalismus schien eine neue Methode zur Bekämpfung des revolutionären Sozialismus zu sein, was hingegen Giolittis Politik der sozialen Reformen nicht gelungen war. Sollte ein sozialer Nationalismus den sozialen Liberalismus zur Lösung der sozialen Frage und Schaffung nationaler Identität ablösen?101 Giolitti musste sich also spätestens im Sommer 1911 diesen Nationalismus zu eigen machen, der eine starke kulturelle Anziehungskraft auf Liberale, Katholiken und Radikale – die Komponenten seiner Regierungsmehrheit – sowie Reformsozialisten gleichermaßen ausübte. Die plötzliche Gelegenheit zum Erwerb der libyschen Provinzen, die sich im April 1911 mit der Zweiten Marokko-Krise auftat, ließ ihm den Prozess der ‚Vereinnahmung‘ des Nationalismus aus den Händen gleiten. Eine von De Grand zitierte Aussage Giustino Fortunatos lässt vermuten, dass Giolitti auf eine andersartige und zeitlich entferntere Gelegenheit zur Lösung der Libyen-Frage gehofft hatte, um den mit der Wahlreform eingeleiteten Prozess der politischen Neuordnung nicht zu stören. Gegenüber Salvemini hatte Fortunato erklärt: „Bete, dass in diesem Jahrzehnt kein Krieg ausbricht, der Haushalt nicht zusammenbricht und die Parteien des Volkes den Staat nicht derart zerstören, dass die Ankunft einer neuen politischen Generation, die kultivierter und unserer ernsten Probleme bewusster ist, in Kammer und Regierung unmöglich gemacht wird.“102 Die Hoffnung aber war schon nach wenigen Wochen zunichte gemacht. Eine Alternative zum Krieg gab es nicht: Giolitti hätte in dieser Situation zurücktreten müssen, um seinem Pazifismus treu zu bleiben – und wäre zum Verbündeten großer Teile des revolutionären Sozialismus geworden. Das ‚System Giolitti‘ war im einen wie im anderen Fall am Ende – Giolitti selbst noch nicht, der versuchte, mit einer schnellen, entschiedenen und kostengünstigen Militäroperation die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dies aber hätte vermutlich selbst bei einem Erfolg kaum Abhilfe geschaffen,

100 Francesco Leoni, Storia dei partiti politici italiani, Napoli 2001, S. 343. 101 Labanca, Oltremare, S. 107 f. 102 De Grand, Giolitti, S. 65 f.; mit der Aussage vom 10. April 1911 wollte Fortunato, ein Anhänger Giolittis, Salvemini dessen politische Motivationslage klar machen.

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sondern den Appetit der Nationalisten nur noch vergrößert – und Italien womöglich schon von Beginn an in den Ersten Weltkrieg verwickelt.103 Stattdessen zog sich der Libyen-Konflikt kostspielig und opferreich über mehr als ein Jahr hin und endete erst, als das Osmanische Reich Ende 1912 durch den ersten Balkankrieg zum formellen Verzicht auf die libyschen Provinzen gezwungen war. Dadurch erschien Giolitti zusätzlich unentschlossen und zögerlich, er nährte so nationalistische Sehnsüchte nach einer starken politischen Führungsfigur.104 „Lasst uns wünschen“, schrieb er selbst hingegen Anfang 1912, „dass wir nie andere als Kolonialkriege zu führen haben; ... ich bin nicht mit Enthusiasmus dort hinein gegangen, sondern nur aus Berechnung.“105 Kolonialkriege schienen eine Notwendigkeit der Zeit zu sein, ein Zeichen des natürlichen Fortschritts, an den Giolitti glaubte und an den er sich trotz vieler Zweifel anpassen musste. Die seit Ende 1911 immer deutlicher werdende revolutionäre Wendung des PSI hingegen war nicht Teil dieses Fortschritts. Ob die zügige Verabschiedung der Wahlgesetzreform und die Einrichtung des staatlichen Versicherungsinstituts Anfang 1912 ein ernsthafter Versuch Giolittis waren, dem gegenzusteuern und die Sozialisten zur Unterstützung des Kriegs zu bewegen, kann bezweifelt werden. Die längst isolierte Reformergruppe um Bissolati mochte er überzeugen, die ‚Masse‘ der Industriearbeiterschaft aber niemals.106 Giolittis Rücktritt im März 1914 schien noch einmal den sozialen Charakter seiner Regierung herauszustellen; er legte sein Amt infolge des Rückzugs der Radikalen nieder, die die konservative liberal-katholische Wahlallianz ablehnten, von der sie jedoch auch profitiert hatten.107 Aber war dies der Beweis, dass sozialer Liberalismus trotz aller Widersprüche der Methodik und Strategie doch das Grundprinzip des ‚Systems Giolitti‘ gewesen war? Reichte ihm die konservative, klerikal-liberale Mehrheit, die er immer noch hatte, doch nicht zur Fortsetzung dieser Politik aus?

5. Resümee Unzählige weitere Aspekte der ‚Ära Giolitti‘ konnten in dieser Betrachtung nicht berücksichtigt werden. Wir haben einige nach unserer Ansicht entschei103 Labanca, Oltremare, S. 112 f.; Mola, Giolitti, S. 337–339. 104 Labanca, Oltremare, S. 117–119. 105 Zitiert in: Mola, Giolitti, S. 336 (aus einem Brief Giolittis an seine Frau Rosa, 22. Februar 1912). 106 Ebd., S. 335. 107 Orsina, Senza chiesa ne classe, S. 262–265.

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dende Momente und die wichtigsten politisch-gesellschaftlichen Tendenzen jener Zeit hervorzuheben und die Funktion eines sozialen Liberalismus zwischen diesen nachzuzeichnen versucht. Giolitti hatte die Ideologie aus der Politik verbannen und, wie es Benedetto Croce später formulieren sollte, eine ‚Religion der Freiheit‘ über alle politischen und ethischen Doktrinen errichten wollen, die sich darin in friedlichem Wettstreit messen konnten; ein Projekt für das 20. Jahrhundert. Anstatt dessen aber geriet seine Ära – nicht der Faschismus, wie Croce glaubte – zu einem Intermezzo in 150 Jahren nationaler Einheit. Ein Moment, in dem der Staat nicht selbst Partei war wie unter Depretis und Crispi oder später Mussolini, der Christdemokratie und Berlusconi, sondern sich jeder Parteinahme grundsätzlich enthielt. Im Hinblick auf eine Vollendung des Risorgimento war für Giolitti der rationale Existenzsinn der liberalen Institutionen und der Monarchie die Integration aller in der Bevölkerung existierenden sozialen Gruppen unter einem Schirm von Recht und Ordnung und einem Verwaltungsapparat, der eine friedliche Aushandlung von Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen gewährleisten konnte. In letzter Konsequenz bedeutete dies die Herstellung einer repräsentativen Demokratie, aber erst nachdem alle Bevölkerungsgruppen in einer Art Gesellschaftsvertrag im Hobbes’schen Sinne das Gewaltmonopol des liberalen Staats anerkannt hatten – aus Sicht Giolittis ein Lernprozess, der angesichts der Rückständigkeit Italiens Generationen dauern würde. Die unzufriedene ‚Masse‘ der Arbeiterbewegung stellte zum Erreichen dieses Ziels ein weitaus unwägbareres Hindernis dar als der Katholizismus, weshalb auf diesem Gebiet sozialchirurgische Maßnahmen zur Behebung ökonomischer Benachteiligung notwendig waren. Auf dem Gebiet der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften hatte diese Strategie durchaus Erfolge aufzuweisen. Die insgesamt negative politische Reaktion des PSI aber irritierte Giolitti zunehmend, während sich auf Seiten des Katholizismus spätestens seit 1903 praktisch ohne sein Zutun ein integrativer Grundkonsens, eine Art ‚parallele Konvergenz‘108 einstellte. Dem Scheitern der Initiative der Regierung Zanardelli zur Einführung des Scheidungsrechts 1902 kommt hierbei besondere Bedeutung zu; die Mobilisierung von über drei Millionen Katholiken gegen den Gesetzesvorschlag könnte Giolitti derart beeindruckt haben, dass er fortan in diesen eine weit mächtigere ‚Masse‘ erkannte als

108 Der geometrisch paradoxe Begriff der ‚parallelen Konvergenz’ wurde vermutlich 1959 von Aldo Moro zur Beschreibung des schwierigen Annäherungsprozesses zwischen Christdemokraten und Sozialisten verwendet.

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in der Industriearbeiterschaft. Lag hier die entscheidende Wende der ‚Ära Giolitti‘? Erschwert wird die Erkenntnis über das Verhältnis Giolittis zum Katholizismus durch die Abwesenheit jeglichen Dialogs zwischen ihm und kirchlichen Instanzen oder Aussagen zu seiner Kirchenpolitik. Hatte er den ideologischen Antiklerikalismus stets abgelehnt, was sich schon in seiner ersten Regierung 1892/93 in einer ‚Vernachlässigung‘ der Kirchenpolitik ausgedrückt hatte, so rückte er spätestens seit 1902/03 auch vom traditionellen Laizismus des liberalen Staates ab, in dem er ein weiteres ideologisches Hindernis auf dem Weg der Integration von Staat und Bevölkerung ausmachte. Von da an aber konditionierten zunehmend die kirchlichen Instanzen, wie auch die klerikalgemäßigte destra innerhalb seiner parlamentarischen Mehrheit die sozialreformistischen Initiativen seiner Regierung. Dass sie diese nicht verhinderten, war neben Rerum novarum wohl auch der wirtschaftlichen Dynamik jener Jahre zu verdanken, die die Akzeptanz für eine gemäßigte Sozialgesetzgebung im industriellen und landwirtschaftlichen Besitzbürgertum erhöhte. Das Ziel einer politischen Integration der Arbeiterklasse in den liberalen Staat aber war dadurch mehr denn je kompromittiert. Eine organische Beteiligung von Reformsozialisten an seiner Regierung hätte vielleicht 1903 noch eine Schwächung der revolutionären Kräfte erreichen können; 1911 war sie in dieser Hinsicht irrelevant geworden. Die massimalisti hatten längst die Hegemonie über die Arbeiterbewegung erlangt. Mit der Regierungsbeteiligung der Radikalen hingegen neutralisierte Giolitti ein weiteres ideologisches Konfliktpotential und gleichzeitig seinen wichtigsten Konkurrenten um die Führerschaft eines sozialen Liberalismus. Die lang gehegte Mission, als Scharnierpartei zwischen sinistra costituzionale, PRI und PSI eine sozial-liberale Regierung zu führen, gaben die Radikalen damit auf und verloren so ihren traditionellen politischen Existenzgrund. Der neuen Demokratie fehlte somit die politische Dialektik, die Giolitti aufgrund einer gänzlich anderen Zeitvorstellung seines politischen Konzepts unterdrückt hatte. Seine Mission war es, die liberale Monarchie durch ein Projekt materieller Modernisierung und sozialer Integration als einzige von allen sozialen und ideologischen Kräften anerkannte Staatsform und Ausdruck nationaler Identität zu legitimieren und über diese zu erheben. Die Liberalen durften also nicht Partei werden. Die ‚Ära Giolitti‘ als ‚liberale Diktatur‘ zu bezeichnen – und als solche zu kritisieren – ist daher nicht ganz unangebracht; eine Diktatur des sozialen Liberalismus, in der Machterhalt die Voraussetzung für sozialen Fortschritt war. Dieser wiederum rechtfertigte diese Macht. Heiligte also der Zweck die Mittel? Ein ausgeglichener Staatshaushalt blieb bis zuletzt die Grundvoraussetzung für Giolittis Politik sozialer Reformen. Die rati-

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onal-pragmatische und materialistische Vision eines positivistischen sozialen Liberalismus, die er von der destra storica Cavours und der piemontesischen Staatsbürokratie ‚geerbt‘ hatte, profitierte jedoch entscheidend vom ideologischen Vakuum nach Adua und der reaktionären Krise am Jahrhundertende. Ohne dieses historische Fenster, in dem die Kultur- und Ideenwelt Italiens für einen Moment still stand und sich neu definieren musste, hätte es das ‚System Giolitti’ in seiner ideologiefreien Form nicht gegeben. Giolitti aber überschätzte die kulturelle Hegemoniewirkung seines Projekts und unterschätzte das ideologische Mobilisierungspotential gegen seine eigene – stets unvollendete und daher polarisierende – Pendelpolitik. Spätestens seit 1909/10 schien er zunehmend und in unterschiedlicher Form von Katholizismus, Nationalismus und Sozialismus instrumentalisiert zu werden, anstatt sie selbst zu kontrollieren. Dass er in seiner letzten Regierungsperiode 1920/21 das Parlament ‚nicht mehr wiedererkannte‘, war nicht nur den politischen Umwälzungen des Ersten Weltkriegs zuzuschreiben, sondern auch dem Scheitern seines Systems in den Jahren davor. Der soziale Liberalismus, von Giolitti vereinnahmt, zerrieb sich zwischen den ideologischen Kräften, aus denen schließlich der Faschismus als vorübergehender, der Katholizismus aber als eigentlicher Sieger für das 20. Jahrhundert hervorging. Eine homogene nationale Identität aber hat auch dieser nicht stiften können; doch dominiert er kulturell noch heute große Teile der Gesellschaft.

STEFAN GRÜNER

Arbeit, Bildung, Alterssicherung Sozialer Liberalismus im Frankreich der Dritten Republik 1870–1914

In der jüngeren historischen Forschung setzt sich in zunehmendem Maße eine Neubewertung jenes Entwicklungspfades durch, der in Frankreich seit dem späten 19. Jahrhundert zur Ausbildung des modernen Sozialstaats führte. Die Revisionsbemühungen zielen auf die Differenzierung und Erweiterung des angestammten Bildes: Ihm zufolge nahm die französische Politik soziale Fragestellungen im europäischen Vergleich erst verspätet in den Blick und zeigte sich über Jahrzehnte hinweg kaum gewillt, aus den Anfängen sozialpolitischer Initiativen ein kohärenteres System zu bilden. Vor allem international systematisierende oder vergleichend argumentierende Arbeiten rückten eine durchmischte Bilanz in den Vordergrund. Sofern im Rahmen eines quantifizierenden Modernisierungsansatzes nach Bedingungsfaktoren sozialstaatlicher Innovationen in Westeuropa gesucht und dabei der Umsetzung des Pflichtversicherungsprinzips große Bedeutung zuerkannt wurde, erschien Frankreich zwangsläufig als „Nachzügler“: Denn obwohl dort bereits 1898 die betriebliche Unfallversicherung eingeführt worden war, nahm diese erst im Jahr 1946 verpflichtenden Charakter an; für die Kranken- und die Rentenversicherung traf dies ab 1910 bzw. 1930 zu. Eine obligatorische Arbeitslosenversicherung wurde in Frankreich sogar erst 1957 ins Leben gerufen.1 Wo im direkten deutsch-französischen Vergleich die Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre als secundum comparationis fungierten, erschien es historiografisch plausibel, der deutschen Seite eine Pionierrolle zuzuschreiben, die Entfaltung der französi-

1 Vgl. hierzu die Ergebnisse des Projekts „Historische Indikatoren der westeuropäischen Demokratien“ (HIWED), das dem Vergleich der sozialpolitischen Modernisierungsprozesse in 13 westeuropäischen Industriestaaten galt: Peter Flora/Jens Alber, Modernization, Democratization, and the Development of Welfare States in Western Europe, in: Peter Flora/Arnold J. Heidenheimer (Hg.), The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick 1981, S. 37–80, bes. S. 59 u. 73; Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a.M. 1982.

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schen Sozialpolitik hingegen als „langsamer und zögerlicher“ zu charakterisieren.2 Dieser Befund fügte sich überdies passend in das ältere Deutungsparadigma von der „blockierten Gesellschaft“ jenseits des Rheins: Soziale Reformmaßnahmen seien über den Verlauf der Dritten Französischen Republik hinweg deshalb so schwer zu realisieren gewesen, weil starke Wirtschaftsinteressen staatliche Interventionsversuche verhinderten, weil die Gewerkschaftsbewegung zu schwach, die Bürgergesellschaft zu passiv und die politischen Institutionen zu träge gewesen seien.3 Da in Frankreich während der international prägenden Konstitutionsphase moderner sozialer Sicherungssysteme zwischen 1880 und 1914 durchwegs liberale Regierungen in der politischen Verantwortung standen, lag es außerdem nahe, aus dem vermeintlichen Rückstand auf „Schwächen“ im sozialpolitischen Engagement der französischen Liberalen zu schließen. Der „nichtexistierende Sozialliberalismus“ nahm in dieser Sichtweise für Frankreich die Bedeutung einer historisch wirkmächtigen Fehlstelle an und konnte als eine der Ursachen für den Niedergang der dortigen liberalen Bewegung seit den 1930er Jahren verstanden werden.4 Demgegenüber haben seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zahlreiche Arbeiten auf die historisch begründete Eigenlogik der französischen Sozialpolitik hingewiesen. Statt deren Entwicklungsgeschichte an den vielzitierten und gut erforschten Beispielsfällen Deutschland, Großbritannien und Schweden zu messen oder gar nach einem „Normalweg“ in die sozialstaatliche Moderne zu fragen, betonen sie die nationale Diversität. Die für Frankreich zweifellos charakteristische Dominanz von freiwilligen Zusammenschlüssen, Hilfskassen und öffentlicher Fürsorge gegenüber dem Prinzip der Pflichtversicherung erscheint so als Ausdruck eines Eigenweges, dessen Wurzeln in den sozialökonomischen Gegebenheiten und politischen Mentalitäten ebenso zu suchen sind wie in weit zurückreichenden sozialphilosophischen oder arbeitsrechtlichen Traditionen.5 2 Allan Mitchell, The Divided Path. The German Influence on Social Reform in France after 1870, Chapel Hill 1991, S. 45 (Zitat). 3 So die Deutung bei Stanley Hoffmann, Paradoxes de la communauté politique française, in: Ders., Sur la France, Paris 1976, S. 33–165. Eine erste Version des Essays erschien im Jahr 1963. 4 Roland Höhne/Ingo Kolboom, Sozialliberalismus in Frankreich, in: Karl Holl u.a. (Hg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 149–170 (Zitate: S. 153). 5 Vgl. hierzu die Forschungsberichte von Philip Nord, The Welfare State in France, 1870–1914, in: French Historical Studies 18/3 (1994), S. 821–838 und Sandrine Kott, Vers une historiographie européenne de l’Etat social? Recherches récentes sur les cas français et allemand au XIXe siècle, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 445– 456. Siehe auch die jüngeren Gesamtdarstellungen: Judith Stone, The Search for Social

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Auf der Grundlage dieser jüngeren Forschungsergebnisse möchte der vorliegende Beitrag den Einfluss liberaler Politikkonzepte und liberalen Handelns auf die entstehende Sozialpolitik der frühen Dritten Republik näher in den Blick nehmen. Dazu werden im folgenden zunächst die politische Signatur des französischen Liberalismus um 1900 sowie einige Grundzüge seines sozialpolitischen Engagements vor 1914 zu beleuchten sein. Anhand der drei ausgewählten Politikfelder Bildung, Arbeiterpolitik und Alterssicherung kann wichtigen Aktionsfeldern des sozial orientierten Liberalismus exemplarisch nachgespürt werden, bevor ein Fazit die wichtigsten Beobachtungen zusammenfasst.

1. Liberalismus in Frankreich um 1900 Anders als zur gleichen Zeit im Deutschen Reich und in Preußen agierte der Liberalismus in Frankreich um 1900 als „regierende Partei“. An der Wende zum 20. Jahrhundert hatte der französische Liberalismus die wohl wichtigste Transformationsphase seiner Geschichte jüngst hinter sich gebracht: Die Träger der liberalen Opposition des Zweiten Kaiserreichs waren im Zuge der Kriegsniederlage und der Gründung der Dritten Republik 1870 an die Macht gelangt. Im Verlauf des folgenden Konsolidierungsprozesses hatte sich die überkommene „doppelte Frontstellung“ der französischen Liberalen

Peace. Reform Legislation in France 1890–1914, New York 1985; François Ewald, L’État-providence, Paris 1986; Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt a.M. 1989, S. 271–282; Mitchell, Divided Path; Sabine Rudischhauser, Comment ne pas être allemand – Frankreichs Weg zum Sozialstaat, in: Otto Büsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 137–184; aus soziologischer Perspektive: Colette Bec, Assistance et République. La recherche d’un nouveau contrat social sous la IIIe République, Paris 1994; dies., L’Assistance en démocratie. Les politiques assistantielles dans la France des XIXe et XXe siècles, Paris 1998; Yannick Marec, Vers une République sociale? Un itinéraire d’historien. Culture politique, patrimoine et protection sociale aux XIXe et XXe siècles, Rouen 2009. Für die Phase seit dem Ersten Weltkrieg auch: Paul V. Dutton, Origins of the French Welfare State. The Struggle for Social Reform in France 1914–1947, Cambridge 2002. Als ältere, nicht unproblematische, doch immer noch nützliche Gesamtschau aus der Feder eines Soziologen sei genannt: Henri Hatzfeld, Du paupérisme à la Sécurité sociale 1850–1914, Paris 1971. Als abgewogene, gegenwartsbezogene Gesamteinschätzung: Ingo Bode, Solidarität im Vorsorgestaat. Der französische Weg sozialer Sicherung und Gesundheitsversorgung, Frankfurt a.M. 1999.

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neu akzentuiert.6 Traditionell standen diese seit dem frühen 19. Jahrhundert einerseits für die Sicherung freiheitlicher Werte gegen reaktionäre Tendenzen, andererseits aber auch für die Eindämmung weiterreichender revolutionärer Begehrlichkeiten. Die Erfahrung des Aufstands der Pariser Commune von 1871 ließ daher große Teile der regierenden Liberalen nach rechts rücken. Unter diesen Vorzeichen konnte sich in den 1870er und 1880er Jahren die parlamentarische Republik in Frankreich fest etablieren. Im Zuge einer konstitutionellen Krise wehrte das Parlament im Jahr 1877 erfolgreich den in den Verfassungsgesetzen eigentlich angelegten Gebrauch starker präsidialer Prärogativen ab und leitete so die konsequente Parlamentarisierung des politischen Systems ein. Günstige Wahlergebnisse, die den Republikanern bis gegen Ende der 1870er Jahre Mehrheiten in Abgeordnetenkammer und Senat verschafften, sowie eine antimonarchistische Personalpolitik im öffentlichen Dienst trugen dazu bei, die republikanische Staatsform bis spätestens nach dem Scheitern der populistischen Massenbewegung um General Boulanger im Jahr 1889 dauerhaft zu verankern. Um 1900 existierten innerhalb des dominierenden republikanisch-liberalen Lagers zwei in sich wiederum uneinheitliche Hauptströmungen. Auf der rechten Seite standen jene Kräfte, die im Verlauf ihrer Geschichte als „Opportunistes“, als „Progressistes“ oder auch als „Modérés“ bezeichnet wurden. Es handelte sich im wesentlichen um Politiker, die in der Nachfolge liberal-konservativer Tendenzen des 19. Jahrhunderts standen, um „bekehrte“ ehemalige Monarchisten sowie um Katholiken, die sich von ihren Vorbehalten gegen die Republik gelöst hatten. Die soziale Basis dieser liberalen Strömung war breit und divers. Sie umfasste das kleine und mittlere städtische und ländliche Bürgertum, insbesondere Vertreter von Handwerk, Handel und Gewerbe, Angehörige freier Berufe und des neuen Mittelstands sowie Lehrer und Beamte. In dem Maße, in dem die „modérés“ sich als Garanten politischer Stabilität und des Privateigentums erwiesen, konnten sie zudem auf Zuspruch 6 Hierzu und zum folgenden: Jean-Marie Mayeur, Les débuts de la Troisième République 1871–1898, Paris 1973; ders., La vie politique sous la Troisième République 1870–1940, Paris 1984; Stefan Grüner, Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Horst Möller/Manfred Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40, München 2002, S. 219– 249; Klaus-Peter Sick, Vom Opportunisme zum Libéralisme autoritaire. Die Krise des französischen Liberalismus im demokratisierten Parlamentarismus 1885–1940, in: Geschichte und Gesellschaft 29/1 (2003), S. 66–104; Thomas Raithel, Liberalismus in Frankreich um 1890, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 163–176 (Zitat: S. 164).

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in Unternehmerkreisen rechnen. Bis zu den Parlamentswahlen von 1902 stellten die „Modérés“, die sich im Jahr zuvor mehrheitlich in der „Alliance Républicaine Démocratique“ zusammengefunden hatten, die stärkste politische Kraft in der Chambre des Députés und dominierten die Regierungen. Zu den prägenden politischen Gestalten zählten unter anderem Léon Gambetta, Jules Grévy, Jules Ferry oder Pierre Waldeck-Rousseau.7 Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert wurden die Opportunistes in der Machtausübung auf nationaler Ebene vom linken Flügel des republikanischen Lagers abgelöst. Die sogenannten „Radicaux“ gruppierten sich nach den Parlamentswahlen von 1876 als linksliberale Kraft, die sich gezielt von den „Républicains de gouvernement“ abgrenzte und ihre politische Identität stärker noch aus den sozialrevolutionären und direktdemokratischen Traditionslinien seit der Revolutionszeit schöpfte. In ihren Wurzeln bis in die republikanische Bewegung der 1840er Jahre zurückreichend, besaßen die Radicaux ihre Basis ebenfalls im städtischen wie im ländlichen Frankreich. Dort konnten sie auf weite Teile des mittelständisch-kleinbürgerlichen und bäuerlichen Milieus bauen; auch Teile der Arbeiterschaft, des Handwerks und der kleinen Gewerbetreibenden, vielfach die lokale Honoratiorenschicht gehörten zu ihren Anhängern.8 Wie die Opportunistes bezogen sich die Radicaux politisch auf die Errungenschaften der Französischen Revolution, strebten nach der Umsetzung von liberalen Grundrechten und verknüpften das Ziel der Herstellung eines laizistischen Staatswesens mit ausgeprägtem Misstrauen gegenüber jeglichem Einfluss der katholischen Kirche. Zum Bestand gemeinsamer Grundpositionen zählte um 1900 überdies das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie, zu dem sich zahlreiche Liberale beider Lager freilich erst im Verlauf der Frühgeschichte der Dritten Republik hatten durchringen können. Während sich viele Modérés nicht vor Mitte der 1870er Jahre vom Idealbild der parlamentarischen Monarchie lösten, wandte sich die Mehrheit der Radicaux erst nach dem Niedergang der populistischen Boulanger-Bewegung vom Streben nach Integration basisdemokratischer Elemente in das politische System Frankreichs ab. Die Abschaffung des Senats und des Amts des Staatspräsidenten sowie die Einführung des imperativen Abgeordnetenmandats traten als Elemente eines politischen Alternativkonzepts der Radicaux allmählich zurück. Diese verfas7 Pierre Lévêque, Histoire des forces politiques en France 1880–1940. Bd. 2, Paris 1994, S. 13 f. Die konservative „Fédération républicaine“ wird in meiner Deutung nicht mehr dem liberalen Spektrum zugerechnet; vgl. dazu William D. Irvine, French Conservatism in Crisis. The Republican Federation of France in the 1930s, Baton Rouge 1979. 8 Lévêque, Histoire, S. 69 u. 81 f.

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sungspolitische Annäherung beider liberaler Strömungen lässt es plausibel erscheinen, die in der Forschung umstrittene Frage nach der Zugehörigkeit der Radicaux zum liberalen Spektrum für die Zeit ab den 1890er Jahren zu bejahen.9 Im Jahr 1901 schlossen sich die Sympathisanten dieser politischen Richtung zum „Parti Républicain Radical et Radical-socialiste“ zusammen. Bis 1914 blieben die Radicaux die stärkste Gruppierung in der Kammer der Abgeordneten, prägten ab Beginn des 20. Jahrhunderts die Regierungspolitik und stellten einen Gutteil der politischen Funktionselite des Landes. Zu den profiliertesten Vertretern gehörten im Betrachtungszeitraum unter anderem Léon Bourgeois, Georges Clemenceau und Emile Combes.10 Die Haltung dieser liberalen Gruppen im Hinblick auf sozialpolitische Fragen ist – wie im übrigen auch in bezug auf andere Politikfelder – nur annäherungsweise zu bestimmen: Zu sehr achteten Politiker dieser Provenienz auf ihre persönliche Meinungsfreiheit, zu wenig akzeptierten sie die Bindekraft von Parteiprogrammen und allzu stark konnten erfahrungsgemäß politische Absichtserklärungen vom politischen Handeln abweichen. Wesentliche Grundlinien lassen sich gleichwohl benennen.

2. Liberalismus und Sozialpolitik in Frankreich vor 1914 Es deutete sich in der Bestandsaufnahme des vorangegangenen Abschnitts bereits an: Liberale Politiker agierten in der Gründungs- und Konsolidierungsphase der Dritten Republik vor dem Ersten Weltkrieg als Träger eines Fortschrittsversprechens, dem neben der politischen auch eine sozialökonomische Dimension zu eigen war. In den neuen politischen Führungszirkeln dominierte die Vorstellung, wonach dem jungen Staatswesen die Chance und die Aufgabe gleichermaßen zuwuchs, als Vollender der Ziele von Aufklärung und „Großer Revolution“ zu fungieren. Man berief sich öffentlichkeitswirksam auf die politische und soziale Emanzipation des einzelnen, die Reformierbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Zeichen der Vernunft, den überragenden Stellenwert von Bildung und Wissenschaft oder auch die Mission Frankreichs zur Förderung des Fortschrittsparadigmas in der Welt. Der universale Anspruch verdichtete sich bis um 1900 zu einem konkreteren Kernbestand 9 Hierzu und mit Verweisen auf die widerstreitenden Forschungspositionen eingehend: Raithel, Liberalismus, S. 166–173. 10 Jean-Thomas Nordmann, Histoire des radicaux 1820–1973, Paris 1974; Serge Berstein, Histoire du Parti Radical. 2 Bde., Paris 1980; Daniel Mollenhauer, Auf der Suche nach der „wahren Republik“. Die französischen „radicaux“ in der frühen Dritten Republik (1870–1890), Bonn 1997.

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von Elementen, die sich als Bestandteile einer politischen Kultur der Republik begreifen lassen: Über die „bloße“ Staatsform hinaus umfasste diese unter anderem die Verheißung von Rechtsgleichheit, Demokratie und Laizität des Staates, das Versprechen sozialer Gerechtigkeit und den dauerhaften Vorrang der Volksvertretung im Zusammenspiel der politischen Institutionen.11 Darüber hinaus lag eine sozialpolitische Dimension liberaler Politik in dem weithin konsensfähigen Idealbild einer Demokratie der kleinen Eigentümer: Darin sollte es künftig breiten Schichten möglich sein, aus der Lohnabhängigkeit zur Selbständigkeit aufzusteigen. Der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft führte in dieser Sichtweise über die Ausweitung der Zahl unabhängig wirtschaftender Bauern, Handwerker und Unternehmer. Zweifellos extrapolierte dieses politische Leitbild die Gegebenheiten innerhalb der stark mittelständisch-kleinbetrieblich organisierten Wirtschaft Frankreichs und repräsentierte in besonderem Maße die Ansprüche einer liberalen Klientel. Konzeptionelle Unterschiede zwischen den liberalen Strömungen lagen im wesentlichen in dem Maß an Staatstätigkeit, das politisch als akzeptabel erachtet wurde. In den Reihen der Opportunistes dominierte die Vorstellung eines nicht-interventionistischen Vorgehens. Sozialer Fortschritt war hier zweifellos mehr als eine bloße Devise, aber er sollte sich in erster Linie durch die Förderung von Eigeninitiative und Eigenverantwortung vollziehen. Die Eröffnung besserer Bildungschancen durch den Ausbau des Erziehungswesens und die Bereitstellung günstigen Gründerkapitals für Kleinunternehmer standen daher im Zentrum dieses republikanischen Politikkonzepts. Zur Absicherung sozialer Risiken, denen sich der einzelne Bürger ausgesetzt sah, baute man vornehmlich auf das Prinzip freier Selbstorganisation, förderte das Genossenschaftsprinzip und favorisierte den Ausbau von gemeinschaftlich finanzierten Hilfskassen, den sogenannten „Sociétés de secours mutuels“.12 Demgegenüber setzten die Radicaux bereits in den Anfangsjahren der Dritten Republik deutlich stärker auf den interventionistischen Staat. Sie taten sich zunächst schwer, in Abgrenzung von der entstehenden sozialistischen Arbeiterbewegung zu eigenständigen Antworten auf die in den frühen 1880er Jahren mehr denn je drängende soziale Frage zu finden. Im Zuge der bereits 11 Serge Berstein, La culture républicaine dans la première moitié du XXe siècle, in: Ders./ Rudelle (Hg.), Modèle républicain, S. 159–171; ders., Le modèle républicain: une culture politique syncrétique, in: Ders. (Hg.), Les cultures politiques en France, Paris 1999, S. 113–143. 12 Hierzu und zum folgenden: Rudischhauser, Comment ne pas être allemand, S. 140–167; Ewald, L’État-providence; ders., La politique sociale des opportunistes 1879–1885, in: Serge Berstein/Odile Rudelle (Hg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 173–187; Serge Berstein, La politique sociale des Républicains, in: ebd., S. 189–208, bes. S. 191 f.

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beschriebenen Annäherung der Radicaux an die liberal-konservative Republik verfestigte sich in ihren Reihen bis zur Jahrhundertwende eine sozialpolitische Doktrin, die sich sowohl von der Ideologie des Klassenkampfs als auch von orthodox liberalen Positionen abgrenzen sollte. Erkennbar war darin das Anliegen, die anonymen Kräfte des Marktes effektiv einzuhegen und den „kleinen Mann“ vor der schrankenlosen Macht des Großkapitals zu schützen. Entsprechend nahm man weitergehende Ziele in die eigene Programmatik auf, darunter die Verstaatlichung von Bergbau- und Eisenbahnbetrieben oder den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung und des Schlichtungswesens. Das Ideal des Zugangs zu Besitz und Selbständigkeit teilte man mit den Opportunistes. Die Einführung der progressiven Einkommensteuer sollte dem Staat die Mittel zur Finanzierung erhöhter Staatstätigkeit unter anderem auf dem Feld der Sozialpolitik verschaffen und zugleich eine kontrollierte Umschichtung des Nationaleinkommens anbahnen.13 Anders als die Rechtsliberalen besaßen die Radicaux zudem eine wissenschaftlich fundierte Sozialdoktrin. Diese hatte unter dem Leitbegriff des „Solidarismus“ in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts konsistentere gedankliche Form und schließlich bis um 1900 die Qualität eines in der Öffentlichkeit diskutierten sozialpolitischen Reformprogramms angenommen. Als theoretischer Kopf und zugleich wichtigste Kraft der praktischen Umsetzung fungierte der Jurist, Verwaltungsbeamte, radikaldemokratische Abgeordnete und mehrfache Minister Léon Bourgeois (1851–1925). In mehreren Aufsätzen und der Buchpublikation „Solidarité“ (1896) hatte er seine Ideen seit 1895 ausformuliert; bis 1914 erlebte sein Hauptwerk nicht weniger als acht zunehmend erweiterte Auflagen. Die Aufmerksamkeit, die seine Arbeiten rasch erweckten, dokumentiert die intellektuelle Anziehungskraft der vorgetragenen Ideen; sie geht aber wohl auch auf die Tatsache zurück, dass Bourgeois zum Zeitpunkt seiner frühen Schriften nicht zum erstenmal ein öffentliches Amt innehatte. Seit 1882 nacheinander Präfekt der Départements Tarn und Haute-Garonne, war er 1887 für kurze Zeit Polizeipräfekt von Paris gewesen und hatte in den Jahren darauf den Posten eines Staatssekretärs im Innenministerium sowie das Amt des Erziehungs- und Justizministers übernommen. Als Ministerpräsident leitete er 1895/96 das erste nur aus Radicaux bestehende Kabinett und wandte sich nach seinem Rücktritt vermehrt der internationalen Politik zu. So fungierte er unter anderem als Leiter der französischen Delegation bei den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907. 13 Rudischhauser, Comment ne pas être allemand, S. 167–169; Berstein, Politique sociale des Républicains, S. 192–195; ders., Histoire du parti radical I, S. 23–41; Mollenhauer, Auf der Suche, S. 251–307.

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Zahlreiche weitere Ministerämter und die Präsidentschaft des französischen Senats bereicherten seine Laufbahn, die den engagierten Friedenspolitiker im Jahr 1920 an die Spitze des Völkerbundsrates führte und ihm den Friedensnobelpreis einbrachte.14 Kernelement des sozialphilosophischen Denkens von Bourgeois war die Vorstellung von der Interdependenz der Individuen. Jedes Mitglied einer gegebenen Gesellschaft stehe zeit seines Lebens in einer komplexen Abhängigkeitsbeziehung zu anderen, aus der die Verpflichtung erwachse, die unweigerlich eingegangene Schuld nach Kräften zugunsten der übrigen Gemeinschaftsmitglieder auszugleichen. In der Sicht Bourgeois’ war dieses Konzept geeignet, sowohl den christlichen Wohltätigkeitsgedanken als auch den republikanischen Schlüsselbegriff der „Brüderlichkeit“ mit präziserem Inhalt zu versehen: Denn aus der Realität des historisch erwachsenen „Assoziationsvertrags“ zwischen den Individuen ergebe sich die rechtlich begründbare Aufgabe der „sozialen Solidarität“. Solange die Bilanz zwischen Geben und Nehmen innerhalb der Gesellschaft nicht ausgeglichen war, hatte der Staat das Recht und die Pflicht zur Intervention, ohne sich damit unzulässiger Eingriffe in persönliche Freiheitsrechte schuldig zu machen. Staatliche Anstrengungen zur sozialen Reform stellten sich daher als legitime Ansätze zur Umverteilung von Wohlstand und zur Verbesserung individueller Entfaltungschancen dar. Zu sozialistischen Gesellschaftsmodellen ging der „Solidarismus“ indes auf Distanz, präsentierte sich geradezu als Gegenentwurf: Solidarität statt Klassenkampf, ein lediglich korrigierend eingreifender Staat und das Bekenntnis zum Privateigentum – das waren zentrale Prinzipien dieses sozialphilosophischen Konzepts.15 Bourgeois erhob nicht den Anspruch, ein dem Marxschen Gedankengebäude konkurrierendes System zu entwerfen. Er hatte sich vorgenommen, Ideen zu 14 Bislang existiert keine umfassende, quellengestützte Biographie Bourgeois’. Vgl. daher unter anderem: Jules Balteau u.a. (Hg.), Dictionnaire de biographie française, Bd. 6, Paris 1954, Sp. 1475 f.; Alexandre Niess/Maurice Vaïsse (Hg.), Léon Bourgeois. Du solidarisme à la Société des Nations, Langres 2006. 15 Léon Bourgeois, Solidarité, 8. Aufl. Paris 1914, S. 64 u. 72 (Zitate); ders., L’idée de solidarité et ses conséquences sociales, in: Ders./Alfred Croiset (Hg.), Essai d’une philosophie de la solidarité, Paris 1902, S. 1–119. Zur Kontextualisierung des Bourgeoisschen Werkes: Jack Hayward, Solidarity: The Social History of an Idea in NineteenthCentury France, in: International Review of Social History 4 (1959), S. 261–284; ders., The Official Social Philosophy of the French Third Republic: Léon Bourgeois and Solidarism, in: International Review of Social History 6 (1961), S. 19–48; Berstein, Histoire du parti radical I, S. 35–37; Christian Gülich, Die Durkheim-Schule und der französische Solidarismus, Wiesbaden 1991; Serge Berstein, Léon Bourgeois et le solidarisme, in: Niess/Vaïsse (Hg.), Léon Bourgeois, S. 7–16.

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bündeln, die nach seiner Beobachtung in der zeitgenössischen Philosophie, in den Wirtschafts- und den entstehenden Sozialwissenschaften Frankreichs bereits verbreitet vorzufinden waren.16 Eine umfassende Theorie der „sozialen Demokratie“17 legte er nicht vor. Ob der „Solidarismus“ bis nach der Jahrhundertwende tatsächlich zur „offiziellen Sozialphilosophie“ der Dritten Republik aufstieg, wie der Soziologe Bouglé in einer zeitgenössischen Würdigung behauptet, darf ebenfalls bezweifelt werden. Spätestens mit dem Tod Bourgeois’ im Jahr 1925 geriet auch dessen gesellschaftspolitische Konzeption weitgehend in Vergessenheit. Immerhin aber verschaffte er der radikalen Bewegung am Vorabend ihrer parteipolitischen Einigung ein gemeinsames sozialtheoretisches Bezugssystem, das imstande war, die etablierten Grundannahmen allgemein politischer Art zu ergänzen. Bourgeois’ „Solidarismus“ dokumentiert überdies eine verbreitete Grundüberzeugung, aus der das sozialpolitische Engagement französischer Radicaux um die Jahrhundertwende herzuleiten ist: die Auffassung, wonach soziale Antagonismen moderner Industriegesellschaften überbrückt werden konnten und dass das Prinzip der Solidarität es wert war, als ein Ziel des menschlichen Zivilisationsprozesses angesteuert zu werden.18

2.1. Emanzipation durch Bildung: Grundzüge liberaler Schulpolitik vor 1914 Bis in die frühen 1880er Jahre hatte die voranschreitende politische Konsolidierung der Republik ihren Ausdruck auf mehreren weiteren Ebenen gefunden. Parallel zur personellen Säuberung der Armee, der Präfekturen und des diplomatischen Apparats hatten rechtsliberale Regierungen bürgerliche Grundrechte erweitert und die Zerklüftungen der Bürgerkriegszeit zu schließen versucht. So war 1881 die Presse- und Versammlungsfreiheit, drei Jahre später die Vereinigungsfreiheit hinsichtlich berufsbezogener, nicht-politischer Vereinigungen („associations professionnelles“) eingeführt worden; ebenfalls 1884 hatten alle französischen Kommunen mit Ausnahme von Paris das Recht erhalten, den eigenen Bürgermeister per Wahlakt zu bestimmen. Mit der Rückkehr des Parlaments von Versailles nach Paris (1879) und dem Erlass einer lange umstrittenen Amnestie für die Teilnehmer des KommuneAufstands (1880) sollte die Bürgerkriegszeit ein offenkundiges Ende finden. 16 Bourgeois, Solidarité, S. 3–7. 17 Thomas Meyer, Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005. 18 Célestin Bouglé, Le solidarisme, Paris 1907, S. 1 (Zitat); Gülich, Durkheim-Schule, S. 98–115; Hatzfeld, Du paupérisme, S. 277 f.

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Darüber hinaus hatten die regierenden Republikaner die Aufgabe in Angriff genommen, die Durchsetzung der neuen Staatsform auch in Gestalt eines kulturpolitischen Projekts voranzutreiben. Die Einführung der weithin konsensfähigen Trikolore und der kontrovers diskutierten Marseillaise als offizielle Staatssymbole im Jahr 1879 stand ebenso wie der neue Nationalfeiertag (1880) für das Bestreben, zentrale Sinnbilder der Revolutionszeit zu Symbolen der Republik schlechthin umzudeuten und auf diese Weise neue, republikanisch imprägnierte nationale Identität zu stiften. Dass es dabei mit gesetzgeberischer Tätigkeit nicht getan war, dass die Verankerung der Republik insbesondere in den konservativ geprägten ländlichen Regionen Frankreichs nur über einen längeren Zeitraum hin zu erreichen war, unterlag freilich kaum einem Zweifel.19 Der Schulpolitik wuchs bei der kulturpolitischen Erschließung des Landes eine Schlüsselfunktion zu. Bildung und Erziehung nahmen auch in den sozialpolitischen Anstrengungen der Opportunistes wie der Radicaux eine zentrale Stellung ein. Insbesondere die Gestaltung des Primarschulwesens stand am Schnittpunkt mehrerer Reformvorhaben: Kostenlose, verpflichtende und laizistische Schulausbildung zumindest der ersten Stufe sollte künftig für alle jungen Franzosen die Regel sein.20 Dabei ging es republikanischen Politikern wie Jules Ferry erstens um die Ausschaltung der Kirche aus dem Bildungswesen, um die Verdrängung vormoderner Weltanschauungen und die Herausbildung vernunftorientierter Persönlichkeiten. Weltanschaulich neutral war dieses Bildungskonzept aber nur dem Anspruch nach. Denn es zielte zweitens auf die republikanische Integration auch und gerade jener Landesteile, die strukturpolitisch noch kaum erschlossen waren. Wo der landesweit geregelte Unterricht einerseits den republikanischen Wertekanon im kollektiven Bewusstsein der Bürger verankern sollte, kam ihm andererseits die Aufgabe zu, bislang unerschlossene Bildungsreserven zugunsten des jungen Staatswesens zu mobilisieren. Der Übergang des Landes in eine Phase beschleunigter Industrialisierung während der beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts versah diese Problematik mit besonderer Dringlichkeit. Daneben stand drittens die im engeren Sinne sozialpolitische Aufgabe: Kostenlose Schulbildung für jedermann war geeignet, so die allgemeine Überzeugung der Republikaner, alte Schichtengrenzen abzubauen, mehr Gleichheit unter den 19 Mayeur, Débuts de la IIIe République, S. 108–110; Jens Ivo Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870–1940), Köln 2007, S. 62–74; Jean Touchard, La gauche en France depuis 1900, 2. Aufl. Paris 1981, S. 29–32. 20 Vgl. dazu etwa die schulpolitischen Abschnitte des „Programme de Belleville“ der Radicaux von 1869 (Jacques Kayser, Les grandes batailles du radicalisme, Paris 1962, S. 318).

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Franzosen zu schaffen und die soziale Mobilität der Würdigen zu fördern. Der Zugang zu höherer Bildung sollte freilich einer Elite vorbehalten bleiben, die nicht mehr nach Herkunft oder Besitz, sondern nach Leistungsfähigkeit und -bereitschaft zu bestimmen war. Ein gut ausgebautes Stipendienwesen und das allgegenwärtige Prinzip der „concours“ standen daher für zwei Seiten eines auf gleiche Entwicklungschancen und meritokratische Elitenbildung gleichermaßen gerichteten Gesellschaftsideals, das die liberale Bildungspolitik prägte.21 Getragen von den nötigen republikanischen Kammermehrheiten wurden die wesentlichen Reformen zwischen 1879 und 1886 in vorsichtigen Einzelschritten gegen Widerstände vor allem im Senat eingeleitet. Zur Durchsetzung der laizistischen „École primaire“ legte der Gesetzgeber unter anderem die Schulpflicht für alle Kinder zwischen 6 und 13 Jahren fest und verpflichtete Gemeinden, die über mindestens 20 Kinder im entsprechenden Alter verfügten, auf den Bau einer eigenen Schule. Um die weltanschauliche Neutralität des Unterrichts zu gewährleisten, wurden religiöse Bezüge aus den Lehrplänen entfernt; Religionsunterricht durfte nurmehr außerhalb der staatlichen Unterrichtsgebäude erteilt werden. Zug um Zug wurde außerdem katholischen Orden die rechtliche Basis entzogen, weiterhin am öffentlichen und privaten Schulwesen mitzuwirken. Zum Ausgleich organisierte man die staatliche Lehrerausbildung landesweit über die systematische Gründung von „Écoles normales“ und versah sie mit national einheitlichen Laufbahnregelungen. So kam es im Ergebnis zwischen 1876 und 1907 zu deutlich mehr als einer Verdoppelung des weltlichen Lehrpersonals auf über 150.000 Personen. Die Zahl der öffentlichen und privaten Grundschulen stieg in ganz Frankreich im gleichen Zeitraum um über 12 % auf etwas mehr als 80.000 an, wobei der Anteil kirchlich geführter Einrichtungen von knapp 28 % auf kaum mehr als 2 % zurückging.22 Zur Finanzierung dieses hoch ambitionierten Bildungsprogramms erweiterte das Parlament den Etat des Erziehungsressorts bis 1900 auf etwa 200 Millionen Francs, was über den Zeitraum der zurückliegenden 30 Jahre hinweg mehr als einer Versechsfachung gleichkam. 21 Vgl. hierzu und zum folgenden: Antoine Prost, Histoire de l’enseignement en France 1800–1967, Paris 1968; Mona Ozouf, L’école, l’église et la république 1871–1914, Paris 1992; Maurice Crubellier, L’école républicaine: 1870–1940. Esquisse d’une histoire culturelle, Paris 1993; Sanford Elwitt, The Making of the Third Republic. Class and Politics in France 1868–1884, Baton Rouge 1975, S. 170–229; Françoise Mayeur, Histoire générale de l’enseignement et de l’éducation en France, Bd. 3: De la Révolution à l’École républicaine (1789–1930), Paris 2004, S. 581–682. 22 Berechnet auf der Grundlage der statistischen Angaben bei Ozouf, L’école, S. 233 f.

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Jenseits aller Details in der praktischen Umsetzung, die hier nicht annähernd wiedergegeben werden können, stellt sich die Frage, in welchem Umfang das so geschaffene republikanische Schulsystem den selbstgesteckten Zielen nahekam. Bemisst man den Erfolg am Grad der erreichten Laisierung, dann zeigen sich klare Grenzen des Durchsetzbaren. Zwar schaffte man es, den katholischen Einfluss im Hochschulwesen weitgehend auszuschalten, doch blieben Konfessionsschulen nach wie vor ein nennenswerter Teil des Bildungswesens. Obwohl unter Gewährung längerer Übergangsfristen aus dem öffentlichen Schulsektor verdrängt, behielten die Kongregationen zunächst die Möglichkeit, private Einrichtungen zu unterhalten. So ging die Zahl kirchlicher Privatschulen zwischen 1876 und 1907 zwar um fast 80 % auf nurmehr 1399 zurück, doch wurden selbst zu diesem Zeitpunkt landesweit immer noch fast 230.000 Schüler in kirchlich getragenen Schulen unterrichtet. Vor allem das höhere Privatschulwesen blieb eine Domäne katholischer Träger und erfreute sich in bürgerlichen, wohlhabenden Kreisen besonderer Wertschätzung.23 Zweifellos gelang es, den Grad der Alphabetisierung im Land voranzutreiben: Waren es im Jahr 1872 noch 434 von 1000 Franzosen, die nicht lesen oder schreiben konnten, so sank dieser Anteil bis 1901 auf 194, bis 1911 sogar auf 112 Personen.24 Im internationalen Vergleich stand Frankreich damit hinter Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland, doch noch vor Belgien, Italien, Spanien und Portugal.25 Die Einführung der laizistisch geprägten höheren Mädchenbildung stellte eine veritable Innovation der Dritten Republik dar. Eine flächendeckende Durchsetzung der Schulpflicht gelang allerdings bis in die 1930er Jahre nicht. Zudem blieb höhere Bildung noch über geraume Zeit hinweg vor allem Kindern bürgerlicher Herkunft zugänglich. Zwar vervierfachte sich die Zahl der Hochschulstudierenden zwischen 1875 und 1908 bis auf annähernd 40.000.26 Doch nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Kostenfreiheit im „enseignement secondaire“ erst 1931 realisiert wurde, blieb die Zahl der Gymnasiasten zwischen 1880 und 1930 nahezu unverän23 Vgl. die Zahlenangaben bei Ozouf, L’école, S. 233 f. 24 Ozouf, L’école, S. 220 f.; François Furet/Mona Ozouf, Lire et écrire. L’alphabétisation des Français de Calvin à Jules Ferry. 2 Bde., Paris 1977. 25 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl. München 2010, S. 1118 f. 26 Zur Geschichte der französischen Hochschulen in der Neuzeit, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann: Christophe Charle, La République des universitaires 1870–1940, Paris 1994; André Tuilier, Histoire de l’Université de Paris et de la Sorbonne, Paris 1994; Walter Rüegg, Geschichte der Universität in Europa. Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800–1945), München 2004.

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dert gering. Die verfügbaren Statistiken zeigen, dass die auf solche Weise geschaffenen Engstellen im Bildungssystem schichtenspezifische Prägekraft aufwiesen, die auch durch das existierende Stipendiensystem nicht kompensiert wurde. Im Beispielsjahr 1911 etwa wurde Studienförderung in 51 % der Fälle an Kinder von Staatsbeamten vergeben; nur 20 % der Begünstigten hingegen stammten aus Bauern-, Arbeiter- oder Handwerkerfamilien.27 Milieubedingte Startnachteile in der Konkurrenz um die besten Bildungschancen wurden also nicht auf breiter Front abgebaut, wohl aber in ihrer Bedeutung abgeschwächt. Wo klare Quellenbefunde vorliegen, deutet sich im höheren Bildungssystem auf der Ebene von „Collèges“ und „Lycées“ spätestens für die Zwischenkriegszeit eine deutliche Präsenz von Studierenden aus den „classes moyennes“ an: Insbesondere die Kinder von Angestellten, Beamten und Gewerbetreibenden repräsentierten dort jene aufsteigenden Mittelschichten, deren Bildungsbedürfnisse das republikanische Erziehungssystem unter anderem aufzunehmen trachtete. Für die Spitze der akademischen Einrichtungen hat Jean-François Sirinelli exemplarisch am Beispiel der „École Normale Supérieure“ und ihrer Vorbereitungsklassen ein Profil sozialer Mobilität nachgewiesen, das in den Familien der Studierenden generationsübergreifend vielfach vom Status des kleinen Beamten oder Bauern in die „classes moyennes“ führte.28 Zweifellos ist das liberale Reformprojekt „Schule“ in seinen Resultaten differenziert zu bewerten. Zumindest für den Betrachtungszeitraum war darin aber die bloße Reproduktion gesellschaftlicher Eliten weder von seinen liberalen Schöpfern beabsichtigt noch offenkundig in der Praxis dominierend. Mit ihrer Schulpolitik antworteten die liberalen Kabinette der frühen Dritten Republik nicht nur auf die Bedürfnisse einer sich wandelnden Industriegesellschaft; sie verschafften der Republik das Ansehen, sozialen Aufstieg zu fördern und prägten damit über den Ersten Weltkrieg hinaus das Erscheinungsbild des laizistischen Staates.

27 Prost, Histoire de l’enseignement, S. 328; Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs, S. 231; Jean-François Sirinelli, Des boursiers conquérants? École et „promotion républicaine“ sous la IIIe République, in: Berstein/Rudelle (Hg.), Modèle républicain, S. 243–262, hier: S. 258. 28 Sirinelli, Des boursiers conquérants?, S. 256 u. 259–262; ders., Génération intellectuelle. Khâgneux et normaliens dans l’entre-deux-guerres, Paris 1988.

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2.2. Emanzipation durch Arbeit? Liberale Arbeiter- und Assoziationspolitik Die jüngere Forschung hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass wesentliche Wurzeln des französischen Sozialstaats auf dem Feld der Arbeiterpolitik der frühen Dritten Republik zu suchen sind.29 Um die sozialpolitische Praxis der Republikaner für dieses Feld zu untersuchen, empfiehlt es sich, nach zwei Ebenen hin zu differenzieren. Im folgenden soll daher zum einen von der Assoziations- und Gewerkschaftspolitik der französischen Liberalen, zum anderen von ihren Positionen im Zuge der Kodifizierung und praktischen Umsetzung einer systematischeren Arbeiterschutzpolitik in Frankreich vor 1914 die Rede sein. In den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik präsentierte sich die Frage der berufsbezogenen Zusammenschlüsse von Arbeitern am Schnittpunkt mehrerer sozial-, politik- und rechtsgeschichtlicher Entwicklungslinien, die zum Teil bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichten. Die unübersehbare Präsenz der „sozialen Frage“ in Gestalt von zeitweiser wirtschaftlicher Depression, Arbeitslosigkeit und wiederkehrenden Streiks zählte ebenso dazu wie die Rekonstitution der Arbeiterbewegung, die sich nach der Niederschlagung der Commune 1871 neu sammelte und unter anderem über eine Serie von Kongressen auf sich aufmerksam machte. Bereits um 1876 existierten in Frankreich wieder etwa 182 gewerkschaftliche Arbeiterorganisationen mit 32.728 eingetragenen Mitgliedern, deren Zahl bis 1902 nahezu kontinuierlich auf über 645.000 anwuchs. Die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft erreichte zwischen 1890 und 1910 einen neuen Höhepunkt.30

29 Vgl. hierzu vor allem Édouard Dolléans/Gérard Dehove, Histoire du travail en France. Mouvement ouvrier et législation sociale. Bd. 1: Des origines à 1919, Paris 1953; Sabine Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz. Der politische Liberalismus und die Anfänge des Arbeitsrechtes in Frankreich 1890–1902, Berlin 1999; Jacques Le Goff, Du silence à la parole. Une histoire du droit du travail (des années 1830 à nos jours), Rennes 2004; Alain Chatriot u.a. (Hg.), Les politiques du Travail (1906–2006). Acteurs, institutions, réseaux, Rennes 2006; ders. u.a. (Hg.), La codification du travail sous la IIIe République. Élaborations doctrinales, techniques juridiques, enjeux politiques et réalités sociales, Rennes 2011. 30 Michelle Perrot, Les ouvriers en grève. France 1871–1890, Bd. 2, Paris 1974, S. 447; Gérard Noiriel, Les ouvriers dans la société française, XIXe–XXe siècle, Paris 1986, S. 11–42; Rudischhauser, Comment ne pas être allemand, S. 83 u. 99. Zum europäischen Charakter der Streikwelle von 1889/90 und zu den internationalen Reaktionen: Friedhelm Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert, Bonn 1992, S. 17–28.

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Noch bevor die Regimefrage endgültig geklärt war, reagierte die liberale erste Regierung Ferry (1880/81) mit der Neulancierung von Parlamentsdebatten, die drei Jahre später zur Verabschiedung des Gewerkschaftsgesetzes von 1884 führten. Ob es sich um das „wichtigste republikanische Sozialgesetz“ der 1880er Jahre handelte, sei angesichts der oben benannten republikanischen Schulgesetzgebung dahingestellt.31 Bemerkenswert ist zweifellos, dass es angestammte Traditionen des französischen Arbeits- und Koalitionsrechts in bestimmter Weise aufnahm und so wichtige Einblicke in die Motivationsstruktur liberaler Sozialpolitik erlaubt. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Normierung von Arbeitsbeziehungen in Frankreich in Theorie und Praxis vom Leitgedanken der „Liberté du travail“ bestimmt. Dieser hatte sich während der Revolutionszeit als emanzipatorisch gedachtes Prinzip etablieren können. Er umfasste das Recht eines jeden Bürgers auf freien Gebrauch seiner Arbeitskraft, und zwar ohne Einschränkung durch intermediäre Organisationen wie Zünfte oder andere berufsständische Korporationen. In konsequenter Anwendung eines staatsphilosophischen Denkens, das alle Formen von „corps intermédiaires“ ablehnte, wurde daher im „Gesetz Le Chapelier“ von 1791 jeder organisatorische Zusammenschluss auf Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite verboten, der Arbeitsvertrag allen anderen Vertragsformen gleichgestellt. In der Sicht der Constituante boten die arbeitsrechtliche Vereinzelung des Individuums und das freie Spiel der ökonomischen Kräfte eine mitentscheidende Voraussetzung für den Gewinn individueller bürgerlicher Freiheit und die Wahrung des Gemeinwohls. Im Zuge der langsamen Verdichtung industriewirtschaftlicher Strukturen auch in Frankreich gerieten indes traditionelle Rechtsauffassung und soziale Praxis zunehmend aus dem Gleichtakt. Dies galt umso mehr, als die „Liberté du travail“ ja grundsätzlich unvereinbar war mit kollektiven Absprachen zur Vorbereitung von Arbeitskonflikten, zur Regelung von Arbeitsbedingungen oder zur Aushandlung von Löhnen. Zu einer ersten wesentlichen Reform dieser Regelungen kam es in der liberalen Spätphase des Zweiten Kaiserreichs, als spontane Streiks unter streng bemessenen Bedingungen nicht mehr mit strafrechtlichen Konsequenzen bedroht wurden; Arbeitervereinigungen jeder Art blieben jedoch illegal und wurden lediglich toleriert (1864). Nach wie vor konnten streikende Arbeiter als einseitig vertragsbrüchig behandelt werden und mussten vom Arbeitgeber nicht

31 Rudischhauser, Comment ne pas être allemand, S. 141.

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wieder eingestellt werden. Von wirklicher Streikfreiheit konnte unter diesen rechtlichen Voraussetzungen keine Rede sein.32 In der Sozialpolitik der liberalen Republikaner stand das Assoziationsgesetz von 1884 angesichts der unübersehbaren Aktualisierung der Arbeiterfrage seit den 1870er Jahren zweifellos für eine Strategie der politischen Versöhnung und des Ausgleichs. Künftig war es Arbeitern wie Unternehmern erlaubt, ohne vorherige Genehmigung von staatlicher Seite Gewerkschaften und Berufsvereinigungen zu gründen. Die auf diese Weise realisierte Assoziationsfreiheit wies jedoch klar gezogene Grenzen auf. Insbesondere beschränkte sich das Recht zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss auf die Vertretung der ökonomisch-beruflichen Interessen jeweils nur einer Branche und beinhaltete ein faktisches Verbot politischer Betätigung. Das Recht, Lohnverhandlungen zu führen oder Streiks zu organisieren, wurde den „syndicats professionnels“ nicht zuerkannt.33 Folgt man den Argumenten, die zu dieser Regelung führten und die über drei Jahre hinweg in den parlamentarischen Debatten vorgetragen wurden, dann zeigt sich ein Kernbestand an Motiven, der das gewerkschaftspolitische Engagement der Opportunistes bestimmte. Eine Mehrheit liberaler Republikaner verstand Gewerkschaften vornehmlich als gruppenspezifische Dienstleistungsund Erziehungsinstanzen: Sie sollten der Arbeiterschaft Hilfestellung bei der Arbeitsplatzsuche bieten, Bildungsmöglichkeiten bereitstellen oder als organisatorische Plattformen zur Gründung von Genossenschaften und Hilfskassen auf Gegenseitigkeit fungieren. Indem sie ihre Mitglieder mit ökonomischen Fragestellungen vertraut machten, trugen sie in dieser Sichtweise dazu bei, Klassenkampfparolen den Boden zu entziehen und den Dialog zwischen den Tarifparteien zu ermuntern. In letzter Instanz ging es den Initiatoren damit einerseits darum, die offenkundig schwächere Seite im Mit- und Gegeneinander von Arbeit und Kapital zu stärken, die „Kleinen“ gegen die Macht der großen Kapitalgesellschaften in Schutz zu nehmen. Mindestens ebenso relevant war indes andererseits die motivierende Überlegung, die Arbeiterschaft gegenüber den Versuchungen des revolutionären Sozialismus zu immunisieren. Der Erzeugung ideologischer Resistenz kam dabei ebenso große Bedeutung zu wie der Förderung materiellen Wohlstands und sozialen Aufstiegs. Sofern also die Gewerkschaften und ihre möglichen Satellitenorganisationen Wege ebneten, 32 Vgl. hierzu vor allem Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz, S. 28–40; Alfons Bürge, Vom polizeilichen Ordnungsdenken zum Liberalismus. Entwicklungslinien des französischen Arbeitsrechts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 31 (1991), S. 1–25. 33 Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz, S. 34 f.; Peter Schöttler, Die Entstehung der „Bourses du Travail“. Sozialpolitik und französischer Syndikalismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1982, S. 54–56.

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um der Arbeiterschaft zu Besitz und beruflicher Unabhängigkeit zu verhelfen, trugen sie demzufolge dazu bei, den sozialen Frieden im Land zu stärken.34 In der politischen Praxis des wohl profiliertesten Sozialpolitikers der Opportunistes, Pierre Waldeck-Rousseau, fand diese kombinierte Taktik im Umgang mit der Arbeiterfrage ihren sichtbaren Niederschlag. Als Innenminister in den Kabinetten Gambetta (1881/82) und Ferry (1883–1885) achtete er darauf, der Staatsgewalt im Falle von Arbeitskonflikten ein möglichst repressionsfreies, vermittelndes Agieren vor Ort aufzuerlegen. Wenn Sozialisten und Anarchisten kein Anlass zur Intervention gegeben wurde, so die Überzeugung des Politikers, dann waren Arbeitskonflikte bei gutem Willen der Beteiligten und diskreter staatlicher Intervention üblicherweise beizulegen. Anlässlich des Streiks der Minenarbeiter von Carmaux (Dép. Tarn) setzte Waldeck-Rousseau 1883 eine derartige Linie in Zusammenarbeit mit dem amtierenden Präfekten Léon Bourgeois um. Als im Jahr darauf im Falle des Streiks der Grubenarbeiter von Anzin (Dép. Nord) Vermittlungsversuche fehlschlugen, stellte er sich dem Einsatz von Polizei und Militär allerdings auch nicht entgegen: Eine unübersteigbare Grenze für die Strategie des Ausgleichs war offenkundig dort erreicht, wo sich die „politische“ Unterwanderung ökonomisch motivierter Arbeitskämpfe im Zeichen sozialistischer Agitation anzubahnen schien. Eben dagegen aber war Vorsorge zu treffen, und Waldeck-Rousseau setzte darauf, die Arbeiterschaft durch geeignete Formen der Kollektivierung in den rechten Bahnen zu halten. Die Gewährung von Gründerkapital für neue Produktionsgenossenschaften gehörte daher ebenso zum Spektrum der Mittel, die das Innenministerium unter seiner Ägide einsetzte, wie die diskrete Förderung der reformistischen, nicht-sozialistischen Gewerkschaftsbewegung um den Arbeiterfunktionär Joseph Barberet. Wenn es gelang, die politisch gemäßigteren Arbeiter in größerer Zahl zum Eintritt in gewerkschaftliche Organisationen zu bewegen, dann konnte in dieser Sichtweise revolutionären Strömungen der Wind aus den Segeln genommen werden.35 34 „Plus l’instrument de travail mis entre les mains de l’ouvrier sera productif, plus ses forces trouveront un emploi lucratif, rémunérateur, et plus vous aurez mis de sécurité dans l’ordre social, plus nous nous serons rapprochés de l’état meilleur, exempt d’inquiétudes comme de désordres, vers lequel doit tendre une société démocratique, progressive“; Journal Officiel de la République Française, Chambre des Députés, Débats parlementaires, Sitzung vom 17. Juni 1883, S. 1319 (Rede von Innenminister WaldeckRousseau); zum Gesamtzusammenhang: Denis Barbet, Retour sur la loi de 1884. La production des frontières du syndical et du politique, in: Genèses 3 (1991), S. 5–30, bes. S. 6–10. 35 Pierre Waldeck-Rousseau, Questions sociales, Paris 1900, S. 284; Barbet, Retour sur la loi de 1884, S. 27 f.; Pierre Sorlin, Waldeck-Rousseau, Paris 1966, S. 264–273 u. 289–293; Schöttler, Entstehung, S. 50–54.

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Die praktische Belastbarkeit dieses Konzepts erwies sich in den folgenden Jahren unter anderem an der Entwicklung der sogenannten „Bourses du Travail“. Diese wurden seit den späten 1880er Jahren als lokale Begegnungsstätten für Arbeiter eingerichtet und sollten in erster Linie der Vermittlung von Arbeit dienen. Den Anfang machte 1887 die Bourse du Travail von Paris, die 1892 in ein für diesen Zweck errichtetes, städtisches Gebäude an der Place de la République einzog. Allein bis 1902 folgten in 83 französischen Städten weitere Einrichtungen ähnlicher Art. Ihre Entstehung verdankte die hauptstädtische Pioniergründung dem politischen Willen der Radicaux im Pariser Stadtrat, die darin von den Sozialisten unterstützt wurden. Bemerkenswert an der komplexen Gründungsgeschichte, die im gegebenen Zusammenhang nicht eingehender verfolgt werden muss, ist wiederum die Motivationslage: Der Initiator, Gustave Mesureur, verteidigte sein Projekt 1886 mit ähnlichen Gedankengängen, wie sie Waldeck-Rousseau einige Jahre zuvor formuliert hatte, verwies insbesondere auf die erhoffte pazifizierende, entradikalisierende Wirkung. Die Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht: Kontroversen um die Gestaltung der von der Stadt gewährten Selbstverwaltung, interne Konflikte zwischen den zugelassenen Gewerkschaftsorganisationen und der wachsende Einfluss der sozialistischen Arbeiterbewegung, die das geltende Politikverbot unterlief, ließen das Experiment in den Augen vieler Republikaner bald als gescheitert gelten. Auf Veranlassung der rechtsliberalen Regierung Charles Dupuy wurde die Pariser Bourse du Travail im Juli 1893 geschlossen und erst drei Jahre später unter veränderten Vorzeichen wieder eröffnet. Mit der Neueröffnung verlor die Börse ihre Autonomie und musste zusätzliche Kontrollbefugnisse staatlicher Stellen hinnehmen.36 Im Betrachtungszeitraum bis 1914 blieb das Verhältnis der regierenden Liberalen zur Welt der Arbeit ambivalent. Die Schließung von 1893 markierte einen entscheidenden Eskalations- und Wendepunkt in der Politik der Republikaner gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung. Neben Vorstellungen, die den Gewerkschaften eine zumindest eingehegte öffentliche Rolle zubilligen wollten, schob sich wachsendes Misstrauen und das vielgebrauchte Schlagwort von der „Tyrannie des syndicats“. Gewiss wurden auch weiterhin im Parlament und im öffentlichen Raum politische Debatten um 36 Zur Geschichte der Pariser „Bourse du Travail“ im einzelnen: Schöttler, Bourses, S. 57– 81; Noiriel, Les ouvriers, S. 104 f.; Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz, S. 150–154; zu den Mehrheitsverhältnissen im Pariser Conseil municipal: Yvan Combeau, Crise et changement de majorité au Conseil municipal de Paris (octobre-novembre 1909), in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 45/2 (1998), S. 357–379; Nobuhito Nagaï, Les conseillers municipaux de Paris sous la IIIe République (1871–1914), Paris 2002, S. 47–74.

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die Gewerkschaftsfreiheit geführt. Diffizile arbeitsrechtliche Fragen waren dabei nicht selten eng verflochten mit politischen Positionen zum akzeptablen Umfang gewerkschaftlicher Vertretung. Jenseits aller Details blieb dabei in der Arbeiterpolitik der Republikaner der Gedanke leitmotivisch präsent, wonach der Sicherung individueller Freiheiten der Vorzug vor der kollektiven Handlungsfähigkeit von Arbeitervertretungen zu geben sei. Gesetzliche Zugeständnisse an Gewerkschaften, die diesen dazu verhelfen konnten, Druck auf einzelne Arbeiter auszuüben, kamen daher ebenso wenig in Frage wie legislative Maßnahmen, die ihnen in Arbeitskämpfen die Stellung eines autonomen Gegenparts der Arbeitgeberseite zugewiesen hätten. Demzufolge wurden sozialistische Projekte, die auf die Schaffung eines kollektiven Arbeitsrechts zielten, kontinuierlich abgeschmettert. Stattdessen gingen liberale Kabinette davon aus, dass dem Staat im Falle von Arbeitskämpfen eine tragende – wenngleich in der Praxis nicht immer erfolgreiche – Mediatorenrolle zukam. Vor allem im Bergbau konnte sich diese Vermittlungstätigkeit durchaus zugunsten der betroffenen Kumpel entfalten.37 Das Spektrum des gewerkschaftspolitischen Vorgehens durch Opportunistes und Radicaux blieb auch in der zweiten Hälfte des Betrachtungszeitraums weit gespannt: Es reichte von den gescheiterten Reformprojekten der Regierung Waldeck-Rousseau (1899–1902) zur Liberalisierung des Gewerkschaftsrechts und zur Streikschlichtung bis hin zu Maßnahmen der massiven Repression. Wie Petra Weber zu Recht feststellte, zeigte sich die Dritte Französische Republik vor 1914 keineswegs weniger bereit, gewaltsam gegen streikende Arbeiter vorzugehen als das deutsche Kaiserreich. Einen traurigen Höhepunkt erreichte die Konfrontation zur Zeit der „République radicale“ unter der ersten Ministerpräsidentschaft von Georges Clemenceau (1906–1909). Er stellte wiederholt unter Beweis, dass er bereit war, das republikanische Staatsund Gesellschaftsmodell insbesondere gegen den militant auftretenden Syndikalismus der 1895 gegründeten „Confédération Générale du Travail“ (CGT) zu verteidigen. Nicht weniger als 20 Tote und weit über 600 Verletzte sollen während seiner Amtszeit unter streikenden Arbeitern zu beklagen gewesen sein.38 Clemenceaus Politik repräsentiert gewiss ein Extrembeispiel und steht für die zu Zeiten der Dritten Republik keineswegs ungewöhnliche Rechtsentwicklung 37 Vgl. hierzu und zum folgenden: Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz, S. 150 ff. (Zitat: S. 150). 38 Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39), München 2010, S. 29–55, bes. S. 34–36.

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eines Politikers, der ursprünglich am linken Rand des republikanischen Spektrums angesiedelt war. Dass der ehemals engagierte und pragmatische Verfechter von Arbeiterrechten zum autoritären „homme d’ordre“ werden konnte, hatte aber auch damit zu tun, dass er es als seine Aufgabe ansah, die Republik gegen Gefährdungen von rechts wie von links gleichermaßen in Schutz zu nehmen. In diesem politischen Weltbild war die kanalisierte Artikulation von sozialen Anliegen über reformistische Arbeiterassoziationen akzeptabel; Streiks, die als Vorstufe zu dem von der CGT unermüdlich propagierten revolutionären Umsturz erachtet werden konnten, waren es nicht.39 Seit den frühen 1890er Jahren haben liberal dominierte Kabinette rechtsund linksrepublikanischer Provenienz parallel zur beschriebenen Assoziationspolitik den Arbeiterschutz als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens vorangetrieben. Der Zeitpunkt war in mehrfacher Hinsicht kein Zufall. Die Streikwellen der Jahre 1889/90 und 1890 bis 1893 hinterließen in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs nachhaltigen Eindruck und boten hinreichend Anlass zum Handeln. Nicht zuletzt trat den Verantwortlichen angesichts der Arbeitskämpfe zunehmend deutlich vor Augen, dass sich die Erwartungen an die pazifizierende Kraft gewerkschaftlicher Organisation voraussichtlich nicht erfüllen würden. Darüber hinaus nahm die französische Politik den Beginn moderner Sozialpolitik im europäischen Rahmen wahr. Sabine Rudischhauser hat gezeigt, in welcher Weise die deutsche Initiative auf Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz nach Berlin im Jahr 1890 grenzüberschreitend zum Katalysator wurde: In Frankreich löste sie intensive Debatten über die Rolle des Staates in diesem Bereich aus, die sich mit der Sorge verknüpften, wonach es in der deutschen Hauptstadt darum gehen werde, den deutschen „Staatssozialismus“ zu kodifizieren und ihn den übrigen europäischen Staaten vorbildhaft nahezulegen. Ein Element internationaler Konkurrenz beeinflusste daher die französische Reformpolitik durchaus.40 Die Spannweite der Neuerungen reichte vom Unfallschutz über die Gewerbeaufsicht bis zur Regelung der Arbeitszeit. So wurde im Jahr 1890 per Gesetz den Arbeitnehmern die Möglichkeit von Schadenersatzansprüchen bei Kündigung eingeräumt, zwei Jahre später beschränkte man die tägliche Arbeitszeit von Frauen und Kindern in gewerblichen Betrieben auf 11 bzw. 10 Stunden; für diesen Personenkreis galt außerdem die Sechstagewoche und ein Verbot der Nachtarbeit. Durch die Intensivierung der staatlichen 39 Jacques Julliard, Clemenceau briseur de grèves. L’affaire de Draveil-Villeneuve-SaintGeorges, Paris 1965; Jean-Jacques Becker, Clemenceau, l’intraitable, Paris 1998. 40 Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz, S.60–70; dies., Comment ne pas être allemand, S. 137–142.

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Gewerbeinspektion sollten diese Bestimmungen in den Unternehmen auf systematischere Weise durchsetzbar werden. Im Jahr 1898 kam es darüber hinaus zu einer neuartigen Regelung der Verantwortlichkeit bei Arbeitsunfällen: Als Ergebnis jahrzehntelanger Debatten, die bereits in den frühen 1880er Jahren ihren Anfang genommen hatten, wurde die Entschädigung der betroffenen Arbeiter nicht mehr nach dem Verursacherprinzip einer fallweisen Urteilsfindung überlassen, sondern ohne Berücksichtigung der Kausalitätsfrage einer fixierten gesetzlichen Regelung unterworfen. Damit enthob der Gesetzgeber die Unfallopfer oder ihre Nachkommen der Mühsal, das eigene Recht über oftmals wenig aussichtsreiche Prozesse gegen die Arbeitgeberseite erstreiten zu müssen. Zudem hatte die republikanische Kammermehrheit deutlich gemacht, dass sie gewillt war, den gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozess über die angemessene Verteilung von sozialen Lasten aktiv mitzugestalten.41 Neue Anstöße erhielt die Sozialgesetzgebung der Republikaner, seitdem der Sozialist Alexandre Millerand 1899 als Minister für Handel und Industrie in die von Pierre Waldeck-Rousseau geleitete Regierung der „Défense républicaine“ eingetreten war. Als Krisenkabinett im Gefolge der Dreyfus-Affäre konzipiert, suchte dieses die Unterstützung der sozialistischen Kammerabgeordneten und machte Zugeständnisse hinsichtlich zentraler Anliegen der Arbeiterschaft. Durch geschicktes Agieren gegenüber der Industrie, getragen von der öffentlichen Meinung und mit der Rückendeckung seines Ministerpräsidenten versehen, gelang es Millerand bis März 1900, die Abgeordnetenkammer zur Reform der Arbeitszeitregelungen von 1892 zu bringen. Auf der Grundlage einer vorgegebenen Übergangsfrist, die bis ins Jahr 1904 terminiert war, wurde in Frankreich als erstem europäischen Land der Zehn-Stunden-Tag für Kinder, Frauen und all jene Männer gesetzlich festgeschrieben, die in Betrieben mit Frauen und Kindern zusammenarbeiteten. Um 1900 waren davon theoretisch bereits über 80 % aller französischen männlichen Arbeiter betroffen. Auch wenn es mit der Ausführungskontrolle der gesetzlichen Bestimmungen haperte und vielfältige Ausnahmeregelungen unter anderem die Einführung der Sechstagewoche in Industrie, Handwerk und Handel (1906) durchlöcherten, so kann doch an den sozialreformerischen Absichten republikanischer Politiker auf dem Feld des Arbeiterschutzes kein Zweifel bestehen.42 41 Eingehend hierzu: Ewald, L’État-providence, S. 309–311; Rudischhauser, Comment ne pas être allemand, S. 158–161. 42 Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz, S. 243–268; dies., Comment ne pas être allemand, S. 161–165 u. 170–172; Stone, Search, S. 62 f. u. 126–139; Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft, S. 50 f.

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2.3. „Assistance“ oder „assurance“? Der lange Weg zur obligatorischen Alterssicherung Die konsequente Umsetzung eines sozialpolitischen Konzepts des „Ruhestandes“ als eines für das Gros der Bevölkerung erreichbaren, materiell abgesicherten und eigenständigen Lebensabschnitts vollzog sich auch in Frankreich erst im 20. Jahrhundert.43 Ansätze kollektiver Alterssicherung reichten dort bis in die Epoche Ludwigs XIV. zurück, blieben allerdings noch um 1900 auf umgrenzte Personengruppen beschränkt oder erwiesen sich als wenig effektiv. Der früheste Versuch einer staatlich beaufsichtigten Rentenkasse, die „Caisse nationale de retraites pour la vieillesse“ (1850), konnte bis 1909 nur eine geringe Zahl von freiwillig Versicherten an sich ziehen, hatte kontinuierlich mit dem Problem des Spekulantentums zu kämpfen und versagte als sozialpolitisches Instrument nahezu vollständig. Staatlich finanzierte Pensionen wurden im wesentlichen für ehemalige Soldaten und Staatsbeamte bereitgestellt. Daneben pflegten vor allem größere Unternehmen des Bergbaus, der Metall- und Textilindustrie sowie des Eisenbahngewerbes ihre eigene Sozialpolitik, die unter anderem über betriebliche Pensionskassen eine qualifizierte Facharbeiterschaft an das Unternehmen binden sollte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen jedoch kaum mehr als ca. 660.000 Personen oder 5 % der Erwerbstätigen in den Genuss der beschriebenen Leistungen; zählt man all jene Arbeiter hinzu, die in den gemeinnützigen Rentenkassen einzelner Berufsgruppen versichert waren, erhöht sich die Gesamtzahl auf ca. 1,17 Mio. oder etwa 11 % der Beschäftigten.44 43 Christoph Conrad, Die Entstehung des modernen Ruhestandes. Deutschland im internationalen Vergleich 1850–1960, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 417– 447, hier: S. 417; in erweiterter Form: Ders., La naissance de la retraite moderne: l’Allemagne dans une comparaison internationale (1850–1960), in: Population 45/3 (1990), S. 531–563. 44 Vgl. als jüngere Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Alters und der Alterssicherung in Frankreich: Bruno Dumons/Gilles Pollet, La naissance d’une politique sociale: les retraites en France (1900–1914), in: Revue française de science politique 41/5 (1991), S. 627–648; dies., L’État et les retraites. Genèse d’une politique, Paris 1994; Didier Renard, Une vieillesse républicaine? L’état et la protection sociale de la vieillesse de l’assistance aux assurances sociales (1880–1914), in: Sociétés contemporaines 10 (1992), S. 9–22; ders., Das Fürsorge- und das Versicherungsprinzip in der französischen Sozialpolitik: Von einer grundsätzlichen Opposition zur Koexistenz, in: Peter Wagner u.a. (Hg.), Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive, Frankfurt a.M. 2000, S. 176–198; Élise Feller, Histoire de la vieillesse en France 1900–1960. Du vieillard au retraité, Paris 2005; dies., Retirement in France in the Early Twentieth Century: From Suspicion to the „French Model“, in:

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Die äußerst begrenzte Leistungsfähigkeit der existierenden Hilfskassen, die eklatanten Missbräuche von Pensionsfonds durch Unternehmer und die resultierenden Forderungen von seiten der Betroffenen machten ein regulierendes Eingreifen der Politik zunehmend unabweisbar. Das Streben nach Einführung von Mindeststandards in der Beamtenversorgung oder in besonders risikobehafteten Industriesparten trug seinerseits dazu bei, Parlament und Exekutive auf den Plan treten zu lassen. Vor allem der Bergbau bot aufgrund seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung, des staatlichen Konzessionärsstatus und der gegebenen Härten des Arbeitsregimes hinreichend Anlass hierzu. Bereits 1894 legte der Gesetzgeber daher Rahmenbedingungen für die Organisation nicht-staatlicher Renten- und Krankenkassen im Montangewerbe fest, deren Verbindlichkeit im Folgejahr 1895 auf alle Industrieunternehmen ausgeweitet wurde; vergleichbare Eingriffe erfolgten nach großem Druck der Gewerkschaften zugunsten der Bahnbeschäftigten.45 Auf diese Weise angestoßen, kam ein gesetzgeberischer Prozess in Gang, der das erwachte gesellschaftliche und politische Interesse an einer umfassenderen Regelung widerspiegelt. Bis 1900 gingen dem Parlament bereits über 40 Vorschläge für die Einführung von Arbeiterrenten ein, darunter zwei Regierungsprojekte und zwei Ausarbeitungen der zuständigen Kommission. Nach heftigen Kontroversen in Parlament und Öffentlichkeit, die sich über nicht weniger als drei Legislaturperioden zwischen 1898 und 1910 erstreckten, fand das politische Frankreich zu einem Kompromiss. Er umfasste die Einrichtung der ersten obligatorischen Sozialversicherung für französische Bürger – und erlaubt es rückblickend einmal mehr, liberalen Politikkonzepten am Fallbeispiel nachzuspüren. Drei konkurrierende Lösungsprinzipien und die damit verbundenen Institutionen, Verfahrenstraditionen und Werthaltungen standen zur Debatte: das Prinzip der Fürsorge in seiner privat oder öffentlich getragenen Form („charité“ bzw. „assistance publique“), jenes der freiwilligen privaten Vorsorge anhand gemeinnützig operierender Hilfskassen („mutualités“) und dasjenige der staatlichen Sozialversicherung („assurance“). Ob der republikanische Staat das Recht habe, seine Bürger auf Beitragszahlungen zur Gewährleistung eines materiell einigermaßen abgesicherten Alters zu verpflichten, war ebenso umstritten wie der potentielle Kreis der Begünstigten, die Kostenstruktur für Proceedings of the Western Society for French History 33 (2005), S. 325–339, hier: S. 328. Immer noch nützlich ist: Irene Bourquin, „Vie ouvrière“ und Sozialpolitik: Die Einführung der „Retraites ouvrières“ in Frankreich um 1910. Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialversicherung, Bern 1977, hier: S. 128. 45 Dumons/Pollet, L’État et les retraites, S. 329–385; Bourquin, Sozialpolitik, S. 117–128.

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Staat und Unternehmen oder die Risiken, die abgedeckt werden sollten. Ein Problem erster Ordnung blieb zudem die Regelung des künftigen Stellenwerts der staatlichen Fürsorge, deren Leistungsspektrum seit den 1890er Jahren zugunsten von kostenloser medizinischer Hilfe für Bedürftige (1893) und Fürsorgeleistungen für Kinder (1904) ausgebaut wurde. Zum privaten und gemeinnützigen Sozialversicherungswesen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wachsende Verbreitung erfuhr, stand die Fürsorge zu diesem Zeitpunkt in einem noch ungeklärten methodischen, aber auch historisch begründeten Gegensatz. Sie wurzelte tief im republikanischen Selbstverständnis und war bereits in der Revolutionszeit nach 1789 zur öffentlichen Aufgabe erhoben worden. Ihrem sachlichen Zuschnitt nach stand sie für eine freiwillig eingegangene Verpflichtung der Gemeinschaft zugunsten ihrer schwächsten, in Not geratenen Mitglieder, ohne dass daraus von den Begünstigten Ansprüche abgeleitet werden konnten. Eine Versicherungslösung würde sich demgegenüber nur mit definierten Risiken befassen und im Idealfall jene festgeschriebenen Beträge gewähren, auf die die Beitragzahler im vorhinein ein gutes Recht erworben hatten. Besaß die „assurance“ daher anders als die „assistance“ den Vorzug, die selbstbezogene Wertschätzung der Versicherten nicht anzutasten, so existierten doch auf dem Feld des staatlichen Versicherungswesens in Frankreich noch kaum organisatorische Erfahrungen. Nicht zufällig zog daher die Sozialversicherungsgesetzgebung des ehemaligen Kriegsgegners Deutschland das Interesse wissenschaftlicher Analysen auf sich und wurde in Expertenkreisen als vorbildhaft wahrgenommen. Die überwiegende Mehrheit der Reformer ging freilich davon aus, dass ein eigenständiger französischer Weg anzustreben sei.46 Keine der großen politischen Strömungen des Landes bot in der Frage ein einheitliches Bild. Innerhalb des breit gefächerten Spektrums der rechtsliberalen „modérés“ dominierten die ablehnenden Stimmen. Die Sorge galt vor allem den unvorhersehbaren Folgen eines befürchteten Systembruchs. Die finanziellen Lasten eines staatlich getragenen Systems, der absehbare bürokratische Aufwand, der moralische und gesellschaftspolitische Wert persönlicher Vorsorge und die vermeintliche Flexibilität und Volksnähe der angestammten Pensionskassen ließen in diesem politischen Milieu das Lob der 46 Jean Imbert, La protection sociale sous la Révolution française, Paris 1990; Bourquin, Sozialpolitik, S. 102–106; Nicolas Roussellier, Assurances sociales, in: Jean-François Sirinelli (Hg.), Dictionnaire historique de la vie politique française au XXe siècle, Paris 1995, S. 53–55; Renard, Une vieillesse républicaine? – Als Beispiele für die Wahrnehmung des deutschen Falls seien genannt: Gaston Salaun, Les solutions du problème des retraites à l’étranger, in: Revue politique et parlementaire 28 (1901), S. 102–118; Léonce Réjou, Des retraites ouvrières, Thèse Bordeaux 1903.

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„mutualités“ leitmotivisch wiederkehren. Anstoß erregte die Tatsache, dass verpflichtende Beitragszahlungen die Versicherten darin beeinträchtigen würden, das erarbeitete Einkommen in den eigenen sozialen Aufstieg zu investieren; der Weg aus der Lohnabhängigkeit zur materiellen Selbständigkeit werde dadurch kompromittiert. Breit rezipiert wurde vor allem der orthodox wirtschaftsliberale Ökonom Paul Leroy-Beaulieu. Politisch selbst eher im konservativen Milieu anzusiedeln, beharrte dieser in seinen Schriften nachdrücklich darauf, die soziale Frage werde sich im Zuge allgemeiner Steigerung des Wohlstands „von selbst“ sowie „graduell und friedlich“ lösen. Die Verwirklichung des Sozialversicherungsprinzips setze hingegen ein System des „sozialen Automatismus“ an die Stelle „individueller Spontaneität“ und gefährde letztlich die Grundlagen der französischen Zivilisation.47 Als sachliche Alternativen empfahlen Leroy-Beaulieu und einflussreiche Mitglieder des Senats wie die Opportunistes Jean-Honoré Audiffred und Victor Lourties die staatliche Subventionierung der „mutualités“ nach belgischem bzw. schweizerischem Vorbild sowie den Ausbau des bereits existierenden Wohlfahrtswesens. Anhänger dieser Sichtweise waren auch im Umkreis der „Alliance Républicaine Démocratique“ zu finden. Zur heterogenen Allianz der Gegner gehörten darüber hinaus neben Teilen des politischen Katholizismus und der konservativen Unternehmerschaft vor allem auch wichtige Vertreter der sozialistischen Linken. Um 1900 war sie noch in fünf Gruppen gespalten, die sich bis 1905 zur „Section française de l’internationale ouvrière“ (SFIO) zusammenschlossen, ohne aber vorerst zu echter innerer Einheit zu finden. Die Uneinigkeit in der Schlüsselfrage nach dem Stellenwert revolutionärer und reformistischer Konzepte konnte vor dem Ersten Weltkrieg vielfach nur durch Formalkompromisse überbrückt werden. In der Frage der Alterssicherung zeigte sich besonders der revolutionäre Flügel der Arbeiterbewegung unnachgiebig. Für die Gruppen um Jules Guesde, Paul Lafargue oder auch Gustave Hervé bot ein Rentensystem, das Pflichtbeiträge zu Lasten von Arbeitern erhob, kaum mehr als zusätzliche Abgaben auf ohnehin zu geringe Löhne, neue Spekulationschancen für Fondsverwalter und – angesichts der geringeren Lebenserwartung von Arbeitern – allenfalls „Renten für die Toten“.48 47 Paul Leroy-Beaulieu, Essai sur la répartition des richesses et sur la tendance à une moindre inégalité des conditions, Paris 1881, S. 546; ders., Les retraites obligatoires et l’automatisme social, in: L’Économiste français 2 (1904), S. 37. Vgl. dazu auch Mitchell, Divided Path, S. 13–16. 48 So Paul Lafargue in: Le Socialiste, 3.2.1910, zit. nach: Bruno Dumons/Gilles Pollet, Les socialistes français et la question des retraites (1880–1914), in: Vingtième Siècle 38 (1993), S. 34–46, hier: S. 37; Gérard Noiriel, „État-Providence“ et „colonisation du

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Als die wohl einflussreichste politische Kraft hinter der Verwirklichung einer modernisierten staatlichen Altersvorsorge traten indes die Radicaux auf. Im Zuge ihrer politischen Annäherung an die liberal-konservative Republik rückten sie um die Jahrhundertwende sozialpolitische Zielsetzungen stärker und prägnanter als bisher in den Vordergrund. Das Programm von 1907 trug denn auch als erste konzeptionelle Bestandsaufnahme einer jungen Parteigründung deutliche Spuren der solidaristischen Terminologie und Denkweise. Dass Frankreich ein effektives Rentenversicherungssystem ebenso brauchte wie den Ausbau medizinischer und sozialer Fürsorgeleistungen oder ein modernes Arbeits-, Tarif- und Schlichtungsrecht, stand für die große Mehrzahl der Delegierten fest. Für das Konzept des Solidarismus bot die Rentenfrage daher ein erstes „reales Experimentierfeld“. Die Mitglieder von Freimaurerlogen, die dem Parti Radical nahestanden, brachten in der Folge ihre Expertise ein und erarbeiteten denkbare Systementwürfe.49 In den parteiinternen Diskursen hatte sich auf diese Weise das Sagbare erweitert und verändert: Nach außen hin vertreten von einer mittleren und jüngeren, in höhere Ämter strebenden Politikergeneration wie Léon Bourgeois oder dem Bürgermeister von Lyon, Édouard Herriot (1872–1957), gewann das Prinzip der staatlichobligatorischen Versicherung den Beiklang zukunftsweisender sozialpolitischer Modernität. Seine unabweisbaren Stärken waren allerdings mit dem Überholt-Bewährten – dem Prinzip der „assistance“ – in Einklang zu bringen. Aufgrund dieser Konstellationen, der damit verbundenen Kräfteverhältnisse und sachlichen Pfadabhängigkeiten war der sozialpolitische Prozess der Dritten Republik seit der Jahrhundertwende auf allen drei genannten Entwicklungsebenen parallel vorangetrieben worden: Im Jahr 1898 hatte der republikanische Gesetzgeber den „mutualités“ zusätzliche rechtliche Möglichkeiten zuerkannt, um in Zukunft statt formal ungesicherter auch garantierte Altersrenten ausschütten zu können. Wenig später wurde 1905 die staatliche Fürsorge dergestalt ausgeweitet, dass künftig jeder Franzose ohne Einkommen, der älter als 70 Jahre alt war oder unter einer unheilbaren Krankheit litt, ein Mindestmaß an Unterstützung aus öffentlichen Mitteln erhielt. Damit wurde der Leitgedanke der kostenlosen medizinischen Fürsorge aufgenommen und fortgesetzt. Schließlich führte die französische Republik im April 1910 nach fast zehn-

monde vécu“. L’exemple de la loi de 1910 sur les retraites ouvrières et paysannes, in: Prévenir 19 (1989), S. 99–112. 49 Dumons/Pollet, L’État et les retraites, S. 185–216, hier: S. 208 (Zitat: S. 196); Nordmann, Histoire des radicaux, S. 169–174.

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jähriger Vorlaufphase die verpflichtende Altersrente für Arbeiter und Bauern ein.50 Die Liberalen hatten sich in der Frage der Alterssicherung von Anfang an gespalten gezeigt, und sie blieben es bis über das Jahr 1910 hinaus. Vertreter der Radicaux waren spätestens seit der Jahrhundertwende als treibende Kraft aufgetreten, doch ohne ein Bündel begünstigender Umstände, das Gewicht der öffentlichen Meinung und zusätzliche politische Unterstützung wäre der sozialpolitische Kompromiss des Jahres 1910, mit dem sich die Experten der Partei identifizieren konnten, kaum zustande gekommen. Erhebliches Gewicht hatte im Meinungsbildungsprozess unter anderem die wissenschaftliche Expertise gewonnen, darunter jene des Sozialversicherungsexperten und Professors für Industrieökonomie, Maurice Bellom. In detaillierter, vergleichender Untersuchung stellte er die „moralische und materielle Überlegenheit“ des Versicherungsprinzips heraus und plädierte für dessen austarierte Koexistenz mit Leistungen der „assistance publique“.51 Auf der Basis ähnlicher Gutachten, die im Umfeld der Kammerdebatten entstanden waren, kam den Parlamentariern und der interessierten Öffentlichkeit zu Bewusstsein, wie gering der Beitrag der „mutualités“ zur Altersabsicherung der Arbeiter ungeachtet der inkrementell gedachten Reformen von 1898 auch noch ein Jahrzehnt später geblieben war. Mit entscheidend war schließlich nicht nur der spektakuläre Meinungswandel des einflussreichen rechtsliberalen Senators und ehemaligen Ministerpräsidenten Alexandre Ribot und die Unterstützung von Vertretern des sozialen Katholizismus um René de La Tour du Pin oder Albert de Mun. Es war vor allem die Tatsache, dass sich in den Reihen der Sozialisten die reformbereiten Abgeordneten um Jean Jaurès und Édouard Vaillant gegen die wilde Ablehnung seitens der CGT durchsetzen konnten. Die führenden Parlamentarier der SFIO orientierten sich erklärtermaßen am Vorbild der deutschen Sozialversicherung, verstanden das Erreichte als Basis für weitere Reformen und überzeugten die Fraktion, in der entscheidenden Schlussabstimmung mit den bürgerlichen Sozialreformern zu votieren.52 Die Rentenregelung vom 5. April 1910 hatte nicht den erhofften Erfolg. Zweifellos fügte sie sich recht passgenau in die bestehende Sozialgesetzgebung 50 Bourquin, Sozialpolitik, S. 120–124, 157–263 u. 183 f. Als zeitgenössisch erarbeiteter Überblick: Paul Deschanel, L’oeuvre sociale de la Troisième République, in: Revue politique et parlementaire 63 (1910), S. 449–466. 51 Maurice Bellom, Des relations mutuelles de l’assistance et de l’assurance ouvrière, in: Revue politique et parlementaire 27 (1901), S. 556–597 (Zitat: S. 593); ders., Les lois d’assurance ouvrière à l’étranger. 3 Bde., Paris 1892–1909. 52 Dumons/Pollet, L’État et les retraites, S. 57 f.; dies., Les socialistes français; Bourquin, Sozialpolitik, S. 123 f.; Hatzfeld, Du paupérisme, S. 60.

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ein und erlaubte es den Rentenempfängern, u.a. zugleich Leistungen aus dem Gesetz über Arbeitsunfälle (1898) und aus der Altersfürsorge (1905) zu beziehen. Die Beitragszahlungen waren vom Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat gleichermaßen aufzubringen und ermöglichten es den Versicherten, ihre Altersrente nach mindesten 30 Beitragsjahren und mit Vollendung des 65. Lebensjahrs zu erhalten. Etwa 18 Mio. französische Staatsbürger, also etwa die Hälfte der Bevölkerung, fielen unter den Wirkungskreis des Gesetzes.53 Bis Jahresende 1912 hatten von den etwa 12 Mio. versicherungspflichtigen Franzosen allerdings erst 6,9 Mio. das staatliche Angebot auf Abschluss einer Rentenversicherung angenommen. Berücksichtigt man zusätzlich jene 6 Mio. Bürger, die auf freiwilliger Basis in das Versicherungssystem hätten eintreten können, dann ergibt sich insgesamt ein noch ungünstigeres Verhältnis von 7,6 Mio. Beitritten zu 18 Mio. Berechtigten. Zwar blieb nicht ohne Effekt, dass Léon Bourgeois während einer kurzen Amtszeit als Minister für Arbeit und Soziales im Kabinett Poincaré (1912/13) unter anderem das Rentenalter auf 60 Jahre absenkte, den staatlichen Zuschuss erhöhte und Antragsprozeduren vereinfachte. Alles in allem aber blieb es bei dem relativ geringen Zuspruch: Offenkundig konnte man bis 1914 nur überwiegend jene Franzosen ansprechen, die in überschaubaren Zeiträumen vor dem Eintritt ins Rentenalter standen und aufgrund großzügiger Beitrittsbedingungen imstande waren, mit sehr geringen Mitteln eine staatliche Altersrente zu erwerben. Der Erste Weltkrieg bremste den erkennbaren Aufschwung indes gravierend und brachte während der 1920er Jahre ein Absinken der Zahl rentenversicherter Erwerbstätiger auf kaum mehr als 1,5 Mio. Personen.54 Die Gründe für diese Entwicklung waren vielfältig. Sie lagen im fortdauernden Widerstand seitens der Gewerkschaft CGT ebenso wie in der Gegnerschaft liberaler und konservativer Senatspolitiker sowie in einer nachfolgenden obersten Rechtsprechung, die die Rentenversicherungspflicht in der Praxis faktisch aufhob. Kaum zu überschätzen waren mental begründete Vorbehalte in Teilen der Bevölkerung, wo man der zunehmenden bürokratischen Erfassung skeptisch und dem Modus langfristigen Sparens fremd gegenüberstand. Ohnehin blieb die Höhe der Renten gering und erreichte – bei niedrigen Beitragssätzen – für Pflichtversicherte je nach Eintrittsalter lediglich Summen zwischen 200 und 300 Francs jährlich. Demgegenüber konnten pensionierte ehemalige Staatsbeschäftigte um 1910 durchaus bereits auf 53 Zum Inhalt im Detail: Bourquin, Sozialpolitik, S. 259–263. 54 Hierzu und zum folgenden: Rudischhauser, Comment ne pas être allemand, S. 174 f.; Dumons/Pollet, L’État et les retraites, S. 209–214 u. 384–406; dies., Naissance d’une politique sociale, S. 641–648; Feller, Retirement in France, S. 328–332.

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etwa 1000 Francs rechnen. Praktische Umsetzungsschwierigkeiten betrafen darüber hinaus vor allem kleinere Unternehmer, Bauern und Handwerker, die vor schwer einschätzbaren Kostenbelastungen zurückschreckten – ganz abgesehen davon, dass das Gesetz der Grundidee stabiler und langdauernder Lohnarbeitsverhältnisse verpflichtet war. Es berücksichtigte weder die am Land weit verbreitete Praxis multipler Kleinbeschäftigung noch die Lage mithelfender Frauen. Gewiss haben die etwa 1,1 Mio. Franzosen, die zwischen Juli 1911 und Dezember 1914 ihre nach der neuen Gesetzeslage ermöglichte Altersrente in Anspruch nahmen, dazu beigetragen, einen Prozess der „Akkulturation“ in Gang zu setzen, in dessen Verlauf das Versicherungsprinzip größere Popularität erlangte. Erst im Laufe der 1930er und 1940er Jahre jedoch wurde in Frankreich ein breiterer Ausbau der Sozialversicherungssysteme politisch durchsetzbar und in der Bevölkerung mehrheitsfähig.55

3. Ein Fazit Liberale Einzelpolitiker und Gruppierungen spielten eine tragende Rolle in jenem säkularen Prozess, der in Frankreich zwischen 1880 und 1914 zur Grundlegung des modernen Sozialstaats führte. Als politische Gewinner des Systemwechsels von 1870 verfügten sie über hinreichende Handlungsspielräume, um ab den 1880er Jahren Elemente einer Sozialpolitik ins Werk zu setzen, die im Selbstverständnis der jungen Dritten Republik seit ihren Anfängen angelegt war. Die vorstehende Betrachtung dreier ausgewählter Arbeitsfelder macht deutlich, dass dabei ein republikanisches Ordnungsmodell Form annahm, das dem Staat die Rolle einer lenkenden Instanz des sozialen Ausgleichs zuwies. Wie gesehen, fand es in Léon Bourgeois’ Sozialdoktrin des Solidarismus seinen prägnanten Ausdruck, ohne doch darauf reduzierbar zu sein. Im Kern implizierte es die wachsende Einsicht, wonach die liberale Maxime der „individuellen Selbstverantwortung“56 als universale Handlungsanweisung zur Abdämpfung jener existenziellen Risiken nicht mehr hinreichend war, die unter den Bedingungen der modernen Industrie- und Massengesellschaft für immer weitere Bevölkerungsteile lebensbestimmend wurden. 55 Élise Feller, L’entrée en politique d’un groupe d’âge: la lutte des pensionnés de l’État dans l’entre-deux-guerres et la construction d’un „modèle français“ de retraite, in: Le Mouvement Social 190 (2000), S. 33–58; Bourquin, Sozialpolitik, S. 291–321; Hatzfeld, Du paupérisme, S. 263–320; Dumons/Pollet, Naissance d’une politique sociale, S. 646 (Zitat). 56 Bode, Solidarität, S. 79.

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Wie weit der sozialstaatlich begründete Interventionismus gehen, welche Form er annehmen durfte, und wo die Verteidigung von Individualrechten anzusetzen hatte, blieb in den Reihen der französischen Liberalen über den Betrachtungszeitraum hinweg umstritten. Vergleichsweise begrenztes, auf praktische Umsetzungsfragen und die Laizitätsproblematik konzentriertes, internes Konfliktpotential bot die republikanische Schulpolitik: Die strukturelle und politische Erschließung des Landes durch die Verbreitung von elementaren Bildungsmöglichkeiten, die damit verbundene Chance auf intellektuelle Emanzipation und sozialen Aufstieg des einzelnen blieben elementare Leitbilder der liberalen Bewegung. Auch auf dem Feld der Arbeiterpolitik zeichnet sich ein recht deutlich konturiertes Profil liberalen sozialpolitischen Engagements ab. Während einerseits die kollektive Vertretung und das volle Streikrecht der Arbeiter in der republikanisch dominierten Kammer nicht gefördert wurden, fungierte andererseits der individuelle Arbeiterschutz als intensiv genutztes Instrument staatlicher Industriepolitik zur Sicherung des sozialen Friedens. Dahinter stand nicht nur jener antikorporatistische Effekt, der seit der Revolutionszeit die politischen Mentalitäten in Frankreich prägte. Mehr noch kam darin eine Strategie der defensiven Modernisierung zum Ausdruck, die sich von der Bündelung der Interessen auf der Ebene der „association“ den harmonischen Ausgleich industriegesellschaftlich bedingter Brüche und Konflikte erhoffte. Bei Nähe betrachtet manifestierte sich im Bestreben, „unpolitische“ Gewerkschaften zu schaffen, einmal mehr jenes ins Sozialökonomische transponierte Ideal überparteilicher Politik, das sich für das Parteienbild der französischen Liberalen noch nach dem Ersten Weltkrieg nachweisen lässt.57 Alles in allem zeigt das liberale Vorgehen hier ein ambivalentes Profil, dem Aspekte sozialstaatlicher Vorreiterschaft ebenso zu eigen sind wie selbstauferlegte Lähmung und exzessive Repression. Es war kein Zufall, dass die Frage der Alterssicherung die Problemlösungskapazitäten liberaler Politik vor 1914 auf eine besonders harte Probe stellte. An der Schnittstelle von privatem Lebensvollzug, Arbeitsgesellschaft und ökonomischem System ansetzend, stieß die sozialpolitisch motivierte Neudefinition des Beziehungsgefüges von Staat und Individuum an diesem Punkt auf erhebliche Vorbehalte und Widerstände. Diese lagen im Selbstverständnis der liberalen Republik und ihrer Träger ebenso begründet wie in institutionellen Pfadabhängigkeiten; ein sozial orientierter Liberalismus traf zudem auf Skepsis in der Bevölkerung, die überkommenen Formen des Wirtschaftens und der Alterssicherung zugewandt blieb. Die Integration des Versicherungsprinzips in 57 Grüner, Zwischen Einheitssehnsucht.

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das entstehende Sozialsystem Frankreichs konnte so von vielen Beobachtern als Systembruch verstanden und perhorresziert werden. De facto entstanden jedoch bereits vor 1914 in Frankreich die Grundzüge eines Wohlfahrtsregimes, dessen kompromisshaft integrierte Grundelemente – „assistance“, „mutuelles“ und „assurance“ – bis heute fortleben. Allmählich, deutlich langsamer als in Deutschland, vollzog sich in Frankreich der Wandel zum Sozialstaat. Eine Vielzahl von Ursachen war für den unterschiedlichen Rhythmus maßgeblich: der geringere demographische Druck, der verzögert wirksame ökonomische Strukturwandel, die stärker kleinbetriebliche Struktur der Wirtschaft und das Fortleben von Prägungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die der Idee eines sozialpolitisch stärker intervenierenden Staates entgegenstanden. Das waren Prägungen, die sich im Rahmen einer voll ausgebildeten parlamentarischen Demokratie politisch effektiv artikulieren konnten. Die Rolle liberaler Politik auf diesem Weg war ambivalent: Als Mit-Trägerin eines neuen Interventionismus, der dem Staat die Rolle einer regelnden Kraft im Bereich der Sozialbeziehungen zuwies, hatte sie zugleich wesentlichen Anteil am Zustandekommen und an der Persistenz des französischen Eigenwegs in die sozialpolitische Moderne.



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Autorenverzeichnis

Dr. Christian Blasberg, Academic Coordinator of the LUISS Master in European Studies and Master in International Public Affairs, Libera Università Internazionale degli Studi Sociali Guido Carli di Roma Dr. Peter Brandt, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Fernuniversität Hagen, Direktor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Hans-Georg Fleck, Projektleiter des Büros Istanbul der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Dr. Jürgen Frölich, stellvertr. Leiter im Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach Dr. Stefan Grüner, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg Dr. Dieter Langewiesche, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tübingen Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Karl-Heinrich Pohl, Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Kiel Dr. Ursula Reuter, Freiberufliche Historikerin/Judaistin (bis Ende 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jüdische Studien der Universität Düsseldorf) Dr. Jiří Štaif, Professor am Ústav hospodářských a sociálních dějin FF UK, Praha (Wirtschafts- und Sozialgeschichte)

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